Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/8/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, Frau Albowitz! Herzlich willkommen! Guten Morgen, meine Damen und Herren! Es gibt wirklich noch angenehme Ereignisse zusätzlich zu dem, was wir ohnehin in diesem Hause immer wieder positiv erleben. Ich rede nicht nur für die SPD-Fraktion, sondern in diesem Fall auch für die CDU/CSU-, die Grüneund die F.D.P.-Fraktion, wenn ich feststelle, dass es Sinn macht und wichtig ist, dass wir die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses von gestern Abend heute hier im Plenum behandeln, absegnen, dem Bundesrat überweisen, damit er sie morgen behandeln kann. Wir wissen dann alle, dass in den vier Komplexen, die behandelt worden sind, nun Einigkeit herrscht und wir damit umgehen, die Gesetze in Kraft setzen können. Es geht darum, dass die PDS dieses Verfahren nicht für angemessen hält und sich dagegen wehrt. Ich will darauf hinweisen, dass ich mich gar nicht auf die Geschäftsordnung beziehen möchte. Mit Blick darauf ist die Sache nicht ganz ausdiskutiert und rechtlich geklärt, ob wir unter dem Aspekt der Fristeinrede die Möglichkeit hätten oder nicht. Wir sind der Auffassung, wir können das tun. Es ist im Übrigen in diesem Hause eine langjährige Übung, mit den Ergebnissen des Vermittlungsausschusses eines Mittwochs am Donnerstag ins Plenum des Bundestages zu gehen, damit am Freitag der Bundesrat darüber beraten kann. Das Entscheidende ist, dass wir alle gemeinsam den Anspruch haben, dieses zügige Verfahren, wenn man sich in diesem Gremium über die Grenzen von Parteien und Fraktionen hinweg geeinigt hat und die Länder einbeziehen konnte, alsbald zu Ende zu bringen. So steht es jedenfalls in der Geschäftsordnung des Bundestages und dies halten wir für die tragende Regelung. Ich kann andererseits verstehen, dass die PDS zum wiederholten Mal darauf aufmerksam machen möchte, dass sie nicht Mitglied im Vermittlungsausschuss ist. Dies hat allerdings seine Grundlagen, und zwar in den gesetzlichen Bestimmungen und in der Geschäftsordnung des Bundestags. Darüber haben wir mehrfach diskutiert, das ist nicht unrechtmäßig, sondern ein ganz normaler Vorgang; denn nach d’Hondt hat die PDS keine Möglichkeit, in das 16er-Gremium auf Bundestagsseite einzuziehen. Ich will deswegen darauf aufmerksam machen, weil ich finde, dass wir an dieser Stelle nicht noch einmal die alten Schlachten führen müssen, nur damit die PDS ihre Öffentlichkeit bekommt. Sie aber will die Geschäftsordnungsdebatte, nun soll sie sie auch haben. Ich will darauf hinweisen, dass wir gestern - wir werden das heute Mittag im Rahmen der normalen Tagesordnung beraten - nach langer Debatte - sie dauerte über sechs Stunden - im Vermittlungsausschuss zu allen vier Komplexen ein echtes Ergebnis zustande gebracht haben. Ich finde das sehr ermutigend, auch für die Atmosphäre und die Arbeit hier im Haus. Von daher ist es schon wichtig, dass wir auch der Öffentlichkeit die Ergebnisse präsentieren und uns auf diese Weise selbst entsprechend binden. Ich finde es im Übrigen sehr spannend, dass die PDS selbst durch ihren Vorsitzenden Gysi - Herr Gysi, ich habe mir das heraussuchen lassen - am 26. September 1997 vehement Wert darauf gelegt hat, dass die damaligen Vermittlungsausschussergebnisse vom Tag zuvor unverzüglich im Bundestag behandelt wurden. Warum Sie heute, drei Jahre später, zu einer anderen Erkenntnis kommen, bleibt mir verschlossen. Von daher sind Sie etwas widersprüchlich, deshalb sollen Sie das auch begründen. Ich empfehle das Protokoll der 193. Sitzung der 13. Legislaturperiode Ihrer Aufmerksamkeit. Vizepräsident Rudolf Seiters Ich will, dass wir an dieser Stelle einig sind; denn mir ist sehr wichtig, dass wir heute die Vermittlungsausschussergebnisse behandeln. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung und sage das im Namen aller Fraktionen außer der PDS. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun für die PDS-Fraktion der Kollege Roland Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt hat schon angekündigt, dass ich namens der PDS-Fraktion diesem Antrag widersprechen möchte. Ich denke, Sie haben sich mit einer Begrifflichkeit verraten, Herr Schmidt. Sie haben nämlich vom „Absegnen“ der Beschlüsse des Vermittlungsausschusses gesprochen. ({0}) Das macht kenntlich, um was es hier geht. Wir können im Moment die Beschlüsse nämlich gar nicht als Drucksachen des Bundestags vorfinden. ({1}) Nicht die PDS-Fraktion hat die Geschäftsordnungsdebatte beantragt, sondern Sie haben das machen müssen, weil nicht wir, sondern Sie von der bestehenden Geschäftsordnung abweichen wollen. Wir wollen nur auf den Sinn der Frist hinweisen. Die Geschäftsordnung ist doch nicht ein undurchsichtiges Regelwerk. Wenn in der Geschäftsordnung steht, die Abgeordneten sollen mindestens einen Tag Zeit haben, sich mit einer Beschlussgrundlage zu befassen, dann macht das in hohem Maße Sinn. Ich finde, es ist auch nicht richtig, an dieser Stelle zu sagen, die PDS habe nur ein Eigeninteresse. Es geht uns alle an, wenn wir bereit sind, über Dinge zu beschließen, die überhaupt noch nicht vorliegen. ({2}) Der Vermittlungsausschuss hat gestern Abend über so spannende und sensible Themen wie das Stiftungsrecht und das Abgeordnetengesetz befunden. Ich will Ihnen jetzt das Problem nennen, das wir damit haben. Dass wir nicht im Vermittlungsausschuss vertreten sind, haben wir registrieren müssen. Hier sind wir Demokratinnen und Demokraten genug, dass wir begreifen, dass in einem 16er-Gremium eine solche Regelung eintreten kann. Was wir aber kritisieren, ist, dass Sie uns mit diesem Verfahren jegliche Chance nehmen, uns überhaupt sachgerecht auf eine Entscheidung vorzubereiten. ({3}) Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, uns mit den Inhalten zu befassen. Wenn man an der Kompromisssuche nicht beteiligt ist, muss einem wenigstens die Möglichkeit eingeräumt werden, das Nachvollziehen zu leisten. Das haben Sie an anderen Stellen auch schon akzeptiert. Was haben wir nun beantragt? Wir haben in den Vorrunden der heutigen Debatte lediglich beantragt, die Beschlussfassung von dem heutigen auf den morgigen Tag zu verlegen. Dies ist nun nicht gerade ein sonderlich linksradikaler Ansatz, den wir verfolgen. ({4}) Da wundert es einen schon, wenn sich CDU und SPD in dieser Sache so schrecklich einig sind. Die CDU hat vor kurzem angekündigt, sie wolle eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der PDS suchen. Dies ist wohl längst vergessen. Für die SPD ist es allerdings - so finde ich - ein Rückfall hinter die eigenen Vorsätze bezüglich des Umganges mit anderen Fraktionen dieses Hauses. Nun sagen manche: Bei der SPD ist der Rückfall der Vorsatz. Ich bin damit etwas vorsichtiger, aber ich finde, Sie lassen sich den Umgang mit der PDS nach wie vor von der CDU vorschreiben, und das halten wir für kritikwürdig. Nun steht es in der Macht Ihrer Mehrheit, die Ordnung des Bundestages außer Kraft zu setzen, Wahrheiten und Mehrheiten zu verwechseln. Das können Sie alles machen, Sie können aber nicht allen Ernstes erwarten, dass wir das unwidersprochen hinnehmen. Deshalb werden wir dagegen stimmen. Parlamentsrecht muss Parlamentsrecht bleiben, auch wenn es um die kleinste Fraktion geht. ({5}) Nun wird die ganze Sache nicht besser, wenn Sie, Herr Schmidt, sagen: Das ist langjährige Übung, das haben wir schon oft gemacht. Selbstverständlich - wenn Sie Herrn Gysi zitieren, wissen Sie das doch von uns - sind wir, wie unser Vorsitzender, eine flexible Fraktion. Mit uns ist manches zu machen. Aber das hängt von der Art und Weise der Behandlung ab. In dieser Woche gab es ein Beispiel für einen anderen Umgang. Es gab einen recht kurzfristigen Antrag der Bundesregierung zum Kosovo. Wir hätten auch dort mit Fristen operieren können. In diesem Fall hat sich der Bundesverteidigungsminister zu Vertreterinnen und Vertretern unserer Fraktion bemüht. Wir sind in die Dinge eingeweiht worden. Ich denke, daraus wird nicht gerade eine langjährige Männerfreundschaft entstehen, denn wir sind inhaltlich meilenweit auseinander, aber dies war eine andere Art des Umgangs. Das ist das, was wir hier einklagen. Ich sage Ihnen nochmals: Sie haben die Chance, das zu tun, was Sie tun wollen, nämlich die Ordnung des Bundestages außer Kraft zu setzen. Im Moment haben Sie aber auch noch die Chance, dies zu unterlassen. Im Übrigen vermitteln Sie das Bild eines Wanderers im Walde, der sich verirrt hat, aber mit leichter Uneinsichtigkeit von sich gibt: Die Karte ist richtig, aber die Gegend ist falsch. Schönen Dank. ({6}) Wilhelm Schmidt ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der SPD? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses mit der erforderlichen Mehrheit gegen die Stimmen der PDS angenommen. Gemäß § 29 Abs. 3 der Geschäftsordnung gebe ich dem Kollegen Jürgen Koppelin das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage ausdrücklich, dass ich nicht für meine Fraktion spreche. Ich möchte einige Anmerkungen zur heutigen Tagesordnung machen. Ich finde es nicht in Ordnung, dass uns heute eine Tagesordnung mit einem voraussichtlichen Ende gegen 3 Uhr vorgelegt wird. Ich finde, dies ist eines Parlamentes nicht würdig. ({0}) - Ich kann das verstehen, aber Sie sind wahrscheinlich heute die Frühschicht für Ihre Fraktion und die anderen nachher sind die Spätschicht. Ich jedoch denke auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses und unseres Parlaments, die ebenfalls so lange hier arbeiten und präsent sein müssen. Dies entspricht nicht der Fürsorgepflicht des Ältestenrates gegenüber diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Vor diesem Hintergrund finde ich es nicht in Ordnung, dass wir eine so lange Tagesordnung haben. ({1}) Aber der Grund dafür, dass ich mich gemeldet habe, ist etwas, worüber ich mich sehr ärgere. Dazu möchte ich auch einen Antrag stellen. Nun ist es bereits zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit der Fall, dass wir das Thema „Menschenrechtsverletzungen in China“ zur späten Nachtstunde diskutieren. Es war vorgesehen - man stelle sich das einmal vor -, dieses wichtige Thema um etwa 1.30 Uhr heute Nacht zu beraten. Nach Rücksprache mit der Kollegin, die für unsere Fraktion sprechen wird, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden die Rede nicht zu Protokoll geben. Früher, als Sie, Rot-Grün, in der Opposition waren, wäre dieses Thema sicherlich niemals in den Nachtstunden diskutiert worden. Seitdem Sie in der Regierung sind, drücken Sie es in die späten Nachtstunden hinein. Das finde ich nicht in Ordnung. ({2}) Herr Präsident, daher beantrage ich, die Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in China im Anschluss an den ersten Tagesordnungspunkt, den wir heute behandeln, nämlich die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte, zu diskutieren. Vielen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Wilhelm Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin schon etwas verwundert über den Antrag des Kollegen Koppelin, unabhängig davon, dass ich jetzt nicht sicher einschätzen kann, ob er die volle Rückendeckung seiner Fraktion hat. Das ist offensichtlich nicht der Fall, wie ich durch die Kopfbewegungen auf der F.D.P.-Seite erkennen kann. ({0}) Ich will nur darauf hinweisen, dass wir im Kreis der Geschäftsführer der Fraktionen und dann im Ältestenrat alle gemeinsam - durch die entsprechenden Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen - die Tagesordnung beschließen. Was diesen Punkt angeht, Herr Koppelin, hat sich kein Widerspruch gezeigt, sodass ich nur sagen kann: Im Einvernehmen zwischen allen Fraktionen war nichts anderes möglich, als den Tagesordnungspunkt betreffend die Menschenrechte in China an der Stelle, die Sie eben bezeichnet haben, zu platzieren. Ich will das nur noch einmal der Ordnung halber festgestellt haben. Von daher kann ich Ihren Widerspruch nur als persönlichen empfinden. Den respektiere ich; aber mehr ist an der Stelle nicht zu machen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich lasse über den Antrag abstimmen. Wer für den Antrag des Kollegen Koppelin ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Weltkonferenz zur Zukunft der Städte - Urban 21 - in Berlin am 4. bis 6. Juli 2000 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Reinhard Klimmt.

Reinhard Klimmt (Minister:in)

Politiker ID: 11005297

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist in diesem Jahr Gastgeber für die Welt, zum einen auf der EXPO, die ich übrigens schon zweimal mit Gästen aus anderen Ländern besuchen konnte. Sie ist mit Sicherheit besser als der Ruf, der augenblicklich verbreitet wird. Ich kann Sie also nur dazu ermutigen, hinzugehen, sich die EXPO zusammen mit den anderen Menschen, die aus allen Teilen der Welt zu uns kommen, anzuschauen. Sie ist einen Besuch wert. Wir richten zum anderen vom 4. bis 6. Juli 2000 im Zusammenhang mit der EXPO die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte - Urban 21 - aus. Zur Eröffnung werden der Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan, das für Stadtentwicklung zuständige Mitglied der Europäischen Kommission Michel Barnier und Bundeskanzler Gerhard Schröder sprechen. Mit dieser Konferenz wird der internationale Dialog über Umwelt und Entwicklung - die Stichworte „Rio 1992“ und „Habitat II 1996“ sind Ihnen bekannt -, der Dialog über die Probleme der Städte weiter fortgesetzt. Urban 21 wurde gründlich vorbereitet. Dies gilt sowohl für die alte als auch für die neue Bundesregierung. Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich Klaus Töpfer danken, der den Anstoß für diese Konferenz gegeben hat. ({0}) Der Konferenz gingen vier regionale Vorbereitungskonferenzen voraus - in Brasilien, in Singapur, in Südafrika und in Deutschland -, die in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedliche Probleme repräsentierten. Eingebunden in den Urban-Prozess sind übrigens auch die „Global Parliamentarians on Habitat“. Beteiligt an dieser Gruppe ist ja auch der Deutsche Bundestag; verantwortlich führend ist das Mitglied des Bundestages Peter Götz. Auch ihm und allen seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern möchte ich herzlich für das danken, was sie zur Vorbereitung dieser Konferenz geleistet haben. ({1}) Grundlage für die Diskussion auf der Weltkonferenz wird der Bericht der eingesetzten Weltkommission sein. An den Sitzungen der Kommission, die mehrfach stattgefunden haben, hat auch Franz Müntefering teilgenommen. Ich hatte die Ehre, an der letzten Sitzung, auf der wir die Arbeitsergebnisse zusammengefasst haben, teilzunehmen. Ich werde sie Ihnen kurz darstellen. Aber zunächst eine allgemeine Vorbemerkung. Der Bericht belegt deutlich, wie sehr die Welt zu einer städtischen Welt geworden ist. Dieser Prozess der Verstädterung hält an. Die Frage, wie die Städte auch in Zukunft lebensfähig bleiben, gehört für uns alle - das gilt weltweit - zu den dringendsten Herausforderungen der Politik. Wir sehen mit Sorge, wie massiv die Weltbevölkerung vor allem in den Städten wächst. Wir erwarten, dass im Jahre 2025 fast 100 städtische Ballungsräume mehr als 5 Millionen Einwohner haben werden und dass es Megacities mit bis zu 30 Millionen Einwohnern geben wird. Etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung werden dann in den Städten leben; zurzeit sind es bereits 50 Prozent. Daher gibt uns der Weltbericht konkrete Aufgaben, mit denen wir uns auseinander setzen müssen, wenn wir dieses Problem bewältigen wollen. Erstens. Wir müssen darauf achten, dass die zunehmende Zersiedelung nicht weitergeht. Der Raum, auf dem wir leben, wird immer knapper, auch wenn wir beim Überfliegen unseres Landes sehr viele Freiflächen feststellen können. Diese Zersiedelung ist eines der Probleme, das wir unbedingt steuern müssen, wenn wir an zukünftige Generationen denken: ({2}) Zweitens. Wir müssen in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft - wir können das nicht allein durch Verordnungen und Gesetze leisten - dafür Sorge tragen, dass die ökologischen Fragen auch in der Produktion stärker berücksichtigt werden. Wir sind sehr erfolgreich in der Rationalisierung, wenn es darum geht, menschliche Arbeitskraft einzusparen. Aber wenn es darum geht, den Ressourcenverbrauch einzuschränken, sind wir nicht so erfindungsreich. Es geht vor allem um Ressourcenrationalisierung. Das ist unser Appell an die Wirtschaft, daran auch in der Zukunft mitzuwirken. ({3}) Wir brauchen die Stärkung und die Verstärkung der städtischen Selbstverwaltung und wir brauchen die Stärkung und die Verstärkung der kulturellen Verantwortung in den Städten. All diese Elemente gehören zusammen. Auch wir in den entwickelten Regionen, als die wir uns empfinden, müssen daran arbeiten. Die Qualität der Stadt hat einen bedeutenden Einfluss auf die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und auf den sozialen Frieden. Städtebaupolitik ist auch Standortpolitik. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Strukturwandel und städtischer Entwicklung. Der Bericht zeigt, dass sich die großen politischen Fragen unserer Zeit in den Städten fokussieren. Bundespräsident Johannes Rau hat zu Recht festgestellt, dass die Auswirkungen der weltweiten Modernisierung in besonderer Weise in den Städten zu spüren sind. Städte sind sozusagen Brennpunkte dieser Entwicklung. Sie sind aber nicht nur Brennpunkte, sondern sie sind gleichzeitig auch ein Motor, der uns nach vorne bringen kann. ({4}) Urban 21 ist die erste große Weltkonferenz in Berlin in seiner neuen Rolle als Bundeshauptstadt. Wir erwarten etwa 2 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Teilen der Welt. Dies zeigt: Deutschland ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Urban 21 und die Weltausstellung EXPO in Hannover unterstreichen das in besonderer Weise. Wir haben damit eine neue Rolle in der Welt angenommen. Sowohl die Weltausstellung als auch die Weltkonferenz stehen für unseren Willen, international Verantwortung zu übernehmen. Wir sind bereit, in der immer stärker zusammenwachsenden Welt an der Lösung globaler Probleme mitzuarbeiten - wohlgemerkt: mitzuarbeiten! Wir haben nicht die Absicht, irgendjemandem Vorschriften zu machen. Zu diesen Herausforderungen der Mitarbeit gehört die Urbanisierung mit all ihren Folgen für die Lebensqualität in unseren Städten. Das europäische Stadtmodell ist dabei ein guter Ausgangspunkt, da die Urbanisierung Chancen und Risiken zugleich bietet. Die Lebensform Stadt bietet zum einen ganz offensichtlich das größte Entwicklungs- und Innovationspotenzial und ist damit Motor des Fortschritts. Es gibt eine hohe Kommunikationsdichte und sehr gute Möglichkeiten der Wissensvermittlung und -vermehrung. Dies sind ausgezeichnete Voraussetzungen auch für wirtschaftliches Wachstum. Zum anderen dienen besonders - das hängt mit dieser Einschätzung zusammen - die Metropolen anderer Kontinente, aber auch die Großstädte bei uns, als Zufluchtsstätte für Menschen, die vor Armut und vor anderen sozialen Problemen flüchten. Beiden Feststellungen ist eines gemeinsam: Sie verkörpern das Prinzip Hoffnung, das mit den Städten verbunden ist. Deswegen wollen wir diese Hoffnung als solche auch ernst nehmen. Wir müssen aber auch gleichzeitig sehen, dass mit dieser Urbanisierung die Risiken wachsen. Es ist eine Erfahrung, die wir mit fast allen anderen Ländern teilen. Wenn in den städtischen Problembereichen nicht rechtzeitig soziale Konflikte erkannt und abgetragen werden, dann kippt das soziale und wirtschaftliche Gleichgewicht in einer Gesellschaft. Deswegen dürfen wir nicht wegsehen und untätig bleiben, sondern müssen dafür sorgen, dass die städtischen Balancen erhalten bleiben. Es geht darum, dass wir unsere Gesellschaft insgesamt in Takt halten, wenn wir unsere Städte in Takt halten. ({5}) In Europa haben wir vergleichsweise weniger Probleme als in anderen Regionen der Welt. Ich glaube, das liegt daran, dass wir in Europa über Jahrhunderte hinweg ein Stadtmodell herausgebildet haben, das bei den Menschen auf hohe Akzeptanz stößt. Es ist ein Stadtmodell, das heute mehr bietet als nur die Summe aus Wohnraum, Supermärkten und Tankstellen. Es ist ein Stadtmodell, das ein soziales Gefüge darstellt. ({6}) Ich trete entschieden dafür ein, dass wir uns für unser europäisches Stadtmodell weiter engagieren. Ich möchte, dass wir unsere Kräfte bündeln und sicherstellen, dass unsere Städte auch weiterhin kulturelle, wirtschaftliche und politische Mitte sind. Nur so kann sich mit der Stadt weiterhin das verbinden, was sich mit dem Begriff der sozialen Freiheit gut umschreiben lässt. ({7}) Meine Damen und Herren, die Bürger der Städte sollen sich mit ihrer Stadt identifizieren können. Sie dürfen ruhig Lokalpatrioten und stolz auf ihre Stadt sein. Denn dieser Stolz kann zu weiterem Engagement motivieren. Dazu gehört auch, dass wir historisch gewachsene Strukturen bewahren und damit das individuelle Gesicht unserer Städte. Nun ist zu fragen: Warum haben wir in Europa andere Städte? Ein ganz entscheidender Grund für diese europäische Stadtentwicklung liegt aus meiner Sicht - erstens - darin, dass die öffentliche Hand in Fragen der Stadtentwicklung nie von ihrer Verantwortung entbunden worden ist - und das aus gutem Grund. Der Staat muss sich kümmern, das heißt: Bund, Länder und Kommunen. Denn die Städte sind hoch verdichtete Lebensräume, deren Organisation den Rahmen garantieren muss. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir Bebauungspläne entwerfen, die zu akzeptieren sind, auch wenn sie einem oftmals nicht passen, wenn man gern etwas nach eigenem Gusto bauen würde und klare individuelle Vorstellungen hat. Wenn sie mit dem kollidieren, was gesellschaftlich notwendig ist, muss man sich der Planung beugen. Zweitens. Der Staat muss sich auch um die Schwachen kümmern. Soziale Unterstützung und Umweltschutz werden ohne staatliche Verantwortung nicht funktionieren. Das gilt auch für die Arbeit in diesem Hause in den verschiedensten Bereichen. Wir haben Verantwortung für die soziale Entwicklung, wir haben Verantwortung für den Umweltschutz und müssen uns dem immer wieder stellen, wenn es darum geht, die gesetzgeberische Arbeit zu tätigen. ({8}) Schließlich drittens: Es gibt in unseren Städten etwas wie Verantwortung für Tradition, Geschichte und Kultur. Ein gutes Beispiel dafür ist der Erhalt unserer Innenstädte. Innenstädte sind oft das kulturelle und politische Gedächtnis einer Stadt, sozusagen die Mitte, in der sich alles fokussiert, was aus der Vergangenheit noch bewahrenswert für die Gegenwart erscheint. Für diese Funktion ist es wichtig, dass wir den öffentlichen Raum erhalten, dass etwas für alle vorhanden ist, in dem sie sich wiederfinden können und Rechte haben. Es geht nicht, dass man nur von einem privaten Segment in das andere schreitet, und dafür gefälligst um Erlaubnis zu bitten hat. ({9}) Hieraus ziehe ich eine erste Schlussfolgerung. Wir müssen uns wieder stärker auf die Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben, besinnen. In der jüngsten Vergangenheit war oft die Rede davon, ohne den Staat würde alles viel, viel besser laufen. Dieser Vulgärliberalismus hat sich als untauglich erwiesen und ist auch nicht der F.D.P. zu unterstellen, die in diesem Hause die Liberalität für sich reklamiert. Aber ich weiß, dass diese Denkweise auch in allen anderen Fraktionen zu Hause ist. ({10}) - Sie werden uns erlauben, dass auch wir uns als liberal empfinden. Aber in der Ablehnung eines vulgären Liberalismus sind wir uns offensichtlich einig. Die Weltbank hat 1997 klargestellt, dass uns Laissezfaire auf der einen Seite oder Staat als Allheilmittel auf der anderen Seite als Extrempositionen nicht weiterhelfen. Hier sehe ich ein ganz wichtiges Ergebnis des Urban-Prozesses. Schon die regionalen Vorkonferenzen haben sehr deutlich gezeigt: Der Staat kommt in neue Verantwortung. Es geht um eine Renaissance des aktiven Staates. Es geht nicht etwa um den omnipräsenten, den bevormundenden Staat, der die Menschen in Schubladen oder in Einheitsformate pressen möchte. Nein, es geht um den aktiven Staat und natürlich gleichzeitig auch um den aktivierenden Staat, der die Menschen in die Lage versetzt, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. ({11}) Auch wir wollen uns mit unserer Arbeit an den großen Handlungsfeldern des Urban-Prozesses beteiligen. Erstens. Wir werden durch Reformen in der Wohnungspolitik mehr Gerechtigkeit schaffen. Zweitens. Wir leisten konkrete Beiträge, um die Sicherheit in den Städten zu erhöhen. Drittens. Der Innovationsmotor Stadt muss angeworfen werden und weiterlaufen. Es geht darum, in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft innovative Lösungen zu entwickeln, damit Verkehr, Wohnen und Arbeiten in den Städten noch besser in Einklang gebracht werden. ({12}) Das heißt im Einzelnen - zunächst zur Wohnungspolitik -: Erstens. Wir haben die Wohngeldnovelle gemacht. Mit ihr haben wir eine Gerechtigkeitslücke der letzten Jahre geschlossen. Die Wohngeldnovelle versetzt nicht nur die betroffenen Mieter in die Lage, sich jetzt wieder höhere Mieten zu leisten, sondern erweitert auch den Investitionsspielraum der Hauseigentümer. Wir tun sowohl etwas für die soziale Situation der Mieter als auch für die Entwicklung der Baukonjunktur. Die Wohltaten sozialer Natur kommen in wunderbarer Weise mit der ökonomischen Rationalität zusammen. Deswegen ein Dankeschön, dass die Wohngeldnovelle so beschlossen worden ist. ({13}) Zweitens. Wir werden den sozialen Wohnungsbau reformieren. Das Entscheidende ist, dass wir endlich die Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes erhöhen. Damit soll keine Kritik an der Politik der Vergangenheit geübt werden. Die Verhältnisse verändern sich eben und wir uns mit ihnen. Dementsprechend müssen wir unsere Instrumente anpassen. Dabei dürfen wir nicht nur immer das Gesamtvolumen im Auge behalten; vielmehr müssen wir die Zielgenauigkeit erhöhen, damit die knappen Mittel, die wir haben, dort eingesetzt werden, wo sie am meisten Nutzen und Segen bringen. ({14}) Die Gewährleistung der Sicherheit in unseren Städten ist auch deswegen so wichtig, damit wir nicht diejenigen, die es sich leisten können, in den Speckgürtel entlassen und so die Gefahr der Verslumung in den Innenstädten weiterwachsen lassen. Den sich momentan vollziehenden Prozess, nämlich dass die Besserbetuchten ins Umland ziehen und die mit Problemen Behafteten in die Städte hineinziehen, müssen wir umkehren. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die tendenzielle Entmischung der Bevölkerung nicht fortsetzt und dass wir in unseren Städten zusammenleben. Deswegen sage ich für Deutschland: Sicherheit hat auch etwas damit zu tun, ob wir mit sozial gefährdeten Nachbarschaften verantwortlich umgehen. Mit dem Programm „Soziale Stadt“ hat die Bundesregierung einen neuen und, wie wir jetzt schon sehen können, auch einen sehr erfolgreichen Ansatz gewählt. ({15}) Das Programm fasst die Ressourcen verschiedener Ressorts zusammen und bündelt so die Kräfte. Wenn Sie so wollen, verändern wir damit auch die Software und nicht nur die Hardware staatlichen Handelns. Bis Ende 2003 gibt der Bund jährlich 100 Millionen DM für dieses Programm aus. Mit den Mitteln der Länder und der Kommunen - diese vergesse ich nicht, Herr Kollege Oswald sind das für den gesamten Förderzeitraum 1,5 Milliarden DM. Jeder beteiligt sich daran. Hinzu kommen Mittel anderer Ressorts und der EU. Dies bedeutet, dass wir sehr viele Projekte auf den Weg bringen können. Mittlerweile sind es schon rund 160 Projekte, die wir mit großem Erfolg vorantreiben und weiter vorantreiben werden. Zu unserer Politik für die Zukunft und für die Sicherheit der Städte gehört auch, dass wir gerade den jungen Menschen Entwicklungsperspektiven geben. Mit dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit hat die Bundesregierung über 180 000 Jugendliche fördern können. Dieses Programm hat merklich zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit beigetragen. Damit kein Zweifel besteht, möchte ich auch die Wertung zum Ausdruck bringen: Die Arbeitslosenquote lag mit 10,5 Prozent immer noch viel zu hoch, aber doch deutlich unter der aller anderen Altersgruppen. Die dadurch ausgelösten positiven Effekte auch für unsere Städte kann man nicht hoch genug einschätzen. Unsere erste Pflicht ist die Verbesserung des individuellen Schicksals der jungen Menschen. Wir wissen: Wenn wir jungen Menschen eine Lebensperspektive geben, wenn wir ihnen das Gefühl geben, dass die Gesellschaft sie braucht, dann sind sie in der Lage, verantwortlich zu handeln und sich in den gesellschaftlichen Prozess zu integrieren. ({16}) Sicherheit heißt aber auch, dass sich die Schwächeren - ich denke an die Kinder - im Verkehr sicher bewegen können; insofern ist die Verkehrssicherheit auf unseren Straßen von sehr großer Bedeutung. Auch das wird etwa bei der Ausweitung der Tempo-30-Zonen in den Städten und beim Verkehrssicherheitsprogramm, das wir zurzeit mit den Verbänden erarbeiten, eine Rolle spielen. Ich hoffe, dass es uns auf diese Art und Weise gelingt, die Anzahl der Unfälle, deren Auswirkungen uns noch immer quälen und mit denen wir uns weiterhin beschäftigen müssen, zurückzuführen und damit die Sicherheit auf unseren Straßen zu erhöhen. Ich möchte mich jetzt dem dritten Handlungsfeld zuwenden. Es geht darum, dass wir in Abstimmung und in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und denjenigen, die am Prozess der Lokalen Agenda 21 beteiligt sind, innovative Lösungen entwickeln, die uns helfen, den Umweltschutz wirksam anzupacken. Der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung unterstrichen: Die Bundesregierung steht für Innovation und für die Modernisierung Deutschlands. Es geht nicht darum, die Menschen mit Vorschriften zu schurigeln, sondern das technische und kreative Potenzial in Wirtschaft und Gesellschaft zu mobilisieren und zu nutzen. Der beste Weg ist allemal, nicht nur für Verbote zu sorgen, sondern gerade auch die Kreativität der Menschen anzuregen. ({17}) Die städtischen Ballungsräume verursachen einen hohen Verbrauch von natürlichen Ressourcen; denn dort leben viele Menschen auf engem Raum zusammen. Eine der täglichen Herausforderungen ist die Frage der städtischen Verkehrsinfrastruktur. Auf diesem Gebiet kann Deutschland gute Erfahrungen in den Urban-Prozess einbringen. Der ÖPNV hat in Deutschland eine lange und gute Tradition; er hat eine Schlüsselrolle für die Städte. Ein Vergleich mit anderen Metropolen zeigt schnell, wie wichtig ein funktionierender ÖPNV ist. Regelmäßige Staus, überfüllte Verkehrsmittel - im Vergleich zu anderen Großstädten dieser Welt stehen die deutschen Städte gut da, auch wenn der Einzelne unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat. Der Bund ist daran entschieden finanziell beteiligt; wir geben allein aus unserem Haushalt jährlich 15 Milliarden DM für den regionalen Verkehr aus. ({18}) Man muss wirklich einmal zur Kenntnis nehmen, wie stark das Engagement des Bundes dabei ist. Damit dies dauerhaft gesichert wird, habe ich eine Qualitätsoffensive angestoßen und dazu dieser Tage ein Eckpunktepapier vorgelegt. Damit gehe ich in die Gespräche mit den Ländern, aber auch mit der EU-Kommission. Wir wollen unsere Erfahrungen in den Urban-Prozess einbringen. In diesem Zusammenhang möchte ich klar und deutlich sagen: Wenn es jetzt darum geht, den öffentlichen Personennahverkehr weiterzuentwickeln, dann muss man sicherlich einiges verändern. Ich will gar nicht bestreiten: Wir brauchen mehr Wettbewerb. Hinsichtlich der Qualitätskriterien, zum Beispiel was die Sicherheit der Verkehrsmittel und der eingesetzten Systeme angeht, und hinsichtlich der sozialen Strukturen werden wir in der Diskussion auf der Ebene der Europäischen Union keine Opfer bringen. Wir werden von unserer Seite keinen schrankenlosen Wettbewerb zulassen; er muss auch zukünftig an den Kriterien der Qualität orientiert bleiben. ({19}) Nun bin ich Realist genug, um zu wissen - damit stehe ich in der Koalition und in diesem Hause nicht allein -, dass für die Zukunft der Stadt das Auto eine wichtige Rolle haben wird. Das ist so und das soll auch so bleiben. ({20}) Die Akzeptanz des Autos in der Stadt wird dabei aber auch von seiner Umweltverträglichkeit abhängen. Das ist der entscheidende Ansatz. Zu fragen, wie wir die Autos aus der Stadt bzw. aus unserer Gesellschaft herausbekommen, kann nicht der Ansatz sein, sondern der Ansatz muss sein: Wie können wir das Auto zu einem Instrument machen, das seine Nützlichkeit ohne viele schädliche Begleiterscheinungen entfalten kann? Deswegen arbeiten wir mit der Industrie am Kraftstoff der Zukunft. Ich glaube, es ist einer der wesentlichen Punkte des Weltberichtes, dass gesagt wird: Wir können es uns abschminken, auch für die Teile der Dritten Welt, der anderen Welt, den Menschen zu sagen, sie sollten auf das Auto verzichten. Die Zahl der Autos wird weiter wachsen. Die Zahl von 500 Millionen Autos in den Städten der Welt wird sich - ob wir wollen oder nicht - verdoppeln. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir Formen der Technik finden, die dafür Sorge tragen, dass damit keine weitere Gefährdung der Umwelt verbunden ist, sondern dass wir durch neue Kraftstoffe eine Verbesserung der Umwelt selbst dann erreichen, wenn der Verkehr weiter wächst. ({21}) Eine umweltgerechte Infrastruktur hängt aber auch davon ab, inwieweit es gelingt, dass preiswert und ökologisch gebaut wird. Hier liegt ein großes Potenzial für Innovationen, für mehr Wettbewerb und mehr Beschäftigung sowie für mehr Wohneigentum und natürlich auch für günstigere Wohnkosten. Wir starten deshalb eine Initiative für preiswertes und ökologisches Bauen. Ich weiß, man steht immer in einer Reihe; man steht in einer Kontinuität. Ich möchte mich für die guten Ansätze, die ich habe vorfinden dürfen, bei meinen Vorgängern im Amt, bei Frau Schwaetzer, Herrn Töpfer und natürlich auch bei Ihnen, Herr Oswald, ganz herzlich bedanken. Wir setzen die Arbeit, die Sie begonnen haben, glaube ich, in Ihrem Geiste fort, weil in diesem Punkt Einigkeit zwischen den Parteien besteht. ({22}) Ressourcenschonung hat auch damit zu tun, dass Wohnraum modernisiert wird. Ich erinnere hier nur an das zweite KfW-Programm für die notwendigen Modernisierungen von Wohnungen in den neuen Ländern, das CO2Minderungsprogramm der KfW, das wir auf die neuen Länder ausgeweitet haben, und das 100 000-DächerBundesminister Reinhard Klimmt Solarstrom-Programm des Wirtschaftsministers. Diese Maßnahmen dienen auch der Verbesserung der Umwelt in den Städten. So nutzen wir das große Know-how der deutschen Wirtschaft in der Umwelttechnologie. Damit sind die Maßnahmen auch ein Beitrag, um das CO2-Minderungsziel der Bundesregierung zu erreichen. Für den Klimaschutz kann gerade in den städtischen Ballungsräumen viel erreicht werden. Deshalb wollen wir in Kürze die Energieeinsparverordnung verabschieden, die gemeinsam mit dem Wirtschaftsminister erarbeitet wird. Wir alle wissen, wie wichtig das Energiesparen ist, das übrigens unsere größte Energiereserve ist. Gebäude spielen hierbei eine zentrale Rolle. Sie verursachen ein Drittel des Energiebedarfs. Mit der Energieeinsparverordnung lassen sich Energieverbrauch und damit auch Energiekosten senken. Deswegen werden wir das energisch betreiben. ({23}) Meine Damen und Herren, ich will noch einmal unterstreichen: Die Infrastruktur unserer Städte braucht Innovationen und Investitionen. Die Städtebauförderung ist das zentrale Instrument zur Erneuerung und Entwicklung der Städte und Gemeinden in Deutschland. Sie führt mehrere investive Infrastrukturbereiche zusammen, vor allem Wohnungsbau und Verkehr. Sie hat hohe Beschäftigungseffekte sowie Anstoßwirkungen für private Investitionen. Das kommt vor allem dem mittelständischen Handwerk sowie Handel und Gewerbe in der Region zugute. Zukunft der Stadt, das heißt auch: die kulturelle Funktion von Stadt ernst nehmen. Ich meine hiermit nicht das kulturelle Angebot, das Kommunen und Länder in eigener Regie einbringen. Ich meine, man kann nicht über Städte reden, ohne über Architektur und Baukultur zu reden. Auch hierbei geht es um Innovationen und Investitionen. Baukultur beeinflusst die Stadtstruktur. Dabei gibt es das bekannte Spannungsfeld von hohem Anspruch einerseits und Alltagstauglichkeit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit andererseits. Der Bund ist ein wichtiger Bauherr; ihm kommen damit Vorbildfunktionen zu, die wir uns auch gerne immer wieder vorhalten lassen und denen wir uns auch immer wieder stellen. Momentan bereiten wir eine Initiative „Architektur und Baukultur“ vor, die wir mit den Verbänden zusammen durchführen werden. Dabei geht es mir vor allem darum, die Verantwortlichen zusammenzuführen. Mit ihnen möchte ich Erwartungen und Anforderungen überprüfen und zu einem neuen Verständnis von Architektur als wichtigem Schrittmacher und Standortfaktor in den Städten kommen. Im Herbst 2001 werden wir, so hoffe ich, Ergebnisse und Vorschläge vorlegen können und hier darüber berichten. Meine Damen und Herren, ich ziehe aus all diesem die Schlussfolgerung: Die Vertreter Deutschlands - Bund, Länder oder Kommunen - bringen die guten Erfahrungen einer aktiv gestalteten Politik für die Zukunft der Städte in den Urban-Prozess mit ein. Die Weltkonferenz wird die Wendung vom Laisser-faire zu einer verantwortungsvollen Politik bestätigen. Im Juni des nächsten Jahres findet die Sondergeneralversammlung der UNO zur Stadtentwicklung statt. Hier bringt der Bund zusammen mit den Städten und Gemeinden wichtige Beiträge ein. Ich möchte an dieser Stelle übrigens auch anderen, die daran beteiligt sind, danken, zum Beispiel der Kollegin Wieczorek-Zeul, die sich gemeinsam mit Nelson Mandela, James Wolfensohn und Klaus Töpfer bei der Gründung der Städteallianz zur Bekämpfung der Slums engagiert hat. Auch das ist ein wichtiger Punkt: Wir haben es ja noch verhältnismäßig leicht, auch wenn wir Probleme haben. Wenn man aber in Mexiko-City, in Nairobi oder in anderen Städten der Welt ist, kann man sehen, welche Probleme durch Verslumung entstehen und welche Kräfte von uns gefordert werden und welche Verantwortlichkeiten wir wahrnehmen müssen, wenn es darum geht, die Probleme in der Welt zu bewältigen. ({24}) Ich halte hier fest: Deutschland kann mit Selbstbewusstsein an der Weltkonferenz teilnehmen. Wir können gute Initiativen und auch eine verantwortliche Politik von unserer Seite aus vorweisen. Wir werden übrigens - auch das ist für mich ein wichtiger Punkt - in Kürze einen Raumordnungsbericht vorstellen, ({25}) mit dem wir wiederum deutlich machen, dass in Deutschland mit einer gewachsenen Siedlungsstruktur eine gesunde Struktur aus gleichwertigen Städten und Regionen besteht. Deutschland hat eine starke Hauptstadt; das soll so sein. Aber es gibt kein dominierendes Zentrum, sondern Dezentralität. Dies bedeutet Vielfalt in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht. Das müssen wir weiter ausbauen. Wir müssen uns darum bemühen, die vielen Zentren, ob das München, Dresden, Düsseldorf oder Frankfurt ist, auch Saarbrücken soll genannt sein, ({26}) auszubauen und sie zu bewahren. Wir wollen diese als Zeichen unserer Föderalität in der Welt als Vorbild hinstellen. ({27}) Meine Damen und Herren, vieles ist zu verbessern. Wir haben aber bei uns auch etwas zu verlieren. Wir nehmen Anregungen von außen gerne auf und sind auch gerne bereit, unsere Erfahrungen mit anderen zu teilen und sie weiterzugeben, wenn sie diese denn haben wollen. Urban 21 ist der Zielpunkt eines Prozesses, den wir bei uns erleben können, aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein: Urban 21 ist wiederum auch ein Startpunkt für einen weiteren Prozess, in dem es darum geht, gestaltend die Zukunft der Städte zu sichern. ({28})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Peter Götz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es, dass mit Urban 21 in Berlin eine Weltkonferenz stattfindet, die an die Rio-Konferenz von 1992 und an die UNSiedlungskonferenz Habitat II in Istanbul von 1996 anknüpft. Damit wird der Dialog auf dem Weg zur Durchsetzung und Umsetzung der Agenda 21 und der HabitatAgenda fortgesetzt. Es ist gut, Herr Minister, dass Sie daran erinnert haben, dass die Idee, eine solche Weltkonferenz im Rahmen der EXPO 2000 in der neuen deutschen Hauptstadt durchzuführen, von dem damaligen Bauminister Professor Dr. Klaus Töpfer entwickelt und auf den Weg gebracht worden ist. Es war in der Tat die Regierung Kohl, die Urban 21 als eine globale Initiative für nachhaltige Entwicklung der Länder Brasilien, Deutschland, Singapur und Südafrika vorstellte, und es war Ihr Vorvorgänger, Bauminister Eduard Oswald, der das Projekt weiter vorangetrieben hat. Daran muss vorab erinnert werden. ({0}) Die rot-grüne Regierung hat lange genug gebraucht, bis sie in die Gänge gekommen ist. Der Weltbericht, von dem Sie gesprochen haben, der in wenigen Wochen diskutiert werden soll, liegt nach meiner Kenntnis bis heute noch nicht vor. Meine Damen und Herren, es ist keine Frage: Zu den großen Herausforderungen der Zukunft gehört, weltweite Lösungsansätze für eine sozial- und umweltverträgliche Stadtentwicklung zu finden. Dies gilt insbesondere in den schnell wachsenden Metropolen in den Entwicklungsländern. Aber ein Weiteres kommt hinzu: Wenn wir mit Forderungen und Ermahnungen in den Schwellenund Entwicklungsländern und in den Reformstaaten des Ostens Gehör finden wollen und ernst genommen werden wollen, müssen wir als die so genannten reichen Industrieländer zunächst zeigen, dass wir selbst imstande sind, eine nachhaltige, auf die Zukunft ausgerichtete Stadt- und Siedlungspolitik zu gestalten und erfolgreich durchzusetzen. Ich hätte es zum Beispiel begrüßt, wenn sich die Konferenz ebenfalls stärker mit den Problemen der Siedlungsentwicklung in den Industrieländern Europas und Nordamerikas befasst hätte. ({1}) Wenn wir die Verantwortung für die ökologisch und sozial labile Erde als globale Verantwortung der gesamten Menschheit begreifen, dann ist es einfach zu wenig, wenn wir wohlwollend unsere Hilfe den Entwicklungsländern mit ihren chaotischen Megastädten anbieten und uns gleichzeitig weigern, auch unsere eigenen Versäumnisse zum Thema zu machen. Herr Minister, meine Damen und Herren, Urban 21 sollte eigentlich mehr sein als das von Ihnen angekündigte Treffen bedeutender Staatsmänner, mehr als medienwirksames Konferenzspektakel. Ich setzte darauf, dass die Teilnehmer der Konferenz dafür Sorge tragen, dass gute inhaltliche Arbeit geleistet wird und dass trotz dieser Regierung die Konferenz zu einem Erfolg wird. ({2}) Die Parlamentarier werden dazu ihren Beitrag leisten. Deshalb hat die Organisation „Global Parliamentarians on Habitat“ für den 5. Juli die Schirmherrschaft über das Parlamentarierforum übernommen. „Global Parliamentarians on Habitat“ ist übrigens die einzige internationale Parlamentarierorganisation, die sich weltweit unmittelbar mit menschlichen Siedlungen, mit der Wohnungsversorgung und mit nachhaltiger Entwicklung befasst, eine Organisation, zu der sich Parlamentarier aus 177 Ländern der Welt zusammengeschlossen haben. Ich lade Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich ein, an diesem Parlamentarierforum aktiv mitzuwirken. Experten aus Russland, den Niederlanden, Österreich und Uganda werden für den Einstieg in das Forum sorgen. Warum sage ich das? Ich bin der festen Überzeugung: Wir dürfen die Zukunftsfragen unserer Städte nicht den Regierungen allein überlassen. Wir müssen als Parlamentarier unseren Beitrag leisten, damit die Themen von Habitat national und international ständig auf der Tagesordnung bleiben. ({3}) Wir wissen sehr wohl: Der Verstädterungsprozess entwickelt sich unaufhaltsam vor allem in den Schwellenund Drittländern unkontrolliert fort. Schon jetzt sind diese Agglomerationen kaum noch zu verwalten oder zu steuern. Sie entwickeln sich mit großer Dramatik. Massenarmut, ökologische Katastrophen und Wanderungsbewegungen der Menschen sind der soziale Sprengstoff, der den Frieden des eigenen Landes und letztlich den Weltfrieden bedroht. Dies, meine Damen und Herren, sind keine Horrorszenarien aus einem Science-Fiction-Film, sondern eine ungeschminkte Zustandsbeschreibung der Welt von heute und vor allem der Welt von morgen. Die Städte sind das Problem der Zukunft. Sie sind aber auch die Einzigen, die diese Zukunftsprobleme einigermaßen vernünftig lösen können. Leider ist es bisher nicht hinreichend gelungen, die enormen Chancen, die große Städte bieten, zu nutzen. Städte sind der Motor der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Sie bieten die Möglichkeit ökonomischer und ökologischer Effizienz. Sie sind Orte der Kultur und Innovation, der Gemeinsamkeit und auch der Toleranz. Ich will damit sagen: Die großen politischen Herausforderungen liegen auf der kommunalen Ebene. Dem werden die meisten politischen Systeme, insbesondere die Zentralstaaten, nicht gerecht. Denn Stadtpolitik wird zunehmend zur Weltinnenpolitik. Deshalb ist der erste Schritt zur Lösung der Siedlungs- und Stadtentwicklungsprobleme eine deutliche Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. ({4}) Wir brauchen weltweit starke Kommunen mit deutlich mehr politischem Einfluss, mit besserer institutioneller Kapazität und vor allem mit eigener Finanzautonomie. Das ist ein dickes Brett, an dem ständig gebohrt werden muss. Die meisten Gesetze werden von nationalen Parlamenten gemacht, die eher Zentralismus im Blick haben als die Städte oder gar den ländlichen Raum. Auch die rot-grüne Regierung in Deutschland macht diesen Fehler wiederholt. Wenn Sie den Gemeinden in Deutschland weiter das Geld wegnehmen, höhlt das kommunale Selbstverwaltung aus. ({5}) Auf Deutschland schauen viele Länder, ob wir das wollen oder nicht. Deshalb sollten und müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Lokale Finanzautonomie, kommunale Planungshoheit und demokratische Strukturen in den Städten und Gemeinden verbessern weltweit die Chancen für eine ökologisch, wirtschaftlich und sozial nachhaltige Entwicklung. Deklarationen auf internationalen Konferenzen müssen die notwendigen Ziele vorgeben; aber nationale Regierungen und Parlamente müssen für anständige Rahmenbedingungen sorgen. Die Probleme in den Gemeinden, seien es die Megastädte oder die Dörfer, können am besten vor Ort gelöst werden. Ich fordere die Bundesregierung auf: Arbeiten Sie aktiv mit an der Verabschiedung der Weltcharta für kommunale Selbstverwaltung. Beschränken Sie sich aber nicht auf Lippenbekenntnisse zur Dezentralisierung in den anderen Ländern. Sorgen Sie auch für finanzstarke Städte und Gemeinden in der Europäischen Union, verhindern Sie das zunehmende Hineinregieren von Europa in lokale Selbstverwaltungsangelegenheiten, ({6}) und sorgen Sie für eine starke kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. Neben der Stärkung der Kommunen im Verhältnis zu den Nationalstaaten brauchen wir neue Steuerungsmodelle für Kommunen. Besonders für die Megastädte in den Entwicklungsländern müssen eine andere öffentliche Verwaltung und eine bessere politische Steuerung gefunden werden. Das traditionelle Modell der Kommunalverwaltung, wie wir es kennen und praktizieren, scheitert vor allem in den Megastädten oft an den gewaltigen Aufgaben, wenn dort mehr als die Hälfte der Menschen keinen lokalen Wohnort, keine regelmäßige Beschäftigung und weder Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung hat noch Steuern und Gebühren zahlen kann. Stadtentwicklung muss unter verstärkter Beteiligung der Bürger in eine Gesamtplanung integriert werden. Wir brauchen die integrierende Stadt. Es heißt neudeutsch so schön „Inklusiv-City“. Was ist damit gemeint? Mit Integration sind zwei Dinge gemeint. Zunächst geht es um die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an den Ergebnissen des Fortschritts in der Stadt. Das ist als politisches Ziel zunächst nichts Neues. Neu ist, dass all diese Gruppen weit mehr als bisher am Geschehen in der Stadt aktiv beteiligt werden sollen. Neu ist auch, dass all diese Gruppen weit mehr als früher aktiv mithelfen sollen, die Vorschläge für große Vorhaben wie für kleine Projekte, die nur kleine Stadtbezirke oder kleine Gruppen betreffen, zu verwirklichen. Wir brauchen, Herr Minister, nicht mehr Staat, sondern eher weniger. Wir brauchen weniger Regulierung, und zwar auf allen politischen Ebenen. Die Stadt muss zunehmend die Rolle des Moderators übernehmen. Es ist klar, dass mit diesem Ansatz nicht alle Aufgaben der Städte erfüllt werden können. Die professionelle und spezialisierte Verwaltung wird in vielen Sektoren weiter gebraucht, aber die vielen Ausgegrenzten, Chancenlosen und Politikverdrossenen können bei beschränkten Ressourcen nur auf die gerade beschriebene Art und Weise wieder integriert werden. Wollten Bürgermeister, Rat und Verwaltung diese gigantische Aufgabe nach dem traditionellen Verwaltungsmuster lösen, hätten sie bei der Größe der Herausforderung keine Chance. Der Obrigkeitsstaat und die Obrigkeitsstadt werden bald der Vergangenheit angehören. Partnerschaftliches Miteinander der Verantwortlichen rückt in den Vordergrund. Die frühere Bundesregierung hat diese Themen sehr ernst genommen. Ich erinnere nur an das Nationalkomitee Habitat II, in dem wir die Habitat-II-Konferenz von Istanbul intensiv vorbereitet und auch nachgearbeitet haben. - Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie nicken ja so freundlich. - An diesem Komitee waren gesellschaftliche Gruppen von den Architektenverbänden - um mit Azu beginnen - bis zu den Umweltschutzorganisationen beteiligt. Ich bedauere außerordentlich, dass die rot-grüne Regierung dieses Komitee hat sterben lassen. Wir brauchen in der Politik mehr denn je den Dialog und die Partnerschaft mit den Kommunen und den gesellschaftlichen Gruppen, die sich an diesem Prozess beteiligen. ({7}) - Es ist gut, wenn Sie etwas machen. Auch in unserem Land gibt es noch viel zu tun. Unsere Innenstädte fallen auseinander. Innerstädtisches Wohnen verliert zunehmend an Attraktivität. Der innerstädtische Handel verliert im Vergleich zum großflächigen Einzelhandel auf der grünen Wiese immer mehr an Boden. ({8}) Die Deutschen setzen täglich riesige Verkehrsströme in Bewegung - zum Wohnen, zum Arbeiten, zum Einkaufen und zur Freizeitgestaltung. Dabei geht es nicht darum, ob ein Liter Benzin 3 oder 5 DM kosten sollte. Hier geht es um einiges mehr. ({9}) - Richtig. Der frühere Bauminister Oswald gibt das Stichwort „Aktion pro Innenstadt“. Das ist auch in Deutschland eine Zukunftsherausforderung. ({10}) Erlauben Sie, dass ich zum Schluss auf ein Programm eingehe, das die CDU/CSU-Bundesregierung 1996 zusammen mit den Ländern geschaffen hat - Sie haben das als Ihr Programm dargestellt -: auf das Programm „Soziale Stadt“. Mit diesem Programm sollten eigentlich benachteiligte Stadtquartiere wieder zu lebensfähigen Stadtteilen mit positiver Zukunftsperspektive gestaltet werden. Was die rot-grüne Regierung aus unserer damaligen Idee gemacht hat, wird nicht ausreichen, um das riesige Problem der sozial ausgegrenzten Menschen in unseren Städten in den Griff zu bekommen. Das jetzige Programm schafft höchstens Reparaturen an den Symptomen. Im vergangenen Jahr hatte der Bund gerade einmal 10 Millionen DM übrig. Dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Nun sollen 100 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden. Dabei handelt es sich lediglich um Verpflichtungsermächtigungen. ({11}) Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie die Chancen, die vor mehr als vier Jahren entwickelt wurden, damit dieses Programm über seinen sozialpädagogischen Ansatz hinauskommt! ({12}) Dieses Programm, Herr Minister, ist wichtig. Es kann zu einem Modell werden, wie auf Gemeindeebene Mitbürger nicht Leistungsempfänger sind, sondern im Dialog und in Form von Zusammenarbeit Probleme angehen, die sich mit den traditionellen Instrumenten der Verwaltung nicht mehr lösen lassen. ({13}) Meine Damen und Herren, die Weltkonferenz Urban 21 ist eine Chance. Es besteht die Möglichkeit, von Deutschland aus wesentlich zur Lösung vieler weltweiter Siedlungsprobleme beizutragen. Ich fordere Sie auf: Nutzen Sie diese Chance! Machen Sie auf angemessene Weise die auch bei uns beginnende Verödung der Städte zum Thema dieser Konferenz! Kommen Sie zu einer Neuorientierung Ihrer Politik in Deutschland! Stärken Sie die kommunale Selbstverwaltung, anstatt ihre Flügel weiter zu beschneiden! Dann setzen Sie weltweit ein gutes Beispiel für eine positive Stadtentwicklung. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat jetzt das Wort die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Stadt und eine Politik für die Städte im Parlament zu diskutieren ist etwas schwierig, wie wir auch heute merken. Denn die Stadt ist nicht so fassbar wie ein Gesetzeswerk oder ein Paket Haushaltszahlen, über das sich hier im Parlament trefflich streiten und Kräfte messen lässt. Hier geht es darum, dass wir uns sowohl beim Lob und der Würdigung der Stadt als auch bei der Problembeschreibung einig sind. Was uns aber fehlt, ist ein engagiertes Streiten um die richtigen Wege, wie den Städten zu neuer Kraft geholfen und was dazu auf den Ebenen Bund, Länder und Gemeinden getan werden kann. Denn ich glaube, wir alle sind uns einig, dass das nicht primär unsere Aufgabe ist. Nur in der Bündelung aller politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte können wir dieses Thema angehen. ({0}) Deswegen geht es gerade hier um kommunikative Politik, um den Diskurs, um das Gespräch mit allen Beteiligten, national und international. Ich finde es daher sehr wichtig und begrüßenswert, dass sich sowohl die Vorgängerregierung - insbesondere Herr Töpfer ist von Minister Klimmt vorhin schon gelobt worden - als auch die jetzige Regierung diesem Thema offensiv und konstruktiv gestellt haben und stellen, dem nationalen und internationalen Dialog über die Stärkung unserer Städte und über eine nachhaltige Stadtentwicklung. Wir sind uns alle einig - deswegen will ich das nur kurz wiederholen -, dass die Stadt die Wiege unserer Demokratie ist, dass sie die Basis und Essenz unserer Zivilisation und unserer Kultur ist, dass sie Spannungs- und Aktionsfeld für Individuum und Gesellschaft ist - es gibt einen Spannungsbogen zwischen beiden - und Zentrum unseres wirtschaftlichen und unseres sozialen Handelns, Ort der Entwicklung von Geist und Ethos, Bildung und Wissenschaft. Wir alle, unsere ganze Kultur und Zivilisation leben letztlich von Stadt und Stadtentwicklung. Ein wichtiger Punkt ist besonders für uns hier in Deutschland: Wir sind alle sehr stolz auf den Föderalismus, weil wir über den Föderalismus und unser politisches Prinzip, auf drei Ebenen zu handeln - in den Kommunen als der wichtigsten Ebene der Selbstverwaltung, in den Ländern als zweiter Ebene, als Bündelung dieser Interessen und Ziele, und im Bund als nationaler politischer Handlungsebene -, immer wieder dazu beitragen, unsere Städte zu stärken und die politische Entscheidung nach unten zu geben. Das ist und bleibt ein sehr wichtiges Prinzip, dem wir uns alle, fraktionsübergreifend, verpflichtet fühlen. ({1}) Aber gerade wenn das so ist, müssen wir Verantwortung tragen und dürfen der aktuellen Entwicklung in unseren Städten gegenüber nicht gleichgültig sein. Ich mache mir Sorgen um unsere Städte und denke, dass wir alle Kräfte bündeln müssen, damit unsere Städte in den aktuPeter Götz ellen rasanten Veränderungsprozessen, die unsere Gesellschaft durchlebt, nicht zu Verlierern werden. Diese Gefahr ist wirklich sehr groß und wir müssen darauf achten, alles zu tun, damit das nicht erfolgt. Meine Vorredner haben schon auf eine Reihe von Problemen hingewiesen. Ich will ein paar erwähnen. Ein Problem ist: Die Städte stehen heute in einer Form, die wir früher nicht gekannt haben, vor internationaler Konkurrenz. Das ist nicht nur ein Problem der Metropolen, sondern das Problem jeder Klein- und Mittelstadt; denn jeder Stadt kann es passieren, dass die Möbelfabrik nach Polen oder Portugal auswandert. Das kann die Existenz einer ganzen Stadt, ihrer Wirtschaft und Bevölkerung bedrohen. Darum ist letztlich sogar so etwas wie unsere Steuerpolitik ein Stück Politik zur Stärkung der Städte und ihrer Wirtschaftskraft. Ich glaube, wir haben mit unserem Steuerreformkonzept gerade in letzter Zeit einen deutlichen konstruktiven Beitrag geleistet, unsere Städte und ihre Wirtschaftskraft zu stärken und ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist existenziell. ({2}) Ich mache mir aber auch Sorgen um das Zunehmen der Stadt-Umland-Konkurrenz. Wir alle wissen, dass die Städte immer ins Umland wachsen. Aber wir erleben aktuell eine Phase, in der es nicht mehr nur darum geht, dass die Kraft der Städte nach außen, ins Umland drängt, dass die Ballungsräume größer werden, weil die Städte einen Überschuss an Wachstum und Entwicklungskraft haben, sondern in der es zunehmend darum geht, dass die zentralen Stadtfunktionen aus den Städten und Ballungsräumen immer weiter nach außen gestülpt werden, an rein autoerschlossene Verkehrsknoten. Dort wachsen und wuchern inzwischen die Shoppingmalls, die Gewerbeparks, die Freizeitparks und die Wohnparks. Alles ist mit dem schönen Begriff Park versehen, bedeutet aber letztlich ein Stück Schwächung unserer Städte. Es gibt Planer, die das als den neuen Kult der Zwischenstadt loben. Ich glaube, es ist eine Suburbanisierung, die mittlerweile zulasten der Innenstädte geht und auch zulasten des ländlichen Raums. Denn wir erleben einen doppelten Entleerungsprozess: Der ländliche Raum einerseits und die Kernstädte andererseits verlieren Bevölkerung und Wirtschaftskraft an die Stadt- und Ballungsrandgebiete, an die berühmten Speckgürtel. Diese Prozesse haben in letzter Zeit eine Dynamik gewonnen, der wir nicht tatenlos zusehen dürfen. Vielmehr müssen wir ihr gegensteuern. Deswegen möchte ich meine erste zentrale Forderung wie folgt formulieren - ich bitte alle Kräfte in den Parlamenten, auch auf Länder- und kommunaler Ebene, das zu berücksichtigen -: Wir müssen alles tun, um die Stadt als Handels- und Marktzentrum zu erhalten und zu stärken. Dem Einkaufen auf der grünen Wiese müssen wir entschlossener als bisher einen Riegel vorschieben. ({3}) Ich will ein ganz konkretes Beispiel schildern, an dem sich zeigt, dass diese Entwicklung unsere eigene Politik in diesem Bereich konterkariert. Im Dorf Wustermark, ein paar Kilometer westlich von Berlin-Spandau, ist am 25. Mai das erste deutsche Factory-Outlet-Center mit 10 000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 57 Läden eröffnet worden. Dieses Factory-Outlet-Center heißt pikanterweise „B 5“. Man hat nämlich Folgendes gemacht: Man hat eine Bundesfernstraße, die eigentlich eine Verbindung der großen Städte über das Land leisten soll, zu einer schlichten Einkaufsstraße umfunktioniert. Jetzt ist diese Einkaufsstraße - mit Stau - nichts anderes als eine Erschließung für dieses Factory-Outlet-Center. Der Bund wird nun vom Land Brandenburg aufgefordert: Wir brauchen mehr Geld aus dem Anti-Stau-Programm; ihr müsst die Straße vom Stau freimachen und sie ausbauen. Gleichzeitig fördern wir die Stadterneuerung in den umliegenden Städten, in Nauen, in Potsdam, in Oranienburg, in Rathenow. Das wird mit großem Engagement vonseiten des Bundes, der Länder und auch der Kommunen selbst gefördert. Aber de facto ist die Substanz dieser Städte gefährdet, weil der Handel und das Wirtschaftsbürgertum still vor sich hin sterben. ({4}) Das ist ein Prozess , den wir so nicht hinnehmen dürfen. ({5}) Darum denke ich, dass wir entschiedener als bisher diesen Prozess eben nicht einfach unter „kommunale Selbstverwaltung“ abhaken und die Städte der gegenseitigen Bürgermeisterkonkurrenz überlassen dürfen. Potsdam ebenso wie Berlin-Spandau haben nämlich gegen das Genehmigungsverfahren des erwähnten Factory-OutletCenters erfolglos geklagt. Das ist übrigens nicht nur ein Problem von Brandenburg oder von ostdeutschen Städten. In Baden-Baden wird gerade diskutiert, ob man auch dort ein großes Factory-Outlet-Center errichtet. Es gibt eine Reihe weiterer Standorte, wo diese Diskussion geführt wird. Ich glaube, wir müssen die Prinzipien der Raumordnung stärken und dafür sorgen, dass der Einzelhandel in der Form als zentrumsorientierter Einzelhandel wieder in die Ober- und Mittelzentren kommt - wie es unsere Raumordnung vom Prinzip her vorsieht - und nicht an jedes beliebige Autobahn- und Schnellstraßenkreuz. Das darf nicht sein. ({6}) - Ich nehme diesen Applaus als das Zeichen allseitiger Bereitschaft, dass wir das Thema noch in dieser Legislaturperiode ein Stück weit voranbringen. Ich glaube, wir können das. Lassen Sie mich noch einen zweiten „Baustein“ ansprechen - auch Kollege Götz hat das gemacht; wir sind uns in der Beschreibung völlig einig -: Wir müssen die Stadt - nicht nur die Innenstadt - und die vorhandenen Siedlungsräume als Wohnort wiedergewinnen und wir müssen der Zersiedelung entschlossener als bisher begegnen, nicht etwa, weil wir gegen Eigenheime und Eigentum sind. Wir können sehr wohl Eigentumsformen und den Wunsch nach einem Eigenheim mit der Idee der Stadt verbinden und dann gewinnen die Menschen auch wieder die Qualität der Beziehung zwischen der Gestaltung und der Verwirklichung ihres individuellen Lebens und dem gesellschaftlichen Leben, das die Stadt bietet. Man muss es deutlich sagen: Der tägliche Flächenverbrauch in Deutschland beträgt 120 Hektar, davon 50 Hektar für Wohnflächen, 70 Hektar für Verkehr, Gewerbe und Sonstiges. Diese wachsende Zersiedelung und die damit verbundene Zerschneidung und Zerstückelung unserer Landschaft und Freiflächen sind nicht nur ein ökologisches Problem. Ich betone das deshalb, weil man immer denkt, das sei ja nur das ökologische Interesse der Grünen. Das stimmt nicht. Es wird zunehmend zu einem volkwirtschaftlichen und zu einem sozialen Problem. Denn die Bürgermeisterkonkurrenz der Umlandgemeinden geht immer mehr zulasten der Städte. Für immer weniger Menschen braucht unsere Gesellschaft immer mehr Erschließung und immer mehr Infrastruktur. Wir stehen an einer Schwelle, an der die Städte ihren Infrastrukturbestand nicht mehr qualifiziert erneuern können, weil zu viel Kraft in den Infrastrukturneubau in immer weiter auseinander gezogene Räume geht. Dem müssen wir entgegenwirken, nicht nur aus ökologischen, sondern aus ökonomischen Gründen. ({7}) Hinzu kommt, dass auf diese Weise die soziale Entmischung in unseren Städten bedrohlich voranschreitet. Die einkommensstarken Familien, gerade die jungen Leute, wandern nach außen, aus den Städten heraus. Die soziale Schieflage in den Städten, zwischen den Stadtteilen und bezüglich der Stadt-Umland-Beziehung wird zum immer größer werdenden Problem. Wenn ich manchmal sage ich komme gleich zum Schluss -, dass mir das Phänomen, dass wir zum ersten Mal Wohnungsüberangebote haben, Sorgen macht, dann liegt das daran, dass diese Tatsache dazu führt, dass die Menschen immer mobiler werden und damit die Stadtteile, die nicht konkurrenzfähig sind, zu den Verlierern werden und immer mehr soziale Probleme bekommen. Minister Klimmt hat darauf hingewiesen: Wir haben in großartiger Form das Programm „Soziale Stadt“ sehr entschlossen zu Beginn dieser Regierung auf den Weg gebracht; nicht Sie, Kollege Götz, sondern wir. Ich glaube, wir müssen dieses Instrument weiterentwickeln, stärken und nicht zerreden. Wir dürfen ihm aber auch nicht zu viel zumuten, sondern müssen an anderen Stellen der Zersiedelung entgegenwirken, damit dieses Instrument der Stärkung von Nachbarschaft und sozialem Zusammenhalt auch wirklich aktiv greifen kann. Deswegen möchte ich dafür werben, unsere Kräfte zu stärken, um Bauland in besiedeltem Bereich zu aktivieren und nicht immer weitere Zersiedelung zu unterstützen. Wir müssen den Bestand und die Entwicklung unserer bestehenden Stadtteile stärken. Wir können es und sollten es gemeinsam tun, statt zu argumentieren, als könnten wir zwar die Probleme beschreiben, aber müssten nicht hier und heute handeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen UweJens Rössel von der PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kollegin Eichstädt-Bohlig, Ihren Ansprüchen an zukunftsfähige Stadtentwicklung kann ich nur zustimmen. Auch Ihrer Problembeschreibung kann ich Unterstützung geben. Was mir in Ihrem Beitrag aber fehlt, ist eine kritische Sicht der Verantwortung der Bundesregierung, was die nachhaltige Stadtentwicklung betrifft. Gewiss ist manches Positive passiert. Sie haben das Programm „Soziale Stadt“ benannt. Aber es gibt auch eine Reihe von Problemen und Versäumnissen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Ich möchte nur zwei Fakten nennen. Erstens, das rot-grüne Ökosteuer-Projekt. Das rotgrüne Ökosteuer-Projekt ist wohl nicht geeignet, die nachhaltige Stadtentwicklung zu befördern. Es verkommt immer mehr zu einer Abzockerei von Bürgerinnen und Bürgern. ({0}) Obwohl Nahverkehrsbetriebe nur den halben Ökosteuersatz bezahlen, ergeben sich gerade für diese umweltfreundlichen städtischen Unternehmen erhebliche Mehrbelastungen, die vom Bund nicht ausgeglichen werden. Das aber hat nicht mit nachhaltiger Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs zu tun und müsste der Bundesregierung wohl ernsthaft zu denken geben. Zweitens. Auch die derzeitige Finanzausstattung der Kommunen, ein Wechselspiel von vielen Faktoren, ist nicht dazu geeignet, die Stadtentwicklung zu befördern und die Zukunftsfähigkeit der Kommunen zu garantieren. Wir haben stark rückläufige Investitionen zu beklagen: 1992 etwa 50 Milliarden DM, zurzeit nur noch rund 30 Milliarden DM im Jahr. Das hat dramatische Auswirkungen auf Beschäftigung und Handwerk.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rössel, Sie haben das Recht, auf die Rede von Frau Eichstädt-Bohlig Bezug zu nehmen. Sie haben nicht das Recht, eine eigene Stellungnahme einzubringen. ({0})

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme sofort dazu. Frau Eichstädt-Bohlig hat nämlich behauptet, dass das rot-grüne Unternehmensteuerkonzept, das der Bundestag kürzlich verabschiedet hat, zu einer Verbesserung der städtischen Finanzen geführt hat. Das ist aber nicht der Fall. Bis zum Jahr 2004 - Kollegin Eichstädt-Bohlig, Sie kennen die Zahlen auch - werden die Kommunen Einnahmeausfälle von 12 Milliarden DM bei der Lohn- und Einkommensteuer zu beklagen haben. Dazu kommt, dass sie auch noch mit 20 bis 25 Prozent an den Einnahmeausfällen der Länder beteiligt sind. Schließlich kommt noch hinzu, dass sich die Bundesregierung dafür eingesetzt hat, dass die Kommunen im Ergebnis des neuen Steuersenkungskonzeptes bis zu 30 Prozent der Gewerbesteuer an Bund und Länder abführen müssen. Letzteres sind noch einmal Mehrbelastungen in Höhe von 5 Milliarden DM. Die Kommunen, Frau Eichstädt-Bohlig, haben einen Steueranteil von 11 Prozent am gesamten Steueraufkommen in Deutschland. Sie werden aber mit 18 Prozent zur Finanzierung an der Steuerreform herangezogen. Das hat nichts mit nachhaltiger Stadtentwicklung zu tun.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das erfordert einfach eine Erwiderung. Vielen Dank.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bitte schön.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Rössel, zum Ersten muss ich ganz klar sagen: Unsere Städte leiden an dem Klimawandel, der sich jetzt vollzieht, in besonderer Weise. Wenn Sie das in diesem Sommer hier in Berlin nicht merken, dann werden Sie auch nicht merken, was Klimawandel bedeutet. Die Ökosteuer und die sonstigen energiepolitischen Instrumente - Minister Klimmt hat auf sie hingewiesen wie zum Beispiel unsere Energieeinsparverordnung, unser 100 000-Dächer-Programm, die Stärkung von regenerativen Energien und die Ökosteuer mit ihrer Wirkung auf den Verkehr und auf den sparsameren Umgang mit Heiz- und sonstigen Energien im Gebäudebereich sind ganz zentrale Bausteine zum Schutz unserer Städte in diesem Klimawandel. Diese brauchen wir ganz dringend, und genau deswegen halte ich die Polemik, mit der die Ökosteuer von der rechten und der ganz linken Seite hier vehement bekämpft wird, für einen primitiven Umgang miteinander. ({0}) Die Bürger sind inzwischen verantwortungsbewusster geworden; denn sie gehen sparsamer mit dem Energieverbrauch und dem Spritverbrauch im Auto um. Sie sind eigentlich viel weiter als die Politiker, die uns immer wieder einzureden versuchen, die Bürger übernähmen keine Verantwortung für den Erhalt unseres Klimas und den Umgang mit unserer Umwelt. ({1}) Insofern fordere ich gerade hier die Oppositionsparteien auf, endlich wieder zur Vernunft der Politik zurückzukehren und verantwortliches Handeln nicht ständig mies zu machen, sondern positiv zu unterstützen. ({2}) Zum Zweiten kann ich nur sagen: Unsere Steuerreform hat sehr wohl sowohl die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen im internationalen Rahmen in deutlicher Form gestärkt als auch - gerade dafür haben wir Grünen uns in den Debatten besonders engagiert - die Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen, die die Substanz der Städte ausmachen, vorangebracht. Über die Stärkung der Wirtschaftskraft werden auch die Einnahmen der Kommunen und der Länder stabilisiert und gestärkt. Sie selbst haben es im Finanzausschuss intensiv mitdiskutiert. Ich bin gern bereit, noch eine ausführliche steuerpolitische Debatte zu führen, aber eigentlich gehört sie nicht zur Tagesordnung und deswegen lasse ich das hier so stehen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt uneingeschränkt, dass die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte bei uns in Berlin stattfindet und eine große Ausstrahlung ins Umfeld dieser Stadt hat. Die Konferenz führt global handelnde und sich mit globalen Themen beschäftigende Persönlichkeiten nach Berlin. Sie wollen in Podien die Dinge erörtern, die für die Zukunft unserer großen Städte, die für die Zukunft der Welt, aber auch in der Ausstrahlung für unsere europäischen Städte von großer Bedeutung sind. Es geht um die Stadt als Lebensraum, als Ort von Mobilität, als Ort von Kultur. Es geht um die Entwicklung von Stadtstruktur und Wohnraum. Die Weltkonferenz hat vier sehr interessante Partnerländer: das riesige Brasilien, den Stadtstaat Singapur, das Umbruchland Südafrika und Deutschland, ein Land mit breiter historischer Stadtstruktur und Stadtkultur und mit sehr moderner städtischer Entwicklung, an der einen oder anderen Stelle auch mit städtischer Problementwicklung. Mir wird an der einen oder anderen Stelle im Antrag der SPD zu wenig deutlich, welch riesige Chancen für die Ausgestaltung des Lebens in unseren Städten bestehen. Ich begrüße, dass das von Minister Klimmt in seinem Grußwort zur Urban 21 deutlich gemacht wurde. Die Städte sind Orte der Gemeinsamkeit und der Toleranz. Gerade Liberale sehen sie auch als entscheidenden Freiraum, weil Menschen mit unterschiedlicher Interessenlage, mit unterschiedlicher Begabung und Neigung gerade in einer Stadt immer wieder ihre sehr persönliche Heimat und ihren persönlichen und gesellschaftlichen Lebensraum finden. ({0}) Deswegen sagen wir Liberale auch ein sehr klares Ja zur Stadt. Ich will an dieser Stelle meine sehr große Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass wir diese Debatte heute in einer wunderbaren Stadt führen, die in den letzten Jahren eine Entwicklung genommen hat, die ich, Frau Eichstädt-Bohlig, als eine außerordentlich positive Klimaveränderung betrachte. ({1}) Als ich gestern in die Stadt hineinkam und warten musste, weil sehr viele Menschen ihre Freizeitfreude auf Rollern zum Ausdruck brachten, ({2}) sah ich in den Gesichtern dieser Menschen, wie sie ihre Stadt annehmen. Die Menschen insgesamt in Deutschland nehmen ihre Städte an. Deswegen sind auch Stadtkultur und Stadttourismus wesentliche Elemente der Lebensfreude in unserem Land. ({3}) Urban 21 stellt auch eine notwendige und richtige Wechselbeziehung zur EXPO her. Auch als Niedersachse möchte ich Sie sehr herzlich bitten: Lassen Sie sich von Anfangsirritationen nicht verwirren. Gehen Sie hin, lassen Sie sich begeistern. Stellen Sie fest, dass der Einklang von Mensch, Natur und Technik möglich ist. Lassen Sie sich nicht dadurch abhalten, dass an der einen oder anderen Stelle Missmanagement diese EXPO überschattet. Wir begrüßen die Regierungserklärung sehr nachdrücklich. Wir begrüßen auch, dass sie an dieser zentralen Stelle erfolgte. Wir begrüßen auch die grundsätzlichen Ausführungen, die Herr Minister Klimmt gemacht hat. Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen, aber ich denke, dass Ihre „Leistungsbilanz“, Herr Minister, erhebliche Schwächen aufweist. Ich meine, dass die Zusammenlegung des Ministeriums für Bau- und Wohnungswesen mit dem Verkehrsministerium Probleme schafft. Die Behandlung solcher Themen wie „Städtische Entwicklung“ und „Urbanität“ kommt bei diesem Zusammenschluss schlicht und ergreifend zu kurz. ({4}) Ich glaube, dass wir viel energischer - was auch Frau Eichstädt-Bohlig ansprach - Raumordnungsgesichtspunkte und die Innenstadtentwicklung berücksichtigen müssen. Aber wir müssen auch Ja zu Weichenstellungen im wirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel beim Thema „Ladenschluss“, sagen. ({5}) Wenn Sie die Ladenschlusszeiten verändern, geben Sie damit den Innenstädten eine besondere Chance. Herr Minister, es macht keinen Sinn, die Ökosteuer auf den ÖPNV anzuwenden und zu Erhöhungen in diesem Bereich zu kommen, ({6}) wenn Sie zu einer umweltverträgliche Mobilität kommen wollen. ({7}) Die Menschen gehen auch nicht primitiv mit diesem Thema um, sondern reagieren auf Dinge, durch die ihnen Geld aus der Tasche gezogen wird. Die Menschen reagieren gerade in Städten auf Finanzentwicklungen besonders kritisch und zurückhaltend, weil dort häufig die Einkommen nicht so üppig sind, wie dies der eine oder andere meint. Nehmen Sie zum Beispiel die Steuerpolitik, die dazu geführt hat, dass der Mietwohnungsbau und damit das, was Architekten in einer Stadt entwickeln können, so zurückgegangen ist, wie er zurückgegangen ist. Nehmen Sie die Umverlagerung, die Sie mit der Wohngeldnovelle vorgenommen haben. Sie nehmen an einer Stelle, wo gute städtebauliche Entwicklungen auf den Weg gebracht worden sind, um eine andere Stelle zu speisen. Man kann das machen, darf sich dann aber nicht darüber wundern, dass sich dies auf die städtebauliche Entwicklung so negativ auswirkt, wie es hier Vertreter der Regierungskoalition zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben hier noch viele Hausaufgaben zu machen. Wir sollten noch einen Blick auf die Probleme der Städte werfen, die bei Urban 21 besonders angesprochen werden. In den Unterlagen zu Urban 21 gibt es eine Übersicht über die Einwohnerzahl der Städte. Die zugrunde liegende Erhebung liegt interessanterweise schon weit zurück, sie stammt aus dem Jahre 1996. Man musste zu einem Trick greifen und sehr lange zählen, bis endlich ein deutscher Ballungsraum in dieser Statistik Niederschlag finden konnte. An 29. Stelle taucht das Ruhrgebiet mit 6,5 Millionen Menschen auf. Angeführt wird diese Liste von Städten wie Tokio mit 27 Millionen, heute wahrscheinlich 30 Millionen Einwohnern, und Mexiko-City mit 17 oder 20 Millionen Einwohnern. Diese Städte stehen vor Herausforderungen, die in unserer Gesellschaft nicht genügend verankert sind. Das Trinkwasser- und das Hygieneproblem in diesen Städten ist im Bewusstsein unserer Bevölkerung nicht genügend präsent. ({8}) Deswegen ist diese Veranstaltung so besonders wichtig; denn wir müssen uns aus dem nationalen Blick heraus diesen Aufgabenstellungen insgesamt zuwenden. ({9}) Es ist eine zentrale Aufgabe für ein Parlament, ja für uns in Europa, aber speziell in Deutschland, dass wir uns diesen Problemen in besonderer Weise zuwenden. Ich glaube, Herr Dr. Kansy und Herr Dr. Töpfer und andere hätten nicht geglaubt, dass dieses „Orchideenthema“ mit Urban 21 hier in Berlin eine so breite Resonanz - hoffentlich - finden wird und uns Anregungen und Anstöße geben wird, gegenüber den Megacitys eine andere Haltung einzunehmen, die darauf abzielt, die Gegebenheiten in diesen Städten zu verbessern. Das ist soziale Verantwortung, das ist globale Verantwortung, die wir gern wahrnehmen. An all dem, was sich damit beschäftigt und was dahin gehend Weichen stellt, um die Situation in diesen Städten, um die Situation weltweit friedenssichernd und stabilisierend zu verändern, wird sich die F.D.P. aktiv positiv beteiligen. Wir wünschen uns in dieser Phase enge Zusammenarbeit und bieten sie herzlich an. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Kollegin Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer wollte die Weltkonferenz nicht begrüßen? Aber die Zahl von Symposien, Konferenzen und Veranstaltungen, die Zahl der Papiere, der Berichte, der Kommissionen zur Stadt der Zukunft ist ungeheuer groß, die Zahl der politischen Bekenntnisse auch. Alle Parteien wollen die Zersiedelung eindämmen, alle Parteien wollen die Landflucht stoppen, alle wollen Bauland billiger anbieten, alle wollen Urbanität, alle wollen soziale Durchmischung, alle wollen Nachhaltigkeit. Nichts könnte man gegen Ihre Regierungserklärung sagen, Herr Klimmt, und gleich gar nichts gegen Ihre wunderbare Rede, Frau Eichstädt-Bohlig. Aber die Realität ist eine andere: Die Städte wachsen an den Rändern und nicht im Kern. Die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Leben setzt sich unvermindert fort. Interessant ist übrigens, dass die Ursache des Pendelns nicht der neue Wohnsitz, sondern der Wechsel des Arbeitsortes ist, die Verlagerung des Arbeitsortes nach draußen. Der Anteil sozial Schwacher und Älterer in den Städten steigt, weil Jüngere und Besserverdienende die Städte verlassen. Die soziale Polarisierung schreitet weiter voran. Damit verschärfen sich die Wohnungsprobleme für die zurückbleibende Minderheit in den Städten deutlich, und gleichzeitig funktioniert der Teilmarkt persönliches Wohneigentum wegen zu hoher Kosten nicht. Es kommt zu Zusatzverkehr, zu weiterer Versiegelung, zu Flächenverbrauch, zu Umweltbelastung, zu hohen gesellschaftlichen Kosten, und es kommt zur Umverteilung der Finanzen zuungunsten der Städte, obwohl diese durch die relative Zunahme besonders sozial Schwacher spürbar mehr finanzielle Belastungen verkraften müssen. Die spannende Frage, die ich heute hier nicht gehört habe, die sich heute hier noch keiner gestellt hat, jedenfalls öffentlich nicht, lautet: Wieso ist denn das so? Wieso gibt es diesen Widerspruch zwischen der politischen Deklaration einerseits, bei der sich alle einig sind, und den realen Prozessen andererseits, die total entgegengesetzt verlaufen? ({0}) Ich denke, man kann, wenn man diese Frage nicht stellt und wenn man diese Frage nicht beantwortet, dieses Thema überhaupt nicht behandeln. Weil Sie sich dem verweigern, muss ich es tun. ({1}) Ich glaube, eine Ursache dafür, warum diese Frage nicht gestellt wird, liegt darin, dass der Politik der Realitätssinn fehlt, dass die Politik die Konflikte der Realität scheut, dass die Politik sich die Welt schönredet, dass die Politik Widersprüchen ausweicht, den einfachen Weg wählt und somit unfähig ist, reale Veränderungen herbeizuführen. ({2}) Ihre Entschließung, meine Damen und Herren von Rot-Grün, enthält wunderbare Sätze, die zwar nicht falsch sind, jedoch fernab der Wirklichkeit liegen. ({3}) So enthält diese Entschließung zum Beispiel die Aussage, der Bundestag solle feststellen, dass 80 Prozent der europäischen Bevölkerung in Städten lebt. Nun frage ich Sie: Was nützt das? Ich dachte immer, wir wüssten das bereits. ({4}) Ich hätte mir eher gewünscht, dass Sie aufzählen, wie und warum die Bevölkerungszahlen in den Städten zurückgegangen sind und was Sie konkret dagegen tun wollen. Sie kommen auch zu der wunderbaren Erkenntnis, der Siedlungs- und Städtebau sei am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Woran soll er sonst ausgerichtet sein? Sie brauchen uns nicht feststellen zu lassen, dass nachhaltig ausgerichtet werden müsse. Ich kann nur sagen: Richten Sie doch aus, und zwar nachhaltig! ({5}) Um diesen Widerspruch einmal auf den Punkt zu bringen: Sie vergessen, eine Sommersmogverordnung in Kraft zu setzen, wollen hier aber solche Aussagen beschließen lassen. ({6}) Sie haben bis heute die vergleichsweise bescheidene Handlung unterlassen, das Bundes-Bodenschutzgesetz auch bei Militärflächen und Verkehrswegen anzuwenden. Genau diese Handlung hätte aber eine nachhaltigere Wirkung als Ihr Entschließungsantrag. ({7}) Wir müssen nicht darum herumreden: Auch Sie fliehen vor den Konflikten. So wird zum Beispiel Fläche zu gleichen Teilen von Verkehr, Gewerbe, Wirtschaft und Wohnungsbau verbraucht. In der öffentlichen Debatte wird der Flächenverbrauch jedoch auf den Wohnungsbau verengt. Sie wissen das alle und spielen trotzdem in diesem Spiel mit. Ich sagen Ihnen auch, warum: Würden Sie sich an den Abbau der hohen Subventionierung gewerblicher Flächen heranwagen, hätten Sie sofort die Wirtschaftslobby auf dem Hals und diesen Konflikt scheuen Sie. ({8}) Selbst die von Ihnen erneut gelobte Städtebauförderung ist ein Indiz Ihrer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Sie ist ohne Zweifel ein gutes Instrument, das aber zum finanziellen Feigenblatt degradiert und vom Umfang her nicht annähernd geeignet ist, die Probleme in den Städten zu lösen. Was sind 600 Millionen DM für die Städtebauförderung gegen 6 Milliarden DM für Straßenbaumaßnahmen? ({9}) Betrachtet man die gesamten stadtwirksamen Investitionen im Bundeshaushalt 2000, so kann man erkennen, dass die Städtebauförderung gerade einmal 3 Prozent des Gesamtvolumens ausmacht. Der größte Teil steht für Bundesfernstraßen und dem Straßenbau allgemein zur Verfügung. Es fließen auch Mittel über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz an die Gemeinden, womit nicht nur Gutes bewirkt wird, da über dieses Gesetz oft genug stadtfeindliche Projekte in Gang gebracht werden. Sie schreiben in Ihrer Entschließung auch allen Ernstes, dass eine Überhandnahme des Individualverkehrs unsere Städte zu ersticken drohe. Weiter bringen Sie zum Ausdruck, dass der soziale Wohnungsbau gerade in den Städten wesentlich zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohnerstrukturen beitrage. Dabei ist Realität, dass er in der Vergangenheit auch das Gegenteil bewirkt hat, nämlich die Konzentration von mit sozialen Problemen behafteten Mietern in Wohnmaschinen. Realität ist auch, dass Sozialwohnungen en masse aus der Bindung fallen, sodass wir bald keine mehr haben werden. Es ist auch Realität, dass Sie das Finanzvolumen Ihres sozialen Wohnungsbaus auf ein so kümmerliches Maß gesenkt haben, dass Sie es vermeiden sollten, den Begriff überhaupt noch in den Mund zu nehmen. Es scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, dass die Regelinstrumente, besonders die finanziellen, gegenüber dem Leitbild einer - wie Sie schreiben - „kompakt gebauten, durch vielfältige Nutzungsmischung und die Pflege baulichen Erbes geprägten europäischen Stadt“ versagen. Es fließen unentwegt Milliarden an öffentlichen Mitteln direkt in Investitionen, die stadt- und umweltschädlich sind. So wurde zum Beispiel in Dresden im Beisein des Bundeskanzlers am Großen Garten, der grünen Lunge der Stadt, eine gläserne Fabrik des Volkswagen-Konzerns eröffnet, in der eine Luxuslimousine gefertigt wird. Dieses Projekt wurde sehr hoch subventioniert und von der rot-grünen Bundesregierung mit eingeweiht. ({10}) Diese Luxuslimousinen werden damit von allen Steuerzahlern mitfinanziert. Ich denke mir aber, ein Besserverdienender kann für ein solches Luxusauto auch noch 20 000 DM drauflegen. Die Folgekosten solcher staatlich subventionierten Investitionen werden wiederum von der Gesellschaft getragen. Sie werden niemals - auch durch Sie nicht - aufgerechnet, öffentlich gemacht und bilanziert. Das Wohnungsförderinstrumentarium ist erstarrt und unflexibel. Es ist von vornherein bestimmt, wofür jede einzelne Mark ausgegeben werden darf. Der Bund legt nach wie vor fest, wofür die Stadt das Geld verwenden darf. Das ist gerade aus Gründen der Demokratie absurd und überholt. Ich zitiere wieder, Frau Eichstädt-Bohlig: „Die Stadt ist die Keimzelle der Demokratie.“ Die Politiker in Rostock, in Saarbrücken und anderswo wissen viel besser, wofür sie die Mittel verwenden müssen: ob für Belegungsrechte, Umfeldgestaltung, für Kultur, für die Bank an der Ecke, für Bestandserneuerung oder die Bäume an der Straße. ({11}) Nehmen Sie Ihren Förderetat - er ist klein genug - und bilden Sie damit endlich einen Gesamtfördertopf! Lassen Sie die Städte über den Einsatz in kommunaler Selbstverwaltung entscheiden! ({12}) Das kostet Sie keine Mark mehr, aber die Wirkung wird eine ganz andere und bessere sein. Es ist nämlich auch eine Frage des Vertrauens. Wer anderen die Verwendung des Geldes vorschreibt, misstraut ihnen. Misstrauen ist keine gesunde Basis und ist in keiner Weise gerechtfertigt. Im Gegenteil: Man kann den Stadtpolitikern nur Respekt zollen und ihnen dafür danken - das tue ich hiermit -, dass sie in den letzten Jahren mit den zunehmend schwierigeren Problemen und den Rahmenbedingungen zurechtgekommen sind, die sich auch unter Rot-Grün nicht verbessert, sondern verschlechtert haben. Meine Damen und Herren, der großen Worte sind genug gewechselt. Ich mag sie nicht mehr hören. Finden Sie zu einer neuen Bescheidenheit zurück! Unternehmen Sie praktische Schritte und seien sie zunächst auch noch so klein. Für den Neubau gibt es eine Eigenheimzulage von 40 000 DM, für den Kauf eines Hauses aus dem Bestand nur 20 000 DM. Ändern Sie diese Diskrepanz! Beklagen Sie nicht länger die hohen Baulandpreise! Reformieren Sie endlich die Grundsteuer, damit die Bevorteilung unChristine Ostrowski bebauter Grundstücke ein Ende hat. Realisieren Sie Ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, die Gemeinden an den herbeigeführten Bodenwertsteigerungen finanziell stärker zu beteiligen. Die Kilometerpauschale wirkt als Zersiedlungspauschale. Führen Sie die Entfernungspauschale ein, wie Sie es im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben! Setzen Sie die Energiesparverordnung in Kraft! Sie sind ein Jahr im Verzug. Sorgen Sie dafür, dass die Städte ausreichenden Wohnungsbestand für Minderverdienende haben. Richten Sie Ihre Förderpolitik auf eine gemischte Sozialstruktur im kommunalen Wohnungsbau aus. ({13}) Stärken Sie die Eigenverantwortung der Städte bei der Verwendung von Fördermitteln und geben Sie ihnen einen Topf in die Hand, den sie in kommunaler Selbstverwaltung verwenden können!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Ostrowski.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss. Greifen Sie den Vorschlag auf, der im vergangenen Jahr auf dem nationalen Städtekongress gemacht wurde! Bilden Sie einen Rat der Städte, ähnlich den Fünf Weisen, wie es Herr Ganser vorgeschlagen hat. Für alle möglichen Themen gibt es Kommissionen, nur für die Zukunft der Städte nicht, dort, wo die Menschen leben. ({0}) Und am allerschönsten wäre es, Sie würden einen Stadtminister schaffen. ({1}) Die Planstelle für Staatsminister Schwanitz könnten Sie dafür zur Verfügung stellen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Mertens von der SPDFraktion.

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Frau Ostrowski, Sie haben sich als Einzige der Diskussion verweigert, die sich mit der Philosophie der europäischen Stadt befasst. Ich bedaure dass sehr. Das Einzige, was uns bei diesem Thema verbindet, ist die Elbe, aber sonst nichts. Wir stehen zu den Zielen einer nachhaltigen, zukunftsverträglichen Entwicklung als zentraler Zukunftsaufgabe unserer Gesellschaft und einer sozial- und umweltverträglichen Städtebaupolitik, wie sie in Rio und Istanbul vereinbart wurde. Seit Rio sind 192 Monate vergangen. Ein Zehntel dieser Zeit tragen wir Verantwortung. Deutschland hat ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Beschlüsse von Rio und Istanbul umzusetzen. Deshalb wäre es unredlich, das, was bis jetzt geschehen ist, nicht zu beschreiben und zu würdigen. Mit dem gleichen Selbstverständnis verweisen wir aber auch auf das Neue, das wir in der kurzen Zeit nach dem Regierungswechsel hinzugefügt haben, und sind ehrlich und mutig genug, auch das aufzuzeigen, was noch getan werden muss. So wie wir - positiv - in der Politik einer nachhaltigen Stadtentwicklung nicht völlig neu anfangen müssen und - negativ - leider keine Stunde Null beim Haushalt hatten, sondern den größten Schuldenberg geerbt haben, den diese Republik jemals hatte, gibt es auch keine Stunde Null in der Städtebaupolitik, keine in der Raumordnung, keine in der Wohnungspolitik und in der Verkehrspolitik schon gar keine. Die bei den Planern beliebte Hühnereitheorie belegt, in welchem Ausmaß und in welchem Tempo sich die Stadt, insbesondere die deutsche, verändert hat: Bis zur Aufklärung begrenzten Stadtmauern ein kompaktes Gebilde. Die Stadt, sagen die Planer, ähnelte einem hart gekochten Frühstücksei. Die Schale wurde durch die industrielle Revolution aufgesprengt und zerfranste an den Rändern. Die Stadt glich nunmehr einem Spiegelei. Aber das Gelbe, der Stadtkern, blieb unangetastet, so groß die Stadt auch wurde. In der Nachkriegszeit wurden in den Zentren Freiräume geschaffen. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land verschwanden. Die Stadt gleicht nunmehr einem Rührei. Wir beobachten jetzt die Tendenz zu einer dreigeteilten Stadt. Die Strukturen grenzen sich immer schärfer voneinander ab: Das ist erstens - die international wettbewerbsfähige Stadt. Das ist - zweitens - die normale Arbeits-, Versorgungs- und Wohnstadt. Das ist - drittens die marginalisierte Stadt der Randgruppen. Überlagert wird das alles von den Widersprüchlichkeiten zwischen Kernstadt und Umland. Genau das besagen die Spiegellei- und die Rühreitheorien. Das Umland delegiert seine sozialen Probleme an die Kernstädte. Ich wünsche mir manchmal, dass diejenigen Politiker und Politikerinnen - jedenfalls, soweit sie noch unter uns sind -, die uns - das meine ich parteiübergreifend - als schlechte Politikergeneration darstellen, angesichts dessen, was sie uns hinterlassen haben, wenigstens ein bisschen Trauerarbeit leisteten würden. Ich meine damit nicht diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Fehler oder vermeintliche Fehler gemacht haben, weil sie unter einem enormen Druck Wohnraum schaffen mussten. Ich meine diejenigen, die sich der Faszination eines einzigen Produktes hingegeben haben und die autogerechte Stadt bauen wollten, diejenigen, die noch in den 70er-Jahren ohne Not Großsiedlungen gebaut haben und ganze Altstadtgebiete abreißen ließen, und diejenigen, die den Stadtteilen die Mitte genommen haben. Wie viele Marktplätze entpuppen sich schließlich als vierspurige Straßen! Aus einer Berliner Senatsbroschüre aus dem Jahre 1957 ist Folgendes zu entnehmen: Fußgänger? Mit unverbesserlichen Neandertalern kann sich die neue Straße nicht abgeben. Wer ein Ziel hat, soll im Auto sitzen, und wer keins hat, ist ein Spaziergänger und gehört schleunigst in den nächsten Park. Räumliche Trennung von Wohnen, Leben und Arbeiten, Einkaufszentren am Rande der Stadt, Schlafstädte, Zersiedelung und immer mehr Verkehrswege sind das Erbe, mit dem wir heute umgehen müssen und das, so hoffe ich, anders aussehen würde, wenn wir damals die politische Verantwortung getragen hätten. Aber auch wir werden irgendwann nach dem beurteilt werden, was wir heute getan haben. Deshalb fordere ich uns auf, so fehlerarm und rückholbar wie möglich zu agieren. Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland trotz dieser Veränderungen noch relativ gute Voraussetzungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Nun wird das Wort „Nachhaltigkeit“ geradezu inflationär verwendet. Keine namhafte Firma entzieht sich in ihren Umweltberichten diesem Gedanken und diesem Ausdruck. In aller Unverbindlichkeit könnte auch das Fünfzehnliterauto als nachhaltig bezeichnet werden. Trotzdem möchte ich diesen Ausdruck verwenden, weil er nicht nur für jeden verständlich ist, sondern auch eine hohe Übereinstimmung darüber besteht, was mit ihm gemeint ist: Mit ihm verbindet sich die Vorstellung, Ökologie, Ökonomie und soziale Ziele so in Einklang zu bringen, dass die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen befriedigt werden, ohne folgenden Generationen die Chance für ihre eigene Lebensgestaltung zu nehmen. Klaus Töpfer hat in diesem Zusammenhang von den drei Lebenslügen der Industriegesellschaft gesprochen: Wir subventionieren unseren Wohlstand auf Kosten der Umwelt, der Mitwelt und der Nachwelt. Gelingt es den Entwicklungsländern, das Wohlstandsmodell der Industrieländer erfolgreich zu kopieren, dann wäre das sicherlich der ökologische Kollaps dieses Planeten. ({0}) Die Dritte Welt kann nicht so werden wie die Erste, und die Erste kann nicht so bleiben, wie sie ist. Das Wohlstandsmodell der Ersten Welt ist nicht exportfähig. ({1}) Aber das Modell der europäischen Stadt ist durchaus exportfähig, nicht in dem Sinne einer Wohlstandsüberlegenheit, wohl aber in dem Sinne einer Urbanität, die kompakt ist, Stadtteil statt Siedlung ist, Funktionsmischungen aufweist und deren Innenstädte oder Stadtmitten auch kulturelle und politische Mitten sind, im Sinne einer Urbanität, die für alle da sein muss und deshalb auch unangepasste Nutzungen ertragen muss, was nicht gleichbedeutend mit der Vernachlässigung der Sicherheit ist. Die europäische Stadt bewahrt ihr baukulturelles Erbe, verschließt sich aber gleichzeitig modernen Entwicklungen nicht. Die europäische Stadt ist eine Stadt, die sozial, ökonomisch und kulturell sozusagen tragfähig ist und gleichzeitig all das dafür Notwendige an Lebensgrundlage und Lebensqualität bietet. Dazu gehören intelligente Verkehrssysteme, sparsame Energieversorgung und umwelt- und flächenschonende Bau- und Siedlungsformen. Ich würde mich sehr freuen, wenn die Tradition des Stadthauses eine Renaissance erfahren würde. Gerade in den Städten der neuen Bundesländer gibt es so manche Baulücke, die dafür genutzt werden könnte. Stadtentwicklung wird häufig nur als gebaute Stadt verstanden. Sie ist aber eine gesellschaftspolitische Bewegung, nichts Statisches, das über Jahrzehnte gleich bleibt. Ursache und Wirkung von Maßnahmen sind oft schwer vorauszusagen. Deshalb wiederhole ich, dass wir bei allen Entscheidungen so fehlerarm und rückholbar wie möglich vorgehen sollten. ({2}) Aristoteles sagt: Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von Menschen; ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege. Das Wohnverhalten der Menschen ist wandelbar. Das heutige Familienwohnen ist historisch gesehen jung und hat sich erst in den 50er- und 60er-Jahren durchgesetzt. Seitdem entwickeln sich aber neue, differenzierte Wohnund Lebensformen. Neue Haushaltstypen neben oder auch anstelle der Zweigenerationenfamilie entstehen. Arbeiten und Wohnen rücken wieder näher zueinander. Die demographische Entwicklung wird sich nicht nur im Wohnflächenverbrauch bemerkbar machen, sondern auch zu ganz neuen Serviceangeboten führen. Die Mobilität der Menschen und andere Arbeits- und Lebensrhythmen werden sich auf das Wohnverhalten auswirken. Ich glaube deshalb daran - ich hoffe, ich bin nicht die Einzige -, dass sich in nicht ferner Zukunft die Wohnung in einem Hochhaus mit dem nötigen Service selbst in einer Großsiedlung für bestimmte Lebensphasen einer Nachfrage erfreuen könnte, so wie die Wohnungen der Gründerzeit, einst gebaut für den Sechs-Personen-Arbeiterhaushalt, heute zu den begehrtesten Objekten in einer Stadt gehören. Ich kann mich noch ganz gut an die letzte Legislaturperiode und an die Diskussion über das Thema „Nachhaltige Stadtentwicklung und Erhalt und Stärkung der Innenstädte“ erinnern. Besser ist, man liest durch, was man damals gesagt hat. ({3}) Theoretisch - ich betone: rein theoretisch - kann man sich viel Zeit und Mühe sparen, wenn die jetzigen Regierungspolitiker und die damaligen Oppositionspolitiker oder umgekehrt - einfach ihre Reden aus der letzten Legislatur untereinander tauschen. Ich habe 1996 gesagt: Das Konzept für eine nachhaltige Stadtentwicklung wird immer lebendiger, vollständiger und gesünder, je größer der geographische Abstand zwischen Handeln und Reden ist - Rio und Istanbul ließen grüßen. Heute müssen wir als Bundesrepublik Deutschland in Berlin Rechenschaft ablegen, wie ernst wir es mit diesen Verpflichtungen genommen haben und was wir tun werden. Ich möchte deshalb an einigen Beispielen ganz konkret aufzeigen, was wir bereits tun, was auch Sie schon getan haben, was wir tun werden und was unsere Forderungen an die Bundesregierung sind. Wir wollen gemeinsam mit Ländern und Kommunen die Städte stärken, sie weiterentwickeln und, wo nötig, reparieren. Dazu zählt die Städtebauförderung als Leitprogramm einer modernen Stadtentwicklung. Die Städtebauförderung hat mit ihrem ressortübergreifenden und integrativen Ansatz eine Erfolgsstory erlebt, die wir hier gemeinsam vertreten können und an der wir uns gemeinsam erfreuen können. Sie trägt dazu bei, die Bewohnbarkeit und die Funktionsfähigkeit der Städte zu sichern und zu verbessern. Wir werden das Programm „Soziale Stadt“ - Frau Streb-Hesse wird dazu nachher etwas sagen - nicht nur erhalten, sondern zu gegebener Zeit auch weiterentwickeln. Wir warten ganz gespannt auf die ersten Ergebnisse. Wenn man sich ansieht, welche „Überzeichnung“ es bei den Anmeldungen gegeben hat, dann wünschte man sich fast, man wäre damit an die Börse gegangen. ({4}) Diese Überzeichnung zeigt auf der anderen Seite die dringende Notwendigkeit dieses Programms; sie steht aber auch für das Engagement der Menschen in den gefährdeten Stadtteilen. Wir werden den sozialen Wohnungsbau reformieren und das Fördersystem weiterentwickeln, damit Fördermittel flexibel und zielgenau eingesetzt werden können. ({5}) Der soziale Wohnungsbau ist in der Vergangenheit ein wichtiges Instrument der Wohnraumversorgung gewesen. Mit rund 9 Millionen geförderten Wohnungen seit 1953 hat er dazu beigetragen, dass die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger heute gut mit Wohnraum versorgt ist. Während nach 1945 die zentrale Herausforderung der Wohnungspolitik der hohe Wohnungsfehlbestand war, haben sich die Anforderungen heute gewandelt. Der soziale Wohnungsbau muss auf neue Herausforderungen reagieren und bleibt auch deshalb ein wichtiges Instrument der Wohnungspolitik. Die Förderung muss zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen beitragen. Die Bestandsförderung soll einen besonderen Stellenwert erhalten und gleichberechtigt neben die Neubauförderung treten. Das Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungs- und Städtebau“, das in der Vergangenheit wichtige innovative Projekte im Wohnungs- und Städtebau angestoßen hat, soll erhalten werden. Es wird angesichts der neuen Lebensrhythmen, Lebensstile und der demographischen Entwicklung eine noch größere Bedeutung bekommen. Die Boden- und Steuerpolitik muss verstärkt genutzt werden, um die Zersiedelung einzudämmen, und zur wirtschaftlichen Attraktivität der Städte und zur Baulandmobilisierung im besiedelten Bereich beitragen. Wir bitten deshalb die Bundesregierung zu prüfen, inwieweit zusätzliche Maßnahmen im Planungs-, Förder- und Steuerrecht zur Stärkung der Städte möglich sind. Gemeinsam mit Ländern und Gemeinden und der städtischen Wirtschaft müssen zusätzliche Aktivitäten ergriffen werden, um die Innenstädte zu beleben. Wir begrüßen deshalb die Initiative der Bundesregierung zur Stärkung des innerstädtischen Einzelhandels und fordern die Bundesregierung auf zu prüfen, ob weitere Schritte zum Abbau des Wettbewerbsnachteils des innerstädtischen Einzelhandels gegenüber Factory-Outlets und Einkaufszentren auf der grünen Wiese möglich sind und ob eine Einschränkung von Neuansiedlungen an nicht integrierten Standorten geboten ist. ({6}) Bei der Innenstadtinitiative darf aber der Blick für die Versorgung in den Wohngebieten nicht verloren gehen. Es darf nicht dazu kommen, dass die Abschreibungszeiten die Citybereiche zu Bühnenbildern werden lassen. Es ist nicht wenig, was wir uns vorgenommen haben. Es ist sicherlich nicht perfekt und wenn die alte Regierung uns mehr in der Kasse gelassen hätte, wäre uns sicherlich das eine oder andere noch eingefallen. ({7}) Trotzdem haben wir heute eigentlich alle ein Plädoyer für die Stadt gehalten. Eine Politik zur Erhaltung und Stärkung der Städte kann nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Die Stadt wird entweder gleichzeitig eine ökologische, soziale und ökonomische sein oder sie wird eine überbaute Fläche sein. Einzelmaßnahmen, so gut sie auch gemeint sind, können der Stadtentwicklung mehr schaden als nützen. Die Stadt ist kein Theater, in dem Stücke aufgeführt werden, und die Bewohner und Bewohnerinnen sind keine Komparsen oder Kulissenschieber. Stadt ist widersprüchlich und deshalb faszinierend. Ich möchte daher mit Karl Kraus schließen: Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst! ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Dr. Dietmar Kansy von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Diese Debatte kann nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen sein. Frau Kollegin Ostrowski, es war geradezu peinlich, was Sie sich hier geleistet haben. Nie ist in Deutschland in so kurzer Zeit systematisch so viel Stadt vernichtet worden wie zur SED-Zeit in der ehemaligen DDR. ({0}) „Trümmer schaffen ohne Waffen“, sagte der Volksmund. Wir konnten es von Erfurt bis Rostock besichtigen. ({1}) - Ich weiß, es tut weh. Aber die Leute haben nicht vergessen. ({2}) Frau Kollegin Mertens, wenn wir uns ansehen, was in diesen zehn Jahren seit der Einheit dort passiert ist - daher kommt der größte Teil unseres Schuldenberges -, dann meine ich, sollten wir das Jammern doch etwas kürzer halten und uns darüber freuen, was wir in diesen zehn Jahren geschafft haben. ({3}) Das Thema ist anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass man es auch sehr langweilig gestalten kann. Stadtluft macht frei - das war die Aussage von ganzen Generationen über viele Jahrhunderte hinweg, auch bei uns in Deutschland. Das galt eigentlich bis ins frühe 19. Jahrhundert. Ich halte es für berechtigt, wenn auf der Konferenz in Rio und auf der Habitat-Konferenz in Istanbul die europäische Stadt als eine gleichermaßen wirtschaftlich effiziente wie sozialverträgliche Gemeinschaft, als eine ohne große Ressourcenverschwendung funktionierende Wohnund Arbeitsgemeinschaft dargestellt wird. Ohne jetzt groß auf Theorien einzugehen - wir sind ja in einer Parlamentsdebatte -, lassen Sie mich festhalten: Bevor wir uns zum Lehrmeister der Dritten Welt aufspielen, sollten wir uns heute auch einmal an die eigene Nase fassen und fragen, was denn eigentlich bei uns in Europa und bei uns in Deutschland schief gelaufen ist. Auch unsere Städte haben ja Probleme. Diese sind lösbar, und wir werden sie, wie ich glaube, auch gemeinsam lösen. „Zilles Milljöh“ hier in Berlin und auch woanders ist zwar nachträglich verklärt worden, das Leben in voll gestopften Mietskasernen, von wo aus man in oft hässliche Industriebezirke zur Arbeit ging, war jedoch ungesund. Es war zwangsläufig, dass man sich fragte: Können wir etwas Neues machen? In England wurde der Anfang gemacht, indem man die Idee der Gartenstädte entwickelte, diese griff von Paris weiter nach Berlin über. Es gab ja hier 1931 einen Vorkongress zu Athen und dann kam die Charta von Athen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns - ich bitte auch die Fachwelt darum - einmal ehrlich sein, denn manchmal kommt es anders, als man denkt. Gut gemeint ist noch lange nicht gut. Planung entpuppt sich eben manchmal als Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum. So verhielt es sich auch mit der Charta von Athen. Die gebietsweise Trennung der Funktionen Wohnen, Arbeit und Erholung brachte ungewollt einerseits die jetzt beklagten monotonen und wenig urbanen Stadtbereiche und andererseits den ebenfalls zigmal beklagten Verkehr. Das war damals angeblich eine fortschrittliche Stadtidee; sie hat sich aber als nicht brauchbar erwiesen. Seitdem diskutieren wir seit Jahren darüber, ob wir überhaupt Leitbilder für unsere Stadtpolitik brauchen. Ich persönlich würde sagen: Ja, aber um Gottes Willen darf ein neues Leitbild nicht wieder zum Dogma erhoben werden; denn Leitbilder sind immer dem Wandel der Gesellschaft unterworfen und gelten an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten jeweils mehr oder weniger. Dies - das hat der Minister richtig herausgestellt wird auf der Konferenz Urban 21 vom 4. bis 6. Juli 2000 diskutiert werden. ({4}) Es wurde schon gesagt, dass Klaus Töpfer der wesentliche Motor für die Planung dieser Konferenz war, sie wurde von Eduard Oswald weiter vorbereitet und wurde insgesamt von der Regierung Kohl angestoßen. Wir als Parlament des Gastgeberlandes sollten uns deswegen fragen, ob wir hier ein Vorbild darstellen. Das Wort „Vorbildfunktion“ steht beispielsweise im Antrag der SPDBundestagsfraktion zu dieser Debatte. Die Antwort auf die Frage, ob Deutschland ein Vorbild abgibt, lautet, wenn wir ehrlich sind, Ja und Nein. Ja bezüglich der mengenmäßigen Lösung des Wohnungsversorgungsproblems, Nein bezüglich eines urbanen Lebens - zumindest nicht überall - in Sicherheit und der Bewahrung des stadtkulturellen Erbes. „Stadtluft macht frei“ fällt einem sicherlich nicht zur Nachtzeit in einem dreckigen, graffitiverschmierten, unsicheren Fußgängertunnel in dieser Stadt ein. Wer hier immer noch bagatellisiert und künftig solche Gesetze verhindert, wie unser Gesetz zur Strafbarkeit von Graffitischmierereien, der braucht über Sicherheitsprobleme und Dreck in dieser Stadt, Herr Minister, keine Klage zu führen. ({5}) Vorbild Deutschland? Bezüglich der kommunalen Selbstverwaltung lautet die Antwort Ja, bezüglich Dezentralisierung und Eigenverantwortlichkeit - das hat ja Peter Götz angesprochen - gibt es noch viele Fragezeichen. Dieses ist bisher in Ansätzen realisiert. Wirtschaftliche Prosperität und Arbeitsplätze in der Stadt sind nicht überall gegeben; das ist nicht alleine ein Ost-West-Problem. Bezüglich der Architektur - das Thema wurde ja vom Minister angesprochen - würde ich sagen: Na ja, es gibt Licht und Schatten. Man schaue sich zum Beispiel den Berliner Architekturstreit an. Daran erkennt man, dass da auch noch einiges nachzuarbeiten ist. Ich unterstreiche aber das bereits Gesagte: Vorzeigenswert, nicht zuletzt hier in Berlin, sind mit Sicherheit viele Maßnahmen, die in den letzten Jahren eine nachhaltige Stadtentwicklung befördern, in Berlin insbesondere im Rahmen und als Folge der 2. Internationalen Bauausstellung. Meine Damen und Herren, der Minister hat es bereits gesagt: Vor einer Woche wurde in Hannover die EXPO eröffnet. Ihr Motto „Mensch, Natur und Technik“ zeigt insbesondere den deutschen Anspruch, an einer humaneren Welt im 21. Jahrhundert mitzuwirken. Trotzdem - ich wiederhole mich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - würde ich das Wort „Vorbildfunktion“ nur sehr zurückhaltend in den Mund nehmen. Zum Beispiel das in der Arge Bau von Bund und Ländern, Herr Minister Klimmt, in den letzten Jahren gemeinsam entwickelte, also nicht von Ihnen erfundene, und auch von der CDU/CSU-Fraktion mitgetragene Programm „Soziale Stadt“ ist richtig und wird von uns unterstützt. Es könnte Vorbild sein, wenn man auch die finanzielle Dotierung entsprechend diesem Anspruch bringen würde. Diese aber wird in diesem Programm nicht gebracht. ({6}) In Ihrem Antrag, Frau Kollegin Mertens, steht: Der soziale Wohnungsbau trägt gerade in Städten und Ballungsräumen wesentlich zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen bei. Nie wurde so wenig Geld dafür vorgesehen wie von dieser Bundesregierung für die nächsten Jahre. Auch ein Fakt! Ein leistungsfähiger und attraktiver öffentlicher Personennahverkehr ist die Voraussetzung für vitale, lebenswerte Städte. Auch das steht in Ihrem Entschließungsantrag. Wie Sie dann auf die Idee kommen, ausgerechnet mit einer so genannten Ökosteuer den öffentlichen Nahverkehr zu verteuern, wird ewig Ihr Geheimnis bleiben. ({7}) Meine Damen und Herren, Stadtplanung und Stadterneuerung bilden zu Recht einen Schwerpunkt. Sie lassen sich aber nicht allein mit Geld durchsetzen, sondern da muss man in einer sozialen Marktwirtschaft auch auf andere Weise nachhelfen. Warum Sie dann im Entwurf der Mietrechtsnovelle zum Beispiel die Umlagefähigkeit der Modernisierungskosten reduzieren wollen, obwohl ganze Stadtteile nach Erneuerung verlangen, wird uns auch ein Rätsel bleiben. Die Regierung Kohl und die sie tragenden Fraktionen haben das Bauplanungsrecht auf der Grundlage nachhaltiger Planung im Sinne der Habitat novelliert. Aber dabei ist etwas übrig geblieben, was in dieser Legislaturperiode nachgeholt werden sollte. Warum sieht diese Bundesregierung - wir haben das gestern im Ausschuss diskutiert - keine Notwendigkeit zur Novellierung der Baunutzungsverordnung, wie damals angestrebt? Das Ziel ist eine größere Nutzungsmischung - das Thema dieses Tages und nicht von Expertengremien. Im Übrigen teile ich die Meinung des Kollegen Goldmann: Statt eines Superministeriums mit Synergieeffekten kommt, wie wir jetzt sehen, der Städtebau in diesem Superministerium ganz schön unter die Räder. Dies war eigentlich nicht die Absicht der Zusammenlegung. Kurzum, wir haben noch eine Menge zu tun und je besser wir unsere eigenen Schularbeiten machen, umso überzeugender werden wir auch im Hinblick auf andere Länder, insbesondere in der Dritten Welt, mitwirken können. Wir haben dazu einen Entschließungsantrag vorgelegt. Ich bitte um Ihre Zustimmung für unseren Antrag. Danke schön. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Senator der Stadtentwicklungsbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Willfried Maier.

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Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich bin zuständig für Stadtentwicklung in der zweitgrößten und - jetzt folge ich dem Aufruf des Ministers zum Lokalpatriotismus - zugleich in einer der schönsten Städte der Republik. ({0}) - Der schönsten Stadt überhaupt. Frau Mertens übertrifft mich wieder. Aber wir haben tatsächlich eine ganze Reihe der Probleme, die hier rundum angesprochen worden sind, obwohl wir keine arme Region sind. Wir sind als Region Hamburg mit etwa 3,5 bis 4 Millionen Menschen im Moment sogar die Boomregion der Republik, was die Bevölkerungsentwicklung von 1993 bis 1998 angeht. In dieser Zeit sind 60 000 Menschen mehr in die Großregion gekommen. Die Region München hat einen Verlust von 11 000 Menschen zu verzeichnen, Stuttgart 18 000, Berlin hat 21 000 plus. Für die Region Hamburg können wir also einen richtigen Aufschwung konstatieren. Aber dieser Aufschwung spielt sich nicht in der Kernstadt, nicht auf Hamburger Landesterritorium ab, sondern zu einem ganz erheblichen Teil an den Rändern. Das ist ein Umstand, der von einem Stadtstaat wesentlich schärfer wahrgenommen wird als von einer Stadt, die sozusagen in einen Landesfinanzausgleich einbezogen ist. Denn daraus resultieren natürlich besondere Probleme. Ich glaube aber, jenseits aller steuerlichen Fragen steckt darin vor allen Dingen das schon häufig angeführte sowohl soziale als auch ökologische Problem. Wenn jedes Jahr 22 000 Menschen aus Hamburg wegziehen und etwa 15 000 aus dem Umland nach Hamburg ziehen, wir im Saldo also einen jährlichen Verlust von 7 000 Menschen haben, dann hat das zur Folge, dass diese 7 000 Menschen, die zusätzlich im Umland sind, etwa das Doppelte an Flächenzersiedlung für Wohnung und das Dreifache für Verkehr in Anspruch nehmen, weil Verkehrswege gebaut werden müssen, und gleichzeitig die Stadt pro Person um 6 000 DM Steuern sozusagen entreichern. Wir haben in den Jahren von 1970 bis 1998 im Saldo 240 000 Menschen an die Umlandgemeinden, an den Speckgürtel verloren. Wenn Sie die 6 000 DM Steuerverlust pro Kopf auf diese Zahl hochrechnen, kommen Sie genau auf diese etwa 1,4 Milliarden DM, 1,5 Milliarden DM, die wir per Einwohnerwertung über die Einkommensteuer zurückzubekommen versuchen. Wir gehen sogar ein Stück darüber hinaus. Das heißt, ein Problem, über das im Rahmen des Steuersystems reflektiert wird, wird sozusagen von uns die ganze Zeit mit produziert. Was bedeutet das Ganze sozial? Eben ist schon gesagt worden, dass im Wesentlichen Leute mit besserem Einkommen abwandern, diejenigen, die sich ein Eigenheim im Umland kaufen oder bauen können, während in der Stadt die Zuwanderer zurückbleiben, die nicht aus dem Umland kommen, sondern aus der Dritten Welt, aus den Ländern Südeuropas, in sehr vielen Fällen Leute, die auf Transferzahlungen angewiesen sind und deren Mieten die Städte zum Teil über Sozialhilfesysteme subventionieren müssen. Das ist für uns deutlich spürbar. Gleichzeitig tragen wir die Lasten für die städtischen Integrationsinstitutionen des Umlandes, ob das nun die Schulen, die kulturellen Einrichtungen oder die Gesundheitseinrichtungen sind, die das Umland mit nutzt. In Hamburg haben wir die Situation, dass von den etwa 850 000 in der Stadt Beschäftigten 300 000 pendeln, das heißt in der Stadt die Produktion schaffen, aber den Wohlstand als Einkommen mit nach außerhalb nehmen und dort auch versteuern. Ich finde diesen Zustand vollkommen verrückt und unvernünftig. Ich verstehe nicht, warum in diesem Parlament nicht auch einmal darüber gesprochen wird, warum alle Parteien gemeinsam seit Jahr und Tag die Zersiedelung durch Steuerpolitik geradezu subventionieren. Alle machen das Gleiche. ({1}) Seit Jahrzehnten gibt es die Kilometerpauschale. Die Kilometerpauschale ist nichts anderes als ein ökonomisches Instrument zur Zerstörung der Städte und Zersiedelung der Fläche. ({2}) Ich verstehe, dass sie in die Lebenspraxis sehr vieler Menschen eingeflossen ist und nicht einfach weggenommen werden kann. ({3}) - Auch den ländlichen Raum haben Sie damit zerstört. Sie haben dazu beigetragen, dass der öffentliche Personennahverkehr den ländlichen Raum nicht mehr erreichen kann und dass die Leute in die Fläche gezogen sind. Beides ist dadurch in Gang gesetzt worden. Ich finde, das müsste als große Aufgabe angesehen werden. Ich weiß, dass das eine sehr schwer zu bewältigende Aufgabe ist. Aber wenn Sie schon alle fraktionsübergreifend ein Bekenntnis gegen Zersiedlung ablegen, dann unternehmen Sie doch bitte auch fraktionsübergreifend kleine Schritte, um aus diesem Irrweg, die Zersiedlung zu fördern, wieder herauszukommen. ({4}) Ich will auch kurz etwas zu den Chancen sagen. Wir erleben in Hamburg gerade eine große neue Chance, die mit Prozessen der Globalisierung, der Modernisierung und der Ökonomie zusammenhängt. Im Moment gehen in die Innenstädte die boomendsten Branchen der Republik, bei uns die Multimediabranche und unternehmensbezogene Dienstleister, die in einer Stadt wie Hamburg natürlich internationale Rechtsberatung und internationale Unternehmensberatung anbieten. Dies sind Branchen, die einen besonders hohen Gewinn machen. Sie nutzen Grundstücke in der Innenstadt, wo sie eine komplexe Situation der gegenseitigen Verknüpfung vorfinden, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - ich hoffe, dass wir das ein wenig ausnützen können - sind sehr häufig Urbaniten, Menschen also, die in der Stadt wohnen wollen und nicht aus der Stadt fliehen wollen, da sie sehr oft aufgrund des Arbeitsprozesses eng mit der Stadt verbunden sind. In diesem Zusammenhang haben wir uns das große Projekt vorgenommen, in der City ein neues Wohn- und Arbeitsviertel zu schaffen. Dies wird wahrscheinlich die größte Baustelle Deutschlands sein, wenn der Bau des Potsdamer Platzes beendet sein wird. Von der Fläche her ist sie schon jetzt größer. Eine kurze Bemerkung zum Programm „Soziale Stadt“. Dieses Programm begrüße ich sehr. Es wird häufig von Aufstocken gesprochen. Dies halte ich für sehr sinnvoll. Allein in Hamburg geben wir jährlich 55 Millionen DM für unser Programm „Soziale Stadtteilentwicklung“ aus, das schon längere Zeit läuft. Wir sind sehr froh darüber, dass die Mittel für dieses Programm etwas aufgestockt werden. Wir brauchen diese Mittel nämlich sehr dringlich, weil komischerweise langsam die Situation entsteht, dass nicht mehr die alten Innenstädte, die zu sanieren waren, die Problemgebiete sind, sondern die Neubauviertel, die nach dem Krieg entstanden sind und die jetzt das größte Problem darstellen. Mit diesem Programm wollen wir dort ansetzen. Ein letztes Wort: Soeben wurde davon gesprochen, dass Stadtluft frei macht, dass europäische Städte die Geburtsstätte der Freiheit sind. Das ist wahr. Worin aber bestand diese Freiheit? Sie bestand nicht nur darin, dass sie den Schwurverband der Stadtbürger herstellte, sondern auch darin, dass sie im Unterschied zu den übrigen Städten in der Welt keine Sektorierungen kannte, keine verbotene Stadt, ({5}) allerdings mit der schlimmen Ausnahme des Gettos. ({6}) Senator Dr. Willfried Maier, ({7}) Ansonsten gab es keine verbotene Stadt, keine Sektorierung der Menschen. Im Moment müssen wir befürchten, dass sich eine soziale Sektorierung entwickelt. Es muss uns ein hohes Interesse sein, diese soziale Sektorierung zu bekämpfen. Dies muss eine gemeinsame Aufgabe sein; denn wir verteidigen den Kern der europäischen Stadt, wenn eine Integration gelingt. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine in einem nationalen Parlament geführte Aussprache über eine Weltsiedlungskonferenz muss auch einen Fokus auf die nationale Siedlungspolitik und ihre vielfältigen Aspekte werfen. Ich tue dies aus kommunalpolitischer Sicht, aus der Sicht einer Ebene, auf der zu Recht die Kompetenzen für die Entscheidungen liegen, die unmittelbar auf das Lebensumfeld unserer Bürger einwirken. Auf nationaler und internationaler Ebene sind sehr schnell wohltönende Resolutionen und Entschließungsanträge verfasst. Aber es gibt die Tendenz - wer kann das ernsthaft leugnen? -, den Aspekt der kommunalen Selbstverwaltung eher zu übergehen und politische Vorgaben und Ziele zu formulieren, die die Rechte der kommunalen Selbstverwaltung - vorsichtig ausgedrückt - zumindest tangieren und - richtig ausgedrückt - oftmals nicht berücksichtigen. Ich halte es deshalb für angebracht, einen nicht parteipolitisch gemeinten liberalen Appell an Sie zu richten: Vergessen Sie im konkreten Handeln die Kommunen nicht! Bei aller Euphorie über wunderbare siedlungspolitische Leitbilder sollte die kommunale Selbstverwaltung nicht vergessen werden. ({0}) Machen Sie die Rechnung bitte nicht ohne die Bürger vor Ort. Denn wir brauchen für jedes Handeln eine Legitimation, die sich am unmittelbarsten im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung äußert. Eine mit dem inzwischen verbrauchten Wort „nachhaltig“ bezeichnete Siedlungspolitik gegen die Interessen der Bürger kann nicht gut sein, sondern allenfalls schädlich. ({1}) Die im Entschließungsantrag der Koalition geforderte „öffentliche Verantwortung für die Zukunft der Stadt“ muss sich auf das beschränken, was strukturpolitisch geboten und zulässig ist. Die Koalition darf zusätzlich eines nicht vernachlässigen: die öffentliche Verantwortung für den ländlichen Raum. Die F.D.P. jedenfalls will nicht, dass die ländlichen Regionen und die Menschen, die dort wohnen wollen oder müssen, aufgrund einer neuen Stadtideologie ins Hintertreffen geraten. ({2}) Über der Frage nach der Verteilung von Fördermitteln, Strukturhilfen und Schlüsselzuweisungen steht das Verfassungsgebot, gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen der Republik herzustellen. ({3}) Für die F.D.P. bleibt dieses Gebot neben dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung das übergeordnete Leitbild. ({4}) Aus dem Entschließungsantrag der Koalition wird nicht klar, ob dies auch für die Mehrheit des Hauses gilt. Ich würde es begrüßen, wenn über die Entschließungsanträge heute nicht gleich abgestimmt, sondern sie zunächst in die zuständigen Ausschüsse überwiesen würden. ({5}) Ohnehin halte ich einen Teil der aufgeführten Forderungen und Feststellungen für diskussions- und kritikwürdig, was auch die Debatte hier heute Morgen bewiesen hat. Ich will nur einige Punkte ansprechen. Die Städtebauförderung des Bundes ist nicht so erfolgreich, wie Rot-Grün uns glauben machen will. Vor allem in den alten Bundesländern ist durch die jahrelange notwendige Verlagerung von Ausgaben auf die neuen Bundesländer ein Stau entstanden, den die Bundesregierung auf absehbare Zeit nicht abarbeiten wird. Die Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau sind inzwischen so weit zusammengekürzt, dass er nur noch eine wohnungspolitische Restgröße darstellt. ({6}) Nach dem Willen der Mehrheit in diesem Hause wird er in Zukunft nicht mehr zum Erhalt und zur Schaffung sozial ausgewogener Bewohner- und Siedlungsstrukturen beitragen. Auch wenn Ihr Programm „Soziale Stadt“ in weiten Teilen in Ordnung ist und man vielen Ausführungen folgen kann, wird es so lange unwirksam bleiben, wie es finanziell mehr als unzulänglich ausgestattet ist. Außerdem gibt es die Tendenz zu einer Eigenblutspende zulasten des sozialen Wohnungsbaus. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn Sie das hohe Bodenpreisgefälle beklagen und die Mobilisierung von Baulandreserven in dicht besiedelten Räumen anmahnen, dann habe ich allerdings den Verdacht, dass Sie auch an dieser Stelle wieder eine Plattform für neue Steuererhöhungen über die Reform der Grundsteuer suchen. ({8}) Wenn Sie, wie auch heute wieder, Ihre so genannte Steuerreform als größte Steuerreform aller Zeiten bezeichnen, die große Entlastungen für die Gemeinden bewirke und ihnen neuen Gestaltungsspielraum gebe, dann ist das eine Senator Dr. Willfried Maier, ({9}) Gedenkminute für den berühmten Baron von Münchhausen wert. ({10}) Die Bekenntnisse zu einem attraktiven ÖPNV und einer besseren Zusammenarbeit mit der Wirtschaft für ökologisches und flächendeckendes Bauen sind inhaltsleer, weil der Bund nicht zuständig ist und Sie außerdem Defizite aufweisen. Mit Ihrer Politik ist auch die im kommunalen Bereich notwendige Privatisierung, zumindest was den Bund anbetrifft, ins Stocken geraten. Die Energieeinsparverordnung ist noch nicht auf dem richtigen Weg. Auch die von Ihnen geforderte Reform des sozialen Wohnungsbaus ist noch nicht erfolgt. Meine Damen und Herren, die F.D.P. lehnt deshalb den Entschließungsantrag der SPD ab. Der Entschließungsantrag der Union trägt dagegen nicht nur weniger dick auf, sondern trägt auch unserem Appell Rechnung, die kommunale Selbstverwaltung zu stärken und zu stützen. Danke. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Rita Streb-Hesse für die SPD-Fraktion das Wort.

Rita Streb-Hesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003242, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! „Die Welt des 21. Jahrhunderts wird eine städtische sein“ - das sind die Einladungsworte von Minister Klimmt zur Weltkonferenz Urban 21 hier in Berlin. Ich denke - das haben viele von Ihnen dargestellt -, dies ist eine Stadt, in der sich Zukunftschancen und Zukunftsrisiken städtischer Entwicklung beispielhaft erfahren lassen. Die fortschreitende Urbanisierung sollte Anlass für Optimismus sein. Aber wir hören auch hier, dass diese Attraktivität der Städte als gefährdend gesehen werden kann. Kollege Goldmann, es war hochinteressant, zu sehen, dass gerade wir Parlamentarier, die wir Berlin erleben, uns an den attraktiven Stadträumen orientieren. Aber auch in dieser Stadt - nicht nur in dieser Stadt, beispielsweise auch in Hamburg und in vielen mittleren Städten haben wir Stadträume, die nicht attraktiv sind, die sozialen Brennpunkte. Das sind - das ist richtig - die alten Arbeiterviertel, die in die Jahre gekommenen Wohnsiedlungen, die Hochhausquartiere, die Trabantenstädte West und die Plattenbauten Ost. Senator Maier hat ausführlich die Vielfältigkeit der Ursachen und der Auswirkungen dargestellt. Eine nachhaltige Stadtentwicklung mit dem Ziel, die soziale Integrationsfähigkeit der Städte zu erhalten, wird insbesondere davon abhängen, wie es uns gelingt, in diesen sozialen Brennpunkten mit überforderten Nachbarschaften neue Nachbarschaften zu erreichen. Wir müssen die Lebens- und Wohnqualität, das soziale Miteinander und die Infrastruktur in diesen Stadtteilen verbessern. Darum bemühen sich viele Kommunen und viele Bundesländer. Kollege Oswald, auch Bayern ist mit 26 Projekten dabei. Die Bundesregierung - das ist der entscheidende Punkt hat dieses Engagement mit dem Programm und der Gemeinschaftsaufgabe „Soziale Stadt“ von Bund, Ländern und Gemeinden aufgegriffen. Jährlich werden 100 Millionen DM - das ist von Ihnen kritisiert worden - bereitgestellt. Ich denke, 300 Millionen DM insgesamt von Bund, Ländern und Gemeinden sind schon mehr als null. Das kann auch noch ausgebaut werden und es sollte Unterstützung von uns allen bekommen. ({0}) Entscheidend ist aber, dass von diesen 300 Millionen DM mittlerweile 162 Projekte profitieren. Das zeigt, wie groß das Interesse ist, aber auch, wie dringend der Handlungsbedarf ist. In mehr als einer Hinsicht ist das Programm „Soziale Stadt“ neu; es geht weit über die Zielsetzungen der klassischen Städtebauförderung hinaus. Es geht um Bündelung und um Beteiligung. Soziale Stadt bedeutet gemeinsame Anstrengung. Interessant ist, dass das Programm in seinen Leitlinien Strukturen der Zusammenarbeit vorgibt und auf Synergieeffekte zielt. Es verlangt die Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Es verlangt ein soziales Netzwerk der Akteure in den Stadtteilen, der Bürger, der Wohnungsunternehmen, der sozialen Verbände, der Wirtschaft und vieler anderer. Es verlangt ressortübergreifendes Handeln, das heißt Bündelung von Maßnahmen und Ressourcen aus den Bereichen Wohnen, Verkehr, Arbeit, Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Auf Bundesebene liegt dafür Vorbildliches vor. Mittlerweile haben viele Ministerien ergänzende Programme aufgelegt. Ebenso sind nun unsere Kommunen gefordert, ein integriertes Handlungskonzept zu erstellen. Geschätzte Kollegin von der PDS, das geht nur ressortübergreifend. Jetzt haben die Kommunen auch die Möglichkeit, endlich einmal aus ihrem Verwaltungsegoismus herauszukommen. Das Programm „Soziale Stadt“ ist allerdings weit mehr als ein Investitionsprogramm. Der notwendige soziale Erneuerungsprozess braucht die Ergänzung durch nicht investive Maßnahmen. ({1}) Es geht nicht allein um die bauliche Veränderung von Stadtteilen, die Modernisierung von Wohnungen; es geht vielmehr um ein neues soziales Miteinander der Stadtteilbewohner. ({2}) Das stellt die Politik vor neue Herausforderungen. Erfolg und Misserfolg dieses gemeinsamen Programms hängen entscheidend von der Akzeptanz und der Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger ab. Nur wenn es uns gelingt, ein neues nachbarschaftliches Bewusstsein in den Städten zu schaffen, und nur dann, wenn sich die BürgeGerhard Schüßler rinnen und Bürger für ihren Stadtteil engagieren, werden unsere Maßnahmen auch dauerhaft greifen. Die Erneuerungsprozesse müssen aus dem Stadtteil kommen und die Entscheidungen müssen sich anders als bisher vollziehen. Wir werden nach Strukturen suchen müssen, die eine dauerhafte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger im Stadtteil sichern. Das Quartiersmanagement hilft bei der örtlichen Steuerung. Genauso notwendig werden Regionalkonferenzen sowie regionale Unterstützungssysteme sein. Die Ziele des Programms sind vielfältig und unterschiedlich, ebenso die Maßnahmen für den Stadtteil. Eine gute Ist-Analyse der speziellen Probleme vor Ort und eine ständige Evaluation sind Voraussetzungen für eine zielgerichtete Arbeit. Ich möchte am Beispiel der nordhessischen Stadt Kassel die Vielfältigkeit bei der Umsetzung darstellen. Die Kasseler Nordstadt ist ein Stadtteil am Innenstadtrand. In der Nähe ist die Bahn. Sie hat ein negatives Image. Sie hat große Modernisierungs- und Instandhaltungsmängel. Die Wohnungen sind überbelegt, die Verkehrsbelastung ist hoch und ebenso hoch die Arbeitslosigkeit. Mit lokalen Akteuren wurden jetzt schon einige Dinge umgesetzt: bezüglich der Modernisierung des Wohnraums, der Baulückenerschließung, der Begrünung, der Errichtung eines Kultur- sowie eines Mieter- und Bewohnerzentrums. Hilfen zur Arbeit und das Angebot lokaler Qualifizierungsmaßnahmen gehören gleichfalls in das Paket der Anstrengungen. Zwei Dinge wurden erreicht. Die finanziellen Mittel aus den unterschiedlichen Ressorts wurden gebündelt und die fachübergreifende Zusammenarbeit der Akteure vor Ort vorangetrieben. Ein Stadtteilmanager arbeitet in einem Stadtteilladen. Die Bewohnerinnen und Bewohner engagieren sich in Stadtteilkonferenzen und Informationsveranstaltungen. Jetzt kommen wir zu den Kosten. All das ist erreicht worden mit einem Zuschuss von 300 000 DM aus dem Programm „Soziale Stadt“ - damit man nur einmal weiß, wie wenig Mittel man manchmal einsetzen muss. ({3}) Gestatten Sie mir als hessischer Abgeordneter, dass ich auch auf die anderen Projekte in den Städten Gießen, Frankfurt, Dietzenbach und Darmstadt hinweise. Sie haben ihren Schwerpunkt in der lokalen Beschäftigungsförderung gesehen. Sie wurden im Rahmen der EU-Pilotaktion „Drittes System und Beschäftigung“ unterstützt und ausgewertet. Auch diese Bilanz kann sich sehen lassen: Neben der Gewinnung zahlreicher Akteure konnten insgesamt 67 neue Stellen im Stadtteil geschaffen werden. Ich rede nicht von Sozialarbeiterstellen, sondern von Ausbildungsplätzen der örtlichen Wirtschaft und Ähnlichem. Ich denke, auch hier ist das Ziel, Beschäftigungsimpulse in den Stadtteilen zu setzen, erreicht worden. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und mit ihr die Koalitionsfraktionen haben einen Prozess in Gang gesetzt, der eine neue, eine integrative und nachhaltige Stadtentwicklungspolitik ermöglicht. ({4}) Unsere gemeinsame Aufgabe wird es jetzt sein, den Förderrahmen zu verstetigen, die Moderation bei der Umsetzung zu übernehmen und Akteure zu gewinnen. Der ressortübergreifende, innovative Handlungsansatz des Programms „Soziale Stadt“ ist aus meiner Sicht zukunftsfähig und zukunftsgestaltend. Dazu brauchen wir ein partnerschaftliches Miteinander, eine parteiübergreifende Initiative. Ich bitte Sie um Unterstützung vor Ort und hier. ({5}) Man sieht jetzt schon Erfolge. Wenn man vom Programm Soziale Stadt spricht, sieht man ja bei den einzelnen Abgeordneten - egal welcher Fraktion sie angehören zufriedene Gesichter. Auf Erfolge kann und sollte man stolz sein. Es ist allerdings kein Ruhekissen; denn das Programm „Soziale Stadt“ wäre vollkommen verfehlt verstanden, wenn wir es nur als Feuerwehrprogramm für Brennpunkte sehen würden. Der Einsatz ist nicht beendet, wenn der erste Brand gelöscht ist. Wir brauchen langfristige, präventive Prozesse. Wir müssen die Stadt als positiv besetzten Raum sozialen Miteinanders, kultureller und wirtschaftlicher Kraft neu begreifen. Das ist der zentrale Ansatz der Weltkonferenz hier in Berlin und das ist das wichtigste Ziel des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“. ({6}) Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, ich konnte Sie ein bisschen neugierig machen auf den Prozess sozialer Stadterneuerung, so neugierig, wie es die Aktiven vor Ort schon längst sind. Es liegt nun an uns allen, in unseren Wahlkreisen Projekte anzustoßen und die in Gang befindlichen Prozesse unterstützend zu begleiten. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Christian Ruck.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verständlicherweise nimmt in dieser Debatte um Urban 21 die Problemstellung in unserer eigenen Zivilisation und in unseren Städten den breitesten Raum ein. Mich als Abgeordneten einer Großstadt würde es natürlich auch reizen, zum Beispiel über die nicht mehr stimmige Arbeitsteilung zwischen Großstadt und Umland, über den teilweise grotesken Wettbewerb von Umlandgemeinden um die gleiche Infrastruktur, über das Problem der Zersiedelung, das gleichzeitig auch den Verlust von Orientierung und Heimat bedeutet, zu sprechen. Aber ich möchte hier als Entwicklungspolitiker sprechen und ich glaube, es wäre fahrlässig und verantwortungslos, wenn wir in dieser Debatte die teilweise schon apokalyptischen Zustände in vielen der Megastädte in den Entwicklungsländern als etwas abtun würden, was weit weg ist und keinen Einfluss auf unsere Zivilisation haben wird. ({0}) Die Städte im Süden wachsen so stark und so schnell wie nie in der Geschichte. 1990 lebten dort noch 28 Prozent der Bevölkerung, jetzt sind es bereits 35 Prozent der Bevölkerung und im Jahre 2025 sollen über 50 Prozent der Bevölkerung in Megastädten leben. Allein die Stadt Lagos zum Beispiel wächst jährlich um 300 000 Einwohner. Auch hier ist natürlich die Urbanisierung eine Chance: 80 Prozent des Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländern spielt sich in den Städten ab. Hier wächst auch das politische Selbstbewusstsein heran. Auf der anderen Seite aber sind diese gewaltigen Agglomerationen längst außer Kontrolle geraten; keine Ordnungsmacht, kein Bebauungsplan und keine Stadtplanung haben auch nur den Hauch einer Chance, diese urbanen Bevölkerungsexplosionen und vor allem ihre Schattenseiten - die gigantischen Umweltprobleme, namentlich die großflächige Luftverschmutzung, die katastrophalen hygienischen und sanitären Zustände bis hin zur Süßwasser- und Meeresverschmutzung - in den Griff zu bekommen. Bei der wachsenden städtischen Armut und Wohnungsnot geht es wirklich für ein Drittel der städtischen Bevölkerung buchstäblich ums Überleben. Dazu gehören schließlich die wachsende Kriminalität, die die Staatsgewalt auch demokratischer Regierungen unterhöhlt, und die Überlastung oder gar der Zusammenbruch der städtischen Infrastrukturen vom Verkehr bis hin zum Bildungswesen. Deswegen sind diese Megastädte nicht nur Chancen, sondern auch tickende Zeitbomben, und zwar nicht nur für die Länder „da unten“, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft; ({1}) denn in unserer globalisierten Welt haben wir anschaulich erlebt, dass die Probleme Jakartas oder Mexiko-Citys, Lagos‘ oder Bangkoks ganz schnell auch vor unserer Haustür stehen, und zwar in jeder Hinsicht, und dass Megastädte, wenn sie ihre eigenen Länder destabilisieren, natürlich auch uns destabilisieren können. Deswegen ist es wichtig, dass auch wir und Urban 21 im Juli in Berlin diese Probleme zum Schwerpunkt machen. Ich bin daher dankbar, dass die Entwicklungspolitiker hier im Kreise der Verkehrs- und Stadtplanungspolitiker zu Wort kommen. ({2}) Das Gegensteuern gegen diesen Trend ist schwierig, aber nicht hoffnungslos. Das hat auch unsere eigene Entwicklungshilfe in den letzten Jahren gezeigt. Vier Aktionsfelder sind dabei entscheidend: erstens die Konzeption und der effiziente Einsatz von bezahlbaren Umwelttechnologien auf allen Gebieten. Die Technologien sind vorhanden und erprobt, so zum Beispiel in Bogota, in Tunis und anderswo. Wichtig ist aber, dass man darauf achtet, dass nicht immer das Teuerste das Beste ist. Wichtig ist auch, dass man nicht alles zum Nulltarif abgeben kann; das hat sich oft als Bumerang für die Betroffenen erwiesen. Zweitens. Wir brauchen auch und vor allem hier eine größere Autonomie der Kommunen und eine Reform des öffentlichen Sektors. Trotz aller guten Ansätze sind die Entwicklungsländer häufig noch zu zentralistisch aufgebaut und kennen keine kommunale Selbstverwaltung. Zur notwendigen Förderung der Leistungsfähigkeit der Kommunen gehören aber geradezu eine bestimmte Autonomie der Finanzen und die Einführung eines kommunalen Finanzausgleichs. Außerdem brauchen wir eine stärkere Leistungsfähigkeit der staatlichen und städtischen Bediensteten. Das bedeutet in vielen Fällen zwar weniger Personal, dafür aber bessere Ausbildung, bessere Bezahlung und bessere Motivation. Drittens. Die Beteiligung der Zivilgesellschaft und die Stärkung der Selbsthilfekräfte ist nötig. Entscheidend ist, dass gerade in den Elendsvierteln die lokale Bevölkerung soweit wie möglich in die Planungsprozesse einbezogen wird. Nur dies schafft auch bei den Armen Identifikation, schafft Selbstbewusstsein und Motivation. Es macht einem auch die Armen zu Partnern, die man braucht, um mit knappen Finanzmitteln wirtschaftspolitisch handeln sowie Gewerbebetriebe und Mindeststandards an Infrastruktur selbst in den Slums errichten zu können. ({3}) Viertens: Stärkung der ländlichen Räume. Landflucht hat ihre Ursache nicht zuletzt in der fehlenden Perspektive für die Menschen in den ländlichen Regionen. Deswegen sind hier nach wie vor ländliche Entwicklungsprogramme, die Landreform und die Bekämpfung der Umweltzerstörung auf dem Land das Gebot der Stunde. In unserem eigenen Interesse müssen wir und muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit gerade diese Felder ausbauen. Davon profitieren wir alle, zum Beispiel auch die deutsche Wirtschaft, die im Gefolge der Entwicklungszusammenarbeit eine ganze Fülle von Aufträgen im Bereich der Umwelttechnologie bis hin zu Consulting und Managementberatung gerade in den Megastädten an Land ziehen konnte. Erfreulich sind auch die offiziellen Partnerschaften vieler deutscher Städte auf diesem Gebiet, zum Beispiel von Köln oder Stuttgart mit Tunis bzw. Ankara. Das ist eine lebendige und lebensnotwendige Interpretation der Agenda 21, die eine Grundstruktur der Rio-Konferenz ist, an der auch Vertreter der letzten Regierung, zum Beispiel Herr Repnik als Vater dieser Agenda, ({4}) maßgeblich mitgewirkt haben. ({5}) Bei allen Anstrengungen gilt es jedoch festzuhalten: Der Schlüssel zu einer humaneren und umweltfreundlicheren Entwicklung auch der Megastädte in den Entwicklungsländern liegt nicht bei der deutschen Entwicklungshilfe, sondern vor allem bei den verantwortlichen Eliten in diesen Ländern selbst. Auch hier gibt es Anknüpfungspunkte; dabei geht es natürlich auch um Einflussnahme, um Politdialog auch auf der Urban 21. Wenn allerdings Rot-Grün mit den weit überproportionalen Kürzungen das Entwicklungsbudget zum Steinbruch macht, ist der Rückenwind für einen ernsthaften Politdialog mit den Machthabern des Südens nur noch ein Lüftchen. Zum Schluss deswegen ein Vorschlag an Sie, Herr Bundesverkehrsminister, und Ihre Delegation: Erklären Sie auf der Urban 21, dass der Kanzler seinen Wortbruch korrigiert, dass er sein Versprechen, die Entwicklungshilfemittel zu erhöhen, wahr macht. Dann werden Sie von den Vertretern des Südens wieder ernst genommen und die Konferenz, die von der vorherigen Regierung Eduard Oswald wurde schon genannt - initiiert wurde, wird durch Sie auch in dieser Hinsicht ein Erfolg. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans-Günter Bruckmann.

Hans Günter Bruckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003058, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert, in dem sich die Mobilität explosionsartig entwickelt hat. Erst Schiene, dann Wasser, dann das Automobil und der Luftverkehr haben den Lebensraum, den räumlichen Horizont und die Bewegungsfreiheit für Millionen von Menschen enorm erweitert. Die Menschen im städtischen Raum hatten mit den negativen Folgen der überproportional gestiegenen Mobilitätsbedürfnisse und den daraus resultierenden Belastungen fertig zu werden. Die Probleme, die durch die wachsende Mobilität in den Ballungsräumen aufgetreten sind und gelöst werden müssen, sind weltweit für Regierungen, Städte und Parlamentarier eine große Herausforderung. Bereits heute leben 2,3 Milliarden Menschen in städtischen Ballungsgebieten. Nach Schätzungen der UNO wird sich diese Zahl bis zum Jahre 2025 verdoppeln, sodass dann mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden. Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, es hat zu lange gedauert, bis das Bewusstsein für die Lösung der entstandenen Probleme geschaffen wurde. International sind wir seit 1992 in Rio und 1996 in Istanbul mit Habitat II den richtigen Weg gegangen. Auf der Weltkonferenz Urban 21 hier in Berlin ist auch die nachhaltige Mobilität auf die Agenda gesetzt worden. Das ist erstmalig der Fall. In der weltweiten Vorbereitung zur Urban 21 haben vier Regionalkonferenzen - einmal in Singapur, dann in Südafrika, in Brasilien und auch in Deutschland - stattgefunden. Die Lösung der Probleme innerstädtischer Mobilität war ein Schwerpunkt der Regionalkonferenz im April 1999 in Singapur. Um dem steigenden Wachstumsdruck der konkurrierenden Verkehrsträger auf die Flächennutzung im städtischen Raum zu begegnen, hat Singapur ein Mobilitätsmanagement eingeführt. Die Instrumente des Mobilitätsmanagements wie Zulassungsbeschränkungen für Pkws, ein elektronisches Verkehrspreissystem zur Verkehrslenkung, der Vorrang für den öffentlichen Personennahverkehr und ein systematischer Ausbau des schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehrs haben dazu geführt, dass im Modal-Split dort ein Anteil von 63 Prozent existiert und man das Ziel hat, 75 Prozent zu erreichen. Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, andere Länder haben andere Rahmenbedingungen und brauchen auch andere Lösungen. In Europa und in Deutschland sind die Städte gebaut, in denen wir leben. Mehr als 90 Prozent unserer Siedlungsgebiete sind nicht älter als 150 Jahre, und wir werden auch zukünftig im Trend in diesen Städten leben wollen. Wenn man einmal die aktuellen Trends sieht, dass man aus Ballungszentren heraus an die Ränder geht, dann wird man eines erkennen können: Wir haben dadurch eine große Veränderung in der Wirkung des öffentlichen Verkehrs. ({0}) Die Kernfrage für uns ist eindeutig: Wie schaffen wir es, bei steigenden Mobilitätsansprüchen die Balance zwischen Mobilität und Ökologie im Stadtraum zu erreichen? Ich bin mir sicher, dass wir alle ein Verkehrssystem haben wollen, das diese Bedürfnisse der Menschen flächendeckend und umweltverträglich realisieren soll. Im Einsatz der Instrumente und bei der Förderung der Verkehrsträger werden dann die Unterschiede deutlich. Von der Regierung Kohl wissen wir, dass sie den Schwerpunkt auf die Förderung des Straßenverkehrs gesetzt hat. Sie tat dies vermutlich in guter Absicht und in der Hoffnung, dass die Straße allein in der Lage sei, den anfallenden Verkehr aufzunehmen. Heute wissen wir, dass diese Hoffnung getrogen hat. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat in einem Bericht zum Forschungsfeld „Städtebau und Verkehr“ Empfehlungen für eine stadtverträgliche Mobilität gegeben. Unter anderem werden die Reduzierung des Flächenbedarfs für den motorisierten Individualverkehr, der Ausbau des Radverkehrs und der nachhaltige Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs zur Anbindung der Wohngebiete empfohlen. Diese Empfehlungen stützen die Politik der Regierungskoalition. Das Eckpunktepapier der Bundesregierung für einen leistungsfähigen und attraktiven öffentlichen Personennahverkehr wird diesen Empfehlungen gerecht, ({1}) denn Sie wissen: Täglich nutzen mehr als 26 Millionen Menschen in Deutschland den öffentlichen Personennahverkehr. Mehr als 250 000 Beschäftigte in über 6 000 Verkehrsunternehmen erfüllen diese Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Durch die Vernetzung von öffentlichen Verkehrssystemen mit dem Individualverkehr durch Telematik können wir das Ziel, zu einer Entlastung und zu einer Verbesserung des öffentlichen Verkehrs auch im Raum zu kommen, erreichen. ({2}) Ein Ziel dabei ist die Steuerung der Verkehrsmengen, ein anderes Ziel ist die Verkehrsvermeidung sowie die Reduzierung der Umweltbelastungen, die auf den städtischen Raum wirken. Daraus wird klar, dass wir auf Dauer einen zukunftsträchtigen öffentlichen Personennahverkehr brauchen. Die Regierungskoalitionen haben deshalb eine Zielvereinbarung getroffen, um den Rahmen für eine Qualitätsoffensive, eine stärkere Kundenorientierung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Stärkung des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit sowie die Schaffung gesicherter, dauerhafter Finanzierungsgrundlagen abzustecken. ({3}) Wir werden für Transparenz und Wettbewerb im ÖPNV mit einer sozial ausgewogenen Wettbewerbsordnung sorgen und die Unternehmen in einer ausreichenden Übergangszeit an die Gegebenheiten anpassen. Wir denken, das wird acht Jahre dauern. Auf diese Weise wird der ÖPNV auch im europäischen Rahmen wettbewerbsfähig sein können. Wir werden auch dafür sorgen, dass der Grundsatz der Subsidiarität voll zur Geltung kommt und wir Chancengleichheit auf dem europäischen Verkehrsmarkt haben werden. Bei Ausschreibungen sind Qualitätsstandards zu erfüllen, die sowohl hinsichtlich der Technik als auch des Leistungsangebotes sowie hinsichtlich der sozial- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen den Anforderungen gerecht werden. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, wenn wir dem Anspruch sozialer Symmetrie gerecht werden. Wir haben in Deutschland einen guten Standard. Trotzdem müssen wir die Attraktivität noch steigern. Dazu gehören die Modernisierung der Fahrzeugflotten und Beschleunigungsmaßnahmen für den städtischen Raum. Der ÖPNV braucht öffentliche Transferleistungen, die diesem Anspruch gerecht werden. Heute sind es 30 Milliarden DM, die in den öffentlichen Verkehr fließen, wobei sich der Anteil des Bundes auf 15 Milliarden DM beläuft. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft ihren Anteil leisten. Das hat Herr Minister Klimmt heute Morgen in der Regierungserklärung ausgeführt. Gleiches erwarten wir aber auch von den Bundesländern und den Kommunen. Nur auf diese Weise können wir dem Anspruch gerecht werden. ({4}) Jede Innovation im öffentlichen Personennahverkehr muss ein Zugewinn für die Weiterentwicklung der Mobilität im städtischen Raum sein und auf diese Weise Beiträge zur Reduzierung von Umweltbelastungen leisten. Bei der Entwicklung von Verkehrssicherheitskonzepten sind die jeweiligen Besonderheiten der Städte und Ballungsräume zu berücksichtigen. Dies gilt speziell im Hinblick auf ältere Menschen, Kinder und Radfahrer. Zum Abschluss will ich Ihnen sagen, dass wir von Seiten der Regierungskoalition die Erklärung der Bundesregierung zur Weltkonferenz Urban 21 unterstützen. Wir fordern Sie mit unserem Entschließungsantrag auf, Gleiches zu tun. Die umweltverträglichen Verkehrsträger und die Menschen, die in diesen Räumen wohnen, werden es Ihnen danken. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Klaus Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Herausforderung, vor der wir weltweit stehen, ist: die Stadt als lebenswerten Lebensraum für die Menschen von heute zu schaffen und für die Menschen von morgen zu erhalten und auszubauen. Ich meine, dass wir uns dieser Problematik über Partei- und Ländergrenzen hinweg annehmen sollten. Es handelt sich um ein Problem, an dessen Lösung wir alle ein gemeinschaftliches und großes Interesse haben; ein Problem, das sich ökonomisch, ökologisch und sozial stellt. Die Tatsache, dass wir in Deutschland jetzt zum Auftakt des 21. Jahrhunderts Gastgeberland von Urban 21 sind, ist eine hervorragende Chance, deutlich zu machen, dass wir dieses Problem auch in unserem eigenen Land ernst nehmen. Sie eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, mit einer Fülle von konkreten Initiativen in diese Konferenz hineinzugehen. Ich kenne das Konferenzprogramm nicht in der Form, wie Sie es gerade dargestellt haben. Ich bin überrascht, dass die Erklärung schon vorliegt. Wir haben sie noch nicht und wären daran interessiert, sie zu erhalten, um zu wissen, was wir unterstützen können. Falls Sie es haben, wäre es sehr gut, wenn wir die entsprechenden Unterlagen auch bekommen würden. Ich meine, wenn darin die Rede davon ist, dass wir konkrete und deutliche Impulse zur Lösung der weltweiten Daueraufgabe einer nachhaltigen Städtebau- und Siedlungspolitik geben, dann ist dies ein guter Ansatz. Ich appelliere deshalb an Sie, Herr Minister, dass Sie in das Papier diese konkreten Impulse hineinschreiben, dass Sie konkret sagen, wohin Sie wollen, und dass Sie nicht im Unverbindlichen und Allgemeinen stecken bleiben. ({0}) Bislang haben wir von dieser Regierung keine neuen Initiativen, keine neuen Impulse bekommen. Mit allem, was Sie tun, leben Sie von den Initiativen der Vorgängerregierung. Auch dass die Urban 21 in Berlin ist, ist ein Verdienst der Vorgängerregierung. Deshalb habe ich das Bedenken, dass diese konkreten Impulse, diese innovativen und kreativen Anregungen unter Umständen von Ihnen nicht kommen. ({1}) Lassen Sie mich einen anderen Aspekt festhalten: Bei aller Kritik, die wir haben, bei allen Problemen, die wir haben, sollte hier und heute nicht verschwiegen werden, dass wir in Deutschland lebenswerte und liebenswerte Städte haben, dass es nicht nur Probleme und soziale Randerscheinungen gibt, sondern dass Menschen, die zu uns kommen, sagen, die deutsche Städtelandschaft ist vorbildhaft und erstrebenswert. In vielen Fällen kommen wir dem Leitbild einer kompakten Stadt nahe, wie andere sie erstreben. Dass wir das nicht erreicht haben, will ich nicht leugnen, aber wir sollten nicht alles negativ darstellen. Wir haben eine Städtelandschaft, die positiv ist. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn ich die Diskussion überschaue, möchte ich den Akzent in einem Punkt etwas anders setzen. Ich meine, wir können nicht nur auf die Metropolfunktion, auf die Kernstadt schauen, sondern wir müssen die Regionen sehen. Wir leben in einer Welt der Regionen, nicht nur in einer Welt der Metropolen oder der Kernstädte. ({3}) Heute fiel das Wort vom Speckgürtel. Was wir brauchen, sind Regionen, die sich im globalen Wettbewerb bewegen und bewähren können. Wir brauchen keine zentrale Entscheidung der Kernstadt für die liebenswerten Städte im Umland. Frau Streb-Hesse, ich habe immer gesagt, ich wehre mich dagegen, dass Neu-Isenburg Frankfurt 35 wird. ({4}) - Wir kennen die Eingemeindungsvorstellungen, die flächendeckend vorhanden sind. Ich habe immer gesagt, wir brauchen die Kreativität eines polyzentrischen Ballungsraumes, in dem die Menschen leben, in dem wir Grün kombinieren mit städtischer Verdichtung in einer Art und Weise, dass sie von den Menschen, die zu uns kommen, Frau Streb-Hesse, durchaus positiv gewürdigt wird. Ich kenne keinen Ballungsraum, der einen so hohen Waldanteil hat wie der unsere. Das heißt, es ist nicht nur die Kernstadt, sondern es ist ein gut vernetzter Ballungsraum, den ich betrachten muss, der im Wettbewerb der Regionen europäisch bestehen kann, wo wir zentrale Funktionen gemeinschaftlich und partnerschaftlich, aber nicht zentralistisch regeln. Das ist ein Aspekt, den wir in die Diskussion hineinnehmen müssen. Ich will deutlich machen, dass wir in dieser Republik natürlich auch Beispiel geben müssen. Ob wir das mit der Politik der Bundesregierung, was Nachhaltigkeit angeht, was Städtebaupolitik angeht, tun können, ist etwas, was ich infrage stelle. Mir fehlen Ihre Initiativen im Energieund Klimaschutz. Auch hier ist es so, dass wir zum Beispiel im Wohnbaubestand Dinge für unsere Städte nachhaltig gestalten müssen. Die Energieeinsparverordnung wurde von uns vorbereitet und ist von Ihnen immer noch nicht abgeschlossen worden. Hier fehlen Kreativität und Impulse. Es fehlt die Zügigkeit der Umsetzung. Im Infrastruktur- und Verkehrsmanagement haben wir eine vergleichbare Situation. Das Anti-Stau-Programm, das Sie aufgelegt haben, ist doch ein Etikettenschwindel. Hier werden Mittel gekürzt und nicht im notwendigen Umfang bereitgestellt. Das ist ein Punkt, den wir kritisch aufgreifen müssen, wenn wir sagen, dass wir umweltgerechte und umweltadäquate Mobilität haben wollen. Stauvermeidung ist umweltgerecht. Deshalb muss hier mehr getan werden. Es darf kein Etikettenschwindel betrieben werden. ({5}) Wenn Sie in diesem Zusammenhang noch einmal rekapitulieren, dass Sie mit der Ökosteuer gerade den öffentlichen Verkehr treffen, dann ist das kontraproduktiv zu dem, was Sie hier sagen. Wir müssen vernünftige Strukturen in den Ballungsräumen schaffen, indem wir den schienengebundenen öffentlichen Personennahverkehr ausbauen, weil er dort ein leistungsfähiges Verkehrsmittel ist. Es wäre also falsch, ihn steuerlich zu belasten. Deshalb werden wir Sie aus der Diskussion über die Ökosteuer nicht entlassen. Ich begrüße zwar das Programm „Soziale Stadt“, mit dem vieles umgesetzt werden kann. Aber wenn wir die Attraktivität der Ballungsräume gemeinsam erhöhen wollen, dann sollten wir nicht 100 Millionen DM, mit denen dieses Programm finanziert wird, beim sozialen Wohnungsbau einsparen und so ein reines Nullsummenspiel betreiben. ({6}) Nicht nur - das betrifft den gleichen Punkt - die Stauvermeidung ist wichtig. Wenn wir liebens- und lebenswerte Städte schaffen wollen, dann müssen wir auch für Umgehungsstraßen sorgen. Ich freue mich über die neuen Vorstellungen und Einsichten der Grünen bezüglich Mobilität und insbesondere Automobilität. Wir werden unsere Innenstädte auch automobil erreichbar lassen müssen - ich glaube, das ist ein ganz zentraler Punkt -, wenn sie so attraktiv sein sollen, wie wir es uns gemeinsam wünschen. Dr. Klaus W. Lippold ({7}) Ich könnte mir auch vorstellen, Frau Streb-Hesse, dass wir gemeinschaftliche Initiativen ergreifen, um zum Beispiel Factory Outlet Center im Außenbereich zu verhindern. ({8}) Ich sage ganz deutlich: Ich bin durch und durch Marktwirtschaftler. Aber die Entleerung der Innenstädte durch Factory Outlet Center auf der grünen Wiese brauchen wir nicht. ({9}) Factory Outlet Center können auch in den Innenstädten realisiert werden. Wir brauchen keine Factory Outlet Center auf der grünen Wiese, die einen Einzugsbereich von 300 Kilometern haben und die ein entsprechendes Verkehrsaufkommen zur Folge haben. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie solche Verhältnisse vermieden werden können. ({10}) Wir sollten noch einmal versuchen, den sozialen Wohnungsbau zu reformieren. Eine solche Reform haben Sie bislang blockiert, indem Sie die Baunutzungsverordnung, die jetzt novelliert werden sollte, im Ausschuss abgelehnt haben. Überall dort, wo es um Fortschritte und nachhaltige Politik geht, sind Sie noch nicht so weit, dass Sie der Opposition, die die Entwicklungen vernünftig vorantreiben möchte, Recht geben und an deren Vorstellungen anknüpfen. Ich hoffe, dass die Regierung jetzt viele positive Impulse geben wird - heute habe ich davon leider noch nichts gemerkt -, damit die Ergebnisse der anstehenden Konferenz Urban 21 nicht nur für die Menschen in unserem Land, sondern für alle Menschen auf der Welt hilfreich sind. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nunmehr der Kollege Frank Hempel für die SPD-Fraktion.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Die Weltkonferenz Urban 21, die vom 4. bis 6. Juli 2000 in Berlin stattfinden wird und die sich mit der nachhaltigen Entwicklung von Städten und der Verbesserung urbaner Lebensbedingungen beschäftigen wird, ist aus meiner Sicht eine wichtige Konferenz auch im Hinblick auf die Habitat-Konferenzen der vergangenen Jahre und auch im Hinblick auf die Habitat-Konferenz, die im Juli in Manila stattfinden wird. Lassen Sie mich aus entwicklungspolitischer Sicht einige Anmerkungen machen - ich bin dankbar, dass auch der Kollege Ruck das Thema aufgegriffen hat; ich habe vielen Passagen seiner Rede zustimmen können -: Zwar sind die Lebensverhältnisse in den Ballungszentren der reichen Länder auch nicht immer die allerbesten - das haben wir heute gehört - und stellen die Politik vor große Aufgaben. Aber die katastrophalen Verhältnisse in den Ballungszentren von Kalkutta, Mexico-City, Manila, Rio de Janeiro oder die Verhältnisse in den Städten der Länder Afrikas wie Nairobi, Kairo und Lagos sind mit den Verhältnissen in unseren Städten überhaupt nicht zu vergleichen. Zwar leben in den Entwicklungsländern im Gegensatz zu den Industrieländern noch immer mehr Menschen auf dem Lande und die Ernährungsgrundlage wird dort wenn sie überhaupt ausreicht - auf dem Lande geschaffen. Aber auch dort gibt es eben wegen der mangelnden Lebensqualität und der zumeist vermeintlich besseren Aussichten auf Lebensbewältigung in den Städten eine riesige Landflucht. In den Sahel-Gebieten Afrikas führt zum Beispiel die restlose Abholzung der noch verbliebenen Strauchvegetation zur Erosion der Böden. Die Verelendung der Landbevölkerung nimmt zu, weil dadurch die natürlichen Lebensgrundlagen und Ressourcen auf Dauer zerstört sind. Der Bevölkerung mangelndes Problembewusstsein vorzuwerfen wäre natürlich Hohn angesichts der erdrückenden Armut jener Länder, in denen jeder neue Tag auch ein neuer Tag im Kampf ums Überleben ist. In den Städten der Dritten Welt fehlen die für uns in Deutschland selbstverständlichen Dinge des Lebens wie ausreichendes Trinkwasser, Stromversorgung, elementare Versorgung im Bereich Bildung und Soziales. Dasselbe gilt für ein anderes Grundbedürfnis der Menschen, nämlich ein Dach über dem Kopf haben zu wollen. Ich gehe davon aus, dass die Verstädterung nicht zu stoppen ist. Gestern war in der „FAZ“ ein Artikel zu lesen, der zu der Aussage gelangt, dass es Schätzungen zufolge im Jahr 2025 etwa 100 Städte mit mehr als 5 Millionen Einwohnern, darunter Megastädte mit bis zu 30 Millionen Einwohnern, geben wird. So wird es kommen und damit hat man sich auseinander zu setzen. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen birgt die Lebensform Stadt offensichtlich das größte Entwicklungs- und Innovationspotenzial; zumindest in den entwickelten Ländern ist die Stadt Motor des Fortschritts. Zum anderen ist in den Entwicklungsländern die Stadt noch immer Zufluchtstätte zumeist armer Menschen. Das bedeutet, dass wir insbesondere in den Entwicklungsländern bei dieser Entwicklung gegensteuern müssen. Daher ist es wichtig, dass bei der Weltkonferenz Urban 21 diese Aspekte aus dem Bereich der Entwicklungspolitik Berücksichtigung finden. Als Ergebnis des schwierigen internationalen Meinungsbildungsprozesses der Habitat-Konferenzen der vergangenen Jahre wurde das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung anerkannt und festgeschrieben. Auch die Weltkonferenz Urban 21 wird die gleichzeitige Durchsetzung der Aspekte Ökonomie, Ökologie und Soziales diskutieren. ({0}) Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Lösung der Probleme in den Megastädten der Dritten Dr. Klaus W. Lippold ({1}) Welt nicht losgelöst von den Problemen, die zur Landflucht in diesen Ländern führen, betrachtet werden darf. Daher ist für mich eine zukunftsfähige, nachhaltige Entwicklung dieser Städte nur mit einer vernetzten Betrachtungsweise möglich. Die Ziele von Urban 21 werden nur dann durchsetzbar sein, wenn wir in den Entwicklungsländern auf dem Weg der Demokratisierung und der Transparenz weiterhin voranschreiten. ({2}) Dazu gehört für mich, dass die Dezentralisierung in den Ländern weiter unterstützt wird. Die Kommunen brauchen ihre eigenen Gestaltungsspielräume und müssen dazu selbstverständlich auch von den Ländern finanziell in die Lage versetzt werden. ({3}) Es ist wohl wahr: Treibhausemissionen, Rohstoff- und Landverbrauch, all das muss deutlich heruntergefahren werden. Wir Industrienationen suchen Abhilfe in der innovativen Technik. Mir scheint es allerdings so zu sein, dass die Schere zwischen Arm und Reich dadurch weiter auseinander klafft; denn es ist bekannt, dass die armen Entwicklungsländer in dieser Hinsicht nicht mithalten können. Die Industrieländer stehen aber in der Verantwortung, umweltfreundliche und effiziente Technologien vor allen Dingen in den Bereichen Bauwesen, Energie, Wasser, Abwasser, Transportwesen und Informationstechnologie bereitzustellen und den Entwicklungsländern zugänglich zu machen. Ich erwarte von der Konferenz klare Handlungsanweisungen, auf die sich die Fachminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in den bilateralen Verhandlungen berufen können. Letzten Endes - das wissen wir alle - geht es immer auch um Geld, das für Programme in Entwicklungsländern bereitgestellt werden muss. Ich bedanke mich. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 14/3521. Wer stimmt für die- sen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stim- men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition an- genommen. Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Frak- tion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3510 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS ab- gelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie Zusatzpunkt 3 auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Innere Reform der Europäischen Union Stand der Regierungskonferenz - Stabilität des Euro - Haltung zu Österreich - Drucksache 14/3377 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({1}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Beziehungen zu Österreich normalisieren - Drucksache 14/3187 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Hermann Bachmaier, Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäischer Rat in Feira - Europa entschlossen voranbringen - Drucksache 14/3514 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen geht die portugiesische Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union zu Ende und es beginnt am 1. Juli die französische Ratspräsidentschaft. Während dieser französischen Ratspräsidentschaft soll ein neuer Vertrag für die Europäische Union fertig gestellt werden, ein Vertrag, der die Europäische Union erweiterungsfähig machen soll, der die Voraussetzungen für die größte Erweiterung schaffen soll, die die Europäische Union jemals in ihrer Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die so genannte Osterweiterung der Europäischen Union ist richtig. Sie ist notwendig und sie vollendet ein großes Werk, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der zunächst westeuropäisch geprägten europäischen Völkerfamilie auf den Weg gebracht worden ist. Die Europäische Union ist nie eine nur westeuropäisch geprägte Union gewesen, sondern sie ist immer gesamteuropäisch ausgerichtet und orientiert gewesen. Deswegen will ich zu Beginn für unsere Fraktion aber ich denke, das ist die ungeteilte Einschätzung aller Mitglieder des Deutschen Bundestages - feststellen: Es liegt gerade im deutschen Interesse, dass die Erweiterung der Europäischen Union um eine große Zahl osteuropäischer, südosteuropäischer Staaten erfolgreich wird. Wir wollen die Osterweiterung der Europäischen Union. ({0}) Eine Reihe von Staaten Osteuropas hat bereits gezeigt, dass diese Erweiterung der Europäischen Union bei weitem nicht nur wirtschaftspolitische Interessen in den Mitgliedstaaten, die beitreten sollen, hat, sondern dass es um eine politische Union geht. Wie anders wäre es zu verstehen, dass Polen, Ungarn und die Tschechische Republik vor ihrem Beitritt in die Europäische Union schon Mitglieder des Nordatlantischen Bündnisses geworden sind? Auch bei diesen Ländern steht der Wille im Vordergrund, zu einer gesamteuropäischen Friedens- und Freiheitsordnung beizutragen. Das geht weit über die wirtschaftlichen Interessen hinaus. ({1}) Meine Damen und Herren, weil wir die Erweiterung der Europäischen Union wollen, muss die Europäische Union selbst beitrittsfähig werden. Die Europäische Union, die heute aus 15 Mitgliedstaaten besteht, wird nur beitrittsfähig, wenn wir die Zustimmung der Menschen auch in unserem Land erhalten und sie dort zurückgewinnen, wo sie verloren gegangen ist. Wir werden die Zustimmung der Menschen nur gewinnen, wenn klar wird, wer in der Europäischen Union wofür zuständig ist, und wenn diejenigen, die in der Europäischen Union zuständig sind, sich auf eine demokratische Legitimation auch durch die Parlamente stützen können. ({2}) Deshalb stehen wir zu Beginn der französischen Ratspräsidentschaft an einer wichtigen - vielleicht der wichtigsten - Weichenstellung der letzten Jahre und Jahrzehnte, die für eine gute weitere Entwicklung der Europäischen Union vorzunehmen ist. Sie, Herr Fischer, haben am 12. Mai eine zu Recht beachtete Rede gehalten und Sie haben richtige Fragen gestellt. Sie haben sich auch - zu Recht - darüber beklagt, dass die Menschen in der Europäischen Union - so haben Sie es ausgedrückt - diese Europäische Union zunehmend als eine bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel erleben. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Die Menschen erleben Brüssel nicht mehr als einen Ort von politischen Entscheidungen, die nur dort getroffen werden können, sondern sie erleben Brüssel mehr und mehr als einen Ort der starken Verbürokratisierung der europäischen Politik. ({3}) Wenn aber diese Analyse richtig ist - ich glaube, sie ist richtig -, dann ist es eine falsche Konsequenz zu sagen, dass die zunehmende Verbürokratisierung, die in den letzten Jahren in der Europäischen Union aufgetreten ist, erst nach der Erweiterung der Europäischen Union aufgelöst werden kann. Wir sagen: Das Problem muss vorher gelöst werden. Wahrscheinlich hat die Europäische Union nur noch jetzt eine wirklich realistische Chance, die Probleme, die sie hat, zu lösen. ({4}) Es muss vor der umfangreichsten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union über die Grundlagen, den Inhalt, die Ziele und damit eben auch über die Grenzen der Europäischen Union gesprochen und entschieden werden. Deswegen legen wir so viel Wert darauf, dass jetzt über die Ausfüllung des bereits im EU-Vertrag enthaltenen Subsidiaritätsprinzips gesprochen wird, dass jetzt über eine Kompetenzordnung in der Europäischen Union gesprochen wird und dass jetzt über die Verteilung der Kompetenzen - Kompetenzen, meine Damen und Herren, sind Verfassungsfragen - zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie in einzelnen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland auch über die Verteilung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union, den Nationalstaaten und den regionalen und kommunalen Ebenen im Wege eines Verfassungsvertrages entschieden wird. ({5}) Sie haben dies, Herr Fischer, in den letzten Wochen und Monaten häufig ({6}) als eine Überforderung der Regierungskonferenz, die sich jetzt mit den Restposten von Amsterdam beschäftigen soll, charakterisiert. Sie haben mehrfach das Szenario einer Krise an die Wand gemalt, die die Europäische Union fürchten müsse, wenn man jetzt über Fragen einer solchen Kompetenzordnung spricht. Ich sage Ihnen: Wenn es richtig ist, dass Kompetenzfragen Verfassungsfragen sind und dass Verfassungsfragen in der Europäischen Union, wenn sie denn gestellt werden, eine Krise auslösen könnten, dann wäre es besser, die Krise findet in der Europäischen Union der Fünfzehn statt und wird gelöst, als dass sie in einer erweiterten Europäischen Union stattfindet und dann möglicherweise nicht mehr lösbar ist. ({7}) Es kommt darauf an, dass wir uns selbst darüber klar werden, ({8}) welche Kompetenzen die Europäische Union braucht. Es müssen Kompetenzen aus solchen Politikbereichen in der Europäischen Union angesiedelt werden, in denen die Nationalstaaten heute allein nicht mehr handlungsfähig sind und - im doppelten Sinn des Wortes - Souveränität nicht mehr ausüben können. Denn zur Souveränität der Nationalstaaten gehört nicht nur, dass sie die Mittel besitzen, ihre politischen Entscheidungen zu treffen, sondern dazu gehört auch, dass sie die Fähigkeit besitzen, politische Entscheidungen tatsächlich durchzusetzen. Wir wissen, dass in den großen politischen Fragen dieses europäischen Kontinents, in Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion, in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zu Fragen der grenzüberschreitenden Kriminalitätsbekämpfung, die Nationalstaaten Zuständigkeiten im Sinne von Souveränität allein nicht mehr ausüben können. Deswegen will ich ganz ausdrücklich sagen: Es ist und bleibt eine richtige Entscheidung der Europäischen Union, die Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen zu haben - mit politischen Entscheidungen, die auch hier im Haus nicht immer nur einvernehmlich getroffen worden sind und über die wir bis heute angesichts des gegenwärtigen Wechselkurses des Euro streiten. Aber es war und bleibt eine richtige Entscheidung allein deshalb, weil die ökonomische Integration in der europäischen Geschichte immer auch der Schrittmacher für eine nachfolgende politische Integration war. Aber gerade weil es richtig war, dürfen wir jetzt nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Es muss die weitere Integration insbesondere im Bereich einer gemeinsamen Außen- , Sicherheits- und Verteidigungspolitik folgen. Es wäre doch gerade angesichts der Debatte in der NATO, in der Europäischen Union und in der Bundesrepublik Deutschland über eine Reform der Bundeswehr notwendig und richtig, wenn die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland gerade jetzt Initiativen zur weiteren Integration der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa ergriffe. ({9}) Ich finde, es muss uns schon mit einiger Nachdenklichkeit, vielleicht sogar mit Sorge erfüllen, dass verschiedene Mitgliedstaaten der Europäischen Union gemeinsame Initiativen ergreifen und die Bundesrepublik Deutschland daran nicht mehr beteiligen. Ich finde, Herr Außenminister, Sie sollten es zum Thema des deutschfranzösischen Gipfels am kommenden Wochenende machen, dass sich die französische Regierung offensichtlich entschieden hat, in der Verteidigungspolitik mehr mit der britischen Regierung als mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zusammenzuarbeiten. So etwas hätte es unter der früheren Regierung von Helmut Kohl in Europa nicht gegeben, meine Damen und Herren. ({10}) Es ist geradezu unvorstellbar, dass sich die französische Regierung entschließt, obwohl die objektiven Notwendigkeiten eigentlich eher auf deutscher Seite liegen, sich mit der britischen Regierung über die gemeinsame Beschaffung eines großen militärischen Transportflugzeuges zu einigen. Das sind Besorgnis erregende Entwicklungen in der Europäischen Union, die Deutschland zunehmend an den Rand der europäischen Politik drängen. ({11}) Und genauso, wie es richtig ist, dass wir neben der Wirtschafts- und Währungsunion, neben einer Vertiefung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine größere Kompetenz der Europäischen Union brauchen, genauso ist es auch richtig, dass wir jetzt über Kompetenzüberschreitungen sprechen müssen, die es in der europäischen Union ohne Zweifel gibt. ({12}) Ich will Ihnen einige wenige nennen, meine Damen und Herren, die deutlich machen, dass die Vorbehalte, die auch in unserer Bevölkerung gegen die zunehmende europäische Integration bestehen, zum Teil durchaus berechtigt sind: ({13}) Warum muss sich die Europäische Union jahrelang über ein Werbeverbot für Tabakprodukte auseinander setzen? Übrigens in derselben Zeit, in der sie den Anbau von Tabakerzeugnissen in südeuropäischen Ländern mit großen finanziellen Mitteln fördert! ({14}) - Entschuldigung! Wenn ich auf Entwicklungen hinweise, die in den letzten Jahren zugenommen haben, Herr Kollege, dann umfasst dies natürlich auch Entwicklungen, die vor dem Regierungswechsel 1998 begonnen haben, und ich bin zum Teil selbst daran beteiligt gewesen. Ich werde gleich noch auf ein ganz konkretes Beispiel eingehen. Also, wenn wir uns in der Analyse einig sind, dass es Fehlentwicklungen in der Europäischen Union gegeben hat, die korrigiert werden müssen, dann muss man doch wohl auch eine Debatte darüber führen dürfen, wann sie korrigiert werden müssen. Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn wir nicht zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem Zeitpunkt, in dem die Europäische Union erneut Grundentscheidungen in der Politik zu treffen hat, jetzt, da eine Regierungskonferenz läuft, jetzt, da die Europäische Union auf die Erweiterung vorbereitet werden soll, die sie sich vorgenommen hat, Entscheidungen darüber treffen, dann werden wir die Zustimmung der Bürger auch unseres Landes für die Erweiterung der Europäischen Union verlieren. Da wir aber den Erfolg der Europäischen Union wollen, müssen wir darüber sprechen. ({15}) Herr Fischer, ich will es Ihnen so sagen, wie wir es in den letzten Tagen und Wochen bei uns diskutiert haben: Wenn die Entscheidungen nicht jetzt getroffen werden, dann müssen Sie damit rechnen, dass wir Ihnen am Ende der Regierungskonferenz die Zustimmung zu diesem Ergebnis nicht geben können ({16}) - nicht weil wir den Misserfolg der Bundesregierung wollen, sondern weil wir den Erfolg der Europäischen Union wollen. ({17}) Werbeverbot für Tabakerzeugnisse, Quotenregelungen für Fernsehprogramme, von denen mindestens die Hälfte aus europäischer Produktion stammen soll, Umweltprogramme für Stadtentwicklung in der Europäischen Union - eine originäre kommunale Zuständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland -, Umweltverträglichkeitsvorhaben, Prüfungen für Planvorhaben auch in der kleinsten Stadt, eine Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, die mittlerweile jedes Planvorhaben in der gesamten Bundesrepublik Deutschland und allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union belastet und beschwert - das sind nicht Aufgaben der Europäischen Union, sondern das fällt in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten. ({18}) Ich sage Ihnen gerade zu dem letzten Beispiel, FloraFauna-Habitat-Richtlinie: Ich habe dem Europäischen Parlament angehört, als diese Richtlinie verabschiedet worden ist. Ich habe ihr damals nicht widersprochen. Wenn ich geahnt hätte, was daraus wird, hätte ich mich darum bemüht, sie zu verhindern. Aber wenn wir das heute erkennen, können wir doch gemeinsam Anstrengungen unternehmen, die Europäische Union wieder auf den Kern ihrer Zuständigkeiten zurückzuführen, von denen auch die Menschen in unserem Land zutiefst überzeugt sind, dass sie die Grundvoraussetzungen dafür sind, dass die Europäische Union ihre Zukunft so gestalten kann, wie das im letzten Jahrhundert möglich gewesen ist. ({19}) Glauben Sie denn im Ernst, dass Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, dass Helmut Kohl und François Mitterrand, dass die Gründerväter der Europäischen Union die europäischen Verträge geschrieben hätten, wenn darin hätte stehen sollen: Fernsehrichtlinie, UVP, Werbeverbot für Tabakerzeugnisse - und andere Auswüchse dieser Europäischen Union? Das fällt nicht in die Zuständigkeiten Europas; es sind andere Aufgaben, die dieser Europäischen Union gestellt sind. ({20}) Wenn wir das, was vor uns liegt, erfolgreich bewältigen wollen - hier im Haus sitzt eine große Fraktion, die wie keine andere in Deutschland über Jahre und Jahrzehnte Mitverantwortung für eine erfolgreiche europäische Friedens- und Freiheitsordnung getragen hat, ({21}) die ohne unsere Mitwirkung nie so entstanden wäre, wie sie heute ist -, wenn wir aktiv daran mitwirken wollen, dass der Auftrag Europas auch im 21. Jahrhundert im Sinne einer umfassenden politischen Ordnung, im Sinne von Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit für die Menschen in Europa fortentwickelt wird, dann müssen wir die Europäische Union auf ihren Kern zurückführen und ihr dafür auch die notwendigen Kompetenzen geben. ({22}) Herr Fischer, ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich sagen: Wir wollen an diesem Prozess aktiv mitwirken. Wir wollen den Erfolg. Wir wollen den Fortschritt. Wir wollen einen möglichst schnellen Abschluss der Regierungskonferenz, um die Erweiterung der Europäischen Union möglich zu machen. Wenn Sie in die französische Ratspräsidentschaft gehen, wenn Sie zum Ende der portugiesischen Ratspräsidentschaft auf einem großen Gipfel zusammentreffen, sollten Sie wissen, dass Sie nicht allein parteipolitisch motivierte Kritik der Opposition im Gepäck haben. Vielmehr sollten Sie unsere kritischen Anmerkungen als Hilfestellung einer großen Fraktion des deutschen Parlaments verstehen, deren Zustimmung Sie am Ende der Regierungskonferenz brauchen, jedenfalls dann, wenn es sich um Kompetenzverlagerungen zugunsten weiterer Mehrheitsentscheidungen handelt. Sie werden die Zustimmung unserer Fraktion brauchen, weil Sie das Ergebnis der Regierungskonferenz hier im Haus vermutlich mit Zweidrittelmehrheit feststellen lassen müssen. Wenn Sie das richtig verstehen wollen und wenn wir uns in der Analyse dessen, was Sie am 12. Mai in Ihrer Rede gesagt haben, einig sind, dann sollten Sie die Kritik, die wir üben, als einen konstruktiven Beitrag, gerichtet an die Adresse der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, empfinden. Auf der Grundlage dieser Argumente können Sie den Partnern in der Europäischen Union dann sagen: Ohne den Eintritt in eine Kompetenzordnung und ohne den Beginn einer Debatte über einen Verfassungsvertrag in der Europäischen Union wird es die Zustimmung der größten Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag nicht geben. Wenn Sie das als Hilfestellung empfinden, Herr Bundesaußenminister, dann ist dies nicht eine der typischen Auseinandersetzungen, die im deutschen Parlament über die Innenpolitik stattfindet, sondern ein konstruktiver Beitrag für die Fortentwicklung einer Europäischen Union, die unsere Handschrift trägt und für die wir auch in Zukunft Mitverantwortung übernehmen wollen. Es geht um eine große politische Richtungsentscheidung. Wir werden uns in den nächsten Monaten aktiv und konstruktiv an dieser Debatte beteiligen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Günter Gloser.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Fraktionsvorsitzender Merz, viele stellen sich jetzt die Frage: Was war eigentlich die Botschaft Ihrer Rede? War dies eine Drohung oder bieten Sie wirklich Hilfestellung an? Im Hinblick auf all das, was Sie angesprochen haben, ist zu fragen: Was hat die von der CDU/CSU geführte Bundesregierung bis 1998 getan, um diese Dinge zu lösen? ({0}) Ich nehme die Bilanz gleich vorneweg: Die SPD-geführte Bundesregierung fährt europapolitisch einen klaren Kurs. Sie ist für unsere Partner in der Europäischen Union berechenbar und verlässlich. Sie verfolgt eine durchsetzungsfähige und erfolgreiche Europapolitik. Das sind die Fakten, auch wenn sie der Opposition nicht gefallen. Ich sage ganz bewusst: Der Europäische Rat in Feira ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Europäischen Rat in Nizza, auf dem die zentralen europäischen Entscheidungen dieses Jahres anstehen. Diese Debatte bietet eine gute Gelegenheit, an den europapolitischen Grundkonsens zu erinnern, den es über viele Jahre im Deutschen Bundestag gab. Auf dieser Basis konnten die verschiedenen Bundesregierungen gezielt eine integrationsorientierte Europapolitik verfolgen, im Unterschied zu anderen Mitgliedstaaten, die grundsätzlich eher eine intergouvernementale Europapolitik vertreten. Ich darf an Folgendes erinnern: Zum Grundkonsens in der Europapolitik im Deutschen Bundestag gehörten bisher vor allem zwei Dinge: Erstens. Das europäische Aufbauwerk ist das zentrale Fundament für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa. ({1}) Deshalb ist die deutsche Europapolitik in ihrer Grundausrichtung auf Integration orientiert. Um das europäische Aufbauwerk zu festigen und weiterzuentwickeln, haben wir die Europapolitik in der Vergangenheit nicht zu parteipolitischen Zwecken instrumentalisiert oder missbraucht. Das sollte auch so bleiben. ({2}) Zweitens. Wir haben die Europapolitik nicht mit unrealistischen Zielen überfordert. Das heißt, wir haben sehr darauf geachtet, dass wir keine Erwartungen wecken, die die Europäische Union nicht erfüllen kann. Dies würde sie in den Augen der Bürgerinnen und Bürger diskreditieren und das europäische Aufbauwerk beschädigen. Aber: CDU und CSU sind drauf und dran, gegen diesen Grundkonsens zu verstoßen. Landauf, landab haben sie damit gedroht - wir haben das soeben gehört -, die neuen europäischen Verträge von Nizza beispielsweise im Bundesrat zu blockieren. In Brüssel macht man sich inzwischen ernsthafte Sorgen, wohin die größte deutsche Oppositionspartei europapolitisch treibt. Wenn Sie so weitermachen, dann schwächen Sie die deutsche Position im Rahmen der Regierungskonferenz nachhaltig. Herr Merz, offensichtlich sind Sie sich der Verantwortung nicht bewusst, die Sie über den Bundesrat mittragen müssen. ({3}) Vor allem des manchmal kurzen Gedächtnisses wegen möchte ich an Folgendes erinnern: Die SPD-Bundestagsfraktion hat auch in ihren Oppositionsjahren europapolitisch verantwortungsbewusst gehandelt. Trotz der Unterschiede im Detail gab es immer eine Zustimmung zu den grundsätzlichen Linien. Ich erinnere: Erstens. Wir haben den Maastrichter Vertrag bzw. die Wirtschafts- und Währungsunion zusammen mit der CDU/CSU und der F.D.P. im Deutschen Bundestag ratifiziert. Zweitens. Wir haben die Osterweiterung in den Oppositionsjahren solidarisch mitgetragen und auch gestaltet. Drittens. Wir haben auch den Amsterdamer Vertrag ratifiziert, obwohl wir - wie die damaligen Regierungsfraktionen - mit diesem Vertrag nicht vollständig zufrieden waren. Meine Damen und Herren, ich meine, dieser Grundkonsens sollte auch für die anstehende Regierungskonferenz bestehen bleiben. Uns ist sehr bewusst, dass ein so wichtiges Projekt im Deutschen Bundestag eine breite politische Mehrheit braucht. Dies setzt aber voraus, dass Sie die europapolitischen Realitäten zur Grundlage Ihrer Überlegungen machen und am europapolitischen Grundkonsens festhalten. Nur dann können wir, Regierung und Opposition, zusammenkommen. Wie ist aber nun die europapolitische Position der heutigen Opposition zur Regierungskonferenz? Die Opposition ist offensichtlich zerstritten; zwischen Europabefürwortern und Europaskeptikern gibt es einen Graben: ({4}) Dieser Graben muss sehr tief sein; denn schon die Ankündigung, dass CDU und CSU versuchen würden, ihre europapolitischen Differenzen in einem Spitzengespräch auszuräumen, war den Agenturen eine Nachricht wert. Was nach dem Gespräch als neues Strategiepapier veröffentlicht worden ist, hält aber nicht, was das Wort Strategie verspricht. ({5}) Sie haben am letzten Sonntag kein Strategiepapier zur Regierungskonferenz beschlossen; Sie haben vielmehr versucht, Ihren offensichtlich mühsam gefundenen Minimalkonsens zur Regierungskonferenz als neue Strategie zu verkaufen. ({6}) Ihre Europapolitik ist widersprüchlich, unrealistisch und voller Halbwahrheiten. Ihr Antrag für die heutige Debatte belegt dies. Ich gebe nur drei Beispiele. Erstens. Sie fordern, dass sich die Regierungskonferenz „mit allen Themen beschäftigen“ muss, „die für die Erweiterungsfähigkeit maßgeblich sind“. Wenn wir dies ernst nehmen würden, wäre dies gleichbedeutend mit dem Scheitern der Regierungskonferenz in Nizza. ({7}) Wollen Sie das wirklich? Nizza kann nur ein Erfolg werden, wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf die zentralen Fragen betreffend die Institutionen konzentrieren, die seit den Römischen Verträgen nicht grundlegend reformiert worden sind. Zweitens. Wir haben es gehört: Sie fordern in Ihrem Antrag, dass das Subsidiaritätsprinzip „im Vertrag durch eine genauere Abgrenzung der EU einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits gestärkt werden“ muss. „Die Frage der europäischen Kompetenzordnung duldet keinen weiteren Aufschub.“ Sehen Sie doch endlich ein, dass es für eine entsprechende Erweiterung des Mandats der Regierungskonferenz in Feira keine Mehrheit der Mitgliedstaaten geben wird. Wenn die deutsche Bundesregierung eine solche Forderung erheben würde, wäre das deutschfranzösische Verhältnis aufs Schwerste belastet. Wollen Sie das wirklich? ({8}) Sie fordern immer eine Nachbesserung der Agenda 2000. Solche Nachbesserungen kann und wird es derzeit nicht geben. Wir sind alle froh, dass die Staats- und Regierungschefs auf dem europäischen Gipfel in Berlin einen guten Kompromiss zur Agenda 2000 gefunden haben. Dabei galt es - das möchte ich betonen -, 15 Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen, 15 Mitgliedstaaten zu verpflichten, eine Lösung zu finden. Ohne Zweifel gibt es Punkte, die auch wir gerne anders gehabt hätten. Das gilt vor allem für die Kofinanzierung in der gemeinsamen Agrarpolitik. Aber auch hier gilt: Das war im Rahmen der Agenda 2000 mit unseren französischen Freunden nicht zu machen. Zudem fordern Sie auf der einen Seite immer wieder mehr Beitragsgerechtigkeit, lehnen auf der anderen Seite aber jede vernünftige Reform in der gemeinsamen Agrarpolitik ab. ({9}) Ihre alten Widersprüche, die Sie während Ihrer Regierungszeit nicht auflösen konnten, schleppen Sie noch heute mit sich herum. Mit solchen Forderungen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, untergraben Sie den alten Grundkonsens in der Europapolitik. Für mich ist klar: Wenn wir Ihre Vorschläge aufgreifen würden, schadeten wir nicht nur Deutschland, sondern auch der Europäischen Union. ({10}) Am 1. Juli 2000 übernimmt Frankreich die EU-Präsidentschaft. Wir wünschen unseren französischen Partnern für diese Präsidentschaft jeden nur denkbaren Erfolg; denn Erfolge der Franzosen sind gleichbedeutend mit Fortschritten für die europäische Integration. Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat die deutsch-französischen Beziehungen wieder gestärkt. Frankreich und Deutschland arbeiten gemeinsam für den Erfolg der Regierungskonferenz in Nizza. ({11}) Uns ist sehr bewusst, dass der deutsch-französische Gleichklang eine, wenn nicht die entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass wir in Nizza wirkliche Fortschritte bei den institutionellen Reformen machen. Im Augenblick sind die Verhandlungen der Regierungskonferenz - wer wollte das anders beschreiben nicht sehr dynamisch. Das ist normal und wird sich sehr bald ändern. ({12}) Unser Kurs für die Verhandlungen ist klar: Wir setzen alles daran, Herr Glos, zu echten Reformen zu kommen, die die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union auch nach der Erweiterung sichern. Folgende Punkte halte ich für besonders wichtig. Bei der Reform der Europäischen Kommission setzen wir uns dafür ein, dass eine feste Obergrenze für die Anzahl der Kommissare eingeführt wird. Wenn dies nicht möglich ist, weil der Widerstand der kleineren Mitgliedstaaten nicht überwunden werden kann, dann allerdings ist es umso wichtiger, die Stellung des Kommissionspräsidenten und die politische Verantwortlichkeit der einzelnen Kommissare zu stärken. CDU und CSU legen sich bei der Stimmengewichtung auf das Modell der doppelten Mehrheit fest. Ich halte das für unklug. Entscheidendes Ziel aus deutscher Sicht kann nicht ein bestimmtes Modell sein; es kommt vielmehr darauf an, dass der Bevölkerungsumfang Deutschlands bei den Abstimmungen im Rat angemessen zum Ausdruck kommt. Dies ist auch bei einer Neuwägung der Stimmen im Rat möglich; für uns sind deshalb beide Ansätze tragbar, wenn sie unserem Ziel dienen. ({13}) Weil das auch innenpolitisch eine wesentliche Rolle spielt, will ich die Frage der qualifizierten Mehrheit ansprechen. Wir wissen, dass die Bundesregierung einen mutigen Vorstoß unternommen hat. Unser Ziel ist es, in möglichst vielen Bereichen den Übergang zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zu erreichen. Je weiter die Regierungskonferenz in diesem Punkt kommt, desto mehr stärken wir die Handlungsfähigkeit der erweiterten Union. Die verstärkte Zusammenarbeit wird darüber hinaus im Rahmen der Regierungskonferenz einen besonderen Stellenwert bekommen. Sie kann ein Instrument sein, weitere Integrationsfortschritte zu erzielen, wenn im Rahmen der üblichen Verfahren keine Fortschritte mit allen Mitgliedstaaten erzielt werden können. Wir haben uns immer für ein begrenztes Mandat der Regierungskonferenz eingesetzt, weil klar ist, dass nur bei einem klar umrissenen und eng gefassten Mandat die Regierungskonferenz ein Erfolg werden kann. Dies halten nicht nur wir für richtig; das sollte die Opposition langsam merken. Auch führende deutsche Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften unterstützen uns in diesem Ansatz. Es gibt darüber hinaus zwei wichtige Fragestellungen, die auch für meine Fraktion von besonderer Bedeutung sind: die langfristige Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie die Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Frage nach der künftigen Aufgabenverteilung wird sich vor allem aus zwei Gründen verstärkt stellen. Mit der Osterweiterung wird die Europäische Union politisch, wirtschaftlich und sozial heterogener. Damit die Union handlungs- und entscheidungsfähig bleibt, muss sie sich stärker auf ihre Kernaufgaben konzentrieren. Darin sind wir uns ja auch möglicherweise einig. Aber auch unabhängig von der Erweiterung müsste die Europäische Union überprüfen, ob die Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU dem heutigen Integrationsniveau noch angemessen ist. Nicht jedes Kleinstprogramm aus dem EU-Haushalt bringt automatisch einen europäischen Mehrwert. Aber es gab und gibt im Europäischen Rat keine Mehrheit dafür, diese Frage im Rahmen der Regierungskonferenz 2000 zu behandeln. Dies war bereits auf den Europäischen Räten in Köln und Helsinki so und das wird in Feira nicht anders sein. Ganz offensichtlich sind sich CDU und CSU selbst noch gar nicht wirklich einig, wie sie dieses Thema politisch behandeln sollen. In dem vorliegenden Antrag fordern Sie, dass die Frage der Kompetenzabgrenzung in Nizza auf die Tagesordnung kommt. In Ihrem so genannten Strategiepapier - oder wie auch immer das Papier heißen mag - vom Sonntag fordern Sie für Nizza nur noch einen Einstieg in diese Frage. Was wollen Sie eigentlich? Ich kann Ihnen nur empfehlen, von Anfang an die Latte für Ihre Zustimmung zur Ratifizierung nicht zu hoch zu legen. Weil Sie sich intern nicht darüber einig werden, was Sie wollen, bauen Sie ein Drohpotenzial auf, um unter Umständen auch Nein zum neuen Europavertrag sagen zu können. Aber weil Sie sich so gern selbst „Europapartei“ nennen, wissen Sie nur zu gut, dass eine Ablehnung der neuen Europaverträge mit diesem Selbstverständnis nicht zu vereinbaren ist. ({14}) Man stelle sich vor: Die CDU Deutschlands lehnt unter ihrer neuen Vorsitzenden Frau Merkel als erste europapolitische Großtat die neuen Europaverträge ab, die 15 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einstimmig beschlossen haben. ({15}) Damit werden Sie nicht nur in Deutschland und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Vermittlungsproblem haben, Frau Merkel, auch in Osteuropa werden Sie eine solche Haltung nicht vermitteln können. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Deshalb treten Sie anscheinend jetzt schon ein Rückzugsgefecht an. Wenn Ihre Kehrtwende in einen neuen europapolitischen Realismus mündet, dann können wir das nur begrüßen. Durch Ihre antieuropäischen Parolen der letzten Monate haben Sie aber in jedem Fall maßgeblich zur europapolitischen Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland beigetragen. So dürfen Sie gerade mit der Europäischen Union nicht umgehen. ({16}) So können Sie, die Sie das europapolitische Erbe - so habe ich es zumindest gelesen - von Helmut Kohl fortführen wollen, das Erbe nicht bewahren. Statt mit unrealistischen Forderungen in die Verhandlungen zu gehen, sollten Sie lieber unsere realistischen Verhandlungsziele unterstützen. Wir streben in Nizza einen verbindlichen Beschluss an, mit dem das Thema Kompetenzabgrenzung auf die Agenda der nächsten Regierungskonferenz gesetzt wird. Unterstützen Sie uns dabei, denn gemeinsam sind wir in Brüssel stärker. Ich will auch noch kurz auf die Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge eingehen. Diese Frage hat auch für meine Fraktion einen hohen Stellenwert, denn hier geht es im Kern um zentrale Elemente der Ausgestaltung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Die Mitgliedstaaten müssen künftig in der Lage sein, im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge eigenverantwortlich zu handeln. Aber auch hier steckt der Teufel im Detail. Es ist gut, dass in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter Leitung von Staatsminister Zöpel in dieser Frage ein grundsätzliches Einvernehmen über das weitere Vorgehen erzielt werden konnte. Ich hoffe nur sehr, dass auch Bayern, sehr geehrter Herr Staatsminister Bocklet, diese Linie mitträgt und nicht wieder versuchen wird, in letzter Minute im Bundesrat den Kompromiss aufzukündigen. Meine Damen und Herren, die Regierungskonferenz muss die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union ab 2003 herstellen. Hier sind wir gegenüber unseren mittel- und osteuropäischen Partnern im Wort. Helfen Sie uns dabei. Helfen Sie mit, diesen europapolitischen Grundkonsens im Deutschen Bundestag fortzuführen, so wie wir es als Oppositionspartei getan haben. Dies ist von Nutzen für Deutschland. Dies ist vor allem von Nutzen für Europa. Ich bedanke mich. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Diplomatentribüne befindet sich der Außenminister der Republik Ungarn, Dr. János Martonyi. ({0}) Herr Außenminister, ich heiße Sie im Namen des Hauses bei der Debatte über eine Regierungskonferenz, die ja auch für Ihr Land von großer Bedeutung ist, herzlich willkommen und wünsche Ihnen für Ihren Deutschlandaufenthalt und Ihre hier zu führenden Gespräche viel Erfolg. ({1}) Ich gebe nun dem Kollegen Professor Dr. Helmut Haussmann für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist wichtig, dass vor entscheidenden Regierungskonferenzen im Deutschen Bundestag klar wird, in welchen Punkten in der Europapolitik Übereinstimmung herrscht. Kein Land wird so beobachtet vor dieser wichtigen Konferenz wie Deutschland. Ich möchte gleich am Anfang klar sagen: In der F.D.P. herrscht bezüglich der Europapolitik Klarheit, unabhängig davon, ob sie regiert oder ob sie in der Opposition ist. Jenseits von Tabakrichtlinie und Kompetenzeifersüchteleien der Bundesländer gibt es für die F.D.P. zwei ganz klare Ziele bis zur Ratifizierung: Erstens. Wir wollen einen substanziellen Einstieg in Mehrheitsentscheidungen. Das ist für uns ein ganz entscheidender Punkt. Zweitens. Wir wollen die pünktliche, aber auch realistische Osterweiterung. ({0}) Ich sage als überzeugter Europäer: Auch die Union wird sich am Ende des Tages entscheiden müssen. ({1}) - Verehrter Herr Kollege, ich halte ein Junktim zwischen endgültiger Kompetenzabgrenzung, Osterweiterung und Ratifizierung so für nicht durchhaltbar. Es ist nicht unsere Entscheidung. ({2}) - Verehrter Herr Kollege, ich möchte unseren ungarischen Freunden, unseren tschechischen Partnern nicht erklären müssen, dass die Regierungskonferenz - und damit der erste Schritt der Osterweiterung - am Veto eifersüchtiger Bundesländer gescheitert ist. Es darf weder an dem Ziel der SPD betreffend die Daseinsvorsorge noch an - was in dieser Zeit gar nicht leistbar ist - der Festschreibung einer endgültigen Kompetenzabgrenzung aus den Reihen der CDU scheitern. ({3}) Es wird aus unserer Sicht darauf ankommen, dass wir einen Einstieg in die Kompetenzabgrenzung finden. Wer aber die Europapolitik kennt, der weiß, dass eine endgültige Abgrenzung in wenigen Monaten so nicht leistbar ist. Ich sage das nicht aus parteipolitischen Gründen. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass unsere Partner damit rechnen können, dass wir in Deutschland mit einer Zweidrittelmehrheit ratifizieren. Das ist enorm wichtig und hat Stabilitätscharakter. ({4}) Wir sind weit davon entfernt, das bisherige Prinzip der portugiesischen Präsidentschaft - die Mehrheitsentscheidung ist die Ausnahme und es bleibt ansonsten bei der Möglichkeit eines Vetos - umzudrehen. Es wird die entscheidende Aufgabe, Herr Außenminister Fischer, sein, in der französischen Präsidentschaft durch Ihren und den Einfluss des Bundeskanzlers dafür zu sorgen, dass die Mehrheitsentscheidung die Regel und die Vetoentscheidung die Ausnahme wird. Das ist der entscheidende Integrationsfortschritt. Wer derzeit Politikfelder wie die Steuerpolitik betrachtet, der weiß, ohne den Einstieg in Mehrheitsentscheidungen ist die Europäische Union nicht erweiterungsfähig. Das heißt, der enge Zusammenhang zwischen mehr Mehrheitsentscheidungen und Osterweiterung - das sind die beiden Essentials der F.D.P. - ist evident. ({5}) Was die Osterweiterung angeht, so sind wir traurig, dass wenig Ehrgeiz herrscht, auch aus deutscher Sicht. Es herrscht weitgehend Stillstand. Ich bin auch von den vom deutschen Kommissar, Herrn Verheugen, bisher angestoßenen Fortschritten enttäuscht. Wenn Sie darüber mit den Osteuropäern reden, stellen sie fest: Es werden keine entscheidenden Kapitel abgeschlossen, lediglich neue Fragen nachgereicht. Damit verschiebt sich der Zeitplan. So haben wir uns die Osterweiterung nicht vorgestellt. Denn die Osterweiterung ist Stabilitätspolitik im besten Sinne. Ohne eine kontinentale Organisation wird Europa in diesem beginnenden Jahrhundert keine entscheidende Rolle spielen. Mit weiterer Verzögerung des Zeitplans werden wir Entwicklungen wie in Polen auch in anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas provozieren. Herr Außenminister, es kommt darauf an, dass die Bundesregierung jenseits von Agrardiskussionen Druck macht, damit die Polen, Tschechen und Ungarn sehen, dass Kapitel abgeschlossen werden und dass sich ein realistischer Fahrplan ergibt, der die Reformer in den osteuropäischen Ländern unterstützt, damit sie sich gegenüber den europäischen Verhinderern von links und rechts in Osteuropa durchsetzen können. Meine Damen und Herren, wir brauchen Perspektiven. Wer vor Migration und zu vielen Zuwanderern warnt, muss auch die umgekehrte Frage beantworten: Wann können die Osteuropäer damit rechnen, dass sie Bürger der Europäischen Union werden? Ein Verschieben führt eher zum Gegenteil, deshalb sage ich: Wir erwarten unter französischer Präsidentschaft im Bereich der entscheidenden Kapitel deutliche Fortschritte und wir erwarten zum Ende dieses Jahres auch erste Hinweise darauf, wann die ersten Beitrittskandidaten - immer abhängig vom Reformfortschritt in diesen Ländern in einem mittelfristigen Zeitraum - Mitglieder der Europäischen Union werden. Vizepräsident Rudolf Seiters Wir haben gestern im Europaausschuss gehört, dass die ersten Mittel für die Kommunikationsstrategie für die Osterweiterung erst im Jahre 2004 fließen. So wird - so viel ist uns klar - die Europäische Union und mit ihr die Bundesregierung ihr Versprechen gegenüber Osteuropa, pünktlich zu erweitern, nicht halten können. Ein Wort zur deutsch-französischen Beziehung. Es ist bereits von Herrn Merz erwähnt worden: Der französische Verteidigungsminister Richard hat erklärt, Großbritannien sei inzwischen der interessantere Partner. Wir haben erlebt, dass Herr Zöpel zunächst in „Le Monde“ angekündigt hat, es komme zu einer deutsch-französischen Initiative und bei der Stimmgewichtung zu einer Entscheidung zugunsten Deutschlands. Wir haben inzwischen feststellen müssen, dass Herr Moscovici dementiert hat. Ich glaube, das ist kein idealer Auftakt für die französische Präsidentschaft. Ich kann nur noch einmal darum bitten, beim deutsch-französischen Gipfel klarzumachen, welche gemeinsame Haltung Deutschland und Frankreich einnehmen. Der letzte Punkt ist die Entwicklung der europäischen Währung. Ich will als erklärter Verteidiger und Förderer einer europäischen Währung sehr offen sagen: Diese ist nicht nur aus währungspolitischen Gründen ein eminent wichtiges Symbol für die Einigkeit der Europäer. Ich freue mich über jedes Zehntel, das der Euro gegenüber dem Dollar gewinnt. Aber das Nahziel, die Parität von Dollar und Euro, ist bei weitem nicht erreicht. Ich kann nur noch einmal vor dem süßen Gift einer geduldeten Weichwährung warnen. Eine Weichwährung täuscht eine falsche, nicht vorhandene Wettbewerbsfähigkeit vor. Sie provoziert weitere Zinserhöhungen und damit Nachteile für Rentner, Sparer und den Mittelstand, weil Zinserhöhungen zwangsläufig wiederum zu Preiserhöhungen und Inflation führen. Insofern wäre es ein wichtiger Beitrag der Bundesregierung, die geplante nächste Stufe der Ökosteuer abzusagen, denn der Benzinpreis wird zum Inflationstreiber. ({6}) Meine Damen und Herren, nachdem die Grünen - wie sich jetzt in Nordrhein-Westfalen zeigt - im Grunde überhaupt nichts mehr bewegen, können Sie nun auf den zweiten Schritt der Ökosteuer getrost verzichten. Es erwartet sowieso niemand mehr, dass sich die Grünen bei irgendeinem Gesichtspunkt durchsetzen. ({7}) Trotzdem: Die Euroschwäche ist und bleibt die Quittung der Märkte für unterlassene Strukturreformen. Ich kann nur sagen: Wenn Herr Riester nicht bald zu einer wirklichen Reform im Bereich der Renten- und Alterssicherung kommt, wird dies dazu führen, dass die europäische Leitwährung schwach bleibt. Die Märkte beobachten sehr genau, ob die Euroländer im Kernbereich reformfähig sind. ({8}) Am Ende hoffe und wünsche ich - das gilt auch für meine Fraktion -, dass die Bundesregierung in der Lage ist, bei der Regierungskonferenz für einen substanziellen Einstieg in Mehrheitsentscheidungen in Europa zu sorgen, um damit den Weg für eine pünktliche Osterweiterung frei zu machen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Christian Sterzing.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern und auch heute Morgen noch gerätselt, warum eigentlich Herr Stoiber nicht wie angekündigt in dieser Debatte auftritt. Aber ich glaube, nach der Eröffnungsrede in dieser Debatte wissen wir alle, warum: Diese Reden werden jetzt von dem Kollegen Merz gehalten. Insofern vermissen wir Herrn Stoiber hier auch gar nicht. ({0}) Inwieweit diese Rede als ein Signal für die Entscheidung in dem europapolitischen Streit, den es in der CDU/CSU gibt, zu werten ist, kann jeder für sich entscheiden. Der saarländische Ministerpräsident hat noch in dieser Woche verlauten lassen, dass dies zu den zentralen Fragen gehört, die innerhalb der CDU/CSU geklärt werden müssen. Er hat zwischen den „Hurra-Europäern“ und den „Ja-aber-Europäern“ unterschieden. Ich denke, mit der Rede von Herrn Merz haben wir nun eine neue Kategorie von Europäern kennen gelernt - gestern wurde es schon einmal gesagt -, nämlich die „Hauruck-Europäer“, die alles jetzt lösen wollen. ({1}) Sie trauen dieser Regierung sehr viel zu. Sie soll im Rahmen dieser Regierungskonferenz bis zum Ende des Jahres eine ganze Reihe von grundlegenden Problemen lösen, ({2}) zu deren Lösung Sie offensichtlich in den letzten Jahren nichts beigetragen haben. Wir nehmen dies gelassen. Uns ehrt dieses Vertrauen. Wir werden Ihnen in den nächsten Monaten zeigen, dass wir mit dieser Regierung auch europapolitisch einiges auf den Weg bringen können. ({3}) Wir stehen vor dem Gipfel in Feira. Sicher ist ein solcher Gipfel in einer längeren Reihe von Regierungskonferenzen immer eine Gelegenheit, Zwischenbilanz zu ziehen. Ich denke, wir sind uns alle einig: Diese Zwischenbilanz wird ernüchternd ausfallen. Es wird davon gesprochen, dass die portugiesische Präsidentschaft eine fotografische Wiedergabe der Ergebnisse vorlegen wird, und es ist zu erwarten, dass sich dies alles im Kleinbildformat bewegen wird. Die Regierungskonferenz ist zähflüssig. In vielen Punkten sind wir über das, was in Amsterdam erarbeitet wurde, noch nicht hinausgekommen. Das ist kein Vorwurf an die Beteiligten. Vieles braucht seine Zeit. Es sollte - dies sei am Rande auch noch einmal sehr deutlich gesagt - für uns ein weiterer Anlass sein, über diese Form von Regierungskonferenzen, über diese Form von Vertragsentwicklung innerhalb der Europäischen Union nachzudenken und sich über neue, alternative Möglichkeiten Gedanken zu machen. Die Franzosen bereiten ihre Präsidentschaft vor. Es ist deutlich geworden, dass die deutsche Bundesregierung alles tut, um die Franzosen dabei zu unterstützen und zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Ich glaube, hier bewegt sich einiges in die richtige Richtung. Wir hoffen natürlich alle, dass bald Ergebnisse zu sehen sein werden. ({4}) Festzuhalten scheint mir gerade auch aufgrund der Debatten, die wir im Europaausschuss in den letzten Wochen und Monaten geführt haben, dass wir in zentralen Punkten der Regierungskonferenz übereinstimmen und dass gerade im Hinblick auf die so genannten `leftovers` von Amsterdam eine weitgehende Einigkeit besteht. Glücklicherweise wird im Ausschuss anders gesprochen und diskutiert als hier im Plenum. Aber wir müssen natürlich auch die Unterschiede sehen. Sie scheinen mir besonders in den Punkten zu bestehen, die nicht auf der Tagesordnung der Regierungskonferenz stehen. Ich nenne das Stichwort „Kompetenzabgrenzung“ und das Stichwort „Daseinsvorsorge“. Wir müssen dringend davor warnen, die Kompetenzregelung zum entscheidenden Kriterium für die Zustimmung zum Vertrag von Nizza zu machen. Wir sind uns sicherlich in der Problemanalyse alle sehr einig. Es bedarf tendenziell einer Klärung der Kompetenzen, es bedarf einer Neuvermessung von Zuständigkeiten auf den verschiedenen Ebenen zwischen Europa, Nationalstaat, Ländern, Regionen und Kommunen. Meiner Auffassung nach ist das Problem vollkommen klar, aber wir müssen deutlich sagen, ({5}) dass Brüssel zurzeit nicht unbedingt zu viele Kompetenzen hat, ({6}) sondern in vielen Fällen die falschen Kompetenzen hat. ({7}) Darüber müssen wir reden. Wenn wir bereit sind, differenziert darüber zu reden, dann kann man auch unter Beweis stellen, dass es einem bei der Kompetenzfrage nicht darum geht, antieuropäische Ressentiments zu wecken, sondern dass es um das Problem geht, mit der Kompetenzabgrenzung Fragen der Demokratisierung, der Bürgernähe und damit auch der Akzeptanz dieses Integrationsprozesses zu verbinden; denn das sind die zentralen Fragen, die damit im Zusammenhang stehen. Aber wie lösen wir das Problem? Lösen wir das Problem, indem wir immer lauter, immer drohender rufen, dass es jetzt gelöst werden muss? Ich glaube, wer ehrlich ist und sich in den letzten Jahren ein wenig mit Regierungskonferenzen beschäftigt hat, dem ist schon deutlich: Mit einem Big Bang werden wir das Kompetenzproblem auf dieser Regierungskonferenz nicht lösen können. Wir haben in den letzten Jahren erlebt - das müssten gerade Sie aus Ihrer Regierungszeit noch wissen -, wie schwierig es war, sich über Maastricht, über das Protokoll im Amsterdamer Vertrag dem Prinzip der Subsidiarität zu nähern. Die Lösung eines solchen komplexen Problemes braucht Zeit. Wir sollten uns sehr klar darüber sein, dass es sich nicht nur um ein vertragstechnisches Problem handelt, um die Abgrenzung verschiedener Entscheidungsebenen, sondern dass es hier um sehr grundlegende Fragen geht, nämlich darum, welches Bild von Europa sich dahinter verbirgt. Ich glaube, die Rede von Außenminister Fischer am 12. Mai hat dies deutlich gemacht. Wir müssen uns zunächst einmal Rechenschaft über diese Frage ablegen, um uns dann im Einzelnen sachgemäß über die Kompetenzfrage unterhalten zu können. Welches Verhältnis soll zwischen der EU und den Nationalstaaten und welches Verhältnis soll zwischen den verschiedenen Entscheidungsebenen bestehen? Es ist Zeit, darüber zu diskutieren, es ist aber noch nicht die Zeit gekommen, um im Rahmen einer verfassungsähnlichen Regelung in Vertragsform eine Kompetenzabgrenzung vorzunehmen. In diesem Zusammenhang muss ein weiterer Aspekt genannt werden: Die Integration ist seit Jahrzehnten ein dynamischer Prozess, der gerade davon lebt - „Methode Monnet“ -, dass Kompetenzen im Einzelnen nicht geklärt sind. Insofern müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass eine Festschreibung der Kompetenzen diesem Prozess die Dynamik nehmen würde. Deshalb muss sich jeder, der diesen Kompetenzkatalog hier und heute fordert, mit dem Vorwurf auseinander setzen, gerade diese Idee eines Kompetenzkataloges wolle einen bestimmten Integrationszustand festschreiben und weitere Entwicklungen unmöglich machen. ({8}) - Hier ist die Frage des Zeitpunktes wesentlich. Insofern kritisiere ich nicht, dass über das Problem der Kompetenz gestritten werden muss. Die Frage ist vielmehr, wann wir eine solche Regelung in die Verträge aufnehmen. Ich darf daran erinnern, dass dieser Kompetenzkatalog auch eine sehr deutsche Vorstellung ist. KompetenzregeChristian Sterzing lungen und Kompetenzsystematiken, so wie wir sie vom Grundgesetz her kennen, lassen sich nicht einfach auf die europäische Ebene übertragen. Wir müssen auch ein wenig selbstkritisch mit dem umgehen, was wir in den letzten Jahrzehnten an Entwicklungen und Diskussionen über das föderale System der Bundesrepublik Deutschland erlebt haben. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der vehemente Ruf vieler Ministerpräsidenten nach einer Kompetenzregelung auf europäischer Ebene eine Überkompensation der Unzufriedenheit mit dem ist, was sich auf nationaler Ebene in den letzten Jahren entwickelt hat. ({9}) Gerade die Länder erleben Kompetenzübertragungen immer auch als einen Verlust von Handlungsfähigkeit und politischer Gestaltungsmöglichkeit. Hier lohnt es sich, einmal den Blick über die Grenzen hinweg auf andere Länder zu richten. Im Zeitalter von Globalisierung sind Handlungsspielräume in der Realität eingeschränkt worden. Der Nationalstaat kann viele Probleme nicht mehr lösen. Insofern - das gilt gerade für kleinere Länder in der EU - ist eine Kompetenzübertragung nach Brüssel eine Chance, neue Gestaltungsräume und neue Handlungsmöglichkeiten, zumindest im Verbund mit anderen, zurückzugewinnen. ({10}) Deshalb müssen wir dieses Verständnis für den Diskussionsprozess über die Kompetenzfragen auch hinsichtlich der anderen Länder aufbringen und dürfen nicht nach dem Motto „Am deutschen Wesen muss die EUKompetenzregelung genesen“ deutsche Vorstellungen vorantreiben. Die Zeit ist dafür noch nicht reif, aber wir sind auf einem guten Weg. ({11}) Das Problemverständnis ist vorhanden und wir sind uns weitgehend einig. Das Ergebnis des Besuches einiger Ministerpräsidenten beim Kommissionspräsidenten in Brüssel hat bewiesen, dass auch die Kommission das Problem sieht. Es tun sich durchaus Wege auf, dieses Problem zielführend in den Griff zu bekommen, ohne der Illusion zu erliegen, man könne dies alles in Kürze regeln. Am Ende dieses Jahres, wenn es zu einem Vertrag von Nizza kommt, werden Sie sich, meine Damen und Herren von der Opposition, mit der Frage auseinander zu setzen haben, ob Sie tatsächlich diesen Integrationsprozess aufgrund der Egoismen von Ministerpräsidenten stoppen wollen. Und Sie werden sich ganz besonders der Frage stellen müssen, ob Sie auch den Erweiterungsprozess zum Stoppen oder gar Scheitern bringen wollen, indem Sie die Frage der Kompetenzabgrenzung zum alleinigen Kriterium für die Zustimmung zum Vertrag von Nizza erheben. Was die Regierungskonferenz angeht, ist es fairer, einen Zwischenschritt zu machen. Zu diesem Zeitpunkt wollten wir natürlich viel weiter sein. Das heißt, dass für die französische Präsidentschaft sehr viel zu tun bleibt und ein gutes Stück Arbeit vor ihr steht. Von deutscher Seite können wir ganz klar sagen: Die französische Regierung hat diesbezüglich unsere Unterstützung. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten deutlich gemacht, dass sich die Kontakte auf den unterschiedlichsten Ebenen zwischen Frankreich und Deutschland erheblich verdichtet haben. Am Wochenende steht ein erneutes Treffen bevor. Das sollte als unübersehbares Zeichen der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Rahmen der europäischen Integration im Allgemeinen und der Regierungskonferenz im Besonderen wahrgenommen werden. Insofern, Herr Kollege Merz: Die Bundesregierung steht nicht am Rande der europäischen Entwicklung, sondern sie steht im Zentrum dieses Integrationsprozesses. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage bzw. Nachfrage der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger? - Nein. Das Wort hat der Abgeordnete Uwe Hiksch.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Regierungskonferenz stehen wir vor wichtigen Entscheidungen im Rahmen der Weiterentwicklung der Europäischen Union. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Kollege Merz in seiner Rede aus Unwissenheit oder aus Fahrlässigkeit diese Regierungskonferenz infrage gestellt hat oder das Scheitern der Regierungskonferenz bewusst in Kauf nimmt, um antieuropäische Ressentiments voranzubringen, damit die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittelund Osteuropas scheitert. Herr Kollege Merz, für das, was Sie gesagt haben und was sich als neue Politik eines Teils der CDU/CSU anscheinend durchsetzt, sollten Sie sich schämen. Das stellt die Europapolitik der CDU/CSU der letzten 20 Jahre infrage. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, sagen wir deutlich: Die Auseinandersetzung um eine gute Europapolitik, um eine Weiterentwicklung der Europapolitik ist für die PDS eine Kritik an dem, was die Regierung derzeit auf europäischer Ebene umzusetzen versucht. Es muss vor allen Dingen gelingen, eine schrittweise Weiterentwicklung der Europäischen Union und eine schrittweise Integration auf europäischer Ebene, eine Vertiefung der europäischen Politik und vor allen Dingen die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union umzusetzen. Alle Versuche, diese Form der europäischen Entwicklung mit einem kurzfristigen Stimmenfang aufzuhalten, werden mittelfristig eine Sünde an der europäischen Entwicklung sein. ({0}) Deshalb sagt die PDS, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir im Rahmen der Regierungskonferenz erreichen wollen, dass darüber diskutiert wird, dass Europa in das Zentrum der politischen Entscheidungen - weg von der Kommission und weg von den Räten, wieder mehr in das Europäische Parlament - verlagert werden muss. Wir müssen gemeinsam dafür eintreten und dafür kämpfen, dass das Europäische Parlament in allen Politikbereichen Mitentscheidungsrechte bekommt. ({1}) Wir werden uns dafür einsetzen, dass im Rahmen der Regierungskonferenz auch darüber geredet wird, dass Menschen Europa nur zustimmen, wenn europäische Prozesse transparenter, demokratischer werden und die Menschen eine Chance haben, europäische Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen. Die PDS fordert seit vielen Jahren, die Sitzungen der Räte öffentlich zu machen und Protokolle über unterschiedliche Positionen zu veröffentlichen, um eine demokratische Diskussion auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo stehen wir denn? Wir stehen vor dem Problem, dass es innerhalb der Europäischen Union gelingen muss, den internationalisierten Kapital- und Finanzmärkten eine demokratische, eine zivilgesellschaftliche Struktur entgegenzusetzen. Demokratisch gewählte Parlamente müssen wieder die Möglichkeit haben, Politik zu gestalten. Wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass das Primat der Politik wieder im Mittelpunkt der Politik steht und dass dieses Primat wieder durchgesetzt werden kann. ({2}) Deshalb, Kollege Müller, hält die PDS-Bundestagsfraktion Ihren Vorschlag für richtig und wichtig, nämlich dafür einzutreten, dass der Deutsche Bundestag und die Parlamente nicht nur ein empfehlendes Votum abgeben können, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weiterentwickelt wird, dass der Parlamentarismus gestärkt wird und dass der Deutsche Bundestag die Vertreter der Bundesregierung durch entsprechende Beschlüsse verpflichten kann, unsere Positionen, also die gewählter Vertreterinnen und Vertreter, auf europäischer Ebene zu repräsentieren. Wenn die bayerische CSU mit dieser Forderung alleine dastehen sollte, dann kann ich Ihnen versichern, dass die PDS gerne bereit sein wird, die bayerische CSU in diesem Ansinnen zu unterstützen. Wir werden dann gemeinsam mit Ihnen von der CSU dafür kämpfen, dass der Parlamentarismus im Rahmen europäischer Debatten wieder gestärkt wird. Für uns ist die Klärung der Frage der ̀ leftovers` zu wenig. Natürlich muss im Rahmen der Regierungskonferenz über die Frage geredet werden, wie eine erweiterte Europäische Union in der Lage sein kann, weiterhin Politik zu gestalten. Deshalb ist die PDS der Überzeugung, dass der Erhalt einer arbeitsfähigen Europäischen Kommission, für deren Mitgliederzahl eine Höchstgrenze gelten muss, wichtiger ist als die Forderung, dass jedes Land mit einem eigenen Kommissar vertreten ist. Deshalb wird sich die PDS dafür einsetzen, dass die Stimmengewichtung im Europäischen Rat so weiterentwickelt wird, dass sich demokratische Strukturen in der Europäischen Union mehr als bisher abbilden. Das bedeutet für uns, dass Mehrheitsentscheidungen grundsätzlich möglich sein müssen und dass das Prinzip der Einstimmigkeit auf wenige Bereiche beschränkt wird. Wir werden uns vor allem für eine doppelte qualitative Mehrheit, die sowohl die Mehrheit der Länder als auch die Mehrheit der Einwohner der Europäischen Union verlangt, als Grundlage für Entscheidungen im Rahmen der europäischen, demokratischen Entwicklung einsetzen. Die PDS-Bundestagsfraktion unterstützt auch die Bestrebungen, die Zahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments auf 700 zu begrenzen, die Vorstellung, dass jedes Land mit mindestens vier Mitgliedern im Europäischen Parlament vertreten sein sollte, und die Forderung, dass der Rest der Sitze nach der Einwohnerzahl, also nach dem Motto „One man, one vote“, vergeben wird. Das sollte die Grundlage der Politik werden. ({3}) Die bevorstehende Regierungskonferenz muss sich aber unter anderem auch der Auseinandersetzung darüber stellen, wie es gelingen kann, das europäische Modell mehr als bisher in den Köpfen und in den Herzen der Menschen zu verankern. Deshalb halten wir es für richtig und wichtig, über die Anregungen des Bundesrates zu diskutieren, wie die Belange der öffentlichen Daseinsvorsorge bezüglich der universalen Dienstleistungen im Bereich der Gesundheit, der Energie sowie des Wassers und des Abwassers sichergestellt werden können und wie die Entwicklungen bei den nationalen Wohlfahrtsverbänden auch auf europäischer Ebene umgesetzt werden können. Die öffentliche Daseinsvorsorge darf in der Europäischen Union nicht immer mehr ökonomisiert werden. Wir wollen ein Recht auf Daseinsvorsorge in der Europäischen Union und den Erhalt der Wohlfahrtsverbände bundesdeutscher Prägung durchsetzen. Fundamentalopposition in der europäischen Politik führt nicht weiter. Ich kann die CDU nur bitten, an den Tisch zurückzukehren und darüber zu diskutieren, wie wir die Europäische Union weiterentwickeln können, und nicht dazu beizutragen, dass nationalistische und Europa ablehnende Töne wieder zur Tagesordnung in der Bundesrepublik gehören. Das hat Ihre Tradition eigentlich nicht verdient. Danke schön. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen wahrlich vor großen Aufgaben. Angesichts dieser Tatsache sind wir von der Rede des Kollegen Merz - das muss ich sagen ein wenig enttäuscht. Was da eben an Wegweisendem zur Zukunft der Europäischen Union gesagt wurde, das hat wirklich niemanden vom Stuhl gerissen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppositionsfraktion, klären Sie demnächst einmal Ihre Linie, was das Verhältnis zwischen CDU und CSU angeht. Vielleicht kommt dann etwas Wegweisenderes zustande. Ich will auf die große Herausforderung der Regierungskonferenz eingehen. Manchmal habe ich das GeUwe Hiksch fühl, dass wir uns überhaupt nicht darüber im Klaren sind, welche schwierigen Probleme dort bewältigt werden müssen. Das will ich an einem einzigen Beispiel verdeutlichen: Wenn es uns nicht gelingt, die qualifizierte Mehrheit zu einer grundsätzlichen Abstimmungsregelung im Rat werden zu lassen, dann werden wir die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auch im Hinblick auf die Erweiterung - das ist die wesentliche Aufgabe - nicht vorantreiben können. ({1}) Ehrlich gesagt, ich bin etwas darüber überrascht, dass der Aufschrei der Empörung bei vielen Lobbygruppen nicht größer ist. Wir haben von der Bundesregierung erfahren, dass es seitens der Ressorts das eine oder andere gibt, bei dem man nicht unbedingt zur Mehrheitsentscheidung finden sollte. Bei uns haben schon einige Interessengruppen angeklopft und darauf hingewiesen, dass man die Mehrheitsentscheidung vielleicht hier oder da nicht einführen sollte. Ich unterstütze die Bundesregierung ausdrücklich in dem Bestreben, an dem Grundsatz festzuhalten, Mehrheitsentscheidungen einzuführen, auch wenn wir in den kommenden Wochen und Monaten darüber vielleicht die eine oder andere Kontroverse führen können. Umso wichtiger ist es aber, dass der Bundestag einen breiten Konsens zwischen den Fraktionen und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen erzielt; denn sonst werden wir die große Aufgabe der Einführung von Mehrheitsentscheidungen nicht - jedenfalls nicht erfolgreich schultern können. ({2}) Auch die SPD-Fraktion ist mit dem Stand der Regierungskonferenz nicht besonders zufrieden. Das muss ich nicht betonen. Das liegt meines Erachtens - der Kollege Sterzing hat schon darauf hingewiesen - auch am Instrumentarium der Regierungskonferenz selbst. Gegenwärtig berät der Konvent über eine Grundrechtscharta. Vielleicht gelingt es uns auch vor dem Hintergrund der positiven Verhandlungsführung unter Roman Herzog, zukünftig den verfassunggebenden Prozess in der Europäischen Union stärker zu parlamentarisieren und von dem originären Instrumentarium der Regierungskonferenzen wegzukommen. ({3}) Wir hasten von einer Regierungskonferenz zur nächsten. Es wird immer schwieriger, je mehr Mitglieder die Europäische Union bekommt. Wir wissen alle, dass wir mit dieser Regierungskonferenz nicht alles Notwendige zu bewerkstelligen vermögen. Das finde ich gar nicht so schlecht, wenn ich an die ungarischen, die tschechischen oder die polnischen Freunde und auch an andere denke. Ich bin sehr optimistisch, dass wir mit diesen mittelosteuropäischen Staaten nicht unbedingt zu einer Verlangsamung, sondern zu einer Verstetigung und vielleicht auch zu einer Beschleunigung der einen oder anderen politisch umstrittenen Frage kommen werden. Ich wünsche mir eine Parlamentarisierung dieses verfassunggebenden Prozesses. Darüber haben wir gestern im Europaausschuss eine Debatte geführt. Dabei hat, wenn ich es richtig verstanden habe, der Herr Kollege Ausschussvorsitzende den Kollegen Müller von der CSU in den Senkel gestellt. ({4}) - Zumindest habe ich das so verstanden; Sie können es ja geraderücken. - Sie, Herr Müller, haben sich sehr negativ über die Arbeit des Europaausschusses geäußert. Unser Europaausschuss hat es schon geschafft, bei den europapolitischen Maßnahmen der Regierung - Europapolitik ist ja stark exekutivlastig - nicht nur Kontrolle auszuüben, sondern zu einer guten und vertrauensvollen Arbeitsgrundlage zu finden. Wir wollen, dass das so weitergeht. Wir können uns aber auch vorstellen, den Bundestag und alle Parlamente in der Europäischen Union gemeinsam mit dem Europäischen Parlament stärker in die grundsätzlichen Fragen einzubinden. ({5}) Ich habe damit gerechnet, dass der Oppositionsführer eine große, eine wegweisende Rede halten wird. Sie ist nicht gekommen; deswegen sollten Sie sich mit diversen Drohungen in Richtung Abstimmung über die Ergebnisse der Regierungskonferenz zurückhalten; denn es gibt zu den Fragen, die Sie zu Recht aufwerfen, bei der Kompetenzabgrenzung und auch bei der sozialen Daseinsvorsorge meines Erachtens einen weitgehenden Konsens im Hause. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion waren oder sind in kommunalpolitischer Verantwortung. Wir wissen sehr wohl, wie wichtig es ist, bestimmte Aufgaben nicht unter reinen Wettbewerbsgesichtspunkten zu betrachten, auch bei der Daseinsvorsorge nicht; das ist uns klar. Das gilt für den sozialen, den gesundheitlichen, aber auch den kulturellen Sektor. Deswegen haben natürlich auch wir ein Interesse daran, nicht alles marktkonform zu regeln und nicht überall nur den Wettbewerb zu fördern, sondern vielleicht auch einige Politikfelder vorzuhalten, in denen man auf die lokalen Ebenen, aber auch auf die regionalen Ebenen stärker Rücksicht nimmt. Das ist, glaube ich, hier auch Konsens. ({6}) Ich will noch auf einen Aspekt eingehen und - gerade in Anwesenheit von Herrn Außenminister Martonyi - sagen: Der Erweiterungsprozess ist für uns in den kommenden Jahren die zentrale Herausforderung! Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen schon einmal klären, was Sie denn eigentlich wollen. Wir haben erklärt, dass das Prinzip der Sorgfalt vor das Prinzip der Schnelligkeit geht, dass wir nur dann einen erfolgreichen Erweiterungsprozess gestalten können, wenn wir in Verhandlungen mit den mittelosteuropäischen Staaten all das sorgfältig regeln, was geregelt werden muss; denn nur so können wir die Ängste der Bürgerinnen und Bürger abbauen. Sie müssen schon sagen: Wollen Sie hetzen, wollen Sie Propaganda machen oder wollen Sie aufklären und über den Erweiterungsprozess informieren? Wir haben uns dafür entschieden zu informieren, aufzuklären und nicht Michael Roth ({7}) zu hetzen oder mit irgendwelchen Klischees und Vorurteilen durch dieses Land zu rennen und damit zur Verunsicherung sowohl bei den mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten als auch bei unserer Bevölkerung beizutragen. Denn wir brauchen die Zustimmung für die Erweiterung auch hier bei uns in der Bundesrepublik; das ist ganz klar. ({8}) Ich will auch nicht versäumen, meine ganz persönlichen Eindrücke zu schildern, die ich von Reisen in die Beitrittsländer habe. Ich war kürzlich in Ungarn. ({9}) Da habe ich mit Vertretern sowohl der Opposition als auch mit Vertretern der Regierung und der Regierungsfraktionen gesprochen. ({10}) Der innenpolitische Zustand in Ungarn ist meines Erachtens teilweise besorgniserregend. Einige Punkte, die zum Wesensgehalt der Europäischen Union gehören Schutz von Minderheiten, Bereitschaft zur Kooperation auch im Parlament zwischen politischer Mehrheit und politischer Minderheit -, müssen berücksichtigt werden. Das läuft im Augenblick noch nicht so gut. Die Erweiterung ist natürlich auch kein einseitiger Prozess, sondern eine Herausforderung, die sowohl in den Beitrittskandidatenländern als auch bei uns gestaltet werden muss. Ich habe die Hoffnung, dass durch die Entscheidung der 14 EU-Mitgliedstaaten gegenüber Österreich ein ganz klares Signal ausgesendet worden ist. Das Signal geht nicht nur in die Reihen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ist nicht nur eine Versicherung dessen, was der Wertekonsens in der Europäischen Union ist. Das Signal geht auch an alle die Staaten, die so schnell wie nur irgend möglich Mitglied der Europäischen Union werden wollen. Unser Wertekanon beruht auf Freiheits- und Grundrechten, auf dem Schutz von Minderheiten, auf Vielfalt, auf Demokratie. Das muss überall verstanden werden, nicht nur in der EU, sondern auch bei den Beitrittskandidaten. ({11}) Ich möchte zu dem Kollegen Haussmann, der Kritik an dem Tempo der Erweiterung geübt hat, sagen: Diese Kritik teile ich nicht; denn die Kapitel sind eröffnet worden. Wir haben jetzt einige schwierige Aufgaben vor uns. Wenn ich daran denke, in welch schwieriger Lage sich Polen befindet - das ist leider so; die Regierung ist zurzeit nur bedingt handlungsfähig -, dann, meine ich, sollten wir eher dafür sorgen, dass wir hier ein gutes Beispiel liefern, als dass wir ständig den Erweiterungsprozess und auch die Arbeit der Europäischen Kommission in Misskredit bringen. ({12}) Die heutige Debatte ist nicht so spannend geworden, wie ich mir das gewünscht hätte. ({13}) - Ich fand den Merz nicht so spannend. ({14}) Zumindest ist deutlich geworden, dass Sie noch ein bisschen diskutieren und ein bisschen Klarheit in den eigenen Reihen herbeiführen müssen, bevor Sie Ihren Oppositionsführer hierhin schicken; vielleicht kann er dann einmal ein paar klare zukunftsweisende Worte an das gesamte Haus richten. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte wenigstens dieses Signal geben. Der Deutsche Bundestag begleitet diese Regierungskonferenz weiterhin konstruktiv. Von uns wird das, was von Außenminister Fischer, egal in welcher Funktion, ({16}) in seinen Grundsatzreden zur Weiterentwicklung der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht wurde, positiv begleitet. Der verfassungsgebende Prozess innerhalb der Europäischen Union kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen, aber auf der anderen Seite auch zu einem weitgehenden europapolitischen Konsens in unserem Parlament finden. Das ist die Voraussetzung für einen Erfolg. Ich bitte Sie herzlich darum. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind uns alle einig: Die politische und wirtschaftliche Einigung Europas ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt und ist untrennbar mit der Politik von CDU und CSU verbunden. ({0}) Wir wissen auch, dass die Osterweiterung im ureigensten deutschen Interesse liegt. Wir wollen, dass sie gelingt. Wir wissen auch, dass wir wirtschaftlich kurz- und längerfristig davon profitieren. Schon jetzt entspricht der deutsche Außenhandel mit unseren Nachbarn in Osteuropa dem Außenhandel mit den USA. Wir wissen aber auch, dass, wenn Europa gelingen soll, die Dinge sehr gründlich vorbereitet sein müssen und ein langer Atem nötig ist. Man muss auch, Herr Bundeskanzler, wissen, wo man landet. Man kann nicht eine solche Reise wie Michael Roth ({1}) Christoph Kolumbus machen, bei der man, wenn man wegfährt, nicht weiß, wo man hinfährt, ({2}) und, wenn man ankommt, nicht weiß, wo man ist. Ich weiß schon, Herr Schlauch, dass er Indien gesucht und Amerika gefunden hat. Er hat es damals mit geborgtem Geld finanziert. Die Europäische Union wird zu einem guten Teil von deutschem Geld finanziert. Das muss man auch einmal klar sagen. Wo wir schon bei Parallelen sind: Ich möchte nicht, dass die Ureinwohner so unfreundlich behandelt werden wie bei Kolumbus. Was gegenwärtig mit Österreich geschieht, ist nicht ganz korrekt. Darauf kommen wir noch zurück. ({3}) Jedenfalls sind die Beschlüsse des Europäischen Rates von Helsinki von dieser Bundesregierung noch vor kurzem als zukunftsweisend und historisch bezeichnet worden. Vor der Erweiterung der EU um eine große Zahl neuer Mitglieder ist aber erst ein Umbau zwingend erforderlich. Diese Einsicht scheint vorhanden, sie ist nur noch nicht verwirklicht. Zuerst muss entschieden werden, welche Aufgaben eine erweiterte Europäische Union haben soll und welche Aufgaben besser von den Nationalstaaten, von den Bundesländern oder von den Städten und Gemeinden wahrgenommen werden können. Deswegen sagen wir: Zuerst müssen die notwendigen Reformen der europäischen Institutionen in Angriff genommen werden und es muss für eine saubere Finanzierung gesorgt werden. Die Osterweiterung muss damit auf ein solides finanzielles Fundament gestellt und es muss eine gerechte Verteilung der Lasten innerhalb der Europäischen Union vorgenommen werden. ({4}) Erst dann kann eine derart umfassende Erweiterung der EU um neue Mitglieder ohne gravierende Risiken für den europäischen Integrationsprozess angegangen werden. Sie zäumen das Pferd ein Stück weit vom Schwanz auf. Sie haben, ohne die geographischen und kulturellen Grenzen Europas zu definieren, einfach die Zahl der Beitrittskandidaten verdoppelt und dabei sogar die Türkei aufgenommen, ohne dies vorher mit der deutschen Bevölkerung oder, wenn man so will, mit dem deutschen Volk zu diskutieren. Es wurde ja unlängst in diesem Hause über den Unterschied zwischen Volk und Bevölkerung gestritten. Mit dem Europäischen Rat in Feira beginnt die entscheidende Phase der Regierungskonferenz zur inneren Reform der Union. Vom Erfolg der Konferenz hängt das Gelingen der Osterweiterung ab. Wir wollen, dass die Osterweiterung gelingt. ({5}) Wenn das Ratifizierungsverfahren zur nächsten Osterweiterung wie geplant im übernächsten Jahr begonnen werden soll, dann muss sich die Konferenz mit allen Themen beschäftigen, nicht nur mit den so genannten „leftovers“. Allein an diesem Wort sehen wir, wie herzlos wir mit der Europäischen Union umgehen. ({6}) Es ist dann kein Wunder, dass die Bürger nicht mitgehen können. Sie wissen nämlich oftmals überhaupt nicht, was damit gemeint ist. ({7}) Auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz gehört vor allen Dingen eine klare Aufgabenverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Es muss ein Ende damit haben, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf europäischer Ebene - wie Sie, Herr Bundeskanzler, das in Lissabon getan haben - vor allen Dingen mit Zielvorgaben beschäftigen, die im Grunde die nationalen Parlamente angehen. Sozialpolitik, Bildungspolitik usw., das gehört nicht nach Europa, das gehört ins nationale Parlament. ({8}) Es muss auch ein Ende damit haben, dass die Brüsseler Bürokratie wie ein Krake in nahezu alle Lebensbereiche eingreift. ({9}) Vorhin hat der Kollege Friedrich Merz als Beispiel die FFH-Richtlinie zitiert, die in weiten Teilen eine Art enteignungsgleichen Eingriff in das Eigentum darstellt. Das halten wir für ungeheuer gefährlich. Jetzt wird es interessant: Wenn sich darüber jemand beschwert - die Leute beschweren sich zu Recht und wer nahe an der Bevölkerung ist, bekommt das derzeit mit -, dann geht es ihm wie dem berühmten Buchbinder Wanninger bei Karl Valentin: Niemand ist dafür zuständig. Er wird weiterverbunden, er wird weitergeschickt. Geht er zu seinem Landtagsabgeordneten, sagt dieser: Ich kann nichts dafür, geh zu deinem Bundestagsabgeordneten! Der sagt: Was habe ich damit zu tun? Wir haben doch den Unsinn nicht beschlossen. Geh zu dem Europakollegen! Der Europakollege muss dann offenbaren, dass er im Grund ohnmächtig ist, weil das kein volles Parlament mit allen Kompetenzen ist. Dann bleibt am Schluss ein gewaltiges Stück Unzufriedenheit und vor allen Dingen Nichteinverständnis mit Europa übrig. Und das ist schlecht für Europa. ({10}) Wir wollen, dass diese Demokratiedefizite beseitigt werden. ({11}) Dann ist noch etwas, Herr Bundeskanzler: Wenn sich die Menschen über Sie und Ihre Politik ärgern - sie tun es im Moment ganz stark -, weil Ihre Einladung, sich beim Autofahrer zu bedienen, nicht nur von Herrn Eichel angenommen worden ist, ({12}) sondern auch von den Ölscheichs, von den Devisenmärkten und was weiß ich von wem - diese Einladung ist angekommen -, nehmen sie es trotzdem ein Stück weit hin, weil sie sagen: Wir haben die Möglichkeit, diese Regierung das nächste Mal abzuwählen. ({13}) Das ist in der Demokratie so. Dann wissen die Bürgerinnen und Bürger: Die Ökosteuer wird wieder abgeschafft. Ich bringe dieses Beispiel. Deswegen nehmen sie es zwischendurch hin. ({14}) Allerdings fragen jetzt die Bürgerinnen und Bürger: Was und wen sollen wir eigentlich wählen, damit Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft, die wir nicht gewollt haben, die wir nicht verstehen und von denen alle Politiker behaupten, sie hätten sie auch nicht gewollt, wieder abgeschafft werden? ({15}) Wenn die Bürger nicht das Gefühl haben, diese Dinge durch Wahlen entscheiden zu können, dann fühlen sie sich mit dieser Gemeinschaft nicht wohl. ({16}) Es ist nicht Aufgabe der Europäischen Union, in alle Lebensbereiche hineinzuregieren. Zum Beispiel gehen der Katastrophenschutz, die Hundesteuer oder die Fremdenverkehrspolitik die Brüsseler Bürokraten im Grunde überhaupt nichts an ({17}) und deswegen brauchen wir eine klare Kompetenzabgrenzung. ({18}) Uns ist der europäische Gedanke viel zu wichtig, um sein Ansehen aufs Spiel zu setzen. ({19}) - Der Zwischenruf war: Ihr habt das alles zugelassen! ({20}) Natürlich gibt es Defizite, die auch zu der Zeit, in der CDU und CSU regiert haben, entstanden sind. ({21}) Aber wir haben in dieser Zeit - ich nenne ein Beispiel das große europäische Werk Euro auf den Weg gebracht. ({22}) Ich halte es nach wie vor für richtig, dass wir das getan haben. Das ist ein Integrationsschritt par excellence und das ist im Grunde die richtige Anwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. ({23}) Man kann natürlich nicht alles gleichzeitig machen. ({24}) Wenn wir während der Verwirklichungsphase gleichzeitig diese europäischen Defizite in den Vordergrund gestellt hätten, dann wäre es noch schwerer geworden, die Zustimmung der Bevölkerung für eine richtige Sache zu gewinnen. Aber eines war auch ganz sicher: Für uns war klar, dass nach diesem Integrationsschritt erst einmal die Defizite abgebaut werden müssen, die entstanden sind, erst dann kann man den nächsten Schritt machen, wenn man will, dass Europa akzeptiert wird. Darum geht es uns letztendlich. Wir wollen natürlich, dass unsere osteuropäischen Nachbarn zu uns kommen. Wir wissen, dass es einen sehr großen Unterschied gibt zwischen denen, die in der ersten Tranche aufgenommen werden - die wirtschaftlich stärker sind, wie zum Beispiel unsere ungarischen Freunde, die auch gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen unternommen haben, die auf einem sehr guten Weg sind und die für uns Deutsche den Stacheldraht aufgerissen haben, damit die Deutschen von Deutschland nach Deutschland kommen konnten -, ({25}) und denen, die erst später folgen sollen. Eine der großen Gefahren, die ich sehe, ist, dass in der Diskussion alles miteinander verknüpft wird: die Länder, die unmittelbar vor dem Beitritt stehen, und die Erweiterung letztendlich bis hin zur Türkei. Wenn die Dinge nicht klar auseinander gehalten werden, dann entsteht Euro-Skepsis und EuropaSkepsis. Das wollen wir nicht. ({26}) Ich sage es noch einmal: Die Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum Beitritt der Länder Polen, Tschechien, Ungarn, um ein paar Beispiele zu nennen, ist ungeheuer groß. Ich habe zufällig ein paar Umfragezahlen dabei: Weit über 50 Prozent sind für den Beitritt Ungarns, aber wenn man nach dem Beitritt der Türkei fragt, sind es nur 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die dafür sind. ({27}) - Das steht an. Die haben ein festes Beitrittsversprechen bekommen. Man hat einen Kotau vor der hohen Pforte gemacht, man hat ein Flugzeug geschickt und hat die Nachfolger des Sultans nach Helsinki eingeflogen. ({28}) Damit hat dieser Beitritt für die Leute eine ähnliche Qualität bekommen wie im Falle der unmittelbar vor der Tür stehenden Beitritte. ({29}) Das müssen wir bei den Leuten wieder auseinander dividieren. Wir können letztendlich nur dann sinnvoll handeln, wenn wir die Zustimmung der deutschen Bevölkerung haben. ({30}) Darum müssen wir werben. Wenn wir wollen, dass die Zustimmung für Europa steigt, dann müssen - damit komme ich wieder auf die Defizite - die Demokratiedefizite beseitigt werden. Wir wissen auch, dass eine funktionsfähige Marktwirtschaft eine der Voraussetzungen für den Beitritt ist. Wer sich über wirtschaftliche Voraussetzungen durch zu schnelles Vorangehen rasch hinwegsetzt, der gefährdet die europäische Idee. Zu Ihrem Zwischenruf, Herr Kollege Gloser - ich muss noch sagen, „Gloser“ ist nicht die Steigerung von „Glos“, der heißt nur so -: ({31}) Ich weiß jetzt nicht, was Polenz gesagt hat, ich weiß aber, was Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing gesagt haben: Dem Beitritt der Türkei und damit einer Ausdehnung der künftigen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis an die Grenzen Syriens, des Iraks und Irans, bis in die Kaukasusregion hinein kommt, um es vorsichtig auszudrücken, überhaupt keine Priorität zu. Der größte Fehler der deutschen Europapolitik in den letzten Monaten war aber zweifelsohne der politische Boykott Österreichs. ({32}) Das ist ein ganz gewaltiger Fehler, der hier gemacht worden ist. Gerade die kleineren Mitgliedstaaten werden doch durch eine solche Entwicklung abgeschreckt; eine Diktatur der Großen über die Kleinen schafft großes Misstrauen. ({33}) Das ist die politische Situation, vor der sich Finnland durch die Verhinderung seines EU-Beitritts bewahren wollte: dass ein großer Nachbar über seine Politik richtet und entscheidet. Warum sollen denn die kleinen Mitgliedstaaten in der Frage der Mehrheitsentscheidungen nachgeben, wenn sie wissen, dass ein Veto im Rahmen eines Einstimmigkeitsprinzips ihr allerletztes Machtmittel überhaupt ist? Es ist schlimm genug, dass die europäischen Regierungschefs Österreich boykottiert haben - auch mit Ihrer Hilfe, Herr Bundeskanzler; es soll Ihr außenpolitischer Chefberater gewesen sein, der damals bei diesem Boykott und den Drohungen gegenüber Österreich federführend war. ({34}) Sie haben sich damit wie ein Elefant im europäischen Porzellanladen benommen. ({35}) Der EU-Boykott gegenüber Österreich zeigt die ganze Unsensibilität, Konzeptionslosigkeit und letztendlich auch die Sprunghaftigkeit der deutschen Europapolitik. ({36}) Gerade weil Österreich ein Nachbarland ist, fordere ich Sie auf: Bringen Sie das in Feira wieder in Ordnung. Der Schlüssel liegt ein ganzes Stück weit bei den Deutschen. ({37}) Um den Erfolg des europäischen Projektes dauerhaft zu sichern, muss Europa im Herzen der Bürger akzeptiert werden. Dazu gehört auch, dass wir über all diese Dinge klar diskutieren. Der Schlüssel für ein erfolgreiches Europa ist und bleibt der Föderalismus auf der Grundlage eines Staatenverbundes. Er lässt den Nationen und Regionen die nötige Luft zum Atmen. Er bildet die Brücke zwischen nationaler Identität und europäischer Verantwortung. Europa braucht den Mut, über die streitigen Fragen offen zu streiten, mit der Bevölkerung zu diskutieren und dabei auch Demokratie walten zu lassen. Ich möchte Willy Brandt zitieren, der einmal gesagt hat: „Demokratie wagen!“ ({38}) Wagen wir doch in Europa mehr Demokratie. Das heißt, beziehen wir auch den Deutschen Bundestag stärker in die Entscheidungen ein. Denn Europapolitik ist heute durch die Vergemeinschaftung ein ganzes Stück weit Innenpolitik. Informieren Sie nicht den Bundestag im Nachhinein über Richtlinien. Davor brauchen Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich keine Angst zu haben. Die Kameradinnen und Kameraden von den Grünen bleiben schon bei der Stange. ({39}) - Die Grünen verlassen die Regierung auf keinen Fall. Herr Bundeskanzler, es gibt keine Situation, die dazu führen würde, dass zum Beispiel Rezzo Schlauch seinen Sessel frei macht. Davor brauchen Sie keine Angst zu haben. ({40}) Das können nur die Wähler lösen. ({41}) Sie scheuen offensichtlich die innenpolitische Diskussion, die natürlich entstehen würde, wenn sich der Deutsche Bundestag vor der Verabschiedung von Richtlinien mit diesen beschäftigen würde. Deswegen meine Bitte an die anderen Fraktionen: Beziehen wir das deutsche Parlament stärker ein! Herzlichen Dank. ({42})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort erhält jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Herr Glos, die Opernballfrage diskutieren wir einmal an anderer Stelle. ({1}) - Wir können natürlich auch die Opernballfrage hier diskutieren, wenn Sie so großen Wert darauf legen. Ich dachte aber, wir wollen hier über die europäische Zukunft diskutieren. ({2}) Der deutsch-französische Gipfel liegt direkt vor uns. Das wurde ja hier von Ihrem Fraktionsvorsitzenden in einer beeindruckenden Rede dargestellt. ({3}) - Ich bin überhaupt nicht humorlos. Im Gegenteil: Sie haben mir gestern vorgeworfen, ({4}) dass ich, als ich in Warschau einer lang feststehenden internationalen Verpflichtung auf Einladung des polnischen Kollegen nachgekommen bin, lieber um den Wannsee laufen würde, anstatt mich an der Bundeswehrdebatte zu beteiligen. Ich will Ihnen nur sagen: Heute wären besser Sie um den Wannsee gelaufen, anstatt eine solche Rede zu halten. Das hätte Ihnen besser getan. ({5}) Meine Damen und Herren, die Zukunft Europas ist ein verdammt ernstes Thema. Ich stimme all denen zu, die meinen, dass es das zentrale Thema bzw. die zentrale Zukunftsherausforderung ist, über die zu Recht gestritten werden muss. Ich halte nichts davon, diese Frage nur vor dem Hintergrund eines feierlichen Konsenses zu betrachten. Die - vor allen Dingen im Volk, in der Bevölkerung bestehenden Kontroversen müssen auch im Parlament auf den Tisch. Ich möchte umgekehrt dafür plädieren, zu begreifen, dass wir alle, und zwar jeweils in unterschiedlicher Rolle, zum Beispiel als frühere Mehrheit bzw. als heutige Mehrheit und als frühere Opposition bzw. als heutige Opposition, sehr sorgfältig betrachtet werden. Es ist nicht einfach nur so wie in der innerstaatlichen Demokratie, dass es politische Meinungen, einzelne Positionen, politische Mehrheiten und Minderheiten gibt, sondern unsere Nachbarn beobachten auch die Äußerungen der Opposition zu Europa sehr sorgfältig im Sinne einer Stellungnahme Deutschlands. Insofern plädiere ich bei aller notwendigen Kontroverse für die gebotene Gesamtverantwortung, wenn Oppositionspolitiker hier Positionen beziehen. ({6}) Man mag recht unterschiedlicher Meinung sein. Über die Türkeipolitik werden wir noch viel zu streiten haben. Aber die Polemik, Herr Glos, die Sie heute hier geboten haben, ({7}) zielte im Grunde genommen nur auf das Mobilisieren von Ressentiments und auf das Bedienen Ihrer oberfränkischen Stammtische. ({8}) - Meinetwegen auch unterfränkische. ({9}) Wie auch immer, Herr Glos. An diesem Punkt möchte ich an Sie appellieren: Mit Ihrer Rede, in der Sie den Bundeskanzler als Elefant im Porzellanladen tituliert und versucht haben, Emotionen zu mobilisieren, haben Sie sich wirklich wie eine Herde Trampeltiere verhalten. ({10}) Denn das wird auf eine völlig andere Art und Weise wahrgenommen werden - das gilt auch für manches von dem, was Ihr Kollege Fraktionsvorsitzender gesagt hat -, als Sie es beabsichtigen. Sie wissen es ja auch besser. Wir stehen vor der französischen Ratspräsidentschaft. Wir sind in intensiver Zusammenarbeit; Herr Kollege Haussmann, Sie haben es angesprochen. Die Ergebnisse, die jetzt auch für den deutsch-französischen Gipfel erarbeitet werden, zielen darauf, dass wir gemeinsam mit Frankreich alles dafür tun wollen, um die französische Ratspräsidentschaft, um vor allen Dingen die Regierungskonferenz zu einem Erfolg zu machen. ({11}) Den Aussagen, dass die so genannten `leftovers`, die Überbleibsel der Regierungskonferenz in Amsterdam, nachrangig seien, kann ich nur mit allem Nachdruck widersprechen. Eines dieser Überbleibsel ist die Größe und Zusammensetzung der Kommission. Es ist leicht gesagt: Es sollen nicht alle Länder einen Kommissar haben. Aber dann kommt sofort das Abgrenzungskriterium ins Spiel: Wer soll denn einen Kommissar haben? Warum die, warum nicht jene? Diese Fragen sind nicht einfach so zu entscheiden. Sie gehörten zur Substanz der Regierungskonferenz in Amsterdam, auf die man sich nicht einigen konnte. Ein weiteres Überbleibsel ist die Frage der Stimmengewichtung: Wie viele Stimmen soll jedes Land haben? ({12}) Das heißt: Wie weit ist die demokratische Repräsentanz über die heutige Konstruktion gerechtfertigt? Das ist eine zentrale Frage. Das dritte Überbleibsel ist die Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit. Herr Kollege Haussmann, ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie die unterschiedlichen Positionen allein von Deutschland und Frankreich in diesem Punkt vergleichen, stellen Sie fest: Sosehr ich Ihnen zustimme, dass wir diese Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit brauchen - genau daran wird gearbeitet -, so schwierig wird es sein, hier einen Konsens herzustellen. Das ist schon bei zwei Ländern schwierig. Wie ist das erst bei 15 Ländern? Dennoch ist völlig klar, meine Damen und Herren: Die Voraussetzung dafür, dass die Regierungskonferenz ein Erfolg wird, ist, dass der historische Schritt zur Osterweiterung getan wird. Dieser Schritt kommt aus meiner Sicht - zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges zu spät. Meine Damen und Herren, wann wurden die konkreten Verhandlungen begonnen? Die konkreten Verhandlungen wurden unter der österreichischen Präsidentschaft im Herbst 1998 begonnen. Da haben andere schon längst versprochen, zum 1. Januar 2000 sei Polen Mitglied. ({13}) Das war 1998. Da waren wir gerade in der Regierung. Wir haben einen sehr ehrgeizigen Fahrplan gehabt. Den haben wir auch abgearbeitet: unter der deutschen Präsidentschaft und jetzt unter der portugiesischen Präsidentschaft. Wir sind verpflichtet, aus unserem Interesse heraus, aber auch im europäischen Interesse, alles zu tun, um die Osterweiterung zu einem Erfolg zu machen. ({14}) - Natürlich reicht das nicht. Ich komme auf die anderen Punkte gleich zu sprechen. Aber jetzt will ich Ihnen einmal etwas zu Ihrer Position sagen. Wenn Sie die übliche Michael Glos’sche Rethorik weglassen: Sie haben ein Lippenbekenntnis zur Osterweiterung abgelegt, um anschließend Bedingungen zu formulieren, die die Osterweiterung faktisch auf die lange Bank schieben. ({15}) Das kann ich Ihnen an jedem einzelnen Punkt verdeutlichen. ({16}) Herr Kollege Merz, ich habe Ihnen nicht zu raten. ({17}) Aber ich möchte Sie auf einen Punkt hinweisen. ({18}) - Ich glaube an die Wiedergeburt der Dialektik, wenn ausgerechnet ein Musterschüler mich Oberlehrer nennt. Man glaubt es wirklich nicht. ({19}) Sie haben einen bedeutenden Vorgänger: Rainer Barzel. Ich erinnere mich nur zu gut an die Ostverträge, an die dort enthaltene Barzel’sche Formel, die auch die Ihre sein wird, wenn Sie so weitermachen, wenn Sie Ihre Drohung ernst meinen und die Bedingungen, die Sie in Ihrer gemeinsamen Presseerklärung genannt haben, wirklich stellen. Sie wissen genau, dass das sofort den schärfsten deutsch-französischen Konflikt hervorrufen würde. Die Franzosen würden uns dann zu Recht aufs Schärfste geißeln. Das wäre ein Debakel in den deutsch-französischen Beziehungen. Die Regierungskonferenz, die Sie, Herr Kollege Fraktionsvorsitzender, fordern, würde angesichts der Interessenlage in der Europäischen Union ad calendas graecas dauern. Das hieße in der Konsequenz: Wir könnten die Osterweiterung auf absehbare Zeit vergessen. ({20}) Wenn Sie daran die Zustimmung der Fraktion der CDU/CSU knüpfen, dann prophezeie ich Ihnen heute schon das Schicksal von Rainer Barzel bei den Ostverträgen. ({21}) Entweder werden Sie einknicken - wovon ich ausgehe oder Sie werden Ihren Laden in dieser Frage zerlegen, weil es viel zu viele überzeugte und gute Europäer in der CDU/CSU-Fraktion gibt. ({22}) Mit „So nicht!“ und „Jetzt nicht!“ - das kann ich Ihnen jetzt schon prophezeien - werden Sie da nicht durchkommen. Deswegen ist für mich die Konzentration nicht nur auf die drei wesentlichen Punkte, die in Amsterdam offen geblieben sind, sondern auch auf die verstärkte Zusammenarbeit entscheidend. Da liegt die Differenz, Herr Kollege Schäuble. Die Differenz liegt nicht in der Sache. Zum Kollegen Glos sage ich: Ich habe während Ihrer Regierungszeit nie eine europapolitische Fundamentalopposition gemacht. ({23}) - Doch, ihr macht es. Ich wollte einen anderen Punkt ansprechen: das Problem der Kompetenzabgrenzung. Es führt natürlich in den Kern eines europäischen Verfassungsvertrags. Das wissen Sie ganz genau. ({24}) - In Bezug auf diesen Kern eines europäischen Verfassungsvertrages haben wir in der Sache keine Differenz, wohl aber im Hinblick auf das Verfahren und auf den Weg, wie man dort hinkommen kann. Sie legen das nach der Devise an: Jetzt eine Regierungskonferenz, die die Erweiterungsfähigkeit für die ersten Beitritte schaffen soll - nicht mehr und nicht weniger. Das wird schwer genug sein; es ist aber aufgrund der historischen Herausforderung und der Verzögerung bei der Erweiterungsfähigkeit unabdingbar, dass wir dies jetzt tun. Dass Sie das mit der Kernfrage einer zukünftigen europäischen Verfasstheit, die ein ganz anderes Integrationsniveau voraussetzt, belasten wollen, Kollege Schäuble, halte ich schlicht und einfach für einen politisch riesigen Fehler, wenn man es damit ernst meint. Ich bin der Meinung, dass der entscheidende Schritt über die verstärkte Zusammenarbeit, über die Regierungskonferenz in Nizza hinausführen muss. Sie werden eine Kompetenzabgrenzung, die das auflöst - das heißt eine Kompetenzabgrenzung, die eine schlanke, transparente, für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbare Europäische Union schafft -, nicht im Rahmen der heutigen Verfasstheit der europäischen Institutionen durchsetzen können, weil Sie dabei einen solchen Sprung von den Partnern erwarten, der die Frage der Finalität auf die Tagesordnung setzt. Das wissen Sie. - Na, gut. Dann sind wir hier nicht in der Sache unterschiedlicher Meinung, sondern in der Perspektive, im Weg, wie wir das erreichen können. ({25}) Ich bin in der Tat der festen Überzeugung, dass die Souveränitätsteilung zwischen Nationalstaat und der europäischen Ebene die zukünftige zentrale Verfassungsfrage darstellt. Daran hängt die Kompetenzabgrenzung.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schäuble, bitte.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Außenminister, meine Meinung ist, dass wir in Europa eine Entscheidung über effizientere Verfahren zur Entscheidung das ist in den `leftovers` angelegt - nicht erreichen werden, solange diese Debatte mit dem Misstrauen behaftet ist, worüber nach diesem Modus in Zukunft entschieden werden soll. Deswegen bin ich in der Tat der Überzeugung, dass wir erst klären müssen, wofür Europa in Zukunft zuständig sein soll, bevor wir eine Einigung über wirklich effizientere Entscheidungsverfahren zustande bekommen. Deswegen plädiere ich dafür, jetzt diese Debatte zu führen. Im Übrigen werden Sie jedenfalls in dem, was ich gesagt und geschrieben habe, kein Wort darüber finden, dass das etwa eine Vorbedingung für die Erweiterung sein soll.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ich stimme Ihnen in dem letzten Punkt zu. Ich teile allerdings angesichts der Diskussionslage - um nicht zu sagen: der Gefechtslage - bei den Mitgliedstaaten Ihre Konsequenz, Ihren Bedingungszusammenhang nicht. Damit wir uns hier nicht missverstehen: Ich wollte, Sie hätten Recht, weil ich von der Sache her überhaupt keinen Dissens zu dem, was Sie beschreiben, sehe. Wenn ich mir aber anschaue, was die CDU/CSU in ihrer Presseerklärung schreibt - Herr Merz hat es ja in der Substanz, wenn auch nicht expressis verbis in den einzelnen Artikeln, dargestellt, Kollege Glos auch -, wenn ich mir anschaue, was da tatsächlich zur Bedingung erhoben wird, Kollege Schäuble, dann komme ich zu dem Schluss, dass das - bei aller auch teilweise nachvollziehbar richtigen Kritik in wesentlichen Punkten - zu einem im Grunde genommen desintegrativen Prozess führt. Das muss man sehen. Gerade der Binnenmarkt wird damit einer Verlangsamung unterworfen; die Flexibilisierung der Anpassung des Binnenmarktes an dynamische Wirtschaftsprozesse wird damit in Frage gestellt. Dafür bekommen Sie schlicht und einfach keine Mehrheit; Deutschland wäre da völlig isoliert. ({0}) Herr Kollege Merz, wenn Sie uns vorwerfen, dass wir an den Rand der europäischen Debatte gedrängt würden, dann müssen Sie hier mittlerweile einen Knick in der poBundesminister Joseph Fischer litischen Optik haben. Wie kommen Sie denn zu einer solchen Wahrnehmung? Schauen Sie sich doch nur an, was wir zur Wiederbelebung des deutsch-französischen Motors geleistet haben, gegenwärtig leisten und morgen leisten werden. Dass es bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur auf eine britisch-französische Zusammenarbeit hinausliefe, kann ich ebenfalls beim besten Willen nicht nachvollziehen. ({1}) - Auch ich lese, was der französische Verteidigungsminister sagt. Aber jetzt geht es um die Entscheidungen morgen. Der eine oder andere von Ihnen mag ja hinter dem Berg zu Hause sein, aber die Mehrheit von Ihnen nicht. Sie wissen ganz genau, dass wir vor wichtigen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem europäischen Transportflugzeug stehen. Es gibt allerdings ein paar Interessen der Bundesrepublik Deutschland, von denen ich bisher dachte, dass auch über sie Konsens bestehe, zum Beispiel das Interesse, dass wir bei diesen Dingen die Einbindung anderer mit im Auge haben. Hier kann ich nur hinzufügen, dass für die Umsetzung der „headline goals“ eine Bundeswehrreform notwendig gewesen wäre. Wir reden jetzt doch dauernd über die Bundeswehrreform; aber im Grunde genommen hätte die große Reform bereits 1995/1996 durchgeführt werden müssen, als andere dies ebenfalls taten. Das wissen Sie doch so gut wie ich. ({2}) Die Umsetzung der „headline goals“ ist im Wesentlichen von drei Mitgliedstaaten erarbeitet worden. Wir unterstützen mit allem Nachdruck, dass Großbritannien seine Position noch in der Ausgangsphase Ihrer Regierungszeit verändert hat; das hat sich als überaus segensreich erwiesen. Was das Verhältnis EU-NATO im Hinblick auf die Fortentwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angeht, so hat Deutschland ganz wesentlichen Anteil daran, dass dieses Verhältnis jetzt nicht mehr konfrontativ ist, sondern in Arbeitsgruppen definiert und danach entsprechend umgesetzt wird. Dasselbe gilt für die Einbindung der NATO-Mitglieder, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind. Auch hier haben wir dank unserer Initiative wesentliche Fortschritte gemacht. ({3}) - Doch, das ist aus meiner Sicht ein wirklich großer Fortschritt, weil ich der festen Überzeugung bin, dass auch die Verbindung des militärischen mit dem zivilen Konfliktund Krisenmanagement eine wichtige europäische Entwicklung darstellen wird. ({4}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will den Erfolg der französischen Präsidentschaft, weil wir die Osterweiterung der Europäischen Union wollen, und zwar nicht mit fünffachem Aber, sondern ohne Wenn und Aber, getragen von Realismus, solide erarbeitet, aber nicht mit Verzögerung verbunden; es sollen nicht mit hervorgeholten Argumenten Vertagungen erreicht werden. ({5}) Wir wollen den Erfolg der Regierungskonferenz. Aber wir wissen auch, dass danach die nächsten Schritte unverzichtbar sind. Die nächsten Schritte werden nicht mehr unter Ausblendung der Finalitätsdiskussion leistbar sein. ({6}) Das wird sowohl für die Kompetenzabgrenzung als auch für die Souveränitätsteilung sowie für die Frage des Verhältnisses von Nationalstaat zu Europäischer Union gelten. Herr Kollege Glos, ich habe Ihnen sehr sorgfältig zugehört. Sie haben die Worte „Föderalismus im Staatenverbund“ einfach so dahingesagt. Demgegenüber bin ich schon der Meinung, dass das im Entstehen begriffene Europa ein Gebilde sui generis wird: nicht der deutsche Bundesstaat übertragen auf die europäische Ebene, aber mehr als ein Staatenverbund. Ansonsten wird dieses Europa nicht funktionieren. ({7}) Wir gehen morgen in den französisch-deutschen Gipfel. Er wird eine wichtige Vorbereitung für Feira sein. In Feira wird eine erfolgreiche portugiesische Präsidentschaft abgeschlossen und die französische Präsidentschaft vorbereitet werden, die formell am 1. Juli beginnen wird. Wir werden alles dazu beitragen, um unsere französischen Freundinnen und Freunde in engster Abstimmung zu unterstützen, sodass wir in Nizza einen Erfolg haben werden. Ich stimme allen zu, die zu Recht die großartige Europatradition der CDU/CSU von Adenauer bis Kohl beschwören. Aber heute habe ich das Gefühl: Wenn Sie so weiter machen, dann verabschieden Sie sich davon. Da sich ein gut Teil Ihrer Fraktion davon nicht verabschieden wird, gehen Sie schweren Zeiten entgegen. ({8}) Daran haben wir kein Interesse. Bisher galt hier im Haus bei allen Differenzen in Einzelheiten ein europapolitischer Grundkonsens und das war ein Wert an sich. Ich hoffe, Sie kehren dahin zurück. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bundesminister Fischer hat natürlich Recht: Die leicht verniedlichende Bezeichnung `leftovers` oder „Überbleibsel von Amsterdam“ trifft den Kern der Sache wirklich nicht. Bei den Themen, die bei der letzten Regierungskonferenz nicht erledigt werden konnten, handelt es sich zum einen um zentrale Machtfragen der Europäischen Union und zum anderen um die Fragen der Effizienz und der Arbeitsfähigkeit der immer größer werdenden Union. Darüber hinaus handelt es sich um die Voraussetzungen für die Osterweiterung. Diese gravierenden Fragen, die damals nicht beantwortet werden konnten, müssen jetzt vom Tisch, weil die Osterweiterung sonst weiter ins Schleudern kommt. Dabei haben wir in der Tat ein großes Problem, weil einen die Ahnung beschleicht, dass nicht jeder, der mit der Osterweiterung oder der Neuverteilung von Strukturfonds und ähnlichen schönen Dingen nicht allzu viel im Sinn hat, das größte Engagement aufbringen wird, um die Voraussetzungen für die Osterweiterung zu schaffen. ({0}) Es gibt natürlich aber auch andere Bremser. Es gibt sie - hier wird die Bundesregierung intern noch einiges zu tun haben - in den Ressorts der Bundesregierung. Da hat sich ja in den letzten Jahren nicht plötzlich alles völlig verändert. ({1}) Auch da sind die Betonmischer - Herr Kollege Zöpel bestätigt es zu Recht - allenthalben am Werke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Zöpel, Sie dürfen nicht von der Regierungsbank dazwischenrufen.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Das hat der Kollege Zöpel nur als Abgeordneter gemacht. Wenn dann ein Machtwort gesprochen wird und man sich zu einer Position knackiger Art durchringt, ist mancher beteiligt, der die Entscheidung zu dieser knackigen Formulierung in der Bundesregierung deshalb so leicht an sich vorüberziehen lässt, weil er davon ausgeht, dass andere sie hinterher wieder verhindern werden. Der Geist der Betonmischerei ist da. Ich glaube, wir würden einen großen Fehler machen, wenn wir auch nur den Verdacht erweckten, wir würden Beton anmischen durch eine Verbindung der Verfassungsdiskussion - deren Notwendigkeit ich voll unterstreiche - mit dem Erfordernis, dass die Regierungskonferenz bei den entscheidenden institutionellen Fragen tatsächlich zum Erfolg gelangt. Ich halte das für einen sehr gefährlichen Weg. ({0}) Ich möchte einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt meiner Ausführungen stellen. Bei fast allen institutionellen Fragen, die wir zu behandeln haben, ist das Verhältnis der kleinen zu den großen Ländern der entscheidende Punkt. Bei allen drei großen institutionellen Fragen sehen sich die kleinen Länder bedroht. Das ist ein heikles Ding, weil die europäische Integration für die kleinen Länder ohnehin nicht unproblematisch ist. Bei ihnen ist die Sorge vor dem Identitätsverlust am größten. Andererseits macht die Möglichkeit, die Stimme eines kleinen Landes gleichberechtigt am Tisch aller europäischen Länder zur Geltung zu bringen, den Reiz der Europäischen Union für die kleinen Länder aus. Deshalb ist es eine gute deutsche europapolitische Tradition, sich in ganz besonderer Weise um die kleineren Mitgliedstaaten zu kümmern. ({1}) Das war von Scheel bis Kinkel, das war von Adenauer bis Helmut Kohl der Fall. ({2}) Deshalb halte ich es für einen großen Fehler, dass von dieser guten Tradition deutscher Europapolitik Abschied genommen wurde und mehr auf eine gewissermaßen Kontaktgruppendiplomatie gesetzt wird, die ohnehin schon im Zusammenhang mit Jugoslawien genügend Soupçon bei den kleineren Mitgliedstaaten verursacht hat. Ich halte es für einen Fehler, in dieser Richtung weiterzugehen. Das bringt uns auch in die Gefahr, dass der Eindruck eines Großmachtgehabes entsteht, der den Deutschen im europäischen Kontext und überhaupt nicht besonders gut ansteht. Genau unter dem Gesichtspunkt, dass man mit den Kleinen fair umgehen und den Dialog mit ihnen vertrauensvoll führen muss, ist das Thema Österreich so überaus problematisch. Deswegen hat die Haltung der 14 gegenüber Österreich so enormen Flurschaden angerichtet. ({3}) Denn die Kleinen und diejenigen, die der Union erst beitreten wollen, werden sich natürlich fragen und tun das mittlerweile ziemlich laut, inwiefern ihre demokratisch legitimierten nationalen Entscheidungen eigentlich von den Großen in der Gemeinschaft respektiert werden, wenn es einmal wirklich kritisch wird. ({4}) In Lettland wird die Debatte mittlerweile politisch zugespitzt unter der Frage geführt: Aus der SU in die EU? Dies ist eine ganz gefährliche Verkennung des Charakters der Europäischen Union. Deswegen sollten wir solche Fehlentscheidungen vermeiden. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat die F.D.P. keinen Nachholbedarf, was den Herrn Haider angeht. Unser früherer Bundesvorsitzender, Otto Graf Lambsdorff, hat als Präsident der Liberalen Internationale höchstpersönlich dafür gesorgt, dass Haiders Partei Anfang der 90er-Jahre unsere internationale Vereinigung verlassen musste. Wir kennen den Herrn schon etwas länger und wissen auch, dass man ihn nicht unterschätzen darf. Etwas anderes ist aber, wie man mit einem solchen Fall konkret umgeht. Steht es uns wirklich an, den Österreicherinnen und Österreichern zu empfehlen, eine Parteienkonstellation zu verewigen, die über Jahrzehnte hinweg zu Korporatismus, Parteienselbstbedienung, Filz und Unbeweglichkeit geführt hat? Das alles hat doch der FPÖ übrigens gerade in der Arbeiterschaft - ihre starke Stellung erst verschafft. Wer sich um die demokratische Stabilität oder die Werteorientierung unseres österreichischen Nachbarn Sorgen macht, der sollte den Dialog mit Österreich nicht reduzieren, sondern intensivieren, der sollte nicht die Begegnung von Schülerinnen und Schülern aus Belgien und Österreich unterbinden, sondern fördern, der sollte nicht bei dem, was in Österreich konkret stattfindet, wegschauen, sondern ganz genau hinsehen. Dann allerdings wird man feststellen, dass sich die österreichische Regierung bisher keine einzige Entscheidung geleistet hat, die in irgendeiner Weise zu rügen wäre. ({5}) Sie hat zu keinem Zeitpunkt Anlass zu Zweifeln an ihrer Europatreue gegeben. Deswegen sind die Sanktionen unverhältnismäßig und verstoßen gegen Geist und Buchstaben des Amsterdamer Vertrages. ({6}) Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nehmen für sich in Anspruch, mit den Sanktionen die gemeinsamen Werte der EU zu wahren und zu stärken. Aber diese Werte müssen sie dann auch gegen sich selber gelten lassen. ({7}) Dazu gehört etwa, Vorverurteilungen zu unterlassen, demokratisch zustande gekommene Entscheidungen zu respektieren und sich an Geist und Buchstaben internationaler Verträge zu halten. Die Sanktionen sind insofern ein Widerspruch in sich. Und seien wir ehrlich, es sind wohl auch in erster Linie innenpolitische Erwägungen einer Reihe von Ländern gewesen, die uns in diese Situation hineingetrieben haben. ({8}) Die Bundesregierung ist sehenden Auges in eine Straße hineingefahren, an deren Beginn gleichzeitig Einbahnstraße und Sackgasse ausgeschildert war. Eine Exit-Strategie gibt es nicht. Wo sind denn die Kriterien, an denen man eine Beendigung der Sanktionen glaubwürdig festmachen könnte? Es wird also höchste Zeit, dass diese Sanktionen aufgehoben werden. ({9}) Die 14 haben einen Riesenfehler gemacht und sollten nunmehr die Souveränität aufbringen, diesen Fehler wieder rückgängig zu machen, und zwar noch während der portugiesischen Präsidentschaft; denn von der französischen Präsidentschaft haben wir in diesem Punkt wohl nicht viel zu erwarten. ({10}) Die Kommission hat mit ihrem Vorschlag eines intensiven Monitorings Österreich einen vertragskonformen Weg gewiesen. Bundeskanzler Schüssel ist mit seinem Vorschlag, solche Beobachtungsfunktionen auszuweiten, noch weiter gegangen. Das ist der ehrenwerte Versuch, den 14 einen Ausweg aus der von ihnen selbst gewählten Sackgasse zu weisen. Aber ich frage mich, ob es angemessen ist, dass sich ein europäischer Regierungschef, an dessen demokratischer und moralischer Qualifikation nicht der geringste Zweifel besteht, in eine solche Situation hineinmanövrieren muss, die einem fast erniedrigend vorkommt. Wenn er es doch tut, zeigt das, wie wichtig unseren österreichischen Freunden offensichtlich die europäische Orientierung Österreichs ist. Deswegen sollten die Regierungen der 14 endlich die Brücken betreten, die ihnen hier so verantwortungsbewusst gebaut werden. Danke schön. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das Thema fortführen, das der Kollege Hoyer angesprochen hat, nämlich den Umgang und die Auseinandersetzung mit Österreich. Ich komme allerdings - das verwundert auch nicht - in vielen Punkten zu einer anderen Schlussfolgerung. Herr Glos hat in seiner Rede den politischen Boykott Österreichs als größten Fehler der jetzigen Regierungskoalition bezeichnet. Aus meiner Sicht hat die Regierungskoalition - wenn es überhaupt ein Fehler war - größere und andere Fehler gemacht. Ich fand auch die Art und Weise, wie Herr Glos hier mit anderen Staaten umgesprungen ist, außerordentlich unangebracht. Im Zusammenhang mit der Türkei den Begriff Sultan zu benutzen, das schürt schon Stimmung und soll Stimmung schüren. ({0}) Ich will versuchen, Ihnen meine Vorstellungen und meine Sicht der Probleme nahe zu bringen. Erstens. Aus meiner Sicht war es richtig, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union auf die Regierungsbeteiligung der österreichischen Rechtspopulisten mit einem demonstrativen Akt politisch reagiert haben. Ich meine, dass man unterstreichen muss: Es war notwendig, ein Zeichen zu setzen. Daran kann doch kein Weg vorbeigehen. Ein Verzicht auf eine deutliche Reaktion hätte Rechtspopulisten und Neofaschisten in Europa weiter salonfähig gemacht. Es wäre als Ermunterung für die politische Rechte in anderen europäischen Ländern verstanden worden und es hätte auch, wie ich meine, die gemeinsame Arbeit an einer europäischen Grundrechtecharta zur Farce gemacht. Aber - das muss man hinzusetzen - ein demonstrativer Akt ersetzt doch keine Politik. Ich meine, dass dieser demonstrative Akt zu kurz gedacht war, weil nirgendwo die Frage beantwortet ist, was nach dem Boykott kommen soll. Deswegen richte ich meine Kritik nicht darauf, dass reagiert wurde, sondern darauf, wie reagiert wurde. Die Art des Boykotts - auch das muss man heute nüchtern feststellen - hat Haider in Österreich nicht geschadet. Im Gegenteil, er konnte das in Österreich in innenpolitisches Kapital ummünzen. Ich meine, dass der Grund dafür in dem Umstand zu suchen ist, dass der Boykott auf Regierungsebene nicht mit einer Würdigung und Unterstützung der Anti-Haider-Bewegung in Österreich selbst verbunden war. Die Zivilgesellschaft, das andere Österreich, hätte unsere Solidarität und Zusammenarbeit verdient. Das ist ausgeblieben. Die Unfähigkeit der europäischen Politik, sich mit der Zivilgesellschaft, mit der Opposition zu verbinden, höhlt den Boykott der Regierung aus, macht ihn brüchig, bis er jetzt oder bald zusammenfallen oder stillschweigend erledigt sein wird. Das bedaure ich sehr; es ist aber so. Zweitens. Ich sehe sehr kritisch, dass das Anwachsen von Rechtsextremismus und Neofaschismus in Europa quasi zum alleinigen Problemfall Österreich gemacht wurde. Dabei verweist die Haltung der Europäischen Union zur österreichischen Regierung auf eine lebenswichtige Gegenwarts- und Zukunftsfrage der Europäischen Union selbst. Haiders haben wir in Europa kaum in Regierungen, aber die Haiders sind überall noch unter uns in unserem Lande. Auch das muss man feststellen, glaube ich. ({1}) Berlusconi und Fini greifen in Italien nach der Regierungsmacht; in Frankreich gibt es Le Pen und rechtsextremistische Bürgermeister; es gibt rechte Bewegungen in Dänemark, Schweden, Norwegen und Spanien, und ich finde, wir müssen vor allen Dingen vor der eigenen Tür kehren. Mir wird übel, wenn ich mich an die Bilder des Naziparolen skandierenden Mobs erinnere, der aus Solidarität mit Haider durch das Brandenburger Tor zog, und das zehn Jahre nach der Vereinigung. Das ist doch ein Albtraum, und das müssen wir hier deutlich aussprechen. Kein Tag vergeht ohne Gewalt gegen Ausländer, ohne Rassismus und Antisemitismus. Da sollten wir uns doch einmal die Frage stellen, was in Deutschland wäre, wenn wir es hier mit einem Haider zu tun hätten. Die parteipolitische Landschaft wäre bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wenn wir mit einem Finger auf Österreich zeigen, so zeigen vier Finger in unsere Richtung zurück. Auch das müssen wir uns endlich ins Stammbuch schreiben. Drittens. Ist es nicht eigentümlich, dass sich viele am Juniorpartner Haider abarbeiten, aber der Seniorpartner, die ÖVP, relativ ungeschoren bleibt? Es war doch die ÖVP unter der Führung von Wolfgang Schüssel, die unter Bruch vorheriger Wahlaussagen die Koalition mit Haider einging. Ich finde, dass Stichworte für rassistische Parolen oftmals aus der so genannten Mitte der Gesellschaft kommen. Denken wir doch einmal gemeinsam an Edmund Stoibers Begriff von der „durchrassten Gesellschaft“, die er nicht wolle. Denken wir - da könnte Herr Kollege Merz endlich einmal Führungsqualität beweisen - an die populistischen Parolen des Herrn Rüttgers mit den Kindern und den Indern im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen; denken wir an Roland Koch mit seiner Kampagne in Hessen. Ich glaube, auch die F.D.P. sollte an ihren StahlFlügel denken. Meinen sozialdemokratischen Kollegen möchte ich zu bedenken geben: Manche Rede von Otto Schily weist auch darauf hin, dass er der Meinung sei, das Boot sei voll. ({2}) Mit solchen Positionen müsste man Schluss machen. Das gemeinsame Verständnis müsste sein: Wer solche Zeichen setzt, schafft die Voraussetzungen für die Entfaltung der Haiders. ({3}) Ich glaube, es wäre eine gemeinsame Aufgabe, dagegenzuhalten. Viertens. Die Haiders sind unter uns. Deshalb brauchen wir in Ergänzung des Boykotts der Regierung eine gemeinsame europäische Initiative gegen Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevision. ({4}) - Ja, auch Stalinismus. Damit habe ich nie ein Problem gehabt. Sie können in dieser Frage von mir mehr nachlesen, als Sie bisher zu Papier gebracht haben. ({5}) Ich will in Richtung des Herrn Kollegen Hoyer sagen: Man kann den Boykott jetzt nicht aufheben. Das genau wäre Haiders Triumph und ein Triumph der vereinigten europäischen Rechten. Deshalb ist mein Vorschlag, die staatlichen bzw. die Regierungsauseinandersetzungen mit den Initiativen der zivilen Gesellschaft zu koppeln und das als eine gemeinsame Aufgabe zu betrachten. Darum bitte ich Sie. Danke sehr. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Lothar Mark.

Lothar Mark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003190, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass ein bayerischer Ministerpräsident einmal von der „durchrassten Gesellschaft“ sprach ({0}) und sich anschließend für diesen Ausdruck entschuldigte, ist zwar politisch nicht ganz nachvollziehbar; trotzdem muss man diese Angelegenheit für erledigt erklären. ({1}) Wenn aber jemand über Jahre hinweg nationalsozialistisches Gedankengut, Ideen und Symbole gebraucht und gutheißt, wie es ein österreichischer Landeshauptmann praktiziert, dann offenbart sich ein Wertesystem, offenbaren sich geistige Grundlagen, die von den meinen und wie ich hoffe - von den unsrigen weit entfernt sind. ({2}) Es muss daher sehr wohl darüber nachgedacht werden, ob bei solchen Menschen nicht ein grundsätzliches demokratisches Bewusstsein durcheinander geraten ist und ob sie politische Verantwortung übernehmen dürfen. ({3}) - Mit diesen Zwischenbemerkungen zeigen Sie, dass Sie anscheinend von diesem Geistesgut nicht sehr weit entfernt sind. ({4}) Wenn sich ein Land anschickt, von einer Partei mit solchen geistigen Grundlagen mitregiert zu werden, ist es für die anderen Staaten und insbesondere für die Mitglieder einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union das Mindeste, diesem Land symbolisch zu zeigen, dass sie mit jemandem, der sich nicht an die vereinbarten Spielregeln hält, nicht vertrauensvoll zusammenarbeiten können und möchten. ({5}) Dies als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu bezeichnen geht einfach an den Tatsachen vorbei. Die Regierungskoalition sieht das so. Ich hoffe, dass die fremdenfeindlichen und rassistischen Äußerungen der FPÖ bis in die jüngste Zeit, die eben nicht nur von ihrem mediengewandten heimlichen Vorsitzenden Haider stammen, von allen im Bundestag vertretenen Parteien einhellig abgelehnt werden. Zumindest ist diese Hoffnung auch aus dem F.D.P.-Antrag abzulesen und durch Dr. Hoyer heute noch einmal bestätigt worden, wenngleich ich in der Quintessenz zu anderen Ergebnissen komme als er. Interessant ist aber, dass sich die CDU/CSU in dem Teil ihres Antrages, der sich mit Österreich befasst, nur mit den so genannten Sanktionen auseinander setzt. Die Mitgliedsländer der Europäischen Union hatten nach der Regierungsbeteiligung der rechtsgerichteten FPÖ Maßnahmen gegen Österreich beschlossen, die durch die neuerlichen Ausbrüche von FPÖ-Funktionären an Aktualität gewonnen haben. Ihnen ist sicher noch in Erinnerung, was Hilmar Kabas, der FPÖ-Vorsitzende aus Wien, über den österreichischen Bundespräsidenten Klestil gesagt hat: Er hat ihn als einen „Lumpen“ bezeichnet. Wenn Sie den Begriff „Lump“ nehmen, werden Sie sicherlich sofort an die Äußerungen aus dem Reichsgerichtshof erinnert. Dort spielte dieses Wort ebenfalls eine ganz große Rolle. Ich verweise auf die jüngsten Äußerungen von Ernest Windholz: „Unsere Ehre heißt Treue.“ Das war der Leitspruch von Adolf Hitler 1931 für die SS. Das sind keine Wortidentitäten, die rein zufällig entstanden sind. Dies muss vielmehr schon im Kopf verankert sein; denn sonst würden solche Zitate nicht zum Vorschein kommen können. ({6}) In diesem Zusammenhang ist für mich auch nicht nachvollziehbar, dass die ÖVP - so die „Süddeutsche Zeitung“ vom 6. Juni 2000 - zu diesen Äußerungen keinen Kommentar in Österreich abgegeben hat. Lediglich die Landeshauptfrau der Steiermark, Waltraud Klasnic, sagte, dass man solche Worte nicht so schnell erfinden könne. Die österreichischen Sozialdemokraten äußerten, dass bei der FPÖ immer wieder das bräunliche Gedankengut zum Vorschein komme. Selbst in der FPÖ-Zentrale wurde das Zitat von Windholz zunächst dementiert. Später hat die Generalsekretärin gesagt, sie könne es nicht glauben, dass Windholz dies geäußert habe. Ganz interessant ist auch noch, dass Herr Haider keinen Kommentar zu diesem Zitat abgeben wollte. Er beschränkte sich auf den Hinweis, dass es „keine schlechte Sache“ sei, wenn sich jemand „zu Anständigkeit, Treue, Ehrlichkeit und Leistungsbewusstsein“ bekenne. Damit zeigt er, dass er wiederum die historische Dimension von Begriffen nicht verstanden hat. ({7}) Die EU ist eine Wertegemeinschaft, für die Freiheit, Demokratie und Solidarität einen hohen Stellenwert haben. Sie kann auf keinen Fall akzeptieren, dass diese Werte auf ihrem eigenen Territorium verletzt werden könnten. ({8}) Es ist nachgerade ihre Pflicht, die Freiheit der Andersdenkenden zu schützen, gegen die Haiders Freiheitliche vorgehen möchten. Daher wurde die Regelung getroffen, die Beziehungen auf höchster Ebene bilateral abzubrechen sowie keine österreichischen Kandidaten für Posten in internationalen Organisationen zu unterstützen, die Kontakte auf Arbeits- und nachrangiger Ebene jedoch beizubehalten. Dies gewährleistet weiterhin die inhaltliche Auseinandersetzung und Kontinuität der laufenden Arbeit. Die symbolische Isolierung zeigt aber deutlich den Willen der EU und beweist Augenmaß. Die deutsche Österreich-Politik, ist eingebettet in die EU-Politik und abgestimmt mit ihr. Ich finde es geradezu unseriös, wenn man meint, man könne seine Politik nach Gutdünken in die EU-Politik einbetten oder eben auch nicht. Wir hören oft den Vorwurf, dass unsere Politik nicht in die gemeinsame EU-Politik eingebettet sei. Wenn es einigen nicht gefällt, kommt der Vorwurf: Wieso bettet ihr eure Politik ein und macht keinen nationalen Alleingang? Dies ist eine unseriöse Politik. ({9}) Ich begrüße in diesem Zusammenhang, dass die österreichischen Regierung Vorschläge zur Änderung des Gemeinschaftsvertrages, der das Vorgehen bei schwerwiegenden und anhaltenden Vertragsverletzungen regeln soll, unterbreitet hat. Damit ist in die Diskussion Bewegung gekommen. Unabhängig von den Maßnahmen, die die anderen EU-Mitgliedsländer gegenüber der Regierung in Wien getroffen haben, könnten damit in Zukunft Gefährdungen und tatsächliche Verletzungen der EU-Verträge unterschieden, beobachtet und gegebenenfalls geahndet werden. Nur, die jetzt vorliegenden Vorschläge müssen geprüft, diskutiert und stark modifiziert werden. ({10}) Keinesfalls rechtfertigen sie die sofortige Aufgabe der Maßnahmen - ich sage bewusst: Maßnahmen -, zumal Bundeskanzler Schüssel den Vorschlag, eine Beobachtermission nach Österreich zu entsenden, ({11}) nach Zeitungsberichten vom 2. Juni abgelehnt hat. Der luxemburgische Ministerpräsident Juncker ließ verlautbaren, dass sich der EU-Gipfel im Juni nicht mit Schüssels Vorschlag beschäftigen werde. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass sich die symbolischen Maßnahmen nicht gegen die österreichische Bevölkerung richten, sondern ausschließlich gegen die Regierung in Wien. Deshalb stimme ich auch mit den Äußerungen von Bundeskanzler Schröder überein, die er gegenüber der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 22. Mai gemacht hat. Die an der Regierung beteiligte FPÖ verharmlost seit Jahren die Menschen verachtende Politik des Deutschen Reiches und Österreichs während des Nationalsozialismus, die unermessliches Leid weit über unseren Kontinent hinaus zur Folge hatte. Diese Verharmlosung und Verfälschung der Geschichte passt nicht in unsere Zeit und darf nicht hingenommen werden. Problematisch ist in diesem Zusammenhang die Rolle einiger Medien, die zwar einen Werteverfall beklagen, aber gerade Leute solcher Parteien hofieren und somit geradezu eine Plattform für Scheinlösungen und Verunsicherung bieten. Die Sorgen und Ängste der Bevölkerung müssen aber ernst genommen werden, die sich zum Beispiel aus der EU-Osterweiterung ergeben. Darüber wurde bereits gesprochen. Natürlich neigen nicht alle FPÖ-Wähler zu rechtsextremen Tendenzen. Aber die EU kann nicht zulassen, dass immer mehr Menschen ungehindert rechtspopulistischen Rattenfängern in die Arme laufen. Diese mögen zwar zu Recht auf bestehende Probleme hinweisen, die die etablierten Parteien mitunter vernachlässigt haben. Aber ihre vorgeblichen Lösungen, für die sie mit Angst schürender Propaganda werben, verschärfen und schüren in einem Europa, das durch Erweiterung und Integration unaufhaltsam zusammenwächst und somit viele Probleme zu lösen hat, soziale Spannungen und Konflikte. Die EU muss daher ebenso wie die österreichische Regierung über die Vorzüge der Erweiterung aufklären und für die anstehenden Veränderungen werben. So hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in seinem jüngsten Bericht darauf hingewiesen, dass durch die EU-Osterweiterung keine massive Zuwanderung zu erwarten ist. Warum sollte jemand auch seine Heimat in Polen oder Tschechien verlassen, wenn sein Wohlstandsniveau fast mit unserem vergleichbar ist? Der politische Sinn der EU liegt ja gerade darin, über den Export von Wohlstand und wirtschaftlicher Sicherheit für Stabilität, aber auch für die Durchsetzung von Werten zu sorgen. Die Chancen, die sich aus der Osterweiterung der EU insbesondere für Deutschland und Österreich als Grenzstaaten ergeben, müssen also besser vermittelt werden. Den Ängsten muss durch intensive präventive Aufklärung begegnet werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Maßnahmen der EU gewisse Erfolge gezeitigt haben. In Österreich wurde seit langem nicht mehr so breit über das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit debattiert wie jetzt. Das öffentliche Bekenntnis Schüssels und Haiders vom 3. Februar 2000 zu den Grundwerten der EU wäre ohne den Druck von außen wahrscheinlich nicht zustande gekommen. Wer weiß, zu welcher Politik sich die FPÖ verstiegen hätte, wenn der Beobachtungsdruck von innen und außen nicht vorhanden gewesen wäre. Ich habe zu dem Antrag der CDU/CSU bezüglich Österreichs einiges angemerkt, ebenso wie zu dem Antrag der F.D.P. Ich möchte ergänzend hinzufügen, dass die politologischen Intentionen der Maßnahmen, die in dem Antrag gefordert werden, an der Realität vorbeigehen. Schließlich haben wir uns nicht damit zu befassen, wer wem die Hand zu geben hat und ob eine Schulpartnerschaft in Belgien aufgelöst wird oder nicht. Wenngleich ich die angesprochenen Verhaltensnormen ebenfalls nicht begrüße, Herr Dr. Hoyer, muss ich dazu sagen: Die Behandlung dieser Fragen liegt nicht in der Kompetenz des Deutschen Bundestages. ({12}) Derzeit gibt es also keinen Anlass, die politischen Maßnahmen der EU-Mitgliedsländer gegenüber der Regierung in Wien aufzuheben. Ich begrüße die jüngsten Äußerungen von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer - auch die von heute - und stelle für meine Fraktion fest, dass sie den Anträgen der Opposition, Drucksachen 14/3187 und 14/3377, nicht zustimmen kann. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Hintze.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir stehen in einer schwierigen Phase der europäischen Politik. Es geht um die Neuausrichtung der Europäischen Union, es geht um das große Projekt der Osterweiterung und es geht um eine wichtige Voraussetzung für die Steigerung unserer Handlungsfähigkeit. Der Bundesaußenminister hat in seiner Rede von der Opposition einen europapolitischen Grundkonsens eingefordert. Herr Bundesaußenminister, ich möchte Ihnen klar sagen: Wir, die CDU/CSU, sind in den großen Fragen der Europapolitik zu einem Konsens mit der Bundesregierung und den demokratischen Parteien in diesem Hause bereit. ({0}) Das hat zwei Voraussetzungen: Die eine ist eine faire Debatte über die anstehenden Fragen. Die zweite ist die Qualität der Politik, die es gemeinsam zu vertreten gilt. Zum Stichwort „faire Debatte“ möchte ich in aller Ruhe eines anmerken: Wir verstehen es, wenn Sie als Bundesaußenminister politische Termine - wie gestern in Polen - wahrnehmen müssen. Aber es beschwert uns, dass diese Debatte als letzte Möglichkeit der Aussprache vor dem Gipfel in Feira überhaupt nur deswegen stattfindet, weil wir als Opposition einen entsprechenden Antrag eingebracht haben. ({1}) Es beschwert uns, dass die Bundesregierung weder eine Regierungserklärung abgibt noch im zuständigen Fachausschuss auf politischer Ebene vertreten war. Wir freuen uns, dass Sie nächste Woche bereit sind, die Obleute persönlich zu unterrichten; aber bei der Konsensbildung geht es eben nicht nur darum, dass man hört, was die Regierung vorhat - obwohl das wichtig ist -, sondern auch darum, dass wir Parlamentarier Gelegenheit haben, die großen und entscheidenden Fragen Europas in der Öffentlichkeit zu diskutieren. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Hintze, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sterzing?

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gestatte. Bitte schön. ({0})

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hintze, ist Ihnen bekannt, dass - weil der Termin mit dem Außenminister im Ausschuss gestern nicht zustande gekommen ist - just für den Zeitpunkt dieser Europadebatte das Angebot zu einer Ausschusssitzung oder zu einem Gespräch mit den Obleuten des Europaausschusses bestand und dass dieses Gespräch nur an dieser Europadebatte gescheitert ist? ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe gehört, dass ein solches Gesprächsangebot im Raum stand. Ich wünsche mir, dass wir die großen Fragen im Bundestag diskutieren, wenn die Regierung sagt: Wir brauchen einen europapolitischen Konsens im Parlament. ({0}) - Wenn Sie nicht so viel dazwischenrufen würden, dann kämen wir weiter. ({1}) Der Bundesaußenminister hat darauf hingewiesen, dass die `leftovers` von Amsterdam beachtliche Probleme seien. Dem kann man nur zustimmen. Wenn es keine beachtlichen Probleme wären, hätten wir sie auf früheren Regierungskonferenzen in der Tat schon lösen können; das ist klar. Unsere Auffassung ist nur, dass zu diesen beachtlichen Problemen - Größe der Kommission, Stimmgewichtung im Rat und Ausweitung der qualifizierten Mehrheit - auch noch zwei andere wichtige Fragen hinzukommen, nämlich die Frage einer präziseren Kompetenzabgrenzung und die Frage der erleichterten Anwendung der Flexibilitätsklausel; denn wir glauben, dass das für die Zukunft Europas wichtig ist und dass eine Vergrößerung der Tagesordnung die Lösung der drei kritischen `leftovers` möglicherweise sogar etwas einfacher macht, statt sie zu erschweren, wie die Regierung es vermutet. In diesen Punkten wollen wir eine parlamentarische Diskussion. Hier hat kein Mensch gesagt - da dürfen Sie alle unsere Erklärungen nachlesen; der Fraktionsvorsitzende hat das heute Morgen auch ganz deutlich gemacht -, dass die Osterweiterung von unserer Seite an eine vollendete und abgeschlossene Kompetenzabgrenzung gebunden wird und dass wir, wenn Nizza nicht zum letzten Erfolg führt, die Osterweiterung nicht unterstützen. Im Gegenteil: Wir unterstützen die Osterweiterung. Sie ist für uns ein Gebot der politischen, ökonomischen und moralischen Vernunft. Das ist eine ganz klare Sache. Sie darf nicht hinausgeschoben werden. ({2}) Was die Frage der Kompetenzabgrenzung angeht, für die wir uns in der Endform einen Verfassungsvertrag vorstellen, so bieten wir nur an, Herr Bundesaußenminister, dass bei den Themen, die in die qualifizierte Mehrheit überführt werden, eine Kompetenzpräzisierung im Vertrag erfolgt. ({3}) Wir wissen, dass eine komplette Kompetenzabgrenzung vertragstechnisch schwierig und politisch kompliziert ist. Das wissen wir. Aber wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie die Verhandlungen so anlegt, dass bei dem Schritt des Übergangs in die qualifizierte Mehrheit auch ein Einstieg in eine klarere Kompetenzabgrenzung erfolgt. ({4}) Warum wollen wir das? Wir glauben, dass die Legitimität von politischen Entscheidungen im Wesentlichen von drei Dingen abhängt: zum einen von der demokratischen Struktur der Entscheidungen, zum Zweiten von der Transparenz der Entscheidungsgänge und zum Dritten von der Qualität der Ergebnisse. Wir glauben, dass eine klarere Kompetenzabgrenzung in allen drei Punkten einen Zugewinn brächte und damit auch eine größere Zustimmung zum Projekt der europäischen Einigung. ({5}) Der Kollege Gloser hat in seiner Einführungsrede gesagt, dass die Sozialdemokraten die großen europapolitischen Entscheidungen in der Vergangenheit immer unterstützt haben. Das nehmen wir erfreut zur Kenntnis. Aber es waren auch große Vorhaben: Binnenmarkt, Abschaffung der Grenzkontrollen, Wirtschafts- und Währungsunion, Süderweiterung, Erweiterung um die EFTA-Staaten, Innen- und Rechtspolitik. Das waren große Vorhaben. Wir sehen die Gefahr, dass unter der Politik der jetzigen Regierung diese großen Vorhaben, die in der Vergangenheit verwirklicht worden sind, nicht so fortgesetzt werden, wie sie es verdient hätten. Das ist unsere Sorge. ({6}) Die wird in diesen Tagen konkret. Unser Fraktionsvorsitzender hat darauf hingewiesen: Wenn der französische Verteidigungsminister einen Tag vor dem deutsch-französischen Gipfel öffentlich sagt, er könne sich eine Zusammenarbeit mit Deutschland auf militärischem Gebiet gar nicht so recht vorstellen, das gehe natürlicherweise mit England besser, dann muss man doch sagen: Wie traurig ist die Situation, dass der französische Verteidigungsminister einen Tag vor einem Gipfel eine solche Aussage macht? Das zeigt doch ein Defizit. Darüber können wir doch nicht hinwegschauen. ({7}) Herr Minister Fischer, es geht nicht, dass Sie jeden Einwand der Opposition mit dem Wunsch wegbügeln, es müsse ohne Wenn und Aber ja gesagt werden. Das erinnert mich an einen Menschen, der jeden Tag schwimmen geht und sagt, er springe mit dem Kopf voran ins Becken, egal ob Wasser drin sei oder nicht. So kann es nicht sein. Wir müssen doch darüber sprechen, was es zu regeln gibt. Der amerikanische Präsident war bei uns in Deutschland und hat über die Grenzen der Europäischen Union aus seiner Sicht gesprochen. Er stellt sich vor, dass Russland Mitglied der Europäischen Union wird. Nun ist das die Vorstellung des amerikanischen Präsidenten. Die Amerikaner sind gute Freunde von uns. Sie haben eine Vorstellung von Europa als einer großen Stabilitätszone, die vom Atlantik bis Asien reicht. Das ist aus ihrer Sicht verständlich. Aber hier müssen wir als Parlament doch ein Wort dazu sagen, dass das nicht unsere Vorstellung von Europa als einer Wertegemeinschaft, einer politischen Union ist. Eine Entgrenzung würde zu einem schweren Verlust führen. Darüber müssen wir hier doch diskutieren und sprechen. ({8}) Dazu habe ich von Ihnen kein Wort gehört. Es wäre schön, wenn wir ein Wort des Außenministers dazu gehört hätten. Einige der Maßnahmen, die geignet sind, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union zu verbessern, können gleichsam schon vor dem Vertrag geklärt werden. Für mich besteht der größte Reformnotstand beim Ministerrat. ({9}) Hier müssen zwei Dinge geklärt werden. Das eine ist die ungute Vermischung von legislativen und exekutiven Funktionen des Ministerrates. Das andere ist, dass dieses wichtige Gesetzgebungsorgan nicht öffentlich tagt. Was ist das für eine Welt, in der nur der Volkskongress von Nordkorea und der Ministerrat der Europäischen Union ihre Gesetze hinter verschlossenen Türen machen. Ich meine, die Bürger haben einen Anspruch darauf, dass der Ministerrat öffentlich tagt. Sie könnten schon vor der nächsten Vertragsänderung dafür sorgen, dass das geändert wird. ({10}) Nun haben Sie, Herr Minister Fischer, auch Ausführungen zum Europäischen Parlament gemacht, die ich merkwürdig finde. Die Einführung von Doppelmandaten, also eines Feierabendparlamentes, wäre für mich ein dramatischer Rückschritt auf dem Weg der europäischen Integration. Wir dürfen das Europäische Parlament nicht durch die Einführung von Doppelmandaten schwächen, sondern müssen es durch einen Kompetenzzuwachs stärken. Eine Möglichkeit der Stärkung des Europäischen Parlamentes wäre, ihm das Recht zu geben, den Präsidenten der Kommission zu wählen und ihn vom Rat bestätigen zu lassen ({11}) und nicht umgekehrt das Parlament einen hinter verschlossenen Türen ausgekungelten Kandidaten nur noch bestätigen zu lassen. So könnten wir das Europäische Parlament stärken. ({12}) - Was wir in der Vergangenheit gemacht haben, lieber Kollege Gloser, kann sich wirklich sehen lassen. Ich hoffe sehr, dass sich das, was die Regierung jetzt noch vorhat, sehen lassen kann. Ich schließe mit Blick auf Feira mit einem freundlichen und positiven Wort. Gut finde ich, dass man in Sachen europäischer Verteidigung ein Stück vorankommt. Wir fragen zu Recht, wo Europa zu weit gegangen ist und wo man es ein Stück zurücknehmen soll. Wir müssen aber auch fragen, in welchen Bereichen die europäische Integration noch zu wenig ausgeprägt ist. Ich finde, dass Europa zu wenig zum Ausdruck kommt, wenn 15 Armeen nebeneinander bestehen, die viel Geld kosten und denen es an Effizienz mangelt. Wir brauchen eine gemeinsame Verteidigung. Ich wünsche mir, dass in Feira der Einstieg dazu gelingt. Insgesamt wünsche ich mir, dass Feira einen wichtigen neuen Impuls für das große europäische Projekt der Osterweiterung gibt. Wir werden später einmal daran gemessen, wie wir dieses Projekt bewältigt haben. Schönen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl Herr Hintze als auch vorher Herr Schäuble haben bestätigt, dass die von Ihnen so stark geforderte Kompetenzabgrenzung, über deren Notwendigkeit ja kein Zweifel besteht, keine Vorbedingung für eine Zustimmung zu der sehr notwendigen Osterweiterung sein muss. Ich möchte mich deshalb nicht auf den Streit einlassen, der hier ausgetragen worden ist, sondern möchte über die Probleme sprechen, die mit der Osterweiterung, vor der wir jetzt stehen, verbunden sind. Ich möchte dies einmal aus dem Blickwinkel derer tun, die zu uns kommen wollen. Dabei möchte ich darüber sprechen, wie es sich mit der Forderung nach sicheren Grenzen verhält und was diese für die einzelnen bedeutet. Denn auch dies wird ja immer miteinander verbunden. Die einen sagen, wir müssen die Grenzen kennen, damit wir dann über Finalität sprechen können, also über Verfassungsfragen; die anderen sagen, das könne man ja vielleicht auch ein wenig getrennt voneinander machen. Ich stelle nur fest und registriere, dass es im Augenblick drei völlig unterschiedliche Verhaltensmuster in Bezug auf dieses Problem gibt. Tschechien und die Slowakei führen die Visapflicht gegenüber den östlichen Nachbarn ein. Das heißt, sie nehmen vorweg, was das Schengener Abkommen von ihnen später einmal verlangt. Der amtierende polnische Außenminister, immerhin ein Garant der polnisch-europäischen Zusammenarbeit, erklärt: Natürlich wird Polen dem Schengener Abkommen beitreten, aber erst zum spätestmöglichen Termin, erst am Tage des Beitrittes. Natürlich ist es notwendig, dass Polen die Grenzen entsprechend absichert, allein schon der organisierten Kriminalität wegen. Aber über die historisch-politisch-kulturellen Dimensionen dieser Grenzen müsse allerdings auch diskutiert werden. Das tun wir sehr wenig. Wir diskutieren sehr wenig darüber, was es bedeutet, wenn in Osteuropa diese Grenzen gezogen werden. Schließlich hat die Ukraine jetzt die Visapflicht für die EU-Staaten abgeschafft - eine deutliche Dokumentation, auch zu Europa gehören zu wollen, und Ausdruck der Hoffnung auf die stabilisierende Wirkung eines Zu-Europa-Kommens. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Tagen war ja nicht nur der Außenminister in Warschau. Deshalb möchte ich gern drei Bemerkungen machen. Erstens. Wir erleben dort zurzeit eine Regierungskrise, die sicherlich nicht dazu führen wird, dass die Pro-EUMehrheit im Sejm infrage steht. Bei einem weiteren Zerfall des AWS-Bündnisses, also des größeren Regierungspartners, kann sich aber am rechten Flügel der AWS eine europafeindliche Demagogie entwickeln. Dafür wird es einen empfänglichen Boden geben. Zweitens. Auch den polnischen Bauern ist inzwischen bewusst geworden, dass eine gemeinsame EUAgrarpolitik sie unter schweren Anpassungsdruck stellt, dem viele Subsistenzwirtschaften zum Opfer fallen werden. Zugleich stehen für einen früheren Beitritt bis 2006 keinerlei Preisstützungsmittel im Etat zur Verfügung, während die stattdessen eingesetzten Mittel - das möchte ich sehr deutlich unterstreichen - für die Politik des ländlichen Raumes in Polen zwar zu mehr als 2 000 Projektanträgen geführt haben - wovon Ende des Jahres 1999 200 bewilligt worden sind -, bis heute aber noch kein müder Euro nach Polen geflossen ist. Wie wollen Sie dann überhaupt dafür sorgen, dass es am Ende eine gesellschaftliche Akzeptanz für all das geben wird, was Sie groß beschwören? Deshalb meine letzte Bemerkung: Am Ende der Beitrittsverhandlungen werden die Fragen von Übergangsfristen zum Beispiel für die Angleichung der Niederlassungs- und Grunderwerbsrechte stehen. Natürlich stößt da jedes Wort deutscher Vertriebenenfunktionäre und insbesondere der Präsidentin des Bundesverbandes der Vertriebenen auf Aufmerksamkeit und auf Empfindlichkeiten. Jedenfalls bin ich hinreichend auf den „FAZ“-Artikel unserer Kollegin Steinbach ausgerechnet zum 8. Mai angesprochen worden. Dieser Artikel enthält eine sehr nachdrückliche und eindeutige Beschreibung dessen, was Deutschen in den Ostgebieten angetan worden ist. Aber danach heißt es: Das alles geschah, während vor dem Nürnberger Militärtribunal Hans Frank, Hermann Göring, Alfred Rosenberg, Fritz Sauckel und Arthur Seyß-Inquart angeklagt und zum Tode verurteilt wurden, ausdrücklich auch wegen ihrer Beteiligung an Deportationen von Zivilisten aus besetzten Gebieten zur Zwangs- und Sklavenarbeit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, ob Ihnen das Ungeheuerliche dieser Gleichsetzung von Tätern und Opfern auch so bewusst ist. ({0}) Ich glaube - aber das ist Sache der CDU/CSU -, dass es wirklich dringend eines Gesprächs bedarf. Ich glaube, dass hiermit auch die Heimatinteressen der Vertriebenen in ganz gefährlicher Weise aufs Spiel gesetzt werden. Ich wünsche mir, dass Sie Ihrer Kollegin den Rücktritt von ihrem Amte nahe legen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! CDU und CSU sind sich der historischen Verantwortung, in der wir alle in diesem Europa stehen, voll und ganz bewusst und brauchen von niemandem Nachhilfeunterricht in dieser Frage. Wir wissen auch ganz genau, was Polen, Ungarn und andere bei der Bekämpfung des Kommunismus geleistet haben, dabei, den Weg für die europäische Revolution und damit auch zu unserer Wiedervereinigung freizumachen. Wir lassen uns in unserem Engagement für die Erweiterung der Europäischen Union von niemandem in diesem Haus übertreffen. ({0}) Die Erweiterung der Europäischen Union ist das große Ziel der deutschen Europa- und Außenpolitik in den kommenden Jahren, weil wir nur so das bewahren können, was Frieden und Freiheit auf diesem Kontinent ausgemacht haben, weil wir nur auf diese Art und Weise Frieden und Stabilität aufrechterhalten können und den Krieg aus Europa verdrängen können. Wir wissen ganz genau, dass Europa keine Trennlinien verträgt. Wir arbeiten für die Wiedervereinigung von Europa. Das ist das große und wunderbare Ziel, für das es sich lohnt, sich einzusetzen, aber auch im Detail zu streiten. ({1}) Wenn man über die Erweiterung der Europäischen Union spricht, dann bringt es doch nichts und führt nicht weiter, wenn man die Ängste, die es gibt, die es vor allen Dingen nach dem EU-Gipfel von Helsinki gibt - dass plötzlich mit zwölf Ländern verhandelt wird und ein weiteres Land, die Türkei, als Kandidat hinzukommt -, nicht zur Kenntnis nehmen will. Es ist wahr: Man darf die Ängste nicht ausbeuten und man darf sie nicht verstärken, indem man sie benennt. ({2}) Aber benennen muss man sie und man muss ganz ruhig darüber reden dürfen, ohne sich gleich dem Vorwurf auszusetzen, man sei in einer antieuropäischen Ecke. ({3}) Eine dieser Ängste betrifft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Da gibt es natürlich gerade bei den Menschen bei uns, die arbeitslos sind, die Sorge: Kommen dann viele Billiglohnarbeiter zum Beispiel aus Polen und verdrängen uns? Ich halte nichts davon, diese Angst auszubeuten. Aber sie aussprechen und auf ihren wahren Kern untersuchen, das wird man doch tun dürfen. Nun haben wir inzwischen Studien, die deutlich machen, warum Menschen, zum Beispiel aus Mittel- und Osteuropa, ihre Heimat verlassen: nicht, weil sie im Westen ein bisschen mehr verdienen können - das reicht nicht als Grund, die Heimat zu verlassen -, sondern nur aufgrund von Perspektivlosigkeit. Wenn die Menschen keine Hoffnung für sich und ihre Familien mehr sehen, dann erst gehen sie weg. Also ist die Perspektive Europäische Union, wenn man genauer hinschaut, in Wahrheit das Allerbeste, um Emigration zu verhindern. Würden wir die Perspektive einer baldigen EU-Öffnung verweigern, dann würden die Menschen zu uns kommen und nicht umgekehrt. Deswegen sollten wir auf solche Ängste reagieren und sachlich damit umgehen, statt diese Ängste zu verdrängen und es irgendwelchen Haiders zu überlassen, sie zu artikulieren. ({4}) Das tun wir hier: Wir benennen die Ängste und gehen auf sie ein. Das Nächste, was ich überhaupt nicht verstehe, ist, wieso Sie auf die Idee kommen, dass der Gedanke eines Verfassungsvertrages und einer Kompetenzabgrenzung dazu führen könnte, den Prozess der institutionellen Reformen und der Osterweiterung zu erschweren bzw. unmöglich zu machen. Warum wird man, wenn man von Kompetenzabgrenzung spricht, gleich ein bisschen in eine zögerliche, euro-skeptische Ecke gedrückt? Es ist doch der Außenminister selbst, der den Gedanken des Verfassungsvertrages von Wolfgang Schäuble in seiner Rede am 12. Mai aufgenommen hat. Warum kein Verfassungsvertrag? Er hilft doch dem europäischen Gedanken! Je mehr die Menschen den Eindruck haben, dass wir genau schauen, welche Rechte wir nach Brüssel geben ({5}) und was wir in den Kommunen, Ländern und Nationalstaaten behalten, desto mehr werden sie auch bereit sein, dort, wo die EU wirklich Kompetenzen braucht, zum BeiDr. Helmut Lippelt spiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, auf dem Weg in eine vertiefte Integration mitzugehen. ({6}) Nein, die Idee des Verfassungsvertrages und der Kompetenzabgrenzung spaltet nicht, sondern stärkt die Europäische Union. Das sollten Sie an dieser Stelle zur Kenntnis nehmen. ({7}) Wir können doch festhalten, dass wir in den wesentlichen Fragen - ich beziehe mich auf das, was hier angesprochen worden ist - gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Warum versuchen Sie dann - ich finde, manchmal etwas sehr bewusst -, die Opposition von diesem Konsens wegzudrängen? ({8}) Freuen Sie sich doch über Gemeinsamkeiten, Herr Außenminister, und pflegen Sie sie, zum Beispiel das gemeinsame Ziel eines Verfassungsvertrages und einer Europäischen Grundrechtscharta sowie den Willen, gemeinsam für eine Erweiterung einzutreten. Das sind doch Elemente, auf denen wir eine gemeinsame europäische Politik aufbauen könnten. Ich finde, Sie treiben es, wenn Sie eine bestimmte Gruppierung hinausdrängen wollen, mit Ihren parteipolitischen Bestrebungen etwas zu weit. Das ist ein großer und tragischer Fehler. ({9}) Es gibt allerdings einen Punkt, bei dem wir in der Tat fundamental anderer Auffassung sind als Sie. Auch diesen Punkt möchte ich ansprechen. Er betrifft Österreich. Ich glaube, dass man gerade dann, wenn man Europa will und wenn man für einen Erfolg der Regierungskonferenz und für einen guten Vertrag von Nizza ist, mit dem eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen erzielt werden soll, die Österreicher wieder mit ins Boot bekommen muss. Wir müssen sie aus der Isolierung befreien. Überlegen Sie sich doch einmal: Kann irgendein österreichischer Abgeordneter - übrigens gleich welcher Partei - einem Souveränitätsverlust zustimmen, wenn sein Land gleichzeitig in dieser Art und Weise in die Ecke gedrängt wird? Ich glaube, wir schaden mit den gegenüber Österreich verhängten Sanktionen Europa und bremsen die Osterweiterung. Diesen Bremsklotz in Bezug auf die Erweiterung der Europäischen Union sollten Sie jetzt in Feira beseitigen. Herr Außenminister, haben Sie endlich den Mut dazu! ({10}) Ich habe einen gewissen Respekt davor, dass Sie sagen: Wir wollen uns jetzt in dieser Frage nicht öffentlich mit Frankreich anlegen; wir brauchen die Franzosen. Natürlich wir wollen jetzt nicht auf irgendeine Weise die europäische Front aufbröckeln und eine deutsche Führungsrolle übernehmen. Aber ich finde, dass der Herr Bundeskanzler angesichts dessen, dass er mit Fidel Castro und Gaddafi spricht, mit Herrn Schüssel wenigstens einmal telefonieren könnte. Ich finde, dass man wenigstens intern etwas unternehmen könnte, um daran mitzuarbeiten, in Feira die Brücke, von der der Kollege Hoyer soeben gesprochen hat, beschreiten und die europäischen Sanktionen gegenüber Österreich aufheben zu können. ({11}) Denn es ist richtig und wahr: Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Sie haben völlig Recht: Das, was - leider - der Herr Haider und seine Truppen, die alte SS-Sprüche aufgreifen, politisch sagen, ist schwer erträglich. ({12}) Ich finde es richtig, dass die Europäische Union ihren Wertekanon definiert und mit aller Kraft verteidigt. Dies ist doch aber nur dann notwendig, wenn es manifeste Verstöße gegen EU-Werte und EU-Normen gibt, und nicht schon aufgrund von unverantwortlichen Sprüchen einer einzigen Persönlichkeit. ({13}) Ich glaube in der Tat, dass wir ein klares und geordnetes Verfahren brauchen, um so schwerwiegende Maßnahmen zu ergreifen, und dass wir nicht präventiv in dieser Art und Weise ein über 40 Jahre gewachsenes demokratisches Land, einen engen Freund, nur noch mit der Kneifzange anfassen sollten. So stärken wir nämlich überall die Haiders und schwächen sie nicht. ({14}) Vor allen Dingen aber schwächen wir die Europäische Union in ihrer Zukunftsperspektive. ({15}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Über all diese Fragen, über Österreich, über die Türkei, über die Art und Weise, wie wir die institutionellen Reformen durchführen, gibt es zwischen den Parteien Streit. Das ist gut und wichtig so; das hat es immer gegeben. Aber über die großen Grundfragen Europas, darüber, dass wir diesen Kontinent, der als Friedenssicherungskraft in der Welt wirkt, brauchen, gibt es im Ernst keinen Streit in diesem Hause. Sie sollten daran mitwirken, dass dieser Konsens aufrechterhalten bleibt, und sollten nicht eine andere Partei bzw. Fraktion ganz bewusst in die Ecke von Antieuropäern und Euroskeptikern drücken. Das wird jedenfalls die CDU/CSU nicht zulassen. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph Zöpel.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es macht Sinn, nach dem Positiven einer Debatte zu suchen. Ich tue das und komme zu folgender Bewertung. Eine sehr große Koalition, die 1925 mit dem Beschluss der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa in ihr Parteiprogramm zu schreiben, begonnen hat, die von der Partei Adenauers und Hallsteins aufgenommen wurde und in die auch durch konzeptionelle Vorläufer aufseiten von Liberalen und Grünen, viel eingeflossen ist, wird dafür sorgen, dass Deutschland den Prozess hin zu weiterer effizienter europäischer Integration durchlaufen wird. Das ist für mich die Summe dieser Debatte. ({0}) Es ist auf einige Punkte dieser Debatte einzugehen. Beginnen möchte ich mit der Osterweiterung. Ich begrüße die klaren Aussagen von allen Fraktionen, dass sie die Osterweiterung unterstützen. Ich akzeptiere auch das Ergebnis einer Analyse öffentlicher Diskussionen, nachdem es Menschen gibt, die in dieser Hinsicht Befürchtungen haben. Nach meiner Auffassung hilft hier nur eines: Aufklärung. Ich möchte ausdrücklich davor warnen, diese Ängste - verbunden mit der Aussage, man spreche sie nicht aus - aus parteipolitischen Gründen letztlich doch zu schüren. Da ist große Zurückhaltung geboten. ({1}) Wenn jeder - auch Sie, Herr Kollege Glos - den Mut hätte, sich davon zu distanzieren, wären wir weiter. ({2}) Es hilft nur Aufklärung, und zwar eine Aufklärung, die sowohl in Deutschland wie in den Ländern, die beitreten wollen, nicht zu Irritationen führt. Da macht es keinen Sinn, ständig zu formulieren, man sei ja für die Erweiterung - aber die Türken! Das entspricht nicht den Fakten, was die möglichen zeitlichen Abläufe angeht. Ich habe das auch hier schon öfter gesagt, wiederhole es aber immer wieder: Es gibt derzeit 370 Millionen EUBürger. Mit den Staaten, von denen ich glaube, bei ihnen könnten unter demokratischen Verhältnissen integrationsorientierte Mehrheiten vorhanden sein, kämen noch 130 Millionen Menschen hinzu. Schon diese Relation - 370 Millionen zu 130 Millionen - zeigt, dass die Ängste übertrieben sind. Diese 130 Millionen Menschen lassen sich - übrigens in Übereinstimmung mit den politischen Repräsentanten dieser Länder - in zeitliche Gruppen einteilen. Wenn die EU aufnahmefähig ist, die entsprechenden Länder effizient verhandeln und die Verhandlungsergebnisse dann effizient in ihr eigenes Recht umsetzen, ist es bis zur Mitte dieses Jahrzehnts möglich, dass 70 Millionen weitere Menschen der EU angehören werden. Sie wohnen in zehn Ländern, 38 Millionen in Polen, die anderen in Ländern mit geringerer Einwohnerzahl. Das ist die erste Gruppe. In Übereinstimmung mit diesen Ländern lässt sich artikulieren: In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts könnten Bulgarien und Rumänien so weit sein. Es bleibt offen, wann nach der Beseitigung des Regimes von Milosevic die anderen Staaten nordwestlich von Griechenland - es macht manchmal Sinn, nicht von Osterweiterung, sondern aus griechischer Perspektive von Nordwesterweiterung zu sprechen - dazukommen können. Dass sie es können, hat Kroatien bewiesen. Die radikale Veränderung der Politik, nach Wahlen eine vordemokratische Rechtsregierung durch eine sozialliberale Regierung der linken Mitte zu ersetzen, hat dort in historischen Dimensionen fast Wunder vollbracht. Das ist nach meiner Meinung auch in jedem anderen dieser Staaten möglich. ({3}) Ich mache eine Bemerkung, die auf Herrn Merz Bezug nimmt. Ich glaube, es ist zumindest missverständlich, immer wieder zu artikulieren, bestimmte europäische Probleme ließen sich nicht mehr lösen, wenn 12 weitere Staaten dabei wären. Die finnische Präsidentschaft im vergangenen Jahr und die portugiesische Präsidentschaft, die jetzt ausläuft, zeigen: Diese beiden nicht zu den Gründungsmitgliedern gehörenden relativ einwohnerschwachen Staaten haben mit ihrem Engagement, mit ihrer Integrationsfähigkeit und mit ihrer Führungsfähigkeit während ihrer Präsidentschaft gezeigt, dass Überheblichkeit weder in Deutschland noch in Großbritannien, noch in Frankreich, noch in Italien angebracht ist. ({4}) Beim Schritt in die Informationsgesellschaft ist der Ehrgeiz, dass Europa die Vereinigten Staaten auf dem Weg in die Wissensgesellschaft einholen sollte, nicht durch Zufall, sondern auch aus historischen Gründen in Portugal geboren worden. Die Verbindung von der Rolle Portugals bei der Entdeckung weiter Teile dieser Welt im 16. Jahrhundert zu heute haben die Portugiesen ganz bewusst und in einer richtigen historischen Parallele aufgezeigt, in einer historischen Parallele, die in Deutschland nicht so gesehen wird, weil wir zu jener Zeit keine ausreichende Zahl guter Seefahrer hatten. Aber das ist ja nicht schlimm; man kann nicht alles haben. ({5}) Die Osterweiterung stelle ich an die erste Stelle. Wenn Sie mich persönlich nach Visionen fragen, die mit Europa verbunden sind, sage ich: Dass romanische Länder, germanische, angelsächsische und slawische Länder mit einigen Einsprengseln von Finnougriern, Illyrern und anderen alle Europäer werden, keinen Krieg mehr miteinander führen, sich nicht umbringen ({6}) und dass dies bis zu dem Lebensende eines heute 56-Jährigen erreicht werden kann, das halte ich für die größte Vision, die man haben kann. Ich bräuchte keine weiteren. ({7}) Der zweite Punkt ist Frankreich. Es ist alles richtig: Ohne Deutschland und Frankreich hätte das nicht geStaatsminister Dr. Christoph Zöpel klappt. Herr Kinkel, Herr Hoyer, Sie werden mir da zustimmen: Es geht ja auch gar nicht anders, als dass Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten. Ich mache einmal eine Bemerkung, die einige vielleicht unangemessen finden - aber oft ist die Wirklichkeit besser als die Überhöhung -: Ohne dass Nordrhein-Westfalen und Bayern im Bundesrat zusammenarbeiten, geht es auch nicht egal, wer regiert. ({8}) - Das wird immer gemacht, egal, wer da regiert. Aber die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist etwas davon Verschiedenes. Lassen Sie mich das einmal wie folgt formulieren: Zu den besonderen Aspekten der deutsch-französischen Zusammenarbeit gehört auch, die Luzidität von „cohabitation“, die ungemeine Effektivität von Koalitionsregierungen - übrigens in vier verschiedenen Formen seit dem Elysee-Vertrag - zu erkennen. Dazu gehört auch das ungeheuer konstruktive Element innerparteilichen Wettstreits in beiden Ländern. Das alles sollte man würdigen, wenn man darüber spricht. Wenn man das nicht ausreichend würdigt, dann eignet es sich eher zu Leerformeln als zu konstruktiver Politik. ({9}) Die Praxis vollzieht sich nicht so, wie es Hintergrundinformanten der „Le Monde“ erzählen, wonach zum Beispiel ich den Ehrgeiz hätte, mit meinem Kollegen Moscovici zu verkünden, wir seien weiter. Die Frage, wie viele Stimmen Deutschland und Frankreich letztlich im Rat haben werden, werden der französische Präsident und der deutsche Bundeskanzler entscheiden. Das können Diplomaten nicht mehr aushandeln. Ich beziehe mich jetzt auf die Haltung, die Sie, Herr Hoyer, dazu einnehmen. Das findet auf jener Ebene statt; das wissen Pierre Moscovici und ich. Ich kenne überhaupt keinen Korrespondenten der „Le Monde“ und ich schließe mich dem Dementi von Herrn Moscovici vollinhaltlich an. Das ist auch ein Beispiel deutsch-französischer Verständigung. Ich hoffe, Sie würdigen es. ({10}) Damit komme ich drittens zu Österreich. Lassen Sie uns einmal über Österreich ganz konkret reden. In Österreich bildet eine Partei, die Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, ohne Not gegen den dringenden Ratschlag des Bundespräsidenten eine Koalition mit einer Partei, die keiner der europäischen Parteienzusammenschlüsse angehört - dank Graf Lambsdorff, Herr Kollege Hoyer. ({11}) - Wenn Sie sagen, dass es eine zwingende Notwendigkeit gab, ({12}) diese Regierung zu bilden, sind Sie schlauer als der österreichische Bundespräsident. Ich wäre da etwas vorsichtig, weil Sie sonst immer behaupten, das wäre eine Einmischung in innere Angelegenheiten. ({13}) - Es ist bemerkenswert. Herr Kollege Glos, Ihr Beitrag zum deutsch-österreichischen Verhältnis ist: Es gehört wenig dazu, schlauer zu sein als der österreichische Bundespräsident. - Halten wir das einmal fest. ({14}) Das ist Ihre Österreich-Freundlichkeit. ({15}) Das ist das erste Faktum. Was passiert nun? Der konservative französische Staatspräsident und der liberale belgische Außenminister erheben den lautesten Protest. ({16}) - Wesentlich lauter. Die anderen schließen sich an. Jetzt werden Sie möglicherweise gleich wieder laut werden. Ich sage Ihnen nämlich eines: ({17}) Kein deutscher Bundeskanzler und kein deutscher Außenminister, ganz gleich aus welcher der Parteien, die zu dieser ganz großen Europa-Koalition gehören, würden im Konflikt mit dem französischen Präsidenten, dem britischen Premierminister und dem italienischen Ministerpräsidenten hier eine andere Haltung einnehmen. Kein deutscher Bundeskanzler hätte das getan! ({18}) Sie wissen ganz genau, warum das kein deutscher Bundeskanzler getan hätte. Nun kommen wir zum deutsch-französischen Verhältnis zurück. Wenn es zu irgendeinem Punkt nur eine ganz kurze Diskussion in Rambouillet gab, dann durch den klaren Satz des französischen Präsidenten, über dieses Thema könne man mit ihm nicht reden. Aber ich nehme zur Kenntnis, dass Sie in diesem Fall möglicherweise die Gefährdung des deutsch-französischen Verhältnisses in Kauf genommen hätten. Das sollten wir registrieren. ({19}) - Ich wäre gespannt, wie irgendein Kanzler Ihrer Partei, und sei es der verdiente Europäer Helmut Kohl, reagiert hätte, wenn er dort gesessen hätte. ({20}) Stellen Sie sich doch einmal solche Szenarien vor! Jetzt ist dort einiges erreicht. In Österreich finden Diskussionen statt, die sich mit der Vergangenheit dieses Landes vor 1945 beschäftigen. Es gibt manche Diskussionen, die dort nachgeholt werden müssen, weil sie bisher nicht so intensiv geführt wurden. Es gibt eine Orientierung in der derzeitigen Regierung, Fehler nicht zu machen, für die Haider stehen könnte. Es gibt Überlegungen bei den Oppositionsparteien. Es gibt Kontakte von Regierungen zu österreichischen Politikern, vor allem von solchen Regierungen, die stark dagegen waren, mit der Opposition zu sprechen. Zum Beispiel spricht Herr Michel mit der SPÖ. Ich halte jeden Beitrag, zu überlegen, unter welchen Umständen wir wieder zu einer Normalisierung dieser europäischen Innenpolitik im Hinblick auf Österreich kommen können, für richtig, auch Ihren Beitrag, Herr Kollege Pflüger, den Sie an Herrn Minister Fischer geschickt haben. Aber die Ausgangssituation war nicht anders möglich. Das, womit wir alle Schwierigkeiten haben, ist ja etwas Besonderes: Hier findet bereits europäische Innenpolitik statt, aber noch mit Mitteln der Diplomatie. ({21}) Das führt allerdings manchmal zu ironischen Arabesken. Lassen sie mich eines festhalten - ich wiederhole es -: Kein deutscher Bundeskanzler könnte, wenn nicht Frankreich, England oder Italien vorangingen, diese Haltung ändern. Malen Sie sich die Diskussion in den Vereinigten Staaten, in Kanada und in anderen Teilen der Welt aus. Kein deutscher Bundeskanzler könnte Deutschland einen solchen Schaden zufügen. ({22}) Damit bin ich viertens bei dem, was jetzt in der Europäischen Union praktisch vorangehen wird. Es ist sehr interessant, zwischen den Ratschlägen, was formal zu tun ist, und den Inhalten eine gewisse Verbindung herzustellen. Die Ratschläge lauten vor allem: immer mit Frankreich und, Herr Kollege Hoyer, besser mit den kleinen Ländern. Was dieses „immer mit Frankreich und gleichzeitig besser mit den kleinen Ländern“ ({23}) bedeutet, male ich mir jetzt einmal aus. Dazu nehme ich die deutsche Wunschposition bezüglich der `leftovers`. Die deutsche Wunschposition muss sein: möglichst dicht an der Proportionalität in Bezug auf die Bevölkerung. Stellen Sie sich dann einmal den Dialog mit Luxemburg und Dänemark vor. Die deutsche Position kann locker besagen, dass nicht jedes Land einen Kommissar stellt. Aber auf jeden Fall - anderenfalls gäbe es einen riesigen Konflikt - muss Frankreich einen Kommissar stellen; selbst dann, wenn wir den Mut hätten, nein zu sagen. Bei der qualifizierten Mehrheit sind wir am weitesten von allen. Sie können mit jedem anderen Land sprechen; wir sind am weitesten. Es kann also nur wohlfeil sein - Sie haben es nicht so gemeint -, diese beiden abstrakten Ziele, immer mit Frankreich und immer mit den Kleinen, mit den deutschen Maximalvorstellungen zu verbinden; das geht nicht. ({24}) - Das ist unstreitig, Herr Kollege. Was meinen Sie, warum ich außer Frankreich jetzt die Kleinen erwähne? Sie wissen doch, wo der Beton ist. Das haben Sie doch gesagt; an der Stelle fühlte ich mich Ihnen sehr verbunden. Jetzt zu den Themen, die Sie, Herr Kollege Merz, hier ich füge hinzu: zu Recht - angesprochen haben: Die Klärung der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten ist ein Interesse der Mitgliedstaaten und vor allem ein Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Das ist ganz unstreitig. Man kann sich viele Gedanken darüber machen, warum das überwiegend die Länder anstoßen mussten, da es ja keine Beziehungen der Länder zur EU gibt. Die Beziehungen der Länder zur EU sind Aufgabe des Bundes. Die Kompetenzen des Bundesstaats, die in der deutschen Föderation dann sinnvoll im Verfassungsrecht formuliert werden können, muss der Bund nach außen vertreten; das stelle ich ausdrücklich fest. Damit kein falscher Eindruck entsteht, füge ich hinzu: Die Bundesregierung hat sich nicht darauf festgelegt, irgendetwas unter bestimmten Umständen nicht zu erörtern. Andererseits: Wer jemals an solchen Verhandlungen teilgenommen hat - Herr Kollege Hoyer, Sie werden mir das zugestehen -, weiß, das alles dauert seine Zeit. Für mich ist erstaunlich, dass allein die Begrifflichkeit oft nicht einmal multisprachlich ausgetauscht werden kann. Wenn wir dazu kommen - der Bund hat darüber die Diskussion mit den Ländern begonnen -, konkret darüber zu sprechen, wo die Kompetenzabgrenzungen liegen dazu gibt es keine Dossiers aus Betongründen, Herr Kollege Hoyer, wir haben keine vorgefunden -, werden wir in den nächsten Monaten exakt wissen, wie die Position jener großen Koalition dieses Hauses und die der Länder ist und mit welchen vertragsartikelbezogenen Folgerungen wir in die Diskussion eintreten werden. Wenn wir in Nizza den Auftrag bekämen, daran weiterzuarbeiten, hätten wir erst einmal hier in Deutschland einen großen Fortschritt erreicht. Für die nicht vorhandenen Dossiers im September 1998 ist nicht die derzeitige Regierung verantwortlich, das darf ich sagen. ({25}) Ich lade Sie dazu ein. So intensiv, wie ich das mit den Ländern diskutiere, würde ich das auch gern mit Ihnen tun. Ihre Ankündigung, es sei Ihnen ein echtes Anliegen wir teilen das -, kann sich darin konkretisieren, dass wir uns vielleicht im September wiedertreffen und gemeinStaatsminister Dr. Christoph Zöpel sam genau wissen, was wir darüber, wo die Kompetenzabgrenzungen sein sollen, genau zu besprechen haben. Herzlichen Dank. ({26})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3377, 14/3187 und 14/3514 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- geschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 14/3459 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzes und des Chemikaliengesetzes - Drucksache 14/3491 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Keine Lieferung von Panzern und anderen Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei - Drucksache 14/3004 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zweiter Bericht nach § 70 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch i. V. m. § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze der Berufsausbildungsbeihilfe - Drucksache 14/2424 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Margareta Wolf ({5}), Volker Beck ({6}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung - Drucksache 14/3509 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Für eine rechtsverbindliche Europäische Grundrechte-Charta - Drucksache 14/3513 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({8}) Petitionsausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Das Einverständnis ist hergestellt. Dann ist so beschlossen. Wir kommen nun zur Behandlung einer Reihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rotterdamer Übereinkommen über das Verfahren der vorherigen Zustimmung nach Inkenntnissetzung für bestimmte gefährliche Chemikalien sowie Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im internationalen Handel vom 10. September 1998 - Drucksache 14/2919 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) - Drucksache 14/3400 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Wieczorek ({11}) Franz Obermeier Winfried Hermann Ulrike Flach Eva-Maria Bulling-Schröter Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/3400, dem Gesetzentwurf unverändert zuzustimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 b auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zivildienstvertrauensmann-Gesetzes ({12}) - Drucksache 14/2698 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({14}) - Drucksache 14/3524 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Dzewas Christian Simmert Thomas Dörflinger Klaus Haupt Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache 14/3524, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in der dritten Lesung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 c auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Melderechtsrahmengesetzes ({15}) - Drucksache 14/2577 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({17}) - Drucksache 14/3473 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Enders Beatrix Philipp Cem Özdemir Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({18}) zu dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr - Drucksachen 14/2484, 14/3344 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Hampel Dankward Buwitt Antje Hermenau Dr. Christa Luft Der Ausschuss empfiehlt, Entlastung zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 27 e: Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({19}) gemäß § 93 a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft und Betrugsbekämpfung - Jahresbericht 1998 - Drucksachen 14/3428 Nr. 3.1, 14/3474 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({20}) Peter Altmaier Claudia Roth ({21}) Vizepräsident Rudolf Seiters Manfred Müller ({22}) Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben. Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 161 zu Petitionen - Drucksache 14/3403 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 27 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 162 zu Petitionen - Drucksache 14/3404 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 162 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 27 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 163 zu Petitionen - Drucksache 14/3405 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 27 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 164 zu Petitionen - Drucksache 14/3406 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 164 ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 27 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 165 zu Petitionen - Drucksache 14/3407 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 165 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 27 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 166 zu Petitionen - Drucksache 14/3408 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 166 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 zu erweitern und darüber jetzt zu beraten Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. Ich rufe damit auf: ZP 9 Beratung des Antrages der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({29}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 - Drucksache 14/3454 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({30}) - Drucksache 14/3550 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Über den Antrag der Bundesregierung werden wir nach der Aussprache namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir vor einem Jahr hier in diesem Hause beschlossen haben, dass sich die Bundeswehr am Einsatz von KFOR im Kosovo beteiligt, ({0}) haben wir auch beschlossen, dass der Deutsche Bundestag nach einem Jahr damit wieder befasst werden soll. Insofern müssen wir heute, obwohl dieser Einsatz nach wie vor notwendig ist und vermutlich auch über einen längeren Zeitraum notwendig sein wird, eine erneute konstitutive Beschlussfassung des Deutschen Bundestags herbeiführen. Ich bitte Sie daher um eine möglichst breite Vizepräsident Rudolf Seiters Zustimmung zur Verlängerung des Mandats für die Bundeswehr im Kosovo. ({1}) Seit einem Jahr leisten deutsche Soldaten dort als Teil von KFOR einen außerordentlich professionellen und international anerkannten Beitrag zur Wiederherstellung von Frieden und Sicherheit im Kosovo. Vieles ist in diesem Jahr erreicht worden: Rückkehr der Vertriebenen, Versorgung über den Winter, internationale Polizeipräsenz, Beginn einer kommunalen Selbstverwaltung, Vorbereitung der Wahlen. Die Mission der Vereinten Nationen UNMIK arbeitet engagiert am Aufbau einer neuen, rechtsstaatlichen Verwaltung. Der schrittweise Aufbau demokratischer und pluralistischer Strukturen wird mit den geplanten Kommunalwahlen im Herbst einen großen Schritt vorankommen. Auf der anderen Seite sind gleichzeitig die Defizite unübersehbar: Die Sicherheitslage hat sich zwar gebessert, bleibt aber unbefriedigend. Die internationale Gemeinschaft muss deshalb klarstellen, dass alle, die vertrieben wurden, zurückkehren und im Kosovo in Sicherheit und Frieden leben können, wie es die Resolution 1244 fordert. Dies wird angesichts des nach wie vor bestehenden Hasses zwischen Albanern und Serben im Kosovo Zeit und kontinuierliche Anstrengungen brauchen. Die internationale Staatengemeinschaft, auch die Bundesregierung, ist allerdings entschlossen, dies durchzusetzen. Entscheidend für eine langfristige Lösung sind die Prinzipien der Gewaltfreiheit, der Achtung der Grenzen und der Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte. Nur auf dem Boden dieser Prinzipien kann über eine regionale Sicherheitsstruktur eine nachhaltige Stabilisierung der Region gelingen, die den Dreh- und Angelpunkt Mazedonien ebenso einschließt wie die Lösung der Statusfrage für den Kosovo. Deshalb, meine Damen und Herren, ist der Einsatz von KFOR auch künftig unverzichtbar. - Man muss sich nur einmal vorstellen, was geschähe, wenn KFOR abgezogen würde, um sich die Entscheidungsalternative sehr konkret vor Augen zu führen. - Er ist die Voraussetzung für die Umsetzung der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, für eine erfolgreiche Arbeit von UNMIK, für eine erfolgreiche Arbeit der deutschen Polizisten und Wiederaufbauhelfer. Allen Soldaten, den Polizisten und den Wiederaufbauhelfern möchte ich hier namens der Bundesregierung recht herzlich für das Geleistete danken. ({2}) Es ist erstaunlich - ich habe heute mit Tom Koenigs darüber gesprochen -, wie viele Deutsche dort mittlerweile auf der kommunalen Ebene, etwa beim Aufbau der kommunalen Verwaltung, engagiert tätig sind. Viele haben sich bei UNMIK gemeldet, haben Aufgaben im zivilen Bereich übernommen und helfen mit, kommunale Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Bei allen Schwierigkeiten: Dies ist, finde ich, ein hervorragendes Engagement, das mich freut und das auch zeigt, dass ein umfassendes Krisenmanagement für den Zusammenhang zwischen militärischem und zivilem Einsatz, für den Aufbau von Demokratie und Rechtsstaat unverzichtbar ist. Dieser Einsatz ist auch Voraussetzung für den Erfolg des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, der umfassenden Antwort Europas auf die Krisen und Kriege in dieser Region. Die Frage nach der Zukunft von KFOR kann nicht isoliert beantwortet werden. Die Dauer des deutschen militärischen und zivilen Engagements wird entscheidend vom erfolgreichen Verlauf des Stabilisierungs- und Demokratisierungsprozesses bestimmt. Das ist im Fall Bosnien so, das ist im Fall Kosovo nicht anders. Meine Damen und Herren, ich denke, es ist auf der einen Seite richtig, an dem Parlamentsvorbehalt festzuhalten. Auf der anderen Seite müssen wir aber alle gemeinsam klarmachen, dass dies nicht sozusagen eine zeitliche Befristung dieses Einsatzes bedeutet; denn damit würden wir ein Signal setzen, das zu völlig falschen Interpretationen Anlass geben würde. Es sollte klar sein, dass wir uns der Durchsetzung der Resolution 1244, also der Wiederherstellung von Frieden, von Demokratie und dem Aufbau in der Region, so lange verpflichtet fühlen, wie dies im Interesse Europas, aber auch der betroffenen Menschen notwendig ist. ({3}) Deshalb hat die Bundesregierung den Antrag auf Fortsetzung der deutschen Beteiligung an KFOR eng an die SFOR-Regelung für Bosnien angelehnt. Wir wollen hier keine unterschiedlichen Mandate für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten haben. Wir sehen hier den Gesamtzusammenhang in der Region, um eine solide und auch länger tragende Grundlage für die Entsendung deutscher Streitkräfte zu haben. Die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages ist demnach ebenso Voraussetzung für den Einsatz wie ein Mandat des VN-Sicherheitsrates und ein entsprechender Beschluss des NATO-Rates. Die zuständigen Ausschüsse werden - wie bisher - auch künftig regelmäßig unterrichtet, der Bundestag - dies sagt die Bundesregierung hier zu - wird alle zwölf Monate befasst. Wir haben uns in Gesprächen mit den Fraktionen darauf geeinigt, dass dies als konstitutive Befassung erfolgen wird, wenn eine Fraktion dies wünscht. Entscheidend ist: Das Ziel eines friedlichen und demokratischen Kosovo braucht eine engagierte deutsche Unterstützung und einen langen Atem. Die Soldaten der Bundeswehr leisten ebenso wie ihre Verbündeten und Partner eine hervorragende Arbeit. Wir haben in der Vergangenheit kontinuierlich darüber diskutiert und werden dies hoffentlich - auch in Zukunft tun. Lassen Sie mich, Herr Kollege Lamers, zum Schluss meiner Rede noch kurz auf den Vorwurf der „unziemlichen Eile“ eingehen: Ich kann mich angesichts der Bedeutung dieser Mission für die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten - Gott sei Dank - an kein Thema erinnern, das wir in einer solchen Dichte im vergangenen Jahr diskutiert haben. Das war gut so. Ich kann mich an kein Thema erinnern, bei dem es so zahlreiche Unterrichtungsreisen auch der Opposition dieses Hauses sowie eine derart kontinuierliche Präsenz sowohl des Bundesverteidigungsministers als auch meinerseits gegeben hat. Wenn Sie ehrlich sind: Es gibt in der aktuellen Debatte keinen substanziellen Unterrichtungsbedarf, der etwas anderes mit sich brächte als die Notwendigkeit der erneuten konstitutionellen Befassung. Die Substanzdiskussion wird in Kontinuität geführt, und es findet eine entsprechende Überwachung durch das Parlament und dessen Ausschüsse statt. Wir sind hier in einer kontinuierlichen Debatte und insofern glaube ich, dass keine Frage so kontinuierlich und so gut - bis auf wenige Ausnahmen im Konsens - diskutiert worden ist wie die Frage des Kosovo-Einsatzes. Deshalb sehe ich hier keine unziemliche Eile, zumal es, Herr Kollege Lamers, zu verhindern galt, dass uns der Vorwurf gemacht wird, einen Vorratsbeschluss gefasst zu haben. Wir sind alles in allem zu der SFOR-Formel zurückgekehrt und sowohl Herr Kollege Scharping als auch ich haben gegenüber der Opposition in den Ausschüssen und jetzt auch hier im Plenum eine klare Zusage gegeben. Ich denke, dies ist eine gute Grundlage für einen breiten Konsens zur Unterstützung der Bundeswehr und zur Verlängerung ihres Einsatzes im Kosovo. Ich darf mich bedanken. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Karl Lamers.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag der Bundesregierung zustimmen, und zwar aus Verantwortung für den Frieden im Kosovo, für die Region, für die betroffenen Menschen und für unsere Soldaten. Aber, Herr Minister, Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung hat uns diese Zustimmung wirklich sehr schwer gemacht. Herr Minister, ich habe nie von unziemlicher Eile gesprochen. Das ist nicht der Punkt, auf den es ankommt. Ich habe vielmehr gesagt - und das lässt sich nicht bestreiten - dass Sie den Antrag zur Verlängerung des Mandats in letzter Minute gestellt haben. Deshalb waren wir gezwungen, mit verkürzten Fristen zu arbeiten. Dies, so finde ich, geht in der Tat nicht, weil es mindestens den Eindruck der Brüskierung des Parlaments erweckt. Sie sind offensichtlich davon ausgegangen, dass die Zustimmung des Deutschen Bundestages ganz selbstverständlich sei. So kann man angesichts der Bedeutung dieses Themas nicht vorgehen. Außerdem gab es - dieser Vorwurf ist geradezu aktenkundig - zahlreiche Unklarheiten im Text, welche die Dauer des Mandats und seine Finanzierung betrafen. Ich habe Sie bereits vor zehn Tagen darauf aufmerksam gemacht und trotzdem ist keine Klärung vorgenommen worden. Dies ist die Folge des Umstandes, dass es keine vorherigen Konsultationen der Fraktionen gegeben hat, wie das früher immer der Fall war. ({0}) Wenn man eine Zustimmung des ganzen Hauses will - das wollen Sie Gott sei Dank und das müssen Sie in dieser Frage auch wollen -, muss man vorher mit den Fraktionen reden. Das haben Sie nicht getan. Die Folge war eine öffentliche Debatte, die im außenpolitischen Interesse zu vermeiden gewesen wäre. Diese Debatte hat schlussendlich erst gestern Abend zu den gewünschten Klarheiten geführt, die es uns erlauben zuzustimmen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, jedermann weiß: Das Ziel unserer Bemühungen war die Begrenzung des Mandats auf ein Jahr, nicht eine Beendigung unserer Präsenz, unseres Engagements nach einem Jahr. Eine Begrenzung in diesem Sinne wollten wir, weil nach unserer Überzeugung Art und Umfang unseres deutschen Engagements im Kosovo einer jährlichen Befassung einschließlich einer Entscheidung des Deutschen Bundestages und damit einer Rechtfertigung vor dem deutschen Bürger bedarf. In diesem Sinne kündige ich schon heute an, dass wir den Wunsch, von dem Sie, Herr Minister, vorhin gesprochen haben, nach einer konstitutiven Befassung des Bundestages im Frühsommer nächsten Jahres äußern werden. ({1}) Durch eine solche Befassung drücken wir unser Engagement und unsere Verantwortung gegenüber der Staatengemeinschaft, für den Frieden und für die Menschen im Kosovo viel angemessener aus als durch die Erteilung eines Blankoschecks an die Regierung. Nicht zuletzt drücken wir auf diese Weise am besten unsere Verantwortung gegenüber unseren Soldaten aus, die dort in wirklich beispielhafter Weise das deutsche Interesse an Frieden auch in diesem Teil unseres Kontinents vertreten. ({2}) Ich danke ihnen namens meiner Fraktion. Ich danke ihren Angehörigen, den Zivilbediensteten, den Mitgliedern der Nichtregierungsorganisationen. Sie alle leisten eine vorzügliche und nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit. Herr Minister, Herr Bundeskanzler - ich sage das ohne jedwede Polemik, sondern aus einer großen Sorge, was die verfassungsrechtliche und die verfassungspolitische Entwicklung in unserem Lande angeht -: Eine Begrenzung des Mandats, wie wir es gefordert haben, wäre verfassungspolitisch und verfassungsrechtlich die richtige Lösung gewesen, weil dadurch die Balance zwischen den Rechten des Parlaments und denen der Regierung besser als durch die jetzt gefundene Lösung gewahrt worden wäre, konkret: die Balance zwischen dem Recht des Deutschen Bundestages zur Mandatserteilung und der Ausführung desselben durch die Bundesregierung. So aber ist eine verfassungsrechtliche Grauzone entstanden, von der ich nicht weiß, ob die Bundesregierung sie gewollt hat oder ob sie in sie hineingestolpert ist. Ich fürchte, das Letztere ist der Fall. Nach meiner Überzeugung hat die Bundesregierung mit ihrem Antrag gegen ihr eigenes institutionelles Interesse verstoßen. Schließlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wollten wir eine Begrenzung des Mandats, um damit ein politisches Signal zu geben. Die Lage im Kosovo ist alles andere als erfreulich. So vorzüglich die KFOR-Soldaten ihre Aufgaben auch erfüllen, sie können den Konflikt nicht lösen. Sie können nur die Voraussetzungen dafür schaffen, indem sie Gewalt unterbinden und insofern - aber leider nur insofern - den Frieden sichern. Doch dauerhafter Friede, sich selbst tragender, stabiler Friede ist natürlich nur durch eine politische Lösung möglich. Die Fortschritte auf diesem Felde sind mehr als bescheiden. Sie haben bezeichnenderweise ja auch nicht davon gesprochen, Herr Minister. Schneller wird es nur gehen, relativ schneller - um kein Missverständnis aufkommen zu lassen -, wenn klarere und realistischere Vorstellungen von der endgültigen politischen Lösung nicht nur im Kosovo, sondern in der gesamten Region entwickelt werden. Wir haben uns schon in der letzten Debatte über dieses Thema nachdrücklich geäußert: dass wir von der Bundesregierung erwarten - ich wiederhole das heute -, dass sie ihre Anstrengungen auf diesem Felde intensiviert. Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die nur mit großer Mühe abgewendete Entschließung im amerikanischen Kongress, das amerikanische Engagement nach dem 1. Juli nächsten Jahres zu beenden, sollte uns allen ein Warnzeichen sein. Wir sollten vereint versuchen, die politische Lösung im Kosovo und auf dem gesamten Balkan voranzutreiben. Dabei haben Sie unsere volle Unterstützung. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir alle sollten darauf achten, dass wir uns im Deutschen Bundestag weder von der Realität noch von gemeinsamen Einschätzungen entfernen. Ich komme gerade von einer Sitzung des NATO-Rates zurück, auf der die Situation im Kosovo intensiv erörtert wurde. Dort ist berichtet worden, dass alle 840 000 Flüchtlinge aus Albanien und Mazedonien zurückgekehrt sind, auch die 550 000 intern Vertriebenen, also insgesamt fast 1,4 Millionen Menschen. Dort ist berichtet worden, dass die Mordrate, die am Beginn des Mandats bei 50 Morden pro Woche gelegen hat, auf 7 Morde pro Woche zurückgegangen ist. Damit liegt sie unter dem Durchschnitt mancher europäischen Großstadt. Dort ist berichtet worden, dass 3 800 Handfeuerwaffen und 8 500 schwerere Waffen eingesammelt worden sind, dass das Kosovo Protection Corps mit einer Stärke von 3 000 Soldaten im Aufbau ist und dass zurzeit an der gemeinsamen Polizeiakademie ein Lehrgang mit 230 Bewerbern beginnt, darunter zwar ein kleiner, aber beachtlicher Teil aus der serbischen Minderheit des Kosovo. Dort ist berichtet worden, dass zu Beginn des Mandats 200 000 Häuser zerstört gewesen sind, dass mittlerweile Zehntausende Häuser aufgebaut worden sind, dass mittlerweile alle Häuser ebenso wie 1 165 Schulen auf Minen durchsucht und von ihnen befreit worden sind, dass alle Kinder aus dem Kosovo im Oktober wieder in die Schule gehen werden, dass die Brücken in Wiederaufbau sind, dass 2 000 Kilometer Straße von Minen befreit worden sind und dass 200 Kilometer Straße wieder hergestellt worden sind. Dort ist berichtet worden, dass 300 000 Kinder wieder in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden und dass mittlerweile über 20 000 Kinder bei der Entdeckung von Minen mithelfen. Es ist berichtet worden, dass in den KFOR-Lazaretten 50 000 zivile Patienten behandelt worden sind, dass mittlerweile 2 960 internationale Polizisten im Kosovo sind, dass 234 Richter und 42 Staatsanwälte ihre Arbeit aufgenommen haben, darunter auch Serben, Türken und Muslime. Es ist auch berichtet worden, was im Einzelnen zum Schutz der serbischen Minderheit unternommen wird. Warum zähle ich Ihnen das alles auf? Verehrter Herr Kollege Lamers, wir sollten diese Leistungen zur Kenntnis nehmen. Zwar haben wir längst noch nicht alle Ziele erreicht, die wir erreichen müssen. Aber das darf nicht zu der eigenartigen Einschätzung führen, es gebe überhaupt keinen Fortschritt. Das ist einfach falsch. ({0}) Die Aufforderung, die Sie an die Bundesregierung gerichtet haben, mag aus innenpolitischen oder innerparteilichen Gründen - in diesem Fall aus Gründen, die in der CDU liegen - noch einigermaßen nachvollziehbar sein. Aber Sie müssen wissen, dass Sie sich damit weit von der zukünftigen gemeinsamen Aufgabe, der gemeinsamen Einschätzung und dem gemeinsamen Willen entfernen. Ich sage Ihnen das in aller Ruhe. ({1}) - Nein, hier geht es nicht um irgendein Showgefecht; vielmehr geht es darum, dass wir im Verlauf eines guten Jahres auf einem ungewöhnlich schwierigen Weg Fortschritte gemacht haben - dazu gehört auch, dass im Oktober Wahlen im Kosovo stattfinden werden - , die man genauso registrieren muss wie die Tatsache, dass noch längst nicht alle Ziele erreicht sind und dass der Weg unverändert schwierig ist. Aber beides gehört zusammen. Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich mit einigem Erstaunen die kunstvollen Bemühungen im Zusammenhang mit der Erteilung des Mandates registriert habe. Mir kommt das so vor, als werde der Versuch gemacht - da man sich in der Sache einig ist - , wenigstens irgendeinen Punkt zu finden, an dem man Uneinigkeit konstruieren kann. Das ist der Sache völlig unangemessen. Die Formel, die die Bundesregierung für die Erteilung des Mandates vorgeschlagen hat, ist exakt jene, die die frühere Bundesregierung zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem SFOR-Mandat 1995, nach dem Dayton Peace Agreement, vorgeschlagen hat. ({2}) - Entschuldigung, es ist exakt dieselbe Formel. - Jetzt sagen Sie: Das geht aber nicht, weil die Situation im Kosovo ganz anders ist. Wissen Sie noch, was ein Jahr nach Beginn des Mandates in Bosnien los war? Ist Ihnen im Gedächtnis, dass Brcko heute noch immer ein Punkt ist, an dem sich große Schwierigkeiten entzünden? Wissen Sie, wann dort die ersten kommunalen Wahlen stattgefunden haben? Wissen Sie, welche Schwierigkeiten dort in den ersten 12, 18, 24 Monaten bestanden haben? Der einzige substanzielle Unterschied zwischen dem 1995 für Bosnien erteilten Mandat und dem heute zu erteilenden Mandat ist, dass Sie damals Regierungsfraktion waren und heute Oppositionsfraktion sind; deswegen haben Sie Ihre Haltung geändert. ({3}) Vor diesem Hintergrund sollten wir uns auf die wirklich wesentlichen Dinge konzentrieren. Gewisse innere Schwierigkeiten in der Union sind in diesem Zusammenhang absolut unwesentlich. Daher bin ich froh darüber, dass wir mit unserem Entgegenkommen, das Sie so nutzen werden, wie Sie glauben, dass es richtig ist, eine Brücke gebaut haben, um aus diesen Schwierigkeiten herauszukommen. Das hat der Wiederaufbauprozess im Kosovo verdient. Das haben die sehr vielen Menschen verdient, die im Kosovo als Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen eine ganz unverzichtbare Arbeit für den Frieden leisten. Das haben übrigens auch die Soldaten verdient, die mit einem wirklich großartigen Engagement dazu beitragen, dass nicht nur die Sicherheit in einem eher traditionellen Sinne hergestellt wird, sondern dass auch die Voraussetzungen für einen zivilen Wiederaufbau und die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft gewährleistet werden können. Wie auch immer Einigkeit im Deutschen Bundestag erzielt wird: Ich glaube, für diese Menschen ist es wichtig, sich der breiten Unterstützung des Deutschen Bundestages sicher zu sein. Ich greife auf eine Bemerkung zurück, die ich vor fast genau einem Jahr in diesem Hause gemacht habe. Damals habe ich die Sorge ausgedrückt, dass die Schrecklichkeiten und das Spektakuläre des Krieges viel mehr Aufmerksamkeit beanspruchen als das zähe, geduldige, aber völlig unverzichtbare Entwickeln ziviler, friedlicher Verhältnisse im Interesse der Menschen. Ich fühle mich in dieser Sorge leider bestätigt. Damit meine ich nicht den Deutschen Bundestag oder die Bundesregierung, die den Deutschen Bundestag allein in diesem Jahr 22-mal über die Lage im Kosovo und über die Entwicklung auf dem Balkan informiert hat. Ich meine auch nicht die vielen Debatten beispielsweise im Verteidigungsausschuss, die ja sehr intensiv und Gott sei dank fast immer einvernehmlich waren. Das alles meine ich nicht. Ich glaube, dass mit der Art von Debatte, wie sie in der Zeit zwischen dem 5. Juni und dem heutigen Tag entstanden ist, eher eine Tendenz gefördert wird, die die Aufmerksamkeit weiter reduzieren könnte, weil sich die Menschen natürlich fragen: Wenn man sich über die Notwendigkeit und die Dauer des Engagements - es wird längere Zeit in Anspruch nehmen -, über die Schwierigkeiten und wie man ihnen zu begegnen hat, einig ist, warum entfaltet man dann einen so eigenartigen Streit? Diese Frage ist leider nicht von der Hand zu weisen. Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich, dass dieser Gegensatz nun von einer breiten Mehrheit des Deutschen Bundestages überwunden wird. Es bleibt bei unserem festen Willen, so wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben: Der Bundestag wird regelmäßig - nicht nur schriftlich - informiert. Es ist das selbstverständliche Interesse der Bundesregierung, über jede substanzielle Veränderung der Lage - führe sie zum Guten oder, hoffentlich nicht, zum Schlechteren - im Deutschen Bundestag zu debattieren und im Übrigen dafür zu sorgen, dass der Bundestag die Politik der Bundesregierung, wenn es irgend geht, möglichst weitgehend unterstützt. Ich will noch eine kleine Bemerkung machen: Sie müssen ein bisschen aufpassen. Man hat Ihnen in einer anderen Sache vorbereitende Gespräche angeboten, die Sie schriftlich abgelehnt haben. ({4}) - Das hat mit „gönnerhaft“ nichts zu tun, sondern das hat einfach nur mit dem Willen zu tun, Entscheidungen zu erörtern, bevor man sie trifft, um auf neue Anregungen oder Ideen eingehen zu können. ({5}) Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich es ausdrücklich begrüße, dass der Deutsche Bundestag jetzt auch mit der Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion das unterstützt, was die Soldaten, was die Nichtregierungsorganisationen, was viele andere im Kosovo leisten, um den Menschen dort dauerhaft eine friedliche Perspektive zu geben. Sie wird nicht in einem Jahr und auch nicht in zwei oder drei Jahren aufgebaut werden können. Da sollten wir uns nichts vormachen. Es ist eine allenfalls naive Erwartung zu glauben, dass man in einem Jahr oder in zwei bis drei Jahren das überwinden könnte, was sich zum Teil über Jahrzehnte an Hass aufgestaut und in einer schrecklichen Situation dann zulasten des Lebens vieler Menschen entladen hat. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesverteidigungsminister, ich möchte, weil Sie hier wirklich nicht die Wahrheit gesagt haben, die Gelegenheit nutzen, Sie daran zu erinnern, dass Sie dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion und mir auf einem gemeinsamen Briefbogen eine Einladung geschickt haben, um uns über Ihre Pläne zur Zukunft der Bundeswehr zu informieren. Der Termin, den Sie ins Auge gefasst hatten, lag etwa vier bis fünf Tage vor der Übergabe des Berichts der Wehrstrukturkommission unter der Leitung des früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker. Wir haben Ihnen damals zurückgeschrieben, dass wir es nicht richtig finden, uns über Ihre Pläne und Auffassungen zu einem Zeitpunkt informieren zu lassen, zu dem der Bericht der Wehrstrukturkommission noch nicht übergeben war, und dass wir bereit sind, mit Ihnen über Ihre Pläne zu sprechen, wenn Sie sich ein Urteil über die Ergebnisse der von Ihnen eingesetzten Kommission gebildet haben. Ich habe das logisch gefunden. Ich vermute einmal, dass die Mehrheit aller unbefangenen Beobachter es auch logisch findet, dass sich ein Bundesminister, wenn er eine Kommission einsetzt, erst das Ergebnis der Kommission anschaut, sich anschließend eine Meinung bildet und sich erst dann eine längere öffentliche Debatte anschließt. In diesem Zusammenhang wären wir dankbar gewesen, wenn Sie auch uns über Ihre Pläne, über Ihre Haltungen informiert hätten. ({0}) In einem Telefonat mit Ihrem damaligen Generalinspekteur habe ich diese unsere Haltung noch einmal zum Ausdruck gebracht. Wir haben gesagt - wir haben es Ihnen auch schriftlich gegeben - , wir sind bereit, uns nach der Übergabe der Kommissionsergebnisse informieren zu lassen. Wir waren zu diesem Gespräch da. Ich sage Ihnen - auch aus Erfahrung mit Ihren Kollegen - , ich sage es dem Bundeskanzler: ({1}) Wenn Sie möchten, dass es einen vernünftigen Umgang zwischen Bundesregierung und Opposition gibt, dann bitte ich Sie eindringlich, in der Öffentlichkeit das zu berichten, was wirklich stattgefunden hat, und nicht Dinge, die man miteinander besprochen hat, halbfalsch oder andeutungsweise zu zitieren. - Das bezieht sich jetzt nicht auf Sie, Herr Scharping. - Das ist essenziell für bestimmte Bereiche, in denen wir Kooperation brauchen. ({2}) Ich sage Ihnen: Es wird immer wieder Situationen geben, in denen die Gesamtheit des Parlaments gebraucht wird. Deshalb bitte ich eindringlich: Verfahren Sie nicht so, dass Sie Halbwahrheiten verbreiten. Dies war eine Halbwahrheit, Herr Scharping. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung gebe ich das Wort dem Bundesverteidigungsminister.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Merkel, ich hatte Ihnen den Brief in der Absicht geschrieben, Überlegungen im Zusammenhang mit der Reform der Bundeswehr mit Ihnen zu erörtern. Ich dachte, das sei deswegen besonders leicht, weil Sie doch selbst ein Konzept vorgestellt hatten. Das hätte doch eine gute Grundlage für ein Gespräch sein können. ({0}) Im Übrigen nehme ich mit Interesse zur Kenntnis, dass ein Angebot, das Sie am Ende doch akzeptiert haben, nämlich im Vorfeld von Entscheidungen mit der Opposition zu sprechen und auszuloten, ({1}) ob man in bestimmten Fragen zu gemeinsamen Ergebnissen kommen kann, zu diesem Zeitpunkt nicht akzeptiert werden konnte. Ich bedaure das. Aber das ist ja nun durch das Gespräch, das etwas später stattgefunden hat, geheilt worden. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es gibt eine weitere Kurzintervention der Kollegin Heidi Lippmann.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen aufgezählt, welche Erfolge die deutschen Soldaten, die Nichtregierungsorganisationen und viele andere im Kosovo erzielt haben. Sie haben sich dabei auf Zahlen aus dem NATO-Rat bezogen. Sie haben aber - das habe ich während Ihrer gesamten Rede vermisst - nicht ein einziges Mal Zahlen genannt, wie viele Serben im vergangenen Jahr, also seit dem 10. Juni 1999, aus der Kosovo-Region geflohen sind und wie viele von ihnen vertrieben wurden. Sie haben hier keine Zahlen genannt, wie viele Roma und Sinti geflüchtet sind und unter welchen Lebensumständen sie heute ihr Dasein fristen müssen. Sie haben nicht davon gesprochen, wie heute die Situation der früher im Kosovo lebenden Juden ist. Sie haben auch nicht davon gesprochen, wie mit liberalen Kosovo-Albanern umgegangen wird. Diese sind nämlich tagtäglich enormen Repressionen ausgesetzt und ihnen drohen viele schreckliche Dinge. Sie haben hier aber positiv vermerkt, dass sich die Zahl der wöchentlich Ermordeten von 50 auf 7 reduziert hat. Ich halte es für nahezu infam, dieses hier in der Art und Weise, wie Sie es eben getan haben, positiv darzustellen und diese sieben Ermordeten pro Woche am Maßstab der Vorfälle in europäischen Großstädten zu messen. Die Umstände, wie diese Menschen ums Leben kommen, sind nämlich nicht vergleichbar mit denen in westeuropäischen Großstädten. Dazu sollten Sie sich hier einmal eindeutig äußern, anstatt die Entwicklung von solch schrecklichen Straftaten als positiv darstellen. Ich hatte meine Intervention eigentlich als Frage beabsichtigt, dahin gehend nämlich, wozu wir, wenn sich so vieles derartig positiv entwickelt hat, heute noch 50 000 KFOR-Soldaten benötigen und warum 5 600 deutsche Soldaten aus der Bundeswehr nach wie vor - das sieht ja der Antrag Ihrer Regierung vor - mit einem offiziellen Kampfauftrag, nämlich dem Auftrag, den der Bundestag letztes Jahr erteilt hat, dort im Kosovo stationiert bleiben sollen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war eine Kurzintervention; diese muss nicht beantwortet werden, wenn Sie es nicht wünschen, Herr Minister. - Gut, dann fahren wir in der Aussprache fort. Ich gebe für die F.D.P.-Fraktion das Wort dem Kollegen Werner Hoyer.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Scharping, auch ich bin, ehrlich gesagt, ein wenig von dem Einstieg überrascht gewesen, den Sie gewählt haben, um diese Debatte zu beginnen. Es handelte sich ja in der Tat um eine Ansammlung von außerordentlich beachtlichen Erfolgsmeldungen. Bei so vielen Erfolgsmeldungen könnten Fragen, wie sie die Kollegin von der PDS gerade gestellt hat, ja geradezu nahe liegen, auch wenn das sicherlich nicht angemessen ist. Das kontrastiert auch ein wenig mit dem, was uns freie Analytiker gegenwärtig über die Lage im Kosovo berichten. Es sind in der Tat große Erfolge erzielt worden. An diesen Erfolgen war die Bundeswehr entscheidend beteiligt. Dafür verdienen die Angehörigen der Bundeswehr, die Soldaten im Kosovo, unseren Dank und unsere Anerkennung. ({0}) Dieser Dank und diese Anerkennung gelten auch vielen anderen; Sie haben die Polizeibeamten angesprochen. Die vielen, die in Justiz, Verwaltungen und bei NGOs tätig sind, beziehen wir selbstverständlich in diesen Dank ein. Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass wir uns zu Beginn des nächsten Jahres oder noch besser in der zweiten Hälfte dieses Jahres einmal intensiv damit befassen und darum bemühen sollten, auf der Basis grundsolider Analysen eine Bestandsaufnahme des Kosovo-, ja des gesamten Balkanengagements zu machen. Es darf nämlich nicht sein, dass wir eines Tages feststellen, dass unsere Soldaten und andere mit viel Kompetenz, Engagement, Risikobereitschaft das enger definierte militärische Ziel mehr oder weniger gut erreicht haben, aber dem Erreichen des politischen Zieles keinen Schritt näher gekommen sind, weil sie letztendlich doch das Ergebnis ethnischer Säuberungen militärisch abgesichert haben. Das ist nicht die Logik unseres Beschlusses von vor einem Jahr. ({1}) Die Stiftung Wissenschaft und Politik kommt in diesen Tagen in einer Studie zu einem ziemlich deprimierenden Ergebnis. Das betrifft den schleppenden Aufbau der zivilen Verwaltung, das betrifft die Fehlentwicklungen bei der Aufstellung des von UNMIK geschaffenen KosovoKorps. Da scheint es doch einige Besorgnisse zu geben, die ich übrigens teile, dass dieses Korps leicht zur Beute ehemaliger UCK-Kämpfer werden könnte, die ihr gar nicht so heimliches Ziel, nämlich den Aufbau einer eigenen Armee für Kosovo, eben nicht aufgegeben haben. Die positive Bilanz gilt auch nur sehr begrenzt für den Bereich der Polizei, wobei unsere Beamten einerseits eine hervorragende Arbeit leisten und den gleichen Dank, die gleiche Anerkennung, die gleiche Sorgfalt des Parlaments verdienen. Andererseits steht aber fest, dass diese doppelte Aufgabe, die man ihnen gegeben hat, nämlich auf der einen Seite zum Aufbau einer demokratischen Polizei im Kosovo beizutragen und auf der anderen Seite eine robuste innere Sicherheit zu gewährleisten, leicht zu einer „mission impossible“ werden könnte. Ich vermute deshalb, dass es noch in diesem Jahr erforderlich sein wird, nachzusteuern und manche Leistungen noch so verdienstvoller internationaler Organisationen zu hinterfragen. Selbst wenn dieses Umsteuern dann stattfindet, wenn der Stabilitätspakt wirklich eine Chance bekommt, wird es erforderlich sein, all das militärisch abzusichern. Deswegen ist es erforderlich, dass wir uns heute erneut mit dem KFOR-Engagement befassen. Nach knapp einem Jahr tun wir das wieder, wenige Jahre nachdem wir zum ersten Male über SFOR geredet haben. Wird das eigentlich mittlerweile Routine? Es darf niemals Routine werden, weder der Beschluss selber noch die Befassung des Bundestages damit, und zwar in regelmäßigen Abständen. ({2}) Diese erneute Befassung, die auch konstitutiv im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils ist, muss sein; denn - das ist der entscheidende Punkt - die Bundeswehr ist und bleibt Parlamentsarmee. ({3}) Wäre der Begriff der Volksarmee nicht verbraucht und auch missbraucht - er ist es leider -, so könnte er wohl beschreiben, worauf es uns ankommt. Die Bundeswehr wird nicht aufgrund exekutiver Entscheidungen, sondern aufgrund des ausdrücklichen Willens des Parlaments und aufgrund ausdrücklicher Verantwortungsübernahme durch das Parlament eingesetzt. ({4}) Deswegen ist es wichtig, dass wir als Parlament völlig unabhängig von der Frage, wer gerade regiert, und auch unabhängig von der Frage, wie etwas in der Vergangenheit gelaufen ist - dieses Argument sehe ich sehr wohl -, unsere Rechte und Pflichten als Volksvertretung wahren. Umgekehrt heißt das aber auch, dass wir uns bemühen sollten, unseren Soldaten einen möglichst großen Rückhalt zu verschaffen, wenn sie in eine so schwierige Mission gehen. Ich würde mir wünschen, die Soldaten der Bundeswehr könnten ihre gefährlichen Aufträge in dem Bewusstsein übernehmen, die demokratisch legitimierten Vertreter des Volkes einmütig hinter sich zu haben. ({5}) Deswegen lohnt es, nach dem überparteilichen Konsens zu suchen und ihn anzustreben. Die ersten Vorlagen der Bundesregierung waren nach meiner Auffassung unzureichend; denn die Bundesregierung erwartete von uns, dass wir keine Sicherungen einbauen, mit denen wir uns selbst in einem überschaubaren Zeitraum erneut in die Pflicht nehmen, die Situation zu bewerten und verantwortlich zu entscheiden. Ich habe übrigens Verständnis dafür, dass man keine falschen Signale aussenden möchte. Das gilt sowohl in Richtung des Herrn Milosevic als auch in Richtung von Partnern im Bündnis, die möglicherweise auf die Idee kommen könnten, aufgrund expliziter Begrenzung eines Auftrages der Bundeswehr ihre eigenen Truppen frühzeitig zurückzuziehen. Man muss auch die Situation im Bündnis und in der westlichen Gemeinschaft sehr genau beobachten. Umgekehrt kann die Regierung nicht von uns erwarten, dass wir ihr eine Carte blanche ausstellen. ({6}) Ich begrüße es deshalb, dass wir gestern in einem ziemlich atemberaubenden Tempo in verschiedenen Schritten zu dem gekommen sind, was jetzt als Beschlussvorlage des Auswärtigen Ausschusses auf dem Tisch liegt. Es gab zunächst das Zugeständnis, dass nach zwölf Monaten eine Parlamentsbefassung erfolgt. Dann hieß es, dass die Fraktionen das zu einem konstitutiven Akt des Parlaments machen können. Die heute Morgen bzw. gestern Abend erfolgten Erklärungen des Haushaltsausschusses und des Verteidigungsausschusses wurden nun schließlich in die Formulierung der Beschlussvorlage des Auswärtigen Ausschusses gegossen, dass eine einzelne Fraktion ausreicht, um diesen Beschluss herbeizuführen. Ich denke, alle Fraktionen habe das heute Morgen im Auswärtigen Ausschuss mit großer Erleichterung vernommen. Damit haben wir eine vernünftige Grundlage. Auf dieser Grundlage kann ich meiner Fraktion empfehlen, der Beschlussvorlage des Auswärtigen Ausschusses zuzustimmen. Solange im Kosovo noch ein einziger Soldat in der Pflicht ist, werden wir in der Pflicht bleiben, uns regelmäßig mit dieser Frage zu befassen und darüber zu entscheiden. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die PDSFraktion spricht der Kollege Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der PDS wird dem Antrag der Bundesregierung für eine Verlängerung des Mandats der deutschen Soldaten, die im Rahmen der KFOR im Kosovo eingesetzt sind, nicht zustimmen - ich füge hinzu: ebenso wenig, wie wir dem NATO-Krieg zugestimmt haben. ({0}) Mit Sicherheit werden wir mit dieser Entscheidung im Parlament alleine stehen. Wir stehen mit dieser Entscheidung aber nicht alleine in der deutschen Gesellschaft, in der Friedensbewegung und in der Friedensforschung. Wenn Sie einmal den Blick auf andere Parlamente richten, werden Sie merken, wie umstritten die Verlängerung des Mandats in vielen Parlamenten ist. Der Krieg der NATO - wir müssen bei dieser Entscheidung auch über den Krieg reden - gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war ein Verhängnis. Er war völkerrechtswidrig, er widersprach der Charta der Vereinten Nationen. Zudem ist er durch Täuschung der Öffentlichkeit begleitet und in Szene gesetzt worden. Denken Sie nur an die vielen Falschmeldungen und Fälschungen, wie zum Beispiel den Hufeisenplan, die auch von diesem Pult hier verbreitet wurden. Tausende unschuldige Opfer haben die NATO-Bomben unter jugoslawischer Zivilbevölkerung gefordert. Doch den Zielen, die durch den Krieg erreicht werden sollten - multiethnisches Zusammenleben, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit -, ist der Kosovo nicht näher gekommen. Ich weiß nicht, wie Sie als Regierung damit umgehen, wenn Sie heute in die Zeitung schauen und feststellen müssen, dass Amnesty International der NATO vorwirft, dass sie während des Konfliktes Kriegsverbrechen begangen habe, oder wenn Sie lesen, dass die Kollegen des Auswärtigen Ausschusses des britischen Parlamentes in ihrem Bericht festgestellt haben, dass die Bombardierung des Kosovo illegal gewesen sei. Solche Fakten können Sie nicht verdrängen, wenn Sie hier über die Verlängerung des Mandates sprechen wollen. ({1}) Ich nenne Ihnen einige Gründe dafür. Aus unserer Sicht lassen Grundgesetz und internationale Verträge die Beteiligung der Bundeswehr am Luftkrieg und deren Stationierung im Kosovo nicht zu. Mit Blick auf die deutsche Geschichte hätte sich diese Stationierung ohnehin von vornherein verboten. Wenn also die Grundvoraussetzung falsch war, gibt es auch keinen Grund, den Einsatz zu verlängern. ({2}) Die Dominanz der Krieg führenden NATO-Länder in der von der UNO mandatierten Truppe der KFOR und die Ungleichbehandlung Russlands mussten bei einem Teil der Bevölkerung des Kosovo den Eindruck einer Besatzung und ungleichen Sicherheit hervorrufen. Einerseits war Massenflucht Hunderttausender nicht albanischer Menschen das Ergebnis; andererseits verstärkte dieser Umstand bei der UCK den Eindruck, man habe gesiegt und sei jetzt dran. Alle Berichte bestätigen das. Vieles, was im Kosovo geschehen ist, hat mit dem Geist und den Buchstaben der Resolution 1244 der Vereinten Nationen, auf die sich die Bundesregierung beruft, wenig zu tun. Ich könnte das durchbuchstabieren, angefangen beim völkerrechtlichen Status bis zur Frage der gleichen Sicherheit. Wenn Sie wissen wollen, wie die Lage tatsächlich ist, vergleichen Sie einmal den Bericht, den der Kollege Scharping hier abgegeben hat, mit dem Bericht der UNO-Menschenrechtskommission. Sie werden sehen, dass zwischen den Berichten Welten liegen. Wer sich auf die UNO-Resolution beruft, muss auch bereit sein, sie vollständig und konsequent zu erfüllen und einzuhalten. Ein letzter Punkt ist noch zu benennen: Der vorliegende Antrag der Bundesregierung enthielt ursprünglich keine zeitliche Begrenzung. Hier ist eine Nachbesserung vorgenommen worden. Die Formulierung, dass dies ein Entgegenkommen der Bundesregierung ist, ist aus meiner Sicht überheblich, empörend und falsch. Was wir eingefordert haben, sind die Rechte des Parlaments gegenüber der Bundesregierung. Das war kein Entgegenkommen, sondern ein Recht, das wir hier verteidigt haben. ({3}) Die Bundesregierung wollte - womöglich für viele Jahre - einen Freifahrtschein. Noch mehr: Sie fordert für die Fortsetzung des deutschen Einsatzes 2 Milliarden DM jährlich aus dem Bundeshaushalt. Die PDS ist dafür, dieses Geld für den zivilen Aufbau und für die Verbesserung der sozialen Lage einzusetzen. Das kann Frieden schaffen und den Frieden stärken. Allein mit militärischen Maßnahmen werden Sie keinen Frieden erreichen. ({4}) Selbstverständlich werden wir jedes Jahr Debatten über den Einsatz im Kosovo führen. Über diese Frage muss hier im Parlament so lange diskutiert werden, bis sich die Erkenntnis, dass dieser Krieg falsch war und es nie wieder eine Selbstmandatierung geben darf, mehrheitlich durchgesetzt hat. Der PDS ist klar, dass es im Kosovo kein Vakuum geben kann. Wir haben Ihnen einen konkreten Vorschlag unterbreitet, wie die UNO selbst in die Lage versetzt wird, im Kosovo nicht nur einen UNO-mandatierten Einsatz zu veranlassen, sondern auch eine UNO-Blauhelmtruppe einzusetzen, die für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger zu sorgen hat. Ich glaube, das ist ein vernünftiger Vorschlag. Schönen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Eberhard Brecht das Wort.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gehrcke, Sie wissen, dass ich beim Beschluss über die Kosovo-Intervention einige Schwierigkeiten hatte, mich in der Ambivalenz von moralischer Legitimität und völkerrechtlicher Legalität zu entscheiden. Der Verzerrung der Wirklichkeit aber, die in dem von Ihnen vorgelegten Antrag zum Ausdruck kommt, muss in diesem Hohen Hause widersprochen werden. ({0}) Ich will zunächst auf den von Ihnen angesprochenen Bericht von Amnesty International und die darin erhobenen Vorwürfe, die NATO habe Kriegsverbrechen begangen, eingehen. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass von der VN in Den Haag ein Kriegsgerichtstribunal eingerichtet worden ist. Dort ist dies nicht bestätigt worden. Wenn Sie die VN anerkennen, können Sie nicht eine Anklage, die von Amnesty erhoben worden ist, zum Maßstab Ihrer Bewertung machen. Vielmehr müssen Sie dem Ergebnis der Untersuchung des Tribunals in Den Haag folgen. ({1}) Eine zweite Bemerkung. Sie behaupten, die NATOBomben hätten Tausende unschuldige Opfer unter der jugoslawischen Zivilbevölkerung gefordert. Ich gehe davon aus, dass, wie nach allgemeinem Sprachgebrauch üblich, mit Opfern nicht Verwundete, sondern Tote gemeint sind. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Human Rights Watch maximal 500 Tote annimmt. Sie selber haben am 22. März 2000 eine Große Anfrage in den Bundestag eingebracht. Sie sollten sich, bevor Sie Behauptungen aufstellen, die nicht zu halten sind, erst einmal über die richtigen Zahlen informieren. Eine dritte Bemerkung. Sie schlagen etwas ganz Abenteuerliches vor: Sie haben gesagt, Sie wollten kein Vakuum schaffen, und schlagen vor, eine VN-Blauhelmmission einzusetzen, zu der die NATO-Interventionsstaaten, wie Sie sich ausdrücken, nicht hinzugezogen werden sollen. Welche Länder sollen nach Ihren Vorstellungen beteiligt werden und was für eine Truppe wollen Sie zusammenstellen? Welche Ausbildung sollen die Mitglieder dieser Truppe haben und mit welchen Finanzmitteln wollen Sie diese Truppe ausstatten? Denken Sie bitte einmal an die Situation in Sierra Leone, wo plastisch vor Augen geführt wurde, wohin eine solche Leichtfertigkeit führen kann. ({2}) Eine letzte Bemerkung. Sie kommen zu einer weiteren abenteuerlichen Forderung: Sie wollen, dass die Sicherheitsaufgaben im Kosovo zunehmend von zivilen Kräften übernommen werden. Ich darf Sie auf Ihren Entschließungsantrag verweisen. Dort steht unter dem Punkt „Begründung“, dass in Südserbien die Gefahr eines neuen Krieges drohe. Ich bitte Sie, zu überlegen, in welcher Verantwortung Sie handeln, wenn Sie schreiben, es müssten zivile Sicherheitskräfte oder sogar eine Zivilverwaltung eingesetzt werden und es dürfe keine Präsenz von Soldaten und Sicherheitskräften geben. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung der Kollege Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich glaube, dass ich alle Fakten, die ich benannt habe, anhand vieler Untersuchungen und Berichte belegen kann. Ich habe erstens einen Bericht von Amnesty International zitiert. Dass Ihnen die Schlussfolgerung von Amnesty International vielleicht nicht gefällt oder Sie sie nicht für korrekt halten, ist Ihre Sache. Das ist eine Schlussfolgerung, die Amnesty International nach Vorlage vieler Berichte und vieler Untersuchungen gezogen hat. Dass das Tribunal zu einer anderen Schlussfolgerung gekommen ist, hat damit überhaupt nichts zu tun. Sie müssen sich solchen Vorwürfen schon stellen, die auch nicht dadurch aus der Welt sind, weil sich das Tribunal anders entschieden hat. ({0}) Wenn Sie die Begründung des Tribunals zu dieser Entscheidung lesen, dann stellen Sie fest, dass selbst die Anklägerin gesagt hat, sie habe sich lange Zeit mit der Frage auseinander gesetzt, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten sei. Sie hat sich dagegen entschieden. - Die politischen Zusammenhänge dieses Tribunals sind doch bekannt. Zweitens. Es ist unleugbar, dass es in der serbischen Zivilbevölkerung eine hohe Zahl an Opfern gegeben hat. Die Zahlen, die wir genannt haben - über 2 000 Opfer -, sind stimmig. Dass die Bundesregierung eine entsprechende Große Anfrage erst nach Ablauf eines Jahres beantwortet - so ist es uns mitgeteilt worