Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen,
Herr Präsident! Guten Morgen, Frau Albowitz! Herzlich
willkommen! Guten Morgen, meine Damen und Herren!
Es gibt wirklich noch angenehme Ereignisse zusätzlich zu
dem, was wir ohnehin in diesem Hause immer wieder positiv erleben. Ich rede nicht nur für die SPD-Fraktion, sondern in diesem Fall auch für die CDU/CSU-, die Grüneund die F.D.P.-Fraktion, wenn ich feststelle, dass es Sinn
macht und wichtig ist, dass wir die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses von gestern Abend heute hier im
Plenum behandeln, absegnen, dem Bundesrat überweisen, damit er sie morgen behandeln kann. Wir wissen
dann alle, dass in den vier Komplexen, die behandelt worden sind, nun Einigkeit herrscht und wir damit umgehen,
die Gesetze in Kraft setzen können.
Es geht darum, dass die PDS dieses Verfahren nicht für
angemessen hält und sich dagegen wehrt. Ich will darauf
hinweisen, dass ich mich gar nicht auf die Geschäftsordnung beziehen möchte. Mit Blick darauf ist die Sache
nicht ganz ausdiskutiert und rechtlich geklärt, ob wir unter dem Aspekt der Fristeinrede die Möglichkeit hätten
oder nicht. Wir sind der Auffassung, wir können das tun.
Es ist im Übrigen in diesem Hause eine langjährige
Übung, mit den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses
eines Mittwochs am Donnerstag ins Plenum des Bundestages zu gehen, damit am Freitag der Bundesrat darüber
beraten kann.
Das Entscheidende ist, dass wir alle gemeinsam den Anspruch haben, dieses zügige Verfahren, wenn man sich in
diesem Gremium über die Grenzen von Parteien und
Fraktionen hinweg geeinigt hat und die Länder einbeziehen konnte, alsbald zu Ende zu bringen. So steht es jedenfalls in der Geschäftsordnung des Bundestages und
dies halten wir für die tragende Regelung.
Ich kann andererseits verstehen, dass die PDS zum
wiederholten Mal darauf aufmerksam machen möchte,
dass sie nicht Mitglied im Vermittlungsausschuss ist. Dies
hat allerdings seine Grundlagen, und zwar in den gesetzlichen Bestimmungen und in der Geschäftsordnung des
Bundestags. Darüber haben wir mehrfach diskutiert, das
ist nicht unrechtmäßig, sondern ein ganz normaler Vorgang; denn nach d’Hondt hat die PDS keine Möglichkeit,
in das 16er-Gremium auf Bundestagsseite einzuziehen.
Ich will deswegen darauf aufmerksam machen, weil
ich finde, dass wir an dieser Stelle nicht noch einmal die
alten Schlachten führen müssen, nur damit die PDS ihre
Öffentlichkeit bekommt. Sie aber will die Geschäftsordnungsdebatte, nun soll sie sie auch haben.
Ich will darauf hinweisen, dass wir gestern - wir werden das heute Mittag im Rahmen der normalen Tagesordnung beraten - nach langer Debatte - sie dauerte über
sechs Stunden - im Vermittlungsausschuss zu allen vier
Komplexen ein echtes Ergebnis zustande gebracht haben.
Ich finde das sehr ermutigend, auch für die Atmosphäre
und die Arbeit hier im Haus. Von daher ist es schon wichtig, dass wir auch der Öffentlichkeit die Ergebnisse präsentieren und uns auf diese Weise selbst entsprechend binden.
Ich finde es im Übrigen sehr spannend, dass die PDS
selbst durch ihren Vorsitzenden Gysi - Herr Gysi, ich
habe mir das heraussuchen lassen - am 26. September 1997 vehement Wert darauf gelegt hat, dass die damaligen Vermittlungsausschussergebnisse vom Tag zuvor
unverzüglich im Bundestag behandelt wurden. Warum
Sie heute, drei Jahre später, zu einer anderen Erkenntnis
kommen, bleibt mir verschlossen. Von daher sind Sie etwas widersprüchlich, deshalb sollen Sie das auch begründen. Ich empfehle das Protokoll der 193. Sitzung der
13. Legislaturperiode Ihrer Aufmerksamkeit.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Ich will, dass wir an dieser Stelle einig sind; denn mir
ist sehr wichtig, dass wir heute die Vermittlungsausschussergebnisse behandeln. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung und sage das im Namen aller Fraktionen außer der
PDS.
({0})
Das Wort hat nun für
die PDS-Fraktion der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Schmidt hat schon angekündigt, dass ich namens der PDS-Fraktion diesem Antrag
widersprechen möchte. Ich denke, Sie haben sich mit einer Begrifflichkeit verraten, Herr Schmidt. Sie haben
nämlich vom „Absegnen“ der Beschlüsse des Vermittlungsausschusses gesprochen.
({0})
Das macht kenntlich, um was es hier geht. Wir können im
Moment die Beschlüsse nämlich gar nicht als Drucksachen des Bundestags vorfinden.
({1})
Nicht die PDS-Fraktion hat die Geschäftsordnungsdebatte beantragt, sondern Sie haben das machen müssen,
weil nicht wir, sondern Sie von der bestehenden Geschäftsordnung abweichen wollen. Wir wollen nur auf
den Sinn der Frist hinweisen. Die Geschäftsordnung ist
doch nicht ein undurchsichtiges Regelwerk. Wenn in der
Geschäftsordnung steht, die Abgeordneten sollen mindestens einen Tag Zeit haben, sich mit einer Beschlussgrundlage zu befassen, dann macht das in hohem Maße
Sinn.
Ich finde, es ist auch nicht richtig, an dieser Stelle zu
sagen, die PDS habe nur ein Eigeninteresse. Es geht uns
alle an, wenn wir bereit sind, über Dinge zu beschließen,
die überhaupt noch nicht vorliegen.
({2})
Der Vermittlungsausschuss hat gestern Abend über so
spannende und sensible Themen wie das Stiftungsrecht
und das Abgeordnetengesetz befunden. Ich will Ihnen
jetzt das Problem nennen, das wir damit haben. Dass wir
nicht im Vermittlungsausschuss vertreten sind, haben wir
registrieren müssen. Hier sind wir Demokratinnen und
Demokraten genug, dass wir begreifen, dass in einem
16er-Gremium eine solche Regelung eintreten kann. Was
wir aber kritisieren, ist, dass Sie uns mit diesem Verfahren
jegliche Chance nehmen, uns überhaupt sachgerecht auf
eine Entscheidung vorzubereiten.
({3})
Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, uns mit den Inhalten zu befassen.
Wenn man an der Kompromisssuche nicht beteiligt ist,
muss einem wenigstens die Möglichkeit eingeräumt werden, das Nachvollziehen zu leisten. Das haben Sie an anderen Stellen auch schon akzeptiert.
Was haben wir nun beantragt? Wir haben in den Vorrunden der heutigen Debatte lediglich beantragt, die Beschlussfassung von dem heutigen auf den morgigen Tag
zu verlegen. Dies ist nun nicht gerade ein sonderlich linksradikaler Ansatz, den wir verfolgen.
({4})
Da wundert es einen schon, wenn sich CDU und SPD
in dieser Sache so schrecklich einig sind. Die CDU hat vor
kurzem angekündigt, sie wolle eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der PDS suchen. Dies ist wohl längst vergessen. Für die SPD ist es allerdings - so finde ich - ein
Rückfall hinter die eigenen Vorsätze bezüglich des Umganges mit anderen Fraktionen dieses Hauses. Nun sagen
manche: Bei der SPD ist der Rückfall der Vorsatz. Ich bin
damit etwas vorsichtiger, aber ich finde, Sie lassen sich
den Umgang mit der PDS nach wie vor von der CDU vorschreiben, und das halten wir für kritikwürdig.
Nun steht es in der Macht Ihrer Mehrheit, die Ordnung
des Bundestages außer Kraft zu setzen, Wahrheiten und
Mehrheiten zu verwechseln. Das können Sie alles machen, Sie können aber nicht allen Ernstes erwarten, dass
wir das unwidersprochen hinnehmen. Deshalb werden
wir dagegen stimmen. Parlamentsrecht muss Parlamentsrecht bleiben, auch wenn es um die kleinste Fraktion geht.
({5})
Nun wird die ganze Sache nicht besser, wenn Sie, Herr
Schmidt, sagen: Das ist langjährige Übung, das haben wir
schon oft gemacht. Selbstverständlich - wenn Sie Herrn
Gysi zitieren, wissen Sie das doch von uns - sind wir, wie
unser Vorsitzender, eine flexible Fraktion. Mit uns ist
manches zu machen. Aber das hängt von der Art und
Weise der Behandlung ab.
In dieser Woche gab es ein Beispiel für einen anderen
Umgang. Es gab einen recht kurzfristigen Antrag der Bundesregierung zum Kosovo. Wir hätten auch dort mit Fristen operieren können. In diesem Fall hat sich der Bundesverteidigungsminister zu Vertreterinnen und Vertretern
unserer Fraktion bemüht. Wir sind in die Dinge eingeweiht worden. Ich denke, daraus wird nicht gerade eine
langjährige Männerfreundschaft entstehen, denn wir sind
inhaltlich meilenweit auseinander, aber dies war eine andere Art des Umgangs. Das ist das, was wir hier einklagen. Ich sage Ihnen nochmals: Sie haben die Chance, das
zu tun, was Sie tun wollen, nämlich die Ordnung des Bundestages außer Kraft zu setzen. Im Moment haben Sie
aber auch noch die Chance, dies zu unterlassen.
Im Übrigen vermitteln Sie das Bild eines Wanderers im
Walde, der sich verirrt hat, aber mit leichter Uneinsichtigkeit von sich gibt: Die Karte ist richtig, aber die Gegend
ist falsch.
Schönen Dank.
({6})
Wilhelm Schmidt ({7})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses mit der erforderlichen Mehrheit gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Gemäß § 29 Abs. 3 der Geschäftsordnung gebe ich dem
Kollegen Jürgen Koppelin das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage ausdrücklich, dass ich
nicht für meine Fraktion spreche. Ich möchte einige Anmerkungen zur heutigen Tagesordnung machen. Ich
finde es nicht in Ordnung, dass uns heute eine Tagesordnung mit einem voraussichtlichen Ende gegen 3 Uhr vorgelegt wird. Ich finde, dies ist eines Parlamentes nicht
würdig.
({0})
- Ich kann das verstehen, aber Sie sind wahrscheinlich
heute die Frühschicht für Ihre Fraktion und die anderen
nachher sind die Spätschicht. Ich jedoch denke auch an
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses und
unseres Parlaments, die ebenfalls so lange hier arbeiten
und präsent sein müssen. Dies entspricht nicht der Fürsorgepflicht des Ältestenrates gegenüber diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vor diesem Hintergrund finde
ich es nicht in Ordnung, dass wir eine so lange Tagesordnung haben.
({1})
Aber der Grund dafür, dass ich mich gemeldet habe, ist
etwas, worüber ich mich sehr ärgere. Dazu möchte ich
auch einen Antrag stellen. Nun ist es bereits zum zweiten
Mal innerhalb kürzester Zeit der Fall, dass wir das Thema
„Menschenrechtsverletzungen in China“ zur späten
Nachtstunde diskutieren. Es war vorgesehen - man stelle
sich das einmal vor -, dieses wichtige Thema um etwa
1.30 Uhr heute Nacht zu beraten. Nach Rücksprache mit
der Kollegin, die für unsere Fraktion sprechen wird, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden die Rede nicht zu Protokoll geben.
Früher, als Sie, Rot-Grün, in der Opposition waren,
wäre dieses Thema sicherlich niemals in den Nachtstunden diskutiert worden. Seitdem Sie in der Regierung sind,
drücken Sie es in die späten Nachtstunden hinein. Das
finde ich nicht in Ordnung.
({2})
Herr Präsident, daher beantrage ich, die Haltung der
Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in
China im Anschluss an den ersten Tagesordnungspunkt,
den wir heute behandeln, nämlich die Weltkonferenz zur
Zukunft der Städte, zu diskutieren.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Wilhelm Schmidt.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich bin schon etwas verwundert über den Antrag des Kollegen Koppelin, unabhängig
davon, dass ich jetzt nicht sicher einschätzen kann, ob er
die volle Rückendeckung seiner Fraktion hat. Das ist offensichtlich nicht der Fall, wie ich durch die Kopfbewegungen auf der F.D.P.-Seite erkennen kann.
({0})
Ich will nur darauf hinweisen, dass wir im Kreis der
Geschäftsführer der Fraktionen und dann im Ältestenrat
alle gemeinsam - durch die entsprechenden Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen - die Tagesordnung beschließen. Was diesen Punkt angeht, Herr Koppelin, hat
sich kein Widerspruch gezeigt, sodass ich nur sagen kann:
Im Einvernehmen zwischen allen Fraktionen war nichts
anderes möglich, als den Tagesordnungspunkt betreffend
die Menschenrechte in China an der Stelle, die Sie eben
bezeichnet haben, zu platzieren.
Ich will das nur noch einmal der Ordnung halber festgestellt haben. Von daher kann ich Ihren Widerspruch nur
als persönlichen empfinden. Den respektiere ich; aber
mehr ist an der Stelle nicht zu machen.
({1})
Ich lasse über den
Antrag abstimmen. Wer für den Antrag des Kollegen
Koppelin ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Weltkonferenz zur Zukunft der Städte - Urban 21 - in Berlin am 4. bis 6. Juli 2000
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Reinhard Klimmt.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Deutschland ist in diesem Jahr
Gastgeber für die Welt, zum einen auf der EXPO, die ich
übrigens schon zweimal mit Gästen aus anderen Ländern
besuchen konnte. Sie ist mit Sicherheit besser als der Ruf,
der augenblicklich verbreitet wird. Ich kann Sie also nur
dazu ermutigen, hinzugehen, sich die EXPO zusammen
mit den anderen Menschen, die aus allen Teilen der Welt
zu uns kommen, anzuschauen. Sie ist einen Besuch wert.
Wir richten zum anderen vom 4. bis 6. Juli 2000 im
Zusammenhang mit der EXPO die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte - Urban 21 - aus. Zur Eröffnung werden
der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan,
das für Stadtentwicklung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission Michel Barnier und Bundeskanzler
Gerhard Schröder sprechen. Mit dieser Konferenz wird
der internationale Dialog über Umwelt und Entwicklung - die Stichworte „Rio 1992“ und „Habitat II 1996“
sind Ihnen bekannt -, der Dialog über die Probleme der
Städte weiter fortgesetzt.
Urban 21 wurde gründlich vorbereitet. Dies gilt sowohl für die alte als auch für die neue Bundesregierung.
Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich Klaus Töpfer
danken, der den Anstoß für diese Konferenz gegeben hat.
({0})
Der Konferenz gingen vier regionale Vorbereitungskonferenzen voraus - in Brasilien, in Singapur, in Südafrika und in Deutschland -, die in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Probleme repräsentierten.
Eingebunden in den Urban-Prozess sind übrigens auch
die „Global Parliamentarians on Habitat“. Beteiligt an
dieser Gruppe ist ja auch der Deutsche Bundestag; verantwortlich führend ist das Mitglied des Bundestages
Peter Götz. Auch ihm und allen seinen Mitstreiterinnen
und Mitstreitern möchte ich herzlich für das danken, was
sie zur Vorbereitung dieser Konferenz geleistet haben.
({1})
Grundlage für die Diskussion auf der Weltkonferenz
wird der Bericht der eingesetzten Weltkommission sein.
An den Sitzungen der Kommission, die mehrfach stattgefunden haben, hat auch Franz Müntefering teilgenommen. Ich hatte die Ehre, an der letzten Sitzung, auf der wir
die Arbeitsergebnisse zusammengefasst haben, teilzunehmen. Ich werde sie Ihnen kurz darstellen.
Aber zunächst eine allgemeine Vorbemerkung. Der
Bericht belegt deutlich, wie sehr die Welt zu einer städtischen Welt geworden ist. Dieser Prozess der Verstädterung hält an. Die Frage, wie die Städte auch in Zukunft lebensfähig bleiben, gehört für uns alle - das gilt weltweit - zu den dringendsten Herausforderungen der Politik.
Wir sehen mit Sorge, wie massiv die Weltbevölkerung
vor allem in den Städten wächst. Wir erwarten, dass im
Jahre 2025 fast 100 städtische Ballungsräume mehr als
5 Millionen Einwohner haben werden und dass es Megacities mit bis zu 30 Millionen Einwohnern geben wird.
Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung werden dann in den
Städten leben; zurzeit sind es bereits 50 Prozent. Daher
gibt uns der Weltbericht konkrete Aufgaben, mit denen
wir uns auseinander setzen müssen, wenn wir dieses Problem bewältigen wollen.
Erstens. Wir müssen darauf achten, dass die zunehmende Zersiedelung nicht weitergeht. Der Raum, auf
dem wir leben, wird immer knapper, auch wenn wir beim
Überfliegen unseres Landes sehr viele Freiflächen feststellen können. Diese Zersiedelung ist eines der Probleme, das wir unbedingt steuern müssen, wenn wir an
zukünftige Generationen denken:
({2})
Zweitens. Wir müssen in Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft - wir können das nicht allein durch Verordnungen und Gesetze leisten - dafür Sorge tragen, dass die
ökologischen Fragen auch in der Produktion stärker
berücksichtigt werden. Wir sind sehr erfolgreich in der
Rationalisierung, wenn es darum geht, menschliche Arbeitskraft einzusparen. Aber wenn es darum geht, den
Ressourcenverbrauch einzuschränken, sind wir nicht so
erfindungsreich. Es geht vor allem um Ressourcenrationalisierung. Das ist unser Appell an die Wirtschaft, daran
auch in der Zukunft mitzuwirken.
({3})
Wir brauchen die Stärkung und die Verstärkung der
städtischen Selbstverwaltung und wir brauchen die Stärkung und die Verstärkung der kulturellen Verantwortung
in den Städten. All diese Elemente gehören zusammen.
Auch wir in den entwickelten Regionen, als die wir uns
empfinden, müssen daran arbeiten. Die Qualität der Stadt
hat einen bedeutenden Einfluss auf die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands und auf den sozialen Frieden. Städtebaupolitik ist auch Standortpolitik. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Strukturwandel
und städtischer Entwicklung. Der Bericht zeigt, dass sich
die großen politischen Fragen unserer Zeit in den Städten
fokussieren.
Bundespräsident Johannes Rau hat zu Recht festgestellt, dass die Auswirkungen der weltweiten Modernisierung in besonderer Weise in den Städten zu spüren sind.
Städte sind sozusagen Brennpunkte dieser Entwicklung.
Sie sind aber nicht nur Brennpunkte, sondern sie sind
gleichzeitig auch ein Motor, der uns nach vorne bringen
kann.
({4})
Urban 21 ist die erste große Weltkonferenz in Berlin
in seiner neuen Rolle als Bundeshauptstadt. Wir erwarten
etwa 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen
Teilen der Welt. Dies zeigt: Deutschland ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Urban 21 und die Weltausstellung EXPO in Hannover unterstreichen das in besonderer
Weise. Wir haben damit eine neue Rolle in der Welt angenommen. Sowohl die Weltausstellung als auch die
Weltkonferenz stehen für unseren Willen, international
Verantwortung zu übernehmen. Wir sind bereit, in der immer stärker zusammenwachsenden Welt an der Lösung
globaler Probleme mitzuarbeiten - wohlgemerkt: mitzuarbeiten! Wir haben nicht die Absicht, irgendjemandem
Vorschriften zu machen. Zu diesen Herausforderungen
der Mitarbeit gehört die Urbanisierung mit all ihren Folgen für die Lebensqualität in unseren Städten.
Das europäische Stadtmodell ist dabei ein guter Ausgangspunkt, da die Urbanisierung Chancen und Risiken
zugleich bietet. Die Lebensform Stadt bietet zum einen
ganz offensichtlich das größte Entwicklungs- und Innovationspotenzial und ist damit Motor des Fortschritts. Es
gibt eine hohe Kommunikationsdichte und sehr gute
Möglichkeiten der Wissensvermittlung und -vermehrung.
Dies sind ausgezeichnete Voraussetzungen auch für wirtschaftliches Wachstum.
Zum anderen dienen besonders - das hängt mit dieser
Einschätzung zusammen - die Metropolen anderer Kontinente, aber auch die Großstädte bei uns, als Zufluchtsstätte für Menschen, die vor Armut und vor anderen sozialen Problemen flüchten. Beiden Feststellungen ist eines gemeinsam: Sie verkörpern das Prinzip Hoffnung, das
mit den Städten verbunden ist. Deswegen wollen wir
diese Hoffnung als solche auch ernst nehmen. Wir müssen aber auch gleichzeitig sehen, dass mit dieser Urbanisierung die Risiken wachsen. Es ist eine Erfahrung, die
wir mit fast allen anderen Ländern teilen. Wenn in den
städtischen Problembereichen nicht rechtzeitig soziale
Konflikte erkannt und abgetragen werden, dann kippt das
soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht in einer Gesellschaft. Deswegen dürfen wir nicht wegsehen und
untätig bleiben, sondern müssen dafür sorgen, dass die
städtischen Balancen erhalten bleiben. Es geht darum,
dass wir unsere Gesellschaft insgesamt in Takt halten,
wenn wir unsere Städte in Takt halten.
({5})
In Europa haben wir vergleichsweise weniger Probleme als in anderen Regionen der Welt. Ich glaube, das
liegt daran, dass wir in Europa über Jahrhunderte hinweg
ein Stadtmodell herausgebildet haben, das bei den Menschen auf hohe Akzeptanz stößt. Es ist ein Stadtmodell,
das heute mehr bietet als nur die Summe aus Wohnraum,
Supermärkten und Tankstellen. Es ist ein Stadtmodell, das
ein soziales Gefüge darstellt.
({6})
Ich trete entschieden dafür ein, dass wir uns für unser europäisches Stadtmodell weiter engagieren. Ich möchte,
dass wir unsere Kräfte bündeln und sicherstellen, dass unsere Städte auch weiterhin kulturelle, wirtschaftliche und
politische Mitte sind. Nur so kann sich mit der Stadt weiterhin das verbinden, was sich mit dem Begriff der sozialen Freiheit gut umschreiben lässt.
({7})
Meine Damen und Herren, die Bürger der Städte sollen
sich mit ihrer Stadt identifizieren können. Sie dürfen ruhig Lokalpatrioten und stolz auf ihre Stadt sein. Denn dieser Stolz kann zu weiterem Engagement motivieren. Dazu
gehört auch, dass wir historisch gewachsene Strukturen
bewahren und damit das individuelle Gesicht unserer
Städte.
Nun ist zu fragen: Warum haben wir in Europa andere
Städte? Ein ganz entscheidender Grund für diese europäische Stadtentwicklung liegt aus meiner Sicht - erstens - darin, dass die öffentliche Hand in Fragen der Stadtentwicklung nie von ihrer Verantwortung entbunden worden ist - und das aus gutem Grund. Der Staat muss sich
kümmern, das heißt: Bund, Länder und Kommunen. Denn
die Städte sind hoch verdichtete Lebensräume, deren Organisation den Rahmen garantieren muss. Dazu gehört
zum Beispiel, dass wir Bebauungspläne entwerfen, die zu
akzeptieren sind, auch wenn sie einem oftmals nicht passen, wenn man gern etwas nach eigenem Gusto bauen
würde und klare individuelle Vorstellungen hat. Wenn sie
mit dem kollidieren, was gesellschaftlich notwendig ist,
muss man sich der Planung beugen.
Zweitens. Der Staat muss sich auch um die Schwachen
kümmern. Soziale Unterstützung und Umweltschutz werden ohne staatliche Verantwortung nicht funktionieren.
Das gilt auch für die Arbeit in diesem Hause in den verschiedensten Bereichen. Wir haben Verantwortung für die
soziale Entwicklung, wir haben Verantwortung für den
Umweltschutz und müssen uns dem immer wieder stellen,
wenn es darum geht, die gesetzgeberische Arbeit zu tätigen.
({8})
Schließlich drittens: Es gibt in unseren Städten etwas
wie Verantwortung für Tradition, Geschichte und Kultur.
Ein gutes Beispiel dafür ist der Erhalt unserer Innenstädte.
Innenstädte sind oft das kulturelle und politische Gedächtnis einer Stadt, sozusagen die Mitte, in der sich alles
fokussiert, was aus der Vergangenheit noch bewahrenswert für die Gegenwart erscheint. Für diese Funktion ist
es wichtig, dass wir den öffentlichen Raum erhalten, dass
etwas für alle vorhanden ist, in dem sie sich wiederfinden
können und Rechte haben. Es geht nicht, dass man nur
von einem privaten Segment in das andere schreitet, und
dafür gefälligst um Erlaubnis zu bitten hat.
({9})
Hieraus ziehe ich eine erste Schlussfolgerung. Wir
müssen uns wieder stärker auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben, besinnen. In der jüngsten Vergangenheit war oft die Rede davon, ohne den Staat würde alles viel, viel besser laufen. Dieser Vulgärliberalismus hat
sich als untauglich erwiesen und ist auch nicht der F.D.P.
zu unterstellen, die in diesem Hause die Liberalität für
sich reklamiert. Aber ich weiß, dass diese Denkweise
auch in allen anderen Fraktionen zu Hause ist.
({10})
- Sie werden uns erlauben, dass auch wir uns als liberal
empfinden. Aber in der Ablehnung eines vulgären Liberalismus sind wir uns offensichtlich einig.
Die Weltbank hat 1997 klargestellt, dass uns Laissezfaire auf der einen Seite oder Staat als Allheilmittel auf der
anderen Seite als Extrempositionen nicht weiterhelfen.
Hier sehe ich ein ganz wichtiges Ergebnis des Urban-Prozesses. Schon die regionalen Vorkonferenzen haben sehr
deutlich gezeigt: Der Staat kommt in neue Verantwortung.
Es geht um eine Renaissance des aktiven Staates. Es geht
nicht etwa um den omnipräsenten, den bevormundenden
Staat, der die Menschen in Schubladen oder in Einheitsformate pressen möchte. Nein, es geht um den aktiven
Staat und natürlich gleichzeitig auch um den aktivierenden Staat, der die Menschen in die Lage versetzt, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.
({11})
Auch wir wollen uns mit unserer Arbeit an den großen
Handlungsfeldern des Urban-Prozesses beteiligen. Erstens. Wir werden durch Reformen in der Wohnungspolitik mehr Gerechtigkeit schaffen. Zweitens. Wir leisten
konkrete Beiträge, um die Sicherheit in den Städten zu erhöhen. Drittens. Der Innovationsmotor Stadt muss angeworfen werden und weiterlaufen. Es geht darum, in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft innovative Lösungen zu
entwickeln, damit Verkehr, Wohnen und Arbeiten in den
Städten noch besser in Einklang gebracht werden.
({12})
Das heißt im Einzelnen - zunächst zur Wohnungspolitik -: Erstens. Wir haben die Wohngeldnovelle gemacht.
Mit ihr haben wir eine Gerechtigkeitslücke der letzten
Jahre geschlossen. Die Wohngeldnovelle versetzt nicht
nur die betroffenen Mieter in die Lage, sich jetzt wieder
höhere Mieten zu leisten, sondern erweitert auch den Investitionsspielraum der Hauseigentümer. Wir tun sowohl
etwas für die soziale Situation der Mieter als auch für die
Entwicklung der Baukonjunktur. Die Wohltaten sozialer
Natur kommen in wunderbarer Weise mit der ökonomischen Rationalität zusammen. Deswegen ein Dankeschön, dass die Wohngeldnovelle so beschlossen worden
ist.
({13})
Zweitens. Wir werden den sozialen Wohnungsbau reformieren. Das Entscheidende ist, dass wir endlich die
Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes erhöhen. Damit soll
keine Kritik an der Politik der Vergangenheit geübt werden. Die Verhältnisse verändern sich eben und wir uns mit
ihnen. Dementsprechend müssen wir unsere Instrumente
anpassen. Dabei dürfen wir nicht nur immer das Gesamtvolumen im Auge behalten; vielmehr müssen wir die
Zielgenauigkeit erhöhen, damit die knappen Mittel, die
wir haben, dort eingesetzt werden, wo sie am meisten
Nutzen und Segen bringen.
({14})
Die Gewährleistung der Sicherheit in unseren Städten ist auch deswegen so wichtig, damit wir nicht diejenigen, die es sich leisten können, in den Speckgürtel entlassen und so die Gefahr der Verslumung in den Innenstädten weiterwachsen lassen. Den sich momentan vollziehenden Prozess, nämlich dass die Besserbetuchten ins
Umland ziehen und die mit Problemen Behafteten in die
Städte hineinziehen, müssen wir umkehren. Wir müssen
dafür sorgen, dass sich die tendenzielle Entmischung der
Bevölkerung nicht fortsetzt und dass wir in unseren Städten zusammenleben.
Deswegen sage ich für Deutschland: Sicherheit hat
auch etwas damit zu tun, ob wir mit sozial gefährdeten
Nachbarschaften verantwortlich umgehen. Mit dem Programm „Soziale Stadt“ hat die Bundesregierung einen
neuen und, wie wir jetzt schon sehen können, auch einen
sehr erfolgreichen Ansatz gewählt.
({15})
Das Programm fasst die Ressourcen verschiedener
Ressorts zusammen und bündelt so die Kräfte. Wenn Sie
so wollen, verändern wir damit auch die Software und
nicht nur die Hardware staatlichen Handelns. Bis Ende
2003 gibt der Bund jährlich 100 Millionen DM für dieses
Programm aus. Mit den Mitteln der Länder und der Kommunen - diese vergesse ich nicht, Herr Kollege Oswald sind das für den gesamten Förderzeitraum 1,5 Milliarden DM. Jeder beteiligt sich daran. Hinzu kommen Mittel anderer Ressorts und der EU. Dies bedeutet, dass wir
sehr viele Projekte auf den Weg bringen können. Mittlerweile sind es schon rund 160 Projekte, die wir mit
großem Erfolg vorantreiben und weiter vorantreiben werden.
Zu unserer Politik für die Zukunft und für die Sicherheit der Städte gehört auch, dass wir gerade den jungen
Menschen Entwicklungsperspektiven geben. Mit dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat
die Bundesregierung über 180 000 Jugendliche fördern
können. Dieses Programm hat merklich zum Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit beigetragen. Damit kein Zweifel
besteht, möchte ich auch die Wertung zum Ausdruck bringen: Die Arbeitslosenquote lag mit 10,5 Prozent immer
noch viel zu hoch, aber doch deutlich unter der aller anderen Altersgruppen. Die dadurch ausgelösten positiven
Effekte auch für unsere Städte kann man nicht hoch genug
einschätzen.
Unsere erste Pflicht ist die Verbesserung des individuellen Schicksals der jungen Menschen. Wir wissen: Wenn
wir jungen Menschen eine Lebensperspektive geben,
wenn wir ihnen das Gefühl geben, dass die Gesellschaft
sie braucht, dann sind sie in der Lage, verantwortlich zu
handeln und sich in den gesellschaftlichen Prozess zu integrieren.
({16})
Sicherheit heißt aber auch, dass sich die Schwächeren - ich denke an die Kinder - im Verkehr sicher bewegen können; insofern ist die Verkehrssicherheit auf unseren Straßen von sehr großer Bedeutung. Auch das wird
etwa bei der Ausweitung der Tempo-30-Zonen in den
Städten und beim Verkehrssicherheitsprogramm, das wir
zurzeit mit den Verbänden erarbeiten, eine Rolle spielen.
Ich hoffe, dass es uns auf diese Art und Weise gelingt, die
Anzahl der Unfälle, deren Auswirkungen uns noch immer
quälen und mit denen wir uns weiterhin beschäftigen
müssen, zurückzuführen und damit die Sicherheit auf unseren Straßen zu erhöhen.
Ich möchte mich jetzt dem dritten Handlungsfeld zuwenden. Es geht darum, dass wir in Abstimmung und in
Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und denjenigen, die
am Prozess der Lokalen Agenda 21 beteiligt sind, innovative Lösungen entwickeln, die uns helfen, den Umweltschutz wirksam anzupacken. Der Bundeskanzler hat es in
seiner Regierungserklärung unterstrichen: Die Bundesregierung steht für Innovation und für die Modernisierung
Deutschlands. Es geht nicht darum, die Menschen mit
Vorschriften zu schurigeln, sondern das technische und
kreative Potenzial in Wirtschaft und Gesellschaft zu mobilisieren und zu nutzen. Der beste Weg ist allemal, nicht
nur für Verbote zu sorgen, sondern gerade auch die Kreativität der Menschen anzuregen.
({17})
Die städtischen Ballungsräume verursachen einen hohen Verbrauch von natürlichen Ressourcen; denn dort leben viele Menschen auf engem Raum zusammen. Eine
der täglichen Herausforderungen ist die Frage der städtischen Verkehrsinfrastruktur. Auf diesem Gebiet kann
Deutschland gute Erfahrungen in den Urban-Prozess einbringen. Der ÖPNV hat in Deutschland eine lange und
gute Tradition; er hat eine Schlüsselrolle für die Städte.
Ein Vergleich mit anderen Metropolen zeigt schnell, wie
wichtig ein funktionierender ÖPNV ist. Regelmäßige
Staus, überfüllte Verkehrsmittel - im Vergleich zu anderen Großstädten dieser Welt stehen die deutschen Städte
gut da, auch wenn der Einzelne unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat.
Der Bund ist daran entschieden finanziell beteiligt; wir
geben allein aus unserem Haushalt jährlich 15 Milliarden DM für den regionalen Verkehr aus.
({18})
Man muss wirklich einmal zur Kenntnis nehmen, wie
stark das Engagement des Bundes dabei ist. Damit dies
dauerhaft gesichert wird, habe ich eine Qualitätsoffensive
angestoßen und dazu dieser Tage ein Eckpunktepapier
vorgelegt. Damit gehe ich in die Gespräche mit den Ländern, aber auch mit der EU-Kommission. Wir wollen unsere Erfahrungen in den Urban-Prozess einbringen.
In diesem Zusammenhang möchte ich klar und deutlich sagen: Wenn es jetzt darum geht, den öffentlichen
Personennahverkehr weiterzuentwickeln, dann muss man
sicherlich einiges verändern. Ich will gar nicht bestreiten:
Wir brauchen mehr Wettbewerb. Hinsichtlich der Qualitätskriterien, zum Beispiel was die Sicherheit der Verkehrsmittel und der eingesetzten Systeme angeht, und
hinsichtlich der sozialen Strukturen werden wir in der
Diskussion auf der Ebene der Europäischen Union keine
Opfer bringen. Wir werden von unserer Seite keinen
schrankenlosen Wettbewerb zulassen; er muss auch
zukünftig an den Kriterien der Qualität orientiert bleiben.
({19})
Nun bin ich Realist genug, um zu wissen - damit stehe
ich in der Koalition und in diesem Hause nicht allein -,
dass für die Zukunft der Stadt das Auto eine wichtige
Rolle haben wird. Das ist so und das soll auch so bleiben.
({20})
Die Akzeptanz des Autos in der Stadt wird dabei aber
auch von seiner Umweltverträglichkeit abhängen. Das ist
der entscheidende Ansatz. Zu fragen, wie wir die Autos
aus der Stadt bzw. aus unserer Gesellschaft herausbekommen, kann nicht der Ansatz sein, sondern der Ansatz
muss sein: Wie können wir das Auto zu einem Instrument
machen, das seine Nützlichkeit ohne viele schädliche Begleiterscheinungen entfalten kann?
Deswegen arbeiten wir mit der Industrie am Kraftstoff
der Zukunft. Ich glaube, es ist einer der wesentlichen
Punkte des Weltberichtes, dass gesagt wird: Wir können
es uns abschminken, auch für die Teile der Dritten Welt,
der anderen Welt, den Menschen zu sagen, sie sollten auf
das Auto verzichten. Die Zahl der Autos wird weiter
wachsen. Die Zahl von 500 Millionen Autos in den Städten der Welt wird sich - ob wir wollen oder nicht - verdoppeln. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir Formen
der Technik finden, die dafür Sorge tragen, dass damit
keine weitere Gefährdung der Umwelt verbunden ist,
sondern dass wir durch neue Kraftstoffe eine Verbesserung der Umwelt selbst dann erreichen, wenn der Verkehr
weiter wächst.
({21})
Eine umweltgerechte Infrastruktur hängt aber auch davon ab, inwieweit es gelingt, dass preiswert und ökologisch gebaut wird. Hier liegt ein großes Potenzial für Innovationen, für mehr Wettbewerb und mehr Beschäftigung sowie für mehr Wohneigentum und natürlich auch
für günstigere Wohnkosten. Wir starten deshalb eine Initiative für preiswertes und ökologisches Bauen.
Ich weiß, man steht immer in einer Reihe; man steht in
einer Kontinuität. Ich möchte mich für die guten Ansätze,
die ich habe vorfinden dürfen, bei meinen Vorgängern im
Amt, bei Frau Schwaetzer, Herrn Töpfer und natürlich
auch bei Ihnen, Herr Oswald, ganz herzlich bedanken.
Wir setzen die Arbeit, die Sie begonnen haben, glaube ich,
in Ihrem Geiste fort, weil in diesem Punkt Einigkeit zwischen den Parteien besteht.
({22})
Ressourcenschonung hat auch damit zu tun, dass
Wohnraum modernisiert wird. Ich erinnere hier nur an das
zweite KfW-Programm für die notwendigen Modernisierungen von Wohnungen in den neuen Ländern, das CO2Minderungsprogramm der KfW, das wir auf die neuen
Länder ausgeweitet haben, und das 100 000-DächerBundesminister Reinhard Klimmt
Solarstrom-Programm des Wirtschaftsministers. Diese
Maßnahmen dienen auch der Verbesserung der Umwelt in
den Städten. So nutzen wir das große Know-how der deutschen Wirtschaft in der Umwelttechnologie. Damit sind
die Maßnahmen auch ein Beitrag, um das CO2-Minderungsziel der Bundesregierung zu erreichen. Für den Klimaschutz kann gerade in den städtischen Ballungsräumen
viel erreicht werden.
Deshalb wollen wir in Kürze die Energieeinsparverordnung verabschieden, die gemeinsam mit dem Wirtschaftsminister erarbeitet wird. Wir alle wissen, wie wichtig das Energiesparen ist, das übrigens unsere größte
Energiereserve ist. Gebäude spielen hierbei eine zentrale
Rolle. Sie verursachen ein Drittel des Energiebedarfs. Mit
der Energieeinsparverordnung lassen sich Energieverbrauch und damit auch Energiekosten senken. Deswegen
werden wir das energisch betreiben.
({23})
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal unterstreichen: Die Infrastruktur unserer Städte braucht Innovationen und Investitionen. Die Städtebauförderung ist
das zentrale Instrument zur Erneuerung und Entwicklung
der Städte und Gemeinden in Deutschland. Sie führt mehrere investive Infrastrukturbereiche zusammen, vor allem
Wohnungsbau und Verkehr. Sie hat hohe Beschäftigungseffekte sowie Anstoßwirkungen für private Investitionen.
Das kommt vor allem dem mittelständischen Handwerk
sowie Handel und Gewerbe in der Region zugute.
Zukunft der Stadt, das heißt auch: die kulturelle Funktion von Stadt ernst nehmen. Ich meine hiermit nicht das
kulturelle Angebot, das Kommunen und Länder in eigener Regie einbringen. Ich meine, man kann nicht über
Städte reden, ohne über Architektur und Baukultur zu
reden. Auch hierbei geht es um Innovationen und Investitionen. Baukultur beeinflusst die Stadtstruktur. Dabei gibt
es das bekannte Spannungsfeld von hohem Anspruch einerseits und Alltagstauglichkeit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit andererseits.
Der Bund ist ein wichtiger Bauherr; ihm kommen damit Vorbildfunktionen zu, die wir uns auch gerne immer
wieder vorhalten lassen und denen wir uns auch immer
wieder stellen. Momentan bereiten wir eine Initiative „Architektur und Baukultur“ vor, die wir mit den Verbänden
zusammen durchführen werden. Dabei geht es mir vor allem darum, die Verantwortlichen zusammenzuführen. Mit
ihnen möchte ich Erwartungen und Anforderungen überprüfen und zu einem neuen Verständnis von Architektur
als wichtigem Schrittmacher und Standortfaktor in den
Städten kommen. Im Herbst 2001 werden wir, so hoffe
ich, Ergebnisse und Vorschläge vorlegen können und hier
darüber berichten.
Meine Damen und Herren, ich ziehe aus all diesem die
Schlussfolgerung: Die Vertreter Deutschlands - Bund,
Länder oder Kommunen - bringen die guten Erfahrungen
einer aktiv gestalteten Politik für die Zukunft der Städte in
den Urban-Prozess mit ein. Die Weltkonferenz wird die
Wendung vom Laisser-faire zu einer verantwortungsvollen Politik bestätigen. Im Juni des nächsten Jahres findet
die Sondergeneralversammlung der UNO zur Stadtentwicklung statt. Hier bringt der Bund zusammen mit den
Städten und Gemeinden wichtige Beiträge ein.
Ich möchte an dieser Stelle übrigens auch anderen, die
daran beteiligt sind, danken, zum Beispiel der Kollegin
Wieczorek-Zeul, die sich gemeinsam mit Nelson
Mandela, James Wolfensohn und Klaus Töpfer bei der
Gründung der Städteallianz zur Bekämpfung der Slums
engagiert hat. Auch das ist ein wichtiger Punkt: Wir haben
es ja noch verhältnismäßig leicht, auch wenn wir Probleme haben. Wenn man aber in Mexiko-City, in Nairobi
oder in anderen Städten der Welt ist, kann man sehen, welche Probleme durch Verslumung entstehen und welche
Kräfte von uns gefordert werden und welche Verantwortlichkeiten wir wahrnehmen müssen, wenn es darum geht,
die Probleme in der Welt zu bewältigen.
({24})
Ich halte hier fest: Deutschland kann mit Selbstbewusstsein an der Weltkonferenz teilnehmen. Wir können
gute Initiativen und auch eine verantwortliche Politik von
unserer Seite aus vorweisen. Wir werden übrigens - auch
das ist für mich ein wichtiger Punkt - in Kürze einen
Raumordnungsbericht vorstellen,
({25})
mit dem wir wiederum deutlich machen, dass in Deutschland mit einer gewachsenen Siedlungsstruktur eine gesunde Struktur aus gleichwertigen Städten und Regionen
besteht. Deutschland hat eine starke Hauptstadt; das soll
so sein. Aber es gibt kein dominierendes Zentrum, sondern Dezentralität. Dies bedeutet Vielfalt in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht. Das müssen wir
weiter ausbauen. Wir müssen uns darum bemühen, die
vielen Zentren, ob das München, Dresden, Düsseldorf
oder Frankfurt ist, auch Saarbrücken soll genannt sein,
({26})
auszubauen und sie zu bewahren. Wir wollen diese als
Zeichen unserer Föderalität in der Welt als Vorbild hinstellen.
({27})
Meine Damen und Herren, vieles ist zu verbessern. Wir
haben aber bei uns auch etwas zu verlieren. Wir nehmen
Anregungen von außen gerne auf und sind auch gerne bereit, unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen und sie weiterzugeben, wenn sie diese denn haben wollen. Urban 21
ist der Zielpunkt eines Prozesses, den wir bei uns erleben
können, aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein:
Urban 21 ist wiederum auch ein Startpunkt für einen weiteren Prozess, in dem es darum geht, gestaltend die Zukunft der Städte zu sichern.
({28})
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Peter
Götz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es,
dass mit Urban 21 in Berlin eine Weltkonferenz stattfindet, die an die Rio-Konferenz von 1992 und an die UNSiedlungskonferenz Habitat II in Istanbul von 1996
anknüpft. Damit wird der Dialog auf dem Weg zur Durchsetzung und Umsetzung der Agenda 21 und der HabitatAgenda fortgesetzt.
Es ist gut, Herr Minister, dass Sie daran erinnert haben,
dass die Idee, eine solche Weltkonferenz im Rahmen der
EXPO 2000 in der neuen deutschen Hauptstadt durchzuführen, von dem damaligen Bauminister Professor
Dr. Klaus Töpfer entwickelt und auf den Weg gebracht
worden ist. Es war in der Tat die Regierung Kohl, die
Urban 21 als eine globale Initiative für nachhaltige Entwicklung der Länder Brasilien, Deutschland, Singapur
und Südafrika vorstellte, und es war Ihr Vorvorgänger,
Bauminister Eduard Oswald, der das Projekt weiter vorangetrieben hat. Daran muss vorab erinnert werden.
({0})
Die rot-grüne Regierung hat lange genug gebraucht,
bis sie in die Gänge gekommen ist. Der Weltbericht, von
dem Sie gesprochen haben, der in wenigen Wochen diskutiert werden soll, liegt nach meiner Kenntnis bis heute
noch nicht vor.
Meine Damen und Herren, es ist keine Frage: Zu den
großen Herausforderungen der Zukunft gehört, weltweite
Lösungsansätze für eine sozial- und umweltverträgliche
Stadtentwicklung zu finden. Dies gilt insbesondere in
den schnell wachsenden Metropolen in den Entwicklungsländern. Aber ein Weiteres kommt hinzu: Wenn wir
mit Forderungen und Ermahnungen in den Schwellenund Entwicklungsländern und in den Reformstaaten des
Ostens Gehör finden wollen und ernst genommen werden
wollen, müssen wir als die so genannten reichen Industrieländer zunächst zeigen, dass wir selbst imstande sind,
eine nachhaltige, auf die Zukunft ausgerichtete Stadt- und
Siedlungspolitik zu gestalten und erfolgreich durchzusetzen.
Ich hätte es zum Beispiel begrüßt, wenn sich die Konferenz ebenfalls stärker mit den Problemen der Siedlungsentwicklung in den Industrieländern Europas und
Nordamerikas befasst hätte.
({1})
Wenn wir die Verantwortung für die ökologisch und sozial labile Erde als globale Verantwortung der gesamten
Menschheit begreifen, dann ist es einfach zu wenig, wenn
wir wohlwollend unsere Hilfe den Entwicklungsländern
mit ihren chaotischen Megastädten anbieten und uns
gleichzeitig weigern, auch unsere eigenen Versäumnisse
zum Thema zu machen.
Herr Minister, meine Damen und Herren, Urban 21
sollte eigentlich mehr sein als das von Ihnen angekündigte
Treffen bedeutender Staatsmänner, mehr als medienwirksames Konferenzspektakel. Ich setzte darauf, dass die
Teilnehmer der Konferenz dafür Sorge tragen, dass gute
inhaltliche Arbeit geleistet wird und dass trotz dieser Regierung die Konferenz zu einem Erfolg wird.
({2})
Die Parlamentarier werden dazu ihren Beitrag leisten.
Deshalb hat die Organisation „Global Parliamentarians on
Habitat“ für den 5. Juli die Schirmherrschaft über das
Parlamentarierforum übernommen. „Global Parliamentarians on Habitat“ ist übrigens die einzige internationale Parlamentarierorganisation, die sich weltweit unmittelbar mit menschlichen Siedlungen, mit der Wohnungsversorgung und mit nachhaltiger Entwicklung
befasst, eine Organisation, zu der sich Parlamentarier aus
177 Ländern der Welt zusammengeschlossen haben. Ich
lade Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich ein,
an diesem Parlamentarierforum aktiv mitzuwirken. Experten aus Russland, den Niederlanden, Österreich und
Uganda werden für den Einstieg in das Forum sorgen.
Warum sage ich das? Ich bin der festen Überzeugung:
Wir dürfen die Zukunftsfragen unserer Städte nicht den
Regierungen allein überlassen. Wir müssen als Parlamentarier unseren Beitrag leisten, damit die Themen von Habitat national und international ständig auf der Tagesordnung bleiben.
({3})
Wir wissen sehr wohl: Der Verstädterungsprozess
entwickelt sich unaufhaltsam vor allem in den Schwellenund Drittländern unkontrolliert fort. Schon jetzt sind diese
Agglomerationen kaum noch zu verwalten oder zu steuern. Sie entwickeln sich mit großer Dramatik. Massenarmut, ökologische Katastrophen und Wanderungsbewegungen der Menschen sind der soziale Sprengstoff, der
den Frieden des eigenen Landes und letztlich den Weltfrieden bedroht.
Dies, meine Damen und Herren, sind keine Horrorszenarien aus einem Science-Fiction-Film, sondern eine
ungeschminkte Zustandsbeschreibung der Welt von heute
und vor allem der Welt von morgen.
Die Städte sind das Problem der Zukunft. Sie sind aber
auch die Einzigen, die diese Zukunftsprobleme einigermaßen vernünftig lösen können. Leider ist es bisher nicht
hinreichend gelungen, die enormen Chancen, die große
Städte bieten, zu nutzen. Städte sind der Motor der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Sie bieten die
Möglichkeit ökonomischer und ökologischer Effizienz.
Sie sind Orte der Kultur und Innovation, der Gemeinsamkeit und auch der Toleranz.
Ich will damit sagen: Die großen politischen Herausforderungen liegen auf der kommunalen Ebene. Dem
werden die meisten politischen Systeme, insbesondere die
Zentralstaaten, nicht gerecht. Denn Stadtpolitik wird
zunehmend zur Weltinnenpolitik. Deshalb ist der erste
Schritt zur Lösung der Siedlungs- und Stadtentwicklungsprobleme eine deutliche Stärkung der kommunalen
Selbstverwaltung.
({4})
Wir brauchen weltweit starke Kommunen mit deutlich
mehr politischem Einfluss, mit besserer institutioneller
Kapazität und vor allem mit eigener Finanzautonomie.
Das ist ein dickes Brett, an dem ständig gebohrt werden
muss.
Die meisten Gesetze werden von nationalen Parlamenten gemacht, die eher Zentralismus im Blick haben als die
Städte oder gar den ländlichen Raum. Auch die rot-grüne
Regierung in Deutschland macht diesen Fehler wiederholt. Wenn Sie den Gemeinden in Deutschland weiter das
Geld wegnehmen, höhlt das kommunale Selbstverwaltung aus.
({5})
Auf Deutschland schauen viele Länder, ob wir das wollen oder nicht. Deshalb sollten und müssen wir mit gutem
Beispiel vorangehen. Lokale Finanzautonomie, kommunale Planungshoheit und demokratische Strukturen in den
Städten und Gemeinden verbessern weltweit die Chancen
für eine ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltige
Entwicklung. Deklarationen auf internationalen Konferenzen müssen die notwendigen Ziele vorgeben; aber nationale Regierungen und Parlamente müssen für anständige Rahmenbedingungen sorgen. Die Probleme in den
Gemeinden, seien es die Megastädte oder die Dörfer, können am besten vor Ort gelöst werden.
Ich fordere die Bundesregierung auf: Arbeiten Sie aktiv mit an der Verabschiedung der Weltcharta für kommunale Selbstverwaltung. Beschränken Sie sich aber nicht
auf Lippenbekenntnisse zur Dezentralisierung in den anderen Ländern. Sorgen Sie auch für finanzstarke Städte
und Gemeinden in der Europäischen Union, verhindern
Sie das zunehmende Hineinregieren von Europa in lokale
Selbstverwaltungsangelegenheiten,
({6})
und sorgen Sie für eine starke kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.
Neben der Stärkung der Kommunen im Verhältnis zu
den Nationalstaaten brauchen wir neue Steuerungsmodelle für Kommunen. Besonders für die Megastädte in
den Entwicklungsländern müssen eine andere öffentliche
Verwaltung und eine bessere politische Steuerung gefunden werden. Das traditionelle Modell der Kommunalverwaltung, wie wir es kennen und praktizieren, scheitert vor
allem in den Megastädten oft an den gewaltigen Aufgaben, wenn dort mehr als die Hälfte der Menschen keinen
lokalen Wohnort, keine regelmäßige Beschäftigung und
weder Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung
hat noch Steuern und Gebühren zahlen kann.
Stadtentwicklung muss unter verstärkter Beteiligung
der Bürger in eine Gesamtplanung integriert werden. Wir
brauchen die integrierende Stadt. Es heißt neudeutsch so
schön „Inklusiv-City“. Was ist damit gemeint? Mit
Integration sind zwei Dinge gemeint. Zunächst geht es
um die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an den Ergebnissen des Fortschritts in der Stadt. Das ist als politisches Ziel zunächst nichts Neues. Neu ist, dass all diese
Gruppen weit mehr als bisher am Geschehen in der Stadt
aktiv beteiligt werden sollen. Neu ist auch, dass all diese
Gruppen weit mehr als früher aktiv mithelfen sollen, die
Vorschläge für große Vorhaben wie für kleine Projekte,
die nur kleine Stadtbezirke oder kleine Gruppen betreffen,
zu verwirklichen.
Wir brauchen, Herr Minister, nicht mehr Staat, sondern
eher weniger. Wir brauchen weniger Regulierung, und
zwar auf allen politischen Ebenen. Die Stadt muss zunehmend die Rolle des Moderators übernehmen. Es ist klar,
dass mit diesem Ansatz nicht alle Aufgaben der Städte erfüllt werden können. Die professionelle und spezialisierte
Verwaltung wird in vielen Sektoren weiter gebraucht,
aber die vielen Ausgegrenzten, Chancenlosen und Politikverdrossenen können bei beschränkten Ressourcen nur
auf die gerade beschriebene Art und Weise wieder integriert werden. Wollten Bürgermeister, Rat und Verwaltung diese gigantische Aufgabe nach dem traditionellen
Verwaltungsmuster lösen, hätten sie bei der Größe der
Herausforderung keine Chance. Der Obrigkeitsstaat und
die Obrigkeitsstadt werden bald der Vergangenheit angehören. Partnerschaftliches Miteinander der Verantwortlichen rückt in den Vordergrund.
Die frühere Bundesregierung hat diese Themen sehr
ernst genommen. Ich erinnere nur an das Nationalkomitee
Habitat II, in dem wir die Habitat-II-Konferenz von Istanbul intensiv vorbereitet und auch nachgearbeitet haben. - Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie nicken ja so
freundlich. - An diesem Komitee waren gesellschaftliche
Gruppen von den Architektenverbänden - um mit Azu beginnen - bis zu den Umweltschutzorganisationen beteiligt. Ich bedauere außerordentlich, dass die rot-grüne Regierung dieses Komitee hat sterben lassen. Wir brauchen
in der Politik mehr denn je den Dialog und die Partnerschaft mit den Kommunen und den gesellschaftlichen
Gruppen, die sich an diesem Prozess beteiligen.
({7})
- Es ist gut, wenn Sie etwas machen.
Auch in unserem Land gibt es noch viel zu tun. Unsere
Innenstädte fallen auseinander. Innerstädtisches Wohnen verliert zunehmend an Attraktivität. Der innerstädtische Handel verliert im Vergleich zum großflächigen
Einzelhandel auf der grünen Wiese immer mehr an Boden.
({8})
Die Deutschen setzen täglich riesige Verkehrsströme in
Bewegung - zum Wohnen, zum Arbeiten, zum Einkaufen
und zur Freizeitgestaltung. Dabei geht es nicht darum, ob
ein Liter Benzin 3 oder 5 DM kosten sollte. Hier geht es
um einiges mehr.
({9})
- Richtig. Der frühere Bauminister Oswald gibt das Stichwort „Aktion pro Innenstadt“. Das ist auch in Deutschland
eine Zukunftsherausforderung.
({10})
Erlauben Sie, dass ich zum Schluss auf ein Programm
eingehe, das die CDU/CSU-Bundesregierung 1996 zusammen mit den Ländern geschaffen hat - Sie haben das
als Ihr Programm dargestellt -: auf das Programm „Soziale Stadt“. Mit diesem Programm sollten eigentlich benachteiligte Stadtquartiere wieder zu lebensfähigen Stadtteilen mit positiver Zukunftsperspektive gestaltet werden.
Was die rot-grüne Regierung aus unserer damaligen
Idee gemacht hat, wird nicht ausreichen, um das riesige
Problem der sozial ausgegrenzten Menschen in unseren
Städten in den Griff zu bekommen. Das jetzige Programm
schafft höchstens Reparaturen an den Symptomen. Im
vergangenen Jahr hatte der Bund gerade einmal 10 Millionen DM übrig. Dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein.
Nun sollen 100 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden. Dabei handelt es sich lediglich um Verpflichtungsermächtigungen.
({11})
Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie die Chancen, die vor
mehr als vier Jahren entwickelt wurden, damit dieses Programm über seinen sozialpädagogischen Ansatz hinauskommt!
({12})
Dieses Programm, Herr Minister, ist wichtig. Es kann zu
einem Modell werden, wie auf Gemeindeebene Mitbürger
nicht Leistungsempfänger sind, sondern im Dialog und in
Form von Zusammenarbeit Probleme angehen, die sich
mit den traditionellen Instrumenten der Verwaltung nicht
mehr lösen lassen.
({13})
Meine Damen und Herren, die Weltkonferenz Urban 21 ist eine Chance. Es besteht die Möglichkeit, von
Deutschland aus wesentlich zur Lösung vieler weltweiter
Siedlungsprobleme beizutragen. Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Chance! Machen Sie auf angemessene
Weise die auch bei uns beginnende Verödung der Städte
zum Thema dieser Konferenz! Kommen Sie zu einer Neuorientierung Ihrer Politik in Deutschland! Stärken Sie die
kommunale Selbstverwaltung, anstatt ihre Flügel weiter
zu beschneiden! Dann setzen Sie weltweit ein gutes Beispiel für eine positive Stadtentwicklung.
Herzlichen Dank.
({14})
Als
nächste Rednerin hat jetzt das Wort die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Stadt und eine Politik für
die Städte im Parlament zu diskutieren ist etwas schwierig, wie wir auch heute merken. Denn die Stadt ist nicht
so fassbar wie ein Gesetzeswerk oder ein Paket Haushaltszahlen, über das sich hier im Parlament trefflich streiten und Kräfte messen lässt.
Hier geht es darum, dass wir uns sowohl beim Lob und
der Würdigung der Stadt als auch bei der Problembeschreibung einig sind. Was uns aber fehlt, ist ein engagiertes Streiten um die richtigen Wege, wie den Städten zu
neuer Kraft geholfen und was dazu auf den Ebenen Bund,
Länder und Gemeinden getan werden kann. Denn ich
glaube, wir alle sind uns einig, dass das nicht primär unsere Aufgabe ist. Nur in der Bündelung aller politischen,
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte können wir
dieses Thema angehen.
({0})
Deswegen geht es gerade hier um kommunikative Politik,
um den Diskurs, um das Gespräch mit allen Beteiligten,
national und international. Ich finde es daher sehr wichtig
und begrüßenswert, dass sich sowohl die Vorgängerregierung - insbesondere Herr Töpfer ist von Minister Klimmt
vorhin schon gelobt worden - als auch die jetzige Regierung diesem Thema offensiv und konstruktiv gestellt haben und stellen, dem nationalen und internationalen
Dialog über die Stärkung unserer Städte und über eine
nachhaltige Stadtentwicklung.
Wir sind uns alle einig - deswegen will ich das nur kurz
wiederholen -, dass die Stadt die Wiege unserer Demokratie ist, dass sie die Basis und Essenz unserer Zivilisation und unserer Kultur ist, dass sie Spannungs- und Aktionsfeld für Individuum und Gesellschaft ist - es gibt einen Spannungsbogen zwischen beiden - und Zentrum
unseres wirtschaftlichen und unseres sozialen Handelns,
Ort der Entwicklung von Geist und Ethos, Bildung und
Wissenschaft. Wir alle, unsere ganze Kultur und Zivilisation leben letztlich von Stadt und Stadtentwicklung.
Ein wichtiger Punkt ist besonders für uns hier in
Deutschland: Wir sind alle sehr stolz auf den Föderalismus, weil wir über den Föderalismus und unser politisches Prinzip, auf drei Ebenen zu handeln - in den Kommunen als der wichtigsten Ebene der Selbstverwaltung, in
den Ländern als zweiter Ebene, als Bündelung dieser Interessen und Ziele, und im Bund als nationaler politischer
Handlungsebene -, immer wieder dazu beitragen, unsere
Städte zu stärken und die politische Entscheidung nach
unten zu geben. Das ist und bleibt ein sehr wichtiges Prinzip, dem wir uns alle, fraktionsübergreifend, verpflichtet
fühlen.
({1})
Aber gerade wenn das so ist, müssen wir Verantwortung tragen und dürfen der aktuellen Entwicklung in unseren Städten gegenüber nicht gleichgültig sein. Ich mache mir Sorgen um unsere Städte und denke, dass wir alle
Kräfte bündeln müssen, damit unsere Städte in den aktuPeter Götz
ellen rasanten Veränderungsprozessen, die unsere Gesellschaft durchlebt, nicht zu Verlierern werden. Diese Gefahr
ist wirklich sehr groß und wir müssen darauf achten, alles
zu tun, damit das nicht erfolgt.
Meine Vorredner haben schon auf eine Reihe von Problemen hingewiesen. Ich will ein paar erwähnen. Ein Problem ist: Die Städte stehen heute in einer Form, die wir
früher nicht gekannt haben, vor internationaler Konkurrenz. Das ist nicht nur ein Problem der Metropolen,
sondern das Problem jeder Klein- und Mittelstadt; denn
jeder Stadt kann es passieren, dass die Möbelfabrik nach
Polen oder Portugal auswandert. Das kann die Existenz
einer ganzen Stadt, ihrer Wirtschaft und Bevölkerung bedrohen. Darum ist letztlich sogar so etwas wie unsere
Steuerpolitik ein Stück Politik zur Stärkung der Städte
und ihrer Wirtschaftskraft. Ich glaube, wir haben mit unserem Steuerreformkonzept gerade in letzter Zeit einen
deutlichen konstruktiven Beitrag geleistet, unsere Städte
und ihre Wirtschaftskraft zu stärken und ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist existenziell.
({2})
Ich mache mir aber auch Sorgen um das Zunehmen der
Stadt-Umland-Konkurrenz. Wir alle wissen, dass die
Städte immer ins Umland wachsen. Aber wir erleben aktuell eine Phase, in der es nicht mehr nur darum geht, dass
die Kraft der Städte nach außen, ins Umland drängt, dass
die Ballungsräume größer werden, weil die Städte einen
Überschuss an Wachstum und Entwicklungskraft haben,
sondern in der es zunehmend darum geht, dass die zentralen Stadtfunktionen aus den Städten und Ballungsräumen immer weiter nach außen gestülpt werden, an rein autoerschlossene Verkehrsknoten. Dort wachsen und wuchern inzwischen die Shoppingmalls, die Gewerbeparks,
die Freizeitparks und die Wohnparks. Alles ist mit dem
schönen Begriff Park versehen, bedeutet aber letztlich ein
Stück Schwächung unserer Städte. Es gibt Planer, die das
als den neuen Kult der Zwischenstadt loben. Ich glaube,
es ist eine Suburbanisierung, die mittlerweile zulasten der
Innenstädte geht und auch zulasten des ländlichen Raums.
Denn wir erleben einen doppelten Entleerungsprozess:
Der ländliche Raum einerseits und die Kernstädte andererseits verlieren Bevölkerung und Wirtschaftskraft an die
Stadt- und Ballungsrandgebiete, an die berühmten Speckgürtel. Diese Prozesse haben in letzter Zeit eine Dynamik
gewonnen, der wir nicht tatenlos zusehen dürfen. Vielmehr müssen wir ihr gegensteuern.
Deswegen möchte ich meine erste zentrale Forderung
wie folgt formulieren - ich bitte alle Kräfte in den Parlamenten, auch auf Länder- und kommunaler Ebene, das zu
berücksichtigen -: Wir müssen alles tun, um die Stadt als
Handels- und Marktzentrum zu erhalten und zu stärken. Dem Einkaufen auf der grünen Wiese müssen wir
entschlossener als bisher einen Riegel vorschieben.
({3})
Ich will ein ganz konkretes Beispiel schildern, an dem
sich zeigt, dass diese Entwicklung unsere eigene Politik in
diesem Bereich konterkariert. Im Dorf Wustermark, ein
paar Kilometer westlich von Berlin-Spandau, ist am
25. Mai das erste deutsche Factory-Outlet-Center mit
10 000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 57 Läden eröffnet worden. Dieses Factory-Outlet-Center heißt pikanterweise „B 5“. Man hat nämlich Folgendes gemacht:
Man hat eine Bundesfernstraße, die eigentlich eine Verbindung der großen Städte über das Land leisten soll, zu
einer schlichten Einkaufsstraße umfunktioniert. Jetzt ist
diese Einkaufsstraße - mit Stau - nichts anderes als eine
Erschließung für dieses Factory-Outlet-Center. Der Bund
wird nun vom Land Brandenburg aufgefordert: Wir brauchen mehr Geld aus dem Anti-Stau-Programm; ihr müsst
die Straße vom Stau freimachen und sie ausbauen. Gleichzeitig fördern wir die Stadterneuerung in den umliegenden Städten, in Nauen, in Potsdam, in Oranienburg, in
Rathenow. Das wird mit großem Engagement vonseiten
des Bundes, der Länder und auch der Kommunen selbst
gefördert. Aber de facto ist die Substanz dieser Städte gefährdet, weil der Handel und das Wirtschaftsbürgertum
still vor sich hin sterben.
({4})
Das ist ein Prozess , den wir so nicht hinnehmen dürfen.
({5})
Darum denke ich, dass wir entschiedener als bisher
diesen Prozess eben nicht einfach unter „kommunale
Selbstverwaltung“ abhaken und die Städte der gegenseitigen Bürgermeisterkonkurrenz überlassen dürfen. Potsdam ebenso wie Berlin-Spandau haben nämlich gegen das
Genehmigungsverfahren des erwähnten Factory-OutletCenters erfolglos geklagt.
Das ist übrigens nicht nur ein Problem von Brandenburg oder von ostdeutschen Städten. In Baden-Baden
wird gerade diskutiert, ob man auch dort ein großes Factory-Outlet-Center errichtet. Es gibt eine Reihe weiterer
Standorte, wo diese Diskussion geführt wird. Ich glaube,
wir müssen die Prinzipien der Raumordnung stärken und
dafür sorgen, dass der Einzelhandel in der Form als zentrumsorientierter Einzelhandel wieder in die Ober- und
Mittelzentren kommt - wie es unsere Raumordnung vom
Prinzip her vorsieht - und nicht an jedes beliebige Autobahn- und Schnellstraßenkreuz. Das darf nicht sein.
({6})
- Ich nehme diesen Applaus als das Zeichen allseitiger
Bereitschaft, dass wir das Thema noch in dieser Legislaturperiode ein Stück weit voranbringen. Ich glaube, wir
können das.
Lassen Sie mich noch einen zweiten „Baustein“ ansprechen - auch Kollege Götz hat das gemacht; wir sind
uns in der Beschreibung völlig einig -: Wir müssen die
Stadt - nicht nur die Innenstadt - und die vorhandenen
Siedlungsräume als Wohnort wiedergewinnen und wir
müssen der Zersiedelung entschlossener als bisher begegnen, nicht etwa, weil wir gegen Eigenheime und
Eigentum sind. Wir können sehr wohl Eigentumsformen
und den Wunsch nach einem Eigenheim mit der Idee der
Stadt verbinden und dann gewinnen die Menschen auch
wieder die Qualität der Beziehung zwischen der Gestaltung und der Verwirklichung ihres individuellen Lebens
und dem gesellschaftlichen Leben, das die Stadt bietet.
Man muss es deutlich sagen: Der tägliche Flächenverbrauch in Deutschland beträgt 120 Hektar, davon
50 Hektar für Wohnflächen, 70 Hektar für Verkehr, Gewerbe und Sonstiges. Diese wachsende Zersiedelung und
die damit verbundene Zerschneidung und Zerstückelung
unserer Landschaft und Freiflächen sind nicht nur ein
ökologisches Problem. Ich betone das deshalb, weil man
immer denkt, das sei ja nur das ökologische Interesse der
Grünen. Das stimmt nicht. Es wird zunehmend zu einem
volkwirtschaftlichen und zu einem sozialen Problem.
Denn die Bürgermeisterkonkurrenz der Umlandgemeinden geht immer mehr zulasten der Städte. Für immer weniger Menschen braucht unsere Gesellschaft immer mehr
Erschließung und immer mehr Infrastruktur. Wir stehen
an einer Schwelle, an der die Städte ihren Infrastrukturbestand nicht mehr qualifiziert erneuern können, weil zu
viel Kraft in den Infrastrukturneubau in immer weiter auseinander gezogene Räume geht. Dem müssen wir entgegenwirken, nicht nur aus ökologischen, sondern aus ökonomischen Gründen.
({7})
Hinzu kommt, dass auf diese Weise die soziale Entmischung in unseren Städten bedrohlich voranschreitet. Die
einkommensstarken Familien, gerade die jungen Leute,
wandern nach außen, aus den Städten heraus. Die soziale
Schieflage in den Städten, zwischen den Stadtteilen und
bezüglich der Stadt-Umland-Beziehung wird zum immer
größer werdenden Problem. Wenn ich manchmal sage ich komme gleich zum Schluss -, dass mir das Phänomen,
dass wir zum ersten Mal Wohnungsüberangebote haben, Sorgen macht, dann liegt das daran, dass diese Tatsache dazu führt, dass die Menschen immer mobiler werden und damit die Stadtteile, die nicht konkurrenzfähig
sind, zu den Verlierern werden und immer mehr soziale
Probleme bekommen.
Minister Klimmt hat darauf hingewiesen: Wir haben in
großartiger Form das Programm „Soziale Stadt“ sehr entschlossen zu Beginn dieser Regierung auf den Weg gebracht; nicht Sie, Kollege Götz, sondern wir. Ich glaube,
wir müssen dieses Instrument weiterentwickeln, stärken
und nicht zerreden. Wir dürfen ihm aber auch nicht zu viel
zumuten, sondern müssen an anderen Stellen der Zersiedelung entgegenwirken, damit dieses Instrument der Stärkung von Nachbarschaft und sozialem Zusammenhalt
auch wirklich aktiv greifen kann.
Deswegen möchte ich dafür werben, unsere Kräfte zu
stärken, um Bauland in besiedeltem Bereich zu aktivieren und nicht immer weitere Zersiedelung zu unterstützen. Wir müssen den Bestand und die Entwicklung unserer bestehenden Stadtteile stärken. Wir können es und
sollten es gemeinsam tun, statt zu argumentieren, als
könnten wir zwar die Probleme beschreiben, aber müssten nicht hier und heute handeln.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael
Goldmann [F.D.P.]
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen UweJens Rössel von der PDS-Fraktion.
Liebe Kollegin
Eichstädt-Bohlig, Ihren Ansprüchen an zukunftsfähige
Stadtentwicklung kann ich nur zustimmen. Auch Ihrer
Problembeschreibung kann ich Unterstützung geben. Was
mir in Ihrem Beitrag aber fehlt, ist eine kritische Sicht der
Verantwortung der Bundesregierung, was die nachhaltige Stadtentwicklung betrifft. Gewiss ist manches Positive passiert. Sie haben das Programm „Soziale Stadt“ benannt. Aber es gibt auch eine Reihe von Problemen und
Versäumnissen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Ich
möchte nur zwei Fakten nennen.
Erstens, das rot-grüne Ökosteuer-Projekt. Das rotgrüne Ökosteuer-Projekt ist wohl nicht geeignet, die
nachhaltige Stadtentwicklung zu befördern. Es verkommt
immer mehr zu einer Abzockerei von Bürgerinnen und
Bürgern.
({0})
Obwohl Nahverkehrsbetriebe nur den halben Ökosteuersatz bezahlen, ergeben sich gerade für diese umweltfreundlichen städtischen Unternehmen erhebliche Mehrbelastungen, die vom Bund nicht ausgeglichen werden.
Das aber hat nicht mit nachhaltiger Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs zu tun und müsste der Bundesregierung wohl ernsthaft zu denken geben.
Zweitens. Auch die derzeitige Finanzausstattung der
Kommunen, ein Wechselspiel von vielen Faktoren, ist
nicht dazu geeignet, die Stadtentwicklung zu befördern
und die Zukunftsfähigkeit der Kommunen zu garantieren.
Wir haben stark rückläufige Investitionen zu beklagen:
1992 etwa 50 Milliarden DM, zurzeit nur noch rund
30 Milliarden DM im Jahr. Das hat dramatische Auswirkungen auf Beschäftigung und Handwerk.
Herr Kollege Rössel, Sie haben das Recht, auf die Rede von Frau
Eichstädt-Bohlig Bezug zu nehmen. Sie haben nicht das
Recht, eine eigene Stellungnahme einzubringen.
({0})
Ich komme sofort dazu.
Frau Eichstädt-Bohlig hat nämlich behauptet, dass das
rot-grüne Unternehmensteuerkonzept, das der Bundestag
kürzlich verabschiedet hat, zu einer Verbesserung der
städtischen Finanzen geführt hat. Das ist aber nicht der
Fall.
Bis zum Jahr 2004 - Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie
kennen die Zahlen auch - werden die Kommunen Einnahmeausfälle von 12 Milliarden DM bei der Lohn- und
Einkommensteuer zu beklagen haben. Dazu kommt, dass
sie auch noch mit 20 bis 25 Prozent an den Einnahmeausfällen der Länder beteiligt sind. Schließlich kommt noch
hinzu, dass sich die Bundesregierung dafür eingesetzt hat,
dass die Kommunen im Ergebnis des neuen Steuersenkungskonzeptes bis zu 30 Prozent der Gewerbesteuer an
Bund und Länder abführen müssen. Letzteres sind noch
einmal Mehrbelastungen in Höhe von 5 Milliarden DM.
Die Kommunen, Frau Eichstädt-Bohlig, haben einen
Steueranteil von 11 Prozent am gesamten Steueraufkommen in Deutschland. Sie werden aber mit 18 Prozent zur
Finanzierung an der Steuerreform herangezogen. Das hat
nichts mit nachhaltiger Stadtentwicklung zu tun.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Das erfordert einfach
eine Erwiderung.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bitte schön.
Herr Kollege Rössel, zum Ersten muss ich
ganz klar sagen: Unsere Städte leiden an dem Klimawandel, der sich jetzt vollzieht, in besonderer Weise.
Wenn Sie das in diesem Sommer hier in Berlin nicht merken, dann werden Sie auch nicht merken, was Klimawandel bedeutet.
Die Ökosteuer und die sonstigen energiepolitischen Instrumente - Minister Klimmt hat auf sie hingewiesen wie zum Beispiel unsere Energieeinsparverordnung, unser 100 000-Dächer-Programm, die Stärkung von regenerativen Energien und die Ökosteuer mit ihrer Wirkung
auf den Verkehr und auf den sparsameren Umgang mit
Heiz- und sonstigen Energien im Gebäudebereich sind
ganz zentrale Bausteine zum Schutz unserer Städte in diesem Klimawandel. Diese brauchen wir ganz dringend,
und genau deswegen halte ich die Polemik, mit der die
Ökosteuer von der rechten und der ganz linken Seite hier
vehement bekämpft wird, für einen primitiven Umgang
miteinander.
({0})
Die Bürger sind inzwischen verantwortungsbewusster
geworden; denn sie gehen sparsamer mit dem Energieverbrauch und dem Spritverbrauch im Auto um. Sie sind
eigentlich viel weiter als die Politiker, die uns immer wieder einzureden versuchen, die Bürger übernähmen keine
Verantwortung für den Erhalt unseres Klimas und den
Umgang mit unserer Umwelt.
({1})
Insofern fordere ich gerade hier die Oppositionsparteien auf, endlich wieder zur Vernunft der Politik zurückzukehren und verantwortliches Handeln nicht ständig
mies zu machen, sondern positiv zu unterstützen.
({2})
Zum Zweiten kann ich nur sagen: Unsere Steuerreform hat sehr wohl sowohl die Konkurrenzfähigkeit der
Unternehmen im internationalen Rahmen in deutlicher
Form gestärkt als auch - gerade dafür haben wir Grünen
uns in den Debatten besonders engagiert - die Stärkung
der kleinen und mittleren Unternehmen, die die Substanz
der Städte ausmachen, vorangebracht. Über die Stärkung
der Wirtschaftskraft werden auch die Einnahmen der
Kommunen und der Länder stabilisiert und gestärkt. Sie
selbst haben es im Finanzausschuss intensiv mitdiskutiert.
Ich bin gern bereit, noch eine ausführliche steuerpolitische Debatte zu führen, aber eigentlich gehört sie nicht
zur Tagesordnung und deswegen lasse ich das hier so stehen.
({3})
Als
nächster Redner hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt uneingeschränkt, dass die Weltkonferenz zur Zukunft der
Städte bei uns in Berlin stattfindet und eine große Ausstrahlung ins Umfeld dieser Stadt hat. Die Konferenz
führt global handelnde und sich mit globalen Themen beschäftigende Persönlichkeiten nach Berlin. Sie wollen in
Podien die Dinge erörtern, die für die Zukunft unserer
großen Städte, die für die Zukunft der Welt, aber auch in
der Ausstrahlung für unsere europäischen Städte von
großer Bedeutung sind. Es geht um die Stadt als Lebensraum, als Ort von Mobilität, als Ort von Kultur. Es geht
um die Entwicklung von Stadtstruktur und Wohnraum.
Die Weltkonferenz hat vier sehr interessante Partnerländer: das riesige Brasilien, den Stadtstaat Singapur, das
Umbruchland Südafrika und Deutschland, ein Land mit
breiter historischer Stadtstruktur und Stadtkultur und mit
sehr moderner städtischer Entwicklung, an der einen oder
anderen Stelle auch mit städtischer Problementwicklung.
Mir wird an der einen oder anderen Stelle im Antrag
der SPD zu wenig deutlich, welch riesige Chancen für die
Ausgestaltung des Lebens in unseren Städten bestehen.
Ich begrüße, dass das von Minister Klimmt in seinem
Grußwort zur Urban 21 deutlich gemacht wurde.
Die Städte sind Orte der Gemeinsamkeit und der Toleranz. Gerade Liberale sehen sie auch als entscheidenden Freiraum, weil Menschen mit unterschiedlicher Interessenlage, mit unterschiedlicher Begabung und Neigung
gerade in einer Stadt immer wieder ihre sehr persönliche
Heimat und ihren persönlichen und gesellschaftlichen Lebensraum finden.
({0})
Deswegen sagen wir Liberale auch ein sehr klares Ja
zur Stadt. Ich will an dieser Stelle meine sehr große
Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass wir diese Debatte heute in einer wunderbaren Stadt führen, die in den
letzten Jahren eine Entwicklung genommen hat, die ich,
Frau Eichstädt-Bohlig, als eine außerordentlich positive
Klimaveränderung betrachte.
({1})
Als ich gestern in die Stadt hineinkam und warten
musste, weil sehr viele Menschen ihre Freizeitfreude auf
Rollern zum Ausdruck brachten,
({2})
sah ich in den Gesichtern dieser Menschen, wie sie ihre
Stadt annehmen. Die Menschen insgesamt in Deutschland
nehmen ihre Städte an. Deswegen sind auch Stadtkultur
und Stadttourismus wesentliche Elemente der Lebensfreude in unserem Land.
({3})
Urban 21 stellt auch eine notwendige und richtige
Wechselbeziehung zur EXPO her. Auch als Niedersachse
möchte ich Sie sehr herzlich bitten: Lassen Sie sich von
Anfangsirritationen nicht verwirren. Gehen Sie hin, lassen Sie sich begeistern. Stellen Sie fest, dass der Einklang
von Mensch, Natur und Technik möglich ist. Lassen Sie
sich nicht dadurch abhalten, dass an der einen oder anderen Stelle Missmanagement diese EXPO überschattet.
Wir begrüßen die Regierungserklärung sehr nachdrücklich. Wir begrüßen auch, dass sie an dieser zentralen
Stelle erfolgte. Wir begrüßen auch die grundsätzlichen
Ausführungen, die Herr Minister Klimmt gemacht hat.
Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen, aber ich
denke, dass Ihre „Leistungsbilanz“, Herr Minister, erhebliche Schwächen aufweist. Ich meine, dass die Zusammenlegung des Ministeriums für Bau- und Wohnungswesen mit dem Verkehrsministerium Probleme schafft. Die
Behandlung solcher Themen wie „Städtische Entwicklung“ und „Urbanität“ kommt bei diesem Zusammenschluss schlicht und ergreifend zu kurz.
({4})
Ich glaube, dass wir viel energischer - was auch Frau
Eichstädt-Bohlig ansprach - Raumordnungsgesichtspunkte und die Innenstadtentwicklung berücksichtigen
müssen. Aber wir müssen auch Ja zu Weichenstellungen
im wirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel beim Thema
„Ladenschluss“, sagen.
({5})
Wenn Sie die Ladenschlusszeiten verändern, geben Sie
damit den Innenstädten eine besondere Chance.
Herr Minister, es macht keinen Sinn, die Ökosteuer
auf den ÖPNV anzuwenden und zu Erhöhungen in diesem
Bereich zu kommen,
({6})
wenn Sie zu einer umweltverträgliche Mobilität kommen
wollen.
({7})
Die Menschen gehen auch nicht primitiv mit diesem
Thema um, sondern reagieren auf Dinge, durch die ihnen
Geld aus der Tasche gezogen wird. Die Menschen reagieren gerade in Städten auf Finanzentwicklungen besonders
kritisch und zurückhaltend, weil dort häufig die Einkommen nicht so üppig sind, wie dies der eine oder andere
meint.
Nehmen Sie zum Beispiel die Steuerpolitik, die dazu
geführt hat, dass der Mietwohnungsbau und damit das,
was Architekten in einer Stadt entwickeln können, so
zurückgegangen ist, wie er zurückgegangen ist. Nehmen
Sie die Umverlagerung, die Sie mit der Wohngeldnovelle
vorgenommen haben. Sie nehmen an einer Stelle, wo gute
städtebauliche Entwicklungen auf den Weg gebracht worden sind, um eine andere Stelle zu speisen. Man kann das
machen, darf sich dann aber nicht darüber wundern, dass
sich dies auf die städtebauliche Entwicklung so negativ
auswirkt, wie es hier Vertreter der Regierungskoalition
zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben hier noch viele
Hausaufgaben zu machen.
Wir sollten noch einen Blick auf die Probleme der
Städte werfen, die bei Urban 21 besonders angesprochen
werden. In den Unterlagen zu Urban 21 gibt es eine Übersicht über die Einwohnerzahl der Städte. Die zugrunde
liegende Erhebung liegt interessanterweise schon weit
zurück, sie stammt aus dem Jahre 1996. Man musste zu
einem Trick greifen und sehr lange zählen, bis endlich ein
deutscher Ballungsraum in dieser Statistik Niederschlag
finden konnte. An 29. Stelle taucht das Ruhrgebiet mit
6,5 Millionen Menschen auf. Angeführt wird diese Liste
von Städten wie Tokio mit 27 Millionen, heute wahrscheinlich 30 Millionen Einwohnern, und Mexiko-City
mit 17 oder 20 Millionen Einwohnern. Diese Städte stehen vor Herausforderungen, die in unserer Gesellschaft
nicht genügend verankert sind. Das Trinkwasser- und
das Hygieneproblem in diesen Städten ist im Bewusstsein unserer Bevölkerung nicht genügend präsent.
({8})
Deswegen ist diese Veranstaltung so besonders wichtig;
denn wir müssen uns aus dem nationalen Blick heraus diesen Aufgabenstellungen insgesamt zuwenden.
({9})
Es ist eine zentrale Aufgabe für ein Parlament, ja für uns
in Europa, aber speziell in Deutschland, dass wir uns diesen Problemen in besonderer Weise zuwenden.
Ich glaube, Herr Dr. Kansy und Herr Dr. Töpfer und andere hätten nicht geglaubt, dass dieses „Orchideenthema“
mit Urban 21 hier in Berlin eine so breite Resonanz - hoffentlich - finden wird und uns Anregungen und Anstöße
geben wird, gegenüber den Megacitys eine andere Haltung einzunehmen, die darauf abzielt, die Gegebenheiten
in diesen Städten zu verbessern. Das ist soziale Verantwortung, das ist globale Verantwortung, die wir gern
wahrnehmen.
An all dem, was sich damit beschäftigt und was dahin
gehend Weichen stellt, um die Situation in diesen Städten,
um die Situation weltweit friedenssichernd und stabilisierend zu verändern, wird sich die F.D.P. aktiv positiv beteiligen. Wir wünschen uns in dieser Phase enge Zusammenarbeit und bieten sie herzlich an.
({10})
Das Wort
hat jetzt Kollegin Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wer wollte die Weltkonferenz nicht
begrüßen? Aber die Zahl von Symposien, Konferenzen
und Veranstaltungen, die Zahl der Papiere, der Berichte,
der Kommissionen zur Stadt der Zukunft ist ungeheuer
groß, die Zahl der politischen Bekenntnisse auch. Alle
Parteien wollen die Zersiedelung eindämmen, alle Parteien wollen die Landflucht stoppen, alle wollen Bauland
billiger anbieten, alle wollen Urbanität, alle wollen soziale Durchmischung, alle wollen Nachhaltigkeit.
Nichts könnte man gegen Ihre Regierungserklärung sagen, Herr Klimmt, und gleich gar nichts gegen Ihre wunderbare Rede, Frau Eichstädt-Bohlig. Aber die Realität ist
eine andere:
Die Städte wachsen an den Rändern und nicht im Kern.
Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Leben setzt sich
unvermindert fort. Interessant ist übrigens, dass die Ursache des Pendelns nicht der neue Wohnsitz, sondern der
Wechsel des Arbeitsortes ist, die Verlagerung des Arbeitsortes nach draußen.
Der Anteil sozial Schwacher und Älterer in den Städten steigt, weil Jüngere und Besserverdienende die Städte
verlassen. Die soziale Polarisierung schreitet weiter
voran. Damit verschärfen sich die Wohnungsprobleme für
die zurückbleibende Minderheit in den Städten deutlich,
und gleichzeitig funktioniert der Teilmarkt persönliches
Wohneigentum wegen zu hoher Kosten nicht.
Es kommt zu Zusatzverkehr, zu weiterer Versiegelung,
zu Flächenverbrauch, zu Umweltbelastung, zu hohen gesellschaftlichen Kosten, und es kommt zur Umverteilung
der Finanzen zuungunsten der Städte, obwohl diese durch
die relative Zunahme besonders sozial Schwacher spürbar
mehr finanzielle Belastungen verkraften müssen.
Die spannende Frage, die ich heute hier nicht gehört
habe, die sich heute hier noch keiner gestellt hat, jedenfalls öffentlich nicht, lautet: Wieso ist denn das so? Wieso
gibt es diesen Widerspruch zwischen der politischen Deklaration einerseits, bei der sich alle einig sind, und den
realen Prozessen andererseits, die total entgegengesetzt
verlaufen?
({0})
Ich denke, man kann, wenn man diese Frage nicht stellt
und wenn man diese Frage nicht beantwortet, dieses
Thema überhaupt nicht behandeln. Weil Sie sich dem
verweigern, muss ich es tun.
({1})
Ich glaube, eine Ursache dafür, warum diese Frage
nicht gestellt wird, liegt darin, dass der Politik der Realitätssinn fehlt, dass die Politik die Konflikte der Realität
scheut, dass die Politik sich die Welt schönredet, dass die
Politik Widersprüchen ausweicht, den einfachen Weg
wählt und somit unfähig ist, reale Veränderungen herbeizuführen.
({2})
Ihre Entschließung, meine Damen und Herren von
Rot-Grün, enthält wunderbare Sätze, die zwar nicht falsch
sind, jedoch fernab der Wirklichkeit liegen.
({3})
So enthält diese Entschließung zum Beispiel die Aussage,
der Bundestag solle feststellen, dass 80 Prozent der europäischen Bevölkerung in Städten lebt. Nun frage ich Sie:
Was nützt das? Ich dachte immer, wir wüssten das bereits.
({4})
Ich hätte mir eher gewünscht, dass Sie aufzählen, wie und
warum die Bevölkerungszahlen in den Städten zurückgegangen sind und was Sie konkret dagegen tun wollen.
Sie kommen auch zu der wunderbaren Erkenntnis, der
Siedlungs- und Städtebau sei am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Woran soll er sonst ausgerichtet sein? Sie brauchen uns nicht feststellen zu lassen, dass nachhaltig ausgerichtet werden müsse. Ich kann
nur sagen: Richten Sie doch aus, und zwar nachhaltig!
({5})
Um diesen Widerspruch einmal auf den Punkt zu bringen:
Sie vergessen, eine Sommersmogverordnung in Kraft zu
setzen, wollen hier aber solche Aussagen beschließen lassen.
({6})
Sie haben bis heute die vergleichsweise bescheidene
Handlung unterlassen, das Bundes-Bodenschutzgesetz
auch bei Militärflächen und Verkehrswegen anzuwenden.
Genau diese Handlung hätte aber eine nachhaltigere Wirkung als Ihr Entschließungsantrag.
({7})
Wir müssen nicht darum herumreden: Auch Sie fliehen
vor den Konflikten.
So wird zum Beispiel Fläche zu gleichen Teilen von
Verkehr, Gewerbe, Wirtschaft und Wohnungsbau verbraucht. In der öffentlichen Debatte wird der Flächenverbrauch jedoch auf den Wohnungsbau verengt. Sie wissen
das alle und spielen trotzdem in diesem Spiel mit. Ich sagen Ihnen auch, warum: Würden Sie sich an den Abbau
der hohen Subventionierung gewerblicher Flächen heranwagen, hätten Sie sofort die Wirtschaftslobby auf dem
Hals und diesen Konflikt scheuen Sie.
({8})
Selbst die von Ihnen erneut gelobte Städtebauförderung ist ein Indiz Ihrer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Sie ist ohne Zweifel ein gutes Instrument, das aber
zum finanziellen Feigenblatt degradiert und vom Umfang
her nicht annähernd geeignet ist, die Probleme in den
Städten zu lösen. Was sind 600 Millionen DM für die
Städtebauförderung gegen 6 Milliarden DM für Straßenbaumaßnahmen?
({9})
Betrachtet man die gesamten stadtwirksamen Investitionen im Bundeshaushalt 2000, so kann man erkennen,
dass die Städtebauförderung gerade einmal 3 Prozent des
Gesamtvolumens ausmacht. Der größte Teil steht für
Bundesfernstraßen und dem Straßenbau allgemein zur
Verfügung. Es fließen auch Mittel über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz an die Gemeinden, womit
nicht nur Gutes bewirkt wird, da über dieses Gesetz oft
genug stadtfeindliche Projekte in Gang gebracht werden.
Sie schreiben in Ihrer Entschließung auch allen Ernstes, dass eine Überhandnahme des Individualverkehrs unsere Städte zu ersticken drohe.
Weiter bringen Sie zum Ausdruck, dass der soziale
Wohnungsbau gerade in den Städten wesentlich zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohnerstrukturen beitrage. Dabei ist Realität, dass er in der Vergangenheit auch das Gegenteil bewirkt hat, nämlich die
Konzentration von mit sozialen Problemen behafteten
Mietern in Wohnmaschinen. Realität ist auch, dass Sozialwohnungen en masse aus der Bindung fallen, sodass
wir bald keine mehr haben werden. Es ist auch Realität,
dass Sie das Finanzvolumen Ihres sozialen Wohnungsbaus auf ein so kümmerliches Maß gesenkt haben, dass
Sie es vermeiden sollten, den Begriff überhaupt noch in
den Mund zu nehmen.
Es scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, dass die Regelinstrumente, besonders die finanziellen, gegenüber dem
Leitbild einer - wie Sie schreiben - „kompakt gebauten,
durch vielfältige Nutzungsmischung und die Pflege baulichen Erbes geprägten europäischen Stadt“ versagen. Es
fließen unentwegt Milliarden an öffentlichen Mitteln direkt in Investitionen, die stadt- und umweltschädlich sind.
So wurde zum Beispiel in Dresden im Beisein des Bundeskanzlers am Großen Garten, der grünen Lunge der
Stadt, eine gläserne Fabrik des Volkswagen-Konzerns
eröffnet, in der eine Luxuslimousine gefertigt wird. Dieses Projekt wurde sehr hoch subventioniert und von der
rot-grünen Bundesregierung mit eingeweiht.
({10})
Diese Luxuslimousinen werden damit von allen Steuerzahlern mitfinanziert. Ich denke mir aber, ein Besserverdienender kann für ein solches Luxusauto auch noch
20 000 DM drauflegen. Die Folgekosten solcher staatlich
subventionierten Investitionen werden wiederum von der
Gesellschaft getragen. Sie werden niemals - auch durch
Sie nicht - aufgerechnet, öffentlich gemacht und bilanziert.
Das Wohnungsförderinstrumentarium ist erstarrt und
unflexibel. Es ist von vornherein bestimmt, wofür jede
einzelne Mark ausgegeben werden darf. Der Bund legt
nach wie vor fest, wofür die Stadt das Geld verwenden
darf. Das ist gerade aus Gründen der Demokratie absurd
und überholt. Ich zitiere wieder, Frau Eichstädt-Bohlig:
„Die Stadt ist die Keimzelle der Demokratie.“ Die Politiker in Rostock, in Saarbrücken und anderswo wissen viel
besser, wofür sie die Mittel verwenden müssen: ob für Belegungsrechte, Umfeldgestaltung, für Kultur, für die Bank
an der Ecke, für Bestandserneuerung oder die Bäume an
der Straße.
({11})
Nehmen Sie Ihren Förderetat - er ist klein genug - und
bilden Sie damit endlich einen Gesamtfördertopf! Lassen
Sie die Städte über den Einsatz in kommunaler Selbstverwaltung entscheiden!
({12})
Das kostet Sie keine Mark mehr, aber die Wirkung wird
eine ganz andere und bessere sein. Es ist nämlich auch
eine Frage des Vertrauens. Wer anderen die Verwendung
des Geldes vorschreibt, misstraut ihnen. Misstrauen ist
keine gesunde Basis und ist in keiner Weise gerechtfertigt.
Im Gegenteil: Man kann den Stadtpolitikern nur Respekt
zollen und ihnen dafür danken - das tue ich hiermit -, dass
sie in den letzten Jahren mit den zunehmend schwierigeren Problemen und den Rahmenbedingungen zurechtgekommen sind, die sich auch unter Rot-Grün nicht verbessert, sondern verschlechtert haben.
Meine Damen und Herren, der großen Worte sind genug gewechselt. Ich mag sie nicht mehr hören. Finden Sie
zu einer neuen Bescheidenheit zurück! Unternehmen Sie
praktische Schritte und seien sie zunächst auch noch so
klein.
Für den Neubau gibt es eine Eigenheimzulage von
40 000 DM, für den Kauf eines Hauses aus dem Bestand
nur 20 000 DM. Ändern Sie diese Diskrepanz! Beklagen
Sie nicht länger die hohen Baulandpreise! Reformieren
Sie endlich die Grundsteuer, damit die Bevorteilung unChristine Ostrowski
bebauter Grundstücke ein Ende hat. Realisieren Sie Ihr
Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die Gemeinden
an den herbeigeführten Bodenwertsteigerungen finanziell
stärker zu beteiligen.
Die Kilometerpauschale wirkt als Zersiedlungspauschale. Führen Sie die Entfernungspauschale ein, wie Sie
es im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben! Setzen
Sie die Energiesparverordnung in Kraft! Sie sind ein Jahr
im Verzug. Sorgen Sie dafür, dass die Städte ausreichenden Wohnungsbestand für Minderverdienende haben.
Richten Sie Ihre Förderpolitik auf eine gemischte Sozialstruktur im kommunalen Wohnungsbau aus.
({13})
Stärken Sie die Eigenverantwortung der Städte bei der
Verwendung von Fördermitteln und geben Sie ihnen einen Topf in die Hand, den sie in kommunaler Selbstverwaltung verwenden können!
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Ostrowski.
Ich komme zum
Schluss.
Greifen Sie den Vorschlag auf, der im vergangenen
Jahr auf dem nationalen Städtekongress gemacht wurde!
Bilden Sie einen Rat der Städte, ähnlich den Fünf Weisen,
wie es Herr Ganser vorgeschlagen hat. Für alle möglichen
Themen gibt es Kommissionen, nur für die Zukunft der
Städte nicht, dort, wo die Menschen leben.
({0})
Und am allerschönsten wäre es, Sie würden einen
Stadtminister schaffen.
({1})
Die Planstelle für Staatsminister Schwanitz könnten
Sie dafür zur Verfügung stellen.
({2})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Angelika Mertens von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Frau Ostrowski, Sie haben
sich als Einzige der Diskussion verweigert, die sich mit
der Philosophie der europäischen Stadt befasst. Ich bedaure dass sehr. Das Einzige, was uns bei diesem Thema
verbindet, ist die Elbe, aber sonst nichts.
Wir stehen zu den Zielen einer nachhaltigen, zukunftsverträglichen Entwicklung als zentraler Zukunftsaufgabe
unserer Gesellschaft und einer sozial- und umweltverträglichen Städtebaupolitik, wie sie in Rio und Istanbul
vereinbart wurde.
Seit Rio sind 192 Monate vergangen. Ein Zehntel dieser Zeit tragen wir Verantwortung. Deutschland hat ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Beschlüsse von
Rio und Istanbul umzusetzen. Deshalb wäre es unredlich,
das, was bis jetzt geschehen ist, nicht zu beschreiben und
zu würdigen.
Mit dem gleichen Selbstverständnis verweisen wir
aber auch auf das Neue, das wir in der kurzen Zeit nach
dem Regierungswechsel hinzugefügt haben, und sind ehrlich und mutig genug, auch das aufzuzeigen, was noch getan werden muss. So wie wir - positiv - in der Politik einer nachhaltigen Stadtentwicklung nicht völlig neu anfangen müssen und - negativ - leider keine Stunde Null
beim Haushalt hatten, sondern den größten Schuldenberg
geerbt haben, den diese Republik jemals hatte, gibt es
auch keine Stunde Null in der Städtebaupolitik, keine in
der Raumordnung, keine in der Wohnungspolitik und in
der Verkehrspolitik schon gar keine.
Die bei den Planern beliebte Hühnereitheorie belegt, in
welchem Ausmaß und in welchem Tempo sich die Stadt,
insbesondere die deutsche, verändert hat: Bis zur Aufklärung begrenzten Stadtmauern ein kompaktes Gebilde.
Die Stadt, sagen die Planer, ähnelte einem hart gekochten
Frühstücksei. Die Schale wurde durch die industrielle Revolution aufgesprengt und zerfranste an den Rändern. Die
Stadt glich nunmehr einem Spiegelei. Aber das Gelbe, der
Stadtkern, blieb unangetastet, so groß die Stadt auch
wurde. In der Nachkriegszeit wurden in den Zentren
Freiräume geschaffen. Die Unterschiede zwischen Stadt
und Land verschwanden. Die Stadt gleicht nunmehr einem Rührei.
Wir beobachten jetzt die Tendenz zu einer dreigeteilten
Stadt. Die Strukturen grenzen sich immer schärfer voneinander ab: Das ist erstens - die international wettbewerbsfähige Stadt. Das ist - zweitens - die normale Arbeits-, Versorgungs- und Wohnstadt. Das ist - drittens die marginalisierte Stadt der Randgruppen. Überlagert
wird das alles von den Widersprüchlichkeiten zwischen
Kernstadt und Umland. Genau das besagen die Spiegellei- und die Rühreitheorien. Das Umland delegiert
seine sozialen Probleme an die Kernstädte.
Ich wünsche mir manchmal, dass diejenigen Politiker
und Politikerinnen - jedenfalls, soweit sie noch unter uns
sind -, die uns - das meine ich parteiübergreifend - als
schlechte Politikergeneration darstellen, angesichts dessen, was sie uns hinterlassen haben, wenigstens ein bisschen Trauerarbeit leisteten würden. Ich meine damit nicht
diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Fehler oder
vermeintliche Fehler gemacht haben, weil sie unter einem enormen Druck Wohnraum schaffen mussten. Ich
meine diejenigen, die sich der Faszination eines einzigen
Produktes hingegeben haben und die autogerechte Stadt
bauen wollten, diejenigen, die noch in den 70er-Jahren
ohne Not Großsiedlungen gebaut haben und ganze Altstadtgebiete abreißen ließen, und diejenigen, die den
Stadtteilen die Mitte genommen haben. Wie viele Marktplätze entpuppen sich schließlich als vierspurige Straßen!
Aus einer Berliner Senatsbroschüre aus dem Jahre
1957 ist Folgendes zu entnehmen:
Fußgänger? Mit unverbesserlichen Neandertalern
kann sich die neue Straße nicht abgeben. Wer ein Ziel
hat, soll im Auto sitzen, und wer keins hat, ist ein
Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächsten Park.
Räumliche Trennung von Wohnen, Leben und Arbeiten,
Einkaufszentren am Rande der Stadt, Schlafstädte, Zersiedelung und immer mehr Verkehrswege sind das Erbe,
mit dem wir heute umgehen müssen und das, so hoffe ich,
anders aussehen würde, wenn wir damals die politische
Verantwortung getragen hätten. Aber auch wir werden irgendwann nach dem beurteilt werden, was wir heute getan haben. Deshalb fordere ich uns auf, so fehlerarm und
rückholbar wie möglich zu agieren.
Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland
trotz dieser Veränderungen noch relativ gute Voraussetzungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Nun wird
das Wort „Nachhaltigkeit“ geradezu inflationär verwendet. Keine namhafte Firma entzieht sich in ihren Umweltberichten diesem Gedanken und diesem Ausdruck. In
aller Unverbindlichkeit könnte auch das Fünfzehnliterauto als nachhaltig bezeichnet werden. Trotzdem möchte
ich diesen Ausdruck verwenden, weil er nicht nur für jeden verständlich ist, sondern auch eine hohe Übereinstimmung darüber besteht, was mit ihm gemeint ist:
Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, Ökologie, Ökonomie und soziale Ziele so in Einklang zu bringen, dass
die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen befriedigt
werden, ohne folgenden Generationen die Chance für ihre
eigene Lebensgestaltung zu nehmen. Klaus Töpfer hat in
diesem Zusammenhang von den drei Lebenslügen der Industriegesellschaft gesprochen: Wir subventionieren unseren Wohlstand auf Kosten der Umwelt, der Mitwelt und
der Nachwelt.
Gelingt es den Entwicklungsländern, das Wohlstandsmodell der Industrieländer erfolgreich zu kopieren,
dann wäre das sicherlich der ökologische Kollaps dieses
Planeten.
({0})
Die Dritte Welt kann nicht so werden wie die Erste, und
die Erste kann nicht so bleiben, wie sie ist. Das Wohlstandsmodell der Ersten Welt ist nicht exportfähig.
({1})
Aber das Modell der europäischen Stadt ist durchaus
exportfähig, nicht in dem Sinne einer Wohlstandsüberlegenheit, wohl aber in dem Sinne einer Urbanität, die kompakt ist, Stadtteil statt Siedlung ist, Funktionsmischungen
aufweist und deren Innenstädte oder Stadtmitten auch kulturelle und politische Mitten sind, im Sinne einer Urbanität, die für alle da sein muss und deshalb auch unangepasste Nutzungen ertragen muss, was nicht gleichbedeutend mit der Vernachlässigung der Sicherheit ist.
Die europäische Stadt bewahrt ihr baukulturelles Erbe,
verschließt sich aber gleichzeitig modernen Entwicklungen nicht. Die europäische Stadt ist eine Stadt, die sozial,
ökonomisch und kulturell sozusagen tragfähig ist und
gleichzeitig all das dafür Notwendige an Lebensgrundlage und Lebensqualität bietet. Dazu gehören intelligente
Verkehrssysteme, sparsame Energieversorgung und umwelt- und flächenschonende Bau- und Siedlungsformen.
Ich würde mich sehr freuen, wenn die Tradition des Stadthauses eine Renaissance erfahren würde. Gerade in den
Städten der neuen Bundesländer gibt es so manche
Baulücke, die dafür genutzt werden könnte.
Stadtentwicklung wird häufig nur als gebaute Stadt
verstanden. Sie ist aber eine gesellschaftspolitische Bewegung, nichts Statisches, das über Jahrzehnte gleich
bleibt. Ursache und Wirkung von Maßnahmen sind oft
schwer vorauszusagen. Deshalb wiederhole ich, dass wir
bei allen Entscheidungen so fehlerarm und rückholbar
wie möglich vorgehen sollten.
({2})
Aristoteles sagt:
Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von
Menschen; ähnliche Menschen bringen keine Stadt
zuwege.
Das Wohnverhalten der Menschen ist wandelbar. Das
heutige Familienwohnen ist historisch gesehen jung und
hat sich erst in den 50er- und 60er-Jahren durchgesetzt.
Seitdem entwickeln sich aber neue, differenzierte Wohnund Lebensformen. Neue Haushaltstypen neben oder
auch anstelle der Zweigenerationenfamilie entstehen. Arbeiten und Wohnen rücken wieder näher zueinander. Die
demographische Entwicklung wird sich nicht nur im
Wohnflächenverbrauch bemerkbar machen, sondern auch
zu ganz neuen Serviceangeboten führen. Die Mobilität
der Menschen und andere Arbeits- und Lebensrhythmen
werden sich auf das Wohnverhalten auswirken.
Ich glaube deshalb daran - ich hoffe, ich bin nicht die
Einzige -, dass sich in nicht ferner Zukunft die Wohnung
in einem Hochhaus mit dem nötigen Service selbst in einer Großsiedlung für bestimmte Lebensphasen einer
Nachfrage erfreuen könnte, so wie die Wohnungen der
Gründerzeit, einst gebaut für den Sechs-Personen-Arbeiterhaushalt, heute zu den begehrtesten Objekten in einer
Stadt gehören.
Ich kann mich noch ganz gut an die letzte Legislaturperiode und an die Diskussion über das Thema „Nachhaltige Stadtentwicklung und Erhalt und Stärkung der Innenstädte“ erinnern. Besser ist, man liest durch, was man
damals gesagt hat.
({3})
Theoretisch - ich betone: rein theoretisch - kann man sich
viel Zeit und Mühe sparen, wenn die jetzigen Regierungspolitiker und die damaligen Oppositionspolitiker oder umgekehrt - einfach ihre Reden aus der letzten Legislatur untereinander tauschen.
Ich habe 1996 gesagt: Das Konzept für eine nachhaltige Stadtentwicklung wird immer lebendiger, vollständiger und gesünder, je größer der geographische Abstand
zwischen Handeln und Reden ist - Rio und Istanbul ließen
grüßen. Heute müssen wir als Bundesrepublik Deutschland in Berlin Rechenschaft ablegen, wie ernst wir es mit
diesen Verpflichtungen genommen haben und was wir tun
werden.
Ich möchte deshalb an einigen Beispielen ganz konkret
aufzeigen, was wir bereits tun, was auch Sie schon getan
haben, was wir tun werden und was unsere Forderungen
an die Bundesregierung sind. Wir wollen gemeinsam mit
Ländern und Kommunen die Städte stärken, sie weiterentwickeln und, wo nötig, reparieren. Dazu zählt die Städtebauförderung als Leitprogramm einer modernen Stadtentwicklung.
Die Städtebauförderung hat mit ihrem ressortübergreifenden und integrativen Ansatz eine Erfolgsstory erlebt,
die wir hier gemeinsam vertreten können und an der wir
uns gemeinsam erfreuen können. Sie trägt dazu bei, die
Bewohnbarkeit und die Funktionsfähigkeit der Städte zu
sichern und zu verbessern. Wir werden das Programm
„Soziale Stadt“ - Frau Streb-Hesse wird dazu nachher etwas sagen - nicht nur erhalten, sondern zu gegebener Zeit
auch weiterentwickeln. Wir warten ganz gespannt auf die
ersten Ergebnisse. Wenn man sich ansieht, welche „Überzeichnung“ es bei den Anmeldungen gegeben hat, dann
wünschte man sich fast, man wäre damit an die Börse gegangen.
({4})
Diese Überzeichnung zeigt auf der anderen Seite die dringende Notwendigkeit dieses Programms; sie steht aber
auch für das Engagement der Menschen in den gefährdeten Stadtteilen.
Wir werden den sozialen Wohnungsbau reformieren
und das Fördersystem weiterentwickeln, damit Fördermittel flexibel und zielgenau eingesetzt werden können.
({5})
Der soziale Wohnungsbau ist in der Vergangenheit ein
wichtiges Instrument der Wohnraumversorgung gewesen.
Mit rund 9 Millionen geförderten Wohnungen seit 1953
hat er dazu beigetragen, dass die überwältigende Mehrheit
der Bürgerinnen und Bürger heute gut mit Wohnraum versorgt ist.
Während nach 1945 die zentrale Herausforderung der
Wohnungspolitik der hohe Wohnungsfehlbestand war, haben sich die Anforderungen heute gewandelt. Der soziale
Wohnungsbau muss auf neue Herausforderungen reagieren und bleibt auch deshalb ein wichtiges Instrument der
Wohnungspolitik. Die Förderung muss zum Erhalt und
zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen beitragen. Die Bestandsförderung soll einen besonderen Stellenwert erhalten und gleichberechtigt
neben die Neubauförderung treten.
Das Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“, das in der Vergangenheit wichtige
innovative Projekte im Wohnungs- und Städtebau angestoßen hat, soll erhalten werden. Es wird angesichts der
neuen Lebensrhythmen, Lebensstile und der demographischen Entwicklung eine noch größere Bedeutung bekommen.
Die Boden- und Steuerpolitik muss verstärkt genutzt
werden, um die Zersiedelung einzudämmen, und zur wirtschaftlichen Attraktivität der Städte und zur Baulandmobilisierung im besiedelten Bereich beitragen. Wir bitten
deshalb die Bundesregierung zu prüfen, inwieweit zusätzliche Maßnahmen im Planungs-, Förder- und Steuerrecht zur Stärkung der Städte möglich sind.
Gemeinsam mit Ländern und Gemeinden und der städtischen Wirtschaft müssen zusätzliche Aktivitäten ergriffen werden, um die Innenstädte zu beleben. Wir begrüßen
deshalb die Initiative der Bundesregierung zur Stärkung
des innerstädtischen Einzelhandels und fordern die Bundesregierung auf zu prüfen, ob weitere Schritte zum Abbau des Wettbewerbsnachteils des innerstädtischen Einzelhandels gegenüber Factory-Outlets und Einkaufszentren auf der grünen Wiese möglich sind und ob eine
Einschränkung von Neuansiedlungen an nicht integrierten Standorten geboten ist.
({6})
Bei der Innenstadtinitiative darf aber der Blick für die
Versorgung in den Wohngebieten nicht verloren gehen. Es
darf nicht dazu kommen, dass die Abschreibungszeiten
die Citybereiche zu Bühnenbildern werden lassen.
Es ist nicht wenig, was wir uns vorgenommen haben.
Es ist sicherlich nicht perfekt und wenn die alte Regierung
uns mehr in der Kasse gelassen hätte, wäre uns sicherlich
das eine oder andere noch eingefallen.
({7})
Trotzdem haben wir heute eigentlich alle ein Plädoyer
für die Stadt gehalten. Eine Politik zur Erhaltung und Stärkung der Städte kann nur Teil einer Gesamtstrategie sein.
Die Stadt wird entweder gleichzeitig eine ökologische,
soziale und ökonomische sein oder sie wird eine überbaute Fläche sein. Einzelmaßnahmen, so gut sie auch gemeint sind, können der Stadtentwicklung mehr schaden
als nützen. Die Stadt ist kein Theater, in dem Stücke aufgeführt werden, und die Bewohner und Bewohnerinnen
sind keine Komparsen oder Kulissenschieber. Stadt ist widersprüchlich und deshalb faszinierend. Ich möchte daher
mit Karl Kraus schließen:
Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst!
({8})
Das Wort
hat jetzt Dr. Dietmar Kansy von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen
und Herren! Diese Debatte kann nicht nur Friede, Freude,
Eierkuchen sein. Frau Kollegin Ostrowski, es war geradezu peinlich, was Sie sich hier geleistet haben. Nie ist in
Deutschland in so kurzer Zeit systematisch so viel Stadt
vernichtet worden wie zur SED-Zeit in der ehemaligen
DDR.
({0})
„Trümmer schaffen ohne Waffen“, sagte der Volksmund.
Wir konnten es von Erfurt bis Rostock besichtigen.
({1})
- Ich weiß, es tut weh. Aber die Leute haben nicht vergessen.
({2})
Frau Kollegin Mertens, wenn wir uns ansehen, was in
diesen zehn Jahren seit der Einheit dort passiert ist - daher kommt der größte Teil unseres Schuldenberges -,
dann meine ich, sollten wir das Jammern doch etwas kürzer halten und uns darüber freuen, was wir in diesen zehn
Jahren geschafft haben.
({3})
Das Thema ist anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass
man es auch sehr langweilig gestalten kann.
Stadtluft macht frei - das war die Aussage von ganzen
Generationen über viele Jahrhunderte hinweg, auch bei
uns in Deutschland. Das galt eigentlich bis ins frühe
19. Jahrhundert.
Ich halte es für berechtigt, wenn auf der Konferenz in
Rio und auf der Habitat-Konferenz in Istanbul die europäische Stadt als eine gleichermaßen wirtschaftlich effiziente wie sozialverträgliche Gemeinschaft, als eine ohne
große Ressourcenverschwendung funktionierende Wohnund Arbeitsgemeinschaft dargestellt wird. Ohne jetzt groß
auf Theorien einzugehen - wir sind ja in einer Parlamentsdebatte -, lassen Sie mich festhalten: Bevor wir uns
zum Lehrmeister der Dritten Welt aufspielen, sollten wir
uns heute auch einmal an die eigene Nase fassen und fragen, was denn eigentlich bei uns in Europa und bei uns in
Deutschland schief gelaufen ist. Auch unsere Städte haben ja Probleme. Diese sind lösbar, und wir werden sie,
wie ich glaube, auch gemeinsam lösen.
„Zilles Milljöh“ hier in Berlin und auch woanders ist
zwar nachträglich verklärt worden, das Leben in voll gestopften Mietskasernen, von wo aus man in oft hässliche
Industriebezirke zur Arbeit ging, war jedoch ungesund. Es
war zwangsläufig, dass man sich fragte: Können wir etwas Neues machen? In England wurde der Anfang gemacht, indem man die Idee der Gartenstädte entwickelte,
diese griff von Paris weiter nach Berlin über. Es gab ja hier
1931 einen Vorkongress zu Athen und dann kam die
Charta von Athen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns - ich bitte
auch die Fachwelt darum - einmal ehrlich sein, denn
manchmal kommt es anders, als man denkt. Gut gemeint
ist noch lange nicht gut. Planung entpuppt sich eben
manchmal als Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum. So
verhielt es sich auch mit der Charta von Athen. Die gebietsweise Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeit und
Erholung brachte ungewollt einerseits die jetzt beklagten
monotonen und wenig urbanen Stadtbereiche und andererseits den ebenfalls zigmal beklagten Verkehr. Das war
damals angeblich eine fortschrittliche Stadtidee; sie hat
sich aber als nicht brauchbar erwiesen.
Seitdem diskutieren wir seit Jahren darüber, ob wir
überhaupt Leitbilder für unsere Stadtpolitik brauchen. Ich
persönlich würde sagen: Ja, aber um Gottes Willen darf
ein neues Leitbild nicht wieder zum Dogma erhoben werden; denn Leitbilder sind immer dem Wandel der Gesellschaft unterworfen und gelten an unterschiedlichen Orten
und zu unterschiedlichen Zeiten jeweils mehr oder weniger. Dies - das hat der Minister richtig herausgestellt wird auf der Konferenz Urban 21 vom 4. bis 6. Juli 2000
diskutiert werden.
({4})
Es wurde schon gesagt, dass Klaus Töpfer der wesentliche Motor für die Planung dieser Konferenz war, sie
wurde von Eduard Oswald weiter vorbereitet und wurde
insgesamt von der Regierung Kohl angestoßen. Wir als
Parlament des Gastgeberlandes sollten uns deswegen fragen, ob wir hier ein Vorbild darstellen. Das Wort „Vorbildfunktion“ steht beispielsweise im Antrag der SPDBundestagsfraktion zu dieser Debatte. Die Antwort auf
die Frage, ob Deutschland ein Vorbild abgibt, lautet, wenn
wir ehrlich sind, Ja und Nein. Ja bezüglich der mengenmäßigen Lösung des Wohnungsversorgungsproblems,
Nein bezüglich eines urbanen Lebens - zumindest nicht
überall - in Sicherheit und der Bewahrung des stadtkulturellen Erbes. „Stadtluft macht frei“ fällt einem sicherlich
nicht zur Nachtzeit in einem dreckigen, graffitiverschmierten, unsicheren Fußgängertunnel in dieser Stadt
ein. Wer hier immer noch bagatellisiert und künftig solche
Gesetze verhindert, wie unser Gesetz zur Strafbarkeit von
Graffitischmierereien, der braucht über Sicherheitsprobleme und Dreck in dieser Stadt, Herr Minister, keine
Klage zu führen.
({5})
Vorbild Deutschland? Bezüglich der kommunalen
Selbstverwaltung lautet die Antwort Ja, bezüglich Dezentralisierung und Eigenverantwortlichkeit - das hat ja Peter
Götz angesprochen - gibt es noch viele Fragezeichen.
Dieses ist bisher in Ansätzen realisiert. Wirtschaftliche
Prosperität und Arbeitsplätze in der Stadt sind nicht überall gegeben; das ist nicht alleine ein Ost-West-Problem.
Bezüglich der Architektur - das Thema wurde ja vom
Minister angesprochen - würde ich sagen: Na ja, es gibt
Licht und Schatten. Man schaue sich zum Beispiel den
Berliner Architekturstreit an. Daran erkennt man, dass da
auch noch einiges nachzuarbeiten ist. Ich unterstreiche
aber das bereits Gesagte: Vorzeigenswert, nicht zuletzt
hier in Berlin, sind mit Sicherheit viele Maßnahmen, die
in den letzten Jahren eine nachhaltige Stadtentwicklung
befördern, in Berlin insbesondere im Rahmen und als
Folge der 2. Internationalen Bauausstellung.
Meine Damen und Herren, der Minister hat es bereits
gesagt: Vor einer Woche wurde in Hannover die EXPO
eröffnet. Ihr Motto „Mensch, Natur und Technik“ zeigt
insbesondere den deutschen Anspruch, an einer humaneren Welt im 21. Jahrhundert mitzuwirken. Trotzdem - ich
wiederhole mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD - würde ich das Wort „Vorbildfunktion“ nur sehr
zurückhaltend in den Mund nehmen. Zum Beispiel das in
der Arge Bau von Bund und Ländern, Herr Minister
Klimmt, in den letzten Jahren gemeinsam entwickelte,
also nicht von Ihnen erfundene, und auch von der
CDU/CSU-Fraktion mitgetragene Programm „Soziale
Stadt“ ist richtig und wird von uns unterstützt. Es könnte
Vorbild sein, wenn man auch die finanzielle Dotierung
entsprechend diesem Anspruch bringen würde. Diese aber
wird in diesem Programm nicht gebracht.
({6})
In Ihrem Antrag, Frau Kollegin Mertens, steht:
Der soziale Wohnungsbau trägt gerade in Städten
und Ballungsräumen wesentlich zum Erhalt und zur
Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und
Siedlungsstrukturen bei.
Nie wurde so wenig Geld dafür vorgesehen wie von dieser Bundesregierung für die nächsten Jahre. Auch ein
Fakt!
Ein leistungsfähiger und attraktiver öffentlicher Personennahverkehr ist die Voraussetzung für vitale, lebenswerte Städte.
Auch das steht in Ihrem Entschließungsantrag. Wie Sie
dann auf die Idee kommen, ausgerechnet mit einer so genannten Ökosteuer den öffentlichen Nahverkehr zu verteuern, wird ewig Ihr Geheimnis bleiben.
({7})
Meine Damen und Herren, Stadtplanung und Stadterneuerung bilden zu Recht einen Schwerpunkt. Sie lassen
sich aber nicht allein mit Geld durchsetzen, sondern da
muss man in einer sozialen Marktwirtschaft auch auf andere Weise nachhelfen. Warum Sie dann im Entwurf der
Mietrechtsnovelle zum Beispiel die Umlagefähigkeit der
Modernisierungskosten reduzieren wollen, obwohl ganze
Stadtteile nach Erneuerung verlangen, wird uns auch ein
Rätsel bleiben.
Die Regierung Kohl und die sie tragenden Fraktionen
haben das Bauplanungsrecht auf der Grundlage nachhaltiger Planung im Sinne der Habitat novelliert. Aber dabei
ist etwas übrig geblieben, was in dieser Legislaturperiode
nachgeholt werden sollte. Warum sieht diese Bundesregierung - wir haben das gestern im Ausschuss diskutiert - keine Notwendigkeit zur Novellierung der Baunutzungsverordnung, wie damals angestrebt? Das Ziel ist
eine größere Nutzungsmischung - das Thema dieses Tages und nicht von Expertengremien.
Im Übrigen teile ich die Meinung des Kollegen
Goldmann: Statt eines Superministeriums mit Synergieeffekten kommt, wie wir jetzt sehen, der Städtebau in diesem Superministerium ganz schön unter die Räder. Dies
war eigentlich nicht die Absicht der Zusammenlegung.
Kurzum, wir haben noch eine Menge zu tun und je besser wir unsere eigenen Schularbeiten machen, umso überzeugender werden wir auch im Hinblick auf andere Länder, insbesondere in der Dritten Welt, mitwirken können.
Wir haben dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt.
Ich bitte um Ihre Zustimmung für unseren Antrag.
Danke schön.
({8})
Ich gebe das Wort
dem Senator der Stadtentwicklungsbehörde der Freien
und Hansestadt Hamburg, Dr. Willfried Maier.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin zuständig für
Stadtentwicklung in der zweitgrößten und - jetzt folge ich
dem Aufruf des Ministers zum Lokalpatriotismus - zugleich in einer der schönsten Städte der Republik.
({0})
- Der schönsten Stadt überhaupt. Frau Mertens übertrifft
mich wieder.
Aber wir haben tatsächlich eine ganze Reihe der Probleme, die hier rundum angesprochen worden sind, obwohl wir keine arme Region sind. Wir sind als Region
Hamburg mit etwa 3,5 bis 4 Millionen Menschen im Moment sogar die Boomregion der Republik, was die Bevölkerungsentwicklung von 1993 bis 1998 angeht. In dieser
Zeit sind 60 000 Menschen mehr in die Großregion gekommen. Die Region München hat einen Verlust von
11 000 Menschen zu verzeichnen, Stuttgart 18 000, Berlin hat 21 000 plus. Für die Region Hamburg können wir
also einen richtigen Aufschwung konstatieren. Aber dieser Aufschwung spielt sich nicht in der Kernstadt, nicht
auf Hamburger Landesterritorium ab, sondern zu einem
ganz erheblichen Teil an den Rändern. Das ist ein Umstand, der von einem Stadtstaat wesentlich schärfer wahrgenommen wird als von einer Stadt, die sozusagen in einen Landesfinanzausgleich einbezogen ist. Denn daraus
resultieren natürlich besondere Probleme.
Ich glaube aber, jenseits aller steuerlichen Fragen
steckt darin vor allen Dingen das schon häufig angeführte
sowohl soziale als auch ökologische Problem. Wenn jedes
Jahr 22 000 Menschen aus Hamburg wegziehen und etwa
15 000 aus dem Umland nach Hamburg ziehen, wir im
Saldo also einen jährlichen Verlust von 7 000 Menschen
haben, dann hat das zur Folge, dass diese 7 000 Menschen, die zusätzlich im Umland sind, etwa das Doppelte
an Flächenzersiedlung für Wohnung und das Dreifache
für Verkehr in Anspruch nehmen, weil Verkehrswege gebaut werden müssen, und gleichzeitig die Stadt pro Person um 6 000 DM Steuern sozusagen entreichern. Wir haben in den Jahren von 1970 bis 1998 im Saldo 240 000
Menschen an die Umlandgemeinden, an den Speckgürtel
verloren. Wenn Sie die 6 000 DM Steuerverlust pro Kopf
auf diese Zahl hochrechnen, kommen Sie genau auf diese
etwa 1,4 Milliarden DM, 1,5 Milliarden DM, die wir per
Einwohnerwertung über die Einkommensteuer zurückzubekommen versuchen. Wir gehen sogar ein Stück darüber
hinaus. Das heißt, ein Problem, über das im Rahmen des
Steuersystems reflektiert wird, wird sozusagen von uns
die ganze Zeit mit produziert.
Was bedeutet das Ganze sozial? Eben ist schon gesagt
worden, dass im Wesentlichen Leute mit besserem Einkommen abwandern, diejenigen, die sich ein Eigenheim
im Umland kaufen oder bauen können, während in der
Stadt die Zuwanderer zurückbleiben, die nicht aus dem
Umland kommen, sondern aus der Dritten Welt, aus den
Ländern Südeuropas, in sehr vielen Fällen Leute, die auf
Transferzahlungen angewiesen sind und deren Mieten die
Städte zum Teil über Sozialhilfesysteme subventionieren
müssen. Das ist für uns deutlich spürbar. Gleichzeitig tragen wir die Lasten für die städtischen Integrationsinstitutionen des Umlandes, ob das nun die Schulen, die kulturellen Einrichtungen oder die Gesundheitseinrichtungen
sind, die das Umland mit nutzt.
In Hamburg haben wir die Situation, dass von den etwa
850 000 in der Stadt Beschäftigten 300 000 pendeln, das
heißt in der Stadt die Produktion schaffen, aber den Wohlstand als Einkommen mit nach außerhalb nehmen und
dort auch versteuern. Ich finde diesen Zustand vollkommen verrückt und unvernünftig. Ich verstehe nicht,
warum in diesem Parlament nicht auch einmal darüber gesprochen wird, warum alle Parteien gemeinsam seit Jahr
und Tag die Zersiedelung durch Steuerpolitik geradezu
subventionieren. Alle machen das Gleiche.
({1})
Seit Jahrzehnten gibt es die Kilometerpauschale. Die
Kilometerpauschale ist nichts anderes als ein ökonomisches Instrument zur Zerstörung der Städte und Zersiedelung der Fläche.
({2})
Ich verstehe, dass sie in die Lebenspraxis sehr vieler Menschen eingeflossen ist und nicht einfach weggenommen
werden kann.
({3})
- Auch den ländlichen Raum haben Sie damit zerstört. Sie
haben dazu beigetragen, dass der öffentliche Personennahverkehr den ländlichen Raum nicht mehr erreichen
kann und dass die Leute in die Fläche gezogen sind. Beides ist dadurch in Gang gesetzt worden.
Ich finde, das müsste als große Aufgabe angesehen
werden. Ich weiß, dass das eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe ist. Aber wenn Sie schon alle fraktionsübergreifend ein Bekenntnis gegen Zersiedlung ablegen,
dann unternehmen Sie doch bitte auch fraktionsübergreifend kleine Schritte, um aus diesem Irrweg, die Zersiedlung zu fördern, wieder herauszukommen.
({4})
Ich will auch kurz etwas zu den Chancen sagen. Wir
erleben in Hamburg gerade eine große neue Chance, die
mit Prozessen der Globalisierung, der Modernisierung
und der Ökonomie zusammenhängt. Im Moment gehen in
die Innenstädte die boomendsten Branchen der Republik,
bei uns die Multimediabranche und unternehmensbezogene Dienstleister, die in einer Stadt wie Hamburg natürlich internationale Rechtsberatung und internationale Unternehmensberatung anbieten. Dies sind Branchen, die einen besonders hohen Gewinn machen. Sie nutzen
Grundstücke in der Innenstadt, wo sie eine komplexe Situation der gegenseitigen Verknüpfung vorfinden, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - ich hoffe, dass wir
das ein wenig ausnützen können - sind sehr häufig Urbaniten, Menschen also, die in der Stadt wohnen wollen und
nicht aus der Stadt fliehen wollen, da sie sehr oft aufgrund
des Arbeitsprozesses eng mit der Stadt verbunden sind.
In diesem Zusammenhang haben wir uns das große
Projekt vorgenommen, in der City ein neues Wohn- und
Arbeitsviertel zu schaffen. Dies wird wahrscheinlich die
größte Baustelle Deutschlands sein, wenn der Bau des
Potsdamer Platzes beendet sein wird. Von der Fläche her
ist sie schon jetzt größer.
Eine kurze Bemerkung zum Programm „Soziale Stadt“.
Dieses Programm begrüße ich sehr. Es wird häufig von
Aufstocken gesprochen. Dies halte ich für sehr sinnvoll.
Allein in Hamburg geben wir jährlich 55 Millionen DM
für unser Programm „Soziale Stadtteilentwicklung“ aus,
das schon längere Zeit läuft. Wir sind sehr froh darüber,
dass die Mittel für dieses Programm etwas aufgestockt
werden. Wir brauchen diese Mittel nämlich sehr dringlich, weil komischerweise langsam die Situation entsteht,
dass nicht mehr die alten Innenstädte, die zu sanieren waren, die Problemgebiete sind, sondern die Neubauviertel,
die nach dem Krieg entstanden sind und die jetzt das
größte Problem darstellen. Mit diesem Programm wollen
wir dort ansetzen.
Ein letztes Wort: Soeben wurde davon gesprochen,
dass Stadtluft frei macht, dass europäische Städte die Geburtsstätte der Freiheit sind. Das ist wahr. Worin aber bestand diese Freiheit? Sie bestand nicht nur darin, dass sie
den Schwurverband der Stadtbürger herstellte, sondern
auch darin, dass sie im Unterschied zu den übrigen Städten in der Welt keine Sektorierungen kannte, keine verbotene Stadt,
({5})
allerdings mit der schlimmen Ausnahme des Gettos.
({6})
Senator Dr. Willfried Maier, ({7})
Ansonsten gab es keine verbotene Stadt, keine Sektorierung der Menschen.
Im Moment müssen wir befürchten, dass sich eine soziale Sektorierung entwickelt. Es muss uns ein hohes Interesse sein, diese soziale Sektorierung zu bekämpfen.
Dies muss eine gemeinsame Aufgabe sein; denn wir verteidigen den Kern der europäischen Stadt, wenn eine Integration gelingt.
({8})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Eine in einem nationalen Parlament geführte Aussprache über eine Weltsiedlungskonferenz muss auch einen Fokus auf die nationale Siedlungspolitik und ihre vielfältigen Aspekte
werfen. Ich tue dies aus kommunalpolitischer Sicht, aus
der Sicht einer Ebene, auf der zu Recht die Kompetenzen
für die Entscheidungen liegen, die unmittelbar auf das
Lebensumfeld unserer Bürger einwirken. Auf nationaler
und internationaler Ebene sind sehr schnell wohltönende
Resolutionen und Entschließungsanträge verfasst. Aber
es gibt die Tendenz - wer kann das ernsthaft leugnen? -,
den Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung eher zu
übergehen und politische Vorgaben und Ziele zu formulieren, die die Rechte der kommunalen Selbstverwaltung - vorsichtig ausgedrückt - zumindest tangieren
und - richtig ausgedrückt - oftmals nicht berücksichtigen.
Ich halte es deshalb für angebracht, einen nicht parteipolitisch gemeinten liberalen Appell an Sie zu richten:
Vergessen Sie im konkreten Handeln die Kommunen
nicht! Bei aller Euphorie über wunderbare siedlungspolitische Leitbilder sollte die kommunale Selbstverwaltung
nicht vergessen werden.
({0})
Machen Sie die Rechnung bitte nicht ohne die Bürger vor
Ort. Denn wir brauchen für jedes Handeln eine Legitimation, die sich am unmittelbarsten im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung äußert. Eine mit dem inzwischen
verbrauchten Wort „nachhaltig“ bezeichnete Siedlungspolitik gegen die Interessen der Bürger kann nicht gut
sein, sondern allenfalls schädlich.
({1})
Die im Entschließungsantrag der Koalition geforderte
„öffentliche Verantwortung für die Zukunft der Stadt“
muss sich auf das beschränken, was strukturpolitisch geboten und zulässig ist. Die Koalition darf zusätzlich eines
nicht vernachlässigen: die öffentliche Verantwortung für
den ländlichen Raum. Die F.D.P. jedenfalls will nicht,
dass die ländlichen Regionen und die Menschen, die dort
wohnen wollen oder müssen, aufgrund einer neuen Stadtideologie ins Hintertreffen geraten.
({2})
Über der Frage nach der Verteilung von Fördermitteln,
Strukturhilfen und Schlüsselzuweisungen steht das Verfassungsgebot, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen
Regionen der Republik herzustellen.
({3})
Für die F.D.P. bleibt dieses Gebot neben dem Prinzip der
kommunalen Selbstverwaltung das übergeordnete Leitbild.
({4})
Aus dem Entschließungsantrag der Koalition wird nicht
klar, ob dies auch für die Mehrheit des Hauses gilt. Ich
würde es begrüßen, wenn über die Entschließungsanträge
heute nicht gleich abgestimmt, sondern sie zunächst in die
zuständigen Ausschüsse überwiesen würden.
({5})
Ohnehin halte ich einen Teil der aufgeführten Forderungen und Feststellungen für diskussions- und kritikwürdig, was auch die Debatte hier heute Morgen bewiesen hat. Ich will nur einige Punkte ansprechen. Die
Städtebauförderung des Bundes ist nicht so erfolgreich,
wie Rot-Grün uns glauben machen will. Vor allem in den
alten Bundesländern ist durch die jahrelange notwendige
Verlagerung von Ausgaben auf die neuen Bundesländer
ein Stau entstanden, den die Bundesregierung auf absehbare Zeit nicht abarbeiten wird. Die Bundesmittel für den
sozialen Wohnungsbau sind inzwischen so weit zusammengekürzt, dass er nur noch eine wohnungspolitische
Restgröße darstellt.
({6})
Nach dem Willen der Mehrheit in diesem Hause wird er
in Zukunft nicht mehr zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen
beitragen.
Auch wenn Ihr Programm „Soziale Stadt“ in weiten
Teilen in Ordnung ist und man vielen Ausführungen folgen kann, wird es so lange unwirksam bleiben, wie es finanziell mehr als unzulänglich ausgestattet ist. Außerdem
gibt es die Tendenz zu einer Eigenblutspende zulasten des
sozialen Wohnungsbaus.
({7})
Meine Damen und Herren, wenn Sie das hohe Bodenpreisgefälle beklagen und die Mobilisierung von Baulandreserven in dicht besiedelten Räumen anmahnen,
dann habe ich allerdings den Verdacht, dass Sie auch an
dieser Stelle wieder eine Plattform für neue Steuererhöhungen über die Reform der Grundsteuer suchen.
({8})
Wenn Sie, wie auch heute wieder, Ihre so genannte Steuerreform als größte Steuerreform aller Zeiten bezeichnen,
die große Entlastungen für die Gemeinden bewirke und
ihnen neuen Gestaltungsspielraum gebe, dann ist das eine
Senator Dr. Willfried Maier, ({9})
Gedenkminute für den berühmten Baron von Münchhausen wert.
({10})
Die Bekenntnisse zu einem attraktiven ÖPNV und einer besseren Zusammenarbeit mit der Wirtschaft für ökologisches und flächendeckendes Bauen sind inhaltsleer,
weil der Bund nicht zuständig ist und Sie außerdem Defizite aufweisen.
Mit Ihrer Politik ist auch die im kommunalen Bereich
notwendige Privatisierung, zumindest was den Bund anbetrifft, ins Stocken geraten. Die Energieeinsparverordnung ist noch nicht auf dem richtigen Weg. Auch die von
Ihnen geforderte Reform des sozialen Wohnungsbaus ist
noch nicht erfolgt.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. lehnt deshalb den
Entschließungsantrag der SPD ab. Der Entschließungsantrag der Union trägt dagegen nicht nur weniger dick auf,
sondern trägt auch unserem Appell Rechnung, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken und zu stützen.
Danke.
({11})
Ich gebe der Kollegin
Rita Streb-Hesse für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! „Die Welt des 21. Jahrhunderts
wird eine städtische sein“ - das sind die Einladungsworte
von Minister Klimmt zur Weltkonferenz Urban 21 hier in
Berlin. Ich denke - das haben viele von Ihnen dargestellt -,
dies ist eine Stadt, in der sich Zukunftschancen und
Zukunftsrisiken städtischer Entwicklung beispielhaft erfahren lassen.
Die fortschreitende Urbanisierung sollte Anlass für
Optimismus sein. Aber wir hören auch hier, dass diese Attraktivität der Städte als gefährdend gesehen werden
kann. Kollege Goldmann, es war hochinteressant, zu sehen, dass gerade wir Parlamentarier, die wir Berlin erleben, uns an den attraktiven Stadträumen orientieren. Aber
auch in dieser Stadt - nicht nur in dieser Stadt, beispielsweise auch in Hamburg und in vielen mittleren Städten haben wir Stadträume, die nicht attraktiv sind, die sozialen Brennpunkte. Das sind - das ist richtig - die alten
Arbeiterviertel, die in die Jahre gekommenen Wohnsiedlungen, die Hochhausquartiere, die Trabantenstädte West
und die Plattenbauten Ost. Senator Maier hat ausführlich
die Vielfältigkeit der Ursachen und der Auswirkungen
dargestellt.
Eine nachhaltige Stadtentwicklung mit dem Ziel, die
soziale Integrationsfähigkeit der Städte zu erhalten, wird
insbesondere davon abhängen, wie es uns gelingt, in diesen sozialen Brennpunkten mit überforderten Nachbarschaften neue Nachbarschaften zu erreichen. Wir müssen
die Lebens- und Wohnqualität, das soziale Miteinander
und die Infrastruktur in diesen Stadtteilen verbessern. Darum bemühen sich viele Kommunen und viele Bundesländer. Kollege Oswald, auch Bayern ist mit 26 Projekten
dabei.
Die Bundesregierung - das ist der entscheidende Punkt hat dieses Engagement mit dem Programm und der Gemeinschaftsaufgabe „Soziale Stadt“ von Bund, Ländern
und Gemeinden aufgegriffen. Jährlich werden 100 Millionen DM - das ist von Ihnen kritisiert worden - bereitgestellt. Ich denke, 300 Millionen DM insgesamt von Bund,
Ländern und Gemeinden sind schon mehr als null. Das
kann auch noch ausgebaut werden und es sollte Unterstützung von uns allen bekommen.
({0})
Entscheidend ist aber, dass von diesen 300 Millionen DM
mittlerweile 162 Projekte profitieren. Das zeigt, wie groß
das Interesse ist, aber auch, wie dringend der Handlungsbedarf ist.
In mehr als einer Hinsicht ist das Programm „Soziale
Stadt“ neu; es geht weit über die Zielsetzungen der klassischen Städtebauförderung hinaus. Es geht um Bündelung und um Beteiligung. Soziale Stadt bedeutet gemeinsame Anstrengung. Interessant ist, dass das Programm in
seinen Leitlinien Strukturen der Zusammenarbeit vorgibt
und auf Synergieeffekte zielt. Es verlangt die Kooperation
zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Es verlangt ein
soziales Netzwerk der Akteure in den Stadtteilen, der Bürger, der Wohnungsunternehmen, der sozialen Verbände,
der Wirtschaft und vieler anderer. Es verlangt ressortübergreifendes Handeln, das heißt Bündelung von Maßnahmen und Ressourcen aus den Bereichen Wohnen, Verkehr, Arbeit, Soziales, Wirtschaft und Umwelt.
Auf Bundesebene liegt dafür Vorbildliches vor. Mittlerweile haben viele Ministerien ergänzende Programme
aufgelegt. Ebenso sind nun unsere Kommunen gefordert,
ein integriertes Handlungskonzept zu erstellen. Geschätzte Kollegin von der PDS, das geht nur ressortübergreifend. Jetzt haben die Kommunen auch die Möglichkeit,
endlich einmal aus ihrem Verwaltungsegoismus herauszukommen.
Das Programm „Soziale Stadt“ ist allerdings weit mehr
als ein Investitionsprogramm. Der notwendige soziale Erneuerungsprozess braucht die Ergänzung durch nicht investive Maßnahmen.
({1})
Es geht nicht allein um die bauliche Veränderung von
Stadtteilen, die Modernisierung von Wohnungen; es geht
vielmehr um ein neues soziales Miteinander der Stadtteilbewohner.
({2})
Das stellt die Politik vor neue Herausforderungen. Erfolg und Misserfolg dieses gemeinsamen Programms
hängen entscheidend von der Akzeptanz und der Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger ab. Nur wenn es uns gelingt, ein neues nachbarschaftliches Bewusstsein in den
Städten zu schaffen, und nur dann, wenn sich die BürgeGerhard Schüßler
rinnen und Bürger für ihren Stadtteil engagieren, werden
unsere Maßnahmen auch dauerhaft greifen.
Die Erneuerungsprozesse müssen aus dem Stadtteil
kommen und die Entscheidungen müssen sich anders als
bisher vollziehen. Wir werden nach Strukturen suchen
müssen, die eine dauerhafte Beteiligung der Bürgerinnen
und Bürger im Stadtteil sichern. Das Quartiersmanagement hilft bei der örtlichen Steuerung. Genauso notwendig werden Regionalkonferenzen sowie regionale Unterstützungssysteme sein.
Die Ziele des Programms sind vielfältig und unterschiedlich, ebenso die Maßnahmen für den Stadtteil. Eine
gute Ist-Analyse der speziellen Probleme vor Ort und eine
ständige Evaluation sind Voraussetzungen für eine zielgerichtete Arbeit.
Ich möchte am Beispiel der nordhessischen Stadt
Kassel die Vielfältigkeit bei der Umsetzung darstellen.
Die Kasseler Nordstadt ist ein Stadtteil am Innenstadtrand. In der Nähe ist die Bahn. Sie hat ein negatives
Image. Sie hat große Modernisierungs- und Instandhaltungsmängel. Die Wohnungen sind überbelegt, die Verkehrsbelastung ist hoch und ebenso hoch die Arbeitslosigkeit.
Mit lokalen Akteuren wurden jetzt schon einige Dinge
umgesetzt: bezüglich der Modernisierung des Wohnraums, der Baulückenerschließung, der Begrünung, der
Errichtung eines Kultur- sowie eines Mieter- und Bewohnerzentrums. Hilfen zur Arbeit und das Angebot lokaler Qualifizierungsmaßnahmen gehören gleichfalls in
das Paket der Anstrengungen.
Zwei Dinge wurden erreicht. Die finanziellen Mittel
aus den unterschiedlichen Ressorts wurden gebündelt und
die fachübergreifende Zusammenarbeit der Akteure vor
Ort vorangetrieben. Ein Stadtteilmanager arbeitet in einem Stadtteilladen. Die Bewohnerinnen und Bewohner
engagieren sich in Stadtteilkonferenzen und Informationsveranstaltungen.
Jetzt kommen wir zu den Kosten. All das ist erreicht
worden mit einem Zuschuss von 300 000 DM aus dem
Programm „Soziale Stadt“ - damit man nur einmal
weiß, wie wenig Mittel man manchmal einsetzen muss.
({3})
Gestatten Sie mir als hessischer Abgeordneter, dass ich
auch auf die anderen Projekte in den Städten Gießen,
Frankfurt, Dietzenbach und Darmstadt hinweise. Sie haben ihren Schwerpunkt in der lokalen Beschäftigungsförderung gesehen. Sie wurden im Rahmen der EU-Pilotaktion „Drittes System und Beschäftigung“ unterstützt und
ausgewertet.
Auch diese Bilanz kann sich sehen lassen: Neben der
Gewinnung zahlreicher Akteure konnten insgesamt 67
neue Stellen im Stadtteil geschaffen werden. Ich rede
nicht von Sozialarbeiterstellen, sondern von Ausbildungsplätzen der örtlichen Wirtschaft und Ähnlichem. Ich
denke, auch hier ist das Ziel, Beschäftigungsimpulse in
den Stadtteilen zu setzen, erreicht worden.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und
mit ihr die Koalitionsfraktionen haben einen Prozess in
Gang gesetzt, der eine neue, eine integrative und nachhaltige Stadtentwicklungspolitik ermöglicht.
({4})
Unsere gemeinsame Aufgabe wird es jetzt sein, den
Förderrahmen zu verstetigen, die Moderation bei der Umsetzung zu übernehmen und Akteure zu gewinnen. Der
ressortübergreifende, innovative Handlungsansatz des
Programms „Soziale Stadt“ ist aus meiner Sicht zukunftsfähig und zukunftsgestaltend. Dazu brauchen wir ein
partnerschaftliches Miteinander, eine parteiübergreifende
Initiative. Ich bitte Sie um Unterstützung vor Ort und hier.
({5})
Man sieht jetzt schon Erfolge. Wenn man vom Programm Soziale Stadt spricht, sieht man ja bei den einzelnen Abgeordneten - egal welcher Fraktion sie angehören zufriedene Gesichter. Auf Erfolge kann und sollte man
stolz sein. Es ist allerdings kein Ruhekissen; denn das
Programm „Soziale Stadt“ wäre vollkommen verfehlt
verstanden, wenn wir es nur als Feuerwehrprogramm für
Brennpunkte sehen würden.
Der Einsatz ist nicht beendet, wenn der erste Brand
gelöscht ist. Wir brauchen langfristige, präventive Prozesse. Wir müssen die Stadt als positiv besetzten Raum
sozialen Miteinanders, kultureller und wirtschaftlicher
Kraft neu begreifen. Das ist der zentrale Ansatz der Weltkonferenz hier in Berlin und das ist das wichtigste Ziel des
Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.
({6})
Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen,
ich hoffe, ich konnte Sie ein bisschen neugierig machen
auf den Prozess sozialer Stadterneuerung, so neugierig,
wie es die Aktiven vor Ort schon längst sind. Es liegt nun
an uns allen, in unseren Wahlkreisen Projekte anzustoßen
und die in Gang befindlichen Prozesse unterstützend zu
begleiten.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Christian Ruck.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verständlicherweise nimmt in dieser Debatte um Urban 21 die Problemstellung in unserer eigenen Zivilisation und in unseren
Städten den breitesten Raum ein. Mich als Abgeordneten
einer Großstadt würde es natürlich auch reizen, zum Beispiel über die nicht mehr stimmige Arbeitsteilung zwischen Großstadt und Umland, über den teilweise grotesken Wettbewerb von Umlandgemeinden um die gleiche
Infrastruktur, über das Problem der Zersiedelung, das
gleichzeitig auch den Verlust von Orientierung und Heimat bedeutet, zu sprechen.
Aber ich möchte hier als Entwicklungspolitiker sprechen und ich glaube, es wäre fahrlässig und verantwortungslos, wenn wir in dieser Debatte die teilweise schon
apokalyptischen Zustände in vielen der Megastädte in
den Entwicklungsländern als etwas abtun würden, was
weit weg ist und keinen Einfluss auf unsere Zivilisation
haben wird.
({0})
Die Städte im Süden wachsen so stark und so schnell
wie nie in der Geschichte. 1990 lebten dort noch 28 Prozent der Bevölkerung, jetzt sind es bereits 35 Prozent der
Bevölkerung und im Jahre 2025 sollen über 50 Prozent
der Bevölkerung in Megastädten leben. Allein die Stadt
Lagos zum Beispiel wächst jährlich um 300 000 Einwohner.
Auch hier ist natürlich die Urbanisierung eine Chance:
80 Prozent des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern spielt sich in den Städten ab. Hier wächst
auch das politische Selbstbewusstsein heran. Auf der anderen Seite aber sind diese gewaltigen Agglomerationen
längst außer Kontrolle geraten; keine Ordnungsmacht,
kein Bebauungsplan und keine Stadtplanung haben auch
nur den Hauch einer Chance, diese urbanen Bevölkerungsexplosionen und vor allem ihre Schattenseiten - die
gigantischen Umweltprobleme, namentlich die großflächige Luftverschmutzung, die katastrophalen hygienischen und sanitären Zustände bis hin zur Süßwasser- und
Meeresverschmutzung - in den Griff zu bekommen. Bei
der wachsenden städtischen Armut und Wohnungsnot
geht es wirklich für ein Drittel der städtischen Bevölkerung buchstäblich ums Überleben.
Dazu gehören schließlich die wachsende Kriminalität,
die die Staatsgewalt auch demokratischer Regierungen
unterhöhlt, und die Überlastung oder gar der Zusammenbruch der städtischen Infrastrukturen vom Verkehr bis hin
zum Bildungswesen.
Deswegen sind diese Megastädte nicht nur Chancen,
sondern auch tickende Zeitbomben, und zwar nicht nur
für die Länder „da unten“, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft;
({1})
denn in unserer globalisierten Welt haben wir anschaulich
erlebt, dass die Probleme Jakartas oder Mexiko-Citys,
Lagos‘ oder Bangkoks ganz schnell auch vor unserer
Haustür stehen, und zwar in jeder Hinsicht, und dass
Megastädte, wenn sie ihre eigenen Länder destabilisieren,
natürlich auch uns destabilisieren können.
Deswegen ist es wichtig, dass auch wir und Urban 21
im Juli in Berlin diese Probleme zum Schwerpunkt
machen. Ich bin daher dankbar, dass die Entwicklungspolitiker hier im Kreise der Verkehrs- und Stadtplanungspolitiker zu Wort kommen.
({2})
Das Gegensteuern gegen diesen Trend ist schwierig,
aber nicht hoffnungslos. Das hat auch unsere eigene Entwicklungshilfe in den letzten Jahren gezeigt. Vier Aktionsfelder sind dabei entscheidend: erstens die Konzeption
und der effiziente Einsatz von bezahlbaren Umwelttechnologien auf allen Gebieten. Die Technologien sind vorhanden und erprobt, so zum Beispiel in Bogota, in Tunis
und anderswo. Wichtig ist aber, dass man darauf achtet,
dass nicht immer das Teuerste das Beste ist. Wichtig ist
auch, dass man nicht alles zum Nulltarif abgeben kann;
das hat sich oft als Bumerang für die Betroffenen erwiesen.
Zweitens. Wir brauchen auch und vor allem hier eine
größere Autonomie der Kommunen und eine Reform des
öffentlichen Sektors. Trotz aller guten Ansätze sind die
Entwicklungsländer häufig noch zu zentralistisch aufgebaut und kennen keine kommunale Selbstverwaltung.
Zur notwendigen Förderung der Leistungsfähigkeit der
Kommunen gehören aber geradezu eine bestimmte Autonomie der Finanzen und die Einführung eines kommunalen Finanzausgleichs. Außerdem brauchen wir eine stärkere Leistungsfähigkeit der staatlichen und städtischen
Bediensteten. Das bedeutet in vielen Fällen zwar weniger
Personal, dafür aber bessere Ausbildung, bessere Bezahlung und bessere Motivation.
Drittens. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft und die
Stärkung der Selbsthilfekräfte ist nötig. Entscheidend ist,
dass gerade in den Elendsvierteln die lokale Bevölkerung
soweit wie möglich in die Planungsprozesse einbezogen
wird. Nur dies schafft auch bei den Armen Identifikation,
schafft Selbstbewusstsein und Motivation. Es macht einem auch die Armen zu Partnern, die man braucht, um mit
knappen Finanzmitteln wirtschaftspolitisch handeln sowie Gewerbebetriebe und Mindeststandards an Infrastruktur selbst in den Slums errichten zu können.
({3})
Viertens: Stärkung der ländlichen Räume. Landflucht hat ihre Ursache nicht zuletzt in der fehlenden Perspektive für die Menschen in den ländlichen Regionen.
Deswegen sind hier nach wie vor ländliche Entwicklungsprogramme, die Landreform und die Bekämpfung
der Umweltzerstörung auf dem Land das Gebot der
Stunde.
In unserem eigenen Interesse müssen wir und muss die
internationale Entwicklungszusammenarbeit gerade diese
Felder ausbauen. Davon profitieren wir alle, zum Beispiel
auch die deutsche Wirtschaft, die im Gefolge der Entwicklungszusammenarbeit eine ganze Fülle von Aufträgen im Bereich der Umwelttechnologie bis hin zu Consulting und Managementberatung gerade in den Megastädten an Land ziehen konnte.
Erfreulich sind auch die offiziellen Partnerschaften
vieler deutscher Städte auf diesem Gebiet, zum Beispiel
von Köln oder Stuttgart mit Tunis bzw. Ankara. Das ist
eine lebendige und lebensnotwendige Interpretation der
Agenda 21, die eine Grundstruktur der Rio-Konferenz ist,
an der auch Vertreter der letzten Regierung, zum Beispiel
Herr Repnik als Vater dieser Agenda,
({4})
maßgeblich mitgewirkt haben.
({5})
Bei allen Anstrengungen gilt es jedoch festzuhalten:
Der Schlüssel zu einer humaneren und umweltfreundlicheren Entwicklung auch der Megastädte in den Entwicklungsländern liegt nicht bei der deutschen Entwicklungshilfe, sondern vor allem bei den verantwortlichen
Eliten in diesen Ländern selbst. Auch hier gibt es Anknüpfungspunkte; dabei geht es natürlich auch um Einflussnahme, um Politdialog auch auf der Urban 21. Wenn
allerdings Rot-Grün mit den weit überproportionalen
Kürzungen das Entwicklungsbudget zum Steinbruch
macht, ist der Rückenwind für einen ernsthaften Politdialog mit den Machthabern des Südens nur noch ein Lüftchen.
Zum Schluss deswegen ein Vorschlag an Sie, Herr
Bundesverkehrsminister, und Ihre Delegation: Erklären
Sie auf der Urban 21, dass der Kanzler seinen Wortbruch
korrigiert, dass er sein Versprechen, die Entwicklungshilfemittel zu erhöhen, wahr macht. Dann werden Sie
von den Vertretern des Südens wieder ernst genommen
und die Konferenz, die von der vorherigen Regierung Eduard Oswald wurde schon genannt - initiiert wurde,
wird durch Sie auch in dieser Hinsicht ein Erfolg.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans-Günter Bruckmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert, in dem sich die Mobilität
explosionsartig entwickelt hat. Erst Schiene, dann Wasser, dann das Automobil und der Luftverkehr haben den
Lebensraum, den räumlichen Horizont und die Bewegungsfreiheit für Millionen von Menschen enorm erweitert. Die Menschen im städtischen Raum hatten mit den
negativen Folgen der überproportional gestiegenen Mobilitätsbedürfnisse und den daraus resultierenden Belastungen fertig zu werden. Die Probleme, die durch die wachsende Mobilität in den Ballungsräumen aufgetreten sind
und gelöst werden müssen, sind weltweit für Regierungen, Städte und Parlamentarier eine große Herausforderung.
Bereits heute leben 2,3 Milliarden Menschen in städtischen Ballungsgebieten. Nach Schätzungen der UNO
wird sich diese Zahl bis zum Jahre 2025 verdoppeln, sodass dann mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in
Städten leben werden.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, es hat zu lange gedauert, bis das Bewusstsein für die
Lösung der entstandenen Probleme geschaffen wurde. International sind wir seit 1992 in Rio und 1996 in Istanbul
mit Habitat II den richtigen Weg gegangen. Auf der Weltkonferenz Urban 21 hier in Berlin ist auch die nachhaltige
Mobilität auf die Agenda gesetzt worden. Das ist erstmalig der Fall.
In der weltweiten Vorbereitung zur Urban 21 haben
vier Regionalkonferenzen - einmal in Singapur, dann in
Südafrika, in Brasilien und auch in Deutschland - stattgefunden. Die Lösung der Probleme innerstädtischer Mobilität war ein Schwerpunkt der Regionalkonferenz im
April 1999 in Singapur. Um dem steigenden Wachstumsdruck der konkurrierenden Verkehrsträger auf die
Flächennutzung im städtischen Raum zu begegnen, hat
Singapur ein Mobilitätsmanagement eingeführt. Die Instrumente des Mobilitätsmanagements wie Zulassungsbeschränkungen für Pkws, ein elektronisches Verkehrspreissystem zur Verkehrslenkung, der Vorrang für den öffentlichen Personennahverkehr und ein systematischer
Ausbau des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs haben dazu geführt, dass im Modal-Split dort
ein Anteil von 63 Prozent existiert und man das Ziel hat,
75 Prozent zu erreichen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, andere Länder haben andere Rahmenbedingungen
und brauchen auch andere Lösungen. In Europa und in
Deutschland sind die Städte gebaut, in denen wir leben.
Mehr als 90 Prozent unserer Siedlungsgebiete sind nicht
älter als 150 Jahre, und wir werden auch zukünftig im
Trend in diesen Städten leben wollen.
Wenn man einmal die aktuellen Trends sieht, dass man
aus Ballungszentren heraus an die Ränder geht, dann wird
man eines erkennen können: Wir haben dadurch eine
große Veränderung in der Wirkung des öffentlichen Verkehrs.
({0})
Die Kernfrage für uns ist eindeutig: Wie schaffen wir es,
bei steigenden Mobilitätsansprüchen die Balance zwischen Mobilität und Ökologie im Stadtraum zu erreichen?
Ich bin mir sicher, dass wir alle ein Verkehrssystem haben wollen, das diese Bedürfnisse der Menschen flächendeckend und umweltverträglich realisieren soll. Im Einsatz der Instrumente und bei der Förderung der Verkehrsträger werden dann die Unterschiede deutlich.
Von der Regierung Kohl wissen wir, dass sie den
Schwerpunkt auf die Förderung des Straßenverkehrs gesetzt hat. Sie tat dies vermutlich in guter Absicht und in
der Hoffnung, dass die Straße allein in der Lage sei, den
anfallenden Verkehr aufzunehmen. Heute wissen wir,
dass diese Hoffnung getrogen hat.
Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat
in einem Bericht zum Forschungsfeld „Städtebau und
Verkehr“ Empfehlungen für eine stadtverträgliche Mobilität gegeben. Unter anderem werden die Reduzierung des
Flächenbedarfs für den motorisierten Individualverkehr,
der Ausbau des Radverkehrs und der nachhaltige Ausbau
des öffentlichen Personennahverkehrs zur Anbindung der
Wohngebiete empfohlen.
Diese Empfehlungen stützen die Politik der Regierungskoalition. Das Eckpunktepapier der Bundesregierung für einen leistungsfähigen und attraktiven öffentlichen Personennahverkehr wird diesen Empfehlungen gerecht,
({1})
denn Sie wissen: Täglich nutzen mehr als 26 Millionen
Menschen in Deutschland den öffentlichen Personennahverkehr. Mehr als 250 000 Beschäftigte in über 6 000 Verkehrsunternehmen erfüllen diese Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Durch die Vernetzung von öffentlichen Verkehrssystemen mit dem Individualverkehr durch Telematik können
wir das Ziel, zu einer Entlastung und zu einer Verbesserung des öffentlichen Verkehrs auch im Raum zu kommen, erreichen.
({2})
Ein Ziel dabei ist die Steuerung der Verkehrsmengen, ein
anderes Ziel ist die Verkehrsvermeidung sowie die Reduzierung der Umweltbelastungen, die auf den städtischen
Raum wirken.
Daraus wird klar, dass wir auf Dauer einen zukunftsträchtigen öffentlichen Personennahverkehr brauchen.
Die Regierungskoalitionen haben deshalb eine Zielvereinbarung getroffen, um den Rahmen für eine Qualitätsoffensive, eine stärkere Kundenorientierung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Stärkung des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit sowie die Schaffung
gesicherter, dauerhafter Finanzierungsgrundlagen abzustecken.
({3})
Wir werden für Transparenz und Wettbewerb im
ÖPNV mit einer sozial ausgewogenen Wettbewerbsordnung sorgen und die Unternehmen in einer ausreichenden
Übergangszeit an die Gegebenheiten anpassen. Wir denken, das wird acht Jahre dauern. Auf diese Weise wird der
ÖPNV auch im europäischen Rahmen wettbewerbsfähig
sein können. Wir werden auch dafür sorgen, dass der
Grundsatz der Subsidiarität voll zur Geltung kommt und
wir Chancengleichheit auf dem europäischen Verkehrsmarkt haben werden.
Bei Ausschreibungen sind Qualitätsstandards zu erfüllen, die sowohl hinsichtlich der Technik als auch des Leistungsangebotes sowie hinsichtlich der sozial- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen den Anforderungen gerecht werden. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg,
wenn wir dem Anspruch sozialer Symmetrie gerecht werden. Wir haben in Deutschland einen guten Standard.
Trotzdem müssen wir die Attraktivität noch steigern.
Dazu gehören die Modernisierung der Fahrzeugflotten
und Beschleunigungsmaßnahmen für den städtischen
Raum.
Der ÖPNV braucht öffentliche Transferleistungen, die
diesem Anspruch gerecht werden. Heute sind es 30 Milliarden DM, die in den öffentlichen Verkehr fließen, wobei
sich der Anteil des Bundes auf 15 Milliarden DM beläuft.
Die Bundesregierung wird auch in Zukunft ihren Anteil
leisten. Das hat Herr Minister Klimmt heute Morgen in
der Regierungserklärung ausgeführt. Gleiches erwarten
wir aber auch von den Bundesländern und den Kommunen. Nur auf diese Weise können wir dem Anspruch gerecht werden.
({4})
Jede Innovation im öffentlichen Personennahverkehr
muss ein Zugewinn für die Weiterentwicklung der Mobilität im städtischen Raum sein und auf diese Weise
Beiträge zur Reduzierung von Umweltbelastungen leisten. Bei der Entwicklung von Verkehrssicherheitskonzepten sind die jeweiligen Besonderheiten der Städte und
Ballungsräume zu berücksichtigen. Dies gilt speziell im
Hinblick auf ältere Menschen, Kinder und Radfahrer.
Zum Abschluss will ich Ihnen sagen, dass wir von Seiten der Regierungskoalition die Erklärung der Bundesregierung zur Weltkonferenz Urban 21 unterstützen. Wir
fordern Sie mit unserem Entschließungsantrag auf, Gleiches zu tun. Die umweltverträglichen Verkehrsträger und
die Menschen, die in diesen Räumen wohnen, werden es
Ihnen danken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Klaus Lippold.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Herausforderung, vor der wir weltweit stehen, ist: die Stadt als
lebenswerten Lebensraum für die Menschen von heute
zu schaffen und für die Menschen von morgen zu erhalten
und auszubauen. Ich meine, dass wir uns dieser Problematik über Partei- und Ländergrenzen hinweg annehmen
sollten. Es handelt sich um ein Problem, an dessen Lösung
wir alle ein gemeinschaftliches und großes Interesse haben; ein Problem, das sich ökonomisch, ökologisch und
sozial stellt.
Die Tatsache, dass wir in Deutschland jetzt zum Auftakt des 21. Jahrhunderts Gastgeberland von Urban 21
sind, ist eine hervorragende Chance, deutlich zu machen,
dass wir dieses Problem auch in unserem eigenen Land
ernst nehmen. Sie eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit,
mit einer Fülle von konkreten Initiativen in diese Konferenz hineinzugehen. Ich kenne das Konferenzprogramm
nicht in der Form, wie Sie es gerade dargestellt haben. Ich
bin überrascht, dass die Erklärung schon vorliegt. Wir haben sie noch nicht und wären daran interessiert, sie zu erhalten, um zu wissen, was wir unterstützen können. Falls
Sie es haben, wäre es sehr gut, wenn wir die entsprechenden Unterlagen auch bekommen würden.
Ich meine, wenn darin die Rede davon ist, dass wir
konkrete und deutliche Impulse zur Lösung der weltweiten Daueraufgabe einer nachhaltigen Städtebau- und
Siedlungspolitik geben, dann ist dies ein guter Ansatz.
Ich appelliere deshalb an Sie, Herr Minister, dass Sie in
das Papier diese konkreten Impulse hineinschreiben, dass
Sie konkret sagen, wohin Sie wollen, und dass Sie nicht
im Unverbindlichen und Allgemeinen stecken bleiben.
({0})
Bislang haben wir von dieser Regierung keine neuen
Initiativen, keine neuen Impulse bekommen. Mit allem,
was Sie tun, leben Sie von den Initiativen der Vorgängerregierung. Auch dass die Urban 21 in Berlin ist, ist ein
Verdienst der Vorgängerregierung. Deshalb habe ich das
Bedenken, dass diese konkreten Impulse, diese innovativen und kreativen Anregungen unter Umständen von Ihnen nicht kommen.
({1})
Lassen Sie mich einen anderen Aspekt festhalten: Bei
aller Kritik, die wir haben, bei allen Problemen, die wir
haben, sollte hier und heute nicht verschwiegen werden,
dass wir in Deutschland lebenswerte und liebenswerte
Städte haben, dass es nicht nur Probleme und soziale
Randerscheinungen gibt, sondern dass Menschen, die zu
uns kommen, sagen, die deutsche Städtelandschaft ist
vorbildhaft und erstrebenswert. In vielen Fällen kommen
wir dem Leitbild einer kompakten Stadt nahe, wie andere
sie erstreben. Dass wir das nicht erreicht haben, will ich
nicht leugnen, aber wir sollten nicht alles negativ darstellen. Wir haben eine Städtelandschaft, die positiv ist.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn ich die Diskussion
überschaue, möchte ich den Akzent in einem Punkt etwas
anders setzen. Ich meine, wir können nicht nur auf die
Metropolfunktion, auf die Kernstadt schauen, sondern wir
müssen die Regionen sehen. Wir leben in einer Welt der
Regionen, nicht nur in einer Welt der Metropolen oder der
Kernstädte.
({3})
Heute fiel das Wort vom Speckgürtel. Was wir brauchen, sind Regionen, die sich im globalen Wettbewerb
bewegen und bewähren können. Wir brauchen keine
zentrale Entscheidung der Kernstadt für die liebenswerten
Städte im Umland. Frau Streb-Hesse, ich habe immer
gesagt, ich wehre mich dagegen, dass Neu-Isenburg
Frankfurt 35 wird.
({4})
- Wir kennen die Eingemeindungsvorstellungen, die
flächendeckend vorhanden sind. Ich habe immer gesagt,
wir brauchen die Kreativität eines polyzentrischen Ballungsraumes, in dem die Menschen leben, in dem wir
Grün kombinieren mit städtischer Verdichtung in einer
Art und Weise, dass sie von den Menschen, die zu uns
kommen, Frau Streb-Hesse, durchaus positiv gewürdigt
wird. Ich kenne keinen Ballungsraum, der einen so hohen
Waldanteil hat wie der unsere. Das heißt, es ist nicht nur
die Kernstadt, sondern es ist ein gut vernetzter Ballungsraum, den ich betrachten muss, der im Wettbewerb der
Regionen europäisch bestehen kann, wo wir zentrale
Funktionen gemeinschaftlich und partnerschaftlich, aber
nicht zentralistisch regeln. Das ist ein Aspekt, den wir in
die Diskussion hineinnehmen müssen.
Ich will deutlich machen, dass wir in dieser Republik
natürlich auch Beispiel geben müssen. Ob wir das mit der
Politik der Bundesregierung, was Nachhaltigkeit angeht,
was Städtebaupolitik angeht, tun können, ist etwas, was
ich infrage stelle. Mir fehlen Ihre Initiativen im Energieund Klimaschutz. Auch hier ist es so, dass wir zum Beispiel im Wohnbaubestand Dinge für unsere Städte nachhaltig gestalten müssen. Die Energieeinsparverordnung
wurde von uns vorbereitet und ist von Ihnen immer noch
nicht abgeschlossen worden. Hier fehlen Kreativität und
Impulse. Es fehlt die Zügigkeit der Umsetzung.
Im Infrastruktur- und Verkehrsmanagement haben
wir eine vergleichbare Situation. Das Anti-Stau-Programm, das Sie aufgelegt haben, ist doch ein Etikettenschwindel. Hier werden Mittel gekürzt und nicht im notwendigen Umfang bereitgestellt. Das ist ein Punkt, den
wir kritisch aufgreifen müssen, wenn wir sagen, dass wir
umweltgerechte und umweltadäquate Mobilität haben
wollen. Stauvermeidung ist umweltgerecht. Deshalb
muss hier mehr getan werden. Es darf kein Etikettenschwindel betrieben werden.
({5})
Wenn Sie in diesem Zusammenhang noch einmal rekapitulieren, dass Sie mit der Ökosteuer gerade den öffentlichen Verkehr treffen, dann ist das kontraproduktiv zu
dem, was Sie hier sagen. Wir müssen vernünftige Strukturen in den Ballungsräumen schaffen, indem wir den
schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr
ausbauen, weil er dort ein leistungsfähiges Verkehrsmittel
ist. Es wäre also falsch, ihn steuerlich zu belasten. Deshalb werden wir Sie aus der Diskussion über die Ökosteuer nicht entlassen. Ich begrüße zwar das Programm
„Soziale Stadt“, mit dem vieles umgesetzt werden kann.
Aber wenn wir die Attraktivität der Ballungsräume gemeinsam erhöhen wollen, dann sollten wir nicht 100 Millionen DM, mit denen dieses Programm finanziert wird,
beim sozialen Wohnungsbau einsparen und so ein reines
Nullsummenspiel betreiben.
({6})
Nicht nur - das betrifft den gleichen Punkt - die Stauvermeidung ist wichtig. Wenn wir liebens- und lebenswerte Städte schaffen wollen, dann müssen wir auch für
Umgehungsstraßen sorgen. Ich freue mich über die neuen
Vorstellungen und Einsichten der Grünen bezüglich Mobilität und insbesondere Automobilität. Wir werden unsere Innenstädte auch automobil erreichbar lassen müssen - ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt -, wenn
sie so attraktiv sein sollen, wie wir es uns gemeinsam
wünschen.
Dr. Klaus W. Lippold ({7})
Ich könnte mir auch vorstellen, Frau Streb-Hesse, dass
wir gemeinschaftliche Initiativen ergreifen, um zum Beispiel Factory Outlet Center im Außenbereich zu verhindern.
({8})
Ich sage ganz deutlich: Ich bin durch und durch Marktwirtschaftler. Aber die Entleerung der Innenstädte durch
Factory Outlet Center auf der grünen Wiese brauchen wir
nicht.
({9})
Factory Outlet Center können auch in den Innenstädten
realisiert werden. Wir brauchen keine Factory Outlet Center auf der grünen Wiese, die einen Einzugsbereich von
300 Kilometern haben und die ein entsprechendes Verkehrsaufkommen zur Folge haben. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie solche Verhältnisse vermieden werden können.
({10})
Wir sollten noch einmal versuchen, den sozialen Wohnungsbau zu reformieren. Eine solche Reform haben Sie
bislang blockiert, indem Sie die Baunutzungsverordnung,
die jetzt novelliert werden sollte, im Ausschuss abgelehnt
haben. Überall dort, wo es um Fortschritte und nachhaltige Politik geht, sind Sie noch nicht so weit, dass Sie der
Opposition, die die Entwicklungen vernünftig vorantreiben möchte, Recht geben und an deren Vorstellungen anknüpfen.
Ich hoffe, dass die Regierung jetzt viele positive Impulse geben wird - heute habe ich davon leider noch
nichts gemerkt -, damit die Ergebnisse der anstehenden
Konferenz Urban 21 nicht nur für die Menschen in unserem Land, sondern für alle Menschen auf der Welt hilfreich sind.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letzter Redner in
dieser Debatte spricht nunmehr der Kollege Frank
Hempel für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Die Weltkonferenz Urban 21, die vom 4. bis 6. Juli 2000 in Berlin
stattfinden wird und die sich mit der nachhaltigen Entwicklung von Städten und der Verbesserung urbaner Lebensbedingungen beschäftigen wird, ist aus meiner Sicht
eine wichtige Konferenz auch im Hinblick auf die Habitat-Konferenzen der vergangenen Jahre und auch im
Hinblick auf die Habitat-Konferenz, die im Juli in Manila
stattfinden wird.
Lassen Sie mich aus entwicklungspolitischer Sicht einige Anmerkungen machen - ich bin dankbar, dass auch
der Kollege Ruck das Thema aufgegriffen hat; ich habe
vielen Passagen seiner Rede zustimmen können -: Zwar
sind die Lebensverhältnisse in den Ballungszentren der
reichen Länder auch nicht immer die allerbesten - das haben wir heute gehört - und stellen die Politik vor große
Aufgaben. Aber die katastrophalen Verhältnisse in den
Ballungszentren von Kalkutta, Mexico-City, Manila, Rio
de Janeiro oder die Verhältnisse in den Städten der Länder
Afrikas wie Nairobi, Kairo und Lagos sind mit den
Verhältnissen in unseren Städten überhaupt nicht zu vergleichen.
Zwar leben in den Entwicklungsländern im Gegensatz
zu den Industrieländern noch immer mehr Menschen auf
dem Lande und die Ernährungsgrundlage wird dort wenn sie überhaupt ausreicht - auf dem Lande geschaffen. Aber auch dort gibt es eben wegen der mangelnden
Lebensqualität und der zumeist vermeintlich besseren
Aussichten auf Lebensbewältigung in den Städten eine
riesige Landflucht. In den Sahel-Gebieten Afrikas führt
zum Beispiel die restlose Abholzung der noch verbliebenen Strauchvegetation zur Erosion der Böden. Die Verelendung der Landbevölkerung nimmt zu, weil dadurch
die natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen auf
Dauer zerstört sind. Der Bevölkerung mangelndes Problembewusstsein vorzuwerfen wäre natürlich Hohn angesichts der erdrückenden Armut jener Länder, in denen jeder neue Tag auch ein neuer Tag im Kampf ums Überleben ist.
In den Städten der Dritten Welt fehlen die für uns in
Deutschland selbstverständlichen Dinge des Lebens wie
ausreichendes Trinkwasser, Stromversorgung, elementare
Versorgung im Bereich Bildung und Soziales. Dasselbe
gilt für ein anderes Grundbedürfnis der Menschen, nämlich ein Dach über dem Kopf haben zu wollen.
Ich gehe davon aus, dass die Verstädterung nicht zu
stoppen ist. Gestern war in der „FAZ“ ein Artikel zu lesen,
der zu der Aussage gelangt, dass es Schätzungen zufolge
im Jahr 2025 etwa 100 Städte mit mehr als 5 Millionen
Einwohnern, darunter Megastädte mit bis zu 30 Millionen
Einwohnern, geben wird. So wird es kommen und damit
hat man sich auseinander zu setzen.
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen birgt die Lebensform Stadt offensichtlich das größte
Entwicklungs- und Innovationspotenzial; zumindest in
den entwickelten Ländern ist die Stadt Motor des Fortschritts. Zum anderen ist in den Entwicklungsländern die
Stadt noch immer Zufluchtstätte zumeist armer Menschen. Das bedeutet, dass wir insbesondere in den Entwicklungsländern bei dieser Entwicklung gegensteuern
müssen. Daher ist es wichtig, dass bei der Weltkonferenz
Urban 21 diese Aspekte aus dem Bereich der Entwicklungspolitik Berücksichtigung finden.
Als Ergebnis des schwierigen internationalen Meinungsbildungsprozesses der Habitat-Konferenzen der
vergangenen Jahre wurde das Prinzip der nachhaltigen
Entwicklung anerkannt und festgeschrieben. Auch die
Weltkonferenz Urban 21 wird die gleichzeitige Durchsetzung der Aspekte Ökonomie, Ökologie und Soziales diskutieren.
({0})
Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass
die Lösung der Probleme in den Megastädten der Dritten
Dr. Klaus W. Lippold ({1})
Welt nicht losgelöst von den Problemen, die zur Landflucht in diesen Ländern führen, betrachtet werden darf.
Daher ist für mich eine zukunftsfähige, nachhaltige Entwicklung dieser Städte nur mit einer vernetzten Betrachtungsweise möglich.
Die Ziele von Urban 21 werden nur dann durchsetzbar
sein, wenn wir in den Entwicklungsländern auf dem Weg
der Demokratisierung und der Transparenz weiterhin
voranschreiten.
({2})
Dazu gehört für mich, dass die Dezentralisierung in den
Ländern weiter unterstützt wird. Die Kommunen brauchen ihre eigenen Gestaltungsspielräume und müssen
dazu selbstverständlich auch von den Ländern finanziell
in die Lage versetzt werden.
({3})
Es ist wohl wahr: Treibhausemissionen, Rohstoff- und
Landverbrauch, all das muss deutlich heruntergefahren
werden. Wir Industrienationen suchen Abhilfe in der innovativen Technik. Mir scheint es allerdings so zu sein,
dass die Schere zwischen Arm und Reich dadurch weiter
auseinander klafft; denn es ist bekannt, dass die armen
Entwicklungsländer in dieser Hinsicht nicht mithalten
können. Die Industrieländer stehen aber in der Verantwortung, umweltfreundliche und effiziente Technologien
vor allen Dingen in den Bereichen Bauwesen, Energie,
Wasser, Abwasser, Transportwesen und Informationstechnologie bereitzustellen und den Entwicklungsländern
zugänglich zu machen.
Ich erwarte von der Konferenz klare Handlungsanweisungen, auf die sich die Fachminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung in den bilateralen Verhandlungen berufen können. Letzten Endes - das wissen
wir alle - geht es immer auch um Geld, das für Programme in Entwicklungsländern bereitgestellt werden
muss.
Ich bedanke mich.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 14/3521. Wer stimmt für die-
sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition an-
genommen.
Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3510 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ab-
gelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
Zusatzpunkt 3 auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Hintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Innere Reform der Europäischen Union Stand der Regierungskonferenz - Stabilität des
Euro - Haltung zu Österreich
- Drucksache 14/3377 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({1}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Beziehungen zu Österreich normalisieren
- Drucksache 14/3187 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Gloser, Hermann Bachmaier, Hans-Werner Bertl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike
Höfken, Claudia Roth, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäischer Rat in Feira - Europa entschlossen voranbringen
- Drucksache 14/3514 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Vorsitzenden
der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen geht
die portugiesische Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union zu Ende und es beginnt am 1. Juli die französische Ratspräsidentschaft. Während dieser französischen Ratspräsidentschaft soll ein neuer Vertrag für die
Europäische Union fertig gestellt werden, ein Vertrag, der
die Europäische Union erweiterungsfähig machen soll,
der die Voraussetzungen für die größte Erweiterung schaffen soll, die die Europäische Union jemals in ihrer Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat.
Die so genannte Osterweiterung der Europäischen
Union ist richtig. Sie ist notwendig und sie vollendet ein
großes Werk, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der
zunächst westeuropäisch geprägten europäischen Völkerfamilie auf den Weg gebracht worden ist. Die Europäische
Union ist nie eine nur westeuropäisch geprägte Union gewesen, sondern sie ist immer gesamteuropäisch ausgerichtet und orientiert gewesen.
Deswegen will ich zu Beginn für unsere Fraktion aber ich denke, das ist die ungeteilte Einschätzung aller
Mitglieder des Deutschen Bundestages - feststellen: Es
liegt gerade im deutschen Interesse, dass die Erweiterung
der Europäischen Union um eine große Zahl osteuropäischer, südosteuropäischer Staaten erfolgreich wird. Wir
wollen die Osterweiterung der Europäischen Union.
({0})
Eine Reihe von Staaten Osteuropas hat bereits gezeigt,
dass diese Erweiterung der Europäischen Union bei weitem nicht nur wirtschaftspolitische Interessen in den Mitgliedstaaten, die beitreten sollen, hat, sondern dass es um
eine politische Union geht. Wie anders wäre es zu verstehen, dass Polen, Ungarn und die Tschechische Republik vor ihrem Beitritt in die Europäische Union schon
Mitglieder des Nordatlantischen Bündnisses geworden
sind? Auch bei diesen Ländern steht der Wille im Vordergrund, zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Freiheitsordnung beizutragen. Das geht weit über die wirtschaftlichen Interessen hinaus.
({1})
Meine Damen und Herren, weil wir die Erweiterung
der Europäischen Union wollen, muss die Europäische
Union selbst beitrittsfähig werden. Die Europäische
Union, die heute aus 15 Mitgliedstaaten besteht, wird nur
beitrittsfähig, wenn wir die Zustimmung der Menschen
auch in unserem Land erhalten und sie dort zurückgewinnen, wo sie verloren gegangen ist. Wir werden die Zustimmung der Menschen nur gewinnen, wenn klar wird,
wer in der Europäischen Union wofür zuständig ist, und
wenn diejenigen, die in der Europäischen Union zuständig sind, sich auf eine demokratische Legitimation auch
durch die Parlamente stützen können.
({2})
Deshalb stehen wir zu Beginn der französischen Ratspräsidentschaft an einer wichtigen - vielleicht der wichtigsten - Weichenstellung der letzten Jahre und Jahrzehnte, die für eine gute weitere Entwicklung der Europäischen Union vorzunehmen ist.
Sie, Herr Fischer, haben am 12. Mai eine zu Recht beachtete Rede gehalten und Sie haben richtige Fragen gestellt. Sie haben sich auch - zu Recht - darüber beklagt,
dass die Menschen in der Europäischen Union - so haben
Sie es ausgedrückt - diese Europäische Union zunehmend
als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und
gesichtslosen Eurokratie in Brüssel erleben. Ich stimme
Ihnen ausdrücklich zu: Die Menschen erleben Brüssel
nicht mehr als einen Ort von politischen Entscheidungen,
die nur dort getroffen werden können, sondern sie erleben
Brüssel mehr und mehr als einen Ort der starken Verbürokratisierung der europäischen Politik.
({3})
Wenn aber diese Analyse richtig ist - ich glaube, sie ist
richtig -, dann ist es eine falsche Konsequenz zu sagen,
dass die zunehmende Verbürokratisierung, die in den letzten Jahren in der Europäischen Union aufgetreten ist, erst
nach der Erweiterung der Europäischen Union aufgelöst
werden kann. Wir sagen: Das Problem muss vorher gelöst
werden. Wahrscheinlich hat die Europäische Union nur
noch jetzt eine wirklich realistische Chance, die Probleme, die sie hat, zu lösen.
({4})
Es muss vor der umfangreichsten Erweiterung in der
Geschichte der Europäischen Union über die Grundlagen,
den Inhalt, die Ziele und damit eben auch über die Grenzen der Europäischen Union gesprochen und entschieden
werden. Deswegen legen wir so viel Wert darauf, dass
jetzt über die Ausfüllung des bereits im EU-Vertrag enthaltenen Subsidiaritätsprinzips gesprochen wird, dass
jetzt über eine Kompetenzordnung in der Europäischen
Union gesprochen wird und dass jetzt über die Verteilung
der Kompetenzen - Kompetenzen, meine Damen und
Herren, sind Verfassungsfragen - zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie in einzelnen
Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland
auch über die Verteilung der Kompetenzen zwischen der
Europäischen Union, den Nationalstaaten und den regionalen und kommunalen Ebenen im Wege eines Verfassungsvertrages entschieden wird.
({5})
Sie haben dies, Herr Fischer, in den letzten Wochen
und Monaten häufig
({6})
als eine Überforderung der Regierungskonferenz, die sich
jetzt mit den Restposten von Amsterdam beschäftigen
soll, charakterisiert. Sie haben mehrfach das Szenario einer Krise an die Wand gemalt, die die Europäische Union
fürchten müsse, wenn man jetzt über Fragen einer solchen
Kompetenzordnung spricht. Ich sage Ihnen: Wenn es richtig ist, dass Kompetenzfragen Verfassungsfragen sind und
dass Verfassungsfragen in der Europäischen Union, wenn
sie denn gestellt werden, eine Krise auslösen könnten,
dann wäre es besser, die Krise findet in der Europäischen
Union der Fünfzehn statt und wird gelöst, als dass sie in
einer erweiterten Europäischen Union stattfindet und
dann möglicherweise nicht mehr lösbar ist.
({7})
Es kommt darauf an, dass wir uns selbst darüber klar
werden,
({8})
welche Kompetenzen die Europäische Union braucht. Es
müssen Kompetenzen aus solchen Politikbereichen in der
Europäischen Union angesiedelt werden, in denen die Nationalstaaten heute allein nicht mehr handlungsfähig sind
und - im doppelten Sinn des Wortes - Souveränität nicht
mehr ausüben können. Denn zur Souveränität der Nationalstaaten gehört nicht nur, dass sie die Mittel besitzen,
ihre politischen Entscheidungen zu treffen, sondern dazu
gehört auch, dass sie die Fähigkeit besitzen, politische
Entscheidungen tatsächlich durchzusetzen. Wir wissen,
dass in den großen politischen Fragen dieses europäischen Kontinents, in Fragen der Wirtschafts- und
Währungsunion, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik bis hin zu Fragen der grenzüberschreitenden Kriminalitätsbekämpfung, die Nationalstaaten Zuständigkeiten im Sinne von Souveränität allein
nicht mehr ausüben können.
Deswegen will ich ganz ausdrücklich sagen: Es ist und
bleibt eine richtige Entscheidung der Europäischen
Union, die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen
zu haben - mit politischen Entscheidungen, die auch hier
im Haus nicht immer nur einvernehmlich getroffen worden sind und über die wir bis heute angesichts des gegenwärtigen Wechselkurses des Euro streiten. Aber es war
und bleibt eine richtige Entscheidung allein deshalb, weil
die ökonomische Integration in der europäischen Geschichte immer auch der Schrittmacher für eine nachfolgende politische Integration war.
Aber gerade weil es richtig war, dürfen wir jetzt nicht
auf halbem Wege stehen bleiben. Es muss die weitere
Integration insbesondere im Bereich einer gemeinsamen
Außen- , Sicherheits- und Verteidigungspolitik folgen. Es
wäre doch gerade angesichts der Debatte in der NATO, in
der Europäischen Union und in der Bundesrepublik
Deutschland über eine Reform der Bundeswehr notwendig und richtig, wenn die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gerade jetzt Initiativen zur weiteren
Integration der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa ergriffe.
({9})
Ich finde, es muss uns schon mit einiger Nachdenklichkeit, vielleicht sogar mit Sorge erfüllen, dass verschiedene Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsame Initiativen ergreifen und die Bundesrepublik
Deutschland daran nicht mehr beteiligen. Ich finde, Herr
Außenminister, Sie sollten es zum Thema des deutschfranzösischen Gipfels am kommenden Wochenende machen, dass sich die französische Regierung offensichtlich
entschieden hat, in der Verteidigungspolitik mehr mit der
britischen Regierung als mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zusammenzuarbeiten. So etwas hätte
es unter der früheren Regierung von Helmut Kohl in Europa nicht gegeben, meine Damen und Herren.
({10})
Es ist geradezu unvorstellbar, dass sich die französische
Regierung entschließt, obwohl die objektiven Notwendigkeiten eigentlich eher auf deutscher Seite liegen, sich
mit der britischen Regierung über die gemeinsame Beschaffung eines großen militärischen Transportflugzeuges zu einigen. Das sind Besorgnis erregende Entwicklungen in der Europäischen Union, die Deutschland zunehmend an den Rand der europäischen Politik drängen.
({11})
Und genauso, wie es richtig ist, dass wir neben der
Wirtschafts- und Währungsunion, neben einer Vertiefung
der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine
größere Kompetenz der Europäischen Union brauchen,
genauso ist es auch richtig, dass wir jetzt über Kompetenzüberschreitungen sprechen müssen, die es in der europäischen Union ohne Zweifel gibt.
({12})
Ich will Ihnen einige wenige nennen, meine Damen
und Herren, die deutlich machen, dass die Vorbehalte, die
auch in unserer Bevölkerung gegen die zunehmende europäische Integration bestehen, zum Teil durchaus berechtigt sind:
({13})
Warum muss sich die Europäische Union jahrelang über
ein Werbeverbot für Tabakprodukte auseinander setzen?
Übrigens in derselben Zeit, in der sie den Anbau von Tabakerzeugnissen in südeuropäischen Ländern mit großen
finanziellen Mitteln fördert!
({14})
- Entschuldigung! Wenn ich auf Entwicklungen hinweise,
die in den letzten Jahren zugenommen haben, Herr Kollege, dann umfasst dies natürlich auch Entwicklungen, die
vor dem Regierungswechsel 1998 begonnen haben, und
ich bin zum Teil selbst daran beteiligt gewesen. Ich werde
gleich noch auf ein ganz konkretes Beispiel eingehen.
Also, wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass es
Fehlentwicklungen in der Europäischen Union gegeben
hat, die korrigiert werden müssen, dann muss man doch
wohl auch eine Debatte darüber führen dürfen, wann sie
korrigiert werden müssen. Ich sage Ihnen noch einmal:
Wenn wir nicht zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem Zeitpunkt, in dem die Europäische Union erneut Grundentscheidungen in der Politik zu treffen hat, jetzt, da eine Regierungskonferenz läuft, jetzt, da die Europäische Union
auf die Erweiterung vorbereitet werden soll, die sie sich
vorgenommen hat, Entscheidungen darüber treffen, dann
werden wir die Zustimmung der Bürger auch unseres
Landes für die Erweiterung der Europäischen Union verlieren. Da wir aber den Erfolg der Europäischen Union
wollen, müssen wir darüber sprechen.
({15})
Herr Fischer, ich will es Ihnen so sagen, wie wir es in
den letzten Tagen und Wochen bei uns diskutiert haben:
Wenn die Entscheidungen nicht jetzt getroffen werden,
dann müssen Sie damit rechnen, dass wir Ihnen am Ende
der Regierungskonferenz die Zustimmung zu diesem Ergebnis nicht geben können
({16})
- nicht weil wir den Misserfolg der Bundesregierung wollen, sondern weil wir den Erfolg der Europäischen Union
wollen.
({17})
Werbeverbot für Tabakerzeugnisse, Quotenregelungen
für Fernsehprogramme, von denen mindestens die Hälfte
aus europäischer Produktion stammen soll, Umweltprogramme für Stadtentwicklung in der Europäischen
Union - eine originäre kommunale Zuständigkeit in der
Bundesrepublik Deutschland -, Umweltverträglichkeitsvorhaben, Prüfungen für Planvorhaben auch in der kleinsten Stadt, eine Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die mittlerweile jedes Planvorhaben in der gesamten Bundesrepublik Deutschland und allen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union belastet und beschwert - das sind
nicht Aufgaben der Europäischen Union, sondern das fällt
in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten.
({18})
Ich sage Ihnen gerade zu dem letzten Beispiel, FloraFauna-Habitat-Richtlinie: Ich habe dem Europäischen
Parlament angehört, als diese Richtlinie verabschiedet
worden ist. Ich habe ihr damals nicht widersprochen.
Wenn ich geahnt hätte, was daraus wird, hätte ich mich
darum bemüht, sie zu verhindern. Aber wenn wir das
heute erkennen, können wir doch gemeinsam Anstrengungen unternehmen, die Europäische Union wieder auf
den Kern ihrer Zuständigkeiten zurückzuführen, von denen auch die Menschen in unserem Land zutiefst überzeugt sind, dass sie die Grundvoraussetzungen dafür sind,
dass die Europäische Union ihre Zukunft so gestalten
kann, wie das im letzten Jahrhundert möglich gewesen ist.
({19})
Glauben Sie denn im Ernst, dass Konrad Adenauer und
Charles de Gaulle, dass Helmut Kohl und François Mitterrand, dass die Gründerväter der Europäischen Union
die europäischen Verträge geschrieben hätten, wenn darin
hätte stehen sollen: Fernsehrichtlinie, UVP, Werbeverbot
für Tabakerzeugnisse - und andere Auswüchse dieser Europäischen Union? Das fällt nicht in die Zuständigkeiten
Europas; es sind andere Aufgaben, die dieser Europäischen Union gestellt sind.
({20})
Wenn wir das, was vor uns liegt, erfolgreich bewältigen wollen - hier im Haus sitzt eine große Fraktion, die
wie keine andere in Deutschland über Jahre und Jahrzehnte Mitverantwortung für eine erfolgreiche europäische Friedens- und Freiheitsordnung getragen hat,
({21})
die ohne unsere Mitwirkung nie so entstanden wäre, wie
sie heute ist -, wenn wir aktiv daran mitwirken wollen,
dass der Auftrag Europas auch im 21. Jahrhundert im
Sinne einer umfassenden politischen Ordnung, im Sinne
von Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit für die Menschen in Europa fortentwickelt wird, dann
müssen wir die Europäische Union auf ihren Kern zurückführen und ihr dafür auch die notwendigen Kompetenzen
geben.
({22})
Herr Fischer, ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich
sagen: Wir wollen an diesem Prozess aktiv mitwirken.
Wir wollen den Erfolg. Wir wollen den Fortschritt. Wir
wollen einen möglichst schnellen Abschluss der Regierungskonferenz, um die Erweiterung der Europäischen
Union möglich zu machen. Wenn Sie in die französische
Ratspräsidentschaft gehen, wenn Sie zum Ende der portugiesischen Ratspräsidentschaft auf einem großen Gipfel
zusammentreffen, sollten Sie wissen, dass Sie nicht allein
parteipolitisch motivierte Kritik der Opposition im
Gepäck haben. Vielmehr sollten Sie unsere kritischen Anmerkungen als Hilfestellung einer großen Fraktion des
deutschen Parlaments verstehen, deren Zustimmung Sie
am Ende der Regierungskonferenz brauchen, jedenfalls
dann, wenn es sich um Kompetenzverlagerungen zugunsten weiterer Mehrheitsentscheidungen handelt. Sie werden die Zustimmung unserer Fraktion brauchen, weil Sie
das Ergebnis der Regierungskonferenz hier im Haus
vermutlich mit Zweidrittelmehrheit feststellen lassen
müssen.
Wenn Sie das richtig verstehen wollen und wenn wir
uns in der Analyse dessen, was Sie am 12. Mai in Ihrer
Rede gesagt haben, einig sind, dann sollten Sie die Kritik,
die wir üben, als einen konstruktiven Beitrag, gerichtet an
die Adresse der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, empfinden. Auf der Grundlage dieser Argumente
können Sie den Partnern in der Europäischen Union dann
sagen: Ohne den Eintritt in eine Kompetenzordnung und
ohne den Beginn einer Debatte über einen Verfassungsvertrag in der Europäischen Union wird es die Zustimmung der größten Oppositionsfraktion im Deutschen
Bundestag nicht geben. Wenn Sie das als Hilfestellung
empfinden, Herr Bundesaußenminister, dann ist dies nicht
eine der typischen Auseinandersetzungen, die im deutschen Parlament über die Innenpolitik stattfindet, sondern
ein konstruktiver Beitrag für die Fortentwicklung einer
Europäischen Union, die unsere Handschrift trägt und für
die wir auch in Zukunft Mitverantwortung übernehmen
wollen. Es geht um eine große politische Richtungsentscheidung. Wir werden uns in den nächsten Monaten aktiv und konstruktiv an dieser Debatte beteiligen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Günter Gloser.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Fraktionsvorsitzender Merz, viele stellen sich jetzt die Frage: Was war
eigentlich die Botschaft Ihrer Rede? War dies eine Drohung oder bieten Sie wirklich Hilfestellung an? Im Hinblick auf all das, was Sie angesprochen haben, ist zu fragen: Was hat die von der CDU/CSU geführte Bundesregierung bis 1998 getan, um diese Dinge zu lösen?
({0})
Ich nehme die Bilanz gleich vorneweg: Die SPD-geführte Bundesregierung fährt europapolitisch einen klaren
Kurs. Sie ist für unsere Partner in der Europäischen Union
berechenbar und verlässlich. Sie verfolgt eine durchsetzungsfähige und erfolgreiche Europapolitik. Das sind die
Fakten, auch wenn sie der Opposition nicht gefallen. Ich
sage ganz bewusst: Der Europäische Rat in Feira ist
eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Europäischen Rat
in Nizza, auf dem die zentralen europäischen Entscheidungen dieses Jahres anstehen.
Diese Debatte bietet eine gute Gelegenheit, an den europapolitischen Grundkonsens zu erinnern, den es über
viele Jahre im Deutschen Bundestag gab. Auf dieser Basis konnten die verschiedenen Bundesregierungen gezielt
eine integrationsorientierte Europapolitik verfolgen, im
Unterschied zu anderen Mitgliedstaaten, die grundsätzlich eher eine intergouvernementale Europapolitik vertreten.
Ich darf an Folgendes erinnern: Zum Grundkonsens in
der Europapolitik im Deutschen Bundestag gehörten bisher vor allem zwei Dinge:
Erstens. Das europäische Aufbauwerk ist das zentrale
Fundament für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa.
({1})
Deshalb ist die deutsche Europapolitik in ihrer Grundausrichtung auf Integration orientiert. Um das europäische
Aufbauwerk zu festigen und weiterzuentwickeln, haben
wir die Europapolitik in der Vergangenheit nicht zu parteipolitischen Zwecken instrumentalisiert oder missbraucht. Das sollte auch so bleiben.
({2})
Zweitens. Wir haben die Europapolitik nicht mit unrealistischen Zielen überfordert. Das heißt, wir haben sehr
darauf geachtet, dass wir keine Erwartungen wecken, die
die Europäische Union nicht erfüllen kann. Dies würde sie
in den Augen der Bürgerinnen und Bürger diskreditieren
und das europäische Aufbauwerk beschädigen.
Aber: CDU und CSU sind drauf und dran, gegen diesen Grundkonsens zu verstoßen. Landauf, landab haben
sie damit gedroht - wir haben das soeben gehört -, die
neuen europäischen Verträge von Nizza beispielsweise im
Bundesrat zu blockieren. In Brüssel macht man sich inzwischen ernsthafte Sorgen, wohin die größte deutsche
Oppositionspartei europapolitisch treibt. Wenn Sie so
weitermachen, dann schwächen Sie die deutsche Position
im Rahmen der Regierungskonferenz nachhaltig. Herr
Merz, offensichtlich sind Sie sich der Verantwortung
nicht bewusst, die Sie über den Bundesrat mittragen müssen.
({3})
Vor allem des manchmal kurzen Gedächtnisses wegen
möchte ich an Folgendes erinnern: Die SPD-Bundestagsfraktion hat auch in ihren Oppositionsjahren europapolitisch verantwortungsbewusst gehandelt. Trotz der Unterschiede im Detail gab es immer eine Zustimmung zu den
grundsätzlichen Linien. Ich erinnere: Erstens. Wir haben
den Maastrichter Vertrag bzw. die Wirtschafts- und
Währungsunion zusammen mit der CDU/CSU und der
F.D.P. im Deutschen Bundestag ratifiziert.
Zweitens. Wir haben die Osterweiterung in den Oppositionsjahren solidarisch mitgetragen und auch gestaltet.
Drittens. Wir haben auch den Amsterdamer Vertrag ratifiziert, obwohl wir - wie die damaligen Regierungsfraktionen - mit diesem Vertrag nicht vollständig zufrieden
waren.
Meine Damen und Herren, ich meine, dieser Grundkonsens sollte auch für die anstehende Regierungskonferenz bestehen bleiben. Uns ist sehr bewusst, dass ein so
wichtiges Projekt im Deutschen Bundestag eine breite
politische Mehrheit braucht. Dies setzt aber voraus, dass
Sie die europapolitischen Realitäten zur Grundlage Ihrer
Überlegungen machen und am europapolitischen Grundkonsens festhalten. Nur dann können wir, Regierung und
Opposition, zusammenkommen.
Wie ist aber nun die europapolitische Position der heutigen Opposition zur Regierungskonferenz? Die Opposition ist offensichtlich zerstritten; zwischen Europabefürwortern und Europaskeptikern gibt es einen Graben:
({4})
Dieser Graben muss sehr tief sein; denn schon die Ankündigung, dass CDU und CSU versuchen würden, ihre europapolitischen Differenzen in einem Spitzengespräch
auszuräumen, war den Agenturen eine Nachricht wert.
Was nach dem Gespräch als neues Strategiepapier veröffentlicht worden ist, hält aber nicht, was das Wort Strategie verspricht.
({5})
Sie haben am letzten Sonntag kein Strategiepapier zur Regierungskonferenz beschlossen; Sie haben vielmehr versucht, Ihren offensichtlich mühsam gefundenen Minimalkonsens zur Regierungskonferenz als neue Strategie zu
verkaufen.
({6})
Ihre Europapolitik ist widersprüchlich, unrealistisch
und voller Halbwahrheiten. Ihr Antrag für die heutige Debatte belegt dies. Ich gebe nur drei Beispiele.
Erstens. Sie fordern, dass sich die Regierungskonferenz „mit allen Themen beschäftigen“ muss, „die für die
Erweiterungsfähigkeit maßgeblich sind“. Wenn wir dies
ernst nehmen würden, wäre dies gleichbedeutend mit dem
Scheitern der Regierungskonferenz in Nizza.
({7})
Wollen Sie das wirklich? Nizza kann nur ein Erfolg werden, wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf die
zentralen Fragen betreffend die Institutionen konzentrieren, die seit den Römischen Verträgen nicht grundlegend
reformiert worden sind.
Zweitens. Wir haben es gehört: Sie fordern in Ihrem
Antrag, dass das Subsidiaritätsprinzip „im Vertrag durch
eine genauere Abgrenzung der EU einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits gestärkt werden“ muss. „Die
Frage der europäischen Kompetenzordnung duldet keinen
weiteren Aufschub.“ Sehen Sie doch endlich ein, dass es
für eine entsprechende Erweiterung des Mandats der Regierungskonferenz in Feira keine Mehrheit der Mitgliedstaaten geben wird. Wenn die deutsche Bundesregierung
eine solche Forderung erheben würde, wäre das deutschfranzösische Verhältnis aufs Schwerste belastet. Wollen
Sie das wirklich?
({8})
Sie fordern immer eine Nachbesserung der
Agenda 2000. Solche Nachbesserungen kann und wird es
derzeit nicht geben. Wir sind alle froh, dass die Staats- und
Regierungschefs auf dem europäischen Gipfel in Berlin
einen guten Kompromiss zur Agenda 2000 gefunden haben. Dabei galt es - das möchte ich betonen -, 15 Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen, 15 Mitgliedstaaten zu verpflichten, eine Lösung zu finden. Ohne Zweifel
gibt es Punkte, die auch wir gerne anders gehabt hätten.
Das gilt vor allem für die Kofinanzierung in der gemeinsamen Agrarpolitik. Aber auch hier gilt: Das war im Rahmen der Agenda 2000 mit unseren französischen Freunden nicht zu machen.
Zudem fordern Sie auf der einen Seite immer wieder
mehr Beitragsgerechtigkeit, lehnen auf der anderen Seite
aber jede vernünftige Reform in der gemeinsamen Agrarpolitik ab.
({9})
Ihre alten Widersprüche, die Sie während Ihrer Regierungszeit nicht auflösen konnten, schleppen Sie noch
heute mit sich herum. Mit solchen Forderungen, verehrte
Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, untergraben
Sie den alten Grundkonsens in der Europapolitik. Für
mich ist klar: Wenn wir Ihre Vorschläge aufgreifen würden, schadeten wir nicht nur Deutschland, sondern auch
der Europäischen Union.
({10})
Am 1. Juli 2000 übernimmt Frankreich die EU-Präsidentschaft. Wir wünschen unseren französischen Partnern für diese Präsidentschaft jeden nur denkbaren Erfolg; denn Erfolge der Franzosen sind gleichbedeutend
mit Fortschritten für die europäische Integration. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat die
deutsch-französischen Beziehungen wieder gestärkt.
Frankreich und Deutschland arbeiten gemeinsam für den
Erfolg der Regierungskonferenz in Nizza.
({11})
Uns ist sehr bewusst, dass der deutsch-französische
Gleichklang eine, wenn nicht die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass wir in Nizza wirkliche Fortschritte
bei den institutionellen Reformen machen.
Im Augenblick sind die Verhandlungen der Regierungskonferenz - wer wollte das anders beschreiben nicht sehr dynamisch. Das ist normal und wird sich sehr
bald ändern.
({12})
Unser Kurs für die Verhandlungen ist klar: Wir setzen
alles daran, Herr Glos, zu echten Reformen zu kommen,
die die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union auch nach der Erweiterung sichern.
Folgende Punkte halte ich für besonders wichtig. Bei
der Reform der Europäischen Kommission setzen wir uns
dafür ein, dass eine feste Obergrenze für die Anzahl der
Kommissare eingeführt wird. Wenn dies nicht möglich
ist, weil der Widerstand der kleineren Mitgliedstaaten
nicht überwunden werden kann, dann allerdings ist es
umso wichtiger, die Stellung des Kommissionspräsidenten und die politische Verantwortlichkeit der einzelnen
Kommissare zu stärken. CDU und CSU legen sich bei der
Stimmengewichtung auf das Modell der doppelten
Mehrheit fest. Ich halte das für unklug. Entscheidendes
Ziel aus deutscher Sicht kann nicht ein bestimmtes Modell sein; es kommt vielmehr darauf an, dass der Bevölkerungsumfang Deutschlands bei den Abstimmungen im
Rat angemessen zum Ausdruck kommt. Dies ist auch bei
einer Neuwägung der Stimmen im Rat möglich; für uns
sind deshalb beide Ansätze tragbar, wenn sie unserem Ziel
dienen.
({13})
Weil das auch innenpolitisch eine wesentliche Rolle
spielt, will ich die Frage der qualifizierten Mehrheit ansprechen. Wir wissen, dass die Bundesregierung einen
mutigen Vorstoß unternommen hat. Unser Ziel ist es, in
möglichst vielen Bereichen den Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zu erreichen. Je weiter
die Regierungskonferenz in diesem Punkt kommt, desto
mehr stärken wir die Handlungsfähigkeit der erweiterten
Union.
Die verstärkte Zusammenarbeit wird darüber hinaus
im Rahmen der Regierungskonferenz einen besonderen
Stellenwert bekommen. Sie kann ein Instrument sein,
weitere Integrationsfortschritte zu erzielen, wenn im Rahmen der üblichen Verfahren keine Fortschritte mit allen
Mitgliedstaaten erzielt werden können.
Wir haben uns immer für ein begrenztes Mandat der
Regierungskonferenz eingesetzt, weil klar ist, dass nur bei
einem klar umrissenen und eng gefassten Mandat die Regierungskonferenz ein Erfolg werden kann. Dies halten
nicht nur wir für richtig; das sollte die Opposition langsam merken. Auch führende deutsche Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften unterstützen uns in diesem
Ansatz.
Es gibt darüber hinaus zwei wichtige Fragestellungen,
die auch für meine Fraktion von besonderer Bedeutung
sind: die langfristige Aufgabenverteilung zwischen der
Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie die
Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Die Frage nach der künftigen Aufgabenverteilung
wird sich vor allem aus zwei Gründen verstärkt stellen.
Mit der Osterweiterung wird die Europäische Union politisch, wirtschaftlich und sozial heterogener. Damit die
Union handlungs- und entscheidungsfähig bleibt, muss
sie sich stärker auf ihre Kernaufgaben konzentrieren.
Darin sind wir uns ja auch möglicherweise einig. Aber
auch unabhängig von der Erweiterung müsste die Europäische Union überprüfen, ob die Aufgabenverteilung
zwischen den Mitgliedstaaten und der EU dem heutigen
Integrationsniveau noch angemessen ist. Nicht jedes
Kleinstprogramm aus dem EU-Haushalt bringt automatisch einen europäischen Mehrwert.
Aber es gab und gibt im Europäischen Rat keine Mehrheit dafür, diese Frage im Rahmen der Regierungskonferenz 2000 zu behandeln. Dies war bereits auf den Europäischen Räten in Köln und Helsinki so und das wird in
Feira nicht anders sein.
Ganz offensichtlich sind sich CDU und CSU selbst
noch gar nicht wirklich einig, wie sie dieses Thema politisch behandeln sollen. In dem vorliegenden Antrag fordern Sie, dass die Frage der Kompetenzabgrenzung in
Nizza auf die Tagesordnung kommt. In Ihrem so genannten Strategiepapier - oder wie auch immer das Papier
heißen mag - vom Sonntag fordern Sie für Nizza nur noch
einen Einstieg in diese Frage. Was wollen Sie eigentlich?
Ich kann Ihnen nur empfehlen, von Anfang an die Latte
für Ihre Zustimmung zur Ratifizierung nicht zu hoch zu
legen. Weil Sie sich intern nicht darüber einig werden,
was Sie wollen, bauen Sie ein Drohpotenzial auf, um unter Umständen auch Nein zum neuen Europavertrag sagen
zu können. Aber weil Sie sich so gern selbst „Europapartei“ nennen, wissen Sie nur zu gut, dass eine Ablehnung
der neuen Europaverträge mit diesem Selbstverständnis
nicht zu vereinbaren ist.
({14})
Man stelle sich vor: Die CDU Deutschlands lehnt unter ihrer neuen Vorsitzenden Frau Merkel als erste europapolitische Großtat die neuen Europaverträge ab, die
15 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union
einstimmig beschlossen haben.
({15})
Damit werden Sie nicht nur in Deutschland und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Vermittlungsproblem haben, Frau Merkel, auch in Osteuropa werden
Sie eine solche Haltung nicht vermitteln können. Da gibt
es überhaupt keinen Zweifel.
Deshalb treten Sie anscheinend jetzt schon ein Rückzugsgefecht an. Wenn Ihre Kehrtwende in einen neuen europapolitischen Realismus mündet, dann können wir das
nur begrüßen. Durch Ihre antieuropäischen Parolen der
letzten Monate haben Sie aber in jedem Fall maßgeblich
zur europapolitischen Verunsicherung der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland beigetragen. So dürfen Sie gerade mit der Europäischen Union nicht umgehen.
({16})
So können Sie, die Sie das europapolitische Erbe - so
habe ich es zumindest gelesen - von Helmut Kohl fortführen wollen, das Erbe nicht bewahren. Statt mit unrealistischen Forderungen in die Verhandlungen zu gehen,
sollten Sie lieber unsere realistischen Verhandlungsziele
unterstützen. Wir streben in Nizza einen verbindlichen
Beschluss an, mit dem das Thema Kompetenzabgrenzung
auf die Agenda der nächsten Regierungskonferenz gesetzt
wird. Unterstützen Sie uns dabei, denn gemeinsam sind
wir in Brüssel stärker.
Ich will auch noch kurz auf die Frage der öffentlichen
Daseinsvorsorge eingehen. Diese Frage hat auch für
meine Fraktion einen hohen Stellenwert, denn hier geht es
im Kern um zentrale Elemente der Ausgestaltung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Die
Mitgliedstaaten müssen künftig in der Lage sein, im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge eigenverantwortlich zu handeln. Aber auch hier steckt der Teufel im Detail.
Es ist gut, dass in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung von Staatsminister Zöpel in dieser Frage ein
grundsätzliches Einvernehmen über das weitere Vorgehen
erzielt werden konnte. Ich hoffe nur sehr, dass auch Bayern, sehr geehrter Herr Staatsminister Bocklet, diese Linie
mitträgt und nicht wieder versuchen wird, in letzter Minute im Bundesrat den Kompromiss aufzukündigen.
Meine Damen und Herren, die Regierungskonferenz
muss die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union
ab 2003 herstellen. Hier sind wir gegenüber unseren mittel- und osteuropäischen Partnern im Wort. Helfen Sie uns
dabei. Helfen Sie mit, diesen europapolitischen Grundkonsens im Deutschen Bundestag fortzuführen, so wie
wir es als Oppositionspartei getan haben. Dies ist von
Nutzen für Deutschland. Dies ist vor allem von Nutzen für
Europa.
Ich bedanke mich.
({17})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, auf der Diplomatentribüne befindet sich
der Außenminister der Republik Ungarn, Dr. János
Martonyi.
({0})
Herr Außenminister, ich heiße Sie im Namen des Hauses bei der Debatte über eine Regierungskonferenz, die ja
auch für Ihr Land von großer Bedeutung ist, herzlich willkommen und wünsche Ihnen für Ihren Deutschlandaufenthalt und Ihre hier zu führenden Gespräche viel Erfolg.
({1})
Ich gebe nun dem Kollegen Professor Dr. Helmut
Haussmann für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig,
dass vor entscheidenden Regierungskonferenzen im
Deutschen Bundestag klar wird, in welchen Punkten in
der Europapolitik Übereinstimmung herrscht. Kein Land
wird so beobachtet vor dieser wichtigen Konferenz wie
Deutschland.
Ich möchte gleich am Anfang klar sagen: In der F.D.P.
herrscht bezüglich der Europapolitik Klarheit, unabhängig davon, ob sie regiert oder ob sie in der Opposition ist.
Jenseits von Tabakrichtlinie und Kompetenzeifersüchteleien der Bundesländer gibt es für die F.D.P. zwei ganz
klare Ziele bis zur Ratifizierung:
Erstens. Wir wollen einen substanziellen Einstieg in
Mehrheitsentscheidungen. Das ist für uns ein ganz entscheidender Punkt.
Zweitens. Wir wollen die pünktliche, aber auch realistische Osterweiterung.
({0})
Ich sage als überzeugter Europäer: Auch die Union
wird sich am Ende des Tages entscheiden müssen.
({1})
- Verehrter Herr Kollege, ich halte ein Junktim zwischen
endgültiger Kompetenzabgrenzung, Osterweiterung und
Ratifizierung so für nicht durchhaltbar. Es ist nicht unsere
Entscheidung.
({2})
- Verehrter Herr Kollege, ich möchte unseren ungarischen
Freunden, unseren tschechischen Partnern nicht erklären
müssen, dass die Regierungskonferenz - und damit der
erste Schritt der Osterweiterung - am Veto eifersüchtiger
Bundesländer gescheitert ist. Es darf weder an dem Ziel
der SPD betreffend die Daseinsvorsorge noch an - was in
dieser Zeit gar nicht leistbar ist - der Festschreibung einer
endgültigen Kompetenzabgrenzung aus den Reihen der
CDU scheitern.
({3})
Es wird aus unserer Sicht darauf ankommen, dass wir
einen Einstieg in die Kompetenzabgrenzung finden. Wer
aber die Europapolitik kennt, der weiß, dass eine endgültige Abgrenzung in wenigen Monaten so nicht leistbar ist.
Ich sage das nicht aus parteipolitischen Gründen. Ich
glaube, es ist ganz entscheidend, dass unsere Partner damit rechnen können, dass wir in Deutschland mit einer
Zweidrittelmehrheit ratifizieren. Das ist enorm wichtig
und hat Stabilitätscharakter.
({4})
Wir sind weit davon entfernt, das bisherige Prinzip der
portugiesischen Präsidentschaft - die Mehrheitsentscheidung ist die Ausnahme und es bleibt ansonsten bei
der Möglichkeit eines Vetos - umzudrehen. Es wird die
entscheidende Aufgabe, Herr Außenminister Fischer,
sein, in der französischen Präsidentschaft durch Ihren und
den Einfluss des Bundeskanzlers dafür zu sorgen, dass die
Mehrheitsentscheidung die Regel und die Vetoentscheidung die Ausnahme wird.
Das ist der entscheidende Integrationsfortschritt. Wer
derzeit Politikfelder wie die Steuerpolitik betrachtet, der
weiß, ohne den Einstieg in Mehrheitsentscheidungen ist
die Europäische Union nicht erweiterungsfähig. Das
heißt, der enge Zusammenhang zwischen mehr Mehrheitsentscheidungen und Osterweiterung - das sind die
beiden Essentials der F.D.P. - ist evident.
({5})
Was die Osterweiterung angeht, so sind wir traurig,
dass wenig Ehrgeiz herrscht, auch aus deutscher Sicht. Es
herrscht weitgehend Stillstand. Ich bin auch von den vom
deutschen Kommissar, Herrn Verheugen, bisher angestoßenen Fortschritten enttäuscht. Wenn Sie darüber mit
den Osteuropäern reden, stellen sie fest: Es werden keine
entscheidenden Kapitel abgeschlossen, lediglich neue
Fragen nachgereicht. Damit verschiebt sich der Zeitplan.
So haben wir uns die Osterweiterung nicht vorgestellt.
Denn die Osterweiterung ist Stabilitätspolitik im besten
Sinne.
Ohne eine kontinentale Organisation wird Europa in
diesem beginnenden Jahrhundert keine entscheidende
Rolle spielen. Mit weiterer Verzögerung des Zeitplans
werden wir Entwicklungen wie in Polen auch in anderen
Ländern Ost- und Mitteleuropas provozieren. Herr Außenminister, es kommt darauf an, dass die Bundesregierung jenseits von Agrardiskussionen Druck macht, damit
die Polen, Tschechen und Ungarn sehen, dass Kapitel abgeschlossen werden und dass sich ein realistischer Fahrplan ergibt, der die Reformer in den osteuropäischen Ländern unterstützt, damit sie sich gegenüber den europäischen Verhinderern von links und rechts in Osteuropa
durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, wir brauchen Perspektiven. Wer vor Migration und zu vielen Zuwanderern
warnt, muss auch die umgekehrte Frage beantworten:
Wann können die Osteuropäer damit rechnen, dass sie
Bürger der Europäischen Union werden? Ein Verschieben
führt eher zum Gegenteil, deshalb sage ich: Wir erwarten
unter französischer Präsidentschaft im Bereich der entscheidenden Kapitel deutliche Fortschritte und wir erwarten zum Ende dieses Jahres auch erste Hinweise darauf,
wann die ersten Beitrittskandidaten - immer abhängig
vom Reformfortschritt in diesen Ländern in einem mittelfristigen Zeitraum - Mitglieder der Europäischen Union
werden.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Wir haben gestern im Europaausschuss gehört, dass die
ersten Mittel für die Kommunikationsstrategie für die
Osterweiterung erst im Jahre 2004 fließen. So wird - so
viel ist uns klar - die Europäische Union und mit ihr die
Bundesregierung ihr Versprechen gegenüber Osteuropa,
pünktlich zu erweitern, nicht halten können.
Ein Wort zur deutsch-französischen Beziehung. Es ist
bereits von Herrn Merz erwähnt worden: Der französische Verteidigungsminister Richard hat erklärt, Großbritannien sei inzwischen der interessantere Partner. Wir haben erlebt, dass Herr Zöpel zunächst in „Le Monde“ angekündigt hat, es komme zu einer deutsch-französischen
Initiative und bei der Stimmgewichtung zu einer Entscheidung zugunsten Deutschlands. Wir haben inzwischen feststellen müssen, dass Herr Moscovici dementiert
hat. Ich glaube, das ist kein idealer Auftakt für die französische Präsidentschaft. Ich kann nur noch einmal darum
bitten, beim deutsch-französischen Gipfel klarzumachen,
welche gemeinsame Haltung Deutschland und Frankreich
einnehmen.
Der letzte Punkt ist die Entwicklung der europäischen Währung. Ich will als erklärter Verteidiger und
Förderer einer europäischen Währung sehr offen sagen:
Diese ist nicht nur aus währungspolitischen Gründen ein
eminent wichtiges Symbol für die Einigkeit der Europäer.
Ich freue mich über jedes Zehntel, das der Euro gegenüber
dem Dollar gewinnt. Aber das Nahziel, die Parität von
Dollar und Euro, ist bei weitem nicht erreicht.
Ich kann nur noch einmal vor dem süßen Gift einer geduldeten Weichwährung warnen. Eine Weichwährung
täuscht eine falsche, nicht vorhandene Wettbewerbsfähigkeit vor. Sie provoziert weitere Zinserhöhungen und damit Nachteile für Rentner, Sparer und den Mittelstand,
weil Zinserhöhungen zwangsläufig wiederum zu Preiserhöhungen und Inflation führen.
Insofern wäre es ein wichtiger Beitrag der Bundesregierung, die geplante nächste Stufe der Ökosteuer abzusagen, denn der Benzinpreis wird zum Inflationstreiber.
({6})
Meine Damen und Herren, nachdem die Grünen - wie
sich jetzt in Nordrhein-Westfalen zeigt - im Grunde überhaupt nichts mehr bewegen, können Sie nun auf den zweiten Schritt der Ökosteuer getrost verzichten. Es erwartet
sowieso niemand mehr, dass sich die Grünen bei irgendeinem Gesichtspunkt durchsetzen.
({7})
Trotzdem: Die Euroschwäche ist und bleibt die Quittung der Märkte für unterlassene Strukturreformen. Ich
kann nur sagen: Wenn Herr Riester nicht bald zu einer
wirklichen Reform im Bereich der Renten- und Alterssicherung kommt, wird dies dazu führen, dass die europäische Leitwährung schwach bleibt. Die Märkte beobachten sehr genau, ob die Euroländer im Kernbereich reformfähig sind.
({8})
Am Ende hoffe und wünsche ich - das gilt auch für
meine Fraktion -, dass die Bundesregierung in der Lage
ist, bei der Regierungskonferenz für einen substanziellen
Einstieg in Mehrheitsentscheidungen in Europa zu sorgen, um damit den Weg für eine pünktliche Osterweiterung frei zu machen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Christian
Sterzing.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern und auch heute Morgen noch gerätselt, warum
eigentlich Herr Stoiber nicht wie angekündigt in dieser
Debatte auftritt. Aber ich glaube, nach der Eröffnungsrede
in dieser Debatte wissen wir alle, warum: Diese Reden
werden jetzt von dem Kollegen Merz gehalten. Insofern
vermissen wir Herrn Stoiber hier auch gar nicht.
({0})
Inwieweit diese Rede als ein Signal für die Entscheidung in dem europapolitischen Streit, den es in der
CDU/CSU gibt, zu werten ist, kann jeder für sich entscheiden. Der saarländische Ministerpräsident hat noch in
dieser Woche verlauten lassen, dass dies zu den zentralen
Fragen gehört, die innerhalb der CDU/CSU geklärt werden müssen. Er hat zwischen den „Hurra-Europäern“ und
den „Ja-aber-Europäern“ unterschieden. Ich denke, mit
der Rede von Herrn Merz haben wir nun eine neue Kategorie von Europäern kennen gelernt - gestern wurde es
schon einmal gesagt -, nämlich die „Hauruck-Europäer“,
die alles jetzt lösen wollen.
({1})
Sie trauen dieser Regierung sehr viel zu. Sie soll im
Rahmen dieser Regierungskonferenz bis zum Ende des
Jahres eine ganze Reihe von grundlegenden Problemen
lösen,
({2})
zu deren Lösung Sie offensichtlich in den letzten Jahren
nichts beigetragen haben. Wir nehmen dies gelassen. Uns
ehrt dieses Vertrauen. Wir werden Ihnen in den nächsten
Monaten zeigen, dass wir mit dieser Regierung auch europapolitisch einiges auf den Weg bringen können.
({3})
Wir stehen vor dem Gipfel in Feira. Sicher ist ein solcher Gipfel in einer längeren Reihe von Regierungskonferenzen immer eine Gelegenheit, Zwischenbilanz zu ziehen. Ich denke, wir sind uns alle einig: Diese Zwischenbilanz wird ernüchternd ausfallen. Es wird davon
gesprochen, dass die portugiesische Präsidentschaft eine
fotografische Wiedergabe der Ergebnisse vorlegen wird,
und es ist zu erwarten, dass sich dies alles im Kleinbildformat bewegen wird. Die Regierungskonferenz ist zähflüssig. In vielen Punkten sind wir über das, was in Amsterdam erarbeitet wurde, noch nicht hinausgekommen.
Das ist kein Vorwurf an die Beteiligten. Vieles braucht
seine Zeit. Es sollte - dies sei am Rande auch noch einmal
sehr deutlich gesagt - für uns ein weiterer Anlass sein,
über diese Form von Regierungskonferenzen, über diese
Form von Vertragsentwicklung innerhalb der Europäischen Union nachzudenken und sich über neue, alternative Möglichkeiten Gedanken zu machen.
Die Franzosen bereiten ihre Präsidentschaft vor. Es ist
deutlich geworden, dass die deutsche Bundesregierung alles tut, um die Franzosen dabei zu unterstützen und zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Ich glaube, hier bewegt sich einiges in die richtige Richtung. Wir hoffen
natürlich alle, dass bald Ergebnisse zu sehen sein werden.
({4})
Festzuhalten scheint mir gerade auch aufgrund der Debatten, die wir im Europaausschuss in den letzten Wochen
und Monaten geführt haben, dass wir in zentralen Punkten der Regierungskonferenz übereinstimmen und dass
gerade im Hinblick auf die so genannten `leftovers` von
Amsterdam eine weitgehende Einigkeit besteht. Glücklicherweise wird im Ausschuss anders gesprochen und diskutiert als hier im Plenum.
Aber wir müssen natürlich auch die Unterschiede sehen. Sie scheinen mir besonders in den Punkten zu bestehen, die nicht auf der Tagesordnung der Regierungskonferenz stehen. Ich nenne das Stichwort „Kompetenzabgrenzung“ und das Stichwort „Daseinsvorsorge“. Wir
müssen dringend davor warnen, die Kompetenzregelung
zum entscheidenden Kriterium für die Zustimmung zum
Vertrag von Nizza zu machen.
Wir sind uns sicherlich in der Problemanalyse alle sehr
einig. Es bedarf tendenziell einer Klärung der Kompetenzen, es bedarf einer Neuvermessung von Zuständigkeiten
auf den verschiedenen Ebenen zwischen Europa, Nationalstaat, Ländern, Regionen und Kommunen.
Meiner Auffassung nach ist das Problem vollkommen
klar, aber wir müssen deutlich sagen,
({5})
dass Brüssel zurzeit nicht unbedingt zu viele Kompetenzen hat,
({6})
sondern in vielen Fällen die falschen Kompetenzen hat.
({7})
Darüber müssen wir reden. Wenn wir bereit sind, differenziert darüber zu reden, dann kann man auch unter Beweis stellen, dass es einem bei der Kompetenzfrage nicht
darum geht, antieuropäische Ressentiments zu wecken,
sondern dass es um das Problem geht, mit der Kompetenzabgrenzung Fragen der Demokratisierung, der Bürgernähe und damit auch der Akzeptanz dieses Integrationsprozesses zu verbinden; denn das sind die zentralen Fragen, die damit im Zusammenhang stehen.
Aber wie lösen wir das Problem? Lösen wir das Problem, indem wir immer lauter, immer drohender rufen,
dass es jetzt gelöst werden muss? Ich glaube, wer ehrlich
ist und sich in den letzten Jahren ein wenig mit Regierungskonferenzen beschäftigt hat, dem ist schon deutlich:
Mit einem Big Bang werden wir das Kompetenzproblem
auf dieser Regierungskonferenz nicht lösen können. Wir
haben in den letzten Jahren erlebt - das müssten gerade
Sie aus Ihrer Regierungszeit noch wissen -, wie schwierig es war, sich über Maastricht, über das Protokoll im
Amsterdamer Vertrag dem Prinzip der Subsidiarität zu
nähern.
Die Lösung eines solchen komplexen Problemes
braucht Zeit. Wir sollten uns sehr klar darüber sein, dass
es sich nicht nur um ein vertragstechnisches Problem handelt, um die Abgrenzung verschiedener Entscheidungsebenen, sondern dass es hier um sehr grundlegende Fragen
geht, nämlich darum, welches Bild von Europa sich dahinter verbirgt. Ich glaube, die Rede von Außenminister
Fischer am 12. Mai hat dies deutlich gemacht. Wir müssen uns zunächst einmal Rechenschaft über diese Frage
ablegen, um uns dann im Einzelnen sachgemäß über die
Kompetenzfrage unterhalten zu können. Welches Verhältnis soll zwischen der EU und den Nationalstaaten und
welches Verhältnis soll zwischen den verschiedenen Entscheidungsebenen bestehen? Es ist Zeit, darüber zu diskutieren, es ist aber noch nicht die Zeit gekommen, um im
Rahmen einer verfassungsähnlichen Regelung in Vertragsform eine Kompetenzabgrenzung vorzunehmen.
In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Aspekt
genannt werden: Die Integration ist seit Jahrzehnten ein
dynamischer Prozess, der gerade davon lebt - „Methode
Monnet“ -, dass Kompetenzen im Einzelnen nicht geklärt
sind. Insofern müssen wir uns darüber im Klaren sein,
dass eine Festschreibung der Kompetenzen diesem Prozess die Dynamik nehmen würde. Deshalb muss sich jeder, der diesen Kompetenzkatalog hier und heute fordert,
mit dem Vorwurf auseinander setzen, gerade diese Idee eines Kompetenzkataloges wolle einen bestimmten Integrationszustand festschreiben und weitere Entwicklungen
unmöglich machen.
({8})
- Hier ist die Frage des Zeitpunktes wesentlich. Insofern
kritisiere ich nicht, dass über das Problem der Kompetenz
gestritten werden muss. Die Frage ist vielmehr, wann wir
eine solche Regelung in die Verträge aufnehmen.
Ich darf daran erinnern, dass dieser Kompetenzkatalog
auch eine sehr deutsche Vorstellung ist. KompetenzregeChristian Sterzing
lungen und Kompetenzsystematiken, so wie wir sie vom
Grundgesetz her kennen, lassen sich nicht einfach auf die
europäische Ebene übertragen. Wir müssen auch ein wenig selbstkritisch mit dem umgehen, was wir in den letzten Jahrzehnten an Entwicklungen und Diskussionen über
das föderale System der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der
vehemente Ruf vieler Ministerpräsidenten nach einer
Kompetenzregelung auf europäischer Ebene eine Überkompensation der Unzufriedenheit mit dem ist, was sich
auf nationaler Ebene in den letzten Jahren entwickelt hat.
({9})
Gerade die Länder erleben Kompetenzübertragungen immer auch als einen Verlust von Handlungsfähigkeit
und politischer Gestaltungsmöglichkeit. Hier lohnt es
sich, einmal den Blick über die Grenzen hinweg auf andere Länder zu richten. Im Zeitalter von Globalisierung
sind Handlungsspielräume in der Realität eingeschränkt
worden. Der Nationalstaat kann viele Probleme nicht
mehr lösen. Insofern - das gilt gerade für kleinere Länder
in der EU - ist eine Kompetenzübertragung nach Brüssel
eine Chance, neue Gestaltungsräume und neue Handlungsmöglichkeiten, zumindest im Verbund mit anderen,
zurückzugewinnen.
({10})
Deshalb müssen wir dieses Verständnis für den Diskussionsprozess über die Kompetenzfragen auch hinsichtlich der anderen Länder aufbringen und dürfen nicht
nach dem Motto „Am deutschen Wesen muss die EUKompetenzregelung genesen“ deutsche Vorstellungen
vorantreiben. Die Zeit ist dafür noch nicht reif, aber wir
sind auf einem guten Weg.
({11})
Das Problemverständnis ist vorhanden und wir sind uns
weitgehend einig. Das Ergebnis des Besuches einiger Ministerpräsidenten beim Kommissionspräsidenten in Brüssel hat bewiesen, dass auch die Kommission das Problem
sieht. Es tun sich durchaus Wege auf, dieses Problem zielführend in den Griff zu bekommen, ohne der Illusion zu
erliegen, man könne dies alles in Kürze regeln.
Am Ende dieses Jahres, wenn es zu einem Vertrag von
Nizza kommt, werden Sie sich, meine Damen und Herren
von der Opposition, mit der Frage auseinander zu setzen
haben, ob Sie tatsächlich diesen Integrationsprozess aufgrund der Egoismen von Ministerpräsidenten stoppen
wollen. Und Sie werden sich ganz besonders der Frage
stellen müssen, ob Sie auch den Erweiterungsprozess zum
Stoppen oder gar Scheitern bringen wollen, indem Sie die
Frage der Kompetenzabgrenzung zum alleinigen Kriterium für die Zustimmung zum Vertrag von Nizza erheben.
Was die Regierungskonferenz angeht, ist es fairer, einen Zwischenschritt zu machen. Zu diesem Zeitpunkt
wollten wir natürlich viel weiter sein. Das heißt, dass für
die französische Präsidentschaft sehr viel zu tun bleibt
und ein gutes Stück Arbeit vor ihr steht. Von deutscher
Seite können wir ganz klar sagen: Die französische Regierung hat diesbezüglich unsere Unterstützung. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten deutlich gemacht, dass sich die Kontakte auf den unterschiedlichsten
Ebenen zwischen Frankreich und Deutschland erheblich
verdichtet haben. Am Wochenende steht ein erneutes
Treffen bevor. Das sollte als unübersehbares Zeichen der
deutsch-französischen Zusammenarbeit im Rahmen der
europäischen Integration im Allgemeinen und der Regierungskonferenz im Besonderen wahrgenommen werden.
Insofern, Herr Kollege Merz: Die Bundesregierung steht
nicht am Rande der europäischen Entwicklung, sondern
sie steht im Zentrum dieses Integrationsprozesses.
({12})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage bzw. Nachfrage der Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger? - Nein.
Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Hiksch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Regierungskonferenz stehen wir vor wichtigen Entscheidungen im Rahmen der
Weiterentwicklung der Europäischen Union. Ich bin mir
nicht ganz sicher, ob der Kollege Merz in seiner Rede aus
Unwissenheit oder aus Fahrlässigkeit diese Regierungskonferenz infrage gestellt hat oder das Scheitern der Regierungskonferenz bewusst in Kauf nimmt, um antieuropäische Ressentiments voranzubringen, damit die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittelund Osteuropas scheitert. Herr Kollege Merz, für das, was
Sie gesagt haben und was sich als neue Politik eines Teils
der CDU/CSU anscheinend durchsetzt, sollten Sie sich
schämen. Das stellt die Europapolitik der CDU/CSU der
letzten 20 Jahre infrage.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, sagen wir deutlich: Die Auseinandersetzung um eine gute Europapolitik,
um eine Weiterentwicklung der Europapolitik ist für die
PDS eine Kritik an dem, was die Regierung derzeit auf
europäischer Ebene umzusetzen versucht. Es muss vor allen Dingen gelingen, eine schrittweise Weiterentwicklung
der Europäischen Union und eine schrittweise Integration auf europäischer Ebene, eine Vertiefung der europäischen Politik und vor allen Dingen die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union umzusetzen. Alle Versuche, diese Form der europäischen Entwicklung mit
einem kurzfristigen Stimmenfang aufzuhalten, werden
mittelfristig eine Sünde an der europäischen Entwicklung
sein.
({0})
Deshalb sagt die PDS, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir im Rahmen der Regierungskonferenz erreichen wollen, dass darüber diskutiert wird, dass Europa in
das Zentrum der politischen Entscheidungen - weg von
der Kommission und weg von den Räten, wieder mehr
in das Europäische Parlament - verlagert werden
muss. Wir müssen gemeinsam dafür eintreten und dafür
kämpfen, dass das Europäische Parlament in allen Politikbereichen Mitentscheidungsrechte bekommt.
({1})
Wir werden uns dafür einsetzen, dass im Rahmen der
Regierungskonferenz auch darüber geredet wird, dass
Menschen Europa nur zustimmen, wenn europäische Prozesse transparenter, demokratischer werden und die Menschen eine Chance haben, europäische Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen. Die PDS fordert seit vielen Jahren, die Sitzungen der Räte öffentlich zu machen und
Protokolle über unterschiedliche Positionen zu veröffentlichen, um eine demokratische Diskussion auf europäischer Ebene zu ermöglichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir denn?
Wir stehen vor dem Problem, dass es innerhalb der Europäischen Union gelingen muss, den internationalisierten
Kapital- und Finanzmärkten eine demokratische, eine zivilgesellschaftliche Struktur entgegenzusetzen. Demokratisch gewählte Parlamente müssen wieder die Möglichkeit haben, Politik zu gestalten. Wir müssen unseren
Beitrag dazu leisten, dass das Primat der Politik wieder im
Mittelpunkt der Politik steht und dass dieses Primat wieder durchgesetzt werden kann.
({2})
Deshalb, Kollege Müller, hält die PDS-Bundestagsfraktion Ihren Vorschlag für richtig und wichtig, nämlich
dafür einzutreten, dass der Deutsche Bundestag und die
Parlamente nicht nur ein empfehlendes Votum abgeben
können, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland weiterentwickelt wird, dass der Parlamentarismus gestärkt wird und dass der Deutsche Bundestag die
Vertreter der Bundesregierung durch entsprechende Beschlüsse verpflichten kann, unsere Positionen, also die gewählter Vertreterinnen und Vertreter, auf europäischer
Ebene zu repräsentieren. Wenn die bayerische CSU mit
dieser Forderung alleine dastehen sollte, dann kann ich Ihnen versichern, dass die PDS gerne bereit sein wird, die
bayerische CSU in diesem Ansinnen zu unterstützen. Wir
werden dann gemeinsam mit Ihnen von der CSU dafür
kämpfen, dass der Parlamentarismus im Rahmen europäischer Debatten wieder gestärkt wird.
Für uns ist die Klärung der Frage der ̀ leftovers` zu wenig. Natürlich muss im Rahmen der Regierungskonferenz
über die Frage geredet werden, wie eine erweiterte Europäische Union in der Lage sein kann, weiterhin Politik zu
gestalten. Deshalb ist die PDS der Überzeugung, dass der
Erhalt einer arbeitsfähigen Europäischen Kommission,
für deren Mitgliederzahl eine Höchstgrenze gelten muss,
wichtiger ist als die Forderung, dass jedes Land mit einem
eigenen Kommissar vertreten ist. Deshalb wird sich die
PDS dafür einsetzen, dass die Stimmengewichtung im
Europäischen Rat so weiterentwickelt wird, dass sich demokratische Strukturen in der Europäischen Union mehr
als bisher abbilden. Das bedeutet für uns, dass Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich möglich sein müssen und
dass das Prinzip der Einstimmigkeit auf wenige Bereiche
beschränkt wird. Wir werden uns vor allem für eine doppelte qualitative Mehrheit, die sowohl die Mehrheit der
Länder als auch die Mehrheit der Einwohner der Europäischen Union verlangt, als Grundlage für Entscheidungen
im Rahmen der europäischen, demokratischen Entwicklung einsetzen.
Die PDS-Bundestagsfraktion unterstützt auch die Bestrebungen, die Zahl der Mitglieder des Europäischen
Parlaments auf 700 zu begrenzen, die Vorstellung, dass jedes Land mit mindestens vier Mitgliedern im Europäischen Parlament vertreten sein sollte, und die Forderung,
dass der Rest der Sitze nach der Einwohnerzahl, also nach
dem Motto „One man, one vote“, vergeben wird. Das
sollte die Grundlage der Politik werden.
({3})
Die bevorstehende Regierungskonferenz muss sich
aber unter anderem auch der Auseinandersetzung darüber
stellen, wie es gelingen kann, das europäische Modell
mehr als bisher in den Köpfen und in den Herzen der Menschen zu verankern. Deshalb halten wir es für richtig und
wichtig, über die Anregungen des Bundesrates zu diskutieren, wie die Belange der öffentlichen Daseinsvorsorge
bezüglich der universalen Dienstleistungen im Bereich
der Gesundheit, der Energie sowie des Wassers und des
Abwassers sichergestellt werden können und wie die
Entwicklungen bei den nationalen Wohlfahrtsverbänden
auch auf europäischer Ebene umgesetzt werden können.
Die öffentliche Daseinsvorsorge darf in der Europäischen
Union nicht immer mehr ökonomisiert werden. Wir wollen ein Recht auf Daseinsvorsorge in der Europäischen
Union und den Erhalt der Wohlfahrtsverbände bundesdeutscher Prägung durchsetzen.
Fundamentalopposition in der europäischen Politik
führt nicht weiter. Ich kann die CDU nur bitten, an den
Tisch zurückzukehren und darüber zu diskutieren, wie wir
die Europäische Union weiterentwickeln können, und
nicht dazu beizutragen, dass nationalistische und Europa
ablehnende Töne wieder zur Tagesordnung in der Bundesrepublik gehören. Das hat Ihre Tradition eigentlich
nicht verdient.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Michael Roth.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen wahrlich
vor großen Aufgaben. Angesichts dieser Tatsache sind wir
von der Rede des Kollegen Merz - das muss ich sagen ein wenig enttäuscht. Was da eben an Wegweisendem zur
Zukunft der Europäischen Union gesagt wurde, das hat
wirklich niemanden vom Stuhl gerissen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppositionsfraktion, klären Sie demnächst einmal Ihre Linie, was das
Verhältnis zwischen CDU und CSU angeht. Vielleicht
kommt dann etwas Wegweisenderes zustande.
Ich will auf die große Herausforderung der Regierungskonferenz eingehen. Manchmal habe ich das GeUwe Hiksch
fühl, dass wir uns überhaupt nicht darüber im Klaren sind,
welche schwierigen Probleme dort bewältigt werden
müssen. Das will ich an einem einzigen Beispiel verdeutlichen: Wenn es uns nicht gelingt, die qualifizierte Mehrheit zu einer grundsätzlichen Abstimmungsregelung im
Rat werden zu lassen, dann werden wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auch im Hinblick auf
die Erweiterung - das ist die wesentliche Aufgabe - nicht
vorantreiben können.
({1})
Ehrlich gesagt, ich bin etwas darüber überrascht, dass
der Aufschrei der Empörung bei vielen Lobbygruppen
nicht größer ist. Wir haben von der Bundesregierung erfahren, dass es seitens der Ressorts das eine oder andere
gibt, bei dem man nicht unbedingt zur Mehrheitsentscheidung finden sollte. Bei uns haben schon einige Interessengruppen angeklopft und darauf hingewiesen, dass
man die Mehrheitsentscheidung vielleicht hier oder da
nicht einführen sollte.
Ich unterstütze die Bundesregierung ausdrücklich in
dem Bestreben, an dem Grundsatz festzuhalten, Mehrheitsentscheidungen einzuführen, auch wenn wir in den
kommenden Wochen und Monaten darüber vielleicht die
eine oder andere Kontroverse führen können. Umso wichtiger ist es aber, dass der Bundestag einen breiten Konsens
zwischen den Fraktionen und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen erzielt; denn sonst werden wir die große Aufgabe der Einführung von Mehrheitsentscheidungen nicht - jedenfalls nicht erfolgreich schultern können.
({2})
Auch die SPD-Fraktion ist mit dem Stand der Regierungskonferenz nicht besonders zufrieden. Das muss ich
nicht betonen. Das liegt meines Erachtens - der Kollege
Sterzing hat schon darauf hingewiesen - auch am Instrumentarium der Regierungskonferenz selbst.
Gegenwärtig berät der Konvent über eine Grundrechtscharta. Vielleicht gelingt es uns auch vor dem Hintergrund der positiven Verhandlungsführung unter Roman
Herzog, zukünftig den verfassunggebenden Prozess in der
Europäischen Union stärker zu parlamentarisieren und
von dem originären Instrumentarium der Regierungskonferenzen wegzukommen.
({3})
Wir hasten von einer Regierungskonferenz zur nächsten. Es wird immer schwieriger, je mehr Mitglieder die
Europäische Union bekommt. Wir wissen alle, dass wir
mit dieser Regierungskonferenz nicht alles Notwendige
zu bewerkstelligen vermögen. Das finde ich gar nicht so
schlecht, wenn ich an die ungarischen, die tschechischen
oder die polnischen Freunde und auch an andere denke.
Ich bin sehr optimistisch, dass wir mit diesen mittelosteuropäischen Staaten nicht unbedingt zu einer Verlangsamung, sondern zu einer Verstetigung und vielleicht auch
zu einer Beschleunigung der einen oder anderen politisch
umstrittenen Frage kommen werden.
Ich wünsche mir eine Parlamentarisierung dieses
verfassunggebenden Prozesses. Darüber haben wir gestern im Europaausschuss eine Debatte geführt. Dabei hat,
wenn ich es richtig verstanden habe, der Herr Kollege
Ausschussvorsitzende den Kollegen Müller von der CSU
in den Senkel gestellt.
({4})
- Zumindest habe ich das so verstanden; Sie können es ja
geraderücken. - Sie, Herr Müller, haben sich sehr negativ
über die Arbeit des Europaausschusses geäußert. Unser
Europaausschuss hat es schon geschafft, bei den europapolitischen Maßnahmen der Regierung - Europapolitik
ist ja stark exekutivlastig - nicht nur Kontrolle auszuüben,
sondern zu einer guten und vertrauensvollen Arbeitsgrundlage zu finden. Wir wollen, dass das so weitergeht.
Wir können uns aber auch vorstellen, den Bundestag und
alle Parlamente in der Europäischen Union gemeinsam
mit dem Europäischen Parlament stärker in die grundsätzlichen Fragen einzubinden.
({5})
Ich habe damit gerechnet, dass der Oppositionsführer
eine große, eine wegweisende Rede halten wird. Sie ist
nicht gekommen; deswegen sollten Sie sich mit diversen
Drohungen in Richtung Abstimmung über die Ergebnisse
der Regierungskonferenz zurückhalten; denn es gibt zu
den Fragen, die Sie zu Recht aufwerfen, bei der Kompetenzabgrenzung und auch bei der sozialen Daseinsvorsorge meines Erachtens einen weitgehenden Konsens im
Hause.
Viele meiner Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion waren oder sind in kommunalpolitischer Verantwortung. Wir wissen sehr wohl, wie wichtig es ist,
bestimmte Aufgaben nicht unter reinen Wettbewerbsgesichtspunkten zu betrachten, auch bei der Daseinsvorsorge nicht; das ist uns klar. Das gilt für den sozialen, den
gesundheitlichen, aber auch den kulturellen Sektor. Deswegen haben natürlich auch wir ein Interesse daran, nicht
alles marktkonform zu regeln und nicht überall nur den
Wettbewerb zu fördern, sondern vielleicht auch einige Politikfelder vorzuhalten, in denen man auf die lokalen Ebenen, aber auch auf die regionalen Ebenen stärker Rücksicht nimmt. Das ist, glaube ich, hier auch Konsens.
({6})
Ich will noch auf einen Aspekt eingehen und - gerade
in Anwesenheit von Herrn Außenminister Martonyi - sagen: Der Erweiterungsprozess ist für uns in den kommenden Jahren die zentrale Herausforderung! Aber,
meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen schon einmal klären, was Sie denn eigentlich wollen.
Wir haben erklärt, dass das Prinzip der Sorgfalt vor das
Prinzip der Schnelligkeit geht, dass wir nur dann einen erfolgreichen Erweiterungsprozess gestalten können, wenn
wir in Verhandlungen mit den mittelosteuropäischen Staaten all das sorgfältig regeln, was geregelt werden muss;
denn nur so können wir die Ängste der Bürgerinnen und
Bürger abbauen.
Sie müssen schon sagen: Wollen Sie hetzen, wollen Sie
Propaganda machen oder wollen Sie aufklären und über
den Erweiterungsprozess informieren? Wir haben uns
dafür entschieden zu informieren, aufzuklären und nicht
Michael Roth ({7})
zu hetzen oder mit irgendwelchen Klischees und Vorurteilen durch dieses Land zu rennen und damit zur Verunsicherung sowohl bei den mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten als auch bei unserer Bevölkerung beizutragen.
Denn wir brauchen die Zustimmung für die Erweiterung
auch hier bei uns in der Bundesrepublik; das ist ganz klar.
({8})
Ich will auch nicht versäumen, meine ganz persönlichen Eindrücke zu schildern, die ich von Reisen in die
Beitrittsländer habe. Ich war kürzlich in Ungarn.
({9})
Da habe ich mit Vertretern sowohl der Opposition als auch
mit Vertretern der Regierung und der Regierungsfraktionen gesprochen.
({10})
Der innenpolitische Zustand in Ungarn ist meines Erachtens teilweise besorgniserregend. Einige Punkte, die
zum Wesensgehalt der Europäischen Union gehören Schutz von Minderheiten, Bereitschaft zur Kooperation
auch im Parlament zwischen politischer Mehrheit und politischer Minderheit -, müssen berücksichtigt werden.
Das läuft im Augenblick noch nicht so gut.
Die Erweiterung ist natürlich auch kein einseitiger Prozess, sondern eine Herausforderung, die sowohl in den
Beitrittskandidatenländern als auch bei uns gestaltet werden muss. Ich habe die Hoffnung, dass durch die Entscheidung der 14 EU-Mitgliedstaaten gegenüber Österreich ein ganz klares Signal ausgesendet worden ist. Das
Signal geht nicht nur in die Reihen der Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und ist nicht nur eine Versicherung
dessen, was der Wertekonsens in der Europäischen Union
ist. Das Signal geht auch an alle die Staaten, die so schnell
wie nur irgend möglich Mitglied der Europäischen Union
werden wollen.
Unser Wertekanon beruht auf Freiheits- und Grundrechten, auf dem Schutz von Minderheiten, auf Vielfalt,
auf Demokratie. Das muss überall verstanden werden,
nicht nur in der EU, sondern auch bei den Beitrittskandidaten.
({11})
Ich möchte zu dem Kollegen Haussmann, der Kritik an
dem Tempo der Erweiterung geübt hat, sagen: Diese Kritik teile ich nicht; denn die Kapitel sind eröffnet worden.
Wir haben jetzt einige schwierige Aufgaben vor uns.
Wenn ich daran denke, in welch schwieriger Lage sich Polen befindet - das ist leider so; die Regierung ist zurzeit
nur bedingt handlungsfähig -, dann, meine ich, sollten wir
eher dafür sorgen, dass wir hier ein gutes Beispiel liefern,
als dass wir ständig den Erweiterungsprozess und auch
die Arbeit der Europäischen Kommission in Misskredit
bringen.
({12})
Die heutige Debatte ist nicht so spannend geworden,
wie ich mir das gewünscht hätte.
({13})
- Ich fand den Merz nicht so spannend.
({14})
Zumindest ist deutlich geworden, dass Sie noch ein
bisschen diskutieren und ein bisschen Klarheit in den eigenen Reihen herbeiführen müssen, bevor Sie Ihren Oppositionsführer hierhin schicken; vielleicht kann er dann
einmal ein paar klare zukunftsweisende Worte an das gesamte Haus richten.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte wenigstens
dieses Signal geben. Der Deutsche Bundestag begleitet
diese Regierungskonferenz weiterhin konstruktiv. Von
uns wird das, was von Außenminister Fischer, egal in welcher Funktion,
({16})
in seinen Grundsatzreden zur Weiterentwicklung der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht wurde, positiv
begleitet. Der verfassungsgebende Prozess innerhalb
der Europäischen Union kann nur dann erfolgreich sein,
wenn wir auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger
mitnehmen, aber auf der anderen Seite auch zu einem
weitgehenden europapolitischen Konsens in unserem Parlament finden. Das ist die Voraussetzung für einen Erfolg.
Ich bitte Sie herzlich darum.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns alle einig: Die politische und wirtschaftliche Einigung Europas
ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts
überhaupt und ist untrennbar mit der Politik von CDU und
CSU verbunden.
({0})
Wir wissen auch, dass die Osterweiterung im ureigensten deutschen Interesse liegt. Wir wollen, dass sie gelingt. Wir wissen auch, dass wir wirtschaftlich kurz- und
längerfristig davon profitieren. Schon jetzt entspricht der
deutsche Außenhandel mit unseren Nachbarn in Osteuropa dem Außenhandel mit den USA. Wir wissen aber
auch, dass, wenn Europa gelingen soll, die Dinge sehr
gründlich vorbereitet sein müssen und ein langer Atem
nötig ist. Man muss auch, Herr Bundeskanzler, wissen,
wo man landet. Man kann nicht eine solche Reise wie
Michael Roth ({1})
Christoph Kolumbus machen, bei der man, wenn man
wegfährt, nicht weiß, wo man hinfährt,
({2})
und, wenn man ankommt, nicht weiß, wo man ist. Ich
weiß schon, Herr Schlauch, dass er Indien gesucht und
Amerika gefunden hat. Er hat es damals mit geborgtem
Geld finanziert. Die Europäische Union wird zu einem
guten Teil von deutschem Geld finanziert. Das muss man
auch einmal klar sagen.
Wo wir schon bei Parallelen sind: Ich möchte nicht,
dass die Ureinwohner so unfreundlich behandelt werden
wie bei Kolumbus. Was gegenwärtig mit Österreich geschieht, ist nicht ganz korrekt. Darauf kommen wir noch
zurück.
({3})
Jedenfalls sind die Beschlüsse des Europäischen Rates
von Helsinki von dieser Bundesregierung noch vor
kurzem als zukunftsweisend und historisch bezeichnet
worden. Vor der Erweiterung der EU um eine große Zahl
neuer Mitglieder ist aber erst ein Umbau zwingend erforderlich. Diese Einsicht scheint vorhanden, sie ist nur noch
nicht verwirklicht. Zuerst muss entschieden werden, welche Aufgaben eine erweiterte Europäische Union haben
soll und welche Aufgaben besser von den Nationalstaaten,
von den Bundesländern oder von den Städten und Gemeinden wahrgenommen werden können.
Deswegen sagen wir: Zuerst müssen die notwendigen
Reformen der europäischen Institutionen in Angriff
genommen werden und es muss für eine saubere Finanzierung gesorgt werden. Die Osterweiterung muss damit
auf ein solides finanzielles Fundament gestellt und es
muss eine gerechte Verteilung der Lasten innerhalb der
Europäischen Union vorgenommen werden.
({4})
Erst dann kann eine derart umfassende Erweiterung der
EU um neue Mitglieder ohne gravierende Risiken für den
europäischen Integrationsprozess angegangen werden.
Sie zäumen das Pferd ein Stück weit vom Schwanz auf.
Sie haben, ohne die geographischen und kulturellen Grenzen Europas zu definieren, einfach die Zahl der Beitrittskandidaten verdoppelt und dabei sogar die Türkei aufgenommen, ohne dies vorher mit der deutschen Bevölkerung oder, wenn man so will, mit dem deutschen Volk zu
diskutieren. Es wurde ja unlängst in diesem Hause über
den Unterschied zwischen Volk und Bevölkerung gestritten.
Mit dem Europäischen Rat in Feira beginnt die entscheidende Phase der Regierungskonferenz zur inneren
Reform der Union. Vom Erfolg der Konferenz hängt das
Gelingen der Osterweiterung ab. Wir wollen, dass die
Osterweiterung gelingt.
({5})
Wenn das Ratifizierungsverfahren zur nächsten Osterweiterung wie geplant im übernächsten Jahr begonnen
werden soll, dann muss sich die Konferenz mit allen Themen beschäftigen, nicht nur mit den so genannten „leftovers“. Allein an diesem Wort sehen wir, wie herzlos wir
mit der Europäischen Union umgehen.
({6})
Es ist dann kein Wunder, dass die Bürger nicht mitgehen
können. Sie wissen nämlich oftmals überhaupt nicht, was
damit gemeint ist.
({7})
Auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz gehört
vor allen Dingen eine klare Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Es muss ein Ende
damit haben, dass sich die Staats- und Regierungschefs
auf europäischer Ebene - wie Sie, Herr Bundeskanzler,
das in Lissabon getan haben - vor allen Dingen mit Zielvorgaben beschäftigen, die im Grunde die nationalen Parlamente angehen. Sozialpolitik, Bildungspolitik usw., das
gehört nicht nach Europa, das gehört ins nationale Parlament.
({8})
Es muss auch ein Ende damit haben, dass die Brüsseler Bürokratie wie ein Krake in nahezu alle Lebensbereiche eingreift.
({9})
Vorhin hat der Kollege Friedrich Merz als Beispiel die
FFH-Richtlinie zitiert, die in weiten Teilen eine Art enteignungsgleichen Eingriff in das Eigentum darstellt. Das
halten wir für ungeheuer gefährlich.
Jetzt wird es interessant: Wenn sich darüber jemand beschwert - die Leute beschweren sich zu Recht und wer
nahe an der Bevölkerung ist, bekommt das derzeit mit -,
dann geht es ihm wie dem berühmten Buchbinder
Wanninger bei Karl Valentin: Niemand ist dafür zuständig. Er wird weiterverbunden, er wird weitergeschickt.
Geht er zu seinem Landtagsabgeordneten, sagt dieser: Ich
kann nichts dafür, geh zu deinem Bundestagsabgeordneten! Der sagt: Was habe ich damit zu tun? Wir haben doch
den Unsinn nicht beschlossen. Geh zu dem Europakollegen! Der Europakollege muss dann offenbaren, dass er im
Grund ohnmächtig ist, weil das kein volles Parlament mit
allen Kompetenzen ist. Dann bleibt am Schluss ein gewaltiges Stück Unzufriedenheit und vor allen Dingen
Nichteinverständnis mit Europa übrig. Und das ist
schlecht für Europa.
({10})
Wir wollen, dass diese Demokratiedefizite beseitigt werden.
({11})
Dann ist noch etwas, Herr Bundeskanzler: Wenn sich
die Menschen über Sie und Ihre Politik ärgern - sie tun es
im Moment ganz stark -, weil Ihre Einladung, sich beim
Autofahrer zu bedienen, nicht nur von Herrn Eichel angenommen worden ist,
({12})
sondern auch von den Ölscheichs, von den Devisenmärkten und was weiß ich von wem - diese Einladung ist angekommen -, nehmen sie es trotzdem ein Stück weit hin,
weil sie sagen: Wir haben die Möglichkeit, diese Regierung das nächste Mal abzuwählen.
({13})
Das ist in der Demokratie so. Dann wissen die Bürgerinnen und Bürger: Die Ökosteuer wird wieder abgeschafft.
Ich bringe dieses Beispiel. Deswegen nehmen sie es zwischendurch hin.
({14})
Allerdings fragen jetzt die Bürgerinnen und Bürger:
Was und wen sollen wir eigentlich wählen, damit Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, die wir nicht
gewollt haben, die wir nicht verstehen und von denen alle
Politiker behaupten, sie hätten sie auch nicht gewollt, wieder abgeschafft werden?
({15})
Wenn die Bürger nicht das Gefühl haben, diese Dinge
durch Wahlen entscheiden zu können, dann fühlen sie sich
mit dieser Gemeinschaft nicht wohl.
({16})
Es ist nicht Aufgabe der Europäischen Union, in alle
Lebensbereiche hineinzuregieren. Zum Beispiel gehen
der Katastrophenschutz, die Hundesteuer oder die Fremdenverkehrspolitik die Brüsseler Bürokraten im Grunde
überhaupt nichts an
({17})
und deswegen brauchen wir eine klare Kompetenzabgrenzung.
({18})
Uns ist der europäische Gedanke viel zu wichtig, um
sein Ansehen aufs Spiel zu setzen.
({19})
- Der Zwischenruf war: Ihr habt das alles zugelassen!
({20})
Natürlich gibt es Defizite, die auch zu der Zeit, in der
CDU und CSU regiert haben, entstanden sind.
({21})
Aber wir haben in dieser Zeit - ich nenne ein Beispiel das große europäische Werk Euro auf den Weg gebracht.
({22})
Ich halte es nach wie vor für richtig, dass wir das getan haben. Das ist ein Integrationsschritt par excellence und das
ist im Grunde die richtige Anwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
({23})
Man kann natürlich nicht alles gleichzeitig machen.
({24})
Wenn wir während der Verwirklichungsphase gleichzeitig
diese europäischen Defizite in den Vordergrund gestellt
hätten, dann wäre es noch schwerer geworden, die Zustimmung der Bevölkerung für eine richtige Sache zu gewinnen.
Aber eines war auch ganz sicher: Für uns war klar, dass
nach diesem Integrationsschritt erst einmal die Defizite
abgebaut werden müssen, die entstanden sind, erst dann
kann man den nächsten Schritt machen, wenn man will,
dass Europa akzeptiert wird. Darum geht es uns letztendlich.
Wir wollen natürlich, dass unsere osteuropäischen
Nachbarn zu uns kommen. Wir wissen, dass es einen sehr
großen Unterschied gibt zwischen denen, die in der ersten Tranche aufgenommen werden - die wirtschaftlich
stärker sind, wie zum Beispiel unsere ungarischen
Freunde, die auch gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen unternommen haben, die auf einem sehr guten Weg
sind und die für uns Deutsche den Stacheldraht aufgerissen haben, damit die Deutschen von Deutschland nach
Deutschland kommen konnten -,
({25})
und denen, die erst später folgen sollen. Eine der großen
Gefahren, die ich sehe, ist, dass in der Diskussion alles
miteinander verknüpft wird: die Länder, die unmittelbar
vor dem Beitritt stehen, und die Erweiterung letztendlich
bis hin zur Türkei. Wenn die Dinge nicht klar auseinander
gehalten werden, dann entsteht Euro-Skepsis und EuropaSkepsis. Das wollen wir nicht.
({26})
Ich sage es noch einmal: Die Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum Beitritt der Länder Polen,
Tschechien, Ungarn, um ein paar Beispiele zu nennen, ist
ungeheuer groß. Ich habe zufällig ein paar Umfragezahlen dabei: Weit über 50 Prozent sind für den Beitritt Ungarns, aber wenn man nach dem Beitritt der Türkei fragt,
sind es nur 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die
dafür sind.
({27})
- Das steht an. Die haben ein festes Beitrittsversprechen
bekommen. Man hat einen Kotau vor der hohen Pforte gemacht, man hat ein Flugzeug geschickt und hat die Nachfolger des Sultans nach Helsinki eingeflogen.
({28})
Damit hat dieser Beitritt für die Leute eine ähnliche Qualität bekommen wie im Falle der unmittelbar vor der Tür
stehenden Beitritte.
({29})
Das müssen wir bei den Leuten wieder auseinander dividieren. Wir können letztendlich nur dann sinnvoll handeln, wenn wir die Zustimmung der deutschen Bevölkerung haben.
({30})
Darum müssen wir werben. Wenn wir wollen, dass die
Zustimmung für Europa steigt, dann müssen - damit
komme ich wieder auf die Defizite - die Demokratiedefizite beseitigt werden.
Wir wissen auch, dass eine funktionsfähige Marktwirtschaft eine der Voraussetzungen für den Beitritt ist. Wer
sich über wirtschaftliche Voraussetzungen durch zu
schnelles Vorangehen rasch hinwegsetzt, der gefährdet
die europäische Idee.
Zu Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege Gloser - ich muss
noch sagen, „Gloser“ ist nicht die Steigerung von „Glos“,
der heißt nur so -:
({31})
Ich weiß jetzt nicht, was Polenz gesagt hat, ich weiß aber,
was Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gesagt
haben: Dem Beitritt der Türkei und damit einer Ausdehnung der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis an die Grenzen Syriens, des Iraks und
Irans, bis in die Kaukasusregion hinein kommt, um es vorsichtig auszudrücken, überhaupt keine Priorität zu.
Der größte Fehler der deutschen Europapolitik in den
letzten Monaten war aber zweifelsohne der politische
Boykott Österreichs.
({32})
Das ist ein ganz gewaltiger Fehler, der hier gemacht worden ist. Gerade die kleineren Mitgliedstaaten werden doch
durch eine solche Entwicklung abgeschreckt; eine Diktatur der Großen über die Kleinen schafft großes Misstrauen.
({33})
Das ist die politische Situation, vor der sich Finnland
durch die Verhinderung seines EU-Beitritts bewahren
wollte: dass ein großer Nachbar über seine Politik richtet
und entscheidet.
Warum sollen denn die kleinen Mitgliedstaaten in der
Frage der Mehrheitsentscheidungen nachgeben, wenn sie
wissen, dass ein Veto im Rahmen eines Einstimmigkeitsprinzips ihr allerletztes Machtmittel überhaupt ist?
Es ist schlimm genug, dass die europäischen Regierungschefs Österreich boykottiert haben - auch mit Ihrer
Hilfe, Herr Bundeskanzler; es soll Ihr außenpolitischer
Chefberater gewesen sein, der damals bei diesem Boykott
und den Drohungen gegenüber Österreich federführend
war.
({34})
Sie haben sich damit wie ein Elefant im europäischen Porzellanladen benommen.
({35})
Der EU-Boykott gegenüber Österreich zeigt die ganze
Unsensibilität, Konzeptionslosigkeit und letztendlich
auch die Sprunghaftigkeit der deutschen Europapolitik.
({36})
Gerade weil Österreich ein Nachbarland ist, fordere ich
Sie auf: Bringen Sie das in Feira wieder in Ordnung. Der
Schlüssel liegt ein ganzes Stück weit bei den Deutschen.
({37})
Um den Erfolg des europäischen Projektes dauerhaft
zu sichern, muss Europa im Herzen der Bürger akzeptiert
werden. Dazu gehört auch, dass wir über all diese Dinge
klar diskutieren. Der Schlüssel für ein erfolgreiches Europa ist und bleibt der Föderalismus auf der Grundlage
eines Staatenverbundes. Er lässt den Nationen und Regionen die nötige Luft zum Atmen. Er bildet die Brücke zwischen nationaler Identität und europäischer Verantwortung. Europa braucht den Mut, über die streitigen Fragen
offen zu streiten, mit der Bevölkerung zu diskutieren und
dabei auch Demokratie walten zu lassen.
Ich möchte Willy Brandt zitieren, der einmal gesagt
hat: „Demokratie wagen!“
({38})
Wagen wir doch in Europa mehr Demokratie. Das
heißt, beziehen wir auch den Deutschen Bundestag stärker in die Entscheidungen ein. Denn Europapolitik ist
heute durch die Vergemeinschaftung ein ganzes Stück
weit Innenpolitik. Informieren Sie nicht den Bundestag
im Nachhinein über Richtlinien. Davor brauchen Sie,
Herr Bundeskanzler, eigentlich keine Angst zu haben. Die
Kameradinnen und Kameraden von den Grünen bleiben
schon bei der Stange.
({39})
- Die Grünen verlassen die Regierung auf keinen Fall.
Herr Bundeskanzler, es gibt keine Situation, die dazu
führen würde, dass zum Beispiel Rezzo Schlauch seinen
Sessel frei macht. Davor brauchen Sie keine Angst zu haben.
({40})
Das können nur die Wähler lösen.
({41})
Sie scheuen offensichtlich die innenpolitische Diskussion, die natürlich entstehen würde, wenn sich der
Deutsche Bundestag vor der Verabschiedung von
Richtlinien mit diesen beschäftigen würde. Deswegen
meine Bitte an die anderen Fraktionen: Beziehen wir
das deutsche Parlament stärker ein!
Herzlichen Dank.
({42})
Das Wort erhält
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
- Herr Glos, die Opernballfrage diskutieren wir einmal an
anderer Stelle.
({1})
- Wir können natürlich auch die Opernballfrage hier diskutieren, wenn Sie so großen Wert darauf legen. Ich
dachte aber, wir wollen hier über die europäische Zukunft
diskutieren.
({2})
Der deutsch-französische Gipfel liegt direkt vor uns.
Das wurde ja hier von Ihrem Fraktionsvorsitzenden in einer beeindruckenden Rede dargestellt.
({3})
- Ich bin überhaupt nicht humorlos. Im Gegenteil: Sie haben mir gestern vorgeworfen,
({4})
dass ich, als ich in Warschau einer lang feststehenden
internationalen Verpflichtung auf Einladung des polnischen Kollegen nachgekommen bin, lieber um den Wannsee laufen würde, anstatt mich an der Bundeswehrdebatte
zu beteiligen. Ich will Ihnen nur sagen: Heute wären besser Sie um den Wannsee gelaufen, anstatt eine solche
Rede zu halten. Das hätte Ihnen besser getan.
({5})
Meine Damen und Herren, die Zukunft Europas ist ein
verdammt ernstes Thema. Ich stimme all denen zu, die
meinen, dass es das zentrale Thema bzw. die zentrale Zukunftsherausforderung ist, über die zu Recht gestritten
werden muss. Ich halte nichts davon, diese Frage nur vor
dem Hintergrund eines feierlichen Konsenses zu betrachten. Die - vor allen Dingen im Volk, in der Bevölkerung bestehenden Kontroversen müssen auch im Parlament
auf den Tisch.
Ich möchte umgekehrt dafür plädieren, zu begreifen,
dass wir alle, und zwar jeweils in unterschiedlicher Rolle,
zum Beispiel als frühere Mehrheit bzw. als heutige Mehrheit und als frühere Opposition bzw. als heutige Opposition, sehr sorgfältig betrachtet werden. Es ist nicht einfach
nur so wie in der innerstaatlichen Demokratie, dass es politische Meinungen, einzelne Positionen, politische Mehrheiten und Minderheiten gibt, sondern unsere Nachbarn
beobachten auch die Äußerungen der Opposition zu Europa sehr sorgfältig im Sinne einer Stellungnahme
Deutschlands. Insofern plädiere ich bei aller notwendigen Kontroverse für die gebotene Gesamtverantwortung,
wenn Oppositionspolitiker hier Positionen beziehen.
({6})
Man mag recht unterschiedlicher Meinung sein. Über
die Türkeipolitik werden wir noch viel zu streiten haben.
Aber die Polemik, Herr Glos, die Sie heute hier geboten
haben,
({7})
zielte im Grunde genommen nur auf das Mobilisieren von
Ressentiments und auf das Bedienen Ihrer oberfränkischen Stammtische.
({8})
- Meinetwegen auch unterfränkische.
({9})
Wie auch immer, Herr Glos. An diesem Punkt möchte ich
an Sie appellieren: Mit Ihrer Rede, in der Sie den Bundeskanzler als Elefant im Porzellanladen tituliert und versucht haben, Emotionen zu mobilisieren, haben Sie sich
wirklich wie eine Herde Trampeltiere verhalten.
({10})
Denn das wird auf eine völlig andere Art und Weise wahrgenommen werden - das gilt auch für manches von dem,
was Ihr Kollege Fraktionsvorsitzender gesagt hat -, als
Sie es beabsichtigen. Sie wissen es ja auch besser.
Wir stehen vor der französischen Ratspräsidentschaft. Wir sind in intensiver Zusammenarbeit; Herr Kollege Haussmann, Sie haben es angesprochen. Die Ergebnisse, die jetzt auch für den deutsch-französischen Gipfel
erarbeitet werden, zielen darauf, dass wir gemeinsam mit
Frankreich alles dafür tun wollen, um die französische
Ratspräsidentschaft, um vor allen Dingen die Regierungskonferenz zu einem Erfolg zu machen.
({11})
Den Aussagen, dass die so genannten `leftovers`, die
Überbleibsel der Regierungskonferenz in Amsterdam,
nachrangig seien, kann ich nur mit allem Nachdruck widersprechen. Eines dieser Überbleibsel ist die Größe und
Zusammensetzung der Kommission. Es ist leicht gesagt: Es sollen nicht alle Länder einen Kommissar haben.
Aber dann kommt sofort das Abgrenzungskriterium ins
Spiel: Wer soll denn einen Kommissar haben? Warum die,
warum nicht jene? Diese Fragen sind nicht einfach so zu
entscheiden. Sie gehörten zur Substanz der Regierungskonferenz in Amsterdam, auf die man sich nicht einigen
konnte.
Ein weiteres Überbleibsel ist die Frage der Stimmengewichtung: Wie viele Stimmen soll jedes Land haben?
({12})
Das heißt: Wie weit ist die demokratische Repräsentanz
über die heutige Konstruktion gerechtfertigt? Das ist eine
zentrale Frage.
Das dritte Überbleibsel ist die Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit. Herr Kollege Haussmann, ich kann
Ihnen nur sagen: Wenn Sie die unterschiedlichen Positionen allein von Deutschland und Frankreich in diesem
Punkt vergleichen, stellen Sie fest: Sosehr ich Ihnen zustimme, dass wir diese Ausdehnung der qualifizierten
Mehrheit brauchen - genau daran wird gearbeitet -, so
schwierig wird es sein, hier einen Konsens herzustellen.
Das ist schon bei zwei Ländern schwierig. Wie ist das erst
bei 15 Ländern?
Dennoch ist völlig klar, meine Damen und Herren: Die
Voraussetzung dafür, dass die Regierungskonferenz ein
Erfolg wird, ist, dass der historische Schritt zur Osterweiterung getan wird. Dieser Schritt kommt aus meiner
Sicht - zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zu spät. Meine Damen und Herren, wann wurden die konkreten Verhandlungen begonnen? Die konkreten Verhandlungen wurden unter der österreichischen Präsidentschaft im Herbst 1998 begonnen. Da haben andere schon
längst versprochen, zum 1. Januar 2000 sei Polen Mitglied.
({13})
Das war 1998. Da waren wir gerade in der Regierung. Wir
haben einen sehr ehrgeizigen Fahrplan gehabt. Den haben
wir auch abgearbeitet: unter der deutschen Präsidentschaft und jetzt unter der portugiesischen Präsidentschaft.
Wir sind verpflichtet, aus unserem Interesse heraus,
aber auch im europäischen Interesse, alles zu tun, um die
Osterweiterung zu einem Erfolg zu machen.
({14})
- Natürlich reicht das nicht. Ich komme auf die anderen
Punkte gleich zu sprechen. Aber jetzt will ich Ihnen einmal etwas zu Ihrer Position sagen. Wenn Sie die übliche
Michael Glos’sche Rethorik weglassen: Sie haben ein
Lippenbekenntnis zur Osterweiterung abgelegt, um anschließend Bedingungen zu formulieren, die die Osterweiterung faktisch auf die lange Bank schieben.
({15})
Das kann ich Ihnen an jedem einzelnen Punkt verdeutlichen.
({16})
Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nicht zu raten.
({17})
Aber ich möchte Sie auf einen Punkt hinweisen.
({18})
- Ich glaube an die Wiedergeburt der Dialektik, wenn ausgerechnet ein Musterschüler mich Oberlehrer nennt. Man
glaubt es wirklich nicht.
({19})
Sie haben einen bedeutenden Vorgänger: Rainer Barzel.
Ich erinnere mich nur zu gut an die Ostverträge, an die
dort enthaltene Barzel’sche Formel, die auch die Ihre sein
wird, wenn Sie so weitermachen, wenn Sie Ihre Drohung
ernst meinen und die Bedingungen, die Sie in Ihrer gemeinsamen Presseerklärung genannt haben, wirklich stellen. Sie wissen genau, dass das sofort den schärfsten
deutsch-französischen Konflikt hervorrufen würde. Die
Franzosen würden uns dann zu Recht aufs Schärfste
geißeln. Das wäre ein Debakel in den deutsch-französischen Beziehungen. Die Regierungskonferenz, die Sie,
Herr Kollege Fraktionsvorsitzender, fordern, würde angesichts der Interessenlage in der Europäischen Union ad
calendas graecas dauern. Das hieße in der Konsequenz:
Wir könnten die Osterweiterung auf absehbare Zeit vergessen.
({20})
Wenn Sie daran die Zustimmung der Fraktion der
CDU/CSU knüpfen, dann prophezeie ich Ihnen heute
schon das Schicksal von Rainer Barzel bei den Ostverträgen.
({21})
Entweder werden Sie einknicken - wovon ich ausgehe oder Sie werden Ihren Laden in dieser Frage zerlegen,
weil es viel zu viele überzeugte und gute Europäer in der
CDU/CSU-Fraktion gibt.
({22})
Mit „So nicht!“ und „Jetzt nicht!“ - das kann ich Ihnen
jetzt schon prophezeien - werden Sie da nicht durchkommen.
Deswegen ist für mich die Konzentration nicht nur auf
die drei wesentlichen Punkte, die in Amsterdam offen geblieben sind, sondern auch auf die verstärkte Zusammenarbeit entscheidend. Da liegt die Differenz, Herr
Kollege Schäuble. Die Differenz liegt nicht in der Sache.
Zum Kollegen Glos sage ich: Ich habe während Ihrer Regierungszeit nie eine europapolitische Fundamentalopposition gemacht.
({23})
- Doch, ihr macht es.
Ich wollte einen anderen Punkt ansprechen: das Problem der Kompetenzabgrenzung. Es führt natürlich in den
Kern eines europäischen Verfassungsvertrags. Das wissen Sie ganz genau.
({24})
- In Bezug auf diesen Kern eines europäischen Verfassungsvertrages haben wir in der Sache keine Differenz,
wohl aber im Hinblick auf das Verfahren und auf den
Weg, wie man dort hinkommen kann.
Sie legen das nach der Devise an: Jetzt eine Regierungskonferenz, die die Erweiterungsfähigkeit für die ersten Beitritte schaffen soll - nicht mehr und nicht weniger.
Das wird schwer genug sein; es ist aber aufgrund der historischen Herausforderung und der Verzögerung bei der
Erweiterungsfähigkeit unabdingbar, dass wir dies jetzt
tun. Dass Sie das mit der Kernfrage einer zukünftigen europäischen Verfasstheit, die ein ganz anderes Integrationsniveau voraussetzt, belasten wollen, Kollege
Schäuble, halte ich schlicht und einfach für einen politisch
riesigen Fehler, wenn man es damit ernst meint.
Ich bin der Meinung, dass der entscheidende Schritt
über die verstärkte Zusammenarbeit, über die Regierungskonferenz in Nizza hinausführen muss. Sie werden
eine Kompetenzabgrenzung, die das auflöst - das heißt
eine Kompetenzabgrenzung, die eine schlanke, transparente, für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare
Europäische Union schafft -, nicht im Rahmen der heutigen Verfasstheit der europäischen Institutionen durchsetzen können, weil Sie dabei einen solchen Sprung von den
Partnern erwarten, der die Frage der Finalität auf die Tagesordnung setzt. Das wissen Sie. - Na, gut. Dann sind
wir hier nicht in der Sache unterschiedlicher Meinung,
sondern in der Perspektive, im Weg, wie wir das erreichen
können.
({25})
Ich bin in der Tat der festen Überzeugung, dass die
Souveränitätsteilung zwischen Nationalstaat und der europäischen Ebene die zukünftige zentrale Verfassungsfrage darstellt. Daran hängt die Kompetenzabgrenzung.
Herr Kollege
Schäuble, bitte.
Herr Außenminister, meine Meinung ist, dass wir in Europa eine Entscheidung über effizientere Verfahren zur Entscheidung das ist in den `leftovers` angelegt - nicht erreichen werden, solange diese Debatte mit dem Misstrauen behaftet
ist, worüber nach diesem Modus in Zukunft entschieden
werden soll. Deswegen bin ich in der Tat der Überzeugung, dass wir erst klären müssen, wofür Europa in Zukunft zuständig sein soll, bevor wir eine Einigung über
wirklich effizientere Entscheidungsverfahren zustande
bekommen. Deswegen plädiere ich dafür, jetzt diese Debatte zu führen. Im Übrigen werden Sie jedenfalls in dem,
was ich gesagt und geschrieben habe, kein Wort darüber
finden, dass das etwa eine Vorbedingung für die Erweiterung sein soll.
Ich stimme Ihnen in dem letzten Punkt zu. Ich teile allerdings angesichts der Diskussionslage - um nicht zu sagen:
der Gefechtslage - bei den Mitgliedstaaten Ihre Konsequenz, Ihren Bedingungszusammenhang nicht. Damit
wir uns hier nicht missverstehen: Ich wollte, Sie hätten
Recht, weil ich von der Sache her überhaupt keinen Dissens zu dem, was Sie beschreiben, sehe. Wenn ich mir
aber anschaue, was die CDU/CSU in ihrer Presseerklärung schreibt - Herr Merz hat es ja in der Substanz,
wenn auch nicht expressis verbis in den einzelnen Artikeln, dargestellt, Kollege Glos auch -, wenn ich mir anschaue, was da tatsächlich zur Bedingung erhoben wird,
Kollege Schäuble, dann komme ich zu dem Schluss, dass
das - bei aller auch teilweise nachvollziehbar richtigen
Kritik in wesentlichen Punkten - zu einem im Grunde genommen desintegrativen Prozess führt. Das muss man
sehen. Gerade der Binnenmarkt wird damit einer Verlangsamung unterworfen; die Flexibilisierung der Anpassung des Binnenmarktes an dynamische Wirtschaftsprozesse wird damit in Frage gestellt. Dafür bekommen Sie
schlicht und einfach keine Mehrheit; Deutschland wäre da
völlig isoliert.
({0})
Herr Kollege Merz, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir
an den Rand der europäischen Debatte gedrängt würden,
dann müssen Sie hier mittlerweile einen Knick in der poBundesminister Joseph Fischer
litischen Optik haben. Wie kommen Sie denn zu einer solchen Wahrnehmung? Schauen Sie sich doch nur an, was
wir zur Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors geleistet haben, gegenwärtig leisten und morgen leisten werden. Dass es bei der europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik nur auf eine britisch-französische
Zusammenarbeit hinausliefe, kann ich ebenfalls beim besten Willen nicht nachvollziehen.
({1})
- Auch ich lese, was der französische Verteidigungsminister sagt. Aber jetzt geht es um die Entscheidungen morgen. Der eine oder andere von Ihnen mag ja hinter dem
Berg zu Hause sein, aber die Mehrheit von Ihnen nicht.
Sie wissen ganz genau, dass wir vor wichtigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem europäischen Transportflugzeug stehen. Es gibt allerdings ein paar Interessen
der Bundesrepublik Deutschland, von denen ich bisher
dachte, dass auch über sie Konsens bestehe, zum Beispiel
das Interesse, dass wir bei diesen Dingen die Einbindung
anderer mit im Auge haben.
Hier kann ich nur hinzufügen, dass für die Umsetzung
der „headline goals“ eine Bundeswehrreform notwendig
gewesen wäre. Wir reden jetzt doch dauernd über die Bundeswehrreform; aber im Grunde genommen hätte die
große Reform bereits 1995/1996 durchgeführt werden
müssen, als andere dies ebenfalls taten. Das wissen Sie
doch so gut wie ich.
({2})
Die Umsetzung der „headline goals“ ist im Wesentlichen von drei Mitgliedstaaten erarbeitet worden. Wir unterstützen mit allem Nachdruck, dass Großbritannien
seine Position noch in der Ausgangsphase Ihrer Regierungszeit verändert hat; das hat sich als überaus segensreich erwiesen.
Was das Verhältnis EU-NATO im Hinblick auf die
Fortentwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angeht, so hat Deutschland ganz wesentlichen Anteil daran, dass dieses Verhältnis jetzt nicht
mehr konfrontativ ist, sondern in Arbeitsgruppen definiert
und danach entsprechend umgesetzt wird. Dasselbe gilt
für die Einbindung der NATO-Mitglieder, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Auch hier haben wir
dank unserer Initiative wesentliche Fortschritte gemacht.
({3})
- Doch, das ist aus meiner Sicht ein wirklich großer Fortschritt, weil ich der festen Überzeugung bin, dass auch die
Verbindung des militärischen mit dem zivilen Konfliktund Krisenmanagement eine wichtige europäische Entwicklung darstellen wird.
({4})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will
den Erfolg der französischen Präsidentschaft, weil wir die
Osterweiterung der Europäischen Union wollen, und
zwar nicht mit fünffachem Aber, sondern ohne Wenn und
Aber, getragen von Realismus, solide erarbeitet, aber
nicht mit Verzögerung verbunden; es sollen nicht mit hervorgeholten Argumenten Vertagungen erreicht werden.
({5})
Wir wollen den Erfolg der Regierungskonferenz. Aber
wir wissen auch, dass danach die nächsten Schritte unverzichtbar sind. Die nächsten Schritte werden nicht mehr
unter Ausblendung der Finalitätsdiskussion leistbar sein.
({6})
Das wird sowohl für die Kompetenzabgrenzung als auch
für die Souveränitätsteilung sowie für die Frage des Verhältnisses von Nationalstaat zu Europäischer Union gelten.
Herr Kollege Glos, ich habe Ihnen sehr sorgfältig zugehört. Sie haben die Worte „Föderalismus im Staatenverbund“ einfach so dahingesagt. Demgegenüber bin ich
schon der Meinung, dass das im Entstehen begriffene Europa ein Gebilde sui generis wird: nicht der deutsche Bundesstaat übertragen auf die europäische Ebene, aber mehr
als ein Staatenverbund. Ansonsten wird dieses Europa
nicht funktionieren.
({7})
Wir gehen morgen in den französisch-deutschen Gipfel. Er wird eine wichtige Vorbereitung für Feira sein. In
Feira wird eine erfolgreiche portugiesische Präsidentschaft abgeschlossen und die französische Präsidentschaft vorbereitet werden, die formell am 1. Juli beginnen
wird. Wir werden alles dazu beitragen, um unsere französischen Freundinnen und Freunde in engster Abstimmung
zu unterstützen, sodass wir in Nizza einen Erfolg haben
werden.
Ich stimme allen zu, die zu Recht die großartige Europatradition der CDU/CSU von Adenauer bis Kohl beschwören. Aber heute habe ich das Gefühl: Wenn Sie so
weiter machen, dann verabschieden Sie sich davon. Da
sich ein gut Teil Ihrer Fraktion davon nicht verabschieden
wird, gehen Sie schweren Zeiten entgegen.
({8})
Daran haben wir kein Interesse. Bisher galt hier im Haus
bei allen Differenzen in Einzelheiten ein europapolitischer Grundkonsens und das war ein Wert an sich. Ich
hoffe, Sie kehren dahin zurück.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bundesminister
Fischer hat natürlich Recht: Die leicht verniedlichende
Bezeichnung `leftovers` oder „Überbleibsel von Amsterdam“ trifft den Kern der Sache wirklich nicht. Bei den
Themen, die bei der letzten Regierungskonferenz nicht erledigt werden konnten, handelt es sich zum einen um zentrale Machtfragen der Europäischen Union und zum anderen um die Fragen der Effizienz und der Arbeitsfähigkeit der immer größer werdenden Union. Darüber hinaus
handelt es sich um die Voraussetzungen für die Osterweiterung.
Diese gravierenden Fragen, die damals nicht beantwortet werden konnten, müssen jetzt vom Tisch, weil die
Osterweiterung sonst weiter ins Schleudern kommt. Dabei haben wir in der Tat ein großes Problem, weil einen
die Ahnung beschleicht, dass nicht jeder, der mit der
Osterweiterung oder der Neuverteilung von Strukturfonds
und ähnlichen schönen Dingen nicht allzu viel im Sinn
hat, das größte Engagement aufbringen wird, um die Voraussetzungen für die Osterweiterung zu schaffen.
({0})
Es gibt natürlich aber auch andere Bremser. Es gibt
sie - hier wird die Bundesregierung intern noch einiges zu
tun haben - in den Ressorts der Bundesregierung. Da hat
sich ja in den letzten Jahren nicht plötzlich alles völlig
verändert.
({1})
Auch da sind die Betonmischer - Herr Kollege Zöpel bestätigt es zu Recht - allenthalben am Werke.
({2})
Herr Kollege
Zöpel, Sie dürfen nicht von der Regierungsbank dazwischenrufen.
- Das hat der Kollege
Zöpel nur als Abgeordneter gemacht. Wenn dann ein
Machtwort gesprochen wird und man sich zu einer Position knackiger Art durchringt, ist mancher beteiligt, der
die Entscheidung zu dieser knackigen Formulierung in
der Bundesregierung deshalb so leicht an sich vorüberziehen lässt, weil er davon ausgeht, dass andere sie hinterher wieder verhindern werden. Der Geist der Betonmischerei ist da.
Ich glaube, wir würden einen großen Fehler machen,
wenn wir auch nur den Verdacht erweckten, wir würden
Beton anmischen durch eine Verbindung der Verfassungsdiskussion - deren Notwendigkeit ich voll unterstreiche - mit dem Erfordernis, dass die Regierungskonferenz bei den entscheidenden institutionellen Fragen tatsächlich zum Erfolg gelangt. Ich halte das für einen sehr
gefährlichen Weg.
({0})
Ich möchte einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt
meiner Ausführungen stellen. Bei fast allen institutionellen Fragen, die wir zu behandeln haben, ist das Verhältnis
der kleinen zu den großen Ländern der entscheidende
Punkt. Bei allen drei großen institutionellen Fragen sehen
sich die kleinen Länder bedroht. Das ist ein heikles Ding,
weil die europäische Integration für die kleinen Länder
ohnehin nicht unproblematisch ist. Bei ihnen ist die Sorge
vor dem Identitätsverlust am größten.
Andererseits macht die Möglichkeit, die Stimme eines
kleinen Landes gleichberechtigt am Tisch aller europäischen Länder zur Geltung zu bringen, den Reiz der Europäischen Union für die kleinen Länder aus. Deshalb ist
es eine gute deutsche europapolitische Tradition, sich in
ganz besonderer Weise um die kleineren Mitgliedstaaten
zu kümmern.
({1})
Das war von Scheel bis Kinkel, das war von Adenauer bis
Helmut Kohl der Fall.
({2})
Deshalb halte ich es für einen großen Fehler, dass von
dieser guten Tradition deutscher Europapolitik Abschied
genommen wurde und mehr auf eine gewissermaßen
Kontaktgruppendiplomatie gesetzt wird, die ohnehin
schon im Zusammenhang mit Jugoslawien genügend
Soupçon bei den kleineren Mitgliedstaaten verursacht hat.
Ich halte es für einen Fehler, in dieser Richtung weiterzugehen. Das bringt uns auch in die Gefahr, dass der Eindruck eines Großmachtgehabes entsteht, der den Deutschen im europäischen Kontext und überhaupt nicht besonders gut ansteht.
Genau unter dem Gesichtspunkt, dass man mit den
Kleinen fair umgehen und den Dialog mit ihnen vertrauensvoll führen muss, ist das Thema Österreich so überaus
problematisch. Deswegen hat die Haltung der 14 gegenüber Österreich so enormen Flurschaden angerichtet.
({3})
Denn die Kleinen und diejenigen, die der Union erst beitreten wollen, werden sich natürlich fragen und tun das
mittlerweile ziemlich laut, inwiefern ihre demokratisch
legitimierten nationalen Entscheidungen eigentlich von
den Großen in der Gemeinschaft respektiert werden,
wenn es einmal wirklich kritisch wird.
({4})
In Lettland wird die Debatte mittlerweile politisch zugespitzt unter der Frage geführt: Aus der SU in die EU?
Dies ist eine ganz gefährliche Verkennung des Charakters
der Europäischen Union. Deswegen sollten wir solche
Fehlentscheidungen vermeiden.
Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die
F.D.P. keinen Nachholbedarf, was den Herrn Haider angeht. Unser früherer Bundesvorsitzender, Otto Graf
Lambsdorff, hat als Präsident der Liberalen Internationale höchstpersönlich dafür gesorgt, dass Haiders Partei
Anfang der 90er-Jahre unsere internationale Vereinigung
verlassen musste. Wir kennen den Herrn schon etwas länger und wissen auch, dass man ihn nicht unterschätzen
darf.
Etwas anderes ist aber, wie man mit einem solchen Fall
konkret umgeht. Steht es uns wirklich an, den Österreicherinnen und Österreichern zu empfehlen, eine Parteienkonstellation zu verewigen, die über Jahrzehnte hinweg
zu Korporatismus, Parteienselbstbedienung, Filz und Unbeweglichkeit geführt hat? Das alles hat doch der FPÖ übrigens gerade in der Arbeiterschaft - ihre starke Stellung erst verschafft.
Wer sich um die demokratische Stabilität oder die Werteorientierung unseres österreichischen Nachbarn Sorgen
macht, der sollte den Dialog mit Österreich nicht reduzieren, sondern intensivieren, der sollte nicht die Begegnung
von Schülerinnen und Schülern aus Belgien und Österreich unterbinden, sondern fördern, der sollte nicht bei
dem, was in Österreich konkret stattfindet, wegschauen,
sondern ganz genau hinsehen. Dann allerdings wird man
feststellen, dass sich die österreichische Regierung bisher
keine einzige Entscheidung geleistet hat, die in irgendeiner Weise zu rügen wäre.
({5})
Sie hat zu keinem Zeitpunkt Anlass zu Zweifeln an ihrer
Europatreue gegeben. Deswegen sind die Sanktionen
unverhältnismäßig und verstoßen gegen Geist und Buchstaben des Amsterdamer Vertrages.
({6})
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nehmen
für sich in Anspruch, mit den Sanktionen die gemeinsamen Werte der EU zu wahren und zu stärken. Aber diese
Werte müssen sie dann auch gegen sich selber gelten lassen.
({7})
Dazu gehört etwa, Vorverurteilungen zu unterlassen, demokratisch zustande gekommene Entscheidungen zu respektieren und sich an Geist und Buchstaben internationaler Verträge zu halten. Die Sanktionen sind insofern ein
Widerspruch in sich. Und seien wir ehrlich, es sind wohl
auch in erster Linie innenpolitische Erwägungen einer
Reihe von Ländern gewesen, die uns in diese Situation
hineingetrieben haben.
({8})
Die Bundesregierung ist sehenden Auges in eine Straße
hineingefahren, an deren Beginn gleichzeitig Einbahnstraße und Sackgasse ausgeschildert war. Eine Exit-Strategie gibt es nicht. Wo sind denn die Kriterien, an denen
man eine Beendigung der Sanktionen glaubwürdig festmachen könnte? Es wird also höchste Zeit, dass diese
Sanktionen aufgehoben werden.
({9})
Die 14 haben einen Riesenfehler gemacht und sollten
nunmehr die Souveränität aufbringen, diesen Fehler wieder rückgängig zu machen, und zwar noch während der
portugiesischen Präsidentschaft; denn von der französischen Präsidentschaft haben wir in diesem Punkt wohl
nicht viel zu erwarten.
({10})
Die Kommission hat mit ihrem Vorschlag eines intensiven Monitorings Österreich einen vertragskonformen
Weg gewiesen. Bundeskanzler Schüssel ist mit seinem
Vorschlag, solche Beobachtungsfunktionen auszuweiten,
noch weiter gegangen. Das ist der ehrenwerte Versuch,
den 14 einen Ausweg aus der von ihnen selbst gewählten
Sackgasse zu weisen. Aber ich frage mich, ob es angemessen ist, dass sich ein europäischer Regierungschef, an
dessen demokratischer und moralischer Qualifikation
nicht der geringste Zweifel besteht, in eine solche Situation hineinmanövrieren muss, die einem fast erniedrigend
vorkommt. Wenn er es doch tut, zeigt das, wie wichtig unseren österreichischen Freunden offensichtlich die europäische Orientierung Österreichs ist. Deswegen sollten
die Regierungen der 14 endlich die Brücken betreten, die
ihnen hier so verantwortungsbewusst gebaut werden.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das Thema fortführen, das der Kollege Hoyer angesprochen hat, nämlich
den Umgang und die Auseinandersetzung mit Österreich.
Ich komme allerdings - das verwundert auch nicht - in
vielen Punkten zu einer anderen Schlussfolgerung.
Herr Glos hat in seiner Rede den politischen Boykott
Österreichs als größten Fehler der jetzigen Regierungskoalition bezeichnet. Aus meiner Sicht hat die Regierungskoalition - wenn es überhaupt ein Fehler war - größere
und andere Fehler gemacht. Ich fand auch die Art und
Weise, wie Herr Glos hier mit anderen Staaten umgesprungen ist, außerordentlich unangebracht. Im Zusammenhang mit der Türkei den Begriff Sultan zu benutzen,
das schürt schon Stimmung und soll Stimmung schüren.
({0})
Ich will versuchen, Ihnen meine Vorstellungen und
meine Sicht der Probleme nahe zu bringen.
Erstens. Aus meiner Sicht war es richtig, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union auf die Regierungsbeteiligung der österreichischen Rechtspopulisten mit einem demonstrativen Akt politisch reagiert haben. Ich
meine, dass man unterstreichen muss: Es war notwendig,
ein Zeichen zu setzen. Daran kann doch kein Weg vorbeigehen. Ein Verzicht auf eine deutliche Reaktion hätte
Rechtspopulisten und Neofaschisten in Europa weiter salonfähig gemacht. Es wäre als Ermunterung für die politische Rechte in anderen europäischen Ländern verstanden worden und es hätte auch, wie ich meine, die
gemeinsame Arbeit an einer europäischen Grundrechtecharta zur Farce gemacht.
Aber - das muss man hinzusetzen - ein demonstrativer
Akt ersetzt doch keine Politik. Ich meine, dass dieser demonstrative Akt zu kurz gedacht war, weil nirgendwo die
Frage beantwortet ist, was nach dem Boykott kommen
soll. Deswegen richte ich meine Kritik nicht darauf, dass
reagiert wurde, sondern darauf, wie reagiert wurde.
Die Art des Boykotts - auch das muss man heute nüchtern feststellen - hat Haider in Österreich nicht geschadet.
Im Gegenteil, er konnte das in Österreich in innenpolitisches Kapital ummünzen. Ich meine, dass der Grund
dafür in dem Umstand zu suchen ist, dass der Boykott auf
Regierungsebene nicht mit einer Würdigung und Unterstützung der Anti-Haider-Bewegung in Österreich selbst
verbunden war. Die Zivilgesellschaft, das andere Österreich, hätte unsere Solidarität und Zusammenarbeit verdient. Das ist ausgeblieben. Die Unfähigkeit der europäischen Politik, sich mit der Zivilgesellschaft, mit der Opposition zu verbinden, höhlt den Boykott der Regierung
aus, macht ihn brüchig, bis er jetzt oder bald zusammenfallen oder stillschweigend erledigt sein wird. Das
bedaure ich sehr; es ist aber so.
Zweitens. Ich sehe sehr kritisch, dass das Anwachsen
von Rechtsextremismus und Neofaschismus in Europa
quasi zum alleinigen Problemfall Österreich gemacht
wurde. Dabei verweist die Haltung der Europäischen
Union zur österreichischen Regierung auf eine lebenswichtige Gegenwarts- und Zukunftsfrage der Europäischen Union selbst.
Haiders haben wir in Europa kaum in Regierungen,
aber die Haiders sind überall noch unter uns in unserem
Lande. Auch das muss man feststellen, glaube ich.
({1})
Berlusconi und Fini greifen in Italien nach der Regierungsmacht; in Frankreich gibt es Le Pen und rechtsextremistische Bürgermeister; es gibt rechte Bewegungen in
Dänemark, Schweden, Norwegen und Spanien, und ich
finde, wir müssen vor allen Dingen vor der eigenen Tür
kehren. Mir wird übel, wenn ich mich an die Bilder des
Naziparolen skandierenden Mobs erinnere, der aus Solidarität mit Haider durch das Brandenburger Tor zog, und
das zehn Jahre nach der Vereinigung. Das ist doch ein Albtraum, und das müssen wir hier deutlich aussprechen.
Kein Tag vergeht ohne Gewalt gegen Ausländer, ohne
Rassismus und Antisemitismus.
Da sollten wir uns doch einmal die Frage stellen, was
in Deutschland wäre, wenn wir es hier mit einem Haider
zu tun hätten. Die parteipolitische Landschaft wäre bis zur
Unkenntlichkeit verändert. Wenn wir mit einem Finger
auf Österreich zeigen, so zeigen vier Finger in unsere
Richtung zurück. Auch das müssen wir uns endlich ins
Stammbuch schreiben.
Drittens. Ist es nicht eigentümlich, dass sich viele am
Juniorpartner Haider abarbeiten, aber der Seniorpartner,
die ÖVP, relativ ungeschoren bleibt? Es war doch die
ÖVP unter der Führung von Wolfgang Schüssel, die unter
Bruch vorheriger Wahlaussagen die Koalition mit Haider
einging.
Ich finde, dass Stichworte für rassistische Parolen oftmals aus der so genannten Mitte der Gesellschaft kommen. Denken wir doch einmal gemeinsam an Edmund
Stoibers Begriff von der „durchrassten Gesellschaft“, die
er nicht wolle. Denken wir - da könnte Herr Kollege Merz
endlich einmal Führungsqualität beweisen - an die populistischen Parolen des Herrn Rüttgers mit den Kindern
und den Indern im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen;
denken wir an Roland Koch mit seiner Kampagne in Hessen. Ich glaube, auch die F.D.P. sollte an ihren StahlFlügel denken. Meinen sozialdemokratischen Kollegen
möchte ich zu bedenken geben: Manche Rede von Otto
Schily weist auch darauf hin, dass er der Meinung sei, das
Boot sei voll.
({2})
Mit solchen Positionen müsste man Schluss machen.
Das gemeinsame Verständnis müsste sein: Wer solche
Zeichen setzt, schafft die Voraussetzungen für die Entfaltung der Haiders.
({3})
Ich glaube, es wäre eine gemeinsame Aufgabe, dagegenzuhalten.
Viertens. Die Haiders sind unter uns. Deshalb brauchen
wir in Ergänzung des Boykotts der Regierung eine gemeinsame europäische Initiative gegen Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevision.
({4})
- Ja, auch Stalinismus. Damit habe ich nie ein Problem
gehabt. Sie können in dieser Frage von mir mehr nachlesen, als Sie bisher zu Papier gebracht haben.
({5})
Ich will in Richtung des Herrn Kollegen Hoyer sagen:
Man kann den Boykott jetzt nicht aufheben. Das genau
wäre Haiders Triumph und ein Triumph der vereinigten
europäischen Rechten. Deshalb ist mein Vorschlag, die
staatlichen bzw. die Regierungsauseinandersetzungen mit
den Initiativen der zivilen Gesellschaft zu koppeln und
das als eine gemeinsame Aufgabe zu betrachten. Darum
bitte ich Sie.
Danke sehr.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Lothar Mark.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass ein bayerischer Ministerpräsident einmal von der „durchrassten Gesellschaft“
sprach
({0})
und sich anschließend für diesen Ausdruck entschuldigte,
ist zwar politisch nicht ganz nachvollziehbar; trotzdem
muss man diese Angelegenheit für erledigt erklären.
({1})
Wenn aber jemand über Jahre hinweg nationalsozialistisches Gedankengut, Ideen und Symbole gebraucht und
gutheißt, wie es ein österreichischer Landeshauptmann
praktiziert, dann offenbart sich ein Wertesystem, offenbaren sich geistige Grundlagen, die von den meinen und wie ich hoffe - von den unsrigen weit entfernt sind.
({2})
Es muss daher sehr wohl darüber nachgedacht werden,
ob bei solchen Menschen nicht ein grundsätzliches demokratisches Bewusstsein durcheinander geraten ist und ob
sie politische Verantwortung übernehmen dürfen.
({3})
- Mit diesen Zwischenbemerkungen zeigen Sie, dass Sie
anscheinend von diesem Geistesgut nicht sehr weit entfernt sind.
({4})
Wenn sich ein Land anschickt, von einer Partei mit solchen geistigen Grundlagen mitregiert zu werden, ist es für
die anderen Staaten und insbesondere für die Mitglieder
einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union
das Mindeste, diesem Land symbolisch zu zeigen, dass sie
mit jemandem, der sich nicht an die vereinbarten Spielregeln hält, nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten können
und möchten.
({5})
Dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu
bezeichnen geht einfach an den Tatsachen vorbei.
Die Regierungskoalition sieht das so. Ich hoffe, dass
die fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen der
FPÖ bis in die jüngste Zeit, die eben nicht nur von ihrem
mediengewandten heimlichen Vorsitzenden Haider stammen, von allen im Bundestag vertretenen Parteien einhellig abgelehnt werden. Zumindest ist diese Hoffnung auch
aus dem F.D.P.-Antrag abzulesen und durch Dr. Hoyer
heute noch einmal bestätigt worden, wenngleich ich in der
Quintessenz zu anderen Ergebnissen komme als er.
Interessant ist aber, dass sich die CDU/CSU in dem
Teil ihres Antrages, der sich mit Österreich befasst, nur
mit den so genannten Sanktionen auseinander setzt.
Die Mitgliedsländer der Europäischen Union hatten
nach der Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten
FPÖ Maßnahmen gegen Österreich beschlossen, die
durch die neuerlichen Ausbrüche von FPÖ-Funktionären
an Aktualität gewonnen haben.
Ihnen ist sicher noch in Erinnerung, was Hilmar Kabas,
der FPÖ-Vorsitzende aus Wien, über den österreichischen
Bundespräsidenten Klestil gesagt hat: Er hat ihn als einen
„Lumpen“ bezeichnet. Wenn Sie den Begriff „Lump“
nehmen, werden Sie sicherlich sofort an die Äußerungen
aus dem Reichsgerichtshof erinnert. Dort spielte dieses
Wort ebenfalls eine ganz große Rolle.
Ich verweise auf die jüngsten Äußerungen von Ernest
Windholz: „Unsere Ehre heißt Treue.“ Das war der Leitspruch von Adolf Hitler 1931 für die SS. Das sind keine
Wortidentitäten, die rein zufällig entstanden sind. Dies
muss vielmehr schon im Kopf verankert sein; denn sonst
würden solche Zitate nicht zum Vorschein kommen können.
({6})
In diesem Zusammenhang ist für mich auch nicht nachvollziehbar, dass die ÖVP - so die „Süddeutsche Zeitung“
vom 6. Juni 2000 - zu diesen Äußerungen keinen Kommentar in Österreich abgegeben hat. Lediglich die
Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, sagte,
dass man solche Worte nicht so schnell erfinden könne.
Die österreichischen Sozialdemokraten äußerten, dass
bei der FPÖ immer wieder das bräunliche Gedankengut
zum Vorschein komme.
Selbst in der FPÖ-Zentrale wurde das Zitat von
Windholz zunächst dementiert. Später hat die Generalsekretärin gesagt, sie könne es nicht glauben, dass Windholz
dies geäußert habe. Ganz interessant ist auch noch, dass
Herr Haider keinen Kommentar zu diesem Zitat abgeben
wollte. Er beschränkte sich auf den Hinweis, dass es
„keine schlechte Sache“ sei, wenn sich jemand „zu Anständigkeit, Treue, Ehrlichkeit und Leistungsbewusstsein“ bekenne. Damit zeigt er, dass er wiederum die historische Dimension von Begriffen nicht verstanden hat.
({7})
Die EU ist eine Wertegemeinschaft, für die Freiheit,
Demokratie und Solidarität einen hohen Stellenwert haben. Sie kann auf keinen Fall akzeptieren, dass diese
Werte auf ihrem eigenen Territorium verletzt werden
könnten.
({8})
Es ist nachgerade ihre Pflicht, die Freiheit der Andersdenkenden zu schützen, gegen die Haiders Freiheitliche
vorgehen möchten. Daher wurde die Regelung getroffen,
die Beziehungen auf höchster Ebene bilateral abzubrechen sowie keine österreichischen Kandidaten für Posten
in internationalen Organisationen zu unterstützen, die
Kontakte auf Arbeits- und nachrangiger Ebene jedoch
beizubehalten. Dies gewährleistet weiterhin die inhaltliche Auseinandersetzung und Kontinuität der laufenden
Arbeit. Die symbolische Isolierung zeigt aber deutlich
den Willen der EU und beweist Augenmaß.
Die deutsche Österreich-Politik, ist eingebettet in die
EU-Politik und abgestimmt mit ihr. Ich finde es geradezu
unseriös, wenn man meint, man könne seine Politik nach
Gutdünken in die EU-Politik einbetten oder eben auch
nicht. Wir hören oft den Vorwurf, dass unsere Politik nicht
in die gemeinsame EU-Politik eingebettet sei. Wenn es
einigen nicht gefällt, kommt der Vorwurf: Wieso bettet ihr
eure Politik ein und macht keinen nationalen Alleingang?
Dies ist eine unseriöse Politik.
({9})
Ich begrüße in diesem Zusammenhang, dass die österreichischen Regierung Vorschläge zur Änderung des
Gemeinschaftsvertrages, der das Vorgehen bei schwerwiegenden und anhaltenden Vertragsverletzungen regeln
soll, unterbreitet hat. Damit ist in die Diskussion Bewegung gekommen. Unabhängig von den Maßnahmen, die
die anderen EU-Mitgliedsländer gegenüber der Regierung in Wien getroffen haben, könnten damit in Zukunft
Gefährdungen und tatsächliche Verletzungen der EU-Verträge unterschieden, beobachtet und gegebenenfalls geahndet werden. Nur, die jetzt vorliegenden Vorschläge
müssen geprüft, diskutiert und stark modifiziert werden.
({10})
Keinesfalls rechtfertigen sie die sofortige Aufgabe der
Maßnahmen - ich sage bewusst: Maßnahmen -, zumal
Bundeskanzler Schüssel den Vorschlag, eine Beobachtermission nach Österreich zu entsenden,
({11})
nach Zeitungsberichten vom 2. Juni abgelehnt hat. Der luxemburgische Ministerpräsident Juncker ließ verlautbaren, dass sich der EU-Gipfel im Juni nicht mit Schüssels
Vorschlag beschäftigen werde.
Ich möchte ausdrücklich betonen, dass sich die symbolischen Maßnahmen nicht gegen die österreichische
Bevölkerung richten, sondern ausschließlich gegen die
Regierung in Wien. Deshalb stimme ich auch mit den
Äußerungen von Bundeskanzler Schröder überein, die er
gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 22. Mai gemacht hat. Die an der Regierung beteiligte FPÖ verharmlost seit Jahren die Menschen verachtende Politik des
Deutschen Reiches und Österreichs während des Nationalsozialismus, die unermessliches Leid weit über unseren Kontinent hinaus zur Folge hatte. Diese Verharmlosung und Verfälschung der Geschichte passt nicht in
unsere Zeit und darf nicht hingenommen werden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Rolle einiger
Medien, die zwar einen Werteverfall beklagen, aber gerade Leute solcher Parteien hofieren und somit geradezu
eine Plattform für Scheinlösungen und Verunsicherung
bieten.
Die Sorgen und Ängste der Bevölkerung müssen aber
ernst genommen werden, die sich zum Beispiel aus der
EU-Osterweiterung ergeben. Darüber wurde bereits gesprochen. Natürlich neigen nicht alle FPÖ-Wähler zu
rechtsextremen Tendenzen. Aber die EU kann nicht zulassen, dass immer mehr Menschen ungehindert rechtspopulistischen Rattenfängern in die Arme laufen. Diese
mögen zwar zu Recht auf bestehende Probleme hinweisen, die die etablierten Parteien mitunter vernachlässigt
haben. Aber ihre vorgeblichen Lösungen, für die sie mit
Angst schürender Propaganda werben, verschärfen und
schüren in einem Europa, das durch Erweiterung und Integration unaufhaltsam zusammenwächst und somit viele
Probleme zu lösen hat, soziale Spannungen und Konflikte. Die EU muss daher ebenso wie die österreichische
Regierung über die Vorzüge der Erweiterung aufklären
und für die anstehenden Veränderungen werben.
So hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
in seinem jüngsten Bericht darauf hingewiesen, dass
durch die EU-Osterweiterung keine massive Zuwanderung zu erwarten ist. Warum sollte jemand auch seine Heimat in Polen oder Tschechien verlassen, wenn sein Wohlstandsniveau fast mit unserem vergleichbar ist? Der politische Sinn der EU liegt ja gerade darin, über den Export
von Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit für Stabilität, aber auch für die Durchsetzung von Werten zu sorgen. Die Chancen, die sich aus der Osterweiterung der EU
insbesondere für Deutschland und Österreich als Grenzstaaten ergeben, müssen also besser vermittelt werden.
Den Ängsten muss durch intensive präventive Aufklärung
begegnet werden.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Maßnahmen der EU gewisse Erfolge gezeitigt haben. In Österreich wurde seit langem nicht mehr so breit über das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit debattiert wie jetzt. Das
öffentliche Bekenntnis Schüssels und Haiders vom 3. Februar 2000 zu den Grundwerten der EU wäre ohne den
Druck von außen wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Wer weiß, zu welcher Politik sich die FPÖ verstiegen hätte, wenn der Beobachtungsdruck von innen und
außen nicht vorhanden gewesen wäre.
Ich habe zu dem Antrag der CDU/CSU bezüglich
Österreichs einiges angemerkt, ebenso wie zu dem Antrag
der F.D.P. Ich möchte ergänzend hinzufügen, dass die politologischen Intentionen der Maßnahmen, die in dem Antrag gefordert werden, an der Realität vorbeigehen.
Schließlich haben wir uns nicht damit zu befassen, wer
wem die Hand zu geben hat und ob eine Schulpartnerschaft in Belgien aufgelöst wird oder nicht. Wenngleich
ich die angesprochenen Verhaltensnormen ebenfalls nicht
begrüße, Herr Dr. Hoyer, muss ich dazu sagen: Die Behandlung dieser Fragen liegt nicht in der Kompetenz des
Deutschen Bundestages.
({12})
Derzeit gibt es also keinen Anlass, die politischen
Maßnahmen der EU-Mitgliedsländer gegenüber der Regierung in Wien aufzuheben. Ich begrüße die jüngsten
Äußerungen von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer - auch die von heute - und stelle für meine
Fraktion fest, dass sie den Anträgen der Opposition,
Drucksachen 14/3187 und 14/3377, nicht zustimmen
kann.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Peter Hintze.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen in einer
schwierigen Phase der europäischen Politik. Es geht um
die Neuausrichtung der Europäischen Union, es geht um
das große Projekt der Osterweiterung und es geht um eine
wichtige Voraussetzung für die Steigerung unserer Handlungsfähigkeit.
Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede von der
Opposition einen europapolitischen Grundkonsens eingefordert. Herr Bundesaußenminister, ich möchte Ihnen klar
sagen: Wir, die CDU/CSU, sind in den großen Fragen der
Europapolitik zu einem Konsens mit der Bundesregierung und den demokratischen Parteien in diesem Hause
bereit.
({0})
Das hat zwei Voraussetzungen: Die eine ist eine faire
Debatte über die anstehenden Fragen. Die zweite ist die
Qualität der Politik, die es gemeinsam zu vertreten gilt.
Zum Stichwort „faire Debatte“ möchte ich in aller
Ruhe eines anmerken: Wir verstehen es, wenn Sie als
Bundesaußenminister politische Termine - wie gestern in
Polen - wahrnehmen müssen. Aber es beschwert uns, dass
diese Debatte als letzte Möglichkeit der Aussprache vor
dem Gipfel in Feira überhaupt nur deswegen stattfindet,
weil wir als Opposition einen entsprechenden Antrag eingebracht haben.
({1})
Es beschwert uns, dass die Bundesregierung weder eine
Regierungserklärung abgibt noch im zuständigen Fachausschuss auf politischer Ebene vertreten war. Wir freuen
uns, dass Sie nächste Woche bereit sind, die Obleute persönlich zu unterrichten; aber bei der Konsensbildung geht
es eben nicht nur darum, dass man hört, was die Regierung vorhat - obwohl das wichtig ist -, sondern auch darum, dass wir Parlamentarier Gelegenheit haben, die
großen und entscheidenden Fragen Europas in der Öffentlichkeit zu diskutieren.
({2})
Herr Kollege
Hintze, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Sterzing?
Ich gestatte. Bitte schön.
({0})
Herr Kollege Hintze, ist Ihnen bekannt, dass - weil der
Termin mit dem Außenminister im Ausschuss gestern
nicht zustande gekommen ist - just für den Zeitpunkt dieser Europadebatte das Angebot zu einer Ausschusssitzung
oder zu einem Gespräch mit den Obleuten des Europaausschusses bestand und dass dieses Gespräch nur an dieser Europadebatte gescheitert ist?
({0})
Ich habe gehört, dass ein
solches Gesprächsangebot im Raum stand. Ich wünsche
mir, dass wir die großen Fragen im Bundestag diskutieren,
wenn die Regierung sagt: Wir brauchen einen europapolitischen Konsens im Parlament.
({0})
- Wenn Sie nicht so viel dazwischenrufen würden, dann
kämen wir weiter.
({1})
Der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen,
dass die `leftovers` von Amsterdam beachtliche Probleme seien. Dem kann man nur zustimmen. Wenn es
keine beachtlichen Probleme wären, hätten wir sie auf
früheren Regierungskonferenzen in der Tat schon lösen
können; das ist klar. Unsere Auffassung ist nur, dass zu
diesen beachtlichen Problemen - Größe der Kommission,
Stimmgewichtung im Rat und Ausweitung der qualifizierten Mehrheit - auch noch zwei andere wichtige Fragen hinzukommen, nämlich die Frage einer präziseren
Kompetenzabgrenzung und die Frage der erleichterten
Anwendung der Flexibilitätsklausel; denn wir glauben,
dass das für die Zukunft Europas wichtig ist und dass eine
Vergrößerung der Tagesordnung die Lösung der drei kritischen `leftovers` möglicherweise sogar etwas einfacher
macht, statt sie zu erschweren, wie die Regierung es vermutet.
In diesen Punkten wollen wir eine parlamentarische
Diskussion. Hier hat kein Mensch gesagt - da dürfen Sie
alle unsere Erklärungen nachlesen; der Fraktionsvorsitzende hat das heute Morgen auch ganz deutlich gemacht -, dass die Osterweiterung von unserer Seite an
eine vollendete und abgeschlossene Kompetenzabgrenzung gebunden wird und dass wir, wenn Nizza nicht zum
letzten Erfolg führt, die Osterweiterung nicht unterstützen. Im Gegenteil: Wir unterstützen die Osterweiterung.
Sie ist für uns ein Gebot der politischen, ökonomischen
und moralischen Vernunft. Das ist eine ganz klare Sache.
Sie darf nicht hinausgeschoben werden.
({2})
Was die Frage der Kompetenzabgrenzung angeht, für
die wir uns in der Endform einen Verfassungsvertrag vorstellen, so bieten wir nur an, Herr Bundesaußenminister,
dass bei den Themen, die in die qualifizierte Mehrheit
überführt werden, eine Kompetenzpräzisierung im Vertrag erfolgt.
({3})
Wir wissen, dass eine komplette Kompetenzabgrenzung
vertragstechnisch schwierig und politisch kompliziert ist.
Das wissen wir. Aber wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Verhandlungen so anlegt, dass bei dem
Schritt des Übergangs in die qualifizierte Mehrheit auch
ein Einstieg in eine klarere Kompetenzabgrenzung erfolgt.
({4})
Warum wollen wir das? Wir glauben, dass die Legitimität von politischen Entscheidungen im Wesentlichen
von drei Dingen abhängt: zum einen von der demokratischen Struktur der Entscheidungen, zum Zweiten von der
Transparenz der Entscheidungsgänge und zum Dritten
von der Qualität der Ergebnisse. Wir glauben, dass eine
klarere Kompetenzabgrenzung in allen drei Punkten einen
Zugewinn brächte und damit auch eine größere Zustimmung zum Projekt der europäischen Einigung.
({5})
Der Kollege Gloser hat in seiner Einführungsrede gesagt, dass die Sozialdemokraten die großen europapolitischen Entscheidungen in der Vergangenheit immer unterstützt haben. Das nehmen wir erfreut zur Kenntnis. Aber
es waren auch große Vorhaben: Binnenmarkt, Abschaffung der Grenzkontrollen, Wirtschafts- und Währungsunion, Süderweiterung, Erweiterung um die EFTA-Staaten, Innen- und Rechtspolitik. Das waren große Vorhaben.
Wir sehen die Gefahr, dass unter der Politik der jetzigen
Regierung diese großen Vorhaben, die in der Vergangenheit verwirklicht worden sind, nicht so fortgesetzt werden, wie sie es verdient hätten. Das ist unsere Sorge.
({6})
Die wird in diesen Tagen konkret. Unser Fraktionsvorsitzender hat darauf hingewiesen: Wenn der französische
Verteidigungsminister einen Tag vor dem deutsch-französischen Gipfel öffentlich sagt, er könne sich eine Zusammenarbeit mit Deutschland auf militärischem Gebiet gar
nicht so recht vorstellen, das gehe natürlicherweise mit
England besser, dann muss man doch sagen: Wie traurig
ist die Situation, dass der französische Verteidigungsminister einen Tag vor einem Gipfel eine solche Aussage
macht? Das zeigt doch ein Defizit. Darüber können wir
doch nicht hinwegschauen.
({7})
Herr Minister Fischer, es geht nicht, dass Sie jeden
Einwand der Opposition mit dem Wunsch wegbügeln, es
müsse ohne Wenn und Aber ja gesagt werden. Das erinnert mich an einen Menschen, der jeden Tag schwimmen
geht und sagt, er springe mit dem Kopf voran ins Becken,
egal ob Wasser drin sei oder nicht. So kann es nicht sein.
Wir müssen doch darüber sprechen, was es zu regeln gibt.
Der amerikanische Präsident war bei uns in Deutschland und hat über die Grenzen der Europäischen Union
aus seiner Sicht gesprochen. Er stellt sich vor, dass Russland Mitglied der Europäischen Union wird. Nun ist
das die Vorstellung des amerikanischen Präsidenten. Die
Amerikaner sind gute Freunde von uns. Sie haben eine
Vorstellung von Europa als einer großen Stabilitätszone,
die vom Atlantik bis Asien reicht. Das ist aus ihrer Sicht
verständlich. Aber hier müssen wir als Parlament doch ein
Wort dazu sagen, dass das nicht unsere Vorstellung von
Europa als einer Wertegemeinschaft, einer politischen
Union ist. Eine Entgrenzung würde zu einem schweren
Verlust führen. Darüber müssen wir hier doch diskutieren
und sprechen.
({8})
Dazu habe ich von Ihnen kein Wort gehört. Es wäre schön,
wenn wir ein Wort des Außenministers dazu gehört hätten.
Einige der Maßnahmen, die geignet sind, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern,
können gleichsam schon vor dem Vertrag geklärt werden.
Für mich besteht der größte Reformnotstand beim Ministerrat.
({9})
Hier müssen zwei Dinge geklärt werden. Das eine ist die
ungute Vermischung von legislativen und exekutiven
Funktionen des Ministerrates. Das andere ist, dass dieses
wichtige Gesetzgebungsorgan nicht öffentlich tagt. Was
ist das für eine Welt, in der nur der Volkskongress von
Nordkorea und der Ministerrat der Europäischen Union
ihre Gesetze hinter verschlossenen Türen machen. Ich
meine, die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der
Ministerrat öffentlich tagt. Sie könnten schon vor der
nächsten Vertragsänderung dafür sorgen, dass das geändert wird.
({10})
Nun haben Sie, Herr Minister Fischer, auch Ausführungen zum Europäischen Parlament gemacht, die
ich merkwürdig finde. Die Einführung von Doppelmandaten, also eines Feierabendparlamentes, wäre für
mich ein dramatischer Rückschritt auf dem Weg der europäischen Integration. Wir dürfen das Europäische Parlament nicht durch die Einführung von Doppelmandaten
schwächen, sondern müssen es durch einen Kompetenzzuwachs stärken. Eine Möglichkeit der Stärkung des Europäischen Parlamentes wäre, ihm das Recht zu geben,
den Präsidenten der Kommission zu wählen und ihn vom
Rat bestätigen zu lassen
({11})
und nicht umgekehrt das Parlament einen hinter verschlossenen Türen ausgekungelten Kandidaten nur noch
bestätigen zu lassen. So könnten wir das Europäische Parlament stärken.
({12})
- Was wir in der Vergangenheit gemacht haben, lieber
Kollege Gloser, kann sich wirklich sehen lassen. Ich hoffe
sehr, dass sich das, was die Regierung jetzt noch vorhat,
sehen lassen kann.
Ich schließe mit Blick auf Feira mit einem freundlichen
und positiven Wort. Gut finde ich, dass man in Sachen europäischer Verteidigung ein Stück vorankommt. Wir fragen zu Recht, wo Europa zu weit gegangen ist und wo
man es ein Stück zurücknehmen soll. Wir müssen aber
auch fragen, in welchen Bereichen die europäische Integration noch zu wenig ausgeprägt ist. Ich finde, dass Europa zu wenig zum Ausdruck kommt, wenn 15 Armeen
nebeneinander bestehen, die viel Geld kosten und denen
es an Effizienz mangelt. Wir brauchen eine gemeinsame
Verteidigung. Ich wünsche mir, dass in Feira der Einstieg
dazu gelingt.
Insgesamt wünsche ich mir, dass Feira einen wichtigen
neuen Impuls für das große europäische Projekt der Osterweiterung gibt. Wir werden später einmal daran gemessen, wie wir dieses Projekt bewältigt haben.
Schönen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl
Herr Hintze als auch vorher Herr Schäuble haben bestätigt, dass die von Ihnen so stark geforderte Kompetenzabgrenzung, über deren Notwendigkeit ja kein
Zweifel besteht, keine Vorbedingung für eine Zustimmung zu der sehr notwendigen Osterweiterung sein muss.
Ich möchte mich deshalb nicht auf den Streit einlassen,
der hier ausgetragen worden ist, sondern möchte über die
Probleme sprechen, die mit der Osterweiterung, vor der
wir jetzt stehen, verbunden sind. Ich möchte dies einmal
aus dem Blickwinkel derer tun, die zu uns kommen wollen. Dabei möchte ich darüber sprechen, wie es sich mit
der Forderung nach sicheren Grenzen verhält und was
diese für die einzelnen bedeutet. Denn auch dies wird ja
immer miteinander verbunden.
Die einen sagen, wir müssen die Grenzen kennen, damit wir dann über Finalität sprechen können, also über
Verfassungsfragen; die anderen sagen, das könne man ja
vielleicht auch ein wenig getrennt voneinander machen.
Ich stelle nur fest und registriere, dass es im Augenblick
drei völlig unterschiedliche Verhaltensmuster in Bezug
auf dieses Problem gibt.
Tschechien und die Slowakei führen die Visapflicht gegenüber den östlichen Nachbarn ein. Das heißt, sie nehmen vorweg, was das Schengener Abkommen von ihnen
später einmal verlangt.
Der amtierende polnische Außenminister, immerhin
ein Garant der polnisch-europäischen Zusammenarbeit,
erklärt: Natürlich wird Polen dem Schengener Abkommen beitreten, aber erst zum spätestmöglichen Termin,
erst am Tage des Beitrittes. Natürlich ist es notwendig,
dass Polen die Grenzen entsprechend absichert, allein
schon der organisierten Kriminalität wegen. Aber über
die historisch-politisch-kulturellen Dimensionen dieser
Grenzen müsse allerdings auch diskutiert werden. Das tun
wir sehr wenig. Wir diskutieren sehr wenig darüber, was
es bedeutet, wenn in Osteuropa diese Grenzen gezogen
werden.
Schließlich hat die Ukraine jetzt die Visapflicht für die
EU-Staaten abgeschafft - eine deutliche Dokumentation,
auch zu Europa gehören zu wollen, und Ausdruck der
Hoffnung auf die stabilisierende Wirkung eines Zu-Europa-Kommens.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Tagen
war ja nicht nur der Außenminister in Warschau. Deshalb
möchte ich gern drei Bemerkungen machen.
Erstens. Wir erleben dort zurzeit eine Regierungskrise,
die sicherlich nicht dazu führen wird, dass die Pro-EUMehrheit im Sejm infrage steht. Bei einem weiteren Zerfall des AWS-Bündnisses, also des größeren Regierungspartners, kann sich aber am rechten Flügel der AWS eine
europafeindliche Demagogie entwickeln. Dafür wird es
einen empfänglichen Boden geben.
Zweitens. Auch den polnischen Bauern ist inzwischen bewusst geworden, dass eine gemeinsame EUAgrarpolitik sie unter schweren Anpassungsdruck stellt,
dem viele Subsistenzwirtschaften zum Opfer fallen werden. Zugleich stehen für einen früheren Beitritt bis 2006
keinerlei Preisstützungsmittel im Etat zur Verfügung,
während die stattdessen eingesetzten Mittel - das möchte
ich sehr deutlich unterstreichen - für die Politik des ländlichen Raumes in Polen zwar zu mehr als 2 000 Projektanträgen geführt haben - wovon Ende des Jahres 1999
200 bewilligt worden sind -, bis heute aber noch kein müder Euro nach Polen geflossen ist. Wie wollen Sie dann
überhaupt dafür sorgen, dass es am Ende eine gesellschaftliche Akzeptanz für all das geben wird, was Sie groß
beschwören?
Deshalb meine letzte Bemerkung: Am Ende der Beitrittsverhandlungen werden die Fragen von Übergangsfristen zum Beispiel für die Angleichung der Niederlassungs- und Grunderwerbsrechte stehen. Natürlich stößt da
jedes Wort deutscher Vertriebenenfunktionäre und insbesondere der Präsidentin des Bundesverbandes der Vertriebenen auf Aufmerksamkeit und auf Empfindlichkeiten.
Jedenfalls bin ich hinreichend auf den „FAZ“-Artikel unserer Kollegin Steinbach ausgerechnet zum 8. Mai angesprochen worden.
Dieser Artikel enthält eine sehr nachdrückliche und
eindeutige Beschreibung dessen, was Deutschen in den
Ostgebieten angetan worden ist. Aber danach heißt es:
Das alles geschah, während vor dem Nürnberger Militärtribunal Hans Frank, Hermann Göring, Alfred
Rosenberg, Fritz Sauckel und Arthur Seyß-Inquart
angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, ausdrücklich auch wegen ihrer Beteiligung an Deportationen von Zivilisten aus besetzten Gebieten zur
Zwangs- und Sklavenarbeit.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß
nicht, ob Ihnen das Ungeheuerliche dieser Gleichsetzung
von Tätern und Opfern auch so bewusst ist.
({0})
Ich glaube - aber das ist Sache der CDU/CSU -, dass es
wirklich dringend eines Gesprächs bedarf. Ich glaube,
dass hiermit auch die Heimatinteressen der Vertriebenen
in ganz gefährlicher Weise aufs Spiel gesetzt werden. Ich
wünsche mir, dass Sie Ihrer Kollegin den Rücktritt von
ihrem Amte nahe legen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! CDU und CSU
sind sich der historischen Verantwortung, in der wir alle
in diesem Europa stehen, voll und ganz bewusst und brauchen von niemandem Nachhilfeunterricht in dieser Frage.
Wir wissen auch ganz genau, was Polen, Ungarn und andere bei der Bekämpfung des Kommunismus geleistet haben, dabei, den Weg für die europäische Revolution und
damit auch zu unserer Wiedervereinigung freizumachen.
Wir lassen uns in unserem Engagement für die Erweiterung der Europäischen Union von niemandem in diesem
Haus übertreffen.
({0})
Die Erweiterung der Europäischen Union ist das große
Ziel der deutschen Europa- und Außenpolitik in den kommenden Jahren, weil wir nur so das bewahren können,
was Frieden und Freiheit auf diesem Kontinent ausgemacht haben, weil wir nur auf diese Art und Weise Frieden und Stabilität aufrechterhalten können und den Krieg
aus Europa verdrängen können. Wir wissen ganz genau,
dass Europa keine Trennlinien verträgt. Wir arbeiten für
die Wiedervereinigung von Europa. Das ist das große und
wunderbare Ziel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen,
aber auch im Detail zu streiten.
({1})
Wenn man über die Erweiterung der Europäischen
Union spricht, dann bringt es doch nichts und führt nicht
weiter, wenn man die Ängste, die es gibt, die es vor allen
Dingen nach dem EU-Gipfel von Helsinki gibt - dass
plötzlich mit zwölf Ländern verhandelt wird und ein weiteres Land, die Türkei, als Kandidat hinzukommt -, nicht
zur Kenntnis nehmen will. Es ist wahr: Man darf die
Ängste nicht ausbeuten und man darf sie nicht verstärken,
indem man sie benennt.
({2})
Aber benennen muss man sie und man muss ganz ruhig
darüber reden dürfen, ohne sich gleich dem Vorwurf auszusetzen, man sei in einer antieuropäischen Ecke.
({3})
Eine dieser Ängste betrifft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Da gibt es natürlich gerade bei den Menschen
bei uns, die arbeitslos sind, die Sorge: Kommen dann
viele Billiglohnarbeiter zum Beispiel aus Polen und verdrängen uns? Ich halte nichts davon, diese Angst auszubeuten. Aber sie aussprechen und auf ihren wahren Kern
untersuchen, das wird man doch tun dürfen.
Nun haben wir inzwischen Studien, die deutlich machen, warum Menschen, zum Beispiel aus Mittel- und
Osteuropa, ihre Heimat verlassen: nicht, weil sie im Westen ein bisschen mehr verdienen können - das reicht nicht
als Grund, die Heimat zu verlassen -, sondern nur aufgrund von Perspektivlosigkeit. Wenn die Menschen keine
Hoffnung für sich und ihre Familien mehr sehen, dann erst
gehen sie weg.
Also ist die Perspektive Europäische Union, wenn man
genauer hinschaut, in Wahrheit das Allerbeste, um Emigration zu verhindern. Würden wir die Perspektive einer
baldigen EU-Öffnung verweigern, dann würden die Menschen zu uns kommen und nicht umgekehrt. Deswegen
sollten wir auf solche Ängste reagieren und sachlich damit umgehen, statt diese Ängste zu verdrängen und es irgendwelchen Haiders zu überlassen, sie zu artikulieren.
({4})
Das tun wir hier: Wir benennen die Ängste und gehen auf
sie ein.
Das Nächste, was ich überhaupt nicht verstehe, ist,
wieso Sie auf die Idee kommen, dass der Gedanke eines
Verfassungsvertrages und einer Kompetenzabgrenzung
dazu führen könnte, den Prozess der institutionellen
Reformen und der Osterweiterung zu erschweren bzw.
unmöglich zu machen. Warum wird man, wenn man von
Kompetenzabgrenzung spricht, gleich ein bisschen in
eine zögerliche, euro-skeptische Ecke gedrückt? Es ist
doch der Außenminister selbst, der den Gedanken des
Verfassungsvertrages von Wolfgang Schäuble in seiner
Rede am 12. Mai aufgenommen hat. Warum kein Verfassungsvertrag? Er hilft doch dem europäischen Gedanken!
Je mehr die Menschen den Eindruck haben, dass wir genau schauen, welche Rechte wir nach Brüssel geben
({5})
und was wir in den Kommunen, Ländern und Nationalstaaten behalten, desto mehr werden sie auch bereit sein,
dort, wo die EU wirklich Kompetenzen braucht, zum BeiDr. Helmut Lippelt
spiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, auf dem Weg
in eine vertiefte Integration mitzugehen.
({6})
Nein, die Idee des Verfassungsvertrages und der Kompetenzabgrenzung spaltet nicht, sondern stärkt die Europäische Union. Das sollten Sie an dieser Stelle zur Kenntnis nehmen.
({7})
Wir können doch festhalten, dass wir in den wesentlichen Fragen - ich beziehe mich auf das, was hier angesprochen worden ist - gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Warum versuchen Sie dann - ich finde, manchmal etwas sehr bewusst -, die Opposition von diesem
Konsens wegzudrängen?
({8})
Freuen Sie sich doch über Gemeinsamkeiten, Herr
Außenminister, und pflegen Sie sie, zum Beispiel das gemeinsame Ziel eines Verfassungsvertrages und einer Europäischen Grundrechtscharta sowie den Willen, gemeinsam für eine Erweiterung einzutreten. Das sind doch Elemente, auf denen wir eine gemeinsame europäische
Politik aufbauen könnten. Ich finde, Sie treiben es, wenn
Sie eine bestimmte Gruppierung hinausdrängen wollen,
mit Ihren parteipolitischen Bestrebungen etwas zu weit.
Das ist ein großer und tragischer Fehler.
({9})
Es gibt allerdings einen Punkt, bei dem wir in der Tat
fundamental anderer Auffassung sind als Sie. Auch diesen
Punkt möchte ich ansprechen. Er betrifft Österreich. Ich
glaube, dass man gerade dann, wenn man Europa will und
wenn man für einen Erfolg der Regierungskonferenz und
für einen guten Vertrag von Nizza ist, mit dem eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen erzielt werden soll,
die Österreicher wieder mit ins Boot bekommen muss.
Wir müssen sie aus der Isolierung befreien. Überlegen Sie
sich doch einmal: Kann irgendein österreichischer Abgeordneter - übrigens gleich welcher Partei - einem
Souveränitätsverlust zustimmen, wenn sein Land gleichzeitig in dieser Art und Weise in die Ecke gedrängt wird?
Ich glaube, wir schaden mit den gegenüber Österreich
verhängten Sanktionen Europa und bremsen die Osterweiterung. Diesen Bremsklotz in Bezug auf die Erweiterung der Europäischen Union sollten Sie jetzt in Feira beseitigen. Herr Außenminister, haben Sie endlich den Mut
dazu!
({10})
Ich habe einen gewissen Respekt davor, dass Sie sagen:
Wir wollen uns jetzt in dieser Frage nicht öffentlich mit
Frankreich anlegen; wir brauchen die Franzosen. Natürlich wir wollen jetzt nicht auf irgendeine Weise die
europäische Front aufbröckeln und eine deutsche
Führungsrolle übernehmen. Aber ich finde, dass der Herr
Bundeskanzler angesichts dessen, dass er mit Fidel Castro
und Gaddafi spricht, mit Herrn Schüssel wenigstens einmal telefonieren könnte. Ich finde, dass man wenigstens
intern etwas unternehmen könnte, um daran mitzuarbeiten, in Feira die Brücke, von der der Kollege Hoyer soeben gesprochen hat, beschreiten und die europäischen
Sanktionen gegenüber Österreich aufheben zu können.
({11})
Denn es ist richtig und wahr: Die Europäische Union
ist eine Wertegemeinschaft. Sie haben völlig Recht: Das,
was - leider - der Herr Haider und seine Truppen, die alte
SS-Sprüche aufgreifen, politisch sagen, ist schwer erträglich.
({12})
Ich finde es richtig, dass die Europäische Union ihren
Wertekanon definiert und mit aller Kraft verteidigt. Dies
ist doch aber nur dann notwendig, wenn es manifeste Verstöße gegen EU-Werte und EU-Normen gibt, und nicht
schon aufgrund von unverantwortlichen Sprüchen einer
einzigen Persönlichkeit.
({13})
Ich glaube in der Tat, dass wir ein klares und geordnetes Verfahren brauchen, um so schwerwiegende Maßnahmen zu ergreifen, und dass wir nicht präventiv in dieser
Art und Weise ein über 40 Jahre gewachsenes demokratisches Land, einen engen Freund, nur noch mit der
Kneifzange anfassen sollten. So stärken wir nämlich überall die Haiders und schwächen sie nicht.
({14})
Vor allen Dingen aber schwächen wir die Europäische
Union in ihrer Zukunftsperspektive.
({15})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Über all diese Fragen, über Österreich, über die Türkei,
über die Art und Weise, wie wir die institutionellen Reformen durchführen, gibt es zwischen den Parteien Streit.
Das ist gut und wichtig so; das hat es immer gegeben.
Aber über die großen Grundfragen Europas, darüber, dass
wir diesen Kontinent, der als Friedenssicherungskraft in
der Welt wirkt, brauchen, gibt es im Ernst keinen Streit in
diesem Hause. Sie sollten daran mitwirken, dass dieser
Konsens aufrechterhalten bleibt, und sollten nicht eine andere Partei bzw. Fraktion ganz bewusst in die Ecke von
Antieuropäern und Euroskeptikern drücken. Das wird jedenfalls die CDU/CSU nicht zulassen.
({16})
Ich gebe das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph
Zöpel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es macht Sinn, nach dem Positiven einer
Debatte zu suchen. Ich tue das und komme zu folgender
Bewertung.
Eine sehr große Koalition, die 1925 mit dem Beschluss der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa in ihr Parteiprogramm zu schreiben, begonnen hat, die von der Partei Adenauers und Hallsteins aufgenommen wurde und in
die auch durch konzeptionelle Vorläufer aufseiten von Liberalen und Grünen, viel eingeflossen ist, wird dafür sorgen, dass Deutschland den Prozess hin zu weiterer effizienter europäischer Integration durchlaufen wird. Das ist
für mich die Summe dieser Debatte.
({0})
Es ist auf einige Punkte dieser Debatte einzugehen.
Beginnen möchte ich mit der Osterweiterung. Ich begrüße die klaren Aussagen von allen Fraktionen, dass sie
die Osterweiterung unterstützen. Ich akzeptiere auch das
Ergebnis einer Analyse öffentlicher Diskussionen, nachdem es Menschen gibt, die in dieser Hinsicht Befürchtungen haben. Nach meiner Auffassung hilft hier nur eines:
Aufklärung. Ich möchte ausdrücklich davor warnen, diese
Ängste - verbunden mit der Aussage, man spreche sie
nicht aus - aus parteipolitischen Gründen letztlich doch
zu schüren. Da ist große Zurückhaltung geboten.
({1})
Wenn jeder - auch Sie, Herr Kollege Glos - den Mut
hätte, sich davon zu distanzieren, wären wir weiter.
({2})
Es hilft nur Aufklärung, und zwar eine Aufklärung, die
sowohl in Deutschland wie in den Ländern, die beitreten
wollen, nicht zu Irritationen führt. Da macht es keinen
Sinn, ständig zu formulieren, man sei ja für die Erweiterung - aber die Türken! Das entspricht nicht den Fakten,
was die möglichen zeitlichen Abläufe angeht.
Ich habe das auch hier schon öfter gesagt, wiederhole
es aber immer wieder: Es gibt derzeit 370 Millionen EUBürger. Mit den Staaten, von denen ich glaube, bei ihnen
könnten unter demokratischen Verhältnissen integrationsorientierte Mehrheiten vorhanden sein, kämen
noch 130 Millionen Menschen hinzu. Schon diese Relation - 370 Millionen zu 130 Millionen - zeigt, dass die
Ängste übertrieben sind.
Diese 130 Millionen Menschen lassen sich - übrigens
in Übereinstimmung mit den politischen Repräsentanten
dieser Länder - in zeitliche Gruppen einteilen. Wenn die
EU aufnahmefähig ist, die entsprechenden Länder effizient verhandeln und die Verhandlungsergebnisse dann effizient in ihr eigenes Recht umsetzen, ist es bis zur Mitte
dieses Jahrzehnts möglich, dass 70 Millionen weitere
Menschen der EU angehören werden. Sie wohnen in zehn
Ländern, 38 Millionen in Polen, die anderen in Ländern
mit geringerer Einwohnerzahl. Das ist die erste Gruppe.
In Übereinstimmung mit diesen Ländern lässt sich artikulieren: In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts könnten Bulgarien und Rumänien so weit sein. Es bleibt offen,
wann nach der Beseitigung des Regimes von Milosevic
die anderen Staaten nordwestlich von Griechenland - es
macht manchmal Sinn, nicht von Osterweiterung, sondern aus griechischer Perspektive von Nordwesterweiterung zu sprechen - dazukommen können. Dass sie
es können, hat Kroatien bewiesen. Die radikale Veränderung der Politik, nach Wahlen eine vordemokratische
Rechtsregierung durch eine sozialliberale Regierung der
linken Mitte zu ersetzen, hat dort in historischen Dimensionen fast Wunder vollbracht. Das ist nach meiner Meinung auch in jedem anderen dieser Staaten möglich.
({3})
Ich mache eine Bemerkung, die auf Herrn Merz Bezug
nimmt. Ich glaube, es ist zumindest missverständlich, immer wieder zu artikulieren, bestimmte europäische Probleme ließen sich nicht mehr lösen, wenn 12 weitere Staaten dabei wären. Die finnische Präsidentschaft im vergangenen Jahr und die portugiesische Präsidentschaft, die
jetzt ausläuft, zeigen: Diese beiden nicht zu den Gründungsmitgliedern gehörenden relativ einwohnerschwachen Staaten haben mit ihrem Engagement, mit ihrer Integrationsfähigkeit und mit ihrer Führungsfähigkeit
während ihrer Präsidentschaft gezeigt, dass Überheblichkeit weder in Deutschland noch in Großbritannien, noch
in Frankreich, noch in Italien angebracht ist.
({4})
Beim Schritt in die Informationsgesellschaft ist der
Ehrgeiz, dass Europa die Vereinigten Staaten auf dem
Weg in die Wissensgesellschaft einholen sollte, nicht
durch Zufall, sondern auch aus historischen Gründen in
Portugal geboren worden. Die Verbindung von der Rolle
Portugals bei der Entdeckung weiter Teile dieser Welt im
16. Jahrhundert zu heute haben die Portugiesen ganz bewusst und in einer richtigen historischen Parallele aufgezeigt, in einer historischen Parallele, die in Deutschland
nicht so gesehen wird, weil wir zu jener Zeit keine ausreichende Zahl guter Seefahrer hatten. Aber das ist ja nicht
schlimm; man kann nicht alles haben.
({5})
Die Osterweiterung stelle ich an die erste Stelle. Wenn
Sie mich persönlich nach Visionen fragen, die mit Europa
verbunden sind, sage ich: Dass romanische Länder, germanische, angelsächsische und slawische Länder mit einigen Einsprengseln von Finnougriern, Illyrern und anderen alle Europäer werden, keinen Krieg mehr miteinander
führen, sich nicht umbringen
({6})
und dass dies bis zu dem Lebensende eines heute
56-Jährigen erreicht werden kann, das halte ich für die
größte Vision, die man haben kann. Ich bräuchte keine
weiteren.
({7})
Der zweite Punkt ist Frankreich. Es ist alles richtig:
Ohne Deutschland und Frankreich hätte das nicht geStaatsminister Dr. Christoph Zöpel
klappt. Herr Kinkel, Herr Hoyer, Sie werden mir da zustimmen: Es geht ja auch gar nicht anders, als dass
Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten. Ich mache einmal eine Bemerkung, die einige vielleicht unangemessen finden - aber oft ist die Wirklichkeit besser als die
Überhöhung -: Ohne dass Nordrhein-Westfalen und Bayern im Bundesrat zusammenarbeiten, geht es auch nicht egal, wer regiert.
({8})
- Das wird immer gemacht, egal, wer da regiert.
Aber die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist etwas davon Verschiedenes. Lassen Sie mich das
einmal wie folgt formulieren: Zu den besonderen Aspekten der deutsch-französischen Zusammenarbeit gehört
auch, die Luzidität von „cohabitation“, die ungemeine Effektivität von Koalitionsregierungen - übrigens in vier
verschiedenen Formen seit dem Elysee-Vertrag - zu erkennen. Dazu gehört auch das ungeheuer konstruktive
Element innerparteilichen Wettstreits in beiden Ländern.
Das alles sollte man würdigen, wenn man darüber spricht.
Wenn man das nicht ausreichend würdigt, dann eignet es
sich eher zu Leerformeln als zu konstruktiver Politik.
({9})
Die Praxis vollzieht sich nicht so, wie es Hintergrundinformanten der „Le Monde“ erzählen, wonach
zum Beispiel ich den Ehrgeiz hätte, mit meinem Kollegen Moscovici zu verkünden, wir seien weiter. Die Frage,
wie viele Stimmen Deutschland und Frankreich letztlich
im Rat haben werden, werden der französische Präsident
und der deutsche Bundeskanzler entscheiden. Das können Diplomaten nicht mehr aushandeln. Ich beziehe mich
jetzt auf die Haltung, die Sie, Herr Hoyer, dazu einnehmen. Das findet auf jener Ebene statt; das wissen Pierre
Moscovici und ich. Ich kenne überhaupt keinen Korrespondenten der „Le Monde“ und ich schließe mich dem
Dementi von Herrn Moscovici vollinhaltlich an. Das ist
auch ein Beispiel deutsch-französischer Verständigung.
Ich hoffe, Sie würdigen es.
({10})
Damit komme ich drittens zu Österreich. Lassen Sie
uns einmal über Österreich ganz konkret reden. In Österreich bildet eine Partei, die Mitglied der Europäischen
Volkspartei ist, ohne Not gegen den dringenden Ratschlag
des Bundespräsidenten eine Koalition mit einer Partei, die
keiner der europäischen Parteienzusammenschlüsse angehört - dank Graf Lambsdorff, Herr Kollege Hoyer.
({11})
- Wenn Sie sagen, dass es eine zwingende Notwendigkeit
gab,
({12})
diese Regierung zu bilden, sind Sie schlauer als der österreichische Bundespräsident. Ich wäre da etwas vorsichtig,
weil Sie sonst immer behaupten, das wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten.
({13})
- Es ist bemerkenswert. Herr Kollege Glos, Ihr Beitrag
zum deutsch-österreichischen Verhältnis ist: Es gehört
wenig dazu, schlauer zu sein als der österreichische Bundespräsident. - Halten wir das einmal fest.
({14})
Das ist Ihre Österreich-Freundlichkeit.
({15})
Das ist das erste Faktum.
Was passiert nun? Der konservative französische
Staatspräsident und der liberale belgische Außenminister
erheben den lautesten Protest.
({16})
- Wesentlich lauter.
Die anderen schließen sich an. Jetzt werden Sie möglicherweise gleich wieder laut werden. Ich sage Ihnen nämlich eines:
({17})
Kein deutscher Bundeskanzler und kein deutscher Außenminister, ganz gleich aus welcher der Parteien, die zu dieser ganz großen Europa-Koalition gehören, würden im
Konflikt mit dem französischen Präsidenten, dem britischen Premierminister und dem italienischen Ministerpräsidenten hier eine andere Haltung einnehmen.
Kein deutscher Bundeskanzler hätte das getan!
({18})
Sie wissen ganz genau, warum das kein deutscher Bundeskanzler getan hätte.
Nun kommen wir zum deutsch-französischen Verhältnis zurück. Wenn es zu irgendeinem Punkt nur eine ganz
kurze Diskussion in Rambouillet gab, dann durch den klaren Satz des französischen Präsidenten, über dieses
Thema könne man mit ihm nicht reden. Aber ich nehme
zur Kenntnis, dass Sie in diesem Fall möglicherweise die
Gefährdung des deutsch-französischen Verhältnisses in
Kauf genommen hätten. Das sollten wir registrieren.
({19})
- Ich wäre gespannt, wie irgendein Kanzler Ihrer Partei,
und sei es der verdiente Europäer Helmut Kohl, reagiert
hätte, wenn er dort gesessen hätte.
({20})
Stellen Sie sich doch einmal solche Szenarien vor!
Jetzt ist dort einiges erreicht. In Österreich finden Diskussionen statt, die sich mit der Vergangenheit dieses
Landes vor 1945 beschäftigen. Es gibt manche Diskussionen, die dort nachgeholt werden müssen, weil sie bisher nicht so intensiv geführt wurden. Es gibt eine
Orientierung in der derzeitigen Regierung, Fehler nicht zu
machen, für die Haider stehen könnte. Es gibt Überlegungen bei den Oppositionsparteien. Es gibt Kontakte von
Regierungen zu österreichischen Politikern, vor allem
von solchen Regierungen, die stark dagegen waren, mit
der Opposition zu sprechen. Zum Beispiel spricht Herr
Michel mit der SPÖ. Ich halte jeden Beitrag, zu überlegen,
unter welchen Umständen wir wieder zu einer Normalisierung dieser europäischen Innenpolitik im Hinblick auf
Österreich kommen können, für richtig, auch Ihren Beitrag, Herr Kollege Pflüger, den Sie an Herrn Minister
Fischer geschickt haben. Aber die Ausgangssituation war
nicht anders möglich. Das, womit wir alle Schwierigkeiten haben, ist ja etwas Besonderes: Hier findet bereits europäische Innenpolitik statt, aber noch mit Mitteln der Diplomatie.
({21})
Das führt allerdings manchmal zu ironischen Arabesken.
Lassen sie mich eines festhalten - ich wiederhole es -:
Kein deutscher Bundeskanzler könnte, wenn nicht Frankreich, England oder Italien vorangingen, diese Haltung
ändern. Malen Sie sich die Diskussion in den Vereinigten
Staaten, in Kanada und in anderen Teilen der Welt aus.
Kein deutscher Bundeskanzler könnte Deutschland einen
solchen Schaden zufügen.
({22})
Damit bin ich viertens bei dem, was jetzt in der Europäischen Union praktisch vorangehen wird. Es ist sehr interessant, zwischen den Ratschlägen, was formal zu tun
ist, und den Inhalten eine gewisse Verbindung herzustellen. Die Ratschläge lauten vor allem: immer mit Frankreich und, Herr Kollege Hoyer, besser mit den kleinen
Ländern. Was dieses „immer mit Frankreich und gleichzeitig besser mit den kleinen Ländern“
({23})
bedeutet, male ich mir jetzt einmal aus. Dazu nehme ich
die deutsche Wunschposition bezüglich der `leftovers`.
Die deutsche Wunschposition muss sein: möglichst dicht
an der Proportionalität in Bezug auf die Bevölkerung.
Stellen Sie sich dann einmal den Dialog mit Luxemburg
und Dänemark vor. Die deutsche Position kann locker besagen, dass nicht jedes Land einen Kommissar stellt. Aber
auf jeden Fall - anderenfalls gäbe es einen riesigen Konflikt - muss Frankreich einen Kommissar stellen; selbst
dann, wenn wir den Mut hätten, nein zu sagen. Bei der
qualifizierten Mehrheit sind wir am weitesten von allen.
Sie können mit jedem anderen Land sprechen; wir sind
am weitesten. Es kann also nur wohlfeil sein - Sie haben
es nicht so gemeint -, diese beiden abstrakten Ziele, immer mit Frankreich und immer mit den Kleinen, mit den
deutschen Maximalvorstellungen zu verbinden; das geht
nicht.
({24})
- Das ist unstreitig, Herr Kollege. Was meinen Sie, warum
ich außer Frankreich jetzt die Kleinen erwähne? Sie wissen doch, wo der Beton ist. Das haben Sie doch gesagt; an
der Stelle fühlte ich mich Ihnen sehr verbunden.
Jetzt zu den Themen, die Sie, Herr Kollege Merz, hier ich füge hinzu: zu Recht - angesprochen haben: Die
Klärung der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten ist ein Interesse
der Mitgliedstaaten und vor allem ein Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Das ist ganz unstreitig. Man
kann sich viele Gedanken darüber machen, warum das
überwiegend die Länder anstoßen mussten, da es ja keine
Beziehungen der Länder zur EU gibt. Die Beziehungen
der Länder zur EU sind Aufgabe des Bundes. Die Kompetenzen des Bundesstaats, die in der deutschen Föderation dann sinnvoll im Verfassungsrecht formuliert werden
können, muss der Bund nach außen vertreten; das stelle
ich ausdrücklich fest.
Damit kein falscher Eindruck entsteht, füge ich hinzu:
Die Bundesregierung hat sich nicht darauf festgelegt, irgendetwas unter bestimmten Umständen nicht zu erörtern. Andererseits: Wer jemals an solchen Verhandlungen
teilgenommen hat - Herr Kollege Hoyer, Sie werden mir
das zugestehen -, weiß, das alles dauert seine Zeit. Für
mich ist erstaunlich, dass allein die Begrifflichkeit oft
nicht einmal multisprachlich ausgetauscht werden kann.
Wenn wir dazu kommen - der Bund hat darüber die
Diskussion mit den Ländern begonnen -, konkret darüber
zu sprechen, wo die Kompetenzabgrenzungen liegen dazu gibt es keine Dossiers aus Betongründen, Herr Kollege Hoyer, wir haben keine vorgefunden -, werden wir in
den nächsten Monaten exakt wissen, wie die Position jener großen Koalition dieses Hauses und die der Länder ist
und mit welchen vertragsartikelbezogenen Folgerungen
wir in die Diskussion eintreten werden. Wenn wir in
Nizza den Auftrag bekämen, daran weiterzuarbeiten, hätten wir erst einmal hier in Deutschland einen großen Fortschritt erreicht. Für die nicht vorhandenen Dossiers im
September 1998 ist nicht die derzeitige Regierung verantwortlich, das darf ich sagen.
({25})
Ich lade Sie dazu ein. So intensiv, wie ich das mit den
Ländern diskutiere, würde ich das auch gern mit Ihnen
tun. Ihre Ankündigung, es sei Ihnen ein echtes Anliegen wir teilen das -, kann sich darin konkretisieren, dass wir
uns vielleicht im September wiedertreffen und gemeinStaatsminister Dr. Christoph Zöpel
sam genau wissen, was wir darüber, wo die Kompetenzabgrenzungen sein sollen, genau zu besprechen haben.
Herzlichen Dank.
({26})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3377, 14/3187 und 14/3514 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie
die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 14/3459 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzes und des
Chemikaliengesetzes
- Drucksache 14/3491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Keine Lieferung von Panzern und anderen
Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei
- Drucksache 14/3004 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung
der Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe
- Drucksache 14/2424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Margareta Wolf ({5}), Volker Beck
({6}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung
- Drucksache 14/3509 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechte-Charta
- Drucksache 14/3513 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({8})
Petitionsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Das Einverständnis ist hergestellt. Dann ist
so beschlossen.
Wir kommen nun zur Behandlung einer Reihe von
Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für
bestimmte gefährliche Chemikalien sowie
Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel vom 10. September 1998
- Drucksache 14/2919 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
- Drucksache 14/3400 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek ({11})
Franz Obermeier
Winfried Hermann
Ulrike Flach
Eva-Maria Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/3400, dem Gesetzentwurf unverändert zuzustimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstvertrauensmann-Gesetzes ({12})
- Drucksache 14/2698 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({14})
- Drucksache 14/3524 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Dzewas
Christian Simmert
Thomas Dörflinger
Klaus Haupt
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache 14/3524, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist auch in der dritten Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Melderechtsrahmengesetzes
({15})
- Drucksache 14/2577 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({17})
- Drucksache 14/3473 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Beatrix Philipp
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die
Stimmen von F.D.P. und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist
mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({18}) zu
dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
Rechnungslegung über das Sondervermögen
des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des
Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr
- Drucksachen 14/2484, 14/3344 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Hampel
Dankward Buwitt
Antje Hermenau
Dr. Christa Luft
Der Ausschuss empfiehlt, Entlastung zu erteilen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung des Berichts des Ausschusses für die
Angelegenheiten der Europäischen Union
({19}) gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft und Betrugsbekämpfung - Jahresbericht 1998
- Drucksachen 14/3428 Nr. 3.1, 14/3474 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({20})
Peter Altmaier
Claudia Roth ({21})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Manfred Müller ({22})
Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis
genommen haben.
Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
- Drucksache 14/3403 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 162 zu Petitionen
- Drucksache 14/3404 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 162 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
- Drucksache 14/3405 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 164 zu Petitionen
- Drucksache 14/3406 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 164 ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 165 zu Petitionen
- Drucksache 14/3407 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 165 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 166 zu Petitionen
- Drucksache 14/3408 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 166 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom
10. Juni 1999 zu erweitern und darüber jetzt zu beraten Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich rufe damit auf:
ZP 9 Beratung des Antrages der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes
für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für
das Kosovo auf der Grundlage der Resolution
1244 ({29}) des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen vom 10. Juni 1999
- Drucksache 14/3454 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({30})
- Drucksache 14/3550 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor. Über den Antrag der Bundesregierung werden
wir nach der Aussprache namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir vor einem Jahr hier in diesem Hause beschlossen haben, dass
sich die Bundeswehr am Einsatz von KFOR im Kosovo
beteiligt,
({0})
haben wir auch beschlossen, dass der Deutsche Bundestag nach einem Jahr damit wieder befasst werden soll. Insofern müssen wir heute, obwohl dieser Einsatz nach wie
vor notwendig ist und vermutlich auch über einen längeren Zeitraum notwendig sein wird, eine erneute konstitutive Beschlussfassung des Deutschen Bundestags herbeiführen. Ich bitte Sie daher um eine möglichst breite
Vizepräsident Rudolf Seiters
Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für die
Bundeswehr im Kosovo.
({1})
Seit einem Jahr leisten deutsche Soldaten dort als Teil
von KFOR einen außerordentlich professionellen und international anerkannten Beitrag zur Wiederherstellung
von Frieden und Sicherheit im Kosovo. Vieles ist in diesem Jahr erreicht worden: Rückkehr der Vertriebenen,
Versorgung über den Winter, internationale Polizeipräsenz, Beginn einer kommunalen Selbstverwaltung, Vorbereitung der Wahlen. Die Mission der Vereinten Nationen UNMIK arbeitet engagiert am Aufbau einer neuen,
rechtsstaatlichen Verwaltung. Der schrittweise Aufbau
demokratischer und pluralistischer Strukturen wird mit
den geplanten Kommunalwahlen im Herbst einen großen
Schritt vorankommen.
Auf der anderen Seite sind gleichzeitig die Defizite
unübersehbar: Die Sicherheitslage hat sich zwar gebessert, bleibt aber unbefriedigend. Die internationale Gemeinschaft muss deshalb klarstellen, dass alle, die vertrieben wurden, zurückkehren und im Kosovo in Sicherheit und Frieden leben können, wie es die Resolution 1244
fordert. Dies wird angesichts des nach wie vor bestehenden Hasses zwischen Albanern und Serben im Kosovo
Zeit und kontinuierliche Anstrengungen brauchen. Die internationale Staatengemeinschaft, auch die Bundesregierung, ist allerdings entschlossen, dies durchzusetzen.
Entscheidend für eine langfristige Lösung sind die
Prinzipien der Gewaltfreiheit, der Achtung der Grenzen und der Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Nur auf dem Boden dieser Prinzipien kann
über eine regionale Sicherheitsstruktur eine nachhaltige
Stabilisierung der Region gelingen, die den Dreh- und Angelpunkt Mazedonien ebenso einschließt wie die Lösung
der Statusfrage für den Kosovo.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist der Einsatz von
KFOR auch künftig unverzichtbar. - Man muss sich nur
einmal vorstellen, was geschähe, wenn KFOR abgezogen
würde, um sich die Entscheidungsalternative sehr konkret
vor Augen zu führen. - Er ist die Voraussetzung für die
Umsetzung der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen, für eine erfolgreiche Arbeit von
UNMIK, für eine erfolgreiche Arbeit der deutschen Polizisten und Wiederaufbauhelfer. Allen Soldaten, den Polizisten und den Wiederaufbauhelfern möchte ich hier namens der Bundesregierung recht herzlich für das Geleistete danken.
({2})
Es ist erstaunlich - ich habe heute mit Tom Koenigs darüber gesprochen -, wie viele Deutsche dort mittlerweile
auf der kommunalen Ebene, etwa beim Aufbau der kommunalen Verwaltung, engagiert tätig sind. Viele haben
sich bei UNMIK gemeldet, haben Aufgaben im zivilen
Bereich übernommen und helfen mit, kommunale
Verwaltungsstrukturen aufzubauen.
Bei allen Schwierigkeiten: Dies ist, finde ich, ein hervorragendes Engagement, das mich freut und das auch
zeigt, dass ein umfassendes Krisenmanagement für den
Zusammenhang zwischen militärischem und zivilem Einsatz, für den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat unverzichtbar ist. Dieser Einsatz ist auch Voraussetzung für
den Erfolg des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, der
umfassenden Antwort Europas auf die Krisen und Kriege
in dieser Region.
Die Frage nach der Zukunft von KFOR kann nicht
isoliert beantwortet werden. Die Dauer des deutschen militärischen und zivilen Engagements wird entscheidend
vom erfolgreichen Verlauf des Stabilisierungs- und
Demokratisierungsprozesses bestimmt. Das ist im Fall
Bosnien so, das ist im Fall Kosovo nicht anders.
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist auf der einen Seite richtig, an dem Parlamentsvorbehalt festzuhalten. Auf der anderen Seite müssen wir aber alle gemeinsam klarmachen, dass dies nicht sozusagen eine zeitliche Befristung dieses Einsatzes bedeutet; denn damit
würden wir ein Signal setzen, das zu völlig falschen Interpretationen Anlass geben würde. Es sollte klar sein,
dass wir uns der Durchsetzung der Resolution 1244, also
der Wiederherstellung von Frieden, von Demokratie und
dem Aufbau in der Region, so lange verpflichtet fühlen,
wie dies im Interesse Europas, aber auch der betroffenen
Menschen notwendig ist.
({3})
Deshalb hat die Bundesregierung den Antrag auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an KFOR eng an die
SFOR-Regelung für Bosnien angelehnt. Wir wollen hier
keine unterschiedlichen Mandate für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten haben. Wir sehen hier den Gesamtzusammenhang in der Region, um eine solide und
auch länger tragende Grundlage für die Entsendung deutscher Streitkräfte zu haben.
Die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages ist demnach ebenso Voraussetzung für den Einsatz
wie ein Mandat des VN-Sicherheitsrates und ein entsprechender Beschluss des NATO-Rates. Die zuständigen
Ausschüsse werden - wie bisher - auch künftig regelmäßig unterrichtet, der Bundestag - dies sagt die Bundesregierung hier zu - wird alle zwölf Monate befasst. Wir
haben uns in Gesprächen mit den Fraktionen darauf geeinigt, dass dies als konstitutive Befassung erfolgen wird,
wenn eine Fraktion dies wünscht.
Entscheidend ist: Das Ziel eines friedlichen und demokratischen Kosovo braucht eine engagierte deutsche Unterstützung und einen langen Atem. Die Soldaten der Bundeswehr leisten ebenso wie ihre Verbündeten und Partner
eine hervorragende Arbeit. Wir haben in der Vergangenheit kontinuierlich darüber diskutiert und werden dies hoffentlich - auch in Zukunft tun.
Lassen Sie mich, Herr Kollege Lamers, zum Schluss
meiner Rede noch kurz auf den Vorwurf der „unziemlichen Eile“ eingehen: Ich kann mich angesichts der Bedeutung dieser Mission für die eingesetzten Soldatinnen
und Soldaten - Gott sei Dank - an kein Thema erinnern,
das wir in einer solchen Dichte im vergangenen Jahr diskutiert haben. Das war gut so. Ich kann mich an kein
Thema erinnern, bei dem es so zahlreiche Unterrichtungsreisen auch der Opposition dieses Hauses sowie eine
derart kontinuierliche Präsenz sowohl des Bundesverteidigungsministers als auch meinerseits gegeben hat. Wenn
Sie ehrlich sind: Es gibt in der aktuellen Debatte keinen
substanziellen Unterrichtungsbedarf, der etwas anderes
mit sich brächte als die Notwendigkeit der erneuten konstitutionellen Befassung.
Die Substanzdiskussion wird in Kontinuität geführt,
und es findet eine entsprechende Überwachung durch das
Parlament und dessen Ausschüsse statt. Wir sind hier in
einer kontinuierlichen Debatte und insofern glaube ich,
dass keine Frage so kontinuierlich und so gut - bis auf wenige Ausnahmen im Konsens - diskutiert worden ist wie
die Frage des Kosovo-Einsatzes. Deshalb sehe ich hier
keine unziemliche Eile, zumal es, Herr Kollege Lamers,
zu verhindern galt, dass uns der Vorwurf gemacht wird, einen Vorratsbeschluss gefasst zu haben.
Wir sind alles in allem zu der SFOR-Formel zurückgekehrt und sowohl Herr Kollege Scharping als auch ich haben gegenüber der Opposition in den Ausschüssen und
jetzt auch hier im Plenum eine klare Zusage gegeben. Ich
denke, dies ist eine gute Grundlage für einen breiten Konsens zur Unterstützung der Bundeswehr und zur Verlängerung ihres Einsatzes im Kosovo.
Ich darf mich bedanken.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Karl Lamers.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird
dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, und zwar
aus Verantwortung für den Frieden im Kosovo, für die Region, für die betroffenen Menschen und für unsere Soldaten. Aber, Herr Minister, Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung hat uns diese Zustimmung wirklich sehr
schwer gemacht.
Herr Minister, ich habe nie von unziemlicher Eile gesprochen. Das ist nicht der Punkt, auf den es ankommt.
Ich habe vielmehr gesagt - und das lässt sich nicht bestreiten - dass Sie den Antrag zur Verlängerung des Mandats in letzter Minute gestellt haben. Deshalb waren wir
gezwungen, mit verkürzten Fristen zu arbeiten. Dies, so
finde ich, geht in der Tat nicht, weil es mindestens den
Eindruck der Brüskierung des Parlaments erweckt. Sie
sind offensichtlich davon ausgegangen, dass die Zustimmung des Deutschen Bundestages ganz selbstverständlich
sei. So kann man angesichts der Bedeutung dieses Themas nicht vorgehen.
Außerdem gab es - dieser Vorwurf ist geradezu aktenkundig - zahlreiche Unklarheiten im Text, welche die
Dauer des Mandats und seine Finanzierung betrafen. Ich
habe Sie bereits vor zehn Tagen darauf aufmerksam gemacht und trotzdem ist keine Klärung vorgenommen worden. Dies ist die Folge des Umstandes, dass es keine vorherigen Konsultationen der Fraktionen gegeben hat, wie
das früher immer der Fall war.
({0})
Wenn man eine Zustimmung des ganzen Hauses will - das
wollen Sie Gott sei Dank und das müssen Sie in dieser
Frage auch wollen -, muss man vorher mit den Fraktionen reden. Das haben Sie nicht getan. Die Folge war eine
öffentliche Debatte, die im außenpolitischen Interesse zu
vermeiden gewesen wäre. Diese Debatte hat schlussendlich erst gestern Abend zu den gewünschten Klarheiten
geführt, die es uns erlauben zuzustimmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, jedermann weiß:
Das Ziel unserer Bemühungen war die Begrenzung des
Mandats auf ein Jahr, nicht eine Beendigung unserer Präsenz, unseres Engagements nach einem Jahr. Eine
Begrenzung in diesem Sinne wollten wir, weil nach unserer Überzeugung Art und Umfang unseres deutschen Engagements im Kosovo einer jährlichen Befassung
einschließlich einer Entscheidung des Deutschen Bundestages und damit einer Rechtfertigung vor dem deutschen
Bürger bedarf. In diesem Sinne kündige ich schon heute
an, dass wir den Wunsch, von dem Sie, Herr Minister, vorhin gesprochen haben, nach einer konstitutiven Befassung des Bundestages im Frühsommer nächsten Jahres
äußern werden.
({1})
Durch eine solche Befassung drücken wir unser Engagement und unsere Verantwortung gegenüber der Staatengemeinschaft, für den Frieden und für die Menschen
im Kosovo viel angemessener aus als durch die Erteilung
eines Blankoschecks an die Regierung. Nicht zuletzt
drücken wir auf diese Weise am besten unsere Verantwortung gegenüber unseren Soldaten aus, die dort in wirklich
beispielhafter Weise das deutsche Interesse an Frieden
auch in diesem Teil unseres Kontinents vertreten.
({2})
Ich danke ihnen namens meiner Fraktion. Ich danke ihren
Angehörigen, den Zivilbediensteten, den Mitgliedern der
Nichtregierungsorganisationen. Sie alle leisten eine vorzügliche und nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit.
Herr Minister, Herr Bundeskanzler - ich sage das ohne
jedwede Polemik, sondern aus einer großen Sorge, was
die verfassungsrechtliche und die verfassungspolitische
Entwicklung in unserem Lande angeht -: Eine Begrenzung des Mandats, wie wir es gefordert haben, wäre verfassungspolitisch und verfassungsrechtlich die richtige
Lösung gewesen, weil dadurch die Balance zwischen den
Rechten des Parlaments und denen der Regierung besser
als durch die jetzt gefundene Lösung gewahrt worden
wäre, konkret: die Balance zwischen dem Recht des Deutschen Bundestages zur Mandatserteilung und der Ausführung desselben durch die Bundesregierung. So aber ist
eine verfassungsrechtliche Grauzone entstanden, von der
ich nicht weiß, ob die Bundesregierung sie gewollt hat
oder ob sie in sie hineingestolpert ist. Ich fürchte, das
Letztere ist der Fall. Nach meiner Überzeugung hat die
Bundesregierung mit ihrem Antrag gegen ihr eigenes institutionelles Interesse verstoßen.
Schließlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wollten wir eine Begrenzung des Mandats, um damit ein politisches Signal zu geben. Die Lage im Kosovo ist alles andere als erfreulich. So vorzüglich die KFOR-Soldaten ihre
Aufgaben auch erfüllen, sie können den Konflikt nicht lösen. Sie können nur die Voraussetzungen dafür schaffen,
indem sie Gewalt unterbinden und insofern - aber leider
nur insofern - den Frieden sichern. Doch dauerhafter
Friede, sich selbst tragender, stabiler Friede ist natürlich
nur durch eine politische Lösung möglich. Die Fortschritte auf diesem Felde sind mehr als bescheiden. Sie
haben bezeichnenderweise ja auch nicht davon gesprochen, Herr Minister. Schneller wird es nur gehen, relativ
schneller - um kein Missverständnis aufkommen zu lassen -, wenn klarere und realistischere Vorstellungen von
der endgültigen politischen Lösung nicht nur im Kosovo,
sondern in der gesamten Region entwickelt werden. Wir
haben uns schon in der letzten Debatte über dieses Thema
nachdrücklich geäußert: dass wir von der Bundesregierung erwarten - ich wiederhole das heute -, dass sie ihre
Anstrengungen auf diesem Felde intensiviert. Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die nur mit großer Mühe
abgewendete Entschließung im amerikanischen Kongress, das amerikanische Engagement nach dem 1. Juli
nächsten Jahres zu beenden, sollte uns allen ein Warnzeichen sein. Wir sollten vereint versuchen, die politische
Lösung im Kosovo und auf dem gesamten Balkan voranzutreiben. Dabei haben Sie unsere volle Unterstützung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich gebe das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir alle sollten darauf achten, dass wir uns im Deutschen
Bundestag weder von der Realität noch von gemeinsamen
Einschätzungen entfernen.
Ich komme gerade von einer Sitzung des NATO-Rates
zurück, auf der die Situation im Kosovo intensiv erörtert
wurde. Dort ist berichtet worden, dass alle 840 000
Flüchtlinge aus Albanien und Mazedonien zurückgekehrt
sind, auch die 550 000 intern Vertriebenen, also insgesamt
fast 1,4 Millionen Menschen.
Dort ist berichtet worden, dass die Mordrate, die am
Beginn des Mandats bei 50 Morden pro Woche gelegen
hat, auf 7 Morde pro Woche zurückgegangen ist. Damit
liegt sie unter dem Durchschnitt mancher europäischen
Großstadt.
Dort ist berichtet worden, dass 3 800 Handfeuerwaffen
und 8 500 schwerere Waffen eingesammelt worden sind,
dass das Kosovo Protection Corps mit einer Stärke von
3 000 Soldaten im Aufbau ist und dass zurzeit an der gemeinsamen Polizeiakademie ein Lehrgang mit 230 Bewerbern beginnt, darunter zwar ein kleiner, aber beachtlicher Teil aus der serbischen Minderheit des Kosovo.
Dort ist berichtet worden, dass zu Beginn des Mandats
200 000 Häuser zerstört gewesen sind, dass mittlerweile
Zehntausende Häuser aufgebaut worden sind, dass mittlerweile alle Häuser ebenso wie 1 165 Schulen auf Minen
durchsucht und von ihnen befreit worden sind, dass alle
Kinder aus dem Kosovo im Oktober wieder in die Schule
gehen werden, dass die Brücken in Wiederaufbau sind,
dass 2 000 Kilometer Straße von Minen befreit worden
sind und dass 200 Kilometer Straße wieder hergestellt
worden sind.
Dort ist berichtet worden, dass 300 000 Kinder wieder
in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden und dass
mittlerweile über 20 000 Kinder bei der Entdeckung von
Minen mithelfen. Es ist berichtet worden, dass in den
KFOR-Lazaretten 50 000 zivile Patienten behandelt worden sind, dass mittlerweile 2 960 internationale Polizisten
im Kosovo sind, dass 234 Richter und 42 Staatsanwälte
ihre Arbeit aufgenommen haben, darunter auch Serben,
Türken und Muslime. Es ist auch berichtet worden, was
im Einzelnen zum Schutz der serbischen Minderheit unternommen wird.
Warum zähle ich Ihnen das alles auf? Verehrter Herr
Kollege Lamers, wir sollten diese Leistungen zur Kenntnis nehmen. Zwar haben wir längst noch nicht alle Ziele
erreicht, die wir erreichen müssen. Aber das darf nicht zu
der eigenartigen Einschätzung führen, es gebe überhaupt
keinen Fortschritt. Das ist einfach falsch.
({0})
Die Aufforderung, die Sie an die Bundesregierung gerichtet haben, mag aus innenpolitischen oder innerparteilichen Gründen - in diesem Fall aus Gründen, die in der
CDU liegen - noch einigermaßen nachvollziehbar sein.
Aber Sie müssen wissen, dass Sie sich damit weit von der
zukünftigen gemeinsamen Aufgabe, der gemeinsamen
Einschätzung und dem gemeinsamen Willen entfernen.
Ich sage Ihnen das in aller Ruhe.
({1})
- Nein, hier geht es nicht um irgendein Showgefecht; vielmehr geht es darum, dass wir im Verlauf eines guten Jahres auf einem ungewöhnlich schwierigen Weg Fortschritte gemacht haben - dazu gehört auch, dass im Oktober Wahlen im Kosovo stattfinden werden - , die man
genauso registrieren muss wie die Tatsache, dass noch
längst nicht alle Ziele erreicht sind und dass der Weg unverändert schwierig ist. Aber beides gehört zusammen.
Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich mit einigem Erstaunen die kunstvollen Bemühungen im Zusammenhang mit
der Erteilung des Mandates registriert habe. Mir kommt
das so vor, als werde der Versuch gemacht - da man sich
in der Sache einig ist - , wenigstens irgendeinen Punkt zu
finden, an dem man Uneinigkeit konstruieren kann. Das
ist der Sache völlig unangemessen.
Die Formel, die die Bundesregierung für die Erteilung
des Mandates vorgeschlagen hat, ist exakt jene, die die
frühere Bundesregierung zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem SFOR-Mandat 1995, nach dem Dayton
Peace Agreement, vorgeschlagen hat.
({2})
- Entschuldigung, es ist exakt dieselbe Formel. - Jetzt sagen Sie: Das geht aber nicht, weil die Situation im Kosovo
ganz anders ist. Wissen Sie noch, was ein Jahr nach Beginn des Mandates in Bosnien los war? Ist Ihnen im Gedächtnis, dass Brcko heute noch immer ein Punkt ist, an
dem sich große Schwierigkeiten entzünden? Wissen Sie,
wann dort die ersten kommunalen Wahlen stattgefunden
haben? Wissen Sie, welche Schwierigkeiten dort in den
ersten 12, 18, 24 Monaten bestanden haben? Der einzige
substanzielle Unterschied zwischen dem 1995 für Bosnien erteilten Mandat und dem heute zu erteilenden Mandat ist, dass Sie damals Regierungsfraktion waren und
heute Oppositionsfraktion sind; deswegen haben Sie Ihre
Haltung geändert.
({3})
Vor diesem Hintergrund sollten wir uns auf die wirklich wesentlichen Dinge konzentrieren. Gewisse innere
Schwierigkeiten in der Union sind in diesem Zusammenhang absolut unwesentlich. Daher bin ich froh darüber,
dass wir mit unserem Entgegenkommen, das Sie so nutzen werden, wie Sie glauben, dass es richtig ist, eine
Brücke gebaut haben, um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen. Das hat der Wiederaufbauprozess im Kosovo verdient. Das haben die sehr vielen Menschen verdient, die im Kosovo als Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen eine ganz unverzichtbare Arbeit für
den Frieden leisten. Das haben übrigens auch die Soldaten verdient, die mit einem wirklich großartigen Engagement dazu beitragen, dass nicht nur die Sicherheit in einem eher traditionellen Sinne hergestellt wird, sondern
dass auch die Voraussetzungen für einen zivilen Wiederaufbau und die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft gewährleistet werden können. Wie auch immer Einigkeit im
Deutschen Bundestag erzielt wird: Ich glaube, für diese
Menschen ist es wichtig, sich der breiten Unterstützung
des Deutschen Bundestages sicher zu sein.
Ich greife auf eine Bemerkung zurück, die ich vor fast
genau einem Jahr in diesem Hause gemacht habe. Damals
habe ich die Sorge ausgedrückt, dass die Schrecklichkeiten und das Spektakuläre des Krieges viel mehr Aufmerksamkeit beanspruchen als das zähe, geduldige, aber
völlig unverzichtbare Entwickeln ziviler, friedlicher Verhältnisse im Interesse der Menschen. Ich fühle mich in
dieser Sorge leider bestätigt. Damit meine ich nicht den
Deutschen Bundestag oder die Bundesregierung, die den
Deutschen Bundestag allein in diesem Jahr 22-mal über
die Lage im Kosovo und über die Entwicklung auf dem
Balkan informiert hat. Ich meine auch nicht die vielen Debatten beispielsweise im Verteidigungsausschuss, die ja
sehr intensiv und Gott sei dank fast immer einvernehmlich waren. Das alles meine ich nicht.
Ich glaube, dass mit der Art von Debatte, wie sie in der
Zeit zwischen dem 5. Juni und dem heutigen Tag entstanden ist, eher eine Tendenz gefördert wird, die die Aufmerksamkeit weiter reduzieren könnte, weil sich die Menschen natürlich fragen: Wenn man sich über die Notwendigkeit und die Dauer des Engagements - es wird längere
Zeit in Anspruch nehmen -, über die Schwierigkeiten und
wie man ihnen zu begegnen hat, einig ist, warum entfaltet
man dann einen so eigenartigen Streit? Diese Frage ist leider nicht von der Hand zu weisen.
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass dieser
Gegensatz nun von einer breiten Mehrheit des Deutschen
Bundestages überwunden wird. Es bleibt bei unserem
festen Willen, so wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben: Der Bundestag wird regelmäßig - nicht nur
schriftlich - informiert. Es ist das selbstverständliche Interesse der Bundesregierung, über jede substanzielle Veränderung der Lage - führe sie zum Guten oder, hoffentlich nicht, zum Schlechteren - im Deutschen Bundestag
zu debattieren und im Übrigen dafür zu sorgen, dass der
Bundestag die Politik der Bundesregierung, wenn es irgend geht, möglichst weitgehend unterstützt.
Ich will noch eine kleine Bemerkung machen: Sie müssen ein bisschen aufpassen. Man hat Ihnen in einer anderen Sache vorbereitende Gespräche angeboten, die Sie
schriftlich abgelehnt haben.
({4})
- Das hat mit „gönnerhaft“ nichts zu tun, sondern das hat
einfach nur mit dem Willen zu tun, Entscheidungen zu
erörtern, bevor man sie trifft, um auf neue Anregungen
oder Ideen eingehen zu können.
({5})
Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich es ausdrücklich
begrüße, dass der Deutsche Bundestag jetzt auch mit der
Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion das unterstützt, was
die Soldaten, was die Nichtregierungsorganisationen, was
viele andere im Kosovo leisten, um den Menschen dort
dauerhaft eine friedliche Perspektive zu geben. Sie wird
nicht in einem Jahr und auch nicht in zwei oder drei Jahren aufgebaut werden können. Da sollten wir uns nichts
vormachen. Es ist eine allenfalls naive Erwartung zu glauben, dass man in einem Jahr oder in zwei bis drei Jahren
das überwinden könnte, was sich zum Teil über Jahrzehnte an Hass aufgestaut und in einer schrecklichen Situation dann zulasten des Lebens vieler Menschen entladen hat.
({6})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Angela Merkel.
Herr Bundesverteidigungsminister, ich möchte, weil Sie hier wirklich nicht
die Wahrheit gesagt haben, die Gelegenheit nutzen, Sie
daran zu erinnern, dass Sie dem Fraktionsvorsitzenden
der CDU/CSU-Fraktion und mir auf einem gemeinsamen
Briefbogen eine Einladung geschickt haben, um uns über
Ihre Pläne zur Zukunft der Bundeswehr zu informieren. Der Termin, den Sie ins Auge gefasst hatten, lag etwa
vier bis fünf Tage vor der Übergabe des Berichts der
Wehrstrukturkommission unter der Leitung des früheren
Bundespräsidenten von Weizsäcker.
Wir haben Ihnen damals zurückgeschrieben, dass wir
es nicht richtig finden, uns über Ihre Pläne und Auffassungen zu einem Zeitpunkt informieren zu lassen, zu dem
der Bericht der Wehrstrukturkommission noch nicht übergeben war, und dass wir bereit sind, mit Ihnen über Ihre
Pläne zu sprechen, wenn Sie sich ein Urteil über die Ergebnisse der von Ihnen eingesetzten Kommission gebildet haben.
Ich habe das logisch gefunden. Ich vermute einmal,
dass die Mehrheit aller unbefangenen Beobachter es auch
logisch findet, dass sich ein Bundesminister, wenn er eine
Kommission einsetzt, erst das Ergebnis der Kommission
anschaut, sich anschließend eine Meinung bildet und sich
erst dann eine längere öffentliche Debatte anschließt. In
diesem Zusammenhang wären wir dankbar gewesen,
wenn Sie auch uns über Ihre Pläne, über Ihre Haltungen
informiert hätten.
({0})
In einem Telefonat mit Ihrem damaligen Generalinspekteur habe ich diese unsere Haltung noch einmal zum
Ausdruck gebracht. Wir haben gesagt - wir haben es Ihnen auch schriftlich gegeben - , wir sind bereit, uns nach
der Übergabe der Kommissionsergebnisse informieren zu
lassen. Wir waren zu diesem Gespräch da.
Ich sage Ihnen - auch aus Erfahrung mit Ihren Kollegen - , ich sage es dem Bundeskanzler:
({1})
Wenn Sie möchten, dass es einen vernünftigen Umgang
zwischen Bundesregierung und Opposition gibt, dann
bitte ich Sie eindringlich, in der Öffentlichkeit das zu berichten, was wirklich stattgefunden hat, und nicht Dinge,
die man miteinander besprochen hat, halbfalsch oder andeutungsweise zu zitieren. - Das bezieht sich jetzt nicht
auf Sie, Herr Scharping. - Das ist essenziell für bestimmte
Bereiche, in denen wir Kooperation brauchen.
({2})
Ich sage Ihnen: Es wird immer wieder Situationen geben,
in denen die Gesamtheit des Parlaments gebraucht wird.
Deshalb bitte ich eindringlich: Verfahren Sie nicht so,
dass Sie Halbwahrheiten verbreiten. Dies war eine Halbwahrheit, Herr Scharping.
({3})
Zur Erwiderung gebe
ich das Wort dem Bundesverteidigungsminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin
Merkel, ich hatte Ihnen den Brief in der Absicht geschrieben, Überlegungen im Zusammenhang mit der Reform
der Bundeswehr mit Ihnen zu erörtern. Ich dachte, das sei
deswegen besonders leicht, weil Sie doch selbst ein Konzept vorgestellt hatten. Das hätte doch eine gute Grundlage für ein Gespräch sein können.
({0})
Im Übrigen nehme ich mit Interesse zur Kenntnis, dass
ein Angebot, das Sie am Ende doch akzeptiert haben,
nämlich im Vorfeld von Entscheidungen mit der Opposition zu sprechen und auszuloten,
({1})
ob man in bestimmten Fragen zu gemeinsamen Ergebnissen kommen kann, zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert
werden konnte. Ich bedaure das. Aber das ist ja nun durch
das Gespräch, das etwas später stattgefunden hat, geheilt
worden.
({2})
Es gibt eine weitere
Kurzintervention der Kollegin Heidi Lippmann.
Herr Minister, Sie haben zu
Beginn Ihrer Ausführungen aufgezählt, welche Erfolge
die deutschen Soldaten, die Nichtregierungsorganisationen und viele andere im Kosovo erzielt haben. Sie haben
sich dabei auf Zahlen aus dem NATO-Rat bezogen. Sie
haben aber - das habe ich während Ihrer gesamten Rede
vermisst - nicht ein einziges Mal Zahlen genannt, wie
viele Serben im vergangenen Jahr, also seit dem 10. Juni
1999, aus der Kosovo-Region geflohen sind und wie viele
von ihnen vertrieben wurden. Sie haben hier keine Zahlen
genannt, wie viele Roma und Sinti geflüchtet sind und unter welchen Lebensumständen sie heute ihr Dasein fristen
müssen. Sie haben nicht davon gesprochen, wie heute die
Situation der früher im Kosovo lebenden Juden ist. Sie haben auch nicht davon gesprochen, wie mit liberalen Kosovo-Albanern umgegangen wird. Diese sind nämlich
tagtäglich enormen Repressionen ausgesetzt und ihnen
drohen viele schreckliche Dinge.
Sie haben hier aber positiv vermerkt, dass sich die Zahl
der wöchentlich Ermordeten von 50 auf 7 reduziert hat.
Ich halte es für nahezu infam, dieses hier in der Art und
Weise, wie Sie es eben getan haben, positiv darzustellen
und diese sieben Ermordeten pro Woche am Maßstab der
Vorfälle in europäischen Großstädten zu messen. Die
Umstände, wie diese Menschen ums Leben kommen, sind
nämlich nicht vergleichbar mit denen in westeuropäischen Großstädten. Dazu sollten Sie sich hier einmal eindeutig äußern, anstatt die Entwicklung von solch schrecklichen Straftaten als positiv darstellen.
Ich hatte meine Intervention eigentlich als Frage beabsichtigt, dahin gehend nämlich, wozu wir, wenn sich so
vieles derartig positiv entwickelt hat, heute noch 50 000
KFOR-Soldaten benötigen und warum 5 600 deutsche
Soldaten aus der Bundeswehr nach wie vor - das sieht ja
der Antrag Ihrer Regierung vor - mit einem offiziellen
Kampfauftrag, nämlich dem Auftrag, den der Bundestag
letztes Jahr erteilt hat, dort im Kosovo stationiert bleiben
sollen.
({0})
Das war eine Kurzintervention; diese muss nicht beantwortet werden, wenn
Sie es nicht wünschen, Herr Minister. - Gut, dann fahren
wir in der Aussprache fort. Ich gebe für die F.D.P.-Fraktion das Wort dem Kollegen Werner Hoyer.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Scharping,
auch ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig von dem Einstieg
überrascht gewesen, den Sie gewählt haben, um diese Debatte zu beginnen. Es handelte sich ja in der Tat um eine
Ansammlung von außerordentlich beachtlichen Erfolgsmeldungen. Bei so vielen Erfolgsmeldungen könnten Fragen, wie sie die Kollegin von der PDS gerade gestellt hat,
ja geradezu nahe liegen, auch wenn das sicherlich nicht
angemessen ist. Das kontrastiert auch ein wenig mit dem,
was uns freie Analytiker gegenwärtig über die Lage im
Kosovo berichten.
Es sind in der Tat große Erfolge erzielt worden. An diesen Erfolgen war die Bundeswehr entscheidend beteiligt.
Dafür verdienen die Angehörigen der Bundeswehr, die
Soldaten im Kosovo, unseren Dank und unsere Anerkennung.
({0})
Dieser Dank und diese Anerkennung gelten auch vielen
anderen; Sie haben die Polizeibeamten angesprochen. Die
vielen, die in Justiz, Verwaltungen und bei NGOs tätig
sind, beziehen wir selbstverständlich in diesen Dank ein.
Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass wir uns zu
Beginn des nächsten Jahres oder noch besser in der zweiten Hälfte dieses Jahres einmal intensiv damit befassen
und darum bemühen sollten, auf der Basis grundsolider
Analysen eine Bestandsaufnahme des Kosovo-, ja des gesamten Balkanengagements zu machen.
Es darf nämlich nicht sein, dass wir eines Tages feststellen, dass unsere Soldaten und andere mit viel Kompetenz,
Engagement, Risikobereitschaft das enger definierte militärische Ziel mehr oder weniger gut erreicht haben, aber
dem Erreichen des politischen Zieles keinen Schritt näher
gekommen sind, weil sie letztendlich doch das Ergebnis
ethnischer Säuberungen militärisch abgesichert haben.
Das ist nicht die Logik unseres Beschlusses von vor einem
Jahr.
({1})
Die Stiftung Wissenschaft und Politik kommt in diesen Tagen in einer Studie zu einem ziemlich deprimierenden Ergebnis. Das betrifft den schleppenden Aufbau der
zivilen Verwaltung, das betrifft die Fehlentwicklungen bei
der Aufstellung des von UNMIK geschaffenen KosovoKorps. Da scheint es doch einige Besorgnisse zu geben,
die ich übrigens teile, dass dieses Korps leicht zur Beute
ehemaliger UCK-Kämpfer werden könnte, die ihr gar
nicht so heimliches Ziel, nämlich den Aufbau einer eigenen Armee für Kosovo, eben nicht aufgegeben haben.
Die positive Bilanz gilt auch nur sehr begrenzt für den
Bereich der Polizei, wobei unsere Beamten einerseits eine
hervorragende Arbeit leisten und den gleichen Dank, die
gleiche Anerkennung, die gleiche Sorgfalt des Parlaments
verdienen. Andererseits steht aber fest, dass diese doppelte Aufgabe, die man ihnen gegeben hat, nämlich auf
der einen Seite zum Aufbau einer demokratischen Polizei
im Kosovo beizutragen und auf der anderen Seite eine robuste innere Sicherheit zu gewährleisten, leicht zu einer
„mission impossible“ werden könnte.
Ich vermute deshalb, dass es noch in diesem Jahr erforderlich sein wird, nachzusteuern und manche Leistungen noch so verdienstvoller internationaler Organisationen zu hinterfragen. Selbst wenn dieses Umsteuern dann
stattfindet, wenn der Stabilitätspakt wirklich eine Chance
bekommt, wird es erforderlich sein, all das militärisch abzusichern. Deswegen ist es erforderlich, dass wir uns
heute erneut mit dem KFOR-Engagement befassen.
Nach knapp einem Jahr tun wir das wieder, wenige
Jahre nachdem wir zum ersten Male über SFOR geredet
haben. Wird das eigentlich mittlerweile Routine? Es darf
niemals Routine werden, weder der Beschluss selber noch
die Befassung des Bundestages damit, und zwar in regelmäßigen Abständen.
({2})
Diese erneute Befassung, die auch konstitutiv im Sinne
des Bundesverfassungsgerichtsurteils ist, muss sein;
denn - das ist der entscheidende Punkt - die Bundeswehr
ist und bleibt Parlamentsarmee.
({3})
Wäre der Begriff der Volksarmee nicht verbraucht
und auch missbraucht - er ist es leider -, so könnte er
wohl beschreiben, worauf es uns ankommt. Die Bundeswehr wird nicht aufgrund exekutiver Entscheidungen,
sondern aufgrund des ausdrücklichen Willens des Parlaments und aufgrund ausdrücklicher Verantwortungsübernahme durch das Parlament eingesetzt.
({4})
Deswegen ist es wichtig, dass wir als Parlament völlig unabhängig von der Frage, wer gerade regiert, und auch unabhängig von der Frage, wie etwas in der Vergangenheit
gelaufen ist - dieses Argument sehe ich sehr wohl -,
unsere Rechte und Pflichten als Volksvertretung wahren.
Umgekehrt heißt das aber auch, dass wir uns bemühen
sollten, unseren Soldaten einen möglichst großen Rückhalt zu verschaffen, wenn sie in eine so schwierige Mission gehen. Ich würde mir wünschen, die Soldaten der
Bundeswehr könnten ihre gefährlichen Aufträge in dem
Bewusstsein übernehmen, die demokratisch legitimierten
Vertreter des Volkes einmütig hinter sich zu haben.
({5})
Deswegen lohnt es, nach dem überparteilichen Konsens
zu suchen und ihn anzustreben.
Die ersten Vorlagen der Bundesregierung waren nach
meiner Auffassung unzureichend; denn die Bundesregierung erwartete von uns, dass wir keine Sicherungen einbauen, mit denen wir uns selbst in einem überschaubaren
Zeitraum erneut in die Pflicht nehmen, die Situation zu
bewerten und verantwortlich zu entscheiden.
Ich habe übrigens Verständnis dafür, dass man keine
falschen Signale aussenden möchte. Das gilt sowohl in
Richtung des Herrn Milosevic als auch in Richtung von
Partnern im Bündnis, die möglicherweise auf die Idee
kommen könnten, aufgrund expliziter Begrenzung eines
Auftrages der Bundeswehr ihre eigenen Truppen frühzeitig zurückzuziehen. Man muss auch die Situation im
Bündnis und in der westlichen Gemeinschaft sehr genau
beobachten.
Umgekehrt kann die Regierung nicht von uns erwarten, dass wir ihr eine Carte blanche ausstellen.
({6})
Ich begrüße es deshalb, dass wir gestern in einem ziemlich atemberaubenden Tempo in verschiedenen Schritten
zu dem gekommen sind, was jetzt als Beschlussvorlage
des Auswärtigen Ausschusses auf dem Tisch liegt.
Es gab zunächst das Zugeständnis, dass nach zwölf Monaten eine Parlamentsbefassung erfolgt. Dann hieß es,
dass die Fraktionen das zu einem konstitutiven Akt des
Parlaments machen können. Die heute Morgen bzw. gestern Abend erfolgten Erklärungen des Haushaltsausschusses und des Verteidigungsausschusses wurden nun
schließlich in die Formulierung der Beschlussvorlage des
Auswärtigen Ausschusses gegossen, dass eine einzelne
Fraktion ausreicht, um diesen Beschluss herbeizuführen.
Ich denke, alle Fraktionen habe das heute Morgen im
Auswärtigen Ausschuss mit großer Erleichterung vernommen. Damit haben wir eine vernünftige Grundlage.
Auf dieser Grundlage kann ich meiner Fraktion empfehlen, der Beschlussvorlage des Auswärtigen Ausschusses
zuzustimmen.
Solange im Kosovo noch ein einziger Soldat in der
Pflicht ist, werden wir in der Pflicht bleiben, uns regelmäßig mit dieser Frage zu befassen und darüber zu entscheiden.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die PDSFraktion spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der PDS wird
dem Antrag der Bundesregierung für eine Verlängerung
des Mandats der deutschen Soldaten, die im Rahmen der
KFOR im Kosovo eingesetzt sind, nicht zustimmen - ich
füge hinzu: ebenso wenig, wie wir dem NATO-Krieg zugestimmt haben.
({0})
Mit Sicherheit werden wir mit dieser Entscheidung im
Parlament alleine stehen. Wir stehen mit dieser Entscheidung aber nicht alleine in der deutschen Gesellschaft, in
der Friedensbewegung und in der Friedensforschung.
Wenn Sie einmal den Blick auf andere Parlamente richten,
werden Sie merken, wie umstritten die Verlängerung des
Mandats in vielen Parlamenten ist.
Der Krieg der NATO - wir müssen bei dieser Entscheidung auch über den Krieg reden - gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war ein Verhängnis. Er war völkerrechtswidrig, er widersprach der Charta der Vereinten
Nationen. Zudem ist er durch Täuschung der Öffentlichkeit begleitet und in Szene gesetzt worden. Denken Sie
nur an die vielen Falschmeldungen und Fälschungen, wie
zum Beispiel den Hufeisenplan, die auch von diesem Pult
hier verbreitet wurden. Tausende unschuldige Opfer haben die NATO-Bomben unter jugoslawischer Zivilbevölkerung gefordert. Doch den Zielen, die durch den Krieg
erreicht werden sollten - multiethnisches Zusammenleben, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit -, ist der Kosovo
nicht näher gekommen.
Ich weiß nicht, wie Sie als Regierung damit umgehen,
wenn Sie heute in die Zeitung schauen und feststellen
müssen, dass Amnesty International der NATO vorwirft,
dass sie während des Konfliktes Kriegsverbrechen begangen habe, oder wenn Sie lesen, dass die Kollegen des
Auswärtigen Ausschusses des britischen Parlamentes in
ihrem Bericht festgestellt haben, dass die Bombardierung
des Kosovo illegal gewesen sei. Solche Fakten können Sie
nicht verdrängen, wenn Sie hier über die Verlängerung
des Mandates sprechen wollen.
({1})
Ich nenne Ihnen einige Gründe dafür. Aus unserer Sicht
lassen Grundgesetz und internationale Verträge die Beteiligung der Bundeswehr am Luftkrieg und deren Stationierung im Kosovo nicht zu. Mit Blick auf die deutsche
Geschichte hätte sich diese Stationierung ohnehin von
vornherein verboten. Wenn also die Grundvoraussetzung
falsch war, gibt es auch keinen Grund, den Einsatz zu verlängern.
({2})
Die Dominanz der Krieg führenden NATO-Länder in
der von der UNO mandatierten Truppe der KFOR und die
Ungleichbehandlung Russlands mussten bei einem Teil
der Bevölkerung des Kosovo den Eindruck einer Besatzung und ungleichen Sicherheit hervorrufen. Einerseits
war Massenflucht Hunderttausender nicht albanischer
Menschen das Ergebnis; andererseits verstärkte dieser
Umstand bei der UCK den Eindruck, man habe gesiegt
und sei jetzt dran. Alle Berichte bestätigen das.
Vieles, was im Kosovo geschehen ist, hat mit dem
Geist und den Buchstaben der Resolution 1244 der Vereinten Nationen, auf die sich die Bundesregierung beruft,
wenig zu tun. Ich könnte das durchbuchstabieren, angefangen beim völkerrechtlichen Status bis zur Frage der
gleichen Sicherheit. Wenn Sie wissen wollen, wie die
Lage tatsächlich ist, vergleichen Sie einmal den Bericht,
den der Kollege Scharping hier abgegeben hat, mit dem
Bericht der UNO-Menschenrechtskommission. Sie werden sehen, dass zwischen den Berichten Welten liegen.
Wer sich auf die UNO-Resolution beruft, muss auch
bereit sein, sie vollständig und konsequent zu erfüllen und
einzuhalten.
Ein letzter Punkt ist noch zu benennen: Der vorliegende Antrag der Bundesregierung enthielt ursprünglich
keine zeitliche Begrenzung. Hier ist eine Nachbesserung
vorgenommen worden. Die Formulierung, dass dies ein
Entgegenkommen der Bundesregierung ist, ist aus meiner
Sicht überheblich, empörend und falsch. Was wir eingefordert haben, sind die Rechte des Parlaments gegenüber
der Bundesregierung. Das war kein Entgegenkommen,
sondern ein Recht, das wir hier verteidigt haben.
({3})
Die Bundesregierung wollte - womöglich für viele
Jahre - einen Freifahrtschein. Noch mehr: Sie fordert für
die Fortsetzung des deutschen Einsatzes 2 Milliarden DM
jährlich aus dem Bundeshaushalt. Die PDS ist dafür, dieses Geld für den zivilen Aufbau und für die Verbesserung der sozialen Lage einzusetzen. Das kann Frieden
schaffen und den Frieden stärken. Allein mit militärischen
Maßnahmen werden Sie keinen Frieden erreichen.
({4})
Selbstverständlich werden wir jedes Jahr Debatten
über den Einsatz im Kosovo führen. Über diese Frage
muss hier im Parlament so lange diskutiert werden, bis
sich die Erkenntnis, dass dieser Krieg falsch war und es
nie wieder eine Selbstmandatierung geben darf, mehrheitlich durchgesetzt hat.
Der PDS ist klar, dass es im Kosovo kein Vakuum geben kann. Wir haben Ihnen einen konkreten Vorschlag unterbreitet, wie die UNO selbst in die Lage versetzt wird,
im Kosovo nicht nur einen UNO-mandatierten Einsatz zu
veranlassen, sondern auch eine UNO-Blauhelmtruppe
einzusetzen, die für die Sicherheit aller Bürgerinnen und
Bürger zu sorgen hat. Ich glaube, das ist ein vernünftiger
Vorschlag.
Schönen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Eberhard Brecht das Wort.
Herr Kollege Gehrcke,
Sie wissen, dass ich beim Beschluss über die Kosovo-Intervention einige Schwierigkeiten hatte, mich in der Ambivalenz von moralischer Legitimität und völkerrechtlicher Legalität zu entscheiden. Der Verzerrung der Wirklichkeit aber, die in dem von Ihnen vorgelegten Antrag
zum Ausdruck kommt, muss in diesem Hohen Hause widersprochen werden.
({0})
Ich will zunächst auf den von Ihnen angesprochenen
Bericht von Amnesty International und die darin erhobenen Vorwürfe, die NATO habe Kriegsverbrechen
begangen, eingehen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
dass von der VN in Den Haag ein Kriegsgerichtstribunal
eingerichtet worden ist. Dort ist dies nicht bestätigt worden. Wenn Sie die VN anerkennen, können Sie nicht eine
Anklage, die von Amnesty erhoben worden ist, zum Maßstab Ihrer Bewertung machen. Vielmehr müssen Sie dem
Ergebnis der Untersuchung des Tribunals in Den Haag
folgen.
({1})
Eine zweite Bemerkung. Sie behaupten, die NATOBomben hätten Tausende unschuldige Opfer unter der jugoslawischen Zivilbevölkerung gefordert. Ich gehe davon
aus, dass, wie nach allgemeinem Sprachgebrauch üblich,
mit Opfern nicht Verwundete, sondern Tote gemeint sind.
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Human Rights
Watch maximal 500 Tote annimmt. Sie selber haben am
22. März 2000 eine Große Anfrage in den Bundestag eingebracht. Sie sollten sich, bevor Sie Behauptungen aufstellen, die nicht zu halten sind, erst einmal über die richtigen Zahlen informieren.
Eine dritte Bemerkung. Sie schlagen etwas ganz Abenteuerliches vor: Sie haben gesagt, Sie wollten kein Vakuum schaffen, und schlagen vor, eine VN-Blauhelmmission einzusetzen, zu der die NATO-Interventionsstaaten,
wie Sie sich ausdrücken, nicht hinzugezogen werden sollen. Welche Länder sollen nach Ihren Vorstellungen beteiligt werden und was für eine Truppe wollen Sie zusammenstellen? Welche Ausbildung sollen die Mitglieder
dieser Truppe haben und mit welchen Finanzmitteln wollen Sie diese Truppe ausstatten? Denken Sie bitte einmal
an die Situation in Sierra Leone, wo plastisch vor Augen
geführt wurde, wohin eine solche Leichtfertigkeit führen
kann.
({2})
Eine letzte Bemerkung. Sie kommen zu einer weiteren
abenteuerlichen Forderung: Sie wollen, dass die Sicherheitsaufgaben im Kosovo zunehmend von zivilen Kräften
übernommen werden. Ich darf Sie auf Ihren Entschließungsantrag verweisen. Dort steht unter dem Punkt
„Begründung“, dass in Südserbien die Gefahr eines neuen
Krieges drohe. Ich bitte Sie, zu überlegen, in welcher Verantwortung Sie handeln, wenn Sie schreiben, es müssten
zivile Sicherheitskräfte oder sogar eine Zivilverwaltung
eingesetzt werden und es dürfe keine Präsenz von Soldaten und Sicherheitskräften geben.
({3})
Zu einer Erwiderung
der Kollege Gehrcke.
Ich glaube, dass ich alle
Fakten, die ich benannt habe, anhand vieler Untersuchungen und Berichte belegen kann. Ich habe erstens einen Bericht von Amnesty International zitiert. Dass Ihnen die
Schlussfolgerung von Amnesty International vielleicht
nicht gefällt oder Sie sie nicht für korrekt halten, ist Ihre
Sache. Das ist eine Schlussfolgerung, die Amnesty International nach Vorlage vieler Berichte und vieler Untersuchungen gezogen hat. Dass das Tribunal zu einer anderen
Schlussfolgerung gekommen ist, hat damit überhaupt
nichts zu tun. Sie müssen sich solchen Vorwürfen schon
stellen, die auch nicht dadurch aus der Welt sind, weil sich
das Tribunal anders entschieden hat.
({0})
Wenn Sie die Begründung des Tribunals zu dieser Entscheidung lesen, dann stellen Sie fest, dass selbst die
Anklägerin gesagt hat, sie habe sich lange Zeit mit der
Frage auseinander gesetzt, ob ein Ermittlungsverfahren
einzuleiten sei. Sie hat sich dagegen entschieden. - Die
politischen Zusammenhänge dieses Tribunals sind doch
bekannt.
Zweitens. Es ist unleugbar, dass es in der serbischen
Zivilbevölkerung eine hohe Zahl an Opfern gegeben hat.
Die Zahlen, die wir genannt haben - über 2 000 Opfer -,
sind stimmig. Dass die Bundesregierung eine entsprechende Große Anfrage erst nach Ablauf eines Jahres beantwortet - so ist es uns mitgeteilt worden -, ist Sache der
Bundesregierung.
Drittens. Sicherheit im Kosovo erfordert eine starke zivile Präsenz. Die Unsicherheiten an der Grenze zu Südserbien und an der Grenze zu Montenegro stehen auch damit in Verbindung, dass terroristische Aktionen der UCK
oder ihrer Nachfolgeorganisationen nicht energisch genug unterbunden worden sind. In der „Welt“ von gestern
ist zu lesen gewesen, dass sich jetzt auch in Mazedonien
eine UCK gegründet hat, die versucht, dort eine Stimmung für Großalbanien zu schaffen und einen entsprechenden Krieg zu führen. Sie werden feststellen, dass an
der KFOR-Truppe in Form einer UN-Blauhelmtruppe
Staaten teilnehmen, die nicht am Krieg beteiligt waren,
damit sie Vertrauen erwerben können. Diffamieren Sie
Länder wie Bangladesch nicht! Vielleicht ist Bangladesch
besser in der Lage, im Kosovo Frieden zu schaffen, als die
USA, unser Land und andere, die Bomben geworfen haben. Auch dieser Frage müssen Sie sich einmal stellen.
({1})
Ich glaube, wenn Sie so an die UNO herangehen, wird nur
eines passieren: Die UNO wird herunter- und kaputtgeredet. Das wollen wir nicht.
({2})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Gert Weisskirchen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
sollten versuchen, uns darüber zu verständigen, lieber
Kollege Gehrcke, dass das Militär nach unserer Verfassung unter der Vorherrschaft der Politik, der Demokratie
steht.
({0})
Das ist das fundamentale Missverständnis. Sie verstehen
offensichtlich nicht, dass die Bundeswehr nichts anderes
ist als ein Instrument der Politik und dass die Bundeswehr
bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach der
Verfassung ein Heer des Parlaments ist.
({1})
Das allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein
Missverständnis, das Sie für sich klären müssen.
({2})
Vielleicht müssen Sie sich auch noch über einen anderen Punkt verständigen, nämlich darüber, dass in jener Region, über die wir hier reden, das Kosovo und die Gesamtregion in Südosteuropa, Militär dann, wenn es unter
Vorherrschaft der Demokratie eingesetzt wird, pazifizierend wirkt und eben erst die Prozesse in Gang setzt, die
den Frieden wirklich herstellen. Das ist die Aufgabe von
Militär. Genau dafür wird die Bundeswehr im Rahmen der
internationalen Staatengemeinschaft eingesetzt. Das ist
der Erfolg - der Bundesverteidigungsminister hat davon
gesprochen -, der sich innerhalb eines Jahres abgezeichnet hat. Nehmen Sie bitte erst einmal die Realität zur
Kenntnis. Dabei unterstütze ich natürlich das Recht, dass
Sie an einzelnen Maßnahmen Kritik üben, dass Sie sich
fragen, ob der Krieg berechtigt gewesen ist. Das ist der
Unterschied zwischen dem Standard der Demokratie in
jenen Regionen, von denen wir reden, und bei uns in Europa, lieber Kollege Gehrcke.
({3})
Der entscheidende Punkt ist genau der, dass KFOR
jetzt die Unterstützung des Parlaments braucht. Die konstitutive Zustimmung durch unser Parlament bewirkt,
dass genau diejenigen Kräfte im Kosovo freigesetzt werden, die dafür sorgen, dass zivile Konfliktregelungen unterstützt und gefördert werden. Woher soll denn eine Atmosphäre der Sicherheit kommen, sodass zum Beispiel
die Kommunalwahlen, die für den Oktober vorgesehen
sind, mit dazu beitragen können, dass sich Demokratie
entwickelt? Woher soll denn eine Atmosphäre kommen,
in der es möglich wird, dass sich die Menschen politisch
mit der Zukunft auseinandersetzen? Woher soll denn eine
Atmosphäre kommen, in der es möglich wird, dass diese
Region aufgrund des Stabilitätspakts eine Chance bekommt, sich selbst eine europäische Perspektive zu erarbeiten? Nein, wir brauchen das Instrument des Militärs.
Es muss nur begrenzt und nach den drei entscheidenden
Kriterien eingesetzt werden, die ja Grundlage jeglicher
konstitutiven Beschlüsse sind. Es sind dies: erstens, dass
es ein UNO-Mandat gibt, zweitens, dass es eine Entscheidung des NATO-Rats gibt, und drittens, dass es die
konstitutive Zustimmung des Bundestages gibt. Genau
darum bitten wir und wir unterstützen die Bundesregierung bei diesem Ziel.
Was wäre die Alternative? Darüber muss man sich
wirklich im Klaren sein. Milosevic fordert doch, dass das
KFOR-Mandat zurückgenommen wird. Was glauben
Sie denn, warum er das wünscht? Glauben Sie nicht, dass
für ihn der Rückzug von KFOR ein Zeichen dafür wäre,
dass er jetzt endlich freie Bahn hat, um den Krieg zu
führen, den er hat führen wollen, den vierten Nachfolgekrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, nach
den Kriegen in Slowenien, in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina den Krieg im Kosovo vor einem Jahr? Das will
er doch.
Oder nehmen Sie die durchaus antidemokratischen und
gefährlichen, nationalistischen Kräfte der UCK: Glauben
Sie nicht, das sie, wenn es KFOR nicht mehr gäbe, ermutigt werden würden, das zu tun, wovon wir fürchten, dass
sie es sofort tun, nämlich politisch eine Unabhängigkeitserklärung durchzusetzen? Was würde das für das Kosovo
oder für eine andere Republik, Mazedonien, bedeuten, die
in hohem Maße dadurch gefährdet würde, dass solche unglaublich nationalistischen Kräfte freigesetzt würden?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen
die konstitutive Zustimmung des Bundestages, damit
genau das abgewendet wird. Dafür brauchen wir die internationale Staatengemeinschaft und dafür brauchen wir
die Präsenz des Militärs.
Der Stabilitätspakt ist ja von dieser Regierung durchgesetzt worden. Ich frage mich häufig, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU und von der F.D.P.,
warum nicht damals schon die Idee entwickelt worden ist,
dass man jener schwierigen Region Südosteuropa ein solches Angebot gemacht hat. Warum hat es den vierten
Krieg gebraucht, bis diese Region eine neue, eine europäische Perspektive bekam? Diese Bundesregierung hat den
Stabilitätspakt durchgesetzt.
({4})
Jetzt muss dieser Stabilitätspakt mit weiteren Instrumenten verknüpft werden, Herr Hoyer. Wir sind uns ja in
diesem Punkte völlig einig. Das eine Instrument ist, dass
das Militär dort so lange präsent bleibt - das kann lange
dauern -, bis die Kräfte der Demokratie in jener Region
so stark sind, dass sie jene Militärpräsenz der Staatengemeinschaft nicht mehr brauchen. Wenn sie in der Lage
sein werden, Konflikte friedlich, zivil auszutragen, miteinander dafür zu sorgen, dass jene Region befriedet wird,
dann braucht es auch keine Militärpräsenz der internationalen Staatengemeinschaft.
Der Beschluss, der jetzt zu fassen sein wird, wird jener
Region die Chance geben, an den drei entscheidenden Instrumenten teilzuhaben - nämlich: Stabilitätspakt, zivile
Umgestaltung von innen und von unten, Sicherung durch
die Militärpräsenz der internationalen Staatengemeinschaft -, den Weg nach vorn zu gehen und dafür zu
sorgen, dass sich dieser Region in Südosteuropa in der
künftigen Entwicklung - wir hoffen, dass das schnell
kommt - eine Perspektive auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union eröffnet.
Als sich vor wenigen Monaten die kroatische Bevölkerung durch eigene Entscheidung vom Nationalismus
befreit hat, war das das richtige Signal, ein Signal dafür,
dass selbst so schwierige Staaten wie Kroatien in der
Lage sind, aus eigener Kraft all das hinter sich zu lassen,
was mit dieser düsteren Perspektive verbunden ist, die
Slobodan Milosevic vor zehn, zwölf Jahren eröffnet hat.
Deshalb brauchen wir den Beschluss des Deutschen Bundestages.
Lieber Kollege Lamers, lassen Sie mich Folgendes am
Schluss sagen: Das, was der Außenminister im Namen der
Bundesregierung erklärt hat, empfinde ich als einen Gewinn für das Parlament. Es macht nämlich deutlich, dass
die Bundeswehr nichts anderes als das Heer des Parlaments ist. Das ist ein großer Gewinn für uns alle.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Bundestagsfraktion stimmt diesem Beschluss der Bundesregierung zu.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Karl Lamers.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Stabilisierung und Befriedung des Balkans und hier insbesondere des jüngsten Pulverfasses Kosovo ist zu einer
zentralen Aufgabe der Sicherheitspolitik in der Welt geworden. Vor allen Dingen geht es um die Einhaltung der
Menschenrechte auch in diesem Teil der Welt. Unser Ziel
ist klar: die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen
in ihre angestammten Heimatorte sowie der Aufbau einer
demokratisch legitimierten Selbstverwaltung. Das wollen
wir sicherstellen, dafür sind unsere Soldaten im Kosovo,
zu diesem Auftrag bekennen wir uns in voller Verantwortung.
({0})
Zur Befriedung der Region haben wir darüber hinaus
einen Stabilitätspakt geschlossen. Auch dies war richtig
und notwendig. Das alles wäre nicht möglich, wenn die
KFOR nicht seither in vorbildlicher und effizienter Weise
die innere Sicherheit im Einsatzgebiet sichergestellt hätte.
Den Soldaten der KFOR - hier wende ich mich insbesondere an die Soldaten des deutschen Kontingents - gelten
unser besonderer Dank und unsere Anerkennung für ihren
Gert Weisskirchen ({1})
Einsatz im Dienste des Friedens und der Völkerverständigung.
({2})
Inzwischen hat sich gezeigt, dass die internationale Sicherheitspräsenz im Kosovo aller Voraussicht nach auf
längere Sicht beibehalten werden muss. Der Zwang, hier
auch mit deutschen Soldaten präsent zu bleiben - genau
das ist das heutige Thema -, resultiert aus der unverändert
gespannten Lage. Mit der Präsenz auch unserer deutschen
Soldaten wollen wir helfen, Stabilität in der Region zu sichern und Frieden unter den Volksgruppen zu wahren.
Die Bundesregierung, Herr Minister Scharping und
Herr Minister Fischer, spielt aus meiner Sicht in dieser
Lage eine nicht sonderlich überzeugende Rolle,
({3})
und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens macht sie sich, so
meine ich, viel zu wenige Gedanken darüber, wie eine
künftige Friedensordnung aussehen kann, die dauerhaft
von Bestand ist. Hier brauchen wir neue Ansätze zur endgültigen Stabilisierung der Region. Mein Kollege und Namensvetter Lamers hat hierzu vor einiger Zeit sehr bemerkenswerte Vorschläge gemacht. Auch die Bundesregierung sollte sich hier kein Denkverbot auferlegen.
Zweitens. Was Rot-Grün in den letzten beiden Tagen
geboten hat, meine Damen und Herren, war schlichtweg
mangelhaft.
({4})
Die Bundesregierung hat heute einen Antrag auf Fortsetzung der Beteiligung deutscher Soldaten im Kosovo vorgelegt. Sie präsentiert diesen Antrag buchstäblich in der
allerletzten Minute. Eineinhalb Tage Beratungszeit und
elf Zeilen, Herr Minister Scharping, sind einfach zu dünn,
wenn es um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland
geht. Dies ist eine zentrale Frage deutscher Politik; hier
geht es doch nicht um die Verlängerung eines Zeitschriftenabos. Haben Sie denn - so frage ich mich - gar kein
Gespür mehr dafür, was im Umgang mit unseren Soldaten, mit dem Parlament und auch mit der deutschen Öffentlichkeit geht? Wenn ein solches Mandat am 11. Juni
ausläuft, Herr Minister, warum haben Sie uns, so frage ich
Sie, nicht schon vor drei, vier Wochen in einer großen Debatte hier im Parlament mit dieser Frage befasst, etwa mit
der Frage nach den Voraussetzungen dieses Mandats, ob
Art und Umfang noch den Notwendigkeiten entsprechen?
Dazu gehört auch Zeit, die der Bedeutung des Themas angemessen ist und in der alle offenen Fragen erörtert werden können. Sie haben uns diese Zeit durch die verspätete
Vorlage verweigert. Das darf sich nicht wiederholen.
({5})
Ich frage Sie: Warum haben Sie das gemacht? Wollten
Sie sich einer umfassenden Diskussion entziehen? Ihr
Versuch, sich mit der heutigen Abstimmung ein nahezu
unbegrenztes Mandat für die Verlängerung des deutschen
Einsatzes im Kosovo zu verschaffen, ist Gott sei Dank gescheitert. Frau Merkel hat vorhin die Abteilung Unwahrheiten und Halbwahrheiten angesprochen. Dem möchte
ich noch ein Kapitel hinzufügen.
Herr Minister, Sie wissen sehr genau, dass es Ihre Partei, die SPD, und die Grünen zu ihrer Zeit als Opposition
waren, die von uns ein unbegrenztes Mandat für SFOR
verlangt haben. Das ist die historische Wahrheit und nicht
das, was Sie heute erklären.
({6})
Die Art, wie Sie sich mit Ihren Halbwahrheiten im Ausschuss verhalten haben, trägt nicht dazu bei, eine konstruktive Atmosphäre im Parlament zu schaffen.
Nein, meine Damen und Herren, uns drängt sich der
Eindruck auf, dass sich die Bundesregierung, dass sich
Rot-Grün künftig eine Erörterung dieser Fragen im Parlament vor der Öffentlichkeit ersparen wollen.
({7})
Ich aber frage Sie: Wohin gehört diese Debatte?
({8})
Wenn es um Art und Umfang unserer Streitkräfte und die
Dauer der Präsenz deutscher Soldaten im Ausland geht,
gehört die Debatte ins deutsche Parlament. Deswegen
werden wir darauf bestehen, dass dies auch in Zukunft so
ist.
({9})
Es entspricht meinem und sicher auch Ihrem Verständnis als Parlamentarier, jedes Jahr aufs Neue unseren Soldaten und der gesamten Nation zu erklären, warum der
Einsatz deutscher Soldaten im Ausland notwendig ist.
Eine Selbstentmachtung des Parlaments wird es mit uns
nicht geben. Es mag ja für Grüne und Rote unbequem
sein, dieses Thema immer wieder zu diskutieren. Aber
hier geht es nicht um bequem und unbequem, Herr Minister, sondern darum, dass wir dies unseren Soldaten und
der Öffentlichkeit schuldig sind. Deshalb messen wir Sie
auch an Ihrer heutigen Erklärung.
Der Kollege Lamers hat bereits angekündigt, dass wir
den Antrag stellen werden, dass wir in zwölf Monaten
über den Einsatz unserer Soldaten im Kosovo nicht nur
debattieren, sondern auch entscheiden werden. Es ist
wichtig, dies hier festzuhalten.
({10})
Ich begrüße es, dass die Regierung hier eingelenkt und
unserem Drängen nachgegeben hat. Das, was Sie versucht
haben, ist ein bisschen Kabinettspolitik, ein Kabinettstückchen nach dem Motto „Entscheidungen im stillen
Kämmerlein unter Ausschluss der Öffentlichkeit“.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das, was wir
heute im Konsens erzielt haben, ist ein Sieg der Vernunft
und ein Beweis für die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Institutionen und Entscheidungsgänge. Unsere Soldaten im Kosovo können und müssen wissen, dass
wir hinter ihnen und ihrem Einsatz stehen und dass wir
Dr. Karl A. Lamers ({11})
ihren Friedensdienst hoch einschätzen. Wir sind davon
überzeugt, dass wir hier einen unverzichtbaren Beitrag
zur Sicherung des Friedens in diesem Teil der Welt leisten.
Ich danke Ihnen.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried
Nachtwei.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kollege
Lamers, die von Ihnen vorgetragene Erregung war reichlich künstlich. Ich denke, sie klingt jetzt auch schon ab.
Ihr Vorwurf, wir wollten uns der Debatte nicht stellen, ist
so abwegig, wie er nicht abwegiger sein könnte.
({0})
Wer hat sich denn mehr dieser Auseinandersetzung gestellt? Wer hat sie unter höherem Risiko geführt als RotGrün und vor allem wir Grüne? Insofern war das ein
lächerlicher Vorwurf. Sparen wir ihn uns und kommen wir
zum Thema zurück.
Die Bilanz der letzten zwölf Monate ist in der Tat zwiespältig. Es hat dank KFOR, dank UNMIK, dank vieler
Nichtregierungsorganisationen enorme Stabilisierungserfolge gegeben. Es hat enorme Aufbauleistungen gegeben.
Zugleich aber - das ist genauso unübersehbar - sind das
Gewaltpotenzial, die Gewaltbereitschaft und die Gewaltfähigkeit noch sehr stark. Man hat zum Teil den Eindruck,
dass sie jetzt noch mehr zunehmen. Die Mandatsverlängerung ist unbedingt notwendig, um die Gewalt im Kosovo auf jeden Fall einzudämmen, um eine Entmilitarisierung voranzubringen und um einem Friedensprozess
überhaupt eine Chance zu geben. Das ist der entscheidende Grund für die Mandatsverlängerung. Sie ist unverzichtbar.
Wenn in diesem Zusammenhang die PDS eine Nichtverlängerung des Mandats verlangt, im Klartext: einen
Abzug von Bundeswehr und KFOR, verkennt sie voll und
ganz und - so behaupte ich - wider besseres Wissen, was
dort von der Bundeswehr im Zusammenhang mit KFOR
geleistet wird. Wenn von Ihnen von „nicht neutral“ gesprochen und behauptet wird, dass unter den Augen von
KFOR Mord, Terror usw. geschehen, dem Vorschub geleistet wird, ist das eine Verdrehung der Tatsachen, die
schärfstens zurückzuweisen ist.
({1})
Genauso verkennen Sie in Ihrem Antrag die aktuellen
und mittelfristigen Möglichkeiten der Vereinten Nationen. Auch wir würden uns grundsätzlich wünschen, dass
die Vereinten Nationen zur Führung von solchen Einsätzen in der Lage sind. Aber sie sind es auch auf kürzere
Sicht nicht. Wer das jetzt fordert, schickt die Vereinten
Nationen in eine Falle, aus der sie nur noch viel beschädigter wieder herauskommen.
({2})
Unsere parlamentarische Pflicht ist es, über auswärtige
Einsätze der Bundeswehr zu beraten und zu entscheiden.
Dies geht schnell mit der Erscheinung einher, dass wir vor
allem den auswärtigen Einsatz der Bundeswehr, aber zu
wenig die anderen Beiträge zur Friedenskonsolidierung
im Blick haben. Auf einer Ebene haben wir sie im Blick,
was sich heute gezeigt hat: Alle sagen den Polizeibeamten, den Nichtregierungsorganisationen usw. Dank. Aber
unsere Pflicht geht weiter. Wir müssen uns auch ansehen,
welches die Probleme in den anderen Bereichen sind, wo
es Verbesserungsbedarf gibt und wo unbedingt etwas getan werden muss.
In diesen 12 Monaten haben wir die Erfahrung gemacht: Wenn KFOR alleine funktioniert, wenn die zivile
Polizeimission halb und die Justiz schlecht funktioniert,
bedeutet das, dass wir dort kein funktionierendes rechtsstaatliches Gewaltmonopol erreichen, sondern wuchernde terroristische Gewalt, dass KFOR ewig dort bleiben muss und sie schließlich zu einer Besatzungsarmee
würde. Das wäre eine verheerende Konsequenz.
({3})
Dazu, was bei der zivilen Polizeimission notwendig
ist, müssen wir feststellen, dass auch die Bundesrepublik
mit ihrem vorbildlichen Beitrag in den nächsten Jahren
nicht mehr in der Lage ist, den entsprechenden Austausch
zu gewährleisten. Das heißt, hierfür müssen wir uns etwas
überlegen. Wenn die Polizisten freiwillig zu solchen
Einsätzen gehen, müssen wir etwas dafür tun, dass die Situation der Freiwilligen verbessert wird, dass die Einsätze
ganz anders begleitet werden, dass sie nachbereitet werden usw. Hier sind Bund und Länder in der Verantwortung, bei der Polizei mögliche Personalreserven, einen
entsprechenden Personalpool aufzubauen und vor allem
eine Begleitung im Einsatz zu gewährleisten.
Jahr für Jahr kommen Tausende von vor allem jungen
Männern und auch viele Frauen aus dem Kosovo mit elementaren, erschütternden, irritierenden, manchmal auch
ermutigenden, aber auf jeden Fall einschneidenden Erfahrungen zurück. Dies sind immer Erfahrungen jenseits
der deutschen Ordnungs- und Wohlstandswelt.
Bisher haben wir hier im Bundestag und in der Politik
überwiegend über die Entsendung von Soldaten beraten.
Wir haben bisher aber viel zu wenig oder gar nicht im
Blick gehabt, was mit denjenigen geschieht, die eben mit
diesen sehr brisanten, aber eben auch reichen Erfahrungen
zurückkehren. Ich empfehle uns allen, die Erfahrungen
dieser jungen Leute vor allem aus dem Kosovo und Bosnien wirklich ernst zu nehmen, sie in unserer Gesellschaft
mit diesen Erfahrungen nicht allein zu lassen. Ich meine
nämlich, dass die bei diesen äußerst kritischen Einsätzen
in Bosnien und im Kosovo gemachten Erfahrungen sehr
nützlich und hilfreich für unsere zivilgesellschaftliche
Entwicklung sind.
Danke.
({4})
Dr. Karl A. Lamers ({5})
Als letzter Redner in
dieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Kurt Rossmanith.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit keine
falschen Legenden gestrickt werden, will ich noch einmal
darstellen, dass die CDU/CSU-Fraktion in ihrer weit
überwiegenden Mehrheit immer mit in der Verantwortung
gestanden hat, wenn es um Einsätze deutscher Soldaten in
Krisenregionen ging, und dass auch in der heutigen Debatte keine Bedenken bestanden, diesem Einsatz zuzustimmen.
Nur Irritationen kamen von der Bundesregierung mit
ihrem Beschlussvorschlag, und darüber müssen wir sprechen. Wir sind der Meinung, dass es aufgrund der Verantwortung, in der wir alle stehen und mit der wir unsere Soldaten in solche schwierigen, gefährlichen und nervenaufreibenden Einsätze schicken, natürlich notwendig ist,
dass ein breiter Konsens besteht und dass wir als Vertreter des deutschen Volkes diesen Auftrag mit großer Mehrheit erteilen.
({0})
Deshalb haben wir uns dieser schwierigen Aufgabe unterzogen, und deshalb haben wir unsere Kritik an die Bundesregierung zu richten, dass sie uns zum einen in so kurzer Zeit und zum anderen in der Art, wie sie es vorgesehen hatte, zu einem Beschluss zwingen wollte.
Wir haben die Verantwortung, den Soldaten, die dort
Dienst leisten, auch den Familien, die zu Hause bleiben,
die Sinnhaftigkeit dieses Dienstes zu erläutern und darzulegen.
({1})
Herr Bundesverteidigungsminister, gerade Ihre Ausführungen und die Bilanz, die Sie aus dem vergangenen
Jahr gezogen haben, zeigen
({2})
- ja, der NATO, aber Sie haben es doch vorgetragen, Herr
Bundesminister - geradezu die Notwendigkeit, dass wir
uns Jahr für Jahr mit dieser Thematik befassen. Das heißt
doch nicht, dass wir von Hause aus eine Begrenzung wollen. Natürlich wissen auch wir, dass wir unsere Verantwortung mit tragen müssen, bis dort eine Situation eingekehrt sein wird, die wir uns alle wünschen und für die der
Dienst unserer Soldaten notwendig ist.
Aber die Kontrolle, die wir als Parlament wahrzunehmen haben, verpflichtet uns, diese Debatte immer wieder
zu führen - nicht nur im Auswärtigen Ausschuss oder im
Verteidigungsausschuss. Vielmehr haben wir diese Verantwortung auch gegenüber der breiten Öffentlichkeit.
Sie haben es ja dargelegt, Herr Bundesverteidigungsminister - diese Fragen wollen wir auch in der Öffentlichkeit stellen, und wir wollen die Antworten darauf in
der Öffentlichkeit darlegen -: Wie ist es mit dem Aufbau
der zivilen Strukturen? Sind die Art und der Umfang des
Einsatzes der Soldaten auch in einem Jahr noch so wie
jetzt erforderlich? Wie ist es mit dem rechtsstaatlichen
System? Ist hier ein Fortschritt erzielt worden? Sie haben
ja dargelegt, dass dies der Fall ist.
Ein Aspekt ist natürlich das Zusammenleben der beiden Volksgruppen, die dort zu Hause sind, sowohl der Kosovaren als auch der Serben. Es muss klar aufgezeigt werden, dass hier wieder ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander möglich und erforderlich ist.
Sie hätten sich viel erspart, wenn Sie Ihren Bericht
rechtzeitig vorgelegt hätten, wenn Sie den Antrag rechtzeitig beschlossen hätten, den Sie dem Parlament vorlegen wollten und der nicht den Zusatz, dass die Soldaten
auf Dauer und in Ewigkeit im Kosovo bleiben sollen, haben sollte.
Es ist schon erstaunlich, mit welchen Windungen Sie
jetzt am Ende versucht haben, die Tatsache zu rechtfertigen, dass Ihnen offensichtlich entgangen ist, dass ein Jahr
nach dem 11. Juni 1999 der 10. Juni 2000 kommt. Wenn
Sie am 24. Mai einen Beschluss fassen, und zwar wohl
wissend, dass das Parlament frühestens am 5. Juni 2000
zusammentritt, müssen Sie sich natürlich schon Fragen
gefallen lassen und dürfen sich nicht darüber wundern,
dass wir daran Kritik üben und sagen, es sei nicht möglich - wie es der Kollege Dr. Karl Lamers dargelegt hat gewissermaßen im Schnelldurchgang diese Thematik, die
breit diskutiert werden muss, abzuhandeln. Dieses Thema
interessiert sowohl die Öffentlichkeit als auch die Soldaten und verlangt insofern, dass Sie diesen gegenüber Rechenschaft ablegen.
Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir jetzt zu diesem - wenn auch nicht vollständig befriedigenden - Ergebnis gekommen sind. Es ist aber immerhin ein Ergebnis, das uns ermöglicht, im kommenden Jahr Ihnen noch
einmal Rechenschaft abzuverlangen und diese Rechenschaft an die breite Öffentlichkeit weiterzugeben. Sie
können sicher sein, dass wir dies einfordern werden. Ich
kündige dies jetzt schon an und stelle für meine Fraktion
gewissermaßen schon den Antrag für das kommende Jahr.
Auch die F.D.P.-Fraktion hat ein entsprechendes Vorgehen inzwischen angekündigt.
({3})
Somit werden wir in einem Jahr nochmals den Bundestag
mit diesem Thema beschäftigen und eine Beschlussfassung herbeiführen. Deshalb werden wir von der
CDU/CSU-Fraktion heute mehrheitlich für die Fortsetzung dieses Mandates stimmen, und zwar eingedenk
dessen, was Sie als Zusatz dem Parlament heute erklärt
haben.
Ich schließe mit einem Dank - auch wenn dies manche
vielleicht nicht hören wollen, was ich nicht verstehen
kann - an unsere Soldaten, die diesen enorm schwierigen
und gefährlichen Dienst für den Aufbau der Sicherheit
und Demokratie in einem schwierigen Teil Europas leisten, sowie deren Familien.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteili-
gung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Ko-
sovo, Drucksache 14/3454. Zu dieser Abstimmung haben
die Kollegen Jürgen Koppelin, Norbert Otto, Thomas
Dörflinger und Wolfgang Börnsen Erklärungen nach § 31
der Geschäftsordnung abgegeben, die zu Protokoll ge-
nommen werden.*)
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/3550, dem Antrag der Bundesregierung zuzustim-
men. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe-
nen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne
die Abstimmung. -
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich frage noch ein-
mal: Können wir die Abstimmung schließen? - Das ist der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen.**)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3551. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einverstanden sind, unterbrechen wir die Sitzung jetzt nicht. Das
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir fahren in der Beratung fort.
({0})
Ich rufe die Zusatzpunkte 10 bis 13 auf:
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Strafverfahrensänderungsgesetz 1999
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Gesetz über Fernabsatzverträge und andere
Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro
ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum
Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung
von Stiftungen
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat Wilhelm
Schmidt von der SPD-Fraktion.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird jetzt über
wichtige Ergebnisse des Vermittlungsausschusses Bericht
erstattet. Da Sie alle auf diese Ergebnisse seit Monaten gespannt gewartet haben, sollten Sie sich hinsetzen und
zuhören.
({1})
Auch wer nicht zuhören möchte, sollte sich setzen. Niemand darf stehen bleiben. Das gilt auch für die Regierungsbank.
Bitte sehr, Herr Schmidt.
Vielen Dank,
verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist so, wie es die Präsidentin gerade gesagt hat: In den vier Fällen, in denen der
Vermittlungsausschuss durch den Bundesrat angerufen
worden ist, liegt ein Ergebnis vor. In allen vier Fällen das möchte ich durchaus mit Genugtuung vermerken haben wir echte Ergebnisse zustande gebracht. Ich danke
ausdrücklich den Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer dafür. Ich danke auch ausdrücklich den Vertretern der Fraktionen des Bundestages dafür, die nicht zur
Koalition gehören. Herzlichen Dank, Herr Dr. Blens und
Herr van Essen. Ich bedanke mich auch bei allen anderen,
die daran mitgewirkt haben.
({0})
Die Ergebnisse sind auch deshalb so bemerkenswert,
weil wir in einigen Bereichen relativ schwierige Verhand-
lungen zu führen hatten. Diese Verhandlungen haben sich
gelohnt, nicht nur deswegen, weil wir die jetzt vorliegen-
den Ergebnisse erzielt haben, sondern auch deswegen,
weil wir inhaltlich bei Problemen weitergekommen sind,
die zum Teil seit vielen Jahren ihrer Lösung geharrt ha-
ben.
Ich möchte mit einer kurzen Darstellung bezüglich des
Stiftungsrechts aus der Sicht der SPD-Fraktion begin-
nen, weil ich finde, dass das in diesem Bereich erzielte
Ergebnis das wichtigste der vier Ergebnisse ist, ohne die
drei anderen zurückstellen zu wollen. Es ist deswegen so
wichtig für mich bzw. für uns, weil wir der Auffassung
sind, dass mit dem neuen Stiftungsrecht der Gesellschaft
neue Impulse gegeben werden. Viele in diesem Hause ha-
ben sich darum bemüht. Ich danke ausdrücklich der
F.D.P., Herr van Essen, aber auch Frau Vollmer von den
Grünen, weil sie sich besonders engagiert hat. Ich möchte
*) Anlagen 2 bis 5
**) Ergebnis namentliche Abstimmung, Seite 10169 A)
mich auch bei vielen Kollegen aus der SPD-Fraktion bedanken, die sich seit vielen Jahren engagiert haben.
({1})
Ich weise auch deswegen darauf hin, weil ich finde,
dass wir damit bei den gesellschaftlichen Entwicklungen
für eine Initialzündung sorgen, von der wir hoffen, dass
sie uns in der staatlichen und gesellschaftspolitischen Arbeit voranbringt; denn wir wollen Bürgerinitiative neu
entfachen. Wir wollen es denjenigen leichter machen, ihr
gutes Geld den richtigen Stellen zu geben, nämlich den
Stiftungen. Wir wollen ihnen das Geschäft in dieser Hinsicht erheblich erleichtern. Dabei galt es vor allen Dingen
fiskalische Barrieren zu überwinden; denn die Finanzminister des Bundes und der Länder haben sich - ich kann
das nachvollziehen - sehr schwer getan.
Wenn man sich die Gründe des Bundesrates für die Anrufung des Vermittlungsausschusses genau anschaut,
dann stellt man fest, dass alle 16 Bundesländer für die Anrufung waren. 12 von ihnen waren dafür, weil sie weniger
erreichen wollten, als der Bundestag beschlossen hatte.
Vier Bundesländer waren für eine Anrufung, weil sie
mehr erreichen wollten. Als die Verhandlungen begannen,
hatte ich zuerst das Gefühl, Herr Blens, Herr Lammert
und Herr van Essen, dass man froh sein kann, wenn am
Ende wenigstens das stabilisiert und gesichert werden
kann, was im Bundestag durchgesetzt worden ist.
Tatsächlich haben wir mehr durchgesetzt. Das finde ich in
dieser Sache besonders wichtig.
({2})
Ich danke auch der Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt
haben und die unter der Leitung von Herrn Lammert gute
Arbeit geleistet hat. Manchmal hat diese Arbeitsgruppe in
den Augen einiger, insbesondere aus dem Finanzsektor,
etwas überzogen. Aber sie hat Signale gesetzt, die wir am
Ende - wenn auch nicht vollends - berücksichtigen konnten.
In dieser Hinsicht ist also erfolgreiche Arbeit geleistet
worden, weil wir nicht nur die laufende Stiftungsarbeit
verbessert fördern können, sondern von nun an auch die
Neugründung einer Stiftung im Rahmen eines Zehnjahresprojektes mit bis zu 600 000 DM finanziell fördern
und gleichzeitig steuerlich entlasten. Das ist ein ganz
wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein.
Wir haben aufgrund des Einflusses einzelner Mitglieder des Vermittlungsausschusses in letzter Sekunde die
Berücksichtigung der kirchlichen Stiftungen erreicht.
Auch das will ich durchaus wohlwollend erwähnen, selbst
wenn es uns zuletzt fast ein bisschen aus dem Sattel gehoben hat.
Wir haben in einem zweiten Projekt die Änderung der
Strafprozessordnung vorgenommen. Ich würdige das
deswegen, weil neben anderen mein Kollege Meyer - das
will ich hier ausdrücklich erwähnen - acht Jahre persönlicher intensiver Arbeit in dieses Projekt gesteckt hat. Er
hat uns in dieser ganz trockenen Materie, die sich nicht jedem Kollegen in diesem Hause sofort erschließt, sehr oft
mitreißen müssen.
({3})
Entscheidend war, dass wir damit alle gemeinsam Herr Ströbele und andere haben daran mitgewirkt - einen
16-jährigen Reformstau überwunden haben; denn wir
haben den Auftrag eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Datenschutz von 1983 - in Buchstaben:
Neunzehnhundertdreiundachtzig - wenigstens in groben
Zügen umgesetzt. Insofern haben wir eine ganz besonders
wichtige Entscheidung getroffen.
Auch die Regelung des Abgeordnetengesetzes war
wichtig; denn wir haben endlich unsere Selbstbeschränkung bei der Versorgung festgelegt. Wir haben ebenfalls
die Beschränkung bei der Versorgung von Ministern und
Staatssekretären umgesetzt. Beides sind nach Überzeugung der SPD-Fraktion und der Koalition ganz wichtige
Eckwerte bei der Parlamentsreform.
Schließlich haben wir bei den Fernabsatzverträgen Bestellungen über das Internet oder sonstwie aus der
Ferne - eine Regelung herbeigeführt.
Ich danke dafür allen Beteiligten. Ich finde das sehr ermutigend, auch mit Blick auf die anstehenden Vermittlungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz. Ich fühle
mich in der Arbeit, die wir alle gemeinsam geleistet haben, gestärkt. Die Ergebnisse waren gut - herzlichen
Dank dafür.
({4})
Ich gebe das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Antrag der
Bundesregierung über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im
Kovoso zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für
die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 bekannt. Abgegebene
Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 534, mit Nein haben gestimmt 39, Enthaltungen 10.
Wilhelm Schmidt ({0})
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583
ja: 534
nein: 39
enthalten: 10
Ja
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({1})
Volker Beck ({2})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({3})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Kerstin Müller ({4})
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({5})
Werner Schulz ({6})
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({7})
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Bosbach
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Georg Brunnhuber
Hartmut Büttner
({8})
Cajus Caesar
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Albert Deß
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({9})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ulf Fink
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({10})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({11})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({12})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({13})
Gottfried Haschke
({14})
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({15})
Hansgeorg Hauser
({16})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Dr. Helmut Kohl
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Rudolf Kraus
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({17})
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({18})
({19})
Wolfgang Lohmann
({20})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erwin Marschewski
({21})
Dr. Martin Mayer
({22})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({23})
Elmar Müller ({24})
Bernd Neumann ({25})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({26})
Katherina Reiche
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch
({27})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Adolf Roth ({28})
Norbert Röttgen
Volker Rühe
Anita Schäfer
Hartmut Schauerte
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({29})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({30})
Andreas Schmidt ({31})
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze ({32})
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({33})
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Angelika Volquartz
Andrea Voßhoff
Dr. Theodor Waigel
Peter Weiß ({34})
Gerald Weiß ({35})
Heinz Wiese ({36})
Hans-Otto Wilhelm ({37})
Klaus-Peter Willsch
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
Vizepräsidentin Anke Fuchs
F.D.P.
Ina Albowitz
Rainer Brüderle
Ulrike Flach
Gisela Frick
Horst Friedrich ({38})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({39})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Klaus Haupt
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({40})
Klaus Barthel ({41})
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({42})
Bernhard Brinkmann
({43})
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({44})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Peter Friedrich ({45})
Lilo Friedrich ({46})
Harald Friese
Anke Fuchs ({47})
Arne Fuhrmann
Prof. Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({48})
Angelika Graf ({49})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({50})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({51})
Walter Hoffmann
({52})
Iris Hoffmann ({53})
Frank Hofmann ({54})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Prof. Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({55})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Hans-Ulrich Klose
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({56})
Detlev von Larcher
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({57})
Christa Lörcher
Erika Lotz
Dieter Maaß ({58})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Merten
Prof. Dr. Jürgen Meyer
({59})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({60})
Jutta Müller ({61})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({62})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Prof. Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Prof. Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({63})
Birgit Roth ({64})
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Horst Schmidbauer
({65})
Ulla Schmidt ({66})
Silvia Schmidt ({67})
Dagmar Schmidt ({68})
Wilhelm Schmidt ({69})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({70})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({71})
Brigitte Schulte ({72})
Reinhard Schultz
({73})
Volkmar Schultz ({74})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dr. Angelica Schwall-Düren
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Reinhold Strobl ({75})
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Rüdiger Veit
Ute Vogt ({76})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Der Antrag ist damit angenommen.
({77})
Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Lammert,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann den Ausführungen des Kollegen Schmidt nicht immer vollständig
zustimmen. Da dies aber heute möglich ist, tue ich es besonders gerne. Das schließt seinen Hinweis ein, dass unter den gestern im Vermittlungsverfahren vereinbarten
Beschlussvorschlägen die Änderung des Stiftungsrechts
sicherlich einen ganz besonderen Stellenwert hat.
Dass wir wichtige gesellschaftliche Anliegen in
Deutschland nicht ausnahmslos als öffentliche Angelegenheiten definieren und schon gar nicht finanzieren können, dass wir mehr als in der Vergangenheit privates Engagement für gemeinnützige Aktivitäten mobilisieren
müssen, dass es aber unter Berücksichtigung unserer heutigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch bessere Chancen als je zuvor für die Aktivierung privaten Engagements für gesellschaftliche Aufgaben gibt und dass
wir mit der Ermutigung für eine neue Stiftungskultur
eine wesentliche Entwicklung in diesem wichtigen Bereich in Gang setzen können und müssen, darüber haben
wir uns in mehreren Debatten des Deutschen Bundestages
in den vergangenen Monaten in dem Bemühen um eine
grundlegende Verbesserung des Stiftungsrechts verständigt.
Damals sind wir von der gemeinsamen Einsicht ausgegangen, dass dazu nicht nur, aber auch verbesserte steuerliche Rahmenbedingungen gehören. Trotz dieser gemeinsamen Einsicht gibt es natürlich unterschiedliche
Vorstellungen über Umfang, Reichweite und Akzente einer solchen steuerlichen Förderung. Dies ist auch in den
Anträgen sowohl hier im Bundestag als auch im Bundesrat deutlich geworden, die zum Teil deutlich über die Beschlussfassung des Bundestages hinausgingen, zum Teil
aber auch erkennbar hinter diesen Vorschlägen zurückblieben.
Nun ist bei zustimmungspflichtigen Gesetzen eine Lösung nur dann zu erreichen, wenn in beiden Häusern eine
Mehrheit zustande kommt. Das heißt, dass auf beiden Seiten Bereitschaft entstehen muss, auf das Reiten eigener
Steckenpferde zu verzichten und das Befördern einer Gesetzgebung, die man für notwendig erachtet, für noch
wichtiger zu halten als diesen oder jenen einzelnen Punkt,
der einem vielleicht besonders lieb und wichtig war.
Deswegen will ich mich - ähnlich wie der Kollege
Schmidt - bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken,
die an dem Zustandekommen dieser, wie ich glaube,
denkwürdigen Lösung beteiligt waren, und zwar ganz besonders den Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe, die Herr Schmidt bereits gewürdigt hat; denn wir
haben bei der geschilderten Antragslage die in der Tat
nicht ganz risikolose Operation vorgenommen, dem Vermittlungsausschuss einen Vorschlag zu unterbreiten, der
eben nicht hinter die Vorschläge des Bundestages zurückgeht, sondern an wesentlichen Stellen darüber hinausgeht.
Ich will den wichtigsten Punkt gleich nennen. Wir haben uns im Bundestag, wie ich weiß, nicht aufgrund
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({0})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
({1})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({2})
Helmut Wieczorek
({3})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({4})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({5})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({6})
Waltraud Wolff ({7})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
Nein
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Monika Knoche
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
Wolfgang Börnsen
({8})
Franz Romer
Willy Wimmer ({9})
F.D.P.
PDS
Monika Balt
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Eva-Maria Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Dr. Heidi Knake-Werner
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Rosel Neuhäuser
Petra Pau
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Enthalten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Annelie Buntenbach
Steffi Lemke
Claudia Roth ({10})
Christian Simmert
CDU/CSU
Manfred Carstens ({11})
Dr. Manfred Lischewski
Norbert Otto ({12})
F.D.P.
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
SPD
René Röspel
unterschiedlicher Auffassungen, sondern aufgrund der
unterschiedlichen - na ja - Inpflichtnahmen, die sich
durch die jeweiligen Rollen von Koalition und Opposition
ergeben, völlig unnötig darüber gestritten, ob es denn eigentlich in erster Linie darum gehe, vorhandene Stiftungen und gemeinnützige Organisationen durch eine Stärkung der Spendenbereitschaft vor allem durchschnittlicher Einkommensbezieher zu fördern, oder ob es nicht
mehr darum ginge, insbesondere durch die Ermutigung zu
hohen Schenkungen und Bereitstellungen von hohen Einkommen oder Vermögen, das Zustandekommen neuer
Stiftungen zu fördern.
Natürlich ist es vernünftig, das eine mit dem anderen
zu verbinden und sich nicht zwischen beidem kraftvoll zu
entscheiden. Genau dies ist uns mit dem Vermittlungsvorschlag gelungen.
Ich will nur in Stichworten die fünf wesentlichen Ergänzungen nennen, auf die wir uns gestern haben verständigen können.
Erstens. Es gibt bei der Einkommen- und Gewerbesteuer einen weiteren Abzugsbetrag für die Neugründung
einer Stiftung von höchstens 600 000 DM innerhalb von
zehn Jahren für Zuwendungen in den Vermögensstock
steuerbegünstigter, gemeinnütziger Stiftungen.
Zweitens - das ist bereits angesprochen worden -: Der
vom Bundestag bereits beschlossene verbesserte Spendenabzug in Höhe von 40 000 DM, der bisher auf Stiftungen privaten Rechts beschränkt war, wird auf Stiftungen öffentlichen Rechts und damit auch auf kirchliche
Stiftungen erweitert. Damit sind wir übrigens auch prinzipiell einen beachtlichen Schritt weitergegangen, weil
wir damit das Anliegen einer Förderung möglichst unabhängig von der Rechtsform des jeweiligen Engagements
weiter vorangetrieben haben.
Drittens. Wir haben uns darauf verständigt, dass bei der
Neugründung von Stiftungen künftig eine unschädliche
Ansparphase in den Vermögensstock für insgesamt drei
Jahre vorgesehen ist. Das dient der Stärkung der Finanzkraft der Stiftung.
Wir haben viertens die Rücklagemöglichkeiten steuerbegünstigter Körperschaften durch die Möglichkeit verbessert, dass sie über die Regelung hinaus, die wir im
Bundestag bereits beschlossen hatten, zusätzlich 10 Prozent ihrer zeitnah zu verwendenden Mittel in diese Rücklage einstellen können.
Fünftens. Wir haben uns auf verbesserte Regelungen
der Abgabenordnung darauf verständigt, dass die für alle
steuerbegünstigten Körperschaften gelten sollen, also
rechtsformunabhängig.
Meine Damen und Herren, unbeschadet der Aufgaben,
die wir im Zivilrecht noch vor uns haben, für die es inzwischen aber eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gibt, von
der wir hoffen, dass sie ihre Arbeit zügig aufnimmt und
möglichst bald ähnlich beachtliche Ergebnisse präsentiert, haben wir mit diesem Vorschlag wirklich einen
Durchbruch erreicht, was den steuerlichen Teil der Förderung von Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen
angeht. Wir haben damit ein Signal gesetzt für eine neue
Kultur gemeinnützigen Engagements in einer aufgeklärten und selbstverantwortlichen Bürgergesellschaft.
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt diesem Vermittlungsergebnis gerne zu. Sie verbindet damit die ausdrückliche
Hoffnung, dass viele, die damit neue Möglichkeiten gemeinnütziger Aktivitäten erhalten, von diesen Möglichkeiten überzeugend und intensiv Gebrauch machen.
({13})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
neue Stiftungssteuerrecht ist also geschafft; es ist nicht
nur gut gelungen, sondern es ist auch gut gelaufen, und
zwar auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die im Parlament nicht alle Tage vorkommt.
({0})
Das ist übrigens auch ein Hinweis darauf, dass gute
langjährige Zusammenarbeit und lange Diskussionen,
auch zwischen den Fraktionen, langfristig gute Ergebnisse zeitigen können.
Es handelte sich hierbei um eine Initiative aus der
Tiefe des parlamentarischen Raumes. Es war keine Initiative irgendeines Ministeriums. Man ahnt auch, dass die
Ministerien damit durchaus Schwierigkeiten hatten. Wir
sind aber froh, dass sie am Ende eingeschwenkt sind. Ich
möchte, gerade weil es so ein ungewöhnlicher Prozess ist,
doch einmal darauf hinweisen, dass alle in diesem Prozess
eine für ihre eigene Geschichte und Tradition ungewöhnliche Rolle gespielt haben und es auch nötig war, dass alle
ihre traditionellen Rollen verließen.
Wer hätte damals gedacht - seit über fünf Jahren arbeite ich an diesem Thema -, dass die Initiative zur Reform des Stiftungsrechtes ausgerechnet von den Grünen
gekommen wäre? Ich weiß, dass damals viele erstaunt
waren, weil wir aus einem kulturellen Umfeld kamen, in
dem das Stiften durchaus nicht sehr populär war. Damals
hatten wir als Oppositionspartei gehofft, die CDU/CSUF.D.P.-Regierung antreiben zu können, weil wir dachten,
dass dieses Anliegen ihnen etwas näher läge. Tatsächlich
haben aber CDU/CSU und F.D.P. erst am Ende - nämlich
in der gestrigen Debatte im Vermittlungsausschuss - einen positiven Beitrag dazu geleistet, dass dieses dann
doch gelingen konnte. Das ist Dialektik.
({1})
Wer hätte gedacht, dass in der Koalitionsvereinbarung einer rot-grünen Regierung das Stiftungsrecht an so
prominenter Stelle angesiedelt würde? Wer hätte gedacht,
dass wir tatsächlich damit Ernst machen, dieses in den ersten zwei Jahren unserer Regierungszeit umzusetzen? Das
war nicht einfach und die Diskussionen darüber haben
auch die Meinungen vieler Kolleginnen und Kollegen zu
diesem Thema verändert. Inzwischen kann man sagen,
dass dieses Projekt mit großer Überzeugung von dieser
Regierungskoalition getragen wurde.
Wer hätte gedacht, dass sich Gerhard Schröder ausgerechnet zu einem Propagandisten der zivilen Bürgergesellschaft mausern würde? Das hat ihm auch keiner an der
Wiege gesungen.
({2})
Wer hätte gedacht, dass gerade ein SPD-Parteitag mit
einer schwierigen Antragslage einen Anstoß für den
Durchbruch beim Stiftungsrecht, das wir gemeinsam
wollten, liefern würde? Wer hätte gedacht, dass der Bundesrat zu einem Zeitpunkt, wo alle dagegen waren und
den Vermittlungsausschuss angerufen haben - da habe ich
das Zittern bekommen -, dann zu solch einem Ergebnis
kommen würde? Dank der Mitarbeit der Kollegen
Schmidt, van Essen, Heyne, Lammert und vieler anderer - nicht zu vergessen Ludwig Stiegler, der sehr viel im
Hintergrund getan hat - sind wir nun tatsächlich an dem
Punkt, dass wir mehr herausbekommen, als wir damals im
Bundestag haben erreichen können. Ich bin ungeheuer
froh darüber und auch richtig verblüfft über ein solch
positives Ergebnis.
({3})
Ich habe gesagt, es war eine Initiative, die aus der Tiefe
des parlamentarischen Raumes kam. Sie wird erst zu einer richtigen gesellschaftlichen Bewegung, wenn sie
auch aus der Tiefe des gesellschaftlichen Raumes unterstützt wird. Ich hoffe, dass die Bürgergesellschaft, von der
ich weiß, dass sie schon existiert, dieses Signal wirklich
versteht und es, wie schon in den letzten fünf Jahren, zu
Neugründungen von Stiftungen für soziale und kulturelle
Zwecke kommt. Ich habe immer wieder festgestellt,
während dieser fünf Jahre hat sich die gesamte gesellschaftliche Debatte um dieses Thema grundlegend verändert. Es gibt kein Anmobben von Stiftern mehr, sondern
vielmehr eine positive Bereitschaft, deren Beitrag zum
Gemeinwesen zu honorieren. Deswegen hoffe ich, dass
wir nun zu dem kommen, was ich mir immer gewünscht
habe und mit mir alle Kollegen, nämlich zu einem Aufbruch der Citoyens.
({4})
Nun hat das Wort der
Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alle haben mit dem Stiftungsrecht angefangen, und ich glaube, das hatte auch einen guten Grund, weil das sicherlich das politische
Schwergewicht in den Beschlüssen ist, die der Vermittlungsausschuss am gestrigen Nachmittag gefällt hat.
Trotzdem gestatten Sie es einem gelernten Oberstaatsanwalt, wie ich es bin, dass er mit einer anderen Thematik
anfängt, weil er sich da nämlich auch freut.
({0})
Herr Schmidt hat es schon angesprochen: Man hatte ja
immer ein wirklich schlechtes Gewissen, denn man
kannte das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Über
Jahre hinweg wurden bestimmte Regelungen angewandt,
obwohl man wusste, dass sie nicht auf gesetzlichen
Grundlagen beruhten, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hatte. Deshalb bin ich froh, dass wir diese
gesetzlichen Grundlagen endlich haben.
Der Weg dazu war unglaublich schwer. Ich erinnere
mich noch an die Tagung auf dem Frankfurter Flughafen
mit dem so genannten Flughafenkompromiss, bei dem
alle nachgegeben haben und Bayern plötzlich „njet“ sagte
und damit die ganz Mühe der letzten Legislaturperiode
perdu war.
({1})
Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir jetzt dank
den Bemühungen des Vermittlungsausschusses - ich
sage: sowohl der SPD-Seite wie der anderen Seite - eine
Lösung gefunden haben, die beide Interessen berücksichtigt, auf der einen Seite die notwendigen Datenschutzinteressen, auf der anderen Seite aber auch die notwendigen
Interessen der Strafverfolgung. Ich glaube, dass beide Interessen hohes Gewicht haben und dass wir zu einer Lösung gekommen sind, die Bestand hat und die vernünftig
ist.
({2})
Eine Lösung, die vernünftig ist, ist sicherlich auch die
beim Abgeordnetengesetz gefundene. Ich war hoch alarmiert, als ich vom Einspruch des Bundesrates hörte; denn
mir war völlig klar, dass das eine oder andere den Länderparlamenten nicht geschmeckt hat. Sie haben sich so
schön daran gewöhnt, dass sie in jedem Jahr ihre Diäten
erhöhen, während es immer wieder unglaubliche Aufregung gibt, wenn der Bundestag alle sieben oder acht Jahre
die Diäten erhöht.
({3})
Sie hatten sich auch so sehr daran gewöhnt, dass wir immer wieder zurückgefahren haben, während bei ihnen gar
nichts geschah. Deswegen hat es mich hoch alarmiert, als
ich von diesem Einspruch gehört habe.
Trotzdem bin ich sehr froh, dass wir jetzt eine Lösung
gefunden haben, die den Bund möglicherweise sogar entlastet und unser Prinzip, das wir gemeinsam verfolgt haben, das Prinzip nämlich, dass es nicht zu einer Überversorgung kommen darf, weiter einhält. Deshalb ist das
eine wirklich sehr erfreuliche Lösung.
({4})
Zum Stiftungsgesetz ist schon viel Positives gesagt
worden. Ich kann mich dem gerne anschließen. Frau Kollegin Vollmer, Sie haben wirklich das unbestreitbare Verdienst, uns bei diesem Thema immer wieder gemahnt zu
haben, vorangetrieben zu haben. Ich freue mich, dass wir
in dieser Legislaturperiode etwas schneller waren als Sie
({5})
und früher einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Trotzdem ist es gut, dass zum Schluss eine gemeinsame Anstrengung daraus geworden ist.
Ich glaube, wenn man sich das einmal anschaut, was
jetzt noch gekommen ist mit der Möglichkeit der erhöhten Ausgabenabschreibung bis 600 000 DM und vielen
anderen Dingen, die der Kollege Lammert vorgestellt hat,
sodass ich sie nicht zu wiederholen brauche, stellt man
fest, dass wir noch ein Stückchen weiter gekommen sind,
nämlich bei der Unterstützung von bürgerschaftlichem
Engagement. Das ist etwas außerordentlich Erfreuliches.
({6})
Gestatten Sie mir trotzdem, dass ich für meine Fraktion
einen Tropfen Wasser in den hier dargereichten Wein
fülle. Wir werden dem Fernabsatzgesetz nicht zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass die Regelungen, die
dort getroffen worden sind, zu bürokratisch sind, dass sie
der Vertragsfreiheit nicht entsprechen. Wir Liberale wollen - das erwarten Sie auch von uns - in diesem Zusammenhang Vertragsfreiheit durchsetzen. Auch andere Regelungen begegnen unseren Bedenken. Deshalb werden
wir den ersten drei Punkten, die wir für außerordentlich
gelungen halten, gerne zustimmen, beim letzten Punkt,
beim Fernabsatzgesetz, werden wir es nicht tun.
Herzlichen Dank.
({7})
Jetzt hat die Kollegin
Petra Pau, PDS-Franktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will Sie beruhigen: Ich werde die
Akten, die ich mitgebracht habe, nicht vorlesen, jedenfalls
nicht aus eigenem Antrieb. Aber da Sie es heute Morgen
kraft Mehrheit für richtig befunden haben, meiner Fraktion die fachliche und sachliche Prüfung der Vermittlungsergebnisse zu versagen, habe ich mich zumindest
gewappnet. Es könnte ja sein, dass es sachliche und fachliche Nachfragen gibt und die Kolleginnen und Kollegen
von ihrem Fragerecht Gebrauch machen. Dann möchte
ich natürlich auch sachkundig antworten.
({0})
Nun zu den vier Gesetzen, zu den Vermittlungsergebnissen und meinen Abstimmungsempfehlungen.
Erstens zum Abgeordnetengesetz. Das übergeordnete
Problem war, Mehrfachbezüge bei Abgeordneten zu verhindern. Diese Intention ist nach dem Vermittlungsausschuss erhalten geblieben. Deshalb werden wir zustimmen. Wichtig für die Geschichtsbücher dürfte aber noch
etwas anderes sein, was sich in diesem Gesetz versteckt,
nämlich dass Mitglieder des Bundestages aus ihrem vorhandenen Etat auch Handys und andere moderne Kommunikationsmitteln nutzen können. Natürlich werden wir
auch dieser Öffnung gegenüber dem 21. Jahrhundert unsere Stimme heute nicht versagen.
Zweitens zum Stiftungsrecht. Die PDS war und ist für
mehr Transparenz, für weniger Bürokratie und für die Unterstützung von bürgerschaftlichem Engagement. Der
vorliegende Kompromiss entspricht dem nicht. Stattdessen dürfte die Konkurrenz zwischen Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen zunehmen, sobald es um Spenden geht. Bessere Vorschläge zugunsten gemeinnütziger
Vereine, zum Beispiel aus sozialdemokratisch regierten
Ländern wie Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Schleswig-Holstein, wurden ausgeschlagen. Die PDS wird sich
an dieser Stelle enthalten, zumindest mehrheitlich.
Drittens zum Strafverfahrensänderungsgesetz. Es
wurde schon auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahre 1983 verwiesen. Seit dieser Entscheidung wurde trotzdem von der Polizei alles gesammelt und erfasst, was zu erfassen war. Insbesondere die
CDU/CSU hat immer wieder dafür plädiert, eine effiziente Strafverfolgung höher zu gewichten als Bürgerrechte und Datenschutz. Auch im vorliegenden Kompromiss wird einem starken Staat der Vorzug gegenüber den
Bürgerrechten gegeben. Das lehnen wir ab. Um mit
Franklin zu sprechen:
Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren.
Viertens zum Fernabsatzvertragsgesetz. Im Kern
geht es um Bestimmungen, die den Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern stärken sollen - so weit, so
gut. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Wer über
Versandhäuser oder im Internet Waren im Wert bis zu
40 Euro ordert und diese reklamieren will, muss für das
Rückversandporto selbst aufkommen. Wenn also künftig meine Oma im Internet eine Bluse für 10 DM bestellt,
die sich dann als zu groß oder als schadhaft erweist, dann
darf sie den üblicherweise viel zu großen Karton für ein
Porto von circa 10 DM zurückschicken.
({1})
- Ich habe den Text gelesen und zumindest das nachgeprüft, was mir möglich war. Sie waren ja nicht in der Lage,
mir den Einblick in die Unterlagen zu ermöglichen.
Also: Außer Spesen nichts gewesen; so heißt es zumindest im Volksmund. Real trifft es aber sozial Benachteiligte. Im Übrigen hat das der Einzelhandel heute schon
moniert. Er meinte, es sei richtig, dass es sozial Benachteiligte treffe; es sollten aber alle getroffen werden, deshalb solle die Regelung unendlich ausgedehnt werden,
wie ich dem Ticker entnehmen durfte. Das ist unsozial
und wird zumindest unsere Zustimmung nicht finden.
Danke schön.
({2})
Es wird, entgegen
meiner Vermutung, keine Erklärung mehr gewünscht? So ist es.
Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderung gemeinsam
abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3525? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und
zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über
die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3526? Ich sehe, dass alle zugestimmt haben. Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen
des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3527? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Bei Gegenstimmen der F.D.P. und Enthaltung der
PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen. Der Vermittlungsausschuss hat wiederum gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3528? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei
gemischtem Abstimmungsverhalten, nämlich bei Enthaltungen und Gegenstimmen der PDS, ist die Beschlussempfehlung angenommen.
({0})
Damit ist ein weiterer Schritt auf dem Wege in die Bürgergesellschaft, zum Citoyen, erfolgt. Wir wollen aber
jetzt nicht die französische Nationalhymne singen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Zukunft der
Bundesdruckerei und der mit ihrem Betrieb
verbundenen hoheitlichen Aufgaben
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die traditionsreiche Bundesdruckerei in Berlin-Kreuzberg gehört mit ihren derzeit
2 250 Beschäftigten zu einem der größten Arbeitgeber in
der Hauptstadt. Ihre Leistungen in der beruflichen Ausund Weiterbildung sind verdienstvoll und unverzichtbar.
Die Bundesdruckerei hat sich zu einem innovativen
Hightechunternehmen entwickelt, das mit Erfolg am
Markt agiert. Alles scheint also zum Besten zu stehen. Nur
in einem Punkt scheint das nicht so zu sein: Die Zukunft
des Unternehmens, die der Arbeitsplätze und damit die
der Beschäftigten ist nicht sicher. Deshalb hat sich die Belegschaft in der vergangenen Woche für einen massiven
öffentlichen Protest vor dem Finanzministerium entschieden.
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung ist fest entschlossen,
ihre Geschäftsanteile an der wettbewerbsfähigen Druckerei GmbH komplett zu verkaufen, und zwar offensichtlich
deshalb, um kurzfristig Geld in die Staatskasse zu spülen.
Sie hat die Frankfurter Investmentbank Metzler beauftragt, bei der Suche von Käufern Unterstützung zu geben.
Wie wir heute aus einer Antwort der Bundesregierung erfahren haben, gibt es inzwischen über 70 Gesellschaften,
die ein erstes Erwerbsinteresse bekundet haben. Welche
Vorgaben die Bundesregierung für dieses Bieterverfahren
gemacht hat, hat sie bis heute niemandem, weder der Belegschaft noch den Parlamentariern, die danach gefragt
haben, gesagt. Die Regierung schweigt sich trotz berechtigter Fragen der Beschäftigten aus.
Worum geht es? Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in Berlin und anderswo haben in den letzten Jahren wiederholt die Erfahrung machen müssen, dass die Veräußerung eines Unternehmens zu einer Verlagerung der
Produktion und damit verbunden zu empfindlichen Verlusten von Arbeitsplätzen führte. Die Regierung will das bezüglich der Bundesdruckerei in ihrer jüngsten Antwort,
die wir, wie gesagt, heute erhalten haben, nicht ausschließen. Sie erwartet - so wurde dort wörtlich formuliert - lediglich, dass die Investoren den Standort Berlin
attraktiv einschätzen.
Ich finde, das ist eine vage Hoffnung. Mit dieser vagen
Hoffnung darf man die Belegschaft nicht noch weitere
Monate im Ungewissen lassen. Wir erwarten, dass die Belegschaft im Hinblick auf die bestehenden Arbeits- und
Ausbildungsplätze hier am Standort Berlin Sicherheit erhält. Sicherheit muss auch dahin gehend bestehen, wie die
Differenz zwischen den tatsächlichen und den bilanzierten Versorgungsansprüchen - diese Differenz beträgt
249 Millionen DM - im Verkaufsprozess gedeckt werden
soll.
Klarheit muss ebenfalls über den weiteren Umgang mit
den Tarifverträgen geschaffen werden. Ich halte es
schlicht für skandalös - um es milde zu sagen -, dass eine
sozialdemokratisch geführte Regierung den Beschäftigten der Bundesdruckerei über Monate hinweg Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag ausgeschlagen hat
mit der Begründung, dass das Unternehmen verkauft werden soll. Erst in der jüngsten Zeit gibt es da eine gewisse
Bewegung.
Die Praxis zeigt aber, dass der neue Eigentümer alsbald
Tarifverträge mit verschlechterten Bedingungen abschließt. Das steht auch hier zu befürchten. Daher sagen wir:
Das muss schon im Anfangsstadium verhindert werden.
Wir erwarten auch, dass das von den Beschäftigten gemeinsam mit Unternehmensberatern erarbeitete Belegschaftsmodell einer Selbstprivatisierung bei der weiteren
Entwicklung der Bundesdruckerei nicht außen vor bleibt.
Wohl auch weil wir dieses Thema mit dieser Aktuellen
Stunde in eine breite Öffentlichkeit heben, will das Bankhaus Metzler in den nächsten Tagen ein Verkaufsmemorandum versenden, auf dessen Grundlage auch die
Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes Angebot für
eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben.
In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen heißt es, dass man sich für eine verbesserte
Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am
Produktivkapital einsetzen will. Ich frage: Warum kann
die Bundesregierung, die ein öffentliches Unternehmen
privatisieren will, nicht hier damit beginnen, eine Mitarbeiterbeteiligung vorzusehen?
({1})
Sollen die Mitarbeiter immer nur bei maroden Unternehmen das Recht erhalten, sich zu beteiligen? Ich denke,
hier kann man bei einem wettbewerbsfähigen Unternehmen den Anfang machen. Es hätte sich gehört, die
Mitarbeiterbeteiligung von Anfang an in die Vorgaben zur
Privatisierung aufzunehmen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit den Beschäftigten konstruktiv über deren Vorschläge auseinander zu setzen und Klarheit zu schaffen, wie mit den berechtigten sozialen Belangen umgegangen werden soll.
Der Standort der Bundesdruckerei in Berlin muss im Interesse der Beschäftigten erhalten bleiben.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Dass ausgerechnet
Sie, Frau Kollegin Luft, diesen Antrag der PDS begründen, verstehe ich gar nicht. Sie haben doch Gelegenheit
gehabt, sich vor Ort zu informieren. Sie haben am 25. Januar eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Sie
haben am 14. Februar eine Antwort der Bundesregierung
bekommen. Wenn Sie Anfrage und Antwort einmal nachlesen, werden Sie sehr schnell feststellen, dass die von Ihnen vorgetragenen Befürchtungen keinen Bestand haben.
Für unsere Fraktion sage ich Folgendes: Panikmache
würden wir in dieser Phase für das Schlimmste halten. Sie
haben fälschlicherweise den Eindruck erweckt, die Privatisierung würde jetzt erst beginnen. Die Bundesdruckerei
ist aber schon am 1. Juli 1994 von der alten Bundesregierung privatisiert worden, und zwar durch Umwandlung in
eine GmbH. Damals wurde die klare Aussage gemacht,
man wolle weitere Beteiligte suchen. In Kontinuität zu
dieser Aussage der alten Bundesregierung verfährt die
heutige Bundesregierung. Deshalb sollten Sie jetzt nicht
den Eindruck zu erwecken versuchen, als nehme die jetzige Bundesregierung eine Privatisierung vor. Das ist
falsch.
Meine Damen und Herren, in der Tat ist das Problem in
Kreuzberg groß. Das wissen alle, die sich in Berlin auskennen. Dass man die Arbeitsplätze dort erhalten muss, ist
selbstverständlich. Für mich, für die SPD und eigentlich
auch für die Koalition ist klar, dass wir dem Erhalt der
Arbeitsplätze in Kreuzberg höchste Priorität einräumen,
({0})
dass wir mit den Investoren darüber reden müssen, dass
sie dann, wenn sie investieren wollen, in Berlin investieren müssen.
Warum muss die Bundesdruckerei in privatisierter
Form weiter ausgebaut werden? Der Grund ist: Sie ist allein nicht in der Lage, auf dem Weltmarkt zu agieren. Es
kommen neue Märkte hinzu. Nur mit starken Partnern, die
Investitionen tätigen, kann die Bundesdruckerei bestehen
und auf die Vorgänge an den Märkten reagieren.
Frau Kollegin Luft, Sie haben eben gesagt, die Beteiligung der Mitarbeiter am Produktivvermögen sei Sache
der SPD. In der Tat wird das seit Jahrzehnten diskutiert.
Sie haben es diskutiert, jeder hat es diskutiert, keiner hat
es gemacht. Das ist wirklich wahr; denn in der Auseinandersetzung zwischen den Arbeitnehmervertretungen und
den Arbeitgebervertretungen wurde niemals Einigkeit darüber erzielt, was man eigentlich machen will. Man redet
zwar immer darüber; man macht aber nichts.
Wenn die Belegschaft und Sie - das Modell liegt Ihnen
wie mir vor - diese Beteiligung wollen, bedeutet das, dass
Sie von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Lohnverzicht verlangen; Sie verlangen ferner zwecks
Aufbringung des Anteils Verzicht auf das Urlaubsgeld;
Sie verlangen Verzicht auf das Weihnachtsgeld. Das reicht
alles immer noch nicht, um die Anteile zu finanzieren.
Vielmehr muss das durch Darlehen aufgestockt werden.
Das heißt also, jede Arbeitnehmerin, jeder Arbeitnehmer
muss ein privates Darlehen aufnehmen, um den Anteil,
der gefordert wird, zu erbringen. Das halte ich für fatal.
Man muss andere Formen der Mitwirkung suchen. Übrigens werden alle gesetzlichen Regelungen der Mitbestimmung überhaupt nicht berührt, wenn der Verkauf erfolgt.
Ferner steht in Ihrem Antrag, dass auch das Problem
der hoheitlichen Aufgaben geregelt werden müsse. In der
Tat: Das steht unmittelbar vor dem Abschluss. Die jetzige
Bundesregierung hat das jahrelange Hin und Her beendet.
Bundesinnenminister Schily hat verhandelt. In dieser WoDr. Christa Luft
che wird ein Vertrag unterschrieben, der exakt diese Frage
regelt, die, wie Sie wissen, für die Bundesrepublik
Deutschland wichtig ist. Es geht um den Druck von Ausweisdokumenten, von Banknoten und die Herstellung von
Chipkarten, wobei ja eine gewisse Sicherheit gegeben
sein muss.
Es gibt auch Privatfirmen, die diese Dinge ebenfalls
drucken bzw. herstellen. Sie haben den gleichen Sicherheitsstandard wie die Bundesdruckerei. Sie werden ständig überprüft. Deshalb ist auch das kein Argument, mit
dem man einer an sich vernünftigen Regelung widersprechen sollte.
Die Schutzrechte zur Wahrung der Sozialbelange der
Arbeitnehmer werden durch diese Privatisierung nicht
tangiert. Die Sicherheit der Arbeitsplätze ist für uns die
Priorität Nummer eins; ich habe es eben schon gesagt.
Weitere Investitionen hier in Berlin haben ebenfalls Priorität. Ich weiß genau, dass es etwa 70 Interessenten gibt,
die bereit sind, hier einzusteigen, die aber nur Teile übernehmen wollen. Es gibt intelligente Menschen, die die
Orga übernehmen wollen, den einzigen Teilbetrieb der
Bundesdruckerei, der schwarze Zahlen schreibt. Den hätten sie gern und uns und den anderen möchten sie jene
Teile ans Bein hängen, die rote Zahlen schreiben. Das
kann auch nicht sein. Deshalb müssen wir die Entwicklung abwarten und sehen, wie sich das in den nächsten Tagen ergeben wird.
Ich bin der Auffassung, man sollte den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das sagen, was ich ihnen in der
Belegschaftsversammlung gesagt habe: Die Sozialdemokraten stehen für die Sicherheit der Arbeitsplätze und für
künftige Investitionen hier in Berlin.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Kolbe.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Union hat immer für eine
zielstrebige Privatisierungspolitik gestanden, aber auch
für eine Privatisierungspolitik mit Augenmaß. Für uns bedeutet Privatisierung wirtschaftliche Dynamik. Privatisierung erschließt ungenutzte Wachstums- und Beschäftigungsspielräume. Privatisierung ermöglicht den Abbau
der Staatsverschuldung. Privatisierung schafft zusätzlichen Wettbewerb und Privatisierung sichert damit auch
den Verbrauchern marktgerechte Preise. Die Union steht
deshalb für eine zielstrebige Privatisierung.
({0})
Das beste Beispiel ist der Telekommunikationsbereich.
Wir haben gegen viele Widerstände Anfang der 90erJahre im Telekommunikationsbereich privatisiert
({1})
- gemeinsam als Bundesregierung, Herr Niebel -, mit der
Folge, dass die Telekommunikation expandiert ist und die
Preise für den Verbraucher gesenkt worden sind.
Sie von der jetzigen Koalition haben uns immer nur
vorgeworfen, dass wir das Tafelsilber verscherbeln würden - jahrelang haben wir uns das im Haushaltsausschuss
angehört -, und jetzt fahren Sie den entgegengesetzten
Kurs. Sie werden in diesem Jahr wahrscheinlich Privatisierungserlöse in einer Höhe haben, die wir uns - das sage
ich ein bisschen neidvoll - niemals hätten träumen lassen.
Sie fahren also einen absolut widerspruchsvollen Kurs.
({2})
Das ist so ähnlich wie bei der Rente. Unser „demographischer Faktor“, der das Rentenniveau maßvoll von 70
auf 64 Prozent des letzten Verdienstes abgesenkt hätte,
war für Sie das „Ende des Sozialstaats“. Jetzt senken Sie
das Rentenniveau wesentlich stärker, nämlich von 70 auf
54 Prozent, nennen das „Ausgleichsfaktor“ und jetzt soll
es die Lösung aller Rentenprobleme sein!
({3})
Eine ähnliche Doppelstrategie fahren Sie bei der Privatisierung, auch bei der Bundesdruckerei. Denn gerade
bei der Bundesdruckerei haben wir eine erfolgreiche Privatisierung mit Augenmaß betrieben. Bis 1994 war die
Bundesdruckerei eine Behörde. Sie war ein rechtlich unselbstständiger Teil der Bundesverwaltung unter der
Dienstaufsicht des Bundespostministers.
Wir haben die Bundesdruckerei zum 1. Juli 1994 in
eine GmbH umgewandelt, die zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes steht. Wir haben die Schulden abgebaut.
131 Millionen DM sind in die Bundesdruckerei investiert
worden. Sie ist heute ein hoch innovativer HightechBetrieb. Er hat auch einen schmerzlichen Personalabbau
zu verkraften gehabt. Damals gab es dort 4 000 Arbeitnehmer, jetzt sind es noch 2 200. Heute macht die Bundesdruckerei Gewinn. Das war eine Privatisierung mit
Augenmaß.
({4})
Wir haben damals auch einen Kabinettsbeschluss gefasst, nach dem bei einer weiteren Kapitalprivatisierung - das haben Sie zu erwähnen vergessen, Herr
Wagner; deshalb trage ich es jetzt vor - nicht mehr als
49 Prozent der Anteile zu privatisieren und an keinen weiteren Investor mehr als 25 Prozent der Anteile abzugeben
sind. Warum? - Damit sichergestellt ist, dass die Bundesrepublik in diesem hoheitlichen Bereich - in der Bundesdruckerei werden Pässe, Personalausweise, Visa und
Banknoten gedruckt - den notwendigen Einfluss behält,
der im Hinblick auf sicherheitsrelevante Belange notwendig ist. Das war eine Privatisierung mit Augenmaß.
Was haben Sie jetzt vor? - Wir können nur Mutmaßungen anstellen. Auch Sie, Herr Wagner, haben sich
um eine klare Aussage gedrückt. Wollen Sie mehr als
49 Prozent der Anteile privatisieren oder nicht? Das
möchten wir hier im Deutschen Bundestag schon gern erfahren. Vielleicht erfahren wir es nachher von Ihnen, Frau
Hendricks. Das interessiert dieses Haus jedenfalls.
({5})
Dem „Bundesanzeiger“ können wir nur entnehmen, dass
„die Anteile“ zu privatisieren sind. Das lässt zunächst auf
eine Totalprivatisierung schließen. Das Bundesfinanzministerium ist bisher nicht zu weiteren Informationen bereit. Die Belegschaft wird nicht informiert. Selbst dem
Aufsichtsrat der Bundesdruckerei werden die notwendigen Informationen vorenthalten. Das kann so nicht weitergehen. Wir als Parlamentarier wollen in dieser Aktuellen Stunde aufgeklärt werden, wie Sie sich den weiteren
Gang der Dinge vorstellen und in welchem Umfang Sie
privatisieren wollen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal den
Standpunkt der Unionsfraktion zusammenfassen: Erstens
sind wir für einen zielstrebigen Privatisierungskurs. Wir
haben das während unserer Regierungszeit unter Beweis
gestellt. Wir müssen aber zweitens darauf Rücksicht nehmen, dass in der Bundesdruckerei auch hoheitliche und sicherheitsrelevante Tätigkeiten verrichtet werden. Drittens
meinen wir, dass es nicht angeht, Mitarbeiter in der Art
und Weise außen vor zu lassen, wie es im Augenblick geschieht.
Danke.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe am letzten Mittwoch, also vor einer guten
Woche, selber an der Demonstration von der Bundesdruckerei zum Bundesfinanzministerium teilgenommen
und anschließend auf der Kundgebung, die vor dem Bundesfinanzministerium stattfand, auch geredet.
({0})
- Nein, nein, ich habe mit der Belegschaft demonstriert
({1})
und auf Einladung des Betriebsratsvorsitzenden auf der
anschließenden Kundgebung reden dürfen. Dort habe ich
der Belegschaft versichert, dass wir ihre Befürchtungen
ernst nehmen, dass sie bei den Bündnisgrünen gute und
verlässliche Partner hat
({2})
und dass wir die Vorstellungen, die die Belegschaft entwickelt hat, so ernst nehmen, dass sie einer ernsthaften
Überprüfung durch das Ministerium und auch einer ernsthaften Diskussion hier im Deutschen Bundestag zugeführt werden. Auch Vertreter der anderen Parteien aus
Berlin, etwa der CDU, haben dort reden dürfen. Sie haben
sich sehr stark dafür gemacht, dass eine Privatisierung in
der Form, wie sie vorgesehen ist, dort nicht stattfinden
soll. Ich bin gespannt, wie sie dann hier im Deutschen
Bundestag darüber abstimmen werden.
Die Befürchtungen sind gerechtfertigt. Die Bundesdruckerei - darauf ist hingewiesen worden - war ursprünglich ein Bundesunternehmen und ist 1994 privatisiert und zu einer GmbH gemacht worden. Seither hat dort
ein Sanierungsprozess stattgefunden - das darf man nicht
vergessen -, bei dem 30 Prozent der Arbeitsplätze, die es
dort einmal gegeben hat, abgebaut worden sind. Das
heißt, dieses Unternehmen hat unendlich viel - wie
schwierig das ist, weiß jeder, der einmal in einer solchen
Situation gewesen ist - dazu beigetragen und geleistet,
dass aus ihm ein rentabler Betrieb gemacht wurde, der insgesamt seit letztem Jahr schwarze Zahlen schreibt. Das ist
ein großer Erfolg, und ich glaube, wir können der Belegschaft dort nur dazu gratulieren, dass sie das hinbekommen hat.
Wir dürfen es auf gar keinen Fall zulassen, dass die Belegschaft und die Geschäftsführung dadurch bestraft werden, dass wir nun den Betrieb verkaufen und es vielleicht
zu einer Zerschlagung des Unternehmens kommt, wenn
die profitablen Teile herausgenommen werden, der Betrieb der anderen möglicherweise eingestellt wird und dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden.
Die Bundesdruckerei ist im Bezirk Kreuzberg - das ist
mein Wahlkreis - der wichtigste und größte Arbeitgeber.
Es wäre eine Katastrophe für diesen Bezirk, der ohnehin
unter der höchsten Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt leidet, wenn dieser zentrale Arbeitgeber nicht mehr in Berlin beschäftigen würde. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist - das geben die Belegschaft und
der Betriebsrat auch zu bedenken; deshalb haben sie sich
über Beteiligungs- und Alternativformen der Bewirtschaftung durchaus Gedanken gemacht - der europaweite
Wettbewerb. Das heißt, wenn der Euro in zwei Jahren gedruckt wird, muss das nicht unbedingt bei der Bundesdruckerei geschehen, sondern die Auftragsvergabe wird
im freien Anbieterwettbewerb entschieden. Vielleicht
wird er auf Sizilien billiger und möglicherweise genauso
sicher gedruckt wie in Berlin-Kreuzberg. Dann ergibt sich
daraus ein Problem.
Daraus folgt, der Betrieb muss weiterentwickelt werden. Dabei ist vor allen Dingen der Betriebsteil Orga-Kartensystem ein sehr hoffnungsvoller Ansatz, der durch weitere Investitionen gefördert werden muss. Es ist deshalb
richtig und wichtig, dass ein Investor gesucht wird. Das
sieht auch die Belegschaft so und auch der Betriebsrat
macht dabei mit. Das sollen wir fördern.
Wir müssen allerdings sicherstellen, dass der Standort
gewahrt bleibt. Es kann nicht sein, dass die Hauptproduktion in Zweigbetriebe, wie jetzt nach Neu-Isenburg, verlagert wird. Es muss ein nur wenige Kilometer von hier
angesiedelter Standort bleiben, bei dem ein Teil der Berliner Bevölkerung Arbeit findet. Es muss ein Arbeitgeber
bleiben, bei dem nicht nur die Arbeitsplätze in diesem und
im nächsten Jahr gesichert sind, sondern auch in fünf oder
zehn Jahren, wenn dort keine Ausweise oder Reisepässe
in der heutigen Form mehr produziert werden, sondern
wenn Alternativen, etwa kleinere Chipkarten oder ÄhnliManfred Kolbe
ches, hergestellt werden. Auch dann müssen sie konkurrenzfähig sein. Das muss sichergestellt werden.
Ich denke deshalb, wir sind auf einem richtigen und
guten Weg, wenn wir dem Betriebsrat sagen: Legt eure
Konzepte vor, sie werden vom Finanzministerium geprüft! Legt eure Vorschläge für eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Produktion und den Entscheidungsprozessen vor! Wir garantieren euch, dass sie genau geprüft
werden und dass angesichts des Risikos, das mit einer
Veräußerung oder der Beteiligung eines Großinvestors
immer verbunden ist, sichergestellt wird, dass auf absehbare Zeit keinerlei Risiken für die Arbeitnehmer und den
Standort in der Stadt eintreten.
Wenn wir das tun, handeln wir verantwortlich. Dann
können sich dieser Betrieb und möglicherweise auch andere Bundesbetriebe oder ehemalige Bundesbetriebe solche Demonstrationen sparen, weil sie wissen, ihre
Angelegenheiten sind bei der rot-grünen Koalition gut
aufgehoben.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Dass ein Betrieb wie die Bundesdruckerei privatisiert wird, liegt im Interesse der Mitarbeiter.
({0})
- Im Interesse der Mitarbeiter, nicht in meinem Interesse.
({1})
Wenn Sie einmal nicht auf Panik machen und nicht in billiger Weise auf Stimmenfang gehen, werden Sie das auch
nachvollziehen können, meine Damen und Herren von
der PDS.
Ich sage Ihnen Folgendes: In der Bundesdruckerei werden in klassischer Form Dokumente gedruckt, überwiegend Briefmarken, Ausweise, Wertpapiere und andere Urkunden. Wer ein wenig um sich schaut, weiß, dass dieses
Geschäft erheblich zurückgeht. Es wird zwar immer wieder Dokumentendruck geben; dass in Zukunft aber noch
viele Briefmarken gedruckt werden, kann ich mir nicht
vorstellen.
Das Geschäft geht zurück. Das Dokumentengeschäft
- das hat auch Herr Ströbele eben gesagt - entwickelt sich
zu einem elektronischen Geschäft. Es werden ganz andere
Techniken verlangt. In einem solchen Betrieb wird es eine
ganz andere Art der Mitarbeit geben müssen. Dies müsste
zu einer Umorientierung mit Auswirkungen für die Mitarbeiter führen.
Für eine Investition in dieses elektronische Dokumentengeschäft steht genügend privates Kapital zur Verfügung. Ich sehe daher nicht ein, warum der Staat in dieses
Geschäft investieren soll, wenn andere, die dort Erfahrung haben und das Kapital bereitstellen können, das viel
besser machen können als der Staat.
({2})
Das ist die klare Konsequenz, der sich auch niemand verschließen kann. Die Privatisierung und das Überführen in
ein neues Geschäftsfeld sind das Normalste der Welt und
das Beste für die Mitarbeiter.
({3})
Nun muss man das natürlich ordentlich machen. Ich
sage noch einmal etwas zur PDS und ihren Sicherheitsbedenken. Das ist Unsinn. Als ob nicht schon Private Dokumente und auch hochsensible Dinge druckten. Dafür gibt
es Gesetze und man kann Verträge abschließen. Im Übrigen liegen vertrauliche Daten bei Krankenkassen, also
privaten Einrichtungen, bei Ärzten, Luftfahrtgesellschaften und Hotels. Überall gibt es vertrauliche Unterlagen
und Daten. Diese sind geschützt. Wenn sie nicht geschützt
werden, kann man dies ahnden. Das ist überhaupt nur ein
herbeigeholtes Argument.
Aber jetzt geht es um die Arbeitsplätze und die Form
der Privatisierung. Das Bundesfinanzministerium führt
über eine eingeschaltete Investmentbank Verhandlungen
und Gespräche mit einer Reihe von privaten Interessenten. Das ist okay. Aber ich wünsche mir und stelle mir vor,
dass man bei diesen Gesprächen und Überlegungen eben
nicht nur fiskalische Aspekte im Sinn hat, dass man nicht
nur möglichst schnell einen Erlös erzielen will. Sie haben
ja bereits einen erwarteten Veräußerungserlös in Höhe
von etwa 800 Millionen bis 1 Milliarde DM in den Bundeshaushalt eingestellt. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns das
mit sehr viel Sachverstand angehen.
Ich würde auch eine Überlegung ins Auge fassen, die
darauf hinausläuft, dass man das Unternehmen in gewisser Weise neu strukturiert und rationalisiert sowie einen
Börsengang macht. Ein Börsengang würde für den Fiskus
viel höhere Erlöse, eine viel höhere Kapitalisierung als
eine rasche und möglicherweise unglückliche Veräußerung an ein, zwei oder drei Interessenten bringen. Ich
kann das so jetzt nicht entscheiden; aber dieser Vorschlag
beruht auf den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren
in Deutschland gemacht haben.
Ein Börsengang wäre auch eine gute Möglichkeit, eine
interessante Form der Mitarbeiterbeteiligung umzusetzen.
({4})
Die Mitarbeiter könnten einen Bonus bekommen, könnten die Aktien, die Anteile zu günstigeren Konditionen als
andere Aktionäre erwerben. Das ist ernsthaft zu prüfen.
Ich glaube aber, man schiebt das einfach vom Tisch, da
man schnell einen Erlös erzielen will. Das, was hier von
Rot-Grün gemacht wird, ist keine verantwortungsvolle
Politik.
Die Gewerkschaften und Mitarbeiter möchten, dass
nach Möglichkeit nur 49 Prozent privatisiert werden, sie
selbst eine Sperrminorität von 25,1 Prozent bekommen
und die Aktien, die sie erhalten, durch Abstriche am Haustarif bezahlt werden. Der Haustarif ist im Übrigen schon
höher als der normale Tarif im Druckgewerbe. Auch das
muss man sehen. Frau Luft, hier darf man nicht polemisieren, sondern muss die Dinge in der richtigen Relation
sehen.
Ich rege also an, eine Form der Mitarbeiterbeteiligung
zu finden, wie sie heute üblich geworden ist, im Interesse
der Mitarbeiter und zu guten Konditionen - es muss natürlich eine mehrheitliche unternehmerische Führung möglich sein -, und anders, als Sie es jetzt tun, Frau Hendricks,
einen Börsengang ins Auge zu fassen. Das Unternehmen
würde eine Kapitalisierung bekommen, die weit über das
hinausginge, was meiner Meinung nach bei einer Einzelveräußerung zu erzielen ist. Dies wiederum stünde zur
Verfügung, um zu investieren. Diese Investitionen sind
geeignet, Arbeitsplätze in diesem Unternehmen in BerlinKreuzberg zu sichern.
Also gehen Sie mit Sachverstand und nicht fiskalisch
daran und schon gar nicht ideologisch und billig, auf Panikmache ausgelegt sowie darauf bedacht, bei den Mitarbeitern, die natürlich Angst um ihre Arbeitsplätze haben,
Punkte zu machen. Die Dinge müssen verantwortungsvoll
und nicht nur mit dem Ziel angegangen werden, dass man
Stimmen absahnen will. Das ist unsere Auffassung.
({5})
Für die Bundesregierung erhält jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Auffassung der
Bundesregierung zur Zukunft der Bundesdruckerei
GmbH ist geprägt von den Erfordernissen der Zukunftssicherung des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze.
Aufgrund der Entwicklungen auf den wichtigsten
Märkten der Bundesdruckerei - Herr Kollege Ströbele hat
das bereits dargestellt - ist für sie der Ausbau strategischer
Partnerschaften zur Unterstützung der weiteren Entwicklung der Gesellschaft und zur Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze unverzichtbar. Das ist auch - ganz
im Gegensatz zu dem, was Sie uns unterstellen, Herr
Rexrodt - der Grund, warum wir keinen Börsengang planen. Wir wollen eine strategische Partnerschaft bilden und
eben nicht einfach nur an der Börse Kasse machen. Ginge
man rein fiskalisch damit um, würde man an der Börse
Kasse machen und hätte keinen strategischen Partner für
die Weiterentwicklung des Unternehmens.
({0})
Uns geht es um einen strategischen Partner für die Weiterentwicklung des Unternehmens.
({1})
Der Bund hat sich in diesem Zusammenhang, wie gesagt,
für die Privatisierung der Bundesdruckerei entschieden,
eben um diese strategische Partnerschaft für die Zukunft
zu gewährleisten. Der Zeitpunkt für diesen Schritt ist im
Übrigen günstig, da in den wichtigsten Märkten der Bundesdruckerei Konsolidierungsprozesse ablaufen, die dem
Unternehmen die Chance eröffnen, gemeinsam mit Partnern, die auch Erfahrungen in diesen Geschäftsfeldern haben, international eines der marktführenden Unternehmen
zu werden.
Der Bund hat nach Durchführung eines breit angelegten Wettbewerbsverfahrens die Frankfurter Investmentbank Metzler damit beauftragt, ihn bei der Partnersuche
zu unterstützen. Die Privatisierung soll im laufenden Jahr
abgeschlossen werden. Aktuell hat das Bankhaus Metzler
ein Verkaufsmemorandum erstellt, auf dessen Grundlage
auch die Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes Angebot für eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben. Es ist
also nicht so, dass wir dies ausschließen wollten.
Wenn Frau Kollegin Luft davon sprach, dass es keine
Tarifverhandlungen gegeben habe, so ist festzustellen:
Selbstverständlich hat die Bundesregierung keine Tarifverhandlungen geführt. Da es sich um einen Haustarifvertrag handelt, hat natürlich die Geschäftsführung der
GmbH mit dem Betriebsrat Tarifverhandlungen geführt
und jetzt auch ein Angebot unterbreitet, wie die Mitarbeiterbeteiligung im Rahmen eines Tarifvertrages gewährleistet werden kann, wenn die Mitarbeiter es denn
wollen. Es ist ja die Frage, ob sie das wollen. Das Bankhaus Metzler hat dies ausdrücklich in sein Angebot mit
aufgenommen.
Dieses Konzept wird dann in Verhandlungen mit potenziellen Kaufinteressenten einbezogen. Derzeit wird
noch mit etwa 70 Gesellschaften gesprochen, die ein erstes Erwerbsinteresse bekundet haben. Dabei wird es
natürlich nicht bleiben.
Bei der Umsetzung des Vorhabens haben die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Datenschutz selbstverständlich höchste Priorität. Kollege Wagner hat schon darauf hingewiesen: Es
gibt schon heute in der Bundesrepublik Deutschland ein
zweites Unternehmen, das seit mehr als 40 Jahren Banknoten druckt, natürlich zur vollständigen Zufriedenheit
hinsichtlich der Sicherheit. Sonst hätten wir das nicht seit
mehr als 40 Jahren so handhaben können. Diese sicherheitspolitischen Interessen sind also auch dann gewährleistet.
Das Bundesfinanzministerium und die Bundesdruckerei führen darüber zurzeit Gespräche mit dem zuständigen
Bundesinnenministerium. Wir stehen kurz vor einem Abschluss.
In einem noch abzuschließenden Vertrag sollen dann
unter anderem die Anfertigung und Auslieferung der von
der Bundesdruckerei herzustellenden Personaldokumente
sowie Aufsichts- und Weisungsrechte des Bundesministeriums des Innern geregelt werden. Die Bundesdruckerei
kann auch nach der Veräußerung ihre Aufgaben wie bisher erfüllen. Sie ist ja bisher - das wurde bereits gesagt Dr. Günter Rexrodt
schon seit Juni 1994 durch Umwandlung zur GmbH in einer privaten Rechtsform tätig.
Soweit die Bundesdruckerei in den vergangenen Jahren für hoheitliche Aufgabenerfüllung tätig und insbesondere für drucktechnische Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen wurde, war sie als so genannter technischer Verwaltungshelfer beauftragt und wurde von der
zuständigen Stelle überwacht. Diese Möglichkeiten der
Beauftragung der Bundesdruckerei ändern sich durch die
Veräußerung der Kapitalanteile des Bundes an der Bundesdruckerei nicht.
Zum Thema Datenschutz möchte ich im Übrigen feststellen, dass die gesetzlichen Regelungen zur Sicherung
der datenschutzrechtlichen Belange natürlich auch für
eine veräußerte Bundesdruckerei fortgelten.
Die vom Bund angestrebte Privatisierung der Bundesdruckerei dient in einem sich rasant wandelnden Markt
der nachhaltigen Sicherung des Unternehmens und der
Arbeitsplätze. Die Einbindung privater Investoren wird
selbstverständlich auch in Regelungen zu Arbeitnehmerrechten eingebettet sein. Grundsätzlich ist festzustellen:
Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der Bundesdruckerei greift nicht in die bestehenden arbeitsvertraglichen Verhältnisse zwischen dem Unternehmen und
seinen Arbeitnehmern ein. Es besteht ein gesetzliches
Schutzsystem zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeitnehmer eines Unternehmens. Insbesondere gelten die Bestimmungen eines Tarifvertrages so lange weiter, bis sie
durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Eine solche Ersetzung ist ohne Zustimmung der Arbeitnehmer
und ihrer Vertreter nicht möglich.
Ich bitte, dies bei all den Aufregungen, die es bisher gegeben hat, zu bedenken. Ich bin ja mittlerweile an die regelmäßigen Demonstrationen der Belegschaft der Bundesdruckerei vor dem Bundesfinanzministerium gewöhnt. Ich bitte, gewissermaßen aus diesem Haus heraus
nicht für weitere Unruhe zu sorgen, sondern mit Gelassenheit die Angebote zu prüfen, die die privatisierte Bundesdruckerei im weiteren Prozess den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern machen wird, sowie die Ausrichtung
auf eine strategische Partnerschaft zu Sicherung des Unternehmens, der Arbeitsplätze und der Marktposition im
Auge zu behalten.
Abschließend möchte ich noch etwas Ungewöhnliches
sagen: Ich bitte um Entschuldigung, aber meine Nichte
steht vor der Tür. Ich hole sie jetzt in den Plenarsaal und
bin dann gleich wieder hier.
({2})
Herzlichen Dank.
({3})
Ich glaube, das
versteht jeder. Wir sind gespannt auf die Nichte.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias.
Ich würde der Nichte
auch gerne guten Tag sagen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Den Mitarbeitern des Finanzministeriums müssten an sich die Ohren geklungen haben. Den ganzen Mai
über hielten die Beschäftigten der Bundesdruckerei eine
Mahnwache vor ihren Toren ab, und zwar nicht mit Pauke,
aber mit Trompete. Offensichtlich wurde aber der richtige
Ton nicht getroffen oder der Betriebsrat der Bundesdruckerei traf mit seinen Forderungen auf taube Ohren.
Dabei forderte er nicht mehr und nicht weniger als die
Umsetzung des von meinem Kollegen Kolbe bereits genannten Beschlusses der Regierung Kohl, bei einer Kapitalprivatisierung der Bundesdruckerei nicht mehr als 49,9
Prozent zu privatisieren und davon nicht mehr als 25 Prozent in eine Hand zu geben.
Im Gegensatz zu manchen anderen Rednern - zum
Beispiel dem Kollegen Rexrodt - sehe ich aus hoheitlicher Sicht sehr wohl Aufgaben, die datenschutzrechtliche
Belange berühren. Man kann, Herr Dr. Rexrodt, Hoteldaten nicht mit Nato-Flugplänen vergleichen. Beispielsweise hat auch der Druck aller Steuerzeichen und Asylbescheinigungen eine hohe sicherheitspolitische Relevanz,
die der Bund nicht völlig außer Acht lassen darf.
Es gibt aber auch handfeste finanzielle Gründe dafür,
sich an den ehemaligen Kabinettsbeschluss zu halten. Die
Bundesdruckerei ist finanziell gesund, hat alle Schulden
abgebaut und alle Investitionen der letzten Jahre aus eigenen Mitteln finanzieren können. Was macht die Bundesregierung? - Sie schlachtet das Huhn, das goldene Eier
legt. Wenn sie dies schon tut, sollte sie wenigstens die Beschäftigten der Bundesdruckerei zu Tisch bitten; zumal
dann, wenn der Bundesfinanzminister sie dazu indirekt
ermutigt.
Ich zitiere zu diesem Punkt Hans Eichel. Er sagte im
„Spiegel“ vom 10. Januar 2000:
Ein Unternehmen wird zufriedene Kunden nur bekommen und gute Leistungen bringen, wenn es zufriedene Mitarbeiter hat.
Recht hat er. Weiter sagte er:
Deswegen finde ich alle Arten von Mitarbeiterbeteiligungen wichtig. Ich bin strikt dagegen, dass es nur
Aktienoptionspläne für die Chefs gibt und für leitende Mitarbeiter, ich bin für eine breite Beteiligung
der Belegschaft.
Dichtung und Wahrheit! Die Wahrheit ist: Das Finanzministerium und damit die gesamte Regierung drücken sich
um die Verantwortung. So erklärte Finanzstaatssekretär
Overhaus im Frühjahr dieses Jahres, die Beschäftigten
sollten mit den Konzernen, Banken und Fondsgesellschaften mitbieten. Herr Overhaus nennt dies „Transparenz und Gleichbehandlung der Bieter“. Das ist soweit in
Ordnung; nur ist es absolut lächerlich, wenn die Mitarbeiter überhaupt keine Informationen erhalten.
Es ist nicht zu vertreten, wenn das verkaufsbegleitende
Bankhaus Metzler, von dem die Rede war, ein Memorandum erstellt, es aber den Mitarbeitern nicht zur Verfügung
stellt. Hier, Frau Dr. Hendricks, muss ich Ihnen ganz
nachdrücklich widersprechen. Bis zum heutigen Tage Stand 16.30 Uhr - hat der Betriebsrat, haben die Mitarbeiter keinerlei Informationen, haben sie kein verkaufsbegleitendes Memorandum erhalten. Ich bitte Sie, richtig
zu stellen, ob ich mich irre oder ob Sie - gegebenenfalls
in Unkenntnis der Tatsache - etwas Falsches gesagt haben.
Das erste Bieterverfahren der Interessenten wurde am
5. Juni diesen Jahres abgeschlossen. Ich halte noch einmal
ausdrücklich fest: Die Mitarbeiter haben keinerlei Informationen bekommen und sind auch sonst in keiner Weise
an den Verkaufsverhandlungen beteiligt worden. So sieht
der Umgang der Bundesregierung mit den Beschäftigten
der Bundesdruckerei tatsächlich aus.
Betriebsrat und die über 2 000 Beschäftigten der Bundesdruckerei sind keine Totalblockierer. Sie wollen aber
an der Zukunft ihres Unternehmens angemessen beteiligt
werden. Sie fordern unter anderem: kein Verkauf im
Eilverfahren, keine Zerschlagung der Bundesdruckerei,
Sicherung der Standorte und Sicherung der erworbenen
Rechte. Dies sind Punkte, die man, wie ich meine, unterstreichen kann. Die Mitarbeiter der Bundesdruckerei sind
engagiert, sie sind couragiert und sie sind verantwortungsbewusst. Sie haben verdient, Frau Dr. Hendricks,
dass man ihnen zuhört. Alles andere ist im wahrsten Sinne
des Wortes unerhört.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Siegrun Klemmer.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesdruckerei
ist mit der Umwandlung in eine GmbH im Juni 1994, die
aus der traditionsreichen Druckerei ein innovatives
Hightech-Unternehmen gemacht hat, das erfolgreich am
Markt operiert, gut gefahren. So hat sich der Umsatz von
1993 bis 1999 fast verdoppelt. Durch Investitionen und
sozialverträgliche Rationalisierungsmaßnahmen konnte
eine stabile Grundlage künftiger Gewinnentwicklung geschaffen werden. Nicht zuletzt diese Investitionen - auch
die des Bundes - zusammen mit dem Engagement von
Geschäftsleitung und Belegschaft haben diese erfolgreiche Entwicklung ermöglicht und der Bundesdruckerei zu
einer hervorragenden Startposition im internationalen
Wettbewerb verholfen.
Im Moment stehen Überlegungen für eine zweite
Phase der Privatisierung im Raum. Für die SPD-Fraktion
ist selbstverständlich von Anfang an klar gewesen, dass
der Erhalt der Arbeitsplätze an allen Standorten und die
Zukunftssicherung des Unternehmens oberste Priorität
besitzen. Mit uns ist eine Zerschlagung des Unternehmens
ebenso wenig zu machen wie die Aufgabe einzelner Produktionsstandorte.
({0})
Auch der besonders ertragreiche Unternehmensbereich
Orga darf bei einer Privatisierung auf keinen Fall als Solitär aus dem Unternehmen herausgelöst werden.
Klar ist aber auch: Eine Beibehaltung des Status quo
würde nicht zuletzt der Bundesdruckerei selbst und vor allen Dingen den Beschäftigten schaden. Die sich verschärfenden europäischen und weltweiten Wettbewerbsbedingungen fordern eine strategische Investitionspolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, dass der
Bund die Kosten dafür in Zukunft nicht wird übernehmen
können.
({1})
Wem es um die Sicherung der Arbeitsplätze geht, muss
der Bundesdruckerei einen starken Partner wünschen, mit
dem der eingeschlagene Weg fortgeführt werden kann.
Dass die Frankfurter Investmentbank Metzler ein so
großes Interesse in- und ausländischer Investoren ausgemacht hat, stärkt die Verhandlungsposition des Bundes
und damit die der Bundesdruckerei außerordentlich.
Die Bedingungen für eine Veräußerung müssen erstens
der Erhalt und Ausbau der Arbeitsplätze, zweitens die Sicherung aller Standorte, drittens die Beibehaltung der
Zahl der Auszubildenden, viertens der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen,
({2})
fünftens die Wahrung der Arbeitnehmerrechte und sechstens die Übernahme der Versorgungsverpflichtungen
sein.
({3})
Wir wünschen uns - das ist an die Adresse des Finanzministeriums gerichtet -, dass die Beschäftigten in Zukunft besser informiert werden.
({4})
Neuinvestitionen sollten vor allen Dingen dem Hauptstandort Berlin zugute kommen. In Berlin zählt die Bundesdruckerei mit ihren 2 085 Beschäftigten - das ist schon
erwähnt worden - zu den zehn größten Industriebetrieben
der Stadt. Mit knapp über 2 000 Beschäftigten einer der
zehn größten Industriebetriebe der Stadt! Mit derzeit
70 Auszubildenden ist die Bundesdruckerei der größte
Ausbilder der Druckindustrie in der Region Berlin-Brandenburg. Diese Region hat seit dem Fall der Mauer nahezu die Hälfte der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren. Die Bundesdruckerei ist mit ihren qualifizierten und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
zu einem unverzichtbaren Teil einer positiven Entwicklung in dieser Region geworden.
Diese Region hat seit der Wiedervereinigung - das darf
immer noch erwähnt werden - mit erheblichen strukturellen Veränderungen zu kämpfen. 40 Prozent der Belegschaft der Bundesdruckerei wohnen in Kreuzberg. Das ist
in Berlin der Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit.
Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind Frauen. Auch
deswegen muss der Standort Kreuzberg als Zentrale und
Hauptproduktionsstätte erhalten bleiben.
({5})
Ich habe in der heutigen Debatte mitunter den Eindruck
gewonnen, wir würden uns heute für den Verkauf oder gar
für einen bestimmten Investor entscheiden. Das ist natürlich nicht der Fall. Erst dann, wenn dem Deutschen Bundestag ein akzeptables Angebot vorliegt - ein solches Angebot liegt natürlich zuerst dem Finanzministerium vor;
aber ich gehe davon aus, dass auch der Haushaltsausschuss an der Entscheidung beteiligt sein wird -, wird
eine Entscheidung fallen und wird allen Beschäftigten der
Bundesdruckerei eine realistische Option auf eine gute
Zukunft eröffnet werden können.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Ich möchte die
letzten Worte der Kollegin Klemmer gleich aufnehmen:
Natürlich geht es heute nicht um den Verkauf der Bundesdruckerei. Worum geht es heute? Es geht um einen
Vorgang, der alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik angeht, und zwar nicht nur deshalb, weil es um den
Datenschutz geht. Der Kollege Helias hat die datenschutzrelevanten Produkte dieses Unternehmens aufgezählt, die weit über Personalausweis, Fahrerlaubnis und
über das, was man sonst noch alles im Leben erwirbt, hinausgehen. Es geht um eine Belegschaft, die bereit ist,
Verantwortung zu übernehmen, die politisch agiert und
zumindest bisher von der Bundesregierung links liegen
gelassen wurde.
({0})
Es geht aus meiner Sicht um eine Regierung, die sich unpolitisch - als schlechter Kassenwart darstellt und die
obendrein - das müssen Sie sich sagen lassen; Sie sind
vorhin eine Antwort schuldig geblieben - mit Tricks und
mit Halbwahrheiten operiert. Das werde ich Ihnen gleich
beweisen.
Beispiel Datenschutz und hoheitliche Aufgaben: Die
Bundesregierung antwortet auch heute, hoheitliche Aufgaben könnten wie bisher, von der zuständigen Stelle
überwacht, erfüllt werden. Unter datenschutzrechtlichen
Aspekten sei die Bundesdruckerei zwar sensibel, aber die
datenschutzrechtlichen Vorschriften würden auch für eine
veräußerte Bundesdruckerei uneingeschränkt weitergelten. Außerdem würden alle Aspekte des Datenschutzes
und der allgemeinen Sicherheitsbelange des Bundes mit
dem federführenden Bundesministerium des Innern abgestimmt.
Alle drei Antworten sind zumindest nachfragewürdig,
gerade weil sie für alle Bürgerinnen und Bürger hochsensibel sind; denn dass die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben
entsprechenden Kontrollen unterliegen muss, ist ein
Allgemeinplatz. Es bleibt vielmehr zu bedenken - und
zwar vor dem Verkauf -, dass der Bund mit seinem Totalausscheiden auch seinen unternehmerischen Einfluss
preisgibt, was nicht ausschließt, dass sich über kurz oder
lang auch die Unternehmensphilosophie ändern kann. Interessierte Verlagshäuser haben sich dazu geäußert.
Die „beruhigenden“ Antworten zum Datenschutz beunruhigen mich aus mehreren Gründen: Zum einen wissen wir aus dem Büro des Datenschutzbeauftragten, dass
unsere Bedenken von ihm durchaus geteilt werden. Zweitens hat sich nach unseren Informationen der Datenschutzbeauftragte vor Wochen an die Bundesregierung
gewandt, um entsprechende Informationen zur geplanten
Privatisierung zu erhalten und um Ihnen, so wie ich ihn
kenne, Ratschläge zu geben, damit wir an dieser Stelle
nicht nachbessern müssen.
Das heißt - drittens -, die Bundesregierung ist offensichtlich keineswegs von selbst an den Datenschutzbeauftragten herangetreten. Antworten hat er allerdings
auch von Ihnen bisher nicht bekommen. Diese Praxis der
Unterlassung widerspricht aber den heute gegebenen Antworten und allen Versicherungen gegenüber der Belegschaft. Von einer datenrechtlichen Entwarnung kann
keine Rede sein.
Wenn diese Befürchtungen stimmen, dann bleibt auch
Ihre Antwort, die Erwerber der Geschäftsanteile würden
selbstverständlich die gesetzlichen Verpflichtungen und
Bestimmungen des Datenschutzgesetzes zu beachten haben, nachfragewürdig. Was heißt denn nun „beachten“?
Gefragt war sowohl in den mehrfach gestellten Anfragen
als natürlich auch heute nach den Vorgaben, die etwaigen
Interessenten zu diesem Vorgang gemacht wurden. Sie
bleiben die Antwort schuldig.
Ein weiteres Problem - heute schon mehrfach angesprochen - ist die soziale Sicherung. Im Kern haben Sie
geantwortet: Tarifverträge gelten, solange sie gelten, und
neue bedürfen der Zustimmung der Arbeitnehmer. Gefragt war allerdings - und zwar die Bundesregierung als
potenzieller Verkäufer und zugleich als weiterhin zuständiger Ansprechpartner -, was sie unternimmt - oder auch
nicht -, um zu verhindern, dass ein Verkauf der Bundesdruckerei sozial zulasten der Beschäftigten geht. Der Antwort ist zu entnehmen: nichts. Die logische Begründung
dafür wäre, dass Finanzminister Eichel ausschließlich an
einem hohen Verkaufspreis interessiert ist. Wir wissen
natürlich, dass soziale Belange auch ein Verkaufshindernis sein können.
Ungeklärt bleiben bisher die Ausbildung und die Frage
nach den Pensionen. Spätestens nach der Privatisierung
der Post sind die Beschäftigten sehr wohl zu Recht misstrauisch, wie man damit umgeht. Ungeklärt bleibt außerdem die Arbeitsplatzfrage in Berlin-Kreuzberg. In diesem
Bezirk liegt die Arbeitslosenrate bei 30 Prozent.
Letzter Punkt. Sie sollten sich klarmachen, dass sich
alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen; die F.D.P.
ist dort seit längerem nicht mehr vertreten, deshalb konnten Sie darüber nicht aufgeklärt werden, Herr Rexrodt ({1})
mit dem Senat und den Kreuzberger Bezirksverordneten
einig sind, dass die Bundesdruckerei erhalten werden
muss und dass sie weder voll privatisiert noch zerlegt werden darf. Das heißt, die Bundesregierung betreibt nicht
nur eine Politik gegen die Belegschaft, sondern in diesem
Fall auch gegen das Land Berlin.
({2})
Jetzt hat der
Kollege Oswald Metzger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, es ist legitim, wenn
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bundesunternehmen um ihre Arbeitsplätze Angst haben, wenn ein Eigentümerwechsel ansteht. Daran kommt man nicht vorbei
und das muss man akzeptieren. Deshalb muss sich die
Koalition mit dieser Frage ernsthaft auseinander setzen.
Ich werde mich morgen früh mit dem Betriebsratsvorsitzenden treffen. Der Haushaltsausschuss des Bundestags
war bereits vor Wochen im Betrieb und hat mit der Geschäftsleitung ausführlich gesprochen. Ich kenne viele
Kolleginnen und Kollegen, die selber Kontakte zur Bundesdruckerei haben.
Sie können sich darauf verlassen: Niemand aus der Koalition und auch niemand aus meiner Fraktion würde die
Hand heben, wenn es darum ginge, diesen Betrieb in
Kreuzberg zu schlachten. Dieser Eindruck wird in dieser
Debatte immer wieder - aus meiner Sicht zu Unrecht - erweckt.
({0})
Es geht um einen florierenden Betrieb, der in den letzten Jahren als 100-prozentige Eigengesellschaft des Bundes in privater Rechtsform eine Leistung erbracht hat, die
Anerkennung verdient. Aus einem Verlustbringer wurde
die frühere Bundesbehörde - ich weiß sehr wohl: unter
Verlust von 30 Prozent der Belegschaft - in ein betriebswirtschaftlich gut geführtes und leistungsfähiges Unternehmen umgewandelt. Aber das Unternehmen ist zukunftsfähig und marktorientiert. Es gibt 70 Interessentinnen und Interessenten. Gerade das zeigt doch, dass es sich
um ein florierendes Unternehmen handelt, das angesichts
der Veränderungen auf den Märkten - ich erinnere an die
Sicherheitsdruckbereiche - strategische Partner braucht.
Wer glaubt, dieses Kreuzberger Unternehmen würde in
einem hart umkämpften, sich konsolidierenden europäischen Markt in der jetzigen Rechtsform, mit den jetzigen
Eigentumsverhältnissen weiter existieren können, der
täuscht sich. Wir brauchen strategische Partner. Ohne die
strategischen Partner wird dieser Betrieb unter Druck geraten. Deshalb glaube ich, dass die Privatisierungsbemühungen nicht nur zu einem Erhalt der Belegschaft in
ihrem Kernumfeld, sondern auch dazu führen, dass durch
strategische Allianzen mit anderen Partnern am Standort
Kreuzberg weitere Beschäftigungsfelder erschlossen werden. Es gibt im Interessenbekundungsverfahren durchaus
Hinweise darauf, das dem so ist.
Kollege Helias hat vorhin eine Behauptung aufgestellt,
die ich so nicht stehen lassen will. Er hat gesagt, bis heute
Nachmittag hätten die Arbeitnehmervertreter der Bundesdruckerei noch keine Kenntnis von diesem Memorandum
erhalten. Das ist richtig. Aber auch noch keine der Firmen,
die sich für eine Übernahme interessieren, hat dieses Memorandum; denn es befindet sich erst in der abschließenden Abstimmung des Bankhauses Metzler und des
Finanzministeriums. Zeitgleich mit den anderen Interessenten werden auch die Belegschaften dieses Memorandum erhalten und damit die Chance haben, auch Mitarbeiterbeteiligungsmodelle in dieses Verfahren einzubringen.
Ich kann Ihnen versichern, dass im Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestages eine sehr ernsthafte und seriöse Debatte über die Privatisierung stattfinden wird,
wenn sich die Angebote konkretisieren, sodass wir eine
Entscheidung im Lichte der sozialen Belange der Belegschaft und im Lichte der datenschutzrechtlichen Erfordernisse treffen können, die man in diesen Bereichen
nicht hintanstellen kann. Der Bundesinnenminister, in
dessen Geschäftsbereich der Datenschutzbeauftragte
gehört, ist zu Recht mit einem Vertrag mit der Bundesdruckerei befasst, mit dem man die Einhaltung dieser
Sicherheitsbelange gewährleisten will. Daher wird im
Haushaltsausschuss auch im Lichte der datenschutzrechtlichen Regelungen und natürlich auch der Arbeitnehmerschutzbelange eine Entscheidung getroffen werden, die
dem Standort Kreuzberg der Bundesdruckerei und damit
der strategischen Zukunftssicherung dieses Unternehmens alle Chancen einräumt.
Ich werde persönlich und für meine Fraktion - ich
denke, ich kann das auch für die Koalition tun - jede Garantie abgeben, dass der Verkauf nicht zur Ausschlachtung dieses florierenden Unternehmens, sondern eher zu
seiner langfristigen Sicherung beitragen wird.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jochen Henke.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen, dass
ich dieser Aktuellen Stunde bisher mit großem Interesse
gefolgt bin; denn ich denke, dass dieses Thema es - weit
über den Teilaspekt hinaus, der von der PDS zur Grundlage dieser Aktuellen Stunde gemacht wurde - verdient,
in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Dieser Meinung
bin ich noch aus einem anderen Grund.
Diese Aktuelle Stunde reiht sich heute für mich in eine
Reihe von Tagesordnungspunkten ein, die - das sage ich
den Regierungskoalitionären - bei mir Zweifel daran aufkommen lassen, ob Sie mit Ihrem ständigen Reden von
der Notwendigkeit der Ablösung der alten Regierung
Recht haben.
({0})
Unter dem ersten Tagesordnungspunkt heute Morgen
gab es eine Regierungserklärung des Verkehrsministers
zu Urban 21. Da war man unisono voll des Lobes für die
vorherigen Minister. Dann haben wir uns mit der inneren
Situation der Europäischen Union und dem Verhältnis zu
Österreich beschäftigt. Ich denke, auch da wird sich Ihre
Position noch normalisieren und zunehmend an unserer
Haltung orientieren.
({1})
Der dritte Tagesordnungspunkt betraf den Kosovo. Sie
können froh sein, dass die Vorgängerregierung und deren
Minister die Kärrnerarbeit geleistet haben, auf der Sie aufbauen können. Sonst hätten wir die Beschlüsse heute gar
nicht fassen können.
({2})
Insofern ist diese Debatte eigentlich nur die konsequente
Fortsetzung der vorangegangenen Debatten.
Mit diesem Tagesordnungspunkt landen wir an einer
Stelle, an der Sie nun wirklich überhaupt keinen Grund
haben, sich irgendwelche eigenen Verdienste an den Hut
zu heften. All das, was negativ passiert - die Beiträge belegen es teilweise eindrucksvoll -, zeigt aber, dass Sie das
Geschäft leider Gottes eigentlich noch nicht richtig verstehen.
({3})
Hätten wir mit dem, was Sie in Ihrer Regierungserklärung festgeschrieben haben, Kollege Wagner, Kollege
Metzger, nämlich den Staat zu modernisieren und auf
seine Kernaufgaben zurückzuführen, im Rahmen unseres
Privatisierungskonzeptes in der vorausgegangenen Legislaturperiode nicht schon nachhaltig Ernst gemacht, dann
könnten Sie heute - meine Vorredner, Herr Kolbe und
Herr Helias, haben das ausgeführt - gar keine Früchte ernten.
({4})
Ich will, Frau Staatssekretärin, an der Stelle auf zwei
Dinge abheben:
({5})
Erstens. Ihre Privatisierungspolitik ist ausschließlich
von fiskalischen Überlegungen geprägt,
({6})
sonst würden Sie nicht die Privatisierung von seit 1998
zur Privatisierung anstehenden Unternehmen ständig von
Jahr zu Jahr verschieben. Warum tun Sie das? Sie können
die Einnahmen im Haushalt nicht gebrauchen, weil sie zu
sehr Begehrlichkeiten wecken.
({7})
Zweitens. Die Ausführungen von verschiedenen Beteiligten auf Ihrer Seite zum konkreten Thema sind im
Grunde alles Luftnummern. Tatsache ist, dass in der vorausgegangenen Legislaturperiode gegen kein Privatisierungsprojekt - da gab es außerordentlich schwierige und
konfliktträchtige - in irgendeiner Form Demonstrationen
stattfinden mussten oder stattgefunden haben. Interessant
ist, dass bei Demonstrationen gegen die Art und Weise Ihres Vorgehens nun Repräsentanten der Koalitionsfraktionen mit auf der Straße stehen, sich in den Demonstrationszug einreihen und im Grunde gegen die eigene Regierung demonstrieren.
({8})
So weit haben wir es nicht gebracht. Das ist das Ergebnis
Ihrer bisherigen Politik.
Wir meinen, dass es tatsächlich notwendig ist, Privatisierungsgrundsätze und Maßstäbe zur Modernisierung für
die einzelnen Unternehmungen und Bereiche zu definieren. Diese Aufgabe ist in der Tat bei der Bundesdruckerei - die Argumente sind ausgetauscht - lösbar. Die Interessen der Belegschaft können berücksichtigt werden,
eine strategische Neuausrichtung ist möglich und gleichzeitig kann die Privatisierung nach vertretbaren und akzeptablen Maßstäben durchgeführt werden. Nur, dafür ist
es nötig, ehrlich und offen zu sein und Farbe zu bekennen.
Der Finanzminister und die Mehrheitsfraktionen tun dies
im Haushaltsausschuss jedoch nicht.
Gestern war der Finanzminister dort. Was hat er zur
Privatisierungspolitik im Jahre 2000 gesagt? Irgendwann
werde es Einnahmen durch eine Teiltranche der Postprivatisierung und durch die zweite Tranche von Telekomaktien sowie durch die Vergabe von Mobilfunklizenzen
geben - ansonsten kein Wort. Das wird der sozialen, ordnungspolitischen und haushaltspolitischen Dimension
dieses Themas, die allein in diesem Jahr voraussichtlich
eine Größenordnung von 120 bis 150 Milliarden DM an
Einnahmen erreicht, nicht gerecht. Sie aber treten bei diesem Thema auf der Stelle, weil Sie nicht wissen, was Sie
wollen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesdruckerei
wurde im vorigen Jahr 120 Jahre alt. 120 Jahre Reichsund Bundesdruckerei bedeuten 120 Jahre Spitzenleistungen im grafischen Gewerbe. Dieses leistungsfähige Unternehmen hat in der Tat über mehr als 100 Jahre insbesondere für einen Kunden gearbeitet: Das war der Staat;
deswegen auch die Frage, um welche hoheitlichen Aufgaben es geht.
Wir müssen aber sehen, dass sich die Bedingungen
geändert haben. Heute werden alle Leistungen, die die
Bundesdruckerei anbietet, europaweit ausgeschrieben.
Wenn der Staat, wenn die Bundesregierung oder wenn
eine andere deutsche Behörde Leistungen der Bundesdruckerei in Anspruch nehmen will, kann der Auftrag erst
erteilt werden, wenn sich die Bundesdruckerei im Wettbewerb mit anderen durchgesetzt hat. Das haben wir alle
so gewollt.
({0})
Dass die Zukunft dieses Unternehmens nur gesichert
werden kann, wenn das Unternehmen im Wettbewerb mithalten kann, das ist der springende Punkt. Und da sage ich
Ihnen: Ich bin ganz sicher, die Zukunft der Bundesdruckerei in Kreuzberg, die Zukunft der Bundesdruckerei
in Deutschland insgesamt ist nur zu sichern, wenn die
Leistungsfähigkeit europaweit gegeben ist. Dazu braucht
dieses Unternehmen Investitionen. Es braucht Beweglichkeit und es braucht Partner.
Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit auch einmal einen Dank aussprechen, ({1})
- ja, Herr Rexrodt, das haben Sie nicht getan! ({2})
einen Dank an die Mitarbeiter, an die Geschäftsführung,
auch an den Betriebsrat; denn ein wesentlicher Teil der
Qualität dieses Unternehmens besteht in der Qualität der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
({3})
All diese Leistungen wären nicht zu erbringen, wenn es
nicht diese Tüchtigkeit, dieses Qualitätsbewusstsein und
die Verbundenheit mit diesem Unternehmen gäbe.
Deswegen kann ich das, was mehrere Kollegen und
übrigens auch die Frau Staatssekretärin gesagt haben, nur
unterstreichen. Natürlich wird es eine Lösung für die Zukunft immer in engem Kontakt mit der Geschäftsführung
und auch mit den Beschäftigten, mit der Personalvertretung dieses Unternehmens geben. All dies ändert aber
nichts an der Tatsache, dass das Unternehmen eine Zukunft nicht nur als Anbieter von Leistungen für die Bundesrepublik Deutschland, für die Bundesregierung
braucht.
Das fängt schon damit an, dass der Banknotendruck,
über Jahrzehnte ein Kerngeschäft des Unternehmens,
künftig beim Euro natürlich nicht in Form eines Monopols betrieben werden kann, sondern die Bundesdruckerei wird mit anderen Unternehmen in Europa konkurrieren müssen. Aber die Bundesdruckerei wird durch Verbreiterung des Geschäftsfeldes auch in der Lage sein, ihre
Leistungen für eine Vielzahl von Kunden anzubieten. Sie
hat dabei im Wesentlichen schon sehr gute Fortschritte gemacht.
Ich meine, wir alle tun gut daran, bei aller berechtigten
Kritik und bei allem kritischem Hinschauen die Zukunft
der Bundesdruckerei nicht durch Polemik zu beschädigen. Wir müssen diesem Unternehmen durch Stärkung
der eigenen Leistungsfähigkeit - das wird sicherlich nur
durch starke Partner möglich sein - den Weg ebnen. Das
Ziel ist klar. Es geht nicht darum, Kasse zu machen, sondern darum, die Zukunft dieses Unternehmens mit seiner
120 Jahre alten Tradition in einer neuen Form zu sichern.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mein mehr
grundsätzliches Konzept lege ich auf die Seite und drücke
mein Erstaunen aus über den Wandel in der SPD und bei
den Grünen. Argumente, die hier vorgetragen worden
sind, könnten zum Teil von uns stammen. Man sieht: Das
Sein verändert das Bewusstsein.
({0})
Sie werden am Ende so viel von uns gelernt haben,
({1})
dass wir uns schwer tun werden, Sie abzulösen. Es wird
uns trotzdem gelingen.
Die beste Voraussetzung dafür, dass die Bundesdruckerei Zukunft hat, ist, sie wettbewerbsfähig zu machen. Alle, die der Meinung sind, man könnte ihnen mit
dem Mäntelchen des Staatsbetriebs die Zukunft erhalten,
täuschen die Leute in den Betrieben und gaukeln ihnen etwas vor, was so keine Zukunft haben wird. Jeder von uns
weiß, dass gerade im grafischen Gewerbe zurzeit ein mörderischer Wettbewerb herrscht; viele Betriebe bleiben auf
der Strecke. Das heißt, wenn wir dieses für Berlin und
Kreuzberg sehr wichtige Unternehmen zukunftsfähig machen wollen, brauchen wir private Investoren,
({2})
Leute mit Kapital, aber auch mit Know-how, damit sie in
der Lage sind, im europäischen Wettbewerb zu bestehen,
denn das wird die Konsequenz für diesen Betrieb sein.
Wir werden, wenn der Euro gedruckt wird, einen europäischen Wettbewerb in dieser Angelegenheit haben. Wir
müssen den Leuten in dem Unternehmen klarmachen,
dass sie nur dann bestehen werden, wenn dieser Betrieb
den Wettbewerb bestehen kann. Es gibt dazu keine Alternative.
({3})
Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass wir mit einem defizitären Staatsbetrieb die Arbeitsplätze erhalten können.
Alle, die eine solche Illusion erzeugen, wenden sich gegen die Interessen der Arbeitnehmer, von denen hier
mehrfach gesprochen wurde. Das will ich mit Nachdruck
sagen.
Wenn sich in dieser Frage eine große Koalition mit den
verehrten Kollegen von der F.D.P., von der CDU/CSU
und auch von den Grünen und der SPD bilden sollte, kann
das nur im Interesse dieser Leute sein. Deswegen werden
wir mit großer Aufmerksamkeit die Schritte mitvollziehen.
Es kann natürlich nicht sein, dass man einem Anbieter
Konditionen gewährt, die mit denen eines Staatsbetriebes
vergleichbar wären. Das ist Heuchelei, das ist unehrlich.
Das geschieht möglicherweise nur, um vor Ort Stimmung
zu machen. Das hat auch etwas mit dem Antrag der PDS
zu tun; da wollen wir einmal ganz ehrlich sein. Das ist ja
der Hintergrund dieser Überlegungen. Wahrheiten vorzutragen ist immer etwas unbequemer.
Ich habe manchen Zwischenton von der SPD gehört,
der mich optimistisch stimmt. Frau Hendricks, ich hoffe,
dass Ihre Nichte gut angekommen ist und das mitverfolgt.
Wir bleiben dabei: Unser Ziel muss sein, dass in der Bundesdruckerei in Berlin - gerade in unserer gebeutelten
neuen Hauptstadt, durch den Veränderungsprozess gebeutelt in wirtschaftlichen Fragen -, dass in Kreuzberg diese
2 000 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ein großes Kompliment an die alte Bundesregierung: Sie hat die Voraussetzungen geschaffen, damit sich dieser Betrieb modernisieren konnte. Er wurde von einer Behörde zu einer florierenden GmbH gemacht.
Aber ich sage noch einmal: Derjenige, der meint, er
könne bei diesem rasanten technologischen und technischen Wandel auf dem Status quo verharren und ihn festschreiben, gefährdet in Wahrheit die Arbeitsplätze.
({4})
Das ist nicht unser Ziel. Wir werden uns dafür einsetzen,
dass die Modernisierung fortschreitet, dass „fresh money“
in den Betrieb kommt, aber auch die Kenntnisse, wie man
am Markt bestehen kann.
In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Urbaniak.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Henke, die Koalition und die Bundesregierung wissen genau, was sie
wollen.
({0})
Sie wollen nämlich die von Ihnen aufgebauten Schulden
abbauen. Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung,
um überhaupt noch Investitionen vornehmen zu können.
Sie haben durch Ihren Schuldenberg verursacht, dass wir
in einer solch schwierigen Lage sind. Daran können Sie
nicht vorbeireden.
({1})
Der zweite Punkt. Minister Eichel hat gestern sehr klar
zum Ausdruck gebracht, wie er in der gegenwärtigen fiskalischen Situation seinen Haushalt durchbringt und im
Rahmen der Eckwerte bleibt. Wir wissen, dass er den
Haushalt 1999 sogar mit einer geringeren Nettokreditaufnahme als vorgesehen hat abwickeln können. Das ist eine
große Leistung von Eichel. Er wird doch nicht auf dem offenen Markt darlegen, welche Konditionen bzw. Erlöse er
sich bei den weiteren Bereichen, die zur Privatisierung anstehen, vorstellt. Das kann er nicht tun. Meiner Meinung
nach hat er gestern eine klare Position bezogen. Er hat den
Haushaltsausschuss sehr umfassend unterrichtet. Das
muss man zu seiner Ehre sagen.
({2})
Wir Mitglieder des Haushaltsausschusses haben ja die
Bundesdruckerei besucht. Ich kann nur feststellen: Wir
haben einen äußerst guten Eindruck bekommen. Wir waren zu einem Zeitpunkt da, als der Betrieb voll lief und die
letzte 10-DM-Note gedruckt wurde.
({3})
- Herr Rexrodt, Sie waren nicht dabei und haben den
Druck der letzten 10-DM-Note nicht erlebt. Was ist Ihnen
da entgangen!
({4})
Wir haben also wirklich einen hervorragenden Eindruck
gewinnen können. Geschäftsführung und Betriebsrat haben uns überzeugend dargelegt, wo sie hinwollen, nämlich dahin, unter den Bedingungen der Konkurrenz zu bestehen und in Europa und im Weltmaßstab zu überleben.
Das ist wichtig.
Ich gehe davon aus, dass die Arbeitnehmer der Bundesdruckerei gebeten werden, ihre Vorstellungen über
eine Mitarbeiterbeteiligung im Rahmen eines konkreten
Angebots in die Verkaufsverhandlungen mit einzubringen. Da ist die Bundesregierung gefordert. Sie sollte
dies - das wird sie auch tun - ernst nehmen, damit wir zu
einem Konsens kommen.
Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der
Bundesdruckerei greift - das wissen Sie doch alle überhaupt nicht in bestehende Arbeitsverhältnisse und tarifvertragliche Regelungen ein. Das geht nicht und ist
auch nicht gestattet. Es ist gut, dass das Tarifrecht eine
solche Wirkung hat. Gesetzliche Schutzrechte zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeitnehmer werden von der
Privatisierung nicht tangiert.
Ich gehe davon aus, dass wir alle daran interessiert
sind, dass im Hinblick auf die Zukunftssicherung eine
Konzeption und ein Ergebnis erreicht werden, damit die
Bundesdruckerei mit ihren weiteren Betrieben eine gute
Perspektive hat. Wir wünschen uns Standortsicherung
und Konkurrenzfähigkeit.
Ich möchte hier betonen, dass folgende Überlegungen
für uns eine Rolle spielen: Es darf nicht nur zu einem fiskalischen Ergebnis kommen. Um eine strategische Allianz muss gestritten und gekämpft werden. Man muss im
zuständigen Ministerium und im Haushaltsausschuss hinsichtlich der Beteiligung der Belegschaft jede denkbare
Fantasie spielen lassen, damit wir vorankommen. Auf
jeden Fall müssen wir eine Standortsicherung für die Berliner und für die anderen Betriebe, die die Bundesdruckerei unterhält, erreichen.
Hierzu sage ich der Bundesregierung ganz deutlich:
Sie hat eine große Fürsorgepflicht. Diese Fürsorgepflicht,
die wir in allen gewerblichen Betrieben einfordern, gilt
auch hier für die Anteilseigner. Das ist die Bundesregierung. Ich glaube, die Bundesregierung wird die heutige
Debatte sehr, sehr ernst nehmen. Wir werden einen guten,
konkurrenzfähigen Betrieb schaffen, der die Arbeitsplätze
der Belegschaft sichern kann.
({5})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten und der Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und
Wertpapierfirmen in der EU
- Drucksache 14/3523 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Widerspruch höre ich nicht. Dann ist auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Kollege Klaus Lennartz.
Verehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Aufschwung in Deutschland gewinnt rasant an Fahrt. Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Experten der Forschungsinstitute rechnen für dieses und nächstes Jahr mit einem realen Wirtschaftswachstum von 2,8 bis 3,3 Prozent.
Tragende Säulen dieser positiven Entwicklung sind vor
allem Mittelstand, Handel, Handwerk und Gewerbe.
Sie sichern und sie schaffen Arbeitsplätze. Über 70 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind bei
kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt.
In mittelständischen Betrieben und im Handwerk werden
Jahr für Jahr Hundertausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Kleine und mittlere Unternehmen machen über
90 Prozent aller Betriebe in Deutschland aus. 80 Prozent
aller Lehrlinge werden in kleinen und mittelständischen
Unternehmen ausgebildet. Kleine und mittelständische
Betriebe sind in vielen Bereichen flexibler und engagierter als die so genannten Global Player.
Diese Unternehmen sind das Rückgrat der deutschen
Wirtschaft. Sie verdienen unsere vollste Unterstützung,
nicht in Sonntagsreden, sondern durch die konkrete Tat.
({0})
Meine Damen und Herren, was hat der Mittelstand mit
den Baseler Beschlüssen, mit der heutigen Debatte zu
tun? Ginge es nach den Vorstellungen der USA im Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht, so müsste sich die
deutsche mittelständische Wirtschaft warm anziehen;
denn mit den von den Amerikanern favorisierten Neubestimmungen für die Kapitalausstattung von Kreditinstituten würde die Kreditvergabe an kleinere und mittlere
Unternehmen erheblich gefährdet und verteuert werden.
Die amerikanischen Pläne, die Risiken bei Firmenkrediten anhand von Bonitätsbeurteilungen nicht mehr, wie
bisher bei uns praktiziert, von den Banken selbst, sondern
von externen Ratingagenturen bewerten zu lassen, sind
durchsichtig, da es auf dem Markt fast nur amerikanische
Ratingagenturen gibt. Dies sorgt in der informierten mittelständischen Wirtschaft Deutschlands zu Recht für Aufruhr - das kann man nachvollziehen -; denn die geplante
Zulassung von ausschließlich externen Ratings bringt den
mittelständischen Unternehmen und Handwerksbetrieben
gegenüber den extern gerateten amerikanischen Unternehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile.
Dies ist aus deutscher Sicht nicht hinnehmbar, weil
kleine und mittlere Firmen in Deutschland über kein externes Rating verfügen, weil es sich der kleine Handwerksbetrieb nicht leisten kann, 40 000 DM bis teilweise
120 000 DM für seinen „Richter“ aufzubringen, der im
schlimmsten Fall über die Existenz des Unternehmens
entscheidet. Die meisten kleinen Unternehmen werden finanziell gar nicht in der Lage sein, sich raten zu lassen.
Dabei sind es gerade kleine und mittlere Firmen, die im
Allgemeinen keinen direkten Zugang zum Kapitalmarkt
haben und demzufolge auf Fremdfinanzierung im Wege
der Kreditaufnahme bei Banken, Sparkassen und auch bei
den Volksbanken angewiesen sind.
Anders in den Vereinigten Staaten: Während kleine
und mittlere Unternehmen in den USA auf eine durchschnittliche Eigenkapitalquote von fast 50 Prozent kommen, bleiben in Deutschland fast zwei Drittel unserer
Mittelständler unter einer Eigenkapitalquote von 10 Prozent. Das hat seinen Grund darin, dass der Eigenkapitalhinterlegung in Deutschland traditionell eine geringere
Bedeutung zukommt. Für Investitionen aus eigener Kraft
bleibt da kaum Spielraum. Umso wichtiger ist es, den Unternehmen Zinskonditionen zu bieten, die sie finanziell
nicht austrocknen. Das kann nur ein internes Rating sicherstellen.
({1})
Schließlich führt eine von Fremdfirmen durchgeführte
und für die meisten nicht bezahlbare Bonitätsbeurteilung
bei schlecht oder nicht gerateten Unternehmen zu einer
höheren Eigenkapitalhinterlegung bei den Banken und
damit zu höheren Kreditzinsen für die Betriebe. Dies trifft
insbesondere nicht geratete Unternehmen. Welcher Unternehmer kann sich im harten Wettbewerb schon einen
Kreditzinssatz von 10 bis 20 Prozent erlauben? Diese Probleme kommen auf den mittelständischen Unternehmer
zu, weil er die billigen Kreditzinsen, die der geratete
Großunternehmer bekommt, im umgekehrten Sinne mehr
oder weniger mit subventionieren muss.
Meine Damen und Herren, am amerikanischen Wesen
wird die deutsche Wirtschaft nicht genesen. Denn die
USA verfolgen mit der Forderung nach externen
Ratings - ich wiederhole und formuliere das sehr bewusst - ureigene wirtschaftliche Interessen. Man muss
wissen: Unsere mittelständische Wirtschaftsstruktur ist
den Amerikanern so fremd wie ein rheinischer Sauerbraten. In Deutschland sind nur rund 170 Firmen, meist Global Players, geratet. Aber in den USA sind es bereits über
8 600 Unternehmen. 95 Prozent der gesamten Kreditmittel werden in den USA von nur 40 000 Unternehmen in
Anspruch genommen. Die verbleibenden 5 Prozent teilen
sich die restlichen 7 Millionen Unternehmen. Hieran kann
man eine total andere Unternehmensstruktur erkennen,
als es bei uns der Fall ist.
In den USA sind 85 Prozent aller in 1999 vergebenen
Firmenkredite außerhalb des Bankensektors vergeben
worden. Das heißt, hier sind Versicherungsgesellschaften
und Pensionsfonds an die Stelle von Banken und Sparkassen getreten. In Deutschland hingegen werden 90 Prozent der gewerblichen Kredite von Banken vergeben.
Der laute Ruf der amerikanischen Banken nach ausschließlich externen Ratings ist vor diesem Hintergrund
zwar verständlich, aber er ist im Interesse der deutschen,
insbesondere der mittelständischen Wirtschaft für uns in
keiner Weise akzeptabel. Bei diesen Zahlen wird der
Bruch, der unterschiedliche Welten aufzeigt, förmlich
spürbar. Ich glaube, hier sind unsere Interessen gefragt,
und die müssen auch durchgesetzt werden.
Von deutscher Seite muss bei den internationalen Verhandlungen konsequent und kompromisslos sichergestellt
werden, dass ein internes Rating mit einer für alle Kreditinstitute durchführbaren Standardmethode durchgesetzt
wird. Denn gerade die Sparkassen und Genossenschaftsbanken können nicht auf die ausgefeilten Bewertungsoder Ratingverfahren der großen Banken zurückgreifen.
({2})
Es muss sichergestellt werden, dass externe und interne
Ratings zeitgleich und nicht vor dem Jahre 2003 eingeführt werden, weil es wiederum ein absoluter Wettbewerbsvorteil für die amerikanischen Banken, aber auch
für die amerikanischen Ratingunternehmen wäre, wenn
das vor 2003 geschähe; denn wir sind nicht in der Lage,
die Ratings in dieser Breite für unsere Firmen in dieser
Größenordnung zu erstellen.
Meine Damen und Herren, damit keine Missverständnisse auftreten, möchte ich sagen: Die Idee, durch Ratingverfahren eine verlässliche Risikoanalyse für die
Kreditvergabe zu gewährleisten, ist - darüber sind wir
uns alle einig - grundsätzlich zu begrüßen, weil dadurch
künftig besser als bisher gewährleistet werden kann, dass
alle solvenzgefährdenden Risiken einer Bank durch ausreichendes Eigenkapital abgesichert werden.
Wer aber, wenn nicht die heimischen Banken - hier
denke ich insbesondere an die Sparkassen sowie an die
Volks- und Landesbanken mit ihren genauen Kenntnissen
der regionalen Märkte - kann die Risiken angemessener
und vor allem kostenneutraler beurteilen? Ein internes
Rating ermöglicht den Banken, je nach Ausrichtung der
Geschäftstätigkeit, individuelle Bonitätsbeurteilungen in
einer flexiblen Art und Weise. Dies ist einer der wichtigsten Punkte. Deshalb ist ein gleichberechtigtes internes
Bankenrating unerlässlich.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte noch
einen zweiten Knackpunkt der Baseler Verhandlungen ansprechen: Die Baseler Pläne sehen vor, dass gewerbliche
Realkredite grundsätzlich mit einem Gewichtungssatz
von 100 Prozent anzurechnen sind. Dies widerspricht der
in der EU verankerten und in Deutschland praktizierten
Regelung. Aufgrund geringer Ausfallrisiken werden bei
uns gewerbliche Realkredite mit einem Gewichtungssatz
von nur 50 Prozent erhoben.
Dem Baseler Ausschuss ist empirisch nachgewiesen
worden, dass das Ausfallrisiko durch insolvente Firmen in
Deutschland ausgesprochen gering ist. Trotzdem zeigen
sich die Banken der Vereinigten Staaten, die ihre Lobby
hier sehr bewusst einsetzen, nicht bereit, eine andere Gewichtung als 100 Prozent vorzunehmen. Dabei macht eine
solch niedrige Gewichtung mehr als Sinn. Denn geringe
Ausfallquoten bedeuten eine hohe Wahrscheinlichkeit bei
der Kreditrückzahlung und rechtfertigen somit auch eine
niedrige Eigenkapitalunterlegung.
Meine Damen und Herren, wenn einige Staaten unter
der Federführung der USA in dieser Frage weiterhin auf
Durchzug stellen, dann darf es keine deutsche Zustimmung zu den Baseler Beschlüssen geben. Ich sage das
sehr offen. Ich nehme auch das Wort Veto in den Mund.
Hier sind ureigene deutsche Interessen berührt; denn es
geht um einen Wirtschaftszweig, der das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft darstellt.
({4})
Hier sind keine Kompromisse, sondern kompromissloses
Eintreten für diese Interessen auch durch unsere Bundesregierung gefragt.
({5})
Wir haben keinen Zweifel daran, dass alle wissen, dass
unser Handeln dort auch mit unserem Reden übereinstimmen muss.
({6})
Meine Damen und Herren, die grundpfandrechtliche
Sicherung von Bankendarlehen spielt insbesondere bei
der Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen eine große Rolle; denn sie bietet besonders
niedrige Zinsen und schafft so Anreize auch für Investitionen. Politische Großzügigkeit auf dem Baseler Verhandlungsparkett können und dürfen wir uns auf Kosten
unserer mittelständischen Wirtschaft nicht leisten. Was in
Basel zu Lasten unseres Mittelstandes ausgekocht und in
Brüssel serviert werden soll, muss von deutscher Seite
gehörig versalzen werden. Wenn unsere mittelständischen
Unternehmen nämlich blank sind, dann können sie auch
die Investitionen, die notwendig sind, um Arbeitsplätze zu
schaffen und zu sichern, nicht tätigen.
Daher bin ich diesem Parlament und allen seinen Fraktionen äußerst dankbar, dass diese Entschließung von uns
allen gemeinsam getragen wird. Es kommt selten genug
vor, dass alle Fraktionen dieses Hauses eine Entschließung gemeinsam unterstützen. Damit wird auch nach
außen hin erkennbar, dass dieses Parlament geschlossen
hinter der Position des mittelständischen Gewerbes steht.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({7})
Jetzt hat der Kollege
Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit Drucksache 14/3523 legen wir eine gemeinsame Entschließung vor. Auch wenn
viele Begriffe in dieser Entschließung sehr technisch klingen und leider nicht allgemein gehalten werden konnten,
weil man hier wirklich konkret werden muss, geht es doch
um Fragen, die für unsere mittelständische Wirtschaft und
deren Betriebe von existenzieller Bedeutung sind.
({0})
Mit der gemeinsamen Entschließung zum so genannten Konsultationspapier des Baseler Ausschusses für
Bankenaufsicht bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben die Fraktionen im Finanzausschuss
eine gemeinsame Plattform für die Verhandlungsführer
bei den Baseler Verhandlungen gefunden. Mit dieser Entschließung, die übrigens als ureigene parlamentarische
Initiative entwickelt wurde, soll sichergestellt werden,
dass die Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen national und international tätigen Banken sowie zwischen
Kreditinstituten verschiedener Institutsgruppen in Deutschland gewahrt wird und eine einseitige Benachteiligung
und Belastung für die mittelständische Wirtschaft vermieden werden.
({1})
Hätten wir diese Initiative nicht parlamentarisch ergriffen, meine Damen und Herren, wären wir wahrscheinlich vom Bundesfinanzminister nicht rechtzeitig
darüber informiert worden,
({2})
was hier von Basel droht und was uns nachher über EURichtlinien in der Umsetzung der Baseler Beschlüsse gedroht hätte. Dann wären die neuen Richtlinien mit dem
Hinweis verkündet worden, sie seien gemeinsam vereinbart worden und müssten nun vom Bundestag parlamentarisch entgegengenommen werden.
({3})
Das Konsultationspapier des Baseler Ausschusses
schlägt eine Überarbeitung der Baseler Eigenkapitalübereinkunft in Richtung einer differenzierteren Erfassung
und Eigenkapitalunterlegung von Kreditrisiken sowie einer stärkeren Berücksichtigung von Instrumenten zur Reduzierung des Kreditrisikos vor, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Damit wird das bisherige Regelwerk für eine
adäquate Eigenkapitalunterlegung den Erfordernissen der
Gegenwart und Zukunft angepasst.
Das Verhandlungsergebnis von Basel will die EUKommission in Richtlinien zur Neuregelung der Eigenmittelvorschriften für die Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU einfließen lassen. Dies war auch der
Grund, warum wir uns vor Verhandlungsabschluss mit
dem Konsultationspapier im Finanzausschuss auseinander gesetzt haben. Wir wollten mit dieser Entschließung
vor der endgültigen Entscheidung Einfluss auf die abschließenden Regelungen nehmen können.
({4})
Unsere Beratungen im Finanzausschuss wurden von
Fachgesprächen mit dem Zentralen Kreditausschuss, der
Bundesbank und dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen begleitet. Kernpunkt der neuen Regelungen wird
die Art und Weise der Bestimmung der Risikogewichtung über die Bonitätseinschätzung der Kreditnehmer
sein. Hierfür schlägt der Baseler Ausschuss einen Standardsatz auf der Grundlage externer Ratings vor.
Eine ausschließliche - Herr Lennartz, Sie haben darauf
schon hingewiesen - Anerkennung externer Ratings
würde aufgrund der geringen Anzahl der in Deutschland
„gerateten“ Unternehmen - das sind circa 170 - und einer
kostenaufwendigen Erstellung der Ratings für kleinere
und mittlere Unternehmen zu erheblichen Benachteiligungen gegenüber Wettbewerbern aus dem angelsächsischen Bereich führen, da in den USA bereits über
8 000 Unternehmen extern „geratet“ sind.
Deshalb fordern wir in der Entschließung, dass im
Rahmen der internationalen Verhandlungen durch die
Bundesregierung und die Verhandlungsführer sichergestellt wird, dass das interne Bankenrating ein gleichwertiges, aufgrund einfacher Standardmethoden gewichtetes
Verfahren wird, das im Grunde dem externen Rating
gleichkommt. Wichtig ist auch, dass dies zum gleichen
Zeitpunkt eingeführt wird, damit nicht über die Zeitachse
bei der unterschiedlichen Einführung Wettbewerbsverzerrungen entstehen.
Bei den Verhandlungen in Basel und bei der EU-Kommission muss die risikoreduzierende Wirkung von Sicherheiten ebenso berücksichtigt werden wie die Auswirkungen von Größenklassenstreuungen - Granularitäten im Rahmen des einfachen bankinternen Ratingansatzes.
Das ist die Berücksichtigung des so genannten Portfolioeffektes. Es kommt auch darauf an, dass die Gewichtung
des Gesamtengagements gesehen und berücksichtigt
wird, wie viele einzelne Kreditnehmer es in der jeweiligen Größenordnung gibt. Auch das gehört zur Betrachtung unserer spezifischen Bankenstruktur, weil unsere
mittelständisch geprägte Bankenstruktur überwiegend
kleinere und mittlere Kreditnehmer betreut.
Herr Lennartz hat bereits ausgeführt, dass der gewerbliche Hypothekarkredit aufgrund seiner niedrigen Ausfallraten mit höchstens 50 Prozent gewichtet wird. Es ist
nicht nachvollziehbar, warum das noch umgesetzt werden
muss; denn über die EU-Solvabilitätsrichtlinie besteht bereits diese Möglichkeit und sie wird in Deutschland angewandt. Auf den Aspekt der einheitlichen Einführung habe
ich bereits hingewiesen. Das sind die Positionen, die wir
erwarten. Das Rating an sich, ob extern über Agenturen,
bankintern oder in neuen Kombinationen, bekommt auch
hierzulande zukünftig einen wesentlich größeren Stellenwert, als das bisher der Fall war.
Mit diesen Forderungen, meine Damen und Herren,
wollen wir erreichen, dass es bei der Einteilung der Risikoklassifizierungen aufgrund externer Bonitätsbeurteilungsinstitute international nicht zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen kommt und unsere mittelständisch geprägte Kreditwirtschaft und die Unternehmen das mit
vollziehen können.
Auf einen Punkt, der das bankinterne Rating betrifft,
muss noch hingewiesen werden: Es darf, auch wenn es
einfach strukturiert ist, nicht zu einem so genannten Discount-Rating werden. Es muss aufgrund des Anspruchs,
gleichgewichtig und gleichwertig zu sein, auch gewissen
Qualitätsanforderungen entsprechen. Sonst ist damit auch
der mittelständischen Wirtschaft im Endeffekt nicht geholfen.
Mit dieser Entschließung haben wir der Bundesregierung und den Vertretern der deutschen Position bei den
Baseler Gesprächen eine Verhandlungsplattform geschaffen, die unmissverständlich klarmacht, was wir wollen.
Dass dies einvernehmlich zwischen den Fraktionen möglich war und ist, verstärkt diese Position. Mit der Formulierung „sicherzustellen“ in der Entschließung wollen wir
klar stellen, dass die Verhandlungsführer auch das Mittel
des Vetos einsetzen sollen und müssen, wenn die Forderungen aus der Entschließung nicht realisiert werden.
Dies sind, meine Damen und Herren, die Erwartungen,
die wir mit dieser gemeinsamen Entschließung verbinden.
Es klingt - ich habe es eingangs schon betont - vieles sehr
technisch, aber die Kernforderungen, die wir erhoben haben, sind für unsere mittelständische Wirtschaft und für
unsere Unternehmenskultur existenziell.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über eine Entschließung im Rahmen der
Verhandlungen zur Neuauflage der Baseler Eigenkapitalrichtlinien für Kreditinstitute, um die deutsche Position in
den laufenden Verhandlungen zu stärken. Diese wird auch
gestärkt; davon können wir ausgehen.
Für die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne:
Es wird in der Öffentlichkeit immer wieder gesagt, wir
träfen hier keine gemeinsamen Entscheidungen. Heute jedoch wollen wir - beispielhaft - für die Vertretung
Deutschlands in internationalen Gremien gemeinsam einen Beschluss fassen, der die deutsche Linie in diesem
Zusammenhang sehr klar und sehr eindeutig festlegt und
damit die deutsche Verhandlungsposition stärkt.
Infolge der jüngsten Krisen auf den Finanzmärkten Stichwort: Asienkrise; sie ist für viele noch in Erinnerung - haben Banken im Übermaß Kredite vergeben, ohne
dass eine ausreichende Risikoprüfung und Risikovorsorge erfolgte. In Japan zum Beispiel gingen Banken
Pleite. Wir erinnern uns alle daran; denn das versetzte damals alle Finanzmärkte rund um den Globus in Aufruhr.
Darüber hinaus spielten und spielen Finanzderivate als Finanzierungs-, Absicherungs- und auch Anlageinstrumente eine immer größere Rolle, vor allem auf den internationalen Finanzmärkten.
Damit nun die Finanzinstitute künftig die von ihnen
übernommenen Risiken angemessen kontrollieren und
berücksichtigen, ist es notwendig, die Baseler Eigenkapitalrichtlinien den aktuellen Erfordernissen der internationalen Finanzmarktentwicklung anzupassen: zum Schutz
der Banken, aber auch zum Schutz der Anteilseigner, der
Wirtschaft als Ganzes und letztendlich zum Schutz der
Steuerzahler und der Steuerzahlerinnen; denn im Zweifel
zahlt der Steuerzahler, wenn eine Rettung nicht anders
möglich ist. Das haben wir beispielsweise in Japan gesehen.
({0})
Nun muss man diese Argumente aber ins Verhältnis
zum Ganzen setzen. Es kann nicht sein, dass Banken derart hohe und damit auch entsprechend teure Eigenkapitalhinterlegung betreiben müssen, dass die Kreditkosten gerade für kleine und mittlere Unternehmen, also für die
Handwerker wie für die Internet-Dienstleister, so in die
Höhe schnellen, dass dies ihre Geschäftsfähigkeit stranguliert. Die deutschen Banken - das muss man an dieser
Stelle lobend erwähnen - gelten ohnehin weltweit bereits
als sehr risikobewusst und als sehr vorsichtig.
Es ist oft kritisiert worden, dass deutsche Kreditinstitute bei der Kreditvergabe an junge Start-ups, an innovative Existenzgründer, die für unseren technologischen wie
auch wirtschaftlichen Fortschritt sehr wichtig sind, sehr
zögerlich seien. Ein Rückzug der Kreditinstitute auf breiter Front aus der Finanzierung unseres unternehmerischen
und aktiven Mittelstandes wollen und können wir uns
nicht leisten.
In den ersten Entwürfen des überarbeiteten Baseler Akkords hat das so genannte externe Rating, also die Bonitätsbewertung eines Unternehmens durch externe Agenturen, im Vordergrund gestanden - dies wohl deshalb,
weil Amerika es sehr gut verstanden hatte, seine landestypischen Gegebenheiten zum allgemein gültigen
Maßstab zu erheben. In den USA ist es weit verbreitet,
dass sich große Kapitalgesellschaften vor allem von einer
der beiden großen amerikanischen Rating-Agenturen,
Standard & Poor’s oder Moody’s, bewerten lassen und danach entsprechend gute Kreditkonditionen von den Banken erhalten. Künftig wären diese Kunden für die Banken
noch um ein Vielfaches lukrativer, da die Eigenkapitalvorhaltung der Banken entsprechend geringer und damit
schlichtweg billiger wäre. Das heißt, die Banken würden
mit großen, leistungsstarken Unternehmen ein gutes Geschäft machen, beim Mittelstand aber wären die Margen
so gering, dass sich ein Engagement kaum mehr lohnen
würde bzw. die Konditionen sich extrem verschlechtern
würden.
In Deutschland sind externe Ratings noch kaum verbreitet. Externe Ratingagenturen beginnen erst jetzt, sich
langsam in Europa zu etablieren, was auch nicht verkehrt
ist; denn Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft.
Wir haben zum Beispiel eine Agentur wie Euroratings, die
im Aufwachsen begriffen ist. Aber was hätte dies nun für
unseren Mittelstand bedeutet? - Externes Rating ist teuer
und bei fehlendem Rating hätten die Banken, vor allem
die Sparkassen, die Volks- und Raiffeisenbanken, mehr
Eigenkapital vorhalten müssen. Die Konsequenz wären
erheblich schlechtere Finanzierungskonditionen für die
Mittelständler und das wollten und konnten wir so nicht
hinnehmen.
Daher ist es gut, dass heute diese Entschließung vorliegt, die zusammen mit dem Bundesfinanzministerium,
mit dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, der
Deutschen Bundesbank und auch dem Zentralen Kreditausschuss erarbeitet wurde. Wir haben damit praktisch
mit diesen genannten Organisationen eine gemeinsame
Resolution auf den Weg gebracht. Ich meine, darauf können wir alle gemeinsam hier in diesem Haus stolz sein.
Das wichtigste Element ist, dass künftig auch ein auf
bankinterne Ratings gestützter Ansatz zur Ermittlung
der Eigenkapitalanforderungen für das Kreditrisiko möglich sein muss, dass ein solcher Ansatz einfach sein muss
und gleichzeitig mit der Standardmethode eingeführt
wird. Dieser Ansatz muss für alle Banken unmittelbar ab
dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Regelung
nutzbar sein, damit es keine Wettbewerbsnachteile gibt,
weder für die deutschen Kreditinstitute noch für die kleinen und mittleren Unternehmen.
Diese Messlatten - sowohl eine risikoadäquate Eigenkapitalvorsorge als auch internationale Wettbewerbsgleichheit für Kreditinstitute und Mittelstand - legen wir
auch an andere Maßnahmen an, zum Beispiel an die
Gewichtung der Hypothekenkredite bei der Bemessung
der notwendigen Eigenkapitalvorsorge. Die Gewichtung
darf nach unserer Ansicht höchstens 50 Prozent betragen - eben wegen der typischerweise niedrigen Ausfallraten. Auch dies muss im Baseler Eigenkapitalakkord
und natürlich auch in der daraus folgenden EUEigenkapitalrichtlinie sowie bei der Umsetzung in nationales Recht berücksichtigt werden.
Ich denke, wir haben hier als Team eine gute Arbeit geleistet; nur gemeinsam können wir auch auf internationaler Bühne durchsetzungsfähig sein. Die deutschen
Verhandlungsteilnehmer können nun gestärkt nach
Basel fahren. Die Chancen stehen gut, dass wir dort als
gleichberechtigter Partner ernst genommen werden und
unser Anliegen im Sinne des deutschen Mittelstandes erfolgreich einbringen.
Vielen herzlichen Dank.
({1})
Nun hat Kollege
Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
Überwiegend hat eigentlich Kollege Funke das Wort.
({0})
Die Baseler Konsultationen
sind ein Ausdruck dafür, dass die Globalisierung, die Vernetzung der Finanzmärkte immer weiter voranschreitet.
Man kann dies zwar bedauern, aber leugnen kann man
diese Tatsache nicht. Man braucht ja kein Prophet zu sein,
um zu sagen, dass die Vernetzung der Finanzmärkte in
rasantem Tempo weiter voranschreiten wird. Das wird
keine Beschlusslage - welcher Parteien in der Welt auch
immer - aufhalten können.
({0})
Das sind die Tatsachen. Deswegen ist es gut, dass im Rahmen internationaler Vereinbarungen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die zu gleichen oder zumindest
vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen an den Weltfinanzmärkten führen. Man wird bei diesen Verhandlungen Acht geben müssen, dass die unterschiedlichen Kulturen, die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsverfassungen und nationalen Rahmenbedingungen
nicht alle unter das amerikanische System gepresst werden. - Kollege Lennartz hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass es in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik
Deutschland sehr unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen
gibt, auch im Mittelstand, den es dort natürlich auch gibt,
aber nicht im gleichen Umfang wie bei uns.
Insoweit begrüße ich, dass es in den Verhandlungen nach
anfänglichen Schwierigkeiten gelungen ist, für die Berechnung des notwendigen Eigenkapitals der Kreditinstitute auch bankinterne Ratings gleichgewichtig zuzulassen.
Der Ansatz der Baseler Verhandlungsrunde, das Kreditrisiko international stärker als bisher durch Ratings zu
quantifizieren, ist durchaus begrüßenswert. Nur so kann
auch definiert werden, wie die Kreditrisiken durch entsprechendes Eigenkapital der Banken unterlegt werden
müssen. Dies ist keine neue Erkenntnis, die durch die inChristine Scheel
ternationalen Märkte auf uns zukommt, sondern sie findet
sich bereits seit Jahrzehnten in § 18 KWG und im Übrigen in den Grundsätzen zum KWG wieder.
Die Banken werden sich jedoch durch die Baseler
Grundsätze dazu gezwungen sehen, die Kreditrisiken aufgrund von § 18 KWG noch stärker als bisher systematischer und nach einheitlichen Grundsätzen zu durchleuchten und dabei strengere Anforderungen - ich sage das
ausdrücklich im Interesse der Kreditnehmer - an die Kreditnehmer zu stellen. Es darf nicht dazu kommen - darauf
hat Kollege Dautzenberg zu Recht hingewiesen -, dass es
sich bei den Banken um ein Billigrating handelt. Wenn
wir es auf beide Beine - externe und interne Ratings stellen wollen, muss auch beides gleichgewichtig sein. In
diesem Punkt sind wir einer Meinung. Nur so werden zusammengefasste Kreditrisiken handelbar und nur so wird
es zu einem international gültigen Rating der Banken
kommen können.
Dabei ist vor allem von deutscher Seite darauf zu achten, dass die kleineren und mittleren Unternehmen
nicht unter die Räder geraten - darauf ist hingewiesen
worden -, weil sie aufgrund der verschärften Ratingbedingungen entweder höhere Zinsen zu zahlen haben oder
vielleicht gar keine Kredite erhalten. Der Verwirklichung
des angesprochenen Zieles dient die Entschließung, die
Ihnen fraktionsübergreifend vorgelegt wird.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Entschließung
und ihrer Formulierung sagen. Diese Formulierung ist um es vorsichtig zu sagen - schwer lesbar. Dies wird dadurch deutlich, dass ich als Jurist, der es gewohnt ist, mit
Texten umzugehen, einen Absatz dreimal lesen muss, um
einigermaßen zu verstehen, was sich dahinter verbirgt.
Man muss sich fragen, ob die Bevölkerung, die unsere
Botschaft verstehen soll - nicht nur die Herren in Basel
sollen sie verstehen -, diese Formulierung auch begreift.
Ich will hier einräumen, dass vielleicht durch die Übersetzung aus dem Englischen das eine oder andere an verquastem Bankchinesisch aufgenommen worden ist. Wir
sollten uns aber in Zukunft bemühen, diesem Hohen Haus
lesbare Texte vorzulegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst bei dem grundlegenden Schlüsselbegriff anfangen: Rating heißt auf
Deutsch Bewertung. Alle meine Vorredner haben diesen
Begriff nur auf Englisch gebraucht.
Alle meine Vorredner haben betont, dass sie froh darüber sind, dass es ein interfraktioneller Antrag war, an dem
wir im Finanzausschuss gemeinsam gearbeitet haben. Ich
kann der Entschließung zustimmen, da der Inhalt des Antrages berechtigt ist. Auch die PDS unterstützt das Anliegen, einheitliche Richtlinien für die Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute, durch die ja deren Risiko abgesichert werden soll, zu entwickeln.
Wir wissen alle, dass die steigenden Risiken auf den Finanzmärkten erhebliche Gefahren für die wirtschaftliche
und soziale Situation der einzelnen Länder in sich bergen.
Die Finanzmärkte sind internationale Märkte, die nicht
mehr nur national organisiert sind. Deshalb wird es immer
notwendiger, entsprechende Maßstäbe zur Risikoabsicherung auf internationaler Ebene zu entwickeln.
Wir Fachabgeordnete haben nach dieser Einsicht gehandelt. Ich muss leider feststellen, dass die Vorstände der
beiden großen Fraktionen, der SPD und der CDU/CSU,
diese Einsicht noch nicht hatten; denn der Antrag ist nicht
wirklich interfraktionell. Die PDS wurde in diesen Antrag
nicht mit einbezogen, weil sich - nur so kann ich es mir
erklären - die SPD hat erpressen lassen, da die CDU an
diesem Punkt eine ideologische und nicht eine inhaltliche
Debatte führen wollte und gesagt hat: Sie bekommen unsere Unterschrift nur, wenn die PDS als Mitverfasser des
Antrags nicht erwähnt wird. Ich muss sagen: Gerade wenn
Ihnen Ihr Anliegen, das Vertreten der Interessen des Mittelstandes, so wichtig ist, bin ich zutiefst enttäuscht von
einer solchen kleinkarierten und peinlichen Politikauffassung, die Sie mit diesem Antrag wieder praktiziert haben.
({0})
Wir Fachabgeordnete haben hier größere Einsicht gezeigt.
Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen.
Gleichzeitig aber möchte ich betonen - ich habe nicht
so viel Zeit, um darauf näher einzugehen -, dass mir bei
Herrn Lennartz, aber auch bei Herrn Dautzenberg eine zu
starke nationalistische Betonung aufgefallen ist. Gerade
bei der Frage der Gleichwertigkeit externer und interner Ratings geht es um ein Problem, welches an vielen
Stellen vorhanden ist. Es kann nicht sein, dass eine große
Industriemacht wie die USA ihr praktiziertes System auf
alle anderen Staaten übertragen will. Es ist notwendig,
dass sich das Parlament hiermit beschäftigt. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Punkte - ich nenne hier das
Stichwort gerechter Welthandel -, bei denen sich zeigt,
dass wir die gleichberechtigten Interessen von Staaten der
Dritten Welt nicht entsprechend berücksichtigen. Deshalb
darf man die eigenen Interessen bei einer solchen Debatte
wie der heutigen nicht so nationalistisch betonen. Ich
glaube, dass man sonst sehr schnell in schwieriges Fahrwasser kommen kann.
({1})
Abschließend möchte ich davor warnen, dass mit unserer Positionierung, die sich hoffentlich bald in den Baseler Beschlüssen niederschlägt, überhöhte Erwartungen
geweckt werden. Das betrifft insbesondere die Rolle der
Ratings zur Verhinderung internationaler Finanzkrisen.
Es gibt in der Welt niemanden, der ein Mittel gefunden
hat, um Finanzkrisen zu verhindern. Es ist notwendig,
hier einen Mix verschiedener Instrumente anzustreben.
Das Rating-Verfahren ist nur ein Bestandteil dieses Mixes, wenn auch ein guter und wichtiger. Ich glaube, es ist
notwendig, auch andere Maßnahmen zu diskutieren und
in die internationale Diskussion einzubringen. Ich möchte
an die Tobin-Steuer zur Eindämmung und Verhinderung
von spekulativen Finanzgeschäften erinnern. Wir haben
einen entsprechenden Antrag eingebracht - hierzu habe
ich bisher schon einige positive Akzente gehört -, der eine
wichtige Ergänzung der heutigen Diskussion darstellt.
Ich bedanke mich.
({2})
Jetzt hat die Kollegin
Sigrid Skarpelis-Sperk das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren
heute unter einem recht trockenen Titel brisante Vorschläge zur Neuregelung der weltweiten Kreditwirtschaft,
die, wenn sie so bleiben, wie es die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die BIZ, vorgeschlagen hat,
gravierende Auswirkungen auf die Kreditversorgung der
Entwicklungsländer und der aufstrebenden Märkte in
Asien, aber auch auf das deutsche Bankensystem und damit auf die Finanzierungsmöglichkeiten der Wirtschaft
haben werden. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen und erst Recht Existenzgründer und „Frischlinge“
auf dem Markt werden, wenn die Vorschläge so bleiben,
mit deutlich höheren Kreditzinsen und mit geringeren
Kreditangeboten rechnen müssen. Dies gilt es durch kluge
Änderungen der bisher vorliegenden Vorschläge in einer
gemeinsamen Anstrengung der Bundesregierung und der
Europäischen Union zu verhindern und einen möglichen
Flurschaden möglichst klein zu halten.
({0})
Übrigens, Herr Kollege Dautzenberg, die Bundesregierung hat sehr früh informiert. Wir haben uns im Unterausschuss ERP-Rahmenpläne im vergangenen November
beim dritten Potsdamer Gespräch ausgiebig über das
Thema Rating unterhalten.
({1})
- Lieber Herr Michelbach, Sie waren nicht dabei.
Schreien Sie also nicht so laut dazwischen! - Wir haben
uns damals sorgfältig informieren lassen und haben mit
der Bundesregierung darüber diskutiert, wie die Maßnahmen auf der Arbeitsebene aussehen sollen. Dabei ist klar
geworden, dass die alten Regelungen der BIZ aus dem
Jahre 1988 nach den schweren Finanzkrisen des letzten
Jahrzehnts nicht mehr zu halten waren und dringend einer
Reform bedurften.
({2})
- Ich darf die Kollegen aus dem Finanzausschuss, die ich
außerordentlich schätze, daran erinnern, dass sich auch
der Wirtschaftsausschuss mit Fragen der Finanzierung
kleiner und mittlerer Unternehmen befasst und dass wir
uns in dessen Unterausschuss ERP im Rahmen des dritten Potsdamer Werkstattgesprächs - der Kollege
Schauerte, den ich hier sehe, kann das bestätigen - dieser
Fragen angenommen haben. Deswegen fühlen zumindest
wir uns ordentlich informiert. Die Mitteilung, dass die
Bundesregierung ihre Sache ordentlich gemacht hat,
sollte Sie nicht beunruhigen. Sie sollten vielmehr zustimmend Beifall klatschen.
({3})
Ich komme wieder zum Thema zurück. Die alten Regelungen der BIZ aus dem Jahre 1988 waren nach den
schweren Finanzkrisen des letzten Jahrzehnts nicht mehr
zu halten und bedürfen, wie gesagt, dringend einer Reform. Die spätestens alle zwei Jahre auftretenden Finanzkrisen - von der Russlandkrise bis zum Asiencrash - haben einen ungeheuren Schaden angerichtet, haben gewaltige Kapitalmassen vernichtet und haben auch große
Volkswirtschaften ins Unglück gestürzt - allein in Asien
200 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze -, sodass ein Fortbestehen des alten, weitgehend deregulierten
und unkontrollierten Zustandes vor allem außerhalb
Europas und der USA nicht mehr zu halten war.
Neue Regeln waren und sind unabdingbar, vor allem
dann, wenn es um die Bekämpfung einer der wesentlichen
Ursachen geht, nämlich die hoch riskante, zum Teil völlig
unverantwortliche Ausleihpolitik der Banken und anderer
Kreditgesellschaften, und wenn verhindert werden soll,
dass die Notenbanken gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds immer wieder einspringen, bürgen
und umschulden müssen, um eine Kette von Bankzusammenbrüchen zu vermeiden. Das war zum Teil sehr teuer
für den Steuerzahler, auch für den in Deutschland.
Wir müssen bei allem Lob für die internationalen Rating-Agenturen, die mit ihren neutralen Bewertungen
solche Krisen wenn nicht verhindern, so doch vermindern
sollten, auch feststellen, dass die vier großen US-Agenturen und die eine englische die Finanzkrisen leider eher
verstärkt als abgeschwächt haben. Ist zum Beispiel ein
Land in den Strudel von Finanz- und Währungskrisen geraten, dann hatten und haben auch die besten Unternehmen dieses Landes kaum eine Chance, Kredite zu bekommen oder - wenn sie überhaupt welche bekommen nur zu ungünstigsten Konditionen. Für viele Entwicklungsländer und Emerging Markets hat das eine katastrophale Krisenverschärfung und Krisenverlängerung bewirkt. Auch darüber muss man offen reden.
Es ist deswegen wenig verständlich, dass die BIZ ohne Revision ihrer Grundsätze - das so genannte externe
Rating durch die oben erwähnten Agenturen sogar noch
ausweiten will. Das bedeutet nicht, dass wir Sozialdemokraten gegen eine externe Risikobewertung von Staaten,
Institutionen und Unternehmen sind. Eine rationale und
neutrale Bewertung von Risiken ist notwendig und
vernünftig. Außerdem geht auf den internationalen Kapitalmärkten für größere Unternehmen kein Weg an einer
externen Bewertung vorbei, wenn sie Kapital zu günstigeren Konditionen - egal, ob Eigen- oder Fremdkapital erhalten wollen.
Allerdings sind die privaten Rating-Agenturen nicht
gerade billig. Darauf hat der Kollege Lennartz bereits hingewiesen. Für kleine und mittlere Unternehmen sind sie
zum Teil schlicht unerschwinglich. Bliebe dies die releDr. Barbara Höll
vante Bewertungsmethode, die unseren Banken zur Einschätzung von Risiken bei der Vergabe von Krediten an
kleine und mittlere Unternehmen vorgeschrieben wäre,
würden alle Kredite für ungeratete kleine Unternehmen
gemäß der höchsten Risikoklasse eingeschätzt und dementsprechend massiv verteuert, auch wenn diese Unternehmen erstklassig und solide wären.
In den USA beträgt die Zinsspanne zwischen den gerateten und den nicht gerateten Unternehmen mittlerweile
mindestens 3 Prozent, wenn nicht deutlich mehr. Wir sind
deswegen entschieden gegen die Vorschriften des externen Ratings für alle Unternehmen.
({4})
- Nein, das Risiko ist bei kleinen und mittleren Unternehmen nicht a priori höher. Das kann man immer erst im
Nachhinein feststellen. Deswegen hängt die Frage nach
der Höhe des Risikos nicht von der Größe des Unternehmens ab, sondern vom Markt, von seiner Solidität und von
seinem Vorgehen. Gleichwohl: Eine neutrale und rationale Bewertung von Risiken ist - wenn sie für das Unternehmen bezahlbar bleibt - vernünftig.
Wir Sozialdemokraten meinen, dass es deswegen darin sind wir uns alle einig - auch ein bankeninternes
Rating zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderung für
das Kreditrisiko geben muss, gleichwertig mit der Standardmethode. Allerdings muss dies den regionalen Risikolagen angemessen sein und darf die Finanzierungsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen nicht
unnötig einengen.
Was meine ich damit? Ein Beispiel unter vielen - in der
Begründung des Antrags, dem auch Sie zustimmen, sind
einige angeführt - ist die pauschale Behandlung von Hypothekenkrediten. Sie sind nach den bisherigen Überlegungen der BIZ als relativ riskant eingestuft
({5})
- ja, der Gewerblichen -, was in keiner Weise der Realität
der deutschen Wirtschaft entspricht. Wenn die BIZ nicht
nachgibt, dann kommt es zu einer erheblichen Verteuerung der Kredite an kleine und mittlere Unternehmen, für
die die Beleihung ihrer gewerblichen Grundstücke ein
wesentliches Finanzierungsinstrument darstellt.
Ein zweites Beispiel ist die pauschale Anforderung an
Kreditinstitute, so genannte sonstige Risiken in der Eigenkapitalunterlegung zu berücksichtigen. Prinzipiell
ist die Einbeziehung „sonstiger Risiken“ sinnvoll; nur
gibt es dafür - das wissen wir - bisher kein tragfähiges
quantifizierbares Verfahren. Jede nicht am tatsächlichen
Risiko ausgelegte Unterlegungspflicht ist schädlich und
führt in der Regel zu einer Verteuerung für kleine und
mittlere Unternehmen. Deswegen fordern wir, dass auch
die Bankenaufsicht in Deutschland schnell auf die Erarbeitung von qualitativen Anforderungen an das Management der „sonstigen Risiken“ drängt.
Zusätzlich muss jeder wissen, dass alle bisher diskutierten Methoden, nämlich externes und internes Rating
nach pauschalierten Methoden, zwei grundsätzliche Probleme haben: Erstens. Man kann nur die Risiken der Vergangenheit pauschal beurteilen. Zweitens. Man sortiert
Risiken relativ grobschlächtig nach Branchen, Regionen
und Unternehmensklassen. Damit wird man weder der
Beurteilung künftiger Risiken noch der Beurteilung des
künftigen Erfolges gerecht.
Letztlich zählt aber nicht die Vergangenheit, sondern
die Zukunft. Es zählt die Qualität der Ideen und der Menschen, die für das Unternehmen stehen. Ein erfolgreicher
Risikokapitalmanager sagte mir einmal: „Ich schaue mir
die Idee und den Mann an und nicht die Sicherheiten von
Mama und Papa.“
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Frau Kollegin.
Selbstverständlich. - Von beidem ist in den Ratingmodellen bisher aber
nicht die Rede. Deswegen müssen wir sorgfältig darauf
achten, dass die Vorschläge es Existenzgründern und
Newcomern nicht noch schwerer als bisher machen. Eine
dynamische, erfolgreiche Wirtschaft lebt davon, dass
neue Ideen realisiert werden können und nicht mit noch
höheren Risikozuschlägen als bisher bestraft werden.
Wir Wirtschafts- und Finanzpolitiker sind aufgerufen,
über neue Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittelstand auch nach Basel II nachzudenken, wenn Lösungen
gefunden und diskutiert sind.
({0})
Ich meine, wir kommen nicht darum herum.
({1})
Zum Abschluss dieser
Debatte erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der
Aufmerksamkeit der CDU/CSU-Fraktion ist es letztendlich zu verdanken, dass schwerwiegende Fehlentwicklungen für die deutsche Wirtschaft, für die Kreditwirtschaft
und für die Unternehmen thematisiert werden und dass
die heutige Entschließung des Deutschen Bundestages
herbeigeführt wird.
Es geht uns um die Chancengleichheit der deutschen
Wirtschaft bei Kreditvergaben, um die Finanzierungsmöglichkeiten gerade für kleine und mittlere Unternehmen und letzten Endes um die generelle Wettbewerbsfähigkeit regional, national und international tätiger Kreditinstitute.
Wir sind deshalb dankbar für den gemeinsamen Entschließungsantrag; denn die in den Konsultationspapieren
des Baseler Ausschusses und in der EU-Kommission im
vergangenen Jahr vorgestellten Überlegungen zur Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von
Kreditinstituten gehen in ihrer Tragweite weit über die
Kreditwirtschaft hinaus. Von den neuen Eigenkapitalregeln werden nicht nur die Banken, sondern alle Unternehmen, vor allem die mittelständischen Unternehmen,
betroffen sein. Wenn Sie heute das Hohelied des Mittelstandes singen, dann muss ich bei dieser Gelegenheit sagen: Ihre mittelstandsfeindliche Politik darf keine Fortsetzung finden.
({0})
- Regen Sie sich nicht auf, Herr Lennartz. Wenn Sie von
der Regierungskoalition vom Mittelstand sprechen, läuten bei den Mittelständlern inzwischen alle Alarmglocken. Das muss ich Ihnen deutlich sagen.
({1})
Die neueste Umfrage des Deutschen Bankenverbandes habe ich dabei. 69 Prozent der Deutschen meinen, der
Mittelstand hat inzwischen schlechte Zukunftsperspektiven. 78 Prozent der Deutschen finden aktuell, der Staat
benachteilige mittelständische Unternehmen.
({2})
Das ist auf die Verschlechterung der Rahmenbedingungen
zurückzuführen. Herr Lennartz, regen Sie sich nicht auf.
Die Leute sind unzufrieden mit Ihrer Steuerpolitik für den
Mittelstand.
({3})
Sie sind unzufrieden mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Sie sind unzufrieden mit den Fortschritten
bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Sie sind unzufrieden mit Ihrer Bildungs- und Existenzgründerpolitik.
Die mittelstandsfeindliche Politik darf jetzt nicht noch
eine Fortsetzung im Finanzmarktbereich finden. Das ist
der Punkt.
({4})
Es darf keine Benachteiligung der deutschen Wirtschaft
bei Kreditvergaben geben.
Nach den Vorschlägen des Baseler Ausschusses und
der EU-Kommission soll die heutige Pauschalregelung
demnächst der Vergangenheit angehören. In Zukunft sollen die Eigenkapitalanforderungen der Banken von der
Bonität des kreditnehmenden Unternehmens abhängen.
Für Unternehmen mit guter Bonität soll der notwendige
Eigenkapitalbetrag also sinken, während für Kredite an
Unternehmen mit schlechterer Bonität ein höherer Betrag
erforderlich sein wird. Ziel ist eine stärker an den tatsächlichen Risikoverhältnissen orientierte Bankenaufsicht.
Wir meinen, - auch da gibt es unterschiedliche Auffassungen -, dass letzten Endes auch das Risikomix des Kreditportfolios eines Unternehmens, einer Bank eine Rolle
spielen muss.
Dabei, meine Damen und Herren, sollen für Unternehmen verschiedene Gewichtungssätze zum Tragen kommen. Das ist für uns natürlich eine große Herausforderung, weil unsere mittelständischen Unternehmen die
geringste Eigenkapitalquote und die niedrigste Nettoumsatzrentabilität in Europa haben. Deswegen ist das, was
mehr Wachstum und Beschäftigung angeht, für uns so wesentlich.
({5})
Mit der Einführung verschiedener Gewichtungssätze
ist für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit und auch für
die deutsche Unternehmensstruktur eine erhebliche Gefahr verbunden. Der Teufel steckt natürlich auch hier im
Detail. Das Baseler Konsultationspapier sieht nämlich
vor, dass für die Bonitätsbeurteilung der Unternehmen externe Ratings, das heißt Ratings einer großen, meist amerikanischen Rating-Agentur, erstellt werden sollen. Dies
würde nicht nur zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zulasten der deutschen Kreditwirtschaft, sondern auch zu einer massiven Benachteiligung deutscher Unternehmen
und dabei insbesondere der mittelständischen Unternehmen führen.
Ich spreche hier von der Rating-Lücke zwischen den
USA und Deutschland: Während in den USA heute rund
8 000 Unternehmen geratet sind, verfügen in Deutschland
nur circa 170 Unternehmen über ein Rating. Gerade
kleine und mittlere Unternehmen, für welche die
Kreditfinanzierung eine große Rolle spielt, werden sich
ein Rating mit Kosten von mehreren 10 000 DM zumeist
nicht leisten können. Es geht ja auch nicht nur um eine
einmalige Ausgabe, sondern auch um jährliche Aktualisierungen des Ratings. Das sind fortlaufende Kostenbelastungen für unsere Betriebe, die ohnehin schon über die
Maßen belastet sind.
Für den Mittelstand ist es deshalb von zentraler Bedeutung, dass neben dem externen Rating gleichzeitig da sind wir uns ja einig - und gleichwertig bankinterne
Verfahren der Klassifizierung eines Kreditnehmers anerkannt werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die mittelständischen Unternehmen, die das Rückgrat unserer
Wirtschaft bilden, in Zukunft bei der Konditionengestaltung der Kreditvergabe Vorteile aus ihrer jeweiligen Bonität erzielen können und zugleich nicht zu große Differenzen entstehen.
Die deutsche Kreditwirtschaft hat frühzeitig einen Vorschlag zur bankaufsichtlichen Berücksichtigung bankinterner Ratings entwickelt. Dieser Vorschlag sieht vor,
dass von den Aufsichtsbehörden lediglich ein Gewichtungssatz für bestimmte Ausfallklassen vorgegeben wird,
die einzelnen Kreditinstitute die Ausfallwahrscheinlichkeit des einem bestimmten Unternehmen gewährten Kredites aber mit eigenen Verfahren der Bonitätsbeurteilung
und in eigener Verantwortung ermitteln bzw. einschätzen.
Eine Bank muss immer noch eine unternehmerische Aufgabe haben und ein unternehmerisches Risiko tragen. In
einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung und einer sozialen Marktwirtschaft gehört dies zu den allerersten Voraussetzungen.
Meine Damen und Herren, es gibt jedoch nach wie vor
Widerstand von amerikanischer Seite, die die RatingLücke zugunsten ihrer Banken nutzen will. Deswegen ist
es wichtig, dass wir unsere gemeinsam erarbeiteten
Grundsätze voranbringen. Die CDU/CSU-Fraktion hat
folgende Grundsätze aufgestellt:
Die Kreditfinanzierung der deutschen Wirtschaft darf
mit Blick auf Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht erschwert und nicht gefährdet werden.
Die Besonderheit des deutschen Mittelstandes muss spezielle Berücksichtigung finden.
Die Kapitalbeschaffung der Existenzgründer und mittelständischen Unternehmen darf nicht verteuert und die
Leistungsfähigkeit regional tätiger Banken wie Kreditgenossenschaften und Sparkassen darf nicht beeinträchtigt
werden. Neben den externen Ratings müssen deshalb interne Ratings gleichberechtigt anerkannt werden.
Für Kredite mit einer Höhe bis zu 100 000 DM und für
kurzfristige Finanzierungskredite mit einer Laufzeit von
maximal 120 Tagen
({6})
sollte nach meiner Meinung gar kein Rating vorgeschrieben werden. Der gewerbliche Hypothekarkredit sollte
aufgrund seiner niedrigen Ausfallrate mit höchstens
50 Prozent gewichtet werden. Ein mittelstandskonformes
Rating dürfte hier nach meiner Meinung eine spezielle
Lösung darstellen.
Die Bundesregierung muss im Rahmen der internationalen Verhandlungen sicherstellen, dass eine wettbewerbsneutrale Ausgestaltung für alle Betriebe und für alle
Bankengruppen stattfindet und Zuwiderhandlungen mit
einem Veto belegt werden. Wir werden prüfen, was aus
dieser Entschließung geworden ist, wie Sie verhandeln
und wie ernst Sie dieses Anliegen der deutschen Wirtschaft nehmen.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. zur Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten und der
Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU auf Drucksache 14/3523. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! Stimmenthaltungen? - Dieser Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den
Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland nutzen
- Drucksache 14/3374 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Ich bitte dann
auch, den Zeitrahmen von einer Dreiviertelstunde einzuhalten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die
CDU/CSU hat der Kollege Klaus Brähmig.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni 2000
öffneten sich in Hannover die Tore für die Weltausstellung
EXPO 2000. Dies ist die erste Weltausstellung auf
deutschem Boden. Unter gewaltigem Medieninteresse
wurde die EXPO dabei von den Politikern jener Parteien
eröffnet, die dieses Projekt teilweise zögerlich bzw. gar
nicht umgesetzt sehen wollten. Insofern bedanken wir uns
an dieser Stelle bei denjenigen, die Ende der 80er-Jahre
diese Vision entwickelt haben und ohne deren Initiative
die Bundesrepublik Deutschland nicht die Chance erhalten hätte, am Anfang des neuen Jahrtausends der Gastgeber für die Welt zu sein.
Hier sind vor allem der ehemalige Ministerpräsident
Niedersachsens Ernst Albrecht, die damalige niedersächsische Finanzministerin Birgit Breuel und unser Alt-Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zu nennen. Ohne ihr couragiertes Eintreten wäre die damalige Vision nicht in die
Realität umgesetzt worden.
Dies ist nicht der erste Antrag zu diesem Thema und es
wird ganz gewiss auch nicht der letzte sein. Ich erinnere
in diesem Zusammenhang nur an die anfängliche Totalverweigerung der Grünen in Niedersachsen und im Bund
oder an die vom Hannoveraner SPD-Oberbürgermeister
Schmalstieg 1992 gestartete Bürgerbefragung
({0})
verbunden mit der Hoffnung, die Mehrheit der Bürger
werde sich gegen die EXPO entscheiden. Es ist gerade
mal vier Jahre her, dass PDS und Grüne die EXPO absagen wollten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt
ist sie Gott sei Dank eröffnet, die Kleingeister haben sich
nicht durchgesetzt.
({1})
Besonderer Dank gebührt den Machern der EXPO
dafür, dass es gelungen ist, die 16 deutschen Bundesländer - vor allem auch die ostdeutschen Bundesländer - in
den letzten zehn Jahren voll in das Projekt zu integrieren.
Der Ansatz, die EXPO nicht nur in Hannover, sondern
über die weltweiten Projekte in Deutschland und in vielen
Staaten und Regionen der Welt stattfinden zu lassen, hat
zu dieser Integrationsleistung maßgeblich beigetragen.
Als Vorsitzender der sächsischen Jury und als Mitglied
der Bundesjury zur Auswahl der weltweiten Projekte
bin ich stolz, dass sich beispielsweise der Freistaat Sachsen mit 24 weltweiten Projekten an der EXPO beteiligt.
Stellvertretend sei hier nur das Projekt des Wiederaufbaus
der Dresdner Frauenkirche genannt.
Leider zeigt sich seit der Eröffnung erneut, dass
Deutschland ein Problem mit Großveranstaltungen hat.
Täglich melden sich über die Presseticker selbsternannte
„EXPO-Experten“ und profilieren sich mit „klugen Verbesserungsvorschlägen“, obwohl die Kenntnisse der Gesamtzusammenhänge häufig gänzlich fehlen.
Meine Damen und Herren, als Tourismuspolitiker haben wir die EXPO 2000 seit 1995 intensiv und kritisch begleitet. Als Beispiel nenne ich nur unsere Forderung an
die Tourismuswirtschaft, ein einheitliches Buchungs- und
Reservierungssystem für Tickets und Pauschalangebote
einzurichten. Weiterhin haben wir uns immer für ausreichende Marketingmittel zur nationalen und internationalen Vermarktung der EXPO eingesetzt. Die Erfüllung dieser Forderungen ist heute aktueller denn je und daher ein
zentraler Punkt unseres Antrages.
Die zusätzlich geforderten Marketingmittel in Höhe
von 50 Millionen DM sind in Anbetracht der nicht erzielten Verkaufserlöse durch Eintrittskarten und Merchandisingprovisionen und in Anbetracht der Ausfälle im Mietund Pachtbereich eine ausgesprochene Marginalie. Durch
zusätzliche Investitionen des Bundes müssen wir den Versuch unternehmen, Herr Staatssekretär Mosdorf, die bisher erwarteten Verluste in dreistelliger Millionenhöhe
nicht noch weiter steigen zu lassen. Anstelle der öffentlichen Forderung, die Tickets zu verbilligen - was die Einnahmen der EXPO weiter drastisch reduzieren würde -,
sehen alle Fachleute aus der Tourismuswirtschaft im zusätzlichen Einsatz von Marketingmitteln den Königsweg.
Leider ist es offensichtlich noch nicht gelungen, allen
Bürgern zu vermitteln, wie faszinierend, spannend und
hochinteressant die EXPO tatsächlich ist.
({2})
- Ich war da.
({3})
Dabei ist nach ersten Erhebungen die Besucherzufriedenheit überwältigend. Die „Reichsbedenkenträger“ dürfen
in den Medien nicht die Oberhand in der öffentlichen Diskussion gewinnen.
Darüber hinaus ist der Bekanntheitsgrad der EXPO in
wichtigen ausländischen Quellmärkten noch viel zu gering. Das exzellente Produkt EXPO muss mit dem weltweiten Marktpotenzial zusammengeführt werden. Hierzu
haben wir, wie bekannt, nicht mehr viel Zeit.
Mein Appell an die Vertreter der Regierungskoalition
lautet: Wenn wir jetzt nicht schnell handeln, dann werden
nicht nur der Bund, das Land Niedersachsen und die Stadt
Hannover kräftig zur Kasse gebeten, sondern es kostet
Deutschland vielleicht auch seinen guten Ruf als Wirtschafts- und Tourismusstandort.
Meine Damen und Herren, stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu! Lassen Sie uns gemeinsam diese nationale
Verantwortung wahrnehmen!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?
Bitte.
Bitte sehr.
Herr Kollege, Sie sprachen
eben davon, dass seinerzeit der hannoversche Oberbürgermeister Schmalstieg eine Umfrage in der Stadt Hannover initiiert hatte. Ich nehme an, das Ergebnis wird Ihnen bekannt sein: 48 Prozent der Hannoveraner Bürger
und Bürgerinnen haben sich gegen die EXPO ausgesprochen. In Ihren Ausführungen folgte der Satz, dass sich
die „Kleingeister“ nicht durchgesetzt hätten. Sind Sie der
Ansicht, dass es sich bei den 48 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Hannover um „Kleingeister“ handelt?
Und wie wollen Sie Ihren Antrag, den Sie uns gerade
vorgelegt haben, nämlich noch einmal 50 Millionen DM
für eine entsprechende Werbung zu investieren, damit in
Einklang bringen, dass aus dem Bereich des Haushaltsausschusses, und zwar nicht von PDS-Kollegen, sondern von Kollegen Ihrer Fraktion und auch der SPD-Fraktion, schon vor drei Wochen angekündigt wurde - damals
war noch nicht zu erkennen, welcher Flop die EXPO werden würde, was die Besucherzahlen angeht -,
({0})
dass mindestens 2 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt investiert werden müssten, um die Ausfälle bei der
EXPO auffangen zu können?
Ich will direkt kurz auf
Ihre erste Frage eingehen. 52 Prozent der Hannoveraner
haben sich für die EXPO ausgesprochen. Wenn Sie angesichts der exzellenten Infrastruktur in dieser Stadt und
Region, die letztendlich im Wesentlichen mit Bundesmitteln finanziert worden ist, die Hannoveraner heute fragen
würden, dann kämen wir, glaube ich, auf eine Zustimmung zur EXPO von 90 Prozent, wenn nicht sogar von
100 Prozent.
({0})
Das ist Punkt eins.
Punkt zwei. Man muss in der Politik fähig sein - ich
gehe einmal davon aus, dass die bürgerlichen Parteien
dies sind -, eine Entscheidung von gestern, die möglicherweise nicht richtig war, zu überdenken und, wenn
sich eine neue Gegebenheit und Situation ergibt, neu zu
treffen. So bin ich hundertprozentig der Überzeugung,
dass wir mit den demokratischen bürgerlichen Parteien in
diesem Hause, möglichst in Übereinstimmung mit dem
Haushaltsausschuss, eine Möglichkeit für diesen von mir
aufgezeigten Königsweg finden, um die einkalkulierten
Verluste von etwa 400 Millionen DM, die, das wissen Sie,
von Anfang an als Bürgschaftslücke im Finanzierungskonzept gestanden haben, nicht zu überschreiten oder,
was natürlich noch viel besser wäre - das ist unsere
gemeinsame Hoffnung -, sie zu minimieren. Sie von der
PDS können sich gerne überlegen, ob Sie diesem innovativen Antrag nicht eventuell zustimmen wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Nun hat die Kollegin
Birgit Roth, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Werte Interessierte! Die Inhalte der EXPO 2000, „Mensch - Natur Technik“, sind hervorragend. Sie haben bereits am Eröffnungstag circa 150 000 Besucherinnen und Besucher
nach Hannover gelockt.
Die EXPO ist sicherlich auch eine Visitenkarte für
Deutschland - zunächst in technischer Hinsicht: Denken
Sie nur an all die Innovationen, die dort ausgestellt werden. Sie ist sicherlich genauso in ökologischer Hinsicht
eine Visitenkarte, auch wenn es - auch von unserer
Seite - viel Kritik gegeben hat, zum Beispiel weil das
Mehrwegsystem auf der EXPO nicht realisiert wurde.
Aber dafür werden die Fragen des 21. Jahrhunderts problematisiert, zum Beispiel: Wie sieht es mit unserem Energiebedarf aus? Wie können wir unseren Energiebedarf
decken? Wie gehen wir mit Energie insgesamt um?
Die EXPO ist sicherlich auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine Visitenkarte für Deutschland. Bedenken Sie alleine, wie viele Nationen, wie viele verschiedene Mentalitäten teilnehmen, wie viele Stände es gibt;
denken Sie an das Ereignisprogramm oder auch an das
Kulturprogramm, durch das die EXPO führt. Insgesamt
sind es 170 Nationen, die sich beteiligen, die durch ihre
Verschiedenartigkeit, durch die Vielfalt der Mentalitäten
zum Erfolg der EXPO beitragen. Wir haben des Weiteren
800 dezentrale weltweite Projekte, die das Motto der
EXPO „Mensch - Natur - Technik“ untermauern und ergänzen, davon alleine 280 bei uns in Deutschland.
Die EXPO wirft vor allem Fragen auf, provoziert sicherlich auch ein Stück weit. Sie fragt: Wie wollen wir im
21. Jahrhundert leben? Wie sieht unser Energieverbrauch
aus? Wie lösen wir das Problem der Mobilität? Was ist mit
unserer Gesundheit, mit der Ernährung? Aber es werden
auch Themengebiete angerissen wie die Frage, was wir im
Bereich der grünen oder der roten Gentechnik vorhaben
und wie wir damit umgehen.
Sicherlich wird die EXPO nicht alle Probleme, die dort
aufgeworfen werden, lösen. Aber das ist auch nicht der
Anspruch der EXPO. Die Themen sollen problematisiert
werden, es soll angeregt werden zum Weiterdenken, es
soll ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen werden.
Nehmen wir das Umweltbewusstsein in Deutschland
als Beispiel. Dies ist bei uns über Jahre bzw. über Jahrzehnte hinweg gereift. Das war ein Prozess. Genau daran
setzt die EXPO an und versucht, ein Bewusstsein für die
herausragenden Probleme des 21. Jahrhunderts herzustellen. Deswegen halten wir die Inhalte der Weltausstellung
für wirklich gelungen.
({0})
Dass Fehler im Bereich des Managements - sei es im
Bereich des Verkaufs, des Ticketings, aber auch bei der
Werbekampagne; das ist ja oft genug durch die Presse gegangen - gemacht worden sind, ist, glaube ich, nicht mehr
strittig. Frau Breuel sowie Herr Volk und Co werden dafür
die Verantwortung tragen müssen.
Wir im Tourismusausschuss haben in den letzten anderthalb Jahren wirklich kontinuierlich auf Schwachstellen hingewiesen, und zwar so lange, bis sich etwas geändert hat. Denn wir sehen ganz klar unsere Verantwortung
gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, in erster Linie
aber auch gegenüber dem Steuerzahler.
Aus dieser Perspektive beurteilen wir die in dem von
der CDU/CSU eingebrachten Antrag formulierte Forderung, dass weitere 50 Millionen DM kurzfristig in Werbemaßnahmen hineingepumpt werden. Es ist bereits angesprochen worden: Sowohl der Bund als auch das Land
Niedersachsen haben bereits Millionenbürgschaften für
die EXPO übernommen. Das heißt, wir stehen bereits in
der Verantwortung bzw. in der Pflicht.
Herr Brähmig, nachdem die EXPO gerade einige wenige Tage ihre Tore geöffnet hat, fordern Sie bereits, weitere Finanzspritzen für Werbemaßnahmen bereitzustellen.
Ich kann an dieser Stelle nur an Ihr Verantwortungsgefühl
gegenüber dem Steuerzahler und in Bezug auf das Gelingen der EXPO appellieren. Ich halte das, was Sie hier tun,
für eine unnötige Debatte.
({1})
Warten Sie bitte erst einmal ab! Wir haben doch noch
überhaupt keine aussagekräftigen Zahlen vorliegen. Sie
können doch nicht schon nach fünf Tagen abschließend
urteilen. Denn zum Beispiel die Sommerferien haben
noch gar nicht begonnen. Ausländische Touristinnen und
Touristen können noch gar nicht da sein. Schauen Sie sich
einmal die Umfrageergebnisse in Bezug auf die EXPO an:
Das Ergebnis ist, dass 90 Prozent der Besucherinnen und
Besucher mit den Inhalten der EXPO sehr zufrieden sind
und 64 Prozent nochmals kommen möchten. Oder denken
Sie an die letzte Weltausstellung in Sevilla. Dort hat es in
den letzten vier Wochen einen wahrhaftigen Run auf die
Weltausstellung gegeben. Sie aber geben nach fünf Tagen
ein abschließendes Urteil über eine Ausstellung ab, die
insgesamt fünf Monate dauern wird. Das, Herr Brähmig,
halte ich, mit Verlaub, für verantwortungslos.
({2})
Lassen Sie mich auf den Antrag der CDU/CSUFraktion zurückkommen. Es geht hier ja um die Weltausstellung, um ein nationales Symbol und vor allem um
die Chance, uns technisch versiert und kompetent, aber
auch aufgeklärt gegenüber dem Ausland zu präsentieren.
Was Sie da tun, ist so zu beurteilen - das finde ich nicht
in Ordnung; ich halte es für falsch und finde es sehr
schade -: Sie benutzen die EXPO als Vorwand, um parteipolitische Forderungen in den Vordergrund zu stellen.
({3})
Ich habe mir Ihren Antrag einmal genauer angesehen
und möchte Ihnen dazu drei Beispiele nennen: Erstens
fordern Sie, „den Großraum Hannover für die Dauer der
EXPO 2000 zu einer Pilotregion zur Entbürokratisierung
und Deregulierung zu machen ...“ Herr Brähmig, ich bin
mir sehr sicher: Der Anspruch einer Weltausstellung ist
ein wahrhaft anderer.
({4})
Anspruch und Ziel der Weltausstellung sind es, die Probleme, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu
thematisieren und nicht für wenige Wochen ein Musterstädtchen der Entbürokratisierung zu sein.
({5})
Dass der Abbau der Bürokratie eine politische Herausforderung für uns alle ist, die schon seit Jahren auf der Tagesordnung steht, ist richtig, sollte aber nicht in solch einer Form geschehen. Denn ein Abbau der Bürokratie ist
meines Erachtens nur langfristig wirklich zu bewältigen.
({6})
Zweitens fordern Sie, „auf Ausnahmeregelungen bei
den arbeitsrechtlichen Voraussetzungen ... hinzuwirken“.
Dies liegt zum einen ganz klar im Verantwortungsbereich
der Tarifpartner. Zum anderen rufen Sie dadurch, dass Sie
auf Ausnahmeregelungen hinwirken, sofort nach der Politik. Da muss ich Sie mit einem süffisanten Lächeln auf
die erste Forderung Ihres Antrages verweisen. Dort sprechen Sie sich nämlich für den Abbau von Bürokratie aus.
Jetzt erklären Sie, wir sollten Ausnahmeregelungen schaffen. Dies ist nicht ganz logisch, Herr Brähmig.
Lassen Sie mich ein drittes Beispiel anführen. Auch
hier ein Zitat aus Ihrem Antrag: Wir sollen Einfluss darauf
nehmen, „dass gleich zu Beginn der EXPO Sonderangebote der Deutschen Bahn AG aufgelegt werden, um zu einem guten Start der Weltausstellung beizutragen.“
({7})
Herr Brähmig, die Bahn ist mittlerweile privatisiert, wie
das kleine Wörtchen AG, Aktiengesellschaft, schon sagt.
Wie kann die Politik auf die Preisgestaltung eines Unternehmens Einfluss nehmen? Manchmal frage ich mich,
welche politischen Vorstellungen Sie von Marktwirtschaft haben. Sie sprechen nämlich von Preisregulierung.
({8})
Ich muss Sie mit einem weiteren, ich hoffe charmanten, süffisanten Lächeln auf Punkt 1 Ihres eigenen Antrags
verweisen, in dem Sie Entbürokratisierung, aber vor allem auch Deregulierung fordern. Deregulierung bedeutet
mehr Wettbewerb. Ich kann daher nicht ganz verstehen,
dass Sie unter Punkt 12 Ihres Antrags klare Preisfestsetzungen und klare Preisregulierungen fordern.
Abgesehen davon möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass der Tourismusausschuss da sehr aktiv war. Herr
Hinsken hat bereits im Januar dieses Jahres führende Vertreter der Deutschen Bahn eingeladen. Der Vorstand war
bei uns zu Gast. Schon im Januar sind uns die Preiskalkulationen der Bahn vorgelegt worden - Sie erinnern sich
vielleicht noch daran -: die Familienkarte für 199 DM
bzw. 249 DM. Das heißt, Punkt 12 Ihres Antrags ist bereits seit Monaten realisiert.
({9})
Was ich schade finde, ist die Art und Weise, in der wir
über dieses Thema debattieren, nämlich: Das Glas ist halb
leer und nicht halb voll. In diesem Sinne möchte ich an Sie
appellieren: Wir wollen unsere Augen sicherlich nicht vor
den Problemen, gerade auch den finanziellen Problemen
der EXPO 2000 verschließen. Ich bitte Sie aber, auch die
Stärken der EXPO anzuerkennen, die Errungenschaften
und die Leistungen der EXPO in den Vordergrund zu stellen.
({10})
Ich fordere Sie auf, die Augen vor diesem Ziel nicht zu
verschließen und jetzt nicht diese Debatte zu führen. Vielmehr sollten die Stärken der EXPO ganz klar herausgestellt werden, nämlich die Leistungen und Errungenschaften im Bereich der Innovation und im Bereich der
Technik für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Als jemand, der Ende der 80er-Jahre
daran beteiligt war, dass die niedersächsische Landesregierung den Antrag bei der Bundesregierung gestellt
hat, die EXPO durchzuführen, freue ich mich, dass sie nun
eröffnet worden ist und dass sie mit ihrem Angebot eine
Ideenbörse und Trendsetter in Deutschland für das
21. Jahrhundert ist. Wir sollten gemeinsam festhalten und
uns darüber freuen, dass Deutschland die einmalige
Chance hat, am Beginn dieses Jahrhunderts die Welt in
Deutschland zu versammeln, dass Deutschland die Nationen angeregt hat, in ihren Pavillons zu zeigen, wie sie sich
das 21. Jahrhundert vorstellen, und einige Angebote aus
Deutschland zu machen.
Birgit Roth ({0})
Ich möchte mich an dieser Stelle bei zweien bedanken,
die dieses Ziel in unterschiedlichen Positionen politisch
mit vorangetrieben haben. Als Niedersachse denke ich
natürlich zuerst an die Bundesebene; die anderen können
sich selber loben. Der damalige Bundeskanzler Helmut
Kohl hat diese EXPO mit großer Verve gefördert. Ich
möchte ihm dafür danken.
({1})
Man sollte hier aber genauso festhalten, dass sich der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder von Anfang an und
in einer Zeit, in der Rot-Grün in Niedersachsen die EXPO
madig gemacht hat und sie am liebsten kaputtgeredet
hätte, zu der EXPO bekannt hat.
Ich denke, in einer solchen Diskussion, die wir weltoffen führen wollen, wird es uns helfen zu sagen, wer die
ganze Zeit gemeckert hat, wer das Projekt madig gemacht
hat und wer nicht wollte, dass aus Deutschland positive
Zeichen in die Welt hinausgehen: Anfang der 90er-Jahre
haben insbesondere die Grünen versucht, alles kaputtzumachen, statt positiv Einfluss zu nehmen.
({2})
Das geht bis hin zu dem Trauerspiel, das damals in der
Stadt Hannover stattfand.
Die Begeisterung der Besucher spricht für sich. Jetzt
haben wir fünf Monate lang die Chance, gute Nachrichten
aus Deutschland zu verbreiten. Aber dies verbietet natürlich in keiner Weise, gemeinsam darüber nachzudenken,
wie angesichts des schleppenden Kartenverkaufs Hinweise gegeben werden können, wie man die EXPO rundum zu dem Erfolg macht, der notwendig ist.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Unternehmen, wie es die EXPO ist, auf den Markt, den es in diesem Bereich gibt, reagieren muss. Dies bedeutet, dass
man, wenn der Kartenverkauf zu Anfang schleppend ist,
bestimmte zusätzliche Angebote machen muss.
({3})
Mir leuchtet es nicht ein, warum es erst einmal einige
Tage brüsk abgelehnt worden ist, etwa für Familien die
Eintrittspreise vor den Sommerferien um ein Drittel billiger zu gestalten. Mir leuchtet es auch nicht ein, warum es
- trotz der Flaute, die wir im Augenblick haben - zunächst
abgelehnt wurde, an den Tageskassen auf den zusätzlichen Eintrittspreis zu verzichten. Heute lese ich in Meldungen aus dem Ticker - es ist klar, dass ich mich darüber freue -, dass die Verantwortlichen inzwischen ebenfalls zu dieser Überzeugung gekommen sind. In diesem
Zusammenhang fordere ich Flexibilität statt Prinzipienreiterei ein.
({4})
Angesichts der Globalisierung ist dies etwas, was man gerade auch in Deutschland braucht.
Ich denke, auch ein neuer Werbeanlauf ist geboten. Bei
diesem Punkt knüpfe ich an das an, was der Kollege
Brähmig zu Anfang gesagt hat: Über Beträge kann man
sich immer unterhalten.
Ich hielte es für gut - mehr möchte ich dazu nicht
sagen -, wenn die Geschäftsführung der EXPO ihre Situation im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vortragen, neue Maßnahmen vorschlagen und gemeinsam den Rückenwind, den sie ja aus diesem Parlament und auch von der Bundesregierung haben kann,
nutzen würde, um Deutschland entsprechend darzustellen. Frau Roth, das ist doch etwas, was wir in einer solchen Debatte gemeinsam an Positivem sagen könnten.
Jeder Tag zählt. Ich freue mich, dass Frau Breuel erklärt hat, dass es eine zusätzliche Werbekampagne geben soll. Ich warne vor Panikmache auf der einen Seite
({5})
und vor Trotzreaktionen auf der anderen Seite, als müsste
man gar nichts ändern. Aber, meine Damen und Herren,
wir müssen uns von Anfang an damit beschäftigen: Wenn
denn tatsächlich 1 Million Besucher weniger käme, bedeutete dies geringere Einnahmen in Höhe von 45 Millionen DM. Deswegen muss sich dieser Bundestag auch
mit solchen Fragen beschäftigen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuchardt?
Ich möchte nur noch diesen
Gedanken zu Ende bringen. - Wir tun dies auch in anderen Zusammenhängen bei weit kleineren Beträgen.
Frau Kollegin, bitte
sehr.
Ich bin über die
Vorschläge, die Sie hier eingebracht haben, sehr froh und
möchte nur einen Aspekt besonders in den Mittelpunkt
rücken:
({0})
die Frage, ob der Aspekt Jugendliche auf der EXPO, denen der Zutritt gegenwärtig durch den Preis der Eintrittskarten in Höhe von 69 DM nicht möglich ist, mit berücksichtigt wird. Denn ich denke, dass ein Ferien-EXPOPass eine Maßnahme wäre, die nicht nur den Jugendlichen
das Tor zur Welt öffnen würde, sondern sie auch - das haben Sie angesprochen - als Werbeträger nutzen würde.
Denn Jugendliche sind die besten Werbeträger für die Zukunft.
Daher habe ich am Montag einen Brief an die Generalkommissarin der EXPO, Frau Breuel, geschrieben, und
zwar mit dem Hinweis, dass es hier eine Zielgruppe gibt,
die bisher nicht berücksichtigt ist. Denn die Jugendlichen,
die die EXPO in den Sommerferien besuchen würden,
sind diejenigen, die keinen Taucherurlaub in Ägypten machen. Sie hätten für 20 DM die Chance, das Tor zur Welt
kennen zu lernen, und könnten zum Werbeträger werden.
Ich bitte Sie, darüber noch einmal nachzudenken.
Frau Kollegin Schuchardt, ich
will gern akzeptieren, dass das ein Aspekt ist. Ich würde
hier allerdings die Hilfe eher bei den Kommunen ansiedeln, aus denen diese Jugendlichen kommen. Heute hat
aus den verschiedensten Gründen gerade ein Teil der Jugendlichen mehr Geld als etwa ein Teil der älteren Generation. Deswegen plädiere ich nicht dafür, dass die
Einzelkarte verbilligt abgegeben wird. Im Übrigen gibt es
weitere Überlegungen, die dafür sprechen, dass man das
nicht tun sollte: Zigtausende haben nämlich schon im
Vorverkauf Karten erworben; sie würden sozusagen bestraft, wenn es jetzt zu einer anderen Regelung käme. Wir
sollten aber etwas für Familien tun, damit sie etwa in der
Zeit vor den Ferien das Angebot bereits nutzen. In der
Zwischenzeit sollte - ich freue mich, dass die EXPO darauf offenbar eingeht - der Aufschlag, der an der
Tageskasse erhoben wird, abgeschafft werden. In einer
Situation, in der der Zulauf ungenügend ist, wäre es das
Einfachste, einen abschreckenden Zusatzbeitrag nicht
mehr zu erheben. Dass wir darüber überhaupt noch diskutieren müssen, ist schade.
Ich plädiere in diesem Zusammenhang - ich sage das
zusammenfassend - für mehr Flexibilität; denn das
21. Jahrhundert - auch das vermittelt die EXPO im Übrigen bei den vielen Visionen, die sie vorstellt - braucht
mehr Flexibilität gerade im Hinblick auf die Globalisierung. Ich würde mir diese Flexibilität auch in der Region
Hannover wünschen; ein Stichwort dazu wäre das Thema
Ladenschluss.
Das Wichtigste ist aber, meine Damen und Herren, dass
weltweit kein Zweifel daran besteht, dass die deutsche Politik - ich freue mich, dass das quer durch die meisten
Fraktionen der Fall ist - die EXPO als eine riesige Chance
ansieht und dann, wenn sich Probleme stellen, verlangt,
wie wir es von uns selbst auch immer verlangen, der Sache gerecht zu werden und Flexibilität anstatt Panikmache und Prinzipienreiterei an den Tag zu legen.
({0})
Nun hat der Kollege
Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt
keine Panikmache, aber natürlich einer derjenigen, die
das früher alles schon sehr kritisch gesehen haben. Trotzdem sage ich, dass es natürlich sinnvoll ist, für den Besuch
der EXPO in Hannover zu werben.
({0})
Die CDU/CSU hat es sehr gut beschrieben und hier
wurde es mehrfach gesagt: Die EXPO ist ein Diskussionsforum für die zentralen sozialen, ökologischen und
ökonomischen Herausforderungen des 3. Jahrtausends.
Es gibt fantasievolle Pavillons der rund 180 teilnehmenden Nationen und internationalen Organisationen. Es gibt
einen Themenpark mit spektakulären Vorstellungen und
Simulationen. Es gibt ein attraktives Kultur- und Ereignisprogramm mit über 800 Veranstaltungen. Es gibt
Außenprojekte der EXPO. Viele hoch qualifizierte
Arbeitsplätze sind geschaffen worden und werden hoffentlich auch erhalten.
Es ist auch angenehm, jetzt zur EXPO zu fahren. Ich
wohne ja nicht so weit davon entfernt und bin in den letzten Tagen ein paarmal über den Messeschnellweg unter
den EXPO-Brücken durchgefahren. Ich kann Ihnen und
allen Zuhörern sagen: Früher gab es zwar Diskussionen
darüber, ob man die Infrastruktur zustande bringen
würde, die die Besuchermassen verkraftet, die man
braucht, damit die EXPO kostendeckend stattfinden kann.
Jetzt aber sehen wir, dass man ohne Schwierigkeiten hinfahren kann und große Parkplätze vorfindet, auf denen
verloren einige Rudel Autos stehen. Es gibt kein Gedränge auf den EXPO-Wegen. Wer wie ich über den Messeschnellweg fährt, sieht auf den drei Brücken, die über
den Messeschnellweg führen, kleine Besuchertrüppchen
tröpfeln.
Die Kehrseite davon sind viele leer stehende Hotelbetten und Privatzimmer. In Hannover gibt es ja ein Gewerbe der Messewirte und der Familien, die Messegäste
aufnehmen. Mir hat am Montag ein Taxifahrer erzählt, die
einzigen, die an der EXPO verdient hätten, seien die Möbelhäuser, denn er habe mit seinem Lasttaxi in den letzten
zwei Monaten allein an 50 Adressen neue Betten und
neues Bettzeug geliefert. Es gibt also viele Privatbürger in
Hannover, die sich jetzt fragen, ob sie das Geld, das sie investiert haben, durch Mieten wieder hereinbekommen. Es
ist ein Jammer und gerade weil es so ist, sollten alle zur
EXPO fahren.
({1})
Ich sage noch eins: Ich verzichte darauf, hier rechthaberisch zu argumentieren und zu sagen, wir Grünen seien
schon immer dagegen gewesen; wir seien wegen der enormen Naturbelastung durch Parkplatzflächen usw. und wegen der ökonomischen Belastung durch die befürchtete
Preissteigerung auf dem Wohnungsmarkt dagegen gewesen. Die nachteiligen Folgen auf dem Wohnungsmarkt
sind ebenso wie ökologische Belastungen durch höhere
Verkehrsaufkommen nicht eingetreten. Alle Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet.
Ich muss den Oberbürgermeister Schmalstieg wirklich
in Schutz nehmen, er hat keinen Bürgerentscheid angeordnet. Er musste einen anordnen, weil er durch Ratsbeschluss, der von den Schuldigen, den Grünen, herbeigeführt worden ist, gezwungen wurde.
({2})
- Wir waren die Missetäter.
Die Grünen haben damals 48,5 Prozent Zustimmung
gehabt. 2 Prozent mehr und Hannover, dem Land und dem
Bund wäre das Desaster erspart geblieben.
({3})
Danach haben wir uns demokratisch verhalten. Der Umweltdezernent in Hannover, der ein Grüner ist, hat die
grüne Begleitplanung gemacht. Grüne Gruppen im Lande
haben EXPO-Projekte vorgeschlagen. Dass Uelzen jetzt
einen wunderbaren, von Hundertwasser als Letztes vor
seinem Tod ausgemalten Bahnhof hat, geht auf eine Idee
zurück, die von einem Grünen stammt. Wir haben uns also
voll beteiligt. Rechthaberei gibt es überhaupt nicht.
Natürlich rufen wir jetzt auch deshalb dazu auf, zur
EXPO zu fahren, weil wir keine Belastung von Land und
Bund durch die hohe Defizitabdeckung, die auf sie zukommt, wollen.
({4})
- Mein lieber Herr Hirche, ich lese in der „Hannoverschen
Allgemeinen“ vom Dienstag, dass es schon am Montag
eine erste Alarmsitzung des niedersächsischen Landeskabinetts gegeben hat. Dort heißt es:
Sollten die Besucherzahlen im bisherigen Rahmen
bleiben, „würden beim Land Defizite hängen bleiben, die wir nicht verkraften können“.
({5})
- Natürlich, deshalb sage ich ja auch: Alle hin! Ich unterstütze auch alle weiteren Werbeprogramme und alles, was
dem Tourismusausschuss einfällt.
Man muss aber auch fragen: Wie sieht das aus? Es waren täglich 260 000 Besucher kalkuliert, um einigermaßen hinzukommen. Am ersten Tag kamen 150 000. Ich
muss meinen Vorredner ein wenig korrigieren: Das waren
nicht alles begeisterte Hannoveraner. 40 000 Besucher
waren Schüler hannoverscher Schulklassen, denen Gratistickets in die Hand gedrückt wurden, weil der Bundeskanzler bekanntlich seinen großen Eröffnungstag hatte.
Rund 10 000 weitere Besucher waren Bauarbeiter, die
auch nichts für den Besuch bezahlt haben, was sozial absolut richtig war. Bauarbeiter sollen auch etwas davon haben und nichts dafür bezahlen. Es waren also alles in allem weniger als 100 000 zahlende Gäste da.
So geht es weiter: In den ersten vier Tagen kamen
360 000 statt der erwarteten 1 Million Besucher. Am
Sonntag kamen 16 000 statt 300 000 Besucher und am
Montag 70 000 statt 260 000 Besucher. Bis Ende
Oktober - das sind 150 bis 160 Tage - müssten 40 Millionen Besucher kommen, also 260 000 täglich. Das
scheint nicht so zu laufen.
({6})
Es kann natürlich daran liegen, dass jetzt nicht Reisezeit ist.
({7})
Sevilla hat gezeigt, dass die Besucher am Ende doch noch
gekommen sind.
({8})
- Ich unterstütze die EXPO doch.
({9})
- Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es leere Parkplätze gibt. Es ist wunderbar, zur EXPO zu fahren.
Jetzt rechnen wir einmal: Es gab 400 Millionen DM an
öffentlichem Zuschuss; ursprünglich sollte er mitberechnet werden, dann ist er nachgelassen worden.
({10})
Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch einen Moment
Redezeit.
Ich habe noch gar
nichts gesagt.
({0})
Damals hatte man einen hohen Kartenvorverkauf in die
Planung einberechnet, der sich nicht realisieren ließ.
Dann war die Messe AG praktisch pleite. Daraufhin
musste man die 400 Milliarden DM hineinstecken. Es gibt
200 Millionen DM Einnahmeausfall durch die Industrie;
denn das Industriesponsoring, mit 950 Millionen DM
angesetzt, hat nur 750 Millionen DM gebracht. Ludolf
von Wartenberg hat gesagt: Jetzt ist genug, mehr kommt
von uns nicht. Diese 200 Millionen DM muss man auch
berücksichtigen. Die ersten sechs Tage bringen einen
Ausfall in Höhe von 72 Millionen DM, so haben wir ausgerechnet. Sie alle haben jetzt ein Ticket bekommen. Ich
habe ausgerechnet, dass das noch einmal 46 000 DM sind,
die Ihnen nachgeschmissen werden. Rundherum 672 Millionen DM an Defizit, die Milliarde ist bald erreicht.
Das Problem ist natürlich, wie Sie wissen, die Defizitabdeckung von 50:50. Beim Bund kommt auch etwas an,
aber das Land Hannover hat es wirklich schwer.
Oder sollte vielleicht der US-Botschafter Kornblum
Recht haben mit der Begründung, mit der er den amerikanischen Pavillon absagte? Das ist genau derselbe
Spruch, mit dem wir die Diskussion vor zehn Jahren begannen. Wir sagten nämlich: Die EXPO ist im elektronischen Zeitalter wahrscheinlich keine zeitgemäße Veranstaltung mehr. Das wird so nicht funktionieren.
({0})
Die Leute sind über alles Mögliche informiert, auch über
Naturtechnik. Sie sind informiert, Sie müssen nicht nach
Hannover.
Aber nun, Herr Kollege, muss ich doch auf die Uhr schauen.
Ich folge der Ermahnung der Präsidentin und ende mit
folgenden Worten: Im 19. Jahrhundert hat Deutschland es
nicht geschafft, eine EXPO zu veranstalten. Danach hat
Deutschland Kriege geführt. Jetzt hat Deutschland seine
EXPO - nach 150 Jahren. Vielleicht ist es aber so: Wer zu
spät kommt, den bestraft die Börse.
({0})
Nun hat das Wort die
Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich kann das Loblied, das von den
zwei großen Fraktionen auf die EXPO gesungen wurde,
nicht mitsingen. Das ist sicherlich nachzuvollziehen.
Seit 1851 nimmt jede Weltausstellung Bezug auf aktuelle Fragen und Aufgaben der jeweiligen Zeit. Neben dem
Kennenlernen fremder Kulturen sollen Herausforderungen, Chancen und Risiken zur Lösung der globalen Probleme erörtert sowie innovative und zukunftsfähige Ideen
nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit diskutiert und vorgestellt werden.
Sie wissen - das haben einige Redner heute schon bestätigt -, dass die PDS der Entwicklung des Projektes der
EXPO von Anfang an sehr kritisch gegenübergestanden
hat.
({0})
Die Kritikpunkte seit der 13. Legislaturperiode haben sich
vom Inhalt her nicht verändert, sondern sie sind nach wie
vor aktuell.
({1})
Nachdrücklich forderten wir ein in sich schlüssiges
Konzept, das inhaltlich so gestaltet ist, dass kostengünstig eine Entwicklung in Richtung eines ökologischen und
sozialen Umbaus sowie ein Ausgleich zwischen Industriestaaten und Staaten der so genannten Dritten Welt herbeigeführt werden. Mit dieser Zielsetzung könnte in der
gegenwärtigen Zeit eine Weltausstellung sicherlich Sinn
machen. Das, denke ich, hat Herr Lippelt in seinen Ausführungen sehr deutlich gemacht.
Nun ist eingetreten, worauf wir aufmerksam machten
und was wir bereits in den vergangenen Jahren forderten.
Deshalb müssen sich Frau Breuel und ihr Vorstand fragen
lassen - und zwar nicht nur von der PDS -, was sie mit all
den Vorschlägen, die in den vergangenen Jahren unterbreitet wurden, gemacht haben. Wo sind all die Vorschläge gelandet? Wie ist sie damit umgegangen? Harren
die Vorschläge vielleicht geduldig in einem Schreibtisch
oder verschwanden sie gleich im Papierkorb? Auch die
Bundesregierung muss sich an dieser Stelle fragen lassen,
wie sie mit den Haushaltsmitteln umgeht, was mit ihnen
passiert, ob sie überhaupt sinnvoll eingesetzt worden sind.
Angesichts der dramatischen Haushaltslage, wo jeder
aufgefordert ist zu sparen, war es von Anfang an nicht zu
rechtfertigen, dass die EXPO durch ökonomisch weit
überzogene Investitionen die öffentlichen Haushalte belastet und Millionen oder Milliarden DM Steuergelder
verschlingt. Dafür ist das Geld da, aber nicht für die jährliche Nettolohnanpassung von Renten, von Arbeitslosengeld oder auch von Sozialhilfe.
({2})
Nun kommt ein Antrag von der CDU/CSU; auch das ist
schon benannt worden. Sie fordert, kurzfristig 50 Millionen DM zusätzlich für den Haushalt der EXPO und für
die DZT einzustellen. Was soll man dazu noch sagen? Ist
das noch verantwortungsvoll? Wie erklären Sie das zum
Beispiel sozial Betroffenen?
({3})
Meine Damen und Herren, in Politik und Wirtschaft
sind bei zentralen Aufgaben stets Prioritäten zu setzen.
Beim Thema EXPO muss beachtet werden, welches Ausmaß ein solches Projekt eigentlich annehmen darf, denn
wir müssen uns heute schon fragen: Begeben sich die ausrichtenden Städte und Länder im Rahmen des globalen
Wettbewerbs nicht in unverantwortlicher Weise in
Schwindel erregende finanzielle Belastungen, um immer
größer, besser und gigantischer zu werden, und das alles
zu lasten des eigentlichen inhaltlichen Anliegens dieser
Weltausstellung?
Sicherlich ist es jetzt noch zu früh, Rückschlüsse auf
das Projekt der EXPO zu ziehen, aber die täglichen Meldungen zu den Verlusten sollten nicht irgendwo als nicht
relevant oder vielleicht als überzogen abgewiesen werden.
Ob Motto, Themenparkgestaltung und die weltweiten
Projekte die sehr hoch gesteckten Ziele auch erfüllen können oder eine multimediale und von der Technik dominierte Supershow der Wirtschaft vorherrscht, wird man
erst am Ende der Weltausstellung beantworten können.
Unsere Kritik an der EXPO wird sich daran ausrichten,
was sich nachhaltig zum Wohl der Menschen und der Natur überall auf dieser Welt entwickeln wird. Konkret heißt
das für uns, solche Fragen wie diese zu beantworten: Welche Nachnutzungskonzepte gibt es? Welche Zukunft haben die vielen externen Projekte? Welche Nachbereitungsmaßnahmen bzw. Nachbereitungsprogramme gibt
es für die Länder der so genannten Dritten Welt? War die
EXPO wirklich eine Chance für Wirtschaft und Tourismus?
({4})
Vielen Dank.
({5})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Ernst Hinsken, von der CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni hatten
wir den Startschuss zur EXPO 2000 durch unseren Bundespräsidenten. Alle Redner waren des Lobes voll, und
dies deshalb, weil erstmals seit 150 Jahren - seitdem gibt
es Weltausstellungen - eine Weltausstellung in der Bundesrepublik Deutschland stattfindet und Deutschland
Gastgeber ist.
Das touristische Topereignis dieses Jahres hat begonnen. Man kann - das möchte ich als Appell hinausposaunen - die Welt in zwei Tagen erwandern. Ich meine, es ist
eine Weltreise gerade für den kleinen Mann, der sich vieles sonst nicht erlauben kann.
({0})
Nach den Olympischen Spielen 1972 in München steht
Deutschland mit diesem globalen Topereignis im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. 130 Staatsgäste geben sich
ein Stelldichein, haben sich angemeldet. Wir alle haben
uns gefreut, dass so viele zugesagt haben.
Viele von uns hätten sich noch mehr gefreut, wenn der
amerikanische Präsident Herr Clinton am 1. Juni auch zur
EXPO gegangen wäre.
({1})
Viele haben sich auch geärgert und die Meinung vertreten,
es sei ja nicht richtig, dass die USA als Aussteller durch
Abwesenheit glänzen.
Nein, meine Damen und Herren, auch die Vereinigten
Staaten von Amerika sind mit acht Pavillons bei dieser
Weltausstellung vertreten. Lassen Sie mich das flapsig bemerken. Es ist nämlich achtmal Mc Donalds hier zugegen.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist - sicherlich nicht nur
für mich, sondern auch für Sie alle erfreulich, dass die
EXPO-Projekte nicht nur in Hannover zu bestaunen
sind, sondern dass diese Ausstellung weltweit begleitet
wird, dass vor allen Dingen allein in der Bundesrepublik
Deutschland 280 Projekte diese EXPO Hannover begleiten, die Leute animieren, eben nicht nur diese Einzelprojekte anzusehen, sondern auch nach Hannover zu kommen.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen
Fraktionen herzlich bedanken, weil immer das Verständnis dafür vorhanden war, dass wir dieses Thema mehrmals
im Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages auf
die Tagesordnung gesetzt haben. Warum? Weil wir das
Ganze kritisch und konstruktiv begleiten wollten und
auch begleitet haben. Viele der Maßnahmen, die erst im
letzten Jahr Platz gegriffen haben, sind eben durch unsere
Beschlüsse zuwege gebracht worden.Wir waren zweimal
in Hannover und haben uns auch hier in Berlin informiert.
Ich möchte ein Zweites zur Historie sagen. Es ist mir
wichtig zu erwähnen, dass vor allem Altbundeskanzler
Helmut Kohl, Altministerpräsident Ernst Albrecht, aber
auch Birgit Breuel und die Stadt Hannover positiv hervorgehoben werden müssen. Diese haben maßgeblich
dazu beigetragen, dass vor 14 Jahren die Entscheidung gefällt wurde, diese EXPO in Hannover durchzuführen.
Leider - das musste ich am Eröffnungstag feststellen -,
glich Hannover einer belagerten Stadt.
({3})
Erfreulicherweise hatten aber die aus allen Teilen
Deutschlands zusammengekarrten, angereisten Chaoten
keine Chance.
({4})
Deshalb möchte ich auch der dort tätigen Polizei ein
Kompliment aussprechen.
({5})
Es wäre in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild entstanden, wenn es Berichte nicht über die EXPO, sondern über
die Krawalle gegeben hätte, die dort verschiedene Personen zu inszenieren versucht haben. Wenn Sie sich von der
PDS einmal die Flugblätter anschauen - Sie können sich
eines von mir holen -, werden Sie feststellen, mit welchen
Argumenten man versucht hat Stimmung zu machen. Das
ist pervers. Das halte ich nicht für gut und deshalb meine
ich, dass das nicht hingenommen werden kann.
Die EXPO braucht Erfolg und diesen wollen wir alle.
Es ist bestürzend, dass in den ersten fünf Tagen nicht einmal die Hälfte der erwarteten Besucher gekommen sind.
Es sind bereits 10 bis 12 Millionen DM an Verlust entstanden. 125 Arbeitsverträge wurden gelöst. 400 weitere
Arbeitsplätze stehen auf der Kippe.
Wir müssen uns deshalb gerade bei dieser Debatte die
Frage stellen: Warum bleiben die Besucher denn aus?
Sind es vielleicht die zu hohen Hotelpreise, die abschreckend wirken? Oder: Ich bringe ein kurzes Beispiel:
Eine Berliner Familie mit vier Kindern, die für einen Tag
nach Hannover fährt, wird mit zirka 530 bis 550 DM belastet. Das kann sich nicht jedermann leisten. Ich könnte
das hier aufgegliedert vortragen, was aber den Rahmen
bzw. die Zeit sprengen würde.
({6})
Ich meine deshalb: Hier ist einerseits das EXPO-Management und andererseits die Deutsche Bahn AG gefordert, Überlegungen darüber anzustellen, inwieweit im
Laufe der verbleibenden 145 Tage zusätzliche Anreize
gegeben werden können, um vermehrt zu animieren, sich
dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen, sondern vielmehr mit dabei zu sein, weil die EXPO nicht mehr so
greifbar nahe sein wird: „Werbung, Werbung, Werbung“
ist das Zauberwort und das kostet Geld. Deshalb hat die
CDU/CSU-Fraktion ihren Antrag eingebracht.
({7})
Es bleibt deshalb zu wünschen, dass alles darangesetzt
wird, die Besucherzahlen zu steigern. Es wird weder gelingen, die Zahlen von Sevilla, wo 1992 41,3 Millionen
Menschen die Weltausstellung besuchten, noch die von
Paris zu erreichen, wo im Jahre 1900 48,1 Millionen Menschen auf der damaligen Weltausstellung begrüßt werden
konnten. Wir müssen anstreben, wenigstens einen Teil
davon zu erreichen. Wir sollten uns alle glücklich schätzen, wenn es uns gelingt, bei den Besucherzahlen mit einer Drei im 10-Millionen Bereich abzuschließen.
Wir haben als Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestages dann einen wesentlichen Anteil daran: Denn
wir haben animiert und angeschoben, um die EXPO vielleicht noch zu dem Erfolg zu führen, den wir ihr alle wünschen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1851 wurde die
erste EXPO in London veranstaltet und damals war das
Vereinigte Königreich das internationalste Land der Welt.
London war dabei der Mittelpunkt und der Treffpunkt für
die ganze Welt. Diese Begegnung wäre heute viel leichter,
damals war sie jedoch ein richtiges Experiment.
Ich komme gerade von Hannover und habe heute Prinz
Edward beim Nationentag des Vereinigten Königreichs
begleiten dürfen. Prinz Edward hat an die Entwicklung
und die Änderungen der EXPO erinnert und gleichzeitig
darauf hingewiesen, dass wir im heutigen Zeitalter - das
sage ich zu Herrn Lippelt -, gerade weil wir durch die
Elektronik die Ferne so nah geholt haben, auch wieder
eine Form von Sinnlichkeit und Anmut brauchen.
Wer einmal die EXPO erlebt hat, weiß, dass die EXPO
das leistet. Die EXPO 2000 bietet eine Vielzahl von unterschiedlichen Pavillons an. Sie brauchen sich nur einmal den deutschen, den finnischen oder andere Pavillons
anzusehen.
({0})
- Den holländischen. Dies ist eine große Leistung. Wir
müssen den Gastländern noch einmal Dankeschön sagen,
die mit tollen Projekten zu uns gekommen sind.
({1})
Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nicht
verstehen - das sage ich den Kollegen der PDS -, dass Sie
zu den schärfsten Kritikern der EXPO geworden sind. Wir
investieren in die Korrespondenzregion Sachsen-Anhalt,wir machen ökologische Projekte in den neuen Bundesländern; ich erinnere an die Revitalisierung bei der
Braunkohle. Es gibt viele hundert spezielle EXPO-Projekte allein in den neuen Bundesländern. Sie müssten eigentlich dankbar dafür sein, dass wir uns so stark engagieren; denn es geht um die Zukunft und nicht darum, dass
man immer nur die Vergangenheit bewältigt. Das sind Zukunftsprojekte in den neuen Bundesländern. Deshalb verstehe ich Ihre Kritik überhaupt nicht.
({2})
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass Herr
Hirche darauf hingewiesen hat, dass nicht nur der alte
Bundeskanzler seine Verdienste hat. Das wird überhaupt
nicht bestritten. Er hat sich dafür engagiert. Herr Brähmig,
ich nehme es Ihnen nicht übel, vielleicht haben Sie es
nicht direkt mitbekommen: Auch der neue Bundeskanzler hat sich bei der damaligen Diskussion von Anfang an
vehement für das EXPO-Projekt ausgesprochen. Herr
Hirche hat hier vollständig Recht.
({3})
Es war ein wichtiger Diskussionsprozess, weil es ihm
nicht darum ging, irgendeine Technik oder irgendeine
Veranstaltung an den besten Messeplatz der Welt zu holen, sondern weil er davon überzeugt war, dass wir zu Beginn des neuen Jahrhunderts über Visionen reden müssen.
Ich glaube, das ist das Spannende. Wir alle wissen: Es
geht nicht nur darum, dass wir fantastische Pavillons haben, dass wir viele Menschen zu einer Begegnung führen,
die sie über das Internet nie haben könnten. Wenn ich mir
den Veranstaltungskalender ansehe, wenn ich mir die
Diskurse ansehe, wenn ich mir die internationalen Begegnungen ansehe, dann ergibt sich: Wir haben die
Chance, dass gemeinsam Visionen entwickelt werden,
dass wir ein offenes, ein gastfreundliches Land werden
und damit auch Einladungen aussprechen und dass wir
akzeptieren, dass man im 21. Jahrhundert interkulturelle
Zusammenarbeit braucht. Die EXPO bietet hierfür eine
Plattform, die wir nutzen sollten.
({4})
Meine Damen und Herren, ich habe heute die Vorabergebnisse einer Repräsentativumfrage mitgebracht, die
in den nächsten Tagen veröffentlicht wird. Diese Befragung ist an den ersten Tagen bei den Besuchern der EXPO
gemacht worden. Dabei kommt man zu folgendem Ergebnis: Beim Gesamturteil über die EXPO 2000 in Hannover geben 62 Prozent der Besucher, die dort waren, das
Urteil sehr gut bis gut ab. Von den Besuchern der ersten
Tage - nur darum geht es; es ist eine neue repräsentative
Umfrage - haben 60 Prozent die Meinung geäußert, dass
sie noch einmal zur EXPO kommen wollen. Diese Zahlen
sprechen dafür, dass die EXPO gute Chancen hat, zu einer Erfolgsveranstaltung, zu einer Success-Story zu werden. Wir alle sollten nicht nörgeln und nicht mäkeln, sondern offensiv für die EXPO werben. Ich habe über die Parteien hinweg gehört, dass das auch die Absicht ist.
({5})
Das sollten wir gemeinsam tun.
Wenn das Management der EXPO - Herr Hinsken und
andere Abgeordnete haben darauf hingewiesen - versucht, in der jetzigen Situation etwas zu korrigieren oder
neu zu justieren oder entsprechende Signale zu setzen,
dann finde ich das richtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen sagen: Die Entscheidung, Jugendgruppen einen besonderen Bonus einzuräumen, finde ich
völlig richtig. Ich begrüße diese Entscheidung ausdrücklich. Ich habe die herzliche Bitte an das Management der
EXPO, nicht nur Jugendgruppen der Kirchen - das ist
sehr wichtig - und Jugendgruppen der Sportvereine, sondern - lassen Sie mich das ganz simpel sagen - zum Beispiel auch die Jugendfeuerwehr in diese Projekte einzubeziehen.
({6})
Wir brauchen gerade auch diejenigen, die vor Ort ihre
Pflicht tun. Wenn das gelingt, wäre es ein deutliches Signal.
Die Bundesregierung unternimmt in diesen Tagen
große Anstrengungen - wir alle bemühen uns darum -,
damit die EXPO ein Erfolg wird. Ich habe bei der Eröffnungsveranstaltung - obwohl Abgeordnete des ganzen
Hauses anwesend waren - niemanden getroffen - egal,
von welcher Fraktion -, der enttäuscht war und der nach
dem ersten Rundgang gesagt hat: Das ist keine Chance.
Im Gegenteil: Viele haben gesagt, die EXPO 2000 in Hannover bietet uns eine große Chance, die wir gemeinsam
nutzen wollen. Wir alle strengen uns an.
An dieser Stelle möchte ich den vielen tausend Helferinnen und Helfern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der EXPO für die Bewältigung der ersten Tage
danken. Sie haben damit gezeigt, dass sie sich mit Engagement in eine Aufgabe gekniet haben, die weiß Gott
nicht einfach ist.
({7})
Die TV-Anstalten in Deutschland erwägen zu prüfen
- das ist eine neue Anstrengung, auf die ich Sie hinweisen
möchte und die ich ausdrücklich unterstütze -, ob man
nicht im Rahmen einer konzertierten Aktion durch kostenlose Werbung für die EXPO ein besonderes Signal setzen kann.
({8})
Ich möchte das ausdrücklich unterstützen und begrüßen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass sich alle Anstalten,
private wie öffentlich-rechtliche, an dieser Aktion beteiligen.
({9})
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Schuchardt?
Selbstverständlich.
Ich dämme die Zahl
der Fragesteller etwas ein, weil noch so viel auf der Tagesordnung steht. Deswegen gehe ich etwas zügiger voran.
Ich bitte Sie, dies nicht als unfair anzusehen. Eigentlich
wollte ich schon jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Herr Staatssekretär, ich finde es ausgezeichnet, dass Sie Jugendfeuerwehren und ähnliche Jugendgruppen genannt haben.
Kann für den verbilligten Eintritt dieser Gruppen noch
eine Sonderfinanzierung vorgesehen werden? Wenn man
10 000 Jugendlichen, die während ihrer Ferien nicht in
den Urlaub fahren können, den Eintritt zur EXPO verbilligte, dann würde das hochgerechnet ungefähr 0,5 Millionen DM kosten. Dieser Betrag würde noch nicht einmal
1 Promille der genannten Defizite ausmachen. Hat das
Bonusprogramm für Jugendliche Priorität? Ich frage
das, weil Sie gerade von Jugendlichen als Werbeträgern
sprachen. Eine solche Aktion ließe sich doch mit einem
Wettbewerb um die beste Berichterstattung verbinden.
Frau Kollegin, wenn Sie gestatten, möchte ich Sie darauf hinweisen,
dass ich nie von Jugendlichen als Werbeträgern
gesprochen habe.
({0})
Das wäre mir einfach zu schlicht und zu marketingmäßig.
Aber Sie können davon ausgehen, dass wir uns in der Sache engagieren werden, damit das Bonusprogramm für
Jugendliche erfolgreich umgesetzt wird und damit auch
die Jugendfeuerwehren berücksichtigt werden. Ich
glaube, dass es gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts
ganz wichtig ist, mit jungen Leuten über Zukunft und Zukunftsprojekte zu reden.
Ich habe heute, als ich gemeinsam mit Prinz Edward einen Teil der Pavillons besucht habe, festgestellt, dass sehr
viele Jugendliche an der EXPO interessiert sind und dass
viele Jugendliche verschiedener Nationalität miteinander
diskutieren. Nach meiner Meinung bietet die EXPO eine
einmalige Chance für Begegnungen, die wir nutzen sollten. Deshalb begrüße ich die Initiative, einen Bonus für
Jugendliche einzuführen. Ich bitte nur darum, auch andere
Jugendgruppen in den Genuss dieses Bonus kommen zu
lassen. Wir können also aus dem Projekt EXPO etwas machen. Wir sollten das gemeinsam tun.
Ich möchte zum Schluss noch sagen, dass wir auch auf
das stolz sein können, was im deutschen Pavillon zu sehen ist.
({1})
Der deutsche Pavillon ist ein gelungenes Projekt. Wenn
man sich die Pre-Show mit den 50 Köpfen - von Beethoven bis Steffie Graf, von Adenauer bis Joseph Beuys -,
die Deutschland ausmachen, anschaut - das ist natürlich
immer eine Geschmacksfrage -, dann kann man zufrieden
sein.
({2})
- Nicht so parteipolitisch, sondern richtig kulturell.
Deutschland ist eine Kulturnation. Deshalb machen wir
das nicht so platt wie Sie. Ich glaube, dass Ihr Kollege neben Ihnen, der gleich das Wort hat, nicht so platt wie Sie
ist und Ihre Plattheit ausräumen wird.
Nach einer Umfrage, die unter den Besuchern des deutschen Pavillons durchgeführt worden ist, haben 73 Prozent den Pavillon als gut bis sehr gut bezeichnet. Von diesen - auch das hat man festgestellt; das ist ein großer Erfolg - haben 93 Prozent die Absicht, wiederzukommen.
Auf der EXPO wird das Bild vermittelt, dass Deutschland
eine Ideenwerkstatt ist, dass es nicht fertig ist und dass es
dabei ist, an sich zu arbeiten und ein Modell im Sinne eines Laboratoriums der Moderne zu entwickeln.
Wenn wir die EXPO 2000 als Laboratorium der Moderne verstehen, dann besteht die Chance, dass es nicht
nur eine Messe ist, sondern eine internationale Begegnung mit kulturellem Tiefgang. Das sollten wir gemeinsam nutzen. Wir sollten alles tun, damit es ein Erfolg wird.
Deshalb sollten wir bei dem, was jetzt ansteht, helfen.
Heute wurde mir berichtet, dass die Besucherzahl von
gestern bei weit über 100 000 lag. Auch bei meinem Besuch heute war die EXPO wirklich gut besucht.
Ich habe den Eindruck, dass wir nach Pfingsten eine
sehr positive Entwicklung bekommen werden und dass
wir vielleicht, so ähnlich wie in Lissabon, am Ende sogar
eine sehr positive Bilanz ziehen können. Dazu müssen wir
alle mithelfen. Ich glaube, dass wir das alle wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Zum Abschluss dieser
Aussprache erteile ich dem Kollegen Dr. Friedbert
Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem
Kollegen Staatssekretär Mosdorf für seine sachliche und
vorwärts orientierte Rede dankbar. In der Tat sollte es unser aller Ziel in diesem Hause sein, diese EXPO, die erste
Weltausstellung auf deutschem Boden, mit etwas weniger
Meckern, Zweifeln, Selbstkritik usw. zu begleiten; vielmehr sollten wir uns dahinter stellen und stolz sein; denn
nur das ist eine gute Werbung für die EXPO. Das
braucht sie wirklich und das hat sie auch verdient.
({0})
Die Art und Weise, wie sich der Kollege Lippelt von
den Grünen mit diesem Thema beschäftigt hat, spricht für
sich. Natürlich sagt auch er: Ich freue mich, wenn viele
kommen, und ich werbe auch. Aber im nächsten Satz zitiert er Herrn Kornblum, ob das eigentlich noch zeitgemäß
sei. Aus jedem zweiten oder dritten Satz sprach die Schadenfreude darüber, dass bisher zu wenig Besucher gekommen sind. Wenn wir an dieses Projekt so herangehen,
wie es die Grünen vom ersten Tag der EXPO an getan haben, dann können wir die Menschen für diese großartige
Weltausstellung in der Tat nicht begeistern.
({1})
Ich will die Sache überhaupt nicht schönreden. Natürlich war der Start nicht besonders gut und darüber sollten
wir nicht hinwegschauen. Die Eröffnungsveranstaltung
und die Gala waren langweilig und die Besucherzahlen
sind nicht besonders hoch. Ich bin zwei Tage auf dem
EXPO-Gelände gewesen. Kollegin Schuchardt, die eben
eine Zwischenfrage gestellt hat, ist sogar schon vier Tage
da gewesen und hat sich alles genau angeschaut. Dasselbe
gilt für viele andere von uns.
Ich finde, dass sich der Besuch auf der EXPO wirklich
gelohnt hat. Er ist jedem zu empfehlen, weil es eben nicht
nur einfach eine Industrieshow
({2})
oder eine verbesserte Messe ist, sondern weil sich die
EXPO sehr ernsthaft mit dem Thema „Mensch, Natur,
Technik im 21. Jahrhundert“ beschäftigt.
Wir sollten in der Tat vielen kleinen Nationen aus der
Dritten Welt danken, die dort ganz fabelhafte Beiträge
präsentieren. Zum Beispiel haben sich Indien und die Vertreter aus Afrika mit ihren Pavillons sehr viel Mühe gegeben und es macht Spaß, sich deren Angebote anzuschauen. Dort lernt man etwas. Deswegen sollten wir ein
bisschen weniger über die negativen Aspekte reden. Auch
in Sevilla und in Lissabon ist es schleppend losgegangen
und hinterher waren es große Besuchererfolge. Werfen
wir also die Flinte jetzt nicht ins Korn! Nehmen wir dieses Projekt vielmehr mit ganzer Kraft und auch mit der
Unterstützung, wie sie die Kollegen Brähmig und
Hinsken hier vorgetragen haben, an!
({3})
Ich fand es gut, dass Gerhard Schröder, unser Bundeskanzler
({4})
- ich habe und ich hätte ihn nicht gewählt; aber er ist nun
einmal der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland -,
den Stil gehabt hat, dem Vorgänger zu danken. Ich hätte
es gut gefunden, wenn Herr Gabriel, der niedersächsische
Ministerpräsident, den gleichen Stil gehabt hätte und zum
Beispiel Ernst Albrecht gedankt hätte.
({5})
Ich hätte es für richtig befunden, wenn man auf der Eröffnungsveranstaltung zum Beispiel den Vorgängern von
Frau Breuel, Herrn Heede und Herrn Diener, die es am
Anfang sehr schwer hatten, ein Wort des Dankes gesagt
hätte.
Als hannoverscher Abgeordneter - wir Politiker sollten
uns nicht immer nur selbst feiern - richte ich einen Dank
an alle Kollegen dieses Hauses, zum Beispiel an die aus
Bayern, aber auch an die aus Stade oder Osnabrück. Viele
Kollegen haben durch Bewilligungen von Geldern vor der
EXPO - für den Straßenausbau oder für den öffentlichen
Nahverkehr in Hannover - in ihren Wahlkreisen Opfer
bringen müssen. Sie haben ihre Umgehungsstraße nicht
bekommen, die ihnen eigentlich schon seit langem versprochen worden war. Ich finde, es gehört einfach dazu,
den Kollegen, auch denen aus dem Haushaltsausschuss,
die dafür ihren Kopf hingehalten haben, ganz herzlich
dafür zu danken, dass sie eine solche Mittelkonzentration auf Hannover und die Umgebung in den letzten Wochen, Monaten und Jahren ermöglicht haben. Ganz herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die gute
Zusammenarbeit.
({6})
Herr Kollege Mosdorf, Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie gerade aus dem britischen Pavillon kommen, wo Sie Prinz Edward begleitet haben. Ich hoffe, dass
die Staatsgäste aus anderen Ländern ähnlich angemessen
betreut werden.
({7})
Sie erlauben mir bitte auch die Frage, mit wem die
Bundesregierung den österreichischen Präsidenten,
Herrn Klestil, auf das EXPO-Gelände zu schicken gedenkt. Wird Herr Klestil, der demokratisch gewählte Präsident, dort vernünftig betreut werden, vernünftig wahrgenommen werden? Wir, die Unionsfraktion, hätten
jedenfalls kein Verständnis dafür, dass Frau WieczorekZeul nach Kuba fährt, um dort die Entwicklungshilfe wieder aufzunehmen bzw. zu verstärken, während gleichzeitig der demokratisch gewählte Präsident von Österreich
auf der EXPO mit der Kneifzange angefasst wird.
({8})
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit!
Das ist kein
Popanz und das hat nichts mit tiefster Provinz zu tun, ganz
im Gegenteil.
({0})
Wenn man den Präsidenten eines demokratischen und befreundeten Landes nicht angemessen wahrnimmt, wäre
das ein Skandal, für den ich mich als Hannoveraner Abgeordneter schämen würde, Herr Kollege.
({1})
Ich habe hier angemahnt und gefragt, nichts weiter.
({2})
Wir sollten - unabhängig von Meinungsverschiedenheiten, die wir zum Beispiel über den Sinn oder Unsinn
von Sanktionen gegenüber Österreich haben - alle miteinander dieses großartige Ereignis EXPO nicht von solchen Sanktionen überschatten lassen. Wir sollten ein guter
Gastgeber für die ganze Welt sein. Das sollten wir alle
miteinander tun. Vielleicht gelingt es uns im Laufe der
nächsten Wochen und Monate, auch noch die Grünen von
dem hervorragenden Projekt und davon zu überzeugen,
dass es wirklich einen Beitrag zum Zusammenleben von
Mensch, Natur und Technik leistet, Herr Kollege Lippelt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3374 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt bitte ich vor allem die Geschäftsführer um Aufmerksamkeit. Ich rufe jetzt nämlich Tagesordnungspunkt
8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Lilo Friedrich
({1}), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Cem Özdemir,
Marieluise Beck ({3}), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Migrationsbericht
- Drucksachen 14/1550, 14/2389 Berichterstattung:
Abgeordnete Lilo Friedrich ({4})
Dr. Hans-Peter Uhl
Marieluise Beck ({5})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Die vereinbarte Debatte muss nicht stattfinden, weil
alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.*) Das
nehme ich einmal so zur Kenntnis.
Damit komme ich gleich zur Beschlussempfehlung zu
dem Antrag der Fraktionen von SPD und des Bündnis 90/
Die Grünen zum Migrationsbericht, Drucksache 14/2389.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1550 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer folgt
dieser Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Das
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenom-
men.
*) Anlage 7
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie
Zusatzpunkt 6 auf:
9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({6}), Ernst Burgbacher,
Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen
- Drucksache 14/3106 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulla
Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Pau, Dr. Roland
Claus und der Fraktion der PDS eingebrachten
Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes
({8})
- Drucksache 14/3309 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Innenausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt
({10}), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Cem
Özdemir, Marieluise Beck ({11}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich-
keit, Antisemitismus und Gewalt
- Drucksache 14/3516 -
Auch hierzu sind alle Reden zu Protokoll gegeben wor-
den.*) Damit findet eine Aussprache nicht statt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3106, 14/3309 und 14/3516 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 10 wurde abgesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Lamers, Christian Schmidt ({12}), Dr. Andreas
Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für eine gemeinsame europäische Position in
der Frage der Raketenabwehr ({13})
- Drucksache 14/3378 -
Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben wor-
den, sodass eine Aussprache nicht stattfindet.**)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.- Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Becker-Inglau, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({14}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf - Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5
- Drucksache 14/3515 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Weiß ({15}), Klaus-Jürgen Hedrich,
Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Genf ({16})
- Drucksache 14/3504 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dagegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Zu diesem Punkt liegen tatsächlich wieder Wortmeldungen vor. Insofern kann ich die Aussprache eröffnen.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Becker-Inglau, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Jahre ist es her,
dass der Weltsozialgipfel der Vereinten Nationen in Kopenhagen tagte. Der Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung wurde höchste Priorität
eingeräumt. Von allen Beteiligten wurde formuliert, dass
eine Liberalisierung von Wirtschaftspolitik und Welthandel allein nicht die Probleme von Armut und Ungleichheit
in der Welt lösen kann. In Kopenhagen verabschiedeten
weit über 100 Staats- und Regierungschefs gemeinsam
eine Erklärung mit zehn Verpflichtungen sowie ein darauf
aufbauendes Aktionsprogramm. Die zentrale Aussage des
Gipfels lautete: Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeutung wie Wirtschaftsentwicklung.
({0})
Soziale Gerechtigkeit und die Achtung aller Men-
schenrechte sind Voraussetzungen für Frieden und Si-
cherheit innerhalb eines Staates und zwischen Staaten.
Der UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellt hierzu in sei-
nem Bericht über die Umsetzung der Beschlüsse von Ko-
penhagen fest, dass man der sozialen Entwicklung eine
Vizepräsidentin Anke Fuchs
*) Anlage 8
**) Anlage 9
sehr viel höhere Priorität einräumt. Dies ist der wichtigste
Wechsel, der seit dem Gipfel in Kopenhagen stattgefunden hat. Verstärkte Aufmerksamkeit für die sozialen Dimensionen der Wirtschaftspolitik und eine größere Offenheit und öffentliche Debatte weltweit in den Industrieländern und in den Entwicklungsländern kennzeichnen die
Zeit nach dem Gipfel in Kopenhagen.
Kopenhagen + 5 Ende Juni in Genf wird die bisherige
Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels überprüfen und darauf aufbauende Maßnahmen und Initiativen beschließen. In vielen Bereichen gibt es bereits
jetzt Ansätze, die positiv zu nennen sind. Dennoch dürfen
wir die Augen nicht davor verschließen, dass sich die
Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern vergrößert hat, ebenso die Kluft zwischen Industrieländern
und Entwicklungsländern.
({1})
Deutliche Merkmale dafür sind Unausgewogenheit
beim Einkommen, beim Zugang zu sozialen Leistungen
sowie bei der Beteiligung an öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen.
({2})
Zu den positiven Veränderungen zählt ein verstärktes
Bekenntnis zu sozialer Entwicklung als übergeordnetes
Ziel von Regierungspolitik. Konkret bedeutet das, dass
heute immerhin 75 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in
Ländern mit einer Einschulungsrate von 70 Prozent und
mehr leben. Gleichzeitig gibt es aber immer noch etwa
130 Millionen Kinder, zum größten Teil in SubsaharaAfrika, die keine Schule besuchen. Das ist für die Entwicklung dieser Länder eine Katastrophe.
({3})
Die Analphabetenrate ist in der Welt seit 1990 von
25 Prozent auf 20 Prozent gefallen, aber fast alle der etwa
900 Millionen Analphabeten leben in Entwicklungsländern, zwei Drittel davon sind Frauen.
({4})
Hier liegt eines der Felder mit enormem Handlungsbedarf, denn wir alle stimmen wohl mit der Weltbank in der
Einschätzung überein, dass Investitionen in die Ausbildung von Frauen und Mädchen die wichtigsten Investitionen in die Zukunft überhaupt sind.
({5})
Es besteht heute ein Konsens zwischen Politikern in
Subsahara-Afrika und den Entwicklungspartnern, dass
Entwicklungsanstrengungen insbesondere auf die Armutsreduzierung ausgerichtet sein müssen. 42 Prozent
aller Menschen in Subsahara-Afrika, das heißt etwa
300 Millionen Menschen, leben von weniger als 1 USDollar pro Tag. Die relative Armut mag gesunken sein,
doch die absolute Zahl der Armen ist weltweit gestiegen.
Lokale und regionale Konflikte - ich erinnere an
Äthiopien und Eritrea - haben ebenso wie Naturkatastrophen, siehe Mosambik oder Nicaragua, Rückschritte bei
der sozialen Integration hervorgerufen, Seuchen wie Aids
raffen zum Beispiel in Uganda eine ganze Generation hinweg. Das Ausmaß dieser Katastrophe für die Zukunft, für
die Entwicklung eines solchen Landes ist, glaube ich, in
seiner gesamten Dimension noch gar nicht erfasst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen also, dass
trotz der beachtenswerten Fortschritte noch immer ein ungeheurer Handlungsbedarf besteht, wenn wir die Zahl der
Armen bis zum Jahre 2015 halbieren und unsere Welt sozial gerechter gestalten wollen.
Unserer Bundesregierung danke ich an dieser Stelle
dafür, dass sie einige wesentliche Initiativen zur Umsetzung der Kopenhagener Beschlüsse ergriffen hat.
({6})
Ich möchte auf den internationalen Teil der Kopenhagener Verpflichtungen eingehen, der nur mit entwicklungspolitischen Strategien zu verwirklichen ist. Es war
daher konsequent, dass das BMZ die Federführung innerhalb der Bundesregierung übernommen hat. Unserer Ministerin danke ich für den Einsatz, den sie auch in dieser
Sache gezeigt hat.
Ich möchte beispielhaft drei Aspekte herausstellen, die
deutlich machen, dass es ein internationales und insbesondere ein entwicklungspolitisches Problem ist. Da ist
zum einen die 20 : 20-Initiative zu nennen. Dazu muss
man einfach sagen: Wenn wir Herrn Blüm damals nicht
gehabt hätten, hätte diese 20 : 20-Initiative auf dem Weltsozialgipfel nicht diese Bedeutung erlangt, wie dies jetzt
geschehen ist.
({7})
Zum anderen sind die HIPC-Initiative und die Förderung der Zivilgesellschaft zu nennen.
Die 20:20-Initiative gehört zu den konkreten und
schon deshalb oft zitierten Beschlüssen im Aktionsprogramm von Kopenhagen. Sie fordert Industrie- und Entwicklungsländern Vereinbarungen ab, durchschnittlich jeweils 20 Prozent der Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit und 20 Prozent des Staatshaushaltes für
soziale Grunddienste zur Verfügung zu stellen. Damit sollen wesentliche Bedürfnisse der Armen, die zur Überlebenssicherung notwendig sind, abgedeckt werden.
Bisher wurden mit etwa 20 Ländern, zum Beispiel mit
Bolivien, Peru, Côte d‘ Ivoire und Burkina Faso, Vereinbarungen über die Umsetzung dieser Initiative getroffen.
Der Anteil für soziale Grunddienste, bezogen auf diese
Länder, beträgt unsererseits circa 25 Prozent. Die 20 Prozent sind also kein absoluter Fixpunkt, sondern die Initiative soll ein Grundverständnis und eine Grundrichtung
zum Ausdruck bringen, sie muss fortgeführt und fortentwickelt werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung
auch dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass diese Initiative
Teil der entwicklungspolitischen Gesamtstrategie der EUKommission wird.
({8})
Bei der angestrebten Verkoppelung von Entschuldung
und Armutsbekämpfung in den HIPC-Ländern muss der
Förderung sozialer Grunddienste gemäß dem 20 : 20-Ansatz ein unverzichtbarer Stellenwert eingeräumt werden.
Für die soziale Entwicklung ist die Schaffung positiver
Rahmenbedingungen eine Notwendigkeit. Die HIPCInitiative ist hierbei ein entscheidender Schritt. In vielen
der ärmsten Länder verhindert die drückende Schuldenlast jegliche Entwicklung. So muss zum Beispiel Tansania neunmal so viel für den Schuldendienst aufwenden,
wie es für die Basisgesundheitsversorgung im Land zur
Verfügung hat. Entschuldung bleibt also eines der wichtigsten Ziele unserer Entwicklungspolitik.
({9})
Es ist nun unserer Bundesregierung gelungen, die
HIPC-Initiative zur Entschuldung der ärmsten Länder
entscheidend zu erweitern und voranzubringen. Vereinbarungsgemäß sollen die durch die Schuldenerleichterung
frei werdenden Mittel für armutsmindernde Maßnahmen
eingesetzt werden. Dazu sollen die Entwicklungsländer
unter Beteiligung ihrer Zivilgesellschaft Strategiepapiere
zur Armutsreduzierung ausarbeiten. Auch dies ist eine
fundamentale Änderung gegenüber der bisherigen Praxis,
nach der sich die Strukturanpassungsprogramme ausschließlich an makroökonomischen Gesichtspunkten orientierten, ohne die sozialen Auswirkungen der Programme
zu berücksichtigen.
Umfassende Entschuldungspakete sind bereits für
Uganda, Mosambik, Bolivien, Mauretanien und Tansania
beschlossen. Es ist damit zu rechnen, dass die Länder
nach der Entschuldung im Durchschnitt nur noch weniger
als 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Schuldendienst aufwenden müssen. Dies ist eine echte Verbesserung der Rahmenbedingungen. Dieser Weg muss fortgesetzt werden.
Nun zu meinem letzten Punkt. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft kann nicht häufig genug betont werden.
Zu der guten Zusammenarbeit mit den deutschen Nichtregierungsorganisationen brauche ich keine Ausführungen zu machen. Die Zusammenarbeit ist sinnvoll, notwendig und Teil unserer Entwicklungspolitik.
Aber es geht in diesem Fall auch um die Stärkung der
Zivilgesellschaft in unseren Partnerländern. Hier wurde
im Rahmen der Entschuldungsinitiative ein wesentlicher
Fortschritt erzielt, denn Good Governance ist Bedingung
für die Entschuldung wie für die Umsetzung der im Lande
entwickelten Armutsstrategien. Dazu gehört die Beteiligung des Parlaments - auch der Opposition - und der Zivilgesellschaft, und das nicht nur als ein politisches
Credo, sondern als Voraussetzung für die politische
Durchsetzbarkeit der Armutsbekämpfung.
So ist es besonders wichtig, dass das BMZ diesem
Aspekt in bilateralen Verhandlungen besondere Aufmerksamkeit schenkt und weitere Finanzmittel bereitstellt.
Dieser Aspekt wurde bei unserer gestrigen Ausschussanhörung noch einmal deutlich herausgestellt. In Genf
sollte darauf geachtet werden, dass in allen neu zu beschließenden Initiativen die Rolle der Zivilgesellschaft
und des Privatsektors sowie die zwingende Notwendigkeit der Förderung von Frauen und Mädchen hervorgehoben werden. Generell muss gelten, dass im Rahmen der
HIPC-Initiative frei werdende Mittel teilweise zur Unterstützung der Zivilgesellschaft eingesetzt werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Der Sinn dieser Weltkonferenzen wie der in Rio, Kairo, Peking und Kopenhagen sowie ihrer Überprüfung liegt darin, die Regierungen und die Nichtregierungsorganisationen für diese Themen in unserem Dorf „Welt“ zu sensibilisieren, sie für
eine gerechtere Welt zu mobilisieren und vor Augen zu
führen, dass heute niemand mehr alleine und unbeobachtet agieren kann. Unser vorliegender Antrag ist eine Hilfe
auf diesem Weg. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({0})
Für die
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Weltsozialgipfel
vor fünf Jahren in Kopenhagen haben sich die Staats- und
Regierungschefs auf gemeinsame Zielsetzungen zur
Bekämpfung der Armut, zur marktgerechten Förderung
der produktiven Beschäftigung, zur sozialen Integration
benachteiligter Gruppen sowie zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme auf solidarischer Grundlage geeinigt.
Fünf Jahre später soll jetzt in Genf bei einer Sondergeneralversammlung Bilanz gezogen werden.
Die gemeinsamen Anstrengungen zur Bekämpfung
der Armut weltweit, was in Kopenhagen zentrales
Thema war, sind fünf Jahre später gleichermaßen notwendig. Bei allem Hin und Her sozial- und entwicklungspolitischer Debatten und trotz aller interessanten
Diskussionen über angeblich neue Ansätze oder Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit gibt es für mich
keinen Zweifel, dass es auch für die Zukunft richtig ist,
unsere Politik prioritär am Ziel der Armutsbekämpfung
auszurichten.
({0})
Deshalb fordere ich von der Sondergeneralversammlung in Genf, dass das von der OECD ausgegebene Ziel,
die weltweite Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren,
übernommen, bekräftigt und seine Umsetzung angegangen wird.
({1})
Das heißt, dass auch die entsprechenden Instrumentarien
und finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es bedeutet nicht weniger Entwicklungszusammenarbeit, wie das derzeit leider von Rot-Grün praktiziert
wird, sondern mehr Entwicklungszusammenarbeit.
So wichtig die Entschuldung ist und so sehr die Entschuldungsinitiative zu begrüßen ist: Die Entschuldungsinitiative darf nicht zu einer großen Entschuldigungsinitiative werden. Es ist wahr: Entschuldung ist notwendig. Die freigesetzten Mittel sollen für eigene Anstrengungen der Länder zur Armutsbekämpfung eingesetzt
werden. In den nächsten Jahren muss sich erst erweisen,
ob diese Kondition der Entschuldung erfüllt wird. Aber
Entschuldung ist kein Ersatz für Entwicklungszusammenarbeit. Es bleibt ein Fakt, dass Bundeskanzler
Gerhard Schröder sein beim Genfer Gipfel gegebenes
Versprechen, die Entschuldungspolitik gleichzeitig durch
eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit zu ergänzen, gebrochen hat. Durch das Streichkonzert der rotgrünen Bundesregierung wird den Entwicklungsländern
in den nächsten Jahren letztlich mehr genommen, als ihnen durch die Entschuldung gegeben wird. Das ist ein
trauriger Fakt.
({2})
Eines der konkretesten Ergebnisse des Weltsozialgipfels vor fünf Jahren - Frau Becker-Inglau hat es vorgetragen - war die auf maßgebliches deutsches Drängen zustande gekommene 20:20-Initiative.
({3})
Wie notwendig es ist, diese Initiative umzusetzen, zeigt,
dass Länder wie zum Beispiel das von Ihnen erwähnte
Tansania noch heute 16 Prozent des Staatshaushaltes für
Verteidigung und 14 Prozent für Gesundheit und Bildung
zusammen ausgibt. In Uganda sind es 26 Prozent für Verteidigung und 17 Prozent für Gesundheit und Bildung, in
Mosambik 35 bzw. 15 Prozent und in Indien 15 bzw.
4 Prozent. In den Ländern des Nordens ist die 20:20Initiative ebenfalls nur unzulänglich umgesetzt worden.
Nun stimmt es in der Tat, dass wir Deutschen bei den
Ländern, mit denen Deutschland eine konkrete Vereinbarung getroffen hat, die 20:20-Initiative umsetzen.
Aber insgesamt stellt Deutschland nicht 20 Prozent seines
Entwicklungshilfeetats für soziale Grunddienste zur
Verfügung. Es ist wesentlich weniger. Als besonders krass
fällt der Absturz zwischen den Haushaltsjahren 1999 und
2000 auf. Im Bereich der Grundbildung ist ein Rückgang
von 115 Millionen DM in 1999 auf nur noch 53 Millionen DM in 2000 und im Gesundheitssektor von 235 Millionen DM in 1999 auf nur noch 127 Millionen DM in
2000 zu verzeichnen. Ich finde, durch ihr schlechtes Beispiel liefert die Bundesregierung ihrerseits den Entwicklungsländern einen Vorwand, die Verpflichtungen aus
dem Kopenhagener Weltsozialgipfel ebenfalls nicht einzuhalten.
({4})
Ihren Sinn kann die 20:20- Initiative übrigens nur dann
erfüllen, wenn die Mittel für die öffentliche Entwicklungshilfe erhöht und nicht gesenkt werden. Leider geht
da auch von Deutschland keine Trendwende aus. Im Rahmen der Haushaltsplanung der rot-grünen Koalition - das
ist bereits vollzogen - wurde im Jahre 2000 nicht nur der
Entwicklungshilfeetat im Vergleich zu 1999 um 8,7 Prozent abgesenkt. Vielmehr ist auch vorgesehen, dass der
Anteil der Entwicklungshilfe am Gesamthaushalt von
1,6 Prozent in 1999 auf einen Anteil von nur noch 1,3 Prozent im Jahre 2003 abstürzen soll. Deswegen steht die
Bundesregierung in Genf im Hinblick auf diese hervorragende, auf deutsche Initiative hin beschlossene 20:20Initiative mit leeren Händen da.
Ich kenne das von Ihnen vorgetragene Gegenargument:
die Haushaltssituation. Aber ich bin der Auffassung:
Wenn der Bund in den nächsten Jahren durch Privatisierungen und durch Lizenzvergaben einmalige Einnahmen
in unwahrscheinlich hohem Ausmaß erwirtschaftet - ich
unterstütze, dass man das nicht für laufende Ausgaben
ausgibt -, dann könnte man diese Mittel teilweise in eine
Stiftung einbringen, durch die wir auf Dauer die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit und der Maßnahmen zur Armutsbekämpfung verstetigen und gewährleisten.
Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel ist
nicht nur eine Veranstaltung der Staats- und Regierungschefs. Er wurde und wird von einem breiten Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure mitbegleitet, von den
Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen, den Stiftungen, den Frauenorganisationen, den Gewerkschaften sowie den Arbeitgeber- und
Unternehmerverbänden.
Es ist übrigens bezeichnend für das in vielen Staaten
der Welt vorherrschende schlechte Gewissen, dass im
Vorfeld des Genfer Gipfels die Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen höchst umstritten war und dass
einige Regierungen ihren Vertretern kein Rederecht einräumen bzw. die Teilnahme kontingentieren und reglementieren wollten. Von daher finde ich es schade, dass
fünf Jahre nach dem Weltsozialgipfel in vielen Bereichen,
zum Beispiel auch bei der Frauenthematik, wieder die
gleichen Diskussionen geführt werden müssen wie vor
fünf Jahren. Offensichtlich haben sich in vielen Ländern
der Welt auch hinsichtlich der Mentalität keine Fortschritte ergeben.
In der Tat ist die Beteiligung von Mitgliedern der Zivilgesellschaft ein wichtiges Element für eine nachhaltige
Entwicklung. Frau Kollegin Becker-Inglau hat bereits die
gestrige Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung erwähnt, die dies deutlich unterstrichen hat.
Peter Weiß ({5})
Nichtregierungsorganisationen sind Träger und Initiatoren einer Vielzahl von Initiativen und Diensten aktiver
Armutsbekämpfung und des Aufbaus sozialer Grunddienste. Sie fungieren aber auch als wichtige Instrumente der öffentlichen Kontrolle des Regierungshandelns
sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den Industrienationen.
({6})
Gerade die Kirchen und die Nichtregierungsorganisationen mit ihren ausgeprägten und gut funktionierenden
Partnerstrukturen nehmen eine wichtige Rolle wahr. Deswegen ist deren Beteiligung am Weltsozialgipfel und an
der weiteren Verwirklichung der Initiativen eine wichtige
Voraussetzung für deren Erfolg.
({7})
Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel vor
fünf Jahren war für viele Menschen ein Zeichen der Hoffnung, dass die soziale Entwicklung zu einer zentralen
Zielsetzung und Aufgabenstellung der internationalen
Staatengemeinschaft wird. Die Zwischenbilanz fünf Jahre
später fällt unterschiedlich aus. Umso mehr sollten wir
uns für die Konferenz in Genf vornehmen, der sozialen
Entwicklung und der weltweiten Armutsbekämpfung eine
neue Dynamik zu verleihen.
Vielen Dank.
({8})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uschi Eid vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr
Präsident, ich möchte gern auf einige Punkte eingehen,
die von Herrn Kollegen Weiß angesprochen worden sind.
Erstens. Er fordert, dass sich die Staatengemeinschaft
jetzt darauf einigt, die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Ich
möchte dem Haus mitteilen, dass man sich schon bei der
Vorbereitung in New York auf dieses Ziel geeinigt hat.
Dies ist also auf dem besten Weg.
Zweitens. Ich möchte der Behauptung entgegentreten,
dass die 20:20-Initiative das Hauptziel des Sozialgipfels
von Kopenhagen war. Die 20:20-Initiative ist nur eine
Maßnahme von vielen, die gerade aber auch von deutschen Nichtregierungsorganisationen als Schwerpunkt
aufgegriffen worden ist. Wir sehen andere Initiativen zur
Armutsbekämpfung, wie zum Beispiel die HIPC-Entschuldung, als eine ähnlich wichtige Aufgabe an. Diese
haben wir im Juni letzten Jahres auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln auf einen guten Weg gebracht.
Drittens. Der Haushaltsetat sinkt; das ist richtig; das
bedauern wir alle. Aber - das sollte der Kollege Weiß eigentlich wissen - unter der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung
ist der Einzelplan 23, also der Etat für Entwicklungszusammenarbeit, ständig gesunken, während die öffentlichen Ausgaben jener Regierung für andere Bereiche
gestiegen sind.
({0})
Das ist der Kernunterschied zu der jetzigen Regierung: Jedes Kabinettsmitglied unserer Regierung, jedes Ministerium hat dazu beigetragen, die Ausgaben zu senken, um
diesen Haushalt, den Sie zerrüttet hinterlassen haben, zu
konsolidieren.
({1})
Ich bitte Sie, dies hier endlich einmal zur Kenntnis zu
nehmen.
({2})
Vierter und letzter Punkt: Die Nichtregierungsorganisationen spielen in der Tat - da gebe ich Ihnen Recht eine sehr wichtige Rolle. Wir haben das gestern wieder
gemeinsam in der AWZ-Anhörung gesehen. Herr Weiß,
ich möchte Sie doch einmal bitten: Nehmen Sie endlich
zur Kenntnis, dass für die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen 35 Millionen DM zur Verfügung stehen und
dass es gerade auch die Fach- und Haushaltspolitiker des
Deutschen Bundestages waren, die dazu beigetragen haben, dass der Etat so ausgefallen ist. Ich glaube, dies ist
ein deutliches Zeichen dafür, dass es hier im Bundestag
eine Gemeinsamkeit in der Frage der Unterstützung von
Nichtregierungsorganisationen gibt.
({3})
Herr Kollege Weiß, möchten Sie darauf reagieren? - Bitte schön.
Frau
Staatssekretärin Dr. Eid, dass wir uns in der Zielsetzung
einig sind, bis zum Jahr 2015 das ehrgeizige Ziel der Halbierung der Anzahl der Menschen, die in extremer Armut
leben, zu erreichen, ist erfreulich und wird von mir nicht
in Frage gestellt. Aber die entscheidende Frage ist doch:
Stellen wir auch die Instrumentarien und Mittel zur Verfügung, um dieses Ziel zu erreichen?
({0})
Unter den Instrumentarien und Mitteln war und ist die
20:20-Initiative,
({1})
nämlich dass unsererseits 20 Prozent der Entwicklungshilfe für soziale Grunddienste zur Verfügung gestellt werden und dass andererseits die Entwicklungsländer 20 Prozent ihres Haushalts für soziale Grunddienste zur Verfügung stellen, ein sehr konkretes und effektives Mittel.
Deswegen ist es schade, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland dieses Ziel nicht erreichen, sondern darunter
bleiben. Deswegen fordern wir, denke ich, zu Recht, dass
das Ziel der 20:20-Initiative nicht nur für die Länder, mit
Peter Weiß ({2})
denen wir es konkret vereinbart haben, sondern generell
zum Ziel der Haushaltspolitik wird.
Verehrte Frau Kollegin Eid, dies kann eben nicht durch
die Entschuldungsinitiative ersetzt werden. Die Entschuldungsinitiative ist notwendig und richtig.
({3})
Sie ersetzt aber nicht - dies haben Sie ja im Dokument des
Kölner Gipfels erklärt - die Notwendigkeit, die Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen.
Nun haben Sie Recht - das gebe ich gerne zu -, wenn
Sie sagen, dass der Entwicklungshilfeetat, was seinen
Anteil am Bundeshaushalt anbelangt, in den letzten Jahren in Zickzackbewegungen abgesunken ist. Aber, sehr
verehrte Frau Kollegin Eid, das Argument der ständigen
Debatten, das immer gebracht wird, ist doch kein Argument, um nun seitens der rot-grünen Koalition den Entwicklungshilfeetat auf einen historischen Tiefstand sondergleichen herunterzuführen. Dafür ist dies wahrhaftig
kein Argument.
({4})
Es ist auch kein Argument dafür, dann, wenn man den
Bundeshaushalt um 1,6 Prozent abschmilzt, den Entwicklungshilfeetat um 8,7 Prozent abzuschmelzen. Es ist auch
kein Argument dafür, dass Sie nach Ihrer mittelfristigen
Finanzplanung die Mittel des Bundeshaushaltes in den
nächsten Jahren wieder erhöhen wollen, aber den Haushalt des Entwicklungshilfeministeriums weiterhin tief
nach unten sinken lassen.
Deswegen behaupte ich: Diese rot-grüne Koalition
steht in Kopenhagen mit leeren Händen da. Das, was Sie
als Gegenargumente vortragen, ersetzt bei weitem nicht
das, was Sie als Schaden für die Entwicklungszusammenarbeit und die internationale Glaubwürdigkeit
Deutschlands anrichten.
({5})
Für
das Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Dr. Angelika Köster-Loßack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Genf findet die Folgekonferenz zum Kopenhagener Weltsozialgipfel statt.
Dabei geht es um eine Zwischenbilanz des weltweiten
Kampfes gegen Armut, Erwerbslosigkeit und insbesondere auch gegen soziale Ausgrenzung, der von den vorigen Rednern beschrieben worden ist.
Zu den nationalen Verpflichtungen möchte ich sagen,
dass die neue Regierung erste Reformen zu einer spürbaren Senkung der Erwerbslosigkeit bei uns gestartet hat.
Die Steuerreform stärkt die Binnennachfrage und entlastet die Unternehmen. Die Konjunktur springt an und die
Erwerbslosenzahlen gehen zurück. Das Programm gegen
Jugendarbeitslosigkeit gibt mehr Jugendlichen Hoffnung
auf eine berufliche Zukunft. Nach langen, verlorenen Jahren wird der Reformstau bei uns endlich aufgelöst.
({0})
Auch ein Armutsbericht, der jahrelang vergeblich bei
der alten Regierung angemahnt wurde, wird im Jahre
2001 erstellt.
Damit wird Deutschland seine Verpflichtungen endlich
erfüllen, die es in Kopenhagen eingegangen ist.
Kommen wir nun zur internationalen Situation: Da
sieht es leider nicht so positiv aus. Einerseits gab es zwar
durchaus Verbesserungen für die soziale Lage vieler Menschen, beispielsweise eine Erhöhung der Lebenserwartung und auch bessere Ausbildungsbedingungen. Die
Zahl der Erwachsenen, die lesen und schreiben können,
hat sich seit 1970 weltweit mehr als verdoppelt. Auf der
anderen Seite ist die internationale Staatengemeinschaft
noch sehr weit von ihrem angestrebten Ziel entfernt, die
extreme Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren.
Armut, Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung haben viele Ursachen - bei uns, aber auch in den Ländern
des Südens. Die Verantwortung liegt natürlich in erster Linie bei den Staaten selbst, Verbesserungen in ihrem Land
umzusetzen. Wenn wir ein Instrument wie Public Private
Partnership bei uns entwickeln, stünde es vielen Ländern
im Süden ebenfalls gut an, dieses Instrument in ihrem eigenen Kontext ebenfalls zu entwickeln. Es reicht nicht
aus, dass nur die Länder des Nordens die Wirtschaft und
auch private Institutionen und Geldgeber als wichtigen
Faktor einbeziehen; vielmehr müssen sich auch die Reichen und die großen Industrien im Süden daran beteiligen.
({1})
Darauf haben wir natürlich nur begrenzten Einfluss.
Wir können aber durch den Politikdialog Verbesserungen
befördern, indem wir immer wieder die Beachtung elementarer menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Standards zur Grundlage nicht nur unserer Entwicklungspolitik, sondern auch unserer Außen- und nicht zuletzt unserer Außenwirtschaftspolitik machen. Dazu muss hier
natürlich noch einiges an den Instrumentarien geändert
werden; ich nenne insbesondere die Reform der HermesBürgschaften.
({2})
Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit haben
wir einige Schritte getan, so beispielsweise in den Verhandlungen um das Lomé-Folgeabkommen mit der Verankerung von Good Governance. Das bezieht sich nicht
nur auf die Länder des Südens, sondern auch auf unsere
eigenen Länder im Norden.
Auch die jetzt vorgelegte Länderliste macht deutlich,
dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in
Zukunft auf die Länder konzentrieren wird, in denen Reformen intern schon am Laufen sind und eine Zusammenarbeit zur Armutsbekämpfung, zum Umweltschutz
und zum Aufbau von Bildungseinrichtungen sinnvoll ist.
Da, wo Regierungen im Süden überhaupt nicht zur Kooperation bereit sind, also keine Ownership für diese Entwicklungen übernehmen, können wir uns nämlich noch so
abstrampeln; trotzdem wird dort nichts passieren.
Peter Weiß ({3})
Das Gießkannenprinzip, nach dem die alte Regierung
verfahren ist, wird jetzt durch eine durchdachte Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit ersetzt. Um
nachhaltige Lösungen für die Probleme der Länder des
Südens voranzutreiben, ist eine grundlegende Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nötig.
Im Verständnis von Entwicklungspolitik als internationaler Strukturpolitik ist es deshalb besonders vordringlich,
bei uns die Kohärenz zwischen den Ressorts zu verbessern. Gleichzeitig muss auch intensiv auf eine demokratische Öffnung der internationalen Finanzinstitutionen und
auf Transparenz bei der WTO hingearbeitet werden.
({4})
Bei der erfolgreichen Entschuldungsinitiative wird
klar, dass die rot-grüne Bundesregierung längst überfällige Lösungen für entscheidende Probleme der Entwicklungsländer vorantreibt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass mit der Entwicklung der neuen Armutsbekämpfungsstrategien von IWF und Weltbank sichergestellt werden soll, dass zum einen das eingesparte
Geld tatsächlich den Systemen der sozialen Grundsicherung zugute kommt. Zum anderen aber muss auch die Zivilgesellschaft grundsätzlich in diesen Prozess einbezogen werden, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in
den Ländern des Südens. In einem klaren Politikdialog
muss hier noch sehr viel erreicht werden. Ich verweise
auch auf die interessanten Ergebnisse unserer Anhörung
von gestern.
Das zentrale Ergebnis von Kopenhagen war, dass der
sozialen Entwicklung die gleiche Bedeutung wie der wirtschaftlichen Entwicklung zukommt. Das heißt auch, dass
man diese beiden Formen von Entwicklung nicht voneinander trennen kann. Wenn Statistiken über Durchschnittseinkommen auch in so genannten Schwellenländern angeführt werden, muss man wissen, dass diese Statistiken natürlich nur den offiziellen Markt betreffen und
den gesamten informellen Sektor außen vor lassen.
Selbstverständlich müssen wir die Entwicklungsländer
bei einer Politik unterstützen, die wirtschaftliches Wachstum ermöglicht, allerdings ohne dass die Ausbeutung der
ökologischen Grundlagen fortgeführt wird. Die internationale Umweltpolitik hat deswegen einen besonderen
Stellenwert im neuen Zusammenwirken von Außen-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik erhalten.
Grundlage für alle sozialen Entwicklungen und Verbesserungen ist aber die Sicherung des Friedens. Hier hat
Rot-Grün erste Maßnahmen für eine zivile Krisenprävention auch im Bereich Nord-Süd umgesetzt.
Auch die Waffenexportrichtlinien wurden reformiert,
sodass in Zukunft der Export von Waffen in Spannungsgebiete ausgeschlossen werden soll. Wir sehen in Regionen wie dem südlichen Afrika, dass das für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung ganz entscheidend sein
wird.
Das heißt in diesem Zusammenhang natürlich, dass
wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel vollzogen haben, die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit
nach einer dringend benötigten Haushaltskonsolidierung
wieder spürbar anheben müssen. Denn wer die zentralen
weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich
verändern will, braucht dafür Geld.
Ich begrüße ausdrücklich die intensive Einbeziehung
der Zivilgesellschaft in den Vorbereitungsprozess für den
Genfer Gipfel. Diese Erfahrungen dürfen nicht vernachlässigt werden. Ich möchte daher noch einmal auf die Ausführungen des Kollegen Weiß zurückkommen und sagen,
dass die Bundesregierung in Verhandlungen mit einigen
Staaten schon entsprechende Vereinbarungen zur 20:20Initiative getroffen hat. Wir sind in diesen Fällen bei
24 Prozent.
Auf den Weltgipfeln der Vereinten Nationen, insbesondere auf dem Weltsozialgipfel, wird ein Bewusstsein
dafür geschaffen, dass die zentralen Probleme der
Menschheit wie Armut, Ungleichheit, Hunger und Umweltgefährdungen nur gemeinsam gelöst werden können
und dass das Umdenken durch den Politikdialog ständig
befördert werden muss. Das heißt aber auch, dass die Industrieländer nicht nur eine Verpflichtung haben, mit den
ärmeren Ländern bei der Lösung ihrer Probleme zu diskutieren, sondern auch partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Die Industrieländer müssen bei sich selbst
anfangen und ihre Produktions- und Lebensweise verändern, wenn die globalen Probleme gelöst werden sollen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die
F.D.P. hat nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen Kopenhagen + 5, die
Ende Juni in Genf stattfinden wird, wird eine erste Zwischenbilanz über die Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels von Kopenhagen ziehen. Fünf Jahre ist er
jetzt her und viele Regierungen haben eine Menge an Anstrengungen unternommen. Es hat Fortschritte und Rückschläge in der Dritten Welt gegeben, aber die Ziele, die in
Kopenhagen beschlossen worden sind, bleiben nach wie
vor auch aus liberaler Sicht gültig.
({0})
Erstens. Die Globalisierung bringt neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit. Die Beispiele einiger Schwellenländer belegen, dass es das vornehmste Ziel sein muss, aus der
Abhängigkeit von Entwicklungshilfe herauszukommen
({1})
und damit sicherzustellen, dass Entwicklungshilfe nicht
zur Weltsozialhilfe wird. Spätestens seit dem Weltgipfel
für soziale Entwicklung ist dies ein anerkanntes Ziel, das
aber auch in der täglichen Politik um- und durchgesetzt
werden muss.
Die in Kopenhagen beschlossene so genannte
20:20-Initiative, nach der das Partnerland 20 Prozent seines Budgets und Regierungen - auch die Bundesregierung - 20 Prozent ihrer Hilfe für soziale Grunddienste zur
Verfügung stellen, wird in der deutschen Entwicklungshilfe hoffentlich auch in Zukunft berücksichtigt. Dies ist
eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen dafür, dass
Entwicklung stattfinden kann.
Zweitens. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist
und bleibt in der Tat das Fundament für eine nachhaltige
Entwicklung. Menschenrechte und deren Absicherung
durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören untrennbar zusammen. Sie müssen daher im Mittelpunkt
aller Entwicklungsbemühungen stehen.
Schon die alte Bundesregierung hat deswegen die Zusammenarbeit zur Entwicklung von Justizsystemen besonders vorangetrieben, aber auch die Entwicklung unabhängiger Medien und Maßnahmen zur Demobilisierung
von Soldaten aus Bürgerkriegen. Leider mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
({2})
- Halbherzig, Herr Kollege Schuster, möchte ich nicht sagen, sondern: schwierig, weil andere Arbeitsplätze kaum
zur Verfügung stehen. Wer ein Gewehr hat, hat immer
noch die Macht und deswegen eine bessere Grundlage,
seine Existenz zu sichern. Auch das ist etwas, was wir bei
der Beendigung von Bürgerkriegen und bei der Einleitung
von Entwicklungen nie übersehen sollten.
Politische Bildungsarbeit, menschenrechtsbezogene
Ausbildung von Kräften im Sicherheits- und Vollzugsbereich sind eine Maßnahme, um die Zivilgesellschaft zu
entwickeln und zu stabilisieren.
Good Governance - das Synonym dafür, dass Korruption von Regierungen nicht Platz greift, sondern die
Zivilgesellschaft im Gegenteil wirklich das Sagen hat muss zur überprüfbaren Voraussetzung für Entwicklungszusammenarbeit werden. Eine Kopplung von Entwicklungshilfe und guter Regierungsführung ist nicht etwa
Auswuchs einer neokolonialistischen Bewegung und Bevormundung, sondern Konsequenz der globalen Verantwortungsgemeinschaft.
Drittens. Es besteht nach wie vor der Grundsatz der
Hilfe zur Selbsthilfe. Ohne Reformwillen und Eigenanstrengungen in Staat und Gesellschaft der Partnerländer
können auch Maßnahmen von außen nichts bewirken.
({3})
Entwicklungspolitik kann nur komplementär sein und
darf Eigeninitiative nicht ersetzen. Entwicklungsländer
sind nicht von ihrer Verantwortung zur primären Eigenvorsorge entbunden. Deswegen müssen erfolgreiche wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Reformen im nationalen Bereich die Grundlage sein. Priorität genießt
dabei die Bildung, daneben aber auch öffentliche Infrastruktur, der Finanzsektor und die Förderung der Privatinitiative.
Armutsbekämpfung - das ist nun ein besonderer Bereich - ist an die Zukunft der Frauen geknüpft und an die
Entwicklung der Chancen von Frauen gebunden. Selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung ist immer dort besonders erfolgreich, wo Kleinprojekte durch Kredite an
Frauen gefördert werden; denn Frauen haben sich als besonders kreditwürdig und auch zuverlässig erwiesen.
Deswegen sind sie der Träger der Entwicklung in vielen
Ländern überhaupt.
({4})
Daneben muss allerdings eine besondere Anstrengung
für eine breite Alphabetisierung verwendet werden, insbesondere für die der Frauen. Frauen werden zu häufig zu
häuslichen Diensten herangezogen, als dass sie tatsächlich die Bildungschancen nutzen könnten, die ihnen nach
den Buchstaben des Gesetzes auch in vielen Entwicklungsländern zustünden. Alphabetisierung ist die Grundlage dafür, dass die Entwicklung über einen anfänglichen
Status der Notwendigkeit hinauskommt.
Viertens. Marktwirtschaftliche Strukturen: Soziale
Marktwirtschaft ist das effizienteste System. Freihandel auch das, was dort in den letzten Jahren für die Entwicklungsländer verhandelt worden ist - ist eine gute Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung. Das sage ich
auch in Bezug auf die Europäische Union,
({5})
die mit ihrem nach wie vor existierenden Agrarprotektionismus nicht zur Entwicklung beiträgt.
({6})
Fünftens und letztens. Verschuldung an sich ist kein
Makel, sondern ein normaler und ökonomisch sinnvoller
Vorgang. Dies setzt jedoch voraus, dass mit dem Geld
tragfähige wirtschaftliche Investitionen und Produktionssteigerungen erwirtschaftet werden. Deswegen sind wirtschaftspolitische Reformen von dringender Notwendigkeit.
Meine Damen und Herren, vieles ist gemacht worden.
Der Sozialgipfel von Kopenhagen hat eine Grundlage für
eine vernünftige Entwicklung gelegt. Diese Bundesregierung ist aufgefordert eine Trendwende herbeizuführen auch mit mehr Geld, Frau Kollegin Eid -, damit diesen
Zielen Rechnung getragen werden kann.
Danke.
({7})
Als
nächster Redner hat Kollege Carsten Hübner von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Verlauf der Debatte ist bereits
darauf hingewiesen worden, dass der erste Sozialgipfel der Vereinten Nationen 1995 in Kopenhagen mit
anspruchsvollen Selbstverpflichtungen aller UN-Mitgliedstaaten endete, die sich im Kern um zwei Maßnahmen drehten, nämlich erstens den Aufbau eines Systems
internationaler Zusammenarbeit für soziale Entwicklung
und zweitens die Stärkung der staatsinternen Sozial- und
Beschäftigungspolitik.
Die Bilanz nach fünf Jahren ist ernüchternd und beschreibt eine gegenläufige Tendenz. Armut und Elend
greifen global weiter um sich, sowohl in den reichen Staaten des Nordens als auch in den Entwicklungsländern,
natürlich entsprechend der jeweiligen Ausgangslage. So
leben weltweit gegenwärtig insgesamt 1,3 Milliarden
Menschen unter der Armutsgrenze. Die strukturell ungerechte Weltwirtschaftsordnung und Reichtumsverteilung
als wesentliche Ursache von Unterentwicklung und Entrechtung haben im Zuge der fortschreitenden neoliberalen
Globalisierung und Deregulierung in den letzten fünf Jahren weiter an Dynamik gewonnen. Es ist eine verhängnisvolle Dynamik. Weiterhin sind es vor allem die Frauen,
die weltweit am stärksten davon betroffen sind. Das ist die
Ausgangslage und die Herausforderung für die Nachfolgekonferenz Ende Juni in Genf.
Meine Redezeit ist mit vier Minuten knapp bemessen.
Erlauben Sie mir deshalb, mich auf einige Kernforderungen an den Konferenzverlauf und auf die daraus resultierenden Maßnahmen zu beschränken.
So erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie sich
in Genf selbstkritisch einer Analyse der Armutsentwicklung stellt, um die bisherigen Maßnahmen der dramatischen Situation entsprechend weiterzuentwickeln, gegebenenfalls zu reformieren oder gar zu revidieren. Dazu
müssen besonders die bereits angesprochene 20:20-Initiative, die Kölner Entschuldungsinitiative, die Strukturanpassungsprogramme, die Maßnahmen der Frauenförderung oder das Konzept der Public Private Partnership
gehören.
Darüber hinaus sollte sich die Bundesregierung in
Genf vor allem für die Implementierung der zehn Forderungen der weltweiten „Koalition für globale Solidarität und soziale Entwicklung“ aussprechen und sich
auch nach der Konferenz in Genf aktiv an diesem internationalen Prozess beteiligen. Kern dieses Prozesses ist
es, der neoliberalen Globalisierung der Ökonomie endlich
eine tragfähige Struktur weltweiter sozialer Standards und
gerechter, nachhaltiger Entwicklungschancen entgegenzusetzen.
Ansätze dafür liegen seit langem auf dem Tisch, etwa
die Einführung einer Tobin-Steuer, die grundlegende Reform der Strukturanpassungsmaßnahmen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, eine angemessene Intensivierung der finanziellen wie strukturellen Maßnahmen zur
Halbierung der weltweiten Armut bis 2015, die Erfüllung
des vereinbarten Wertes von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für staatliche Entwicklungspolitik und natürlich ganz besonders die Förderung von Frauen in den Programmen der Armutsbekämpfung und Entwicklung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann es nicht oft
genug sagen: Nicht schöne Worte und wohlfeile Erklärungen im Anschluss an Konferenzen sind gefragt,
sondern grundsätzliche Reformen, die den Menschen des
armen Südens endlich die Entwicklungschancen eröffnen, die ihnen zustehen.
({0})
Die Zeit drängt, und das gilt ganz konkret für jeden einzelnen Menschen, der heute schon nicht weiß, wovon er
sich morgen ernähren soll, wo sein Kind zur Schule oder
zum Arzt gehen kann.
Danke.
({1})
Das Wort
hat jetzt Kollege Peter Dreßen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeutung
wie die Wirtschaftsentwicklung - so die zentrale Aussage
in Kopenhagen vor fünf Jahren. Ist dies im Zeitalter der
Globalisierung wirklich so? Wird der Sozialentwicklung
der gleiche Stellenwert beigemessen? Werden zum Beispiel die Kernarbeitsnormen in allen Ländern eingehalten?
Es wäre traumhaft, wenn ich diese Fragen mit Ja beantworten könnte. Dann würden keine Kinder mehr zur
Arbeit gezwungen oder gar verkauft werden. Dann gäbe
es keine sexuelle Ausbeutung, keine Haushaltssklavinnen, keine Kinder im Drogenhandel und keine reichen
Scheichs, die Kinder als Jockeys für Kamelrennen kaufen. Dann könnten sich Arbeitnehmer ohne drohenden
Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Gefahr für Leib und
Leben frei in Vereinigungen treffen. Dann würden Frauen
nicht benachteiligt, sondern gleich entlohnt und Mädchen
hätten in der ganzen Welt die gleichen Chancen auf Bildung. Dies alles ist fürwahr ein Traum.
Während sich in den vergangenen Jahren die Globalisierung der Wirtschaft in rasantem Tempo fortsetzte, sind
die politischen Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut, der Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Beseitigung von Diskriminierung und Ausgrenzung sehr bescheiden. Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut
leben, ist seit 1995 sogar noch gestiegen. Finanzkrisen haben die soziale Lage in einer Reihe von asiatischen und lateinamerikanischen Staaten sowie in Russland sogar stark
verschärft.
Wenn nun in Genf auf dem Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5 Bilanz gezogen wird, werden wir sehen, dass noch
viel vor uns liegt, um der zentralen Aussage „Sozialentwicklung hat den gleichen Stellenwert wie die Wirtschaftsentwicklung“ näher zu kommen. Sicher hat Kopenhagen etwas bewegt und Deutschland hat daran einen
wesentlichen Anteil. Erinnert sei an die erweiterte HIPCEntschuldungsinitiative, die auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1999 in Köln auf den Weg gebracht wurde und zu der
die Bundesregierung einen umfassenden Finanzierungsbeitrag leistet.
Ich begrüße es sehr, dass sich die Bundesregierung aktiv für die Einhaltung der Kernarbeitsnormen und der
Konvention gegen die Kinderarbeit einsetzt sowie die
ILO umfassend bei dem internationalen Programm zur
Abschaffung der Kinderarbeit fördert und unterstützt.
({0})
So entspricht die Gesamtorientierung der deutschen Entwicklungspolitik den Beschlüssen des Kopenhagener
Gipfels.
Aber auch bei der Umsetzung der Verpflichtung und
Beschlüsse von Kopenhagen auf nationaler Ebene erledigt die Bundesregierung ihre Hausaufgaben. So wurde
ein nationaler Armutsbericht, dem sich die CDU/CSU und
die F.D.P. in der Vergangenheit stets verweigerten, eingeführt, die Familien entlastet, das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt, die Gespräche
des Bündnisses für Arbeit initiiert und Reformanstrengungen zur Zukunftsfestigkeit der sozialen Sicherungssysteme unternommen.
Was muss in Genf in Angriff genommen werden, damit
der Traum, den ich eingangs beschrieben habe, endlich
Wirklichkeit werden könnte? Zunächst gilt es, die bisherige Umsetzung zu prüfen und dann neue Initiativen zu
vereinbaren. Diese neuen Initiativen sollten dazu beitragen, das Aktionsprogramm von Kopenhagen umzusetzen.
Dabei müssen wir neuere Entwicklungen berücksichtigen, wie die Auswirkungen der Globalisierung, die sozialen Folgen von Finanzkrisen, die noch unzureichenden
Chancen der Entwicklungsländer im Welthandel und die
zunehmende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Gruppen.
In unserer Zeit, in der wir sekundenschnell über den
Globus hinweg miteinander kommunizieren können und
in der Arbeit in vielen Bereichen global organisiert ist,
dürfen Politik, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen nicht an nationalen Grenzen Halt machen.
({1})
Die Lösungen für weltweite Herausforderungen lassen
sich nur global finden. Soziale Gerechtigkeit wird in keinem Land der Erde auf Dauer haltbar sein, wenn wir nicht
auch international für dieses Ziel kämpfen.
Der wichtigste Grund dafür, sich für die Durchsetzung
sozialer Aspekte in der Globalisierung einzusetzen, liegt
darin, dass ein globales Regime reiner Gewinninteressen
einen Prozess der Selbstzerstörung und der Hemmung der
wirtschaftlichen Entwicklung auslösen würde. Ich bin davon überzeugt: Eine Globalisierung mit menschlichem
Antlitz braucht starke internationale Institutionen. Sie
braucht nicht nur UNO, Weltbank und WTO, sondern
auch und gerade eine starke Internationale Arbeitsorganisation ILO und starke Nichtregierungsorganisationen.
({2})
Oder wie Theo Sommer in der „Zeit“ von heute
schreibt:
Wo muss, wenn man eine Marktwirtschaft will, aber
keine Marktgesellschaft, der Markt enden und die
Gesellschaft beginnen?
Was wir brauchen, ist ein Umdenken bei den führenden
Köpfen, insbesondere in den Entwicklungsländern.
Bei der Durchsetzung von Gleichrangigkeit von globaler wirtschaftlicher Entwicklung und globalem sozialem
Fortschritt stehen wir erst am Anfang, obwohl das Konzept der Gleichrangigkeit in Kopenhagen beschlossen
wurde. Das Konzept schwebt noch in den Wolken. Von
der harten Wirklichkeit scheint es oft unglaublich weit
entfernt zu sein. Es muss heruntergezogen und alltagsbestimmt werden. Dies ist die Aufgabe der Konferenz in
Genf und für jedes weitere Handeln.
Ein Umdenken ist dahin gehend notwendig, wie es im
Berliner Kommunique „Modernes Regieren für das
21. Jahrhundert“ 14 Staats- und Regierungschefs formulierten. Ich zitiere daraus:
Was uns vor allem zusammenhält, sind unsere
Wertvorstellungen. Wir bekennen uns zu Solidarität
und sozialer Gerechtigkeit. Wir glauben, dass alle
Menschen gleichwertig und füreinander verantwortlich sind.
({3})
- Wenn das eine Parteiveranstaltung war, Herr Weiß, dann
bin ich froh, dass ich in der Partei bin, die solche guten
Ideen entwickelt.
({4})
Vielleicht gelingt es dem Bundeskanzler und den übrigen Regierungschefs, diese Botschaft auch in die Köpfe
mancher hirnverbrannter militaristischer Staatschefs einzupflanzen, die militärische Auseinandersetzungen führen, statt Armut und Ungerechtigkeit im eigenen Land zu
bekämpfen.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Organisationen sind bekanntermaßen häufig etwas schwerfällig.
Da bilden der Weltsozialgipfel und die Sondergeneralversammlung Kopenhagen plus Fünf sicher keine Ausnahme. Dennoch muss man sich im Vorfeld einer solchen
Versammlung überlegen: Wo standen wir eigentlich vor
fünf Jahren und wie weit sind wir seitdem vorangekommen?
Wenn man manche Äußerung rund um den Gipfel hört
und liest - ich zähle dazu auch den Antrag der Koalitionsfraktionen zu dieser heutigen Debatte -, dann könnte
man den Eindruck haben, als ständen wir noch am Anfang
der Diskussion. Aber Diskussionen über Themen wie
Kernarbeitsnormen und Sozialstandards, Förderung von
Frauen, der Zivilgesellschaft und Schutz der Umwelt sind
Diskussionen, die schon vor fünf Jahren geführt wurden.
Deswegen will ich deutlich sagen: Natürlich war Kopenhagen 1995 ein guter Anfang für die Diskussion und
für Verabredungen auf dem Gebiet der weltweiten Sozialpolitik. Es war ein guter Anfang, zu dem die Regierung
Helmut Kohl einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Ich
bin auch dafür dankbar, dass von der Kollegin BeckerInglau die herausragende Rolle von Norbert Blüm gewürdigt worden ist.
({0})
Im Vergleich dazu kann man die Wertschätzung der heutigen BMA-Spitze an diesem Thema sehen, denn sie ist in
dieser Debatte nicht vertreten. Hier hat sich schon etwas
verändert.
Ansonsten finde ich es erstaunlich und mutig, wenn der
Kollege Dreßen etwas zur innenpolitischen Debatte beiträgt. Herr Kollege, wie Ihre Zukunftssicherung der sozialen Sicherungssysteme aussieht, erleben wir zurzeit an
allen Zapfsäulen im Land.
({1})
Dass sie das gerade in dieser Woche zum Thema machen,
da Sie das Rentenkonzept Ihres Arbeitsministers versenkt
haben, ist schon mutig. Zu diesem Mut beglückwünsche
ich Sie jedenfalls.
({2})
Seit der Konferenz in Kopenhagen sind fünf Jahre vergangen. Man muss feststellen, dass sicher manche Hoffnungen auf der Strecke geblieben sind. Wir müssen auch
feststellen - Sie können nicht darum herumdiskutieren -,
dass die rot-grüne Bundesregierung auch bei diesem
entwicklungspolitischen Thema weder Antreiber noch
Vorbild ist.
Wir können lange darüber streiten, wie zentral die
20:20-Initiative sein mag. Es ist aber so, dass Sie Ihren
Beitrag zur Erreichung des 20:20-Ziels verfehlen, in der
Tendenz immer weiter. Das sagen nicht nur wir als Oppositionsfraktion, sondern das stellen auch Organisationen
fest, von denen die Kollegin Becker-Inglau zu Recht
sagte, dass die Ihnen bisher mit sehr viel Goodwill begegnen, wie das deutsche NRO-Forum „Weltsozialgipfel“. Es weist deutlich darauf hin:
Die Bundesregierung verfehlt die von ihr selbst in
Kopenhagen entscheidend mit vorangebrachten Zielvorgaben bezüglich ihrer EZ dramatisch.
Dramatisch, wohlgemerkt. Das ist die Aussage von
Entwicklungsorganisationen, von NROs, auf die Sie sich
sonst in Ihrer Argumentation so gerne stützen. Deswegen
ist es notwendig, in den entsprechend Fragen konkret
voranzukommen.
Wenn Sie in Ihrem Antrag von Kernarbeitsnormen
reden, dann ist das grundsätzlich nichts Neues. Die Frage
der Kernarbeitsnormen ist im internationalen Welthandel
nicht in erster Linie die Frage von Kindern als Jockeys. Es
geht um sehr viel schwierigere Fragen. Sie weisen selber
darauf hin: Dem Protektionismus soll nicht weiter Vorschub geleistet werden. Sie formulieren, dass Sozialstandards dafür nicht missbraucht werden dürften. Sie fordern
für die Entwicklungsländer auch die Aufrechterhaltung
komparativer Wettbewerbsvorteile.
Auf der anderen Seite sprechen Sie sich aber auch
dafür aus, mit Liberalisierungen vorsichtig zu sein und der
besonderen Situation von Entwicklungsländern Rechnung zu tragen. Es geht nicht alles gleichzeitig. Es gibt
immer bestimmte Sonderinteressen. Aber wir sollten uns
einig sein, dass mehr Freihandel zwischen den einzelnen
Ländern den Ländern insgesamt nützt. Das sollte eigentlich unsere gemeinsame Position in den WTO-Verhandlungen sein, um auch die soziale Situation in den Entwicklungsländern zu berücksichtigen.
({3})
Seit Kopenhagen sind fünf Jahre vergangen, in denen das muss man sagen - viel Zeit vertan worden ist. Das
kann man nicht nur auf die entwicklungspolitischen Institutionen schieben; vielmehr muss sich jedes Land und
jede Regierung zur eigenen Verantwortung bekennen.
Deutschland hat ein starkes Gewicht in diesen Organisationen. Sie sind - leider - in manchen Bereichen auf dem
Weg, dieses Gewicht zu verspielen. Aber noch haben wir
es. Wir spielen auch eine bedeutende Rolle in internationalen Finanzorganisationen. Deswegen erwarten wir von
der Bundesregierung, dass sie aufgrund ihres Gewichtes
darauf achtet, dass Strukturanpassungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramme in den Entwicklungsländern auch sozial ausreichend abgefedert werden.
Das ist unsere Position und unsere Erwartung.
({4})
Wenn man Ihre regierungsamtlichen Verlautbarungen
liest, dann stellt man fest, dass Sie mit dem IWF durchaus Ihren Frieden gemacht haben, seit Sie an der Regierung sind. Der IWF und die Weltbank haben sich auch
schon in vielen Bereichen bewegt. Unsere Erwartung ist,
dass Sie diese internationalen Organisationen verstärkt in
die entsprechende Richtung bringen.
Wir von der CDU/CSU stehen dann an Ihrer Seite,
wenn es wirklich um die Bekämpfung der Armut in der
Welt und damit um die Lösung des größten entwicklungspolitischen Problems überhaupt geht. Nur, für uns
gehört ganz unzweifelhaft dazu, dass nicht nur geredet,
sondern auch gehandelt wird. Diese Bundesregierung
muss die Prioritäten im nächsten Bundeshaushalt so setzen, dass sich die international eingegangenen VerpflichDr. Ralf Brauksiepe
tungen auch widerspiegeln. Lassen Sie Ihren schönen
Worten auch einmal Taten folgen.
({5})
Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Vielen Dank.
({6})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung
über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen „Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf - Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5“ auf Drucksache 14/3515.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? ({0})
Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der F.D.P.-Fraktion gegen
die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung auf Drucksache 14/3504. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist der Antrag
bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. mit den Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion der PDS abgelehnt.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen
zur Förderung des Radverkehrs
- Drucksache 14/3445 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Sind Sie einverstanden, dass alle Reden zu diesem
Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden?*) Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse
- Drucksache 14/3292 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/3292 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Hildebrecht Braun ({4}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Men-
schenrechtsverletzungen in der Volksrepublik
China
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann
Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Norbert Blüm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Menschenrechte in der Volksrepublik China
- Drucksachen 14/661, 14/2694, 14/3501 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Für eine China-Resolution der VN-Menschen-
rechtskommission
- Drucksachen 14/2915, 14/3517 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Hermann Gröhe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Volker Neumann von der SPD-Fraktion das Wort.
*) Anlage 10
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicherlich viele
Gründe, über China und Menschenrechte zu sprechen.
Wir haben das schon im März gemacht, auch damals zu
später Stunde. Der ursprüngliche Antrag der F.D.P.
stammt vom letzten Jahr. Er war anlässlich des Besuchs
des Bundeskanzlers in China im Mai eingebracht worden. Jetzt beraten wir abschließend die Empfehlung vor
dem Besuch des Ministerpräsidenten der Volksrepublik
China Zhu Rongji in Deutschland. Ich will keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir diesen Besuch begrüßen, weil er geeignet ist, die guten Beziehungen zu
China zu vertiefen.
Auch wenn wir im Menschenrechtsausschuss den nun
von der Regierungskoalition vorgelegten Änderungsantrag nicht einstimmig beschließen konnten, so bin ich
doch überzeugt, dass die grundlegenden Positionen
parteiübergreifend Konsens finden. Das bedeutet insbesondere, dass wir unsere Möglichkeiten nutzen sollten,
auf China dahin gehend einzuwirken, die Menschenrechtslage zu verbessern. Wir sind uns darüber einig, dass
es zu diesem Zweck zu einem offenen und von beiden Seiten mit Respekt geführten Dialog kommen muss. Auch
der Besuch von Zhu Rongji bietet für unsere Regierung
Anlass, diesen Dialog zu fortzusetzen.
Der Dialog sollte aber auch von den Abgeordneten beider Staaten fortgesetzt werden, so wie er gestern im Auswärtigen Ausschuss und in vielen Einzelgesprächen mit
Mitgliedern des außenpolitischen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses in aller Offenheit geführt worden
ist.
Obwohl sich die wirtschaftliche Lage für viele Menschen in China unzweifelhaft verbessert hat, ein Stück
mehr Rechtssicherheit eingetreten ist und es Reformen
auf dem Wirtschaftssektor gab, die persönliche Freiräume
geschaffen haben, bleibt eine Tatsache bestehen: Die
Menschenrechtssituation hat sich im vergangenen Jahr
verschlechtert. 1999 war nach Ansicht vieler Beobachter
sogar das schwierigste Jahr seit 1989 für Dissidenten sowie für religiöse und ethnische Minderheiten.
Es gehört zu den demokratischen Tugenden, Fragen offen anzusprechen. Das gilt auch gegenüber der Volksrepublik China, mit der sich immer bessere Beziehungen
auf vielen Feldern der Politik entwickeln. Für chinesische
Ohren hört es sich fast wie eine Selbstverständlichkeit an,
wenn wir fordern, dass die Rechte von Minderheiten respektiert werden müssen. Dennoch scheint China in vielen Fragen eine andere Sicht der Dinge zu haben. Die religiösen, weltanschaulichen und ethnischen Minderheiten
haben in China einen schweren Stand. So waren vor allem
die moslemischen Uiguren in der westchinesischen Region Xinjiang nach übereinstimmenden Berichten in
jüngster Vergangenheit Opfer staatlicher Verfolgung.
Die Lage für die Tibeter in der autonomen Region Tibet hat sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert.
Die Flucht des 17. Lebenden Buddha Anfang des Jahres
nach Indien zeigte schlagartig die Lage der Tibeter auf. Er
ist der dritthöchste Würdenträger der Tibeter, der sowohl
von der chinesischen Regierung als auch vom DalaiLama anerkannt wird.
Wir fragen immer wieder und werden weiter fragen:
Was hindert die führenden Politiker der Volksrepublik daran, endlich einen Dialog mit dem Dalai-Lama zu beginnen?
({0})
Warum schwieg Jiang Zemin, als Bill Clinton diese einfache Bitte äußerte?
Für uns gilt, dass die Ein-China-Politik weiterhin Grundlage unserer politischen Überlegungen ist.
Sie war es übrigens auch bei der Tibet-Resolution im
Jahre 1996, die damals zu Irritationen in den deutsch-chinesischen Beziehungen geführt hat. Nachdem die Volksrepublik immer die Wiedervereinigung Deutschlands unterstützt hat, gibt es keinen Grund, einer Teilung Chinas
das Wort zu reden.
Wir beklagen aber gegenüber China, dass noch immer
gewaltloser politischer Widerstand zu Verhaftungen, Administrativhaft und Arbeitslager führen kann, und wir beklagen die extensive Anwendung der Todesstrafe.
Spätestens seit der Wiener Menschenrechtskonferenz gilt für China, dass die Diskussion über die Fragen
der Menschenrechte keine unzulässige Einmischung in
die inneren Angelegenheiten eines Staates ist. Die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte wird
auch von China anerkannt. Ich bin überzeugt, dass auch
ein verstärkter Dialog mit China auf bilateraler und europäischer Ebene eine Folge dieser Erkenntnis ist.
({1})
Es wird immer wieder eingewandt, dass wir China in
der Frage der Menschenrechte anders behandeln als kleinere, wirtschaftlich relativ unbedeutende Länder. Ich
meine, das stimmt nicht. Wir üben unsere Kritik. Aber es
ist legitim, in Bezug auf ein Land dieser Größe andere
Wege zu gehen. Ich denke, die Bundesregierung hat eine
neue Richtung aufgezeigt. Beim Besuch des Bundeskanzlers im vergangenen Jahr wurde eine neue Qualität des
Rechtsstaatsdialogs begonnen.
({2})
Schon in der nächsten Woche besuchen die Bundesjustizministerin, die Vizepräsidentin des Bundestages und
Kollegen die Volksrepublik, um diesen Dialog fortzusetzen.
({3})
Damit beginnen wir bei den Wurzeln des Menschenrechtsschutzes, nämlich bei der Rechtsstaatlichkeit. Der
Schutz der Menschenrechte steht in unauflösbarem Zusammenhang mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.
({4})
China steht nach den Verträgen mit der EU und den
USA kurz vor der Aufnahme in die Welthandelsorganisation. Es ist der politische Wille der Führung in
Peking, die wirtschaftliche Öffnung weiter voranzutreiben. China wird den Weg auf Dauer aber nur gehen können, wenn er mit politischen Öffnungen verknüpft ist;
denn nur so wird langfristig Stabilität zu erreichen sein
und nur mit Stabilität wird China die Früchte der wirtschaftlichen Reform ernten können.
Diese Erfahrung haben auch schon andere aufstrebende Länder in Asien gemacht. In Indonesien beispielsweise war es die wirtschaftlich erstarkte Mittelschicht, die
nach Bürgerrechten drängte und gemeinsam mit den Studenten die Absetzung Suhartos bewirkte. Das Defizit an
Demokratie und Menschenrechten, der Mangel an Teilhabe an den politischen Entscheidungen waren letztlich
die Ursache für den Umbruch.
({5})
Auch in China gibt es diese aufstrebende Mittelschicht, während allerdings der Großteil der Bevölkerung
von den wirtschaftlichen Fortschritten ausgeschlossen ist.
Wir sehen die Probleme des bevölkerungsreichsten Landes der Erde. Aber wir anerkennen auch die Entwicklung
der letzten Jahrzehnte. Wir sehen die Schwierigkeiten der
Umstrukturierung der Wirtschaft und die Gefahr der Massenarbeitslosigkeit. Wir sehen auch die Entwicklungsanstrengungen im Westen Chinas. Dennoch: Wir müssen gegenüber der chinesischen Führung immer wieder unsere
Überzeugung deutlich machen, dass die Teilhabe der
Menschen am politischen Meinungsbildungsprozess und
die Wahrung der Menschenrechte Voraussetzung für eine
dauerhafte Stabilität ist.
({6})
Dauerhafte Stabilität ist wiederum Voraussetzung für
eine verlässliche Politik. Der chinesischen Führung sollte
es deshalb nicht egal sein, wie ihr Verhalten in Menschenrechtsfragen von der Welt gesehen wird.
Der Dialog über Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sollte intensiv fortgeführt werden. Handel und
Prosperität allein werden nichts bewirken. Sanktionen
oder Provokationen allerdings auch nicht, wie wir in anderen Fällen gesehen haben.
Der Äußerung des amerikanischen Präsidenten beim
Abschluss der Handelsverträge mit China kann ich mich
nur anschließen: Mit ausgestreckter Hand wird unser positiver Einfluss größer sein als mit geballter Faust.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegen! China ist ein Kontinent.
({0})
Dieser Kontinent hat mit eines der größten Gewichte in
der gesamten Welt. Das ist nicht nur ein Land. Wir alle
wissen, welche Höchstleistungen dieses Land im Laufe
seiner langen Geschichte in der Kultur der Sprache, der zivilisatorischen Entwicklung erbracht hat.
Auch der zivilisatorische Fortschritt in unserer Zeit
ist beachtlich. Was heißt es denn, einen Lebensstandard
herzustellen, der bewirkt, dass über 1 Milliarde Menschen
Brot haben und keinen Hunger leiden müssen, zumindest
nur in sehr wenigen Fällen? Damit wird eine Leistung erbracht, die, wenn wir als Maßstab die ganze Welt nehmen,
einzigartig ist. Das alles verdient höchste Anerkennung.
Leider verdunkelt sich die Szene beim Thema Menschenrechte. Die Zahl von Menschen, die in so genannter Administrativhaft sind, das heißt, die ohne jedes Gerichtsverfahren und ohne das Wissen sind, ob sie jemals
aus diesen Lagern heraus kommen - das muss man sich
einmal vorstellen -, geht in die Hunderttausende. Das ist
im Übrigen auch im weltweiten Vergleich einzigartig. Sie
finden in kaum einem Land eine mit den chinesischen Arbeitslagern vergleichbare Institution. Auf die hohe Zahl
der Hinrichtungen wurde hier schon eingegangen. Hinzu
kommen die religiöse Unterdrückung von Christen - insbesondere Romtreue Katholiken und Mitglieder protestantischer Hauskirchen sind betroffen - und die Unterdrückung von Minderheiten. Beispielhaft verweise ich
auf Tibet oder die Uiguren.
Was in Tibet an Religion, an Kultur und auch an Umwelt vernichtet wird, ist skandalös.
({1})
Zu dieser Situation werden wir alle einmal sagen, wenn es
so weitergeht: In unseren Tagen ist eine der ältesten und
einzigartigsten Kulturen vom Dach der Welt verschwunden. Die Kampagne gegen den Dalai-Lama geht zwar völlig ins Leere, wird von keinem abgenommen und wirft eigentlich nur ein schlimmes Bild auf ihre Verursacher
zurück, bewirkt aber immerhin Böses.
Trotzdem, meine Damen und Herren, können wir nicht
mit erhobenen Zeigefingern sagen: Bei uns ist das alles
anders und ihr müsst euch jetzt an uns ausrichten. Auch
Europa hat weiß Gott eine Geschichte, die keinesfalls als
Beispiel dienen kann. Wir haben Jahrhunderte gebraucht,
um Menschenrechte und Menschenwürde bei uns in Verfassungen zu etablieren. Das Gleiche gilt auch für die Vereinigten Staaten von Amerika.
Es ist sicher richtig, dass die Geschwindigkeiten der
Geschichte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen
Zeiten unterschiedlich sind. Während es bei uns Regierungszeiten eines Königs oder einer Koalition gab, die
einige Jahre oder höchstens einige Jahrzehnte umfassten,
bestanden chinesische Dynastien zwischen 100 und 300
Jahren. Dass das heute nicht mehr so ist, ist mit Sicherheit
auch richtig. Dass es nicht von heute auf morgen geht, die
Volker Neumann ({2})
Geschwindigkeit dieses Milliardenvolkes mit unserer Geschwindigkeit zu harmonisieren, ist auch klar.
Man muss aber auch die Chinesen selber beim Wort
nehmen: Sie wollen weltweite Verantwortung in einem
Zeitalter der Globalisierung durch Informations- und
Kommunikationstechniken tragen. Sie wollen überall
vorne mit dabei sein. Das heißt, sie wollen Verantwortung
übernehmen. Man kann nicht als eines der größten Länder der Welt Mitglied der Vereinten Nationen sein und die
Charta der Menschenrechte mit Füßen treten.
({3})
Wenn das kleine Schurkenstaaten machen, ist das bedauerlich, aber ein solches Riesenland mit dem Gewicht, der
Anerkennung und dem Respekt, wie China für sich fordert, sollte eine andere Verantwortung haben, als sie hier
gezeigt wird.
({4})
Denken Sie daran, dass China Ständiges Mitglied des
Sicherheitsrates ist. Als solches muss man Verantwortung übernehmen. Man kann nicht nur die eigene Position
vertreten. Denken Sie daran, wie China nur aus Verärgerung über die Beziehungen zwischen Mazedonien und
Taiwan die UN-Truppe an der Grenze zu Jugoslawien,
also zu Serbien, zurückgezogen hat. Obwohl alle anerkannt haben, dass das eine der erfolgreichsten Missionen
werden könnte, ist sie am Veto der Chinesen im Sicherheitsrat gescheitert.
Das ist nicht die Verantwortung, die China hier zeigen
muss. Es liegt aber auch nicht im Sinne seiner eigenen
Verfassung. In Kapitel 2 der Verfassung aus dem Jahr
1982 werden die Freiheit der Rede, die Freiheit der
Presse, die Freiheit der Versammlung, die Vereinigungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit, die Religionsfreiheit,
die Freiheit der Person und der Privatsphäre garantiert.
Das sind alles Lügen. Das müssen wir leider sagen. In der
Wirklichkeit sieht es völlig anders aus. Eine kleine
Gruppe, die sich auf dem Tiananmen-Platz versammelt
und ein kleines Pappschild hoch hält, um an irgendetwas
zu erinnern, wird mit beispielloser Brutalität sofort von
der Polizei eingesammelt und verschwindet für wer weiß
wie lange in Arbeitslagern oder Gefängnissen oder Ähnlichem.
({5})
Also nichts von dem, was in der Verfassung steht, wird
eingehalten. Das zeigt natürlich die innere Schwäche des
Regimes.
Deng Xiaoping hat die erste Stufe der Marktwirtschaft eingeleitet, sicherlich auch mit dem Gedanken,
dass China materiell nicht mehr auf einen grünen Zweig
kommt, wenn man nicht gleichzeitig einige Freiheiten
mehr zulässt. Er hat sicherlich gewusst, dass er nicht alles
auf einmal kann, aber er hat nicht davon gesprochen, dass
das alles wieder gestoppt und beendet wird und dass es
keine zweite Stufe gibt. Das haben seine Nachfolger gemacht.
Dabei müsste China ein eigenes Interesse an einer weiteren Entwicklung haben, denn die zweite Stufe der
Marktwirtschaft ist ohne gewisse Freiheitsrechte für
Personen, für Gruppen völlig ausgeschlossen - nicht weil
wir das wollen, sondern weil es in der inneren Logik von
Freiheit und Wirtschaft liegt.
Daran wird China scheitern. Je früher es das erkennt,
umso eher vermeidet es das Scheitern. Der „Große
Markt“, bei dem alles nach China strebt, ist längst vorbei.
Die großen Investitionen in China sind rückläufig, weil
man natürlich weiß, dass der „Große Markt“ so nicht
funktionieren kann.
Wie reagiert man nun auf eine solche Situation? Man
kann anprangern, man kann Gespräche führen, man kann
einen Dialog führen. Man muss eben in diesem Falle im
Grunde genommen alles tun. Wir müssen auf der einen
Seite die Dinge beim Namen nennen und dürfen nicht vor
lauter Vorsicht schon gar nichts mehr aussprechen. Da bin
ich schon sehr verwundert. Ich war mit der Menschenrechtspolitik unserer eigenen Regierung damals keineswegs immer einverstanden. Das wissen Sie sehr genau.
Aber wie vorsichtig diese Regierung, deren Mitglieder
uns damals in entsprechender Weise vorführen wollten,
heute agiert, hätte ich so nie vermutet.
({6})
Es ist auch nicht wahr, wenn gesagt wird, das sei eine
ganz andere Kultur. Diesbezüglich müssen wir vorsichtig
sein. Wer die chinesische Kultur kennt, weiß, dass die
chinesische Kultur menschenfreundlich ist und die Würde
des Menschen achtet. Sie brauchen nur an Konfuzius oder
Mo-Ti zu denken. Von ihnen wird die Würde des einzelnen Menschen genauso beschrieben wie von Denkern bei
uns. Derartige Behauptungen sind also Blödsinn. Nur
Machthaber und Tyrannen beschreiben plötzlich ihre Kultur anders, obwohl natürlich der, der gefoltert wird oder
im Gefängnis sitzt, genauso leidet, ob er nun in Europa, in
China oder in Amerika sitzt.
({7})
Das muss ausgesprochen werden. Wir bedauern, dass
es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist.
Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben unseren Antrag
wirklich mit außerordentlicher Sensibilität abgefasst. Ich
würde sagen: selbst nach chinesischen Maßstäben
„Chung-jung“: mit Maß und Mitte.
({8})
Aber was nun herausgekommen ist, sind so seichte
Töne, dass sie bei den Chinesen keinen Respekt hervorrufen werden. Das kann ich Ihnen sagen. Die Chinesen
haben Respekt vor Leuten, die selbstbewusst sind, die
stark sind und darüber hinaus Sensibilität besitzen, aber
nicht vor Leuten, die so vorsichtig sind, wie das in dieser
Beschlussempfehlung zum Ausdruck kommt. Wir werden
also dieser Beschlussempfehlung nicht zustimmen, weil
es eine meines Erachtens sehr viel bessere Formulierung
im Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt. In gleicher Weise
gilt das übrigens auch für den Antrag der F.D.P.-Fraktion.
Aber der Kernpunkt unserer Kritik geht darüber hinaus. Der Antrag der Unionsfraktion zielte darauf ab, eine
parlamentarische Behandlung der Frage herbeizuführen,
welche Position die Bundesregierung im Hinblick auf die
Menschenrechtslage in China im Rahmen der Sitzung der
UN-Menschenrechtskommission in Genf einnehmen
will. Der Antrag wurde von uns am 15. Februar eingebracht. Die UN-Menschenrechtskommission tagte in
Genf bis Ende April. Obwohl Staatsminister Volmer bei
der Einbringung des Antrags das Interesse der Bundesregierung an einer interfraktionellen Einigung über eine Beschlussempfehlung ausdrücklich erklärt hat, hat es keinerlei Bemühungen vonseiten der Regierungsfraktionen
um eine solche Einigung gegeben. Insbesondere hat es
überhaupt keine Bemühung gegeben, eine solche Einigung, was sehr wohl möglich gewesen wäre, vor Abschluss der Tagung in Genf herbeizuführen.
Das ist der Grund, warum wir dieser Beschlussempfehlung nicht zustimmen können.
Ich danke Ihnen.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Claudia Roth von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Woher wissen Sie eigentlich, wie ich jetzt reden
werde? Warten Sie doch einmal ab!
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist immer wieder der gleiche Reflex: Wenn es um Menschenrechte geht, wird sehr schnell der Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten erhoben.
({1})
Aber Menschenrechte sind keine inneren Angelegenheiten und Menschenrechte kennen keine Grenzen.
Wenn wir heute - leider wieder zu viel zu später
Stunde, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann,
denn wir müssen uns als Deutscher Bundestag nicht vor
einer Menschenrechtsdebatte verstecken - darüber diskutieren, wie deutsche Politik Reformprozesse in China mit
initiieren und mit unterstützen kann, wie deutsche Politik
unter anderem mit dem begonnenen Rechtsstaatsdialog
dazu beitragen kann, immense menschenrechtliche Defizite zu überwinden, dann ist das im besten Sinne der Versuch der konstruktiven Unterstützung eines überfälligen
und nötigen Demokratisierungsprozesses in China.
({2})
Mit unserem Antrag und unserer Debatte werden nicht,
wie der chinesische Botschafter befürchtet, die Gefühle
der Chinesinnen und Chinesen verletzt. Nein, es werden
die legitimen Menschenrechte der Bevölkerung Chinas
unterstützt, die verletzten Rechte von Minderheiten, wie
der Tibeter und Uiguren, die verweigerten Rechte von
Christen, Moslems und den Anhängern der Falun Gong.
Es wäre keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas gewesen, wenn sich die Genfer Menschenrechtskommission bei ihrer Tagung mit der Verfolgung
Andersdenkender, der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, der Presse- und Versammlungsfreiheit, mit der Administrativhaft - Dr. Schwarz-Schilling hat sehr viel dazu
ausgeführt -, mit Zwangslagern, mit der exzessiven Praxis der Todesstrafe in China auseinander gesetzt hätte,
({3})
sondern das wäre schlichtweg der Auftrag der Menschenrechtskommission gewesen. Eine China-Resolution hätte
all diejenigen unterstützt, die sich in China für die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte einsetzen. Ein solcher Beschluss hätte zur Glaubwürdigkeit der
Genfer Kommission beigetragen. Die Verweigerung,
auch nur eine Debatte über die Situation in China zu
führen, hinterlässt einen schalen Geschmack der selektiven Kritik an Menschenrechtsverletzungen.
In der Tat glaube ich, auch die Bundesregierung muss
überdenken, welche Strategie die richtige ist, um einen
Beschluss zur Menschenrechtssituation in China, sollte
sie sich nächstes Jahr nicht verbessert haben, aktiv zu
unterstützen.
({4})
Dem weltweiten Schutz der Menschenrechte wurde in
Genf kein guter Dienst erwiesen. Ich glaube, dass ein bilateraler Rechtsstaatsdialog, wenn er denn intensiv geführt wird, tatsächlich eine Chance bietet.
Ich appelliere ausdrücklich und eindringlich an die
Bundesregierung, auf allen politischen Ebenen und in allen verschiedenen Gremien die Menschenrechtssituation
im Dialog mit der Volksrepublik China offensiv anzusprechen. Ich appelliere analog an die deutsche Wirtschaft, ihrerseits Spielräume und Möglichkeiten im Sinne
des Ausbaus und des Schutzes unveräußerlicher Rechte
wie der sozialen Rechte zu nutzen, die nach wie vor nicht
verwirklicht sind.
Das wäre übrigens auch im eigenen Interesse, denn
Stabilität ist die Voraussetzung für Investitionen und sie
basiert gerade auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Das ist das Motiv für die heutige Debatte und für den heutigen Antrag.
Der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in
wenigen Wochen bietet die gute Möglichkeit, deutlich zu
machen, dass die wirtschaftliche Öffnung der politischen Öffnung bedarf. Ich gehe davon aus, dass in den
Gesprächen zwischen dem Ministerpräsidenten und der
deutschen Bundesregierung die Verwirklichung der
UNO-Pakte und der politische Dialog mit dem DalaiLama eingeklagt werden
({5})
und dass auf die weltweite Bedeutung der Menschenrechte hingewiesen wird. Das ist kein erhobener Zeigefinger, sondern die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit eines demokratischen Chinas.
Das, wie Dr. Schwarz-Schilling es gesagt hat, anzusprechen, was anzusprechen ist, das zu kritisieren, was zu
kritisieren ist, und einen Dialog zu führen, wo ein Dialog,
wenn er zur Verbesserung der Situation beiträgt, geführt
werden muss und geführt werden kann, das wird eine Delegation des Menschenrechtsausschusses auf ihrer Reise
nach China und Tibet im August und September dieses
Jahres sicher tun.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Durchsetzung und die Beachtung der Menschenrechte sollten zum
Dreh- und Angelpunkt der Politik der Regierung Schröder
werden. Jedenfalls war dies das Versprechen, das SPD
und Bündnis 90/Die Grünen ihren Anhängern und der
deutschen Öffentlichkeit gegeben haben. Diese Ankündigungen sind von der Wirklichkeit deutscher Regierungspolitik längst und sehr schnell eingeholt worden. Dafür ist
die Befassung mit der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr eindrucksvolles.
Wir befassen uns heute Nacht unter anderem mit zwei
Anträgen meiner Fraktion. Der erste ist im März 1999,
also vor der vorletzten Konferenz der UN-Menschenrechtskommission, eingebracht worden und der zweite
vor der letzten Konferenz. Inzwischen sind beide Konferenzen längst beendet,
({0})
und zwar mit einem Beratungsergebnis in Bezug auf
China, das vollkommen unbefriedigend ist. Da teilen wir
von der F.D.P.-Fraktion Ihre Einschätzung, Frau Roth.
Ein Weiteres kommt hinzu - das muss in dieser Debatte
gesagt werden -: Wenn nicht die Fraktionen der
CDU/CSU und der F.D.P. drei Anträge in die parlamentarischen Beratungen eingebracht hätten, hätte es für Sie
noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich mit
Ihrem Änderungsantrag in letzter Sekunde in diese Beratungen einzubringen. Dann hätten Sie entweder unseren
Anträgen zustimmen müssen
({1})
oder Sie hätten sie abgelehnt; dann aber hätte es hier überhaupt keine bzw. eine negative Beschlussfassung gegeben. Ich glaube, das muss man sehen, wenn man die Befassung mit der Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China realistisch betrachtet.
Das ist schon fast ein absurdes Theater, vor allen Dingen deshalb, weil dies kurz vor dem sehr wichtigen Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten stattfindet.
({2})
Dieser Besuch verlangt, dass man sich sachlich und konstruktiv, aber auch mit der notwendigen Kritik mit der
wirtschaftlichen Entwicklung in der Volksrepublik China
auseinander setzt. Wir begrüßen jede Öffnung, jede Bereitschaft zu mehr wirtschaftlicher Zusammenarbeit und
die Perspektiven, die sich mit dem WTO-Beitritt Chinas
ergeben werden. Wir begrüßen dies nicht nur deswegen,
weil es um wirtschaftliche Entwicklung geht, sondern
auch deswegen, weil dadurch von uns zu Recht eine positive Sogwirkung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in China eingefordert wird.
Ich muss nichts zur Realität der Menschenrechtslage
in China sagen. Das ist ein Punkt, den wir an der Beschlussempfehlung kritisieren: dass sie die Realität nicht
zur Kenntnis nimmt. Wir lehnen sie deshalb ab. Es ist
eben nicht so, dass sich die Entwicklung der Menschenrechte so positiv entwickelt hat, wie man gehofft hat. Sie
hat sich verschlechtert. Das ist die jetzige Situation.
({3})
- Das steht dort nicht.
({4})
In der Beschlussempfehlung steht unter Punkt 2:
Trotz dieser Verbesserungen hat sich die Lage der
Menschenrechte in der Volksrepublik China noch
nicht in der erhofften Weise positiv entwickelt.
Nein, sie hat sich verschlechtert, was Todesstrafen,
Hinrichtungen, Inhaftierungen, Administrativhaft und
den Umgang mit Minderheiten angeht. Gerade vor ein
paar Tagen kam es zur Festnahme von 15 friedlichen Demonstranten auf dem Tiananmen, die sich dort anlässlich
des 11. Jahrestages des Massakers versammelt hatten.
Gestern kam es zudem zur Festnahme eines jungen Menschen, der auf einer Web-Seite die Massaker auf dem Tiananmen dokumentiert hat. Er wurde festgenommen, weil
er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit, von einem
Menschenrecht, das wir alle für unverzichtbar halten, in
Claudia Roth ({5})
einer harmlosen Art und Weise Gebrauch gemacht hat. Ich
glaube, das muss man hier einfach einmal ansprechen,
auch wenn es schon so spät am Abend ist.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich ad
personam an den Entschließungsanträgen zu orientieren,
die Bündnis 90/Grüne 1993, 1994 und 1996 in den Bundestag eingebracht haben. 1996 haben wir, Grüne und
F.D.P., der Regierung eine Entschließung abgetrotzt - wir
hatten damals einen Riesenkrach -, die wirklich mehr
Substanz hatte als das, was heute zur Beschlussfassung
vorliegt.
Der Rechtstaatsdialog hat überhaupt noch nicht begonnen. Vielleicht beginnt er jetzt, wenn ein Regierungsmitglied, die Justizministerin, nach China reist. Aber es
sind schon wieder Monate vergangen, ohne dass irgendetwas passiert ist. Das konstatieren Sie in Ihrem Antrag,
indem Sie sagen, man soll diesen Dialog breit anlegen.
Das ist nicht das, was wir von einer engagierten Menschenrechtspolitik erwarten - zusammen mit China, das
eine Riesenbedeutung hat und von uns erwartet, dass wir
eine klare Sprache sprechen. Die verstehen die Chinesen
nämlich sehr wohl. Das habe ich selbst erleben dürfen, als
ich als Justizministerin den Besuch des chinesischen Justizministers hatte. Da hat es auf einer Pressekonferenz,
auf der ich ihn zur Einhaltung der Menschenrechte aufgefordert habe, großen Ärger gegeben. Danach sind wir in
einen sehr konstruktiven, kritischen Dialog eingetreten.
Nur so funktioniert das, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in der
Volksrepublik China ist weiterhin äußerst problematisch.
Meine Vorredner haben bereits auf die massenhafte
Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe hingewiesen, auf fehlende Presse-, Versammlungs-, Organisationsund Religionsfreiheit, auf Fälle von Folter, auf massive
Repression durch Sicherheitskräfte und Geheimdienste,
auf die Administrativhaft und vieles andere mehr. Ich
brauche das daher nicht im Einzelnen zu erwähnen.
Mich wundert jedoch schon, dass die Entschiedenheit,
mit der von den jeweiligen Fraktionen des Bundestages
auf die Menschenrechtsverletzungen in China hingewiesen wird, offenbar davon abhängig ist, ob man gerade
in der Regierungsverantwortung ist oder nicht.
({0})
Ich habe mir die diesbezüglichen Protokolle aus der letzten Legislaturperiode kommen lassen. Sie sind schon erhellend für alle. Das gilt nicht nur mit Blick auf China. Die
Regierungsbeteiligung scheint also - in der China-Frage
vielleicht mit Ausnahme der F.D.P. - eine Art Menschenrechtsweichspüler zu sein. Das finde ich äußerst bedenklich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
({1})
umso bedenklicher, als die anzulegenden Menschenrechtsstandards Gegenstand internationaler Vereinbarungen sind - übrigens Vereinbarungen, zu denen sich inzwischen auch China offiziell bekannt hat -, denen sich die
Bundesrepublik oft schon seit Jahrzehnten verpflichtet
fühlt, was nicht nur für unsere Innen-, sondern auch für
unsere Außen- und Wirtschaftspolitik Bedeutung haben
sollte.
Nun erwarte ich nicht - das wäre politisch wie historisch sicher eine Dummheit -, dass sich die Bundesrepublik international quasi als Gralshüter der Menschenrechte inszeniert. Zu tief ist sie in viele internationale
Prozesse und Verhältnisse involviert, die den Menschenrechten und einer gerechten globalen Entwicklung diametral entgegenstehen. Was ich aber erwarte, ist, dass
nicht allein die Frage, ob es sich bei dem entsprechenden
Land um einen interessanten Markt oder, wie etwa bei der
Türkei, um einen NATO-Partner handelt, darüber entscheidet, mit welchem Nachdruck und in welcher Offenheit die Frage der Menschenrechte angesprochen wird.
({2})
Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen jedenfalls ist ein Paradebeispiel für ein verklausuliertes Diplomatendeutsch, das zumindest meinem Begriff von Offenheit im Dialog und von echter und belastbarer
zwischenstaatlicher Partnerschaft nicht entspricht. Dennoch werde ich ihm zustimmen, nicht zuletzt deshalb,
weil selbst die verklausulierte Botschaft offenbar angekommen ist, wie unter anderem die Aktivitäten der chinesischen Botschaft der vergangenen Tage verdeutlichen.
Gleichzeitig erwarte ich aber auch, dass all diejenigen, die
hier die Menschenrechtslage in China problematisieren,
ebenfalls mit im Boot sind, wenn etwa die Menschenrechte in der Türkei, in Saudi-Arabien oder die Todesstrafe in den USA zur Diskussion stehen. Bei vielen Kolleginnen und Kollegen habe ich daran keinen Zweifel, bei
vielen leider schon.
Menschenrechte dürfen nicht instrumentalisiert werden. Man kann sie nicht gegen andere Interessen abwägen. Sie sind universell gültig. Sie sind Menschenrechte.
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Staatsminister Ludger Volmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vermag in der grundsätzlichen Einschätzung der nach wie
vor unbefriedigenden und sich weiterhin verschlechternden Menschenrechtslage in China durch dieses Haus
keine großen Unterschiede zu erkennen. Andererseits Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
auch darauf ist hingewiesen worden - wird niemand den
großen Entwicklungsschub verkennen wollen, den die
Volksrepublik China seit ihrer Gründung und insbesondere seit Aufnahme der Reform- und Öffnungspolitik erlebt hat.
Die Verschlechterung der Menschenrechtslage ist ein
Indiz dafür, dass die gesamte westliche Menschenrechtspolitik bisher wohl nicht gegriffen hat. Sonst müssten wir unsere Strategien nicht überprüfen und diese intensive Diskussion nicht führen. Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, dass Sie persönlich - ich betone:
persönlich - in dieser Frage glaubwürdig sind, ist völlig
unstrittig. Aber wenn sich Ihre Partei und Ihre Außenminister so deutlich geäußert hätten wie Sie,
({0})
dann hätte sich die Situation ja wohl verbessern müssen,
wenn Ihre These stimmt, dass der deutsche Einfluss eine
direkte, lineare Einwirkung auf die innerchinesischen
Verhältnisse hat.
({1})
30 Jahre lang hat die F.D.P. den Außenminister gestellt.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, entweder haben die
Außenminister nichts gesagt oder es war völlig uneffektiv.
({2})
Sonst könnten Sie heute nicht festhalten, dass sich
die Verhältnisse in China verschlechtert haben. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, ich erinnere daran - das
spricht für Sie persönlich -, dass Sie seinerzeit doch die
Brocken als F.D.P.-Ministerin hingeworfen haben, weil
Sie sich in der Partei nicht durchsetzen konnten.
({3})
Aus all dem ergibt sich die Frage, wie wir es der chinesischen Seite ermöglichen, auf die europäischen Sorgen
um die Lage der Menschenrechte in China wirklich einzugehen. Dazu ist es nötig, an dieses Problem ohne Überheblichkeit heranzugehen, auch eingedenk der eigenen,
hier mehrmals beschriebenen Geschichte sowie in Kenntnis und Anerkennung der Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen.
China legt ebenso wie wir großen Wert auf den Ausbau
der bilateralen Beziehungen zu Deutschland und Europa.
Es ist grundsätzlich bereit, auch in sensiblen Fragen mit
uns zusammenzuarbeiten.
({4})
Hiervon konnte ich mich gestern in Gesprächen mit dem
Assistierenden Außenminister Chinas und heute in Gesprächen mit dem Auswärtigen Ausschuss des Nationalen
Volkskongresses selber überzeugen.
Die Bundesregierung setzt in der Menschenrechtsfrage
auf Dialog und Kooperation mit der chinesischen Regierung. Dies schließt deutliche - auch öffentliche Worte überhaupt nicht aus. Es schließt auch symbolische
Aktivitäten nicht aus. Es war der grüne Außenminister
Fischer, der den Dalai-Lama als erster offiziell auf Regierungsebene empfangen hat.
({5})
Dies ist auch der Ansatz der dem Hause vorliegenden
Beschlussempfehlung. Nur über die Fortsetzung des
Menschenrechtsdialogs auf allen politischen Ebenen wird
es gelingen, China von der Notwendigkeit substanzieller
Verbesserungen bei den Menschenrechten zu überzeugen.
Wir haben der chinesischen Seite konkrete Vorschläge für
eine intensive Zusammenarbeit im Rahmen der Rechtsstaatsinitiative unterbreitet, der die chinesische Regierung
im November 1999 zugestimmt hat. Wir gehen davon aus,
bis zum Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten
Ende Juni dieses Jahres Einigung über unsere prioritären
Projekte zu erzielen.
Die Bundesjustizministerin und die Vizepräsidentin
des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Vollmer, werden
morgen nach China reisen, um an einem hochrangig besetzten Seminar zur Rechtsbindung der Verwaltung und
zum Individualrechtsschutz teilzunehmen, das unsere
Botschaft in Peking gemeinsam mit der Chinesischen
Akademie für Sozialwissenschaften vorbereitet hat. Im
Rahmen unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der VR China bildet die Kooperation im Rechtsbereich einen Schwerpunkt, für den wir insgesamt bereits
über 60 Millionen DM bereitgestellt haben.
({6})
Mit all diesen Maßnahmen ist eine Infrastruktur geschaffen, in deren Rahmen sich jenseits der großen öffentlichen Anklagen ein Dialog entwickeln wird, von dem
wir wissen, dass er auch im Interesse Chinas ist; denn
China weiß, dass es als globale Macht nur dann von der
internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden
wird, wenn es sich demokratisiert. Wir wissen aus vielen
Studien, dass Staaten ihre internationalen Beziehungen so
wie ihre innerstaatlichen Probleme zu regeln pflegen.
Deshalb ist es im fundamentalen Interesse der internationalen Gemeinschaft, dass ein in die globale Gemeinschaft
hineinwachsendes, stärker werdendes China sich substanziell demokratisiert.
Dazu haben wir eine Dialoginitiative ergriffen. Ich lade
Sie, die Sie sich so vehement dafür eingesetzt haben, ein,
an dieser Initiative teilzunehmen. Je breiter die Berührungsflächen zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und China auf allen Ebenen sind, desto größer ist die
Chance, dass wir unsere Wertvorstellungen im Dialog
vermitteln können.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur
Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China, Drucksache 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/661 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung
einstimmig angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zu Menschenrechten in der Volksrepublik
China, Drucksache 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/2694 in der
von der Ausschussmehrheit beschlossenen Fassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sowie drei Stimmen aus der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
Fraktion der PDS im Übrigen angenommen.
({0})
- Entschuldigung, Herr Klose. Eine Gegenstimme aus
den Reihen der SPD-Fraktion.
({1})
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Für eine China-Resolution der
VN-Menschenrechtskommission“, Drucksache 14/3517.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
- Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes
({2})
- Drucksache 14/3141 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokoll
genommen werden.*) Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3141 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Evelyn Kenzler,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens ({3})
- Drucksache 14/1993 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder
({5})
- Drucksache 14/2933 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Deichmann
Dr. Michael Luther
Hier werden alle Reden bis auf die der Kollegin
Kersten Naumann zu Protokoll genommen.
({6})
- Jetzt habe ich es richtig gemacht; vielen Dank für den
Beifall.
Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist der Knackpunkt in dieser Debatte? Die PDS sagt: Gesellschaftliches Eigentum darf
nicht auf Teufel komm raus privatisiert werden.
({0})
Der Abgeordnete Dr. Michael Luther von der
CDU/CSU hat der PDS bei der ersten Lesung unseres Antrags vorgeworfen, wir würden damit über kurz oder lang
in alte, längst überholte und von der Geschichte ad absurdum geführte Zustände zurückfallen. Der Abgeordnete
Jürgen Türk von der F.D.P. assistierte ihm mit der Bemerkung, die PDS kann es nicht verwinden, dass die Zeit des
gesellschaftlichen Eigentums an Grund und Boden
passé ist.
({1})
Ich hoffe, dass auch dem Kollegen Türk nicht entgangen ist, dass ein Staat ohne gesellschaftliches Eigentum an
Grund und Boden nicht denkbar ist.
({2})
Wir halten es nicht wie Dr. Luther für einen absurden Zu-
stand, wenn sich in den westlichen Bundesländern circa
4 Millionen Hektar Wald in Staats- und Körper-
schaftseigentum befinden. Das sind immerhin 73,8 Pro-
zent der Gesamtfläche.
*) Anlage 11
Die PDS fordert keine Enteignung, wie sie leider durch
die Länder gegenwärtig auf der Grundlage des Art. 233
EGBGB erfolgt. Wir wollen die Nichtprivatisierung von
Bodenreformflächen. Dabei befinden wir uns in voller
Übereinstimmung mit dem bayerischen Landwirtschaftsminister Josef Miller, was ja nicht so ganz alltäglich ist.
({3})
Dieser informierte laut „AgraEurope“ vom 7. Februar darüber, dass
unter dem Aspekt des Gemeinwohls ... die Bayerische Landesregierung einer Privatisierung der
Staatsforsten schon im November 1999 eine klare
Absage erteilt hat.
Es heißt weiter:
Mit der Haltung der Landesregierung
ist
... auch einer einseitig gewinnorientierten Ausrichtung ein Riegel vorgeschoben worden.
Ich frage Dr. Luther: Ist aus solchen Bemerkungen zu
schlussfolgern, dass in Bayern absurde Zustände herrschen? Offensichtlich hat auch der Abgeordnete Jürgen
Türk nicht Recht, dass die Zeit des gesellschaftlichen
Eigentums an Grund und Boden passé ist.
Die PDS fordert lediglich, dass in den neuen Bundesländern so viel Bodenreformwald in Staatsbesitz bleibt
wie in Bayern und Baden-Württemberg. Das bedeutet,
dass keine Bodenreformwaldflächen privatisiert werden.
Der Vorwurf, die PDS folge einer überholten Ideologie, ist
nicht mehr als hilflose und unsachliche Argumentation.
({4})
Die Realitäten bestehen in Folgendem: Erstens. Die
Privatisierung wird nur in sehr begrenztem Umfang dazu
führen, dass sich die Pachtzahlungen der Landwirtschaft
verringern werden. Die neuen Bodeneigentümer werden
den erworbenen Boden meist nicht selbst bewirtschaften
bzw. sie werden auch Pacht verlangen, wenn sie sich an
Gemeinschaftsunternehmen beteiligen. Dann werden allerdings private statt staatliche Taschen gefüllt.
Zweitens. Der Abgeordnete Dr. Luther ist der Meinung, Private sind auf Dauer immer die besseren und effektiveren Bewirtschafter von Gütern, besser als es der
Staat je sein kann. Ob diese Aussage richtig ist, kann offen bleiben; denn um die Bewirtschaftung geht der Streit
ja gar nicht. Wir wollen nur, dass die Politik auf eine Entwicklung reagiert, die sich in beiden Teilen Deutschlands
vollzieht. Sie ist dadurch charakterisiert, dass der Bewirtschafter und der Eigentümer zunehmend voneinander getrennt werden.
Jahr für Jahr steigt der Anteil der Pachtflächen in Westdeutschland. Zu Recht ist nirgendwo davon die Rede, dass
deshalb die Verpächter zum Bodenverkauf gezwungen
werden sollen.
Drittens. Wenn es um das Gemeinwohl geht, erweisen
sich die Rahmenbedingungen für die Nutzung des privaten Eigentums als nicht ausreichend. Aus gutem Grund
gibt es deshalb Art. 15 des Grundgesetzes.
({5})
Beim Antrag der PDS geht es nicht um Enteignungen,
sondern die Ablehnung des Verschleuderns von gesellschaftlichem Eigentum, was für eine am Gemeinwohl orientierte Politik unverzichtbar ist.
({6})
Diese Position hat auch die CDU in ihrem Ahlener Programm vertreten. Zur Erinnerung an diese vor 55 Jahren
beschlossenen Grundwerte erlaube ich mir, daraus zu zitieren:
({7})
- Die werden Sie hoffentlich nachgelesen haben.
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen
Volkes nicht gerecht geworden.
Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser
sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann
nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres
Volkes sein.
Bei allen Reformen der deutschen Wirtschaft, mag es
sich um Bodenreform, Neuaufbau der industriellen
Wirtschaft oder Neugestaltung des Verhältnisses
zwischen Arbeitnehmern und Betrieb handeln, ist das
erste und vornehmste Ziel das Wohl des gesamten
Volkes. Die deutsche Wirtschaft hat weder in erster
Linie dem Wohle einer bestimmten Schicht zu dienen
noch dem Auslande.
So weit aus dem Ahlener Programm.
Mit dem staatlichen Eigentum an den Bodenreformflächen bestehen - entgegen den Äußerungen der Abgeordneten Steffi Lemke in der ersten Lesung - klare Eigentumsverhältnisse: Das ist gesellschaftliches Eigentum. Dieses kann, wie die zurückliegenden zehn Jahre
zeigen, sehr wohl Grundlage einer tragfähigen Wirtschaftspolitik sein.
Der PDS geht es mit ihrem Antrag um die Sicherung
der Einflussnahme des Staates im Sinne des Boden-, Umwelt- und Naturschutzes, aber auch um kontinuierliche
Einnahmen des Staates, die wie die Vergabe dieser Mittel
einer demokratischen Kontrolle unterliegen.
Machen Sie deshalb Schluss mit Ihrem Schreckgespenst „gesellschaftliches Eigentum“! Liefern Sie nicht
alles gnadenlos dem Markt aus! Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung für das lebenswichtige Gut des
Menschen - den Boden. Der Antrag der PDS wird dieser
Verantwortung gerecht. Stimmen Sie deshalb unserem
Antrag zu!
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Treuhandgesetzes
auf Drucksache 14/1993. Der Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder empfiehlt auf Drucksache 14/2933, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse
über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1993 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Juni 2000, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.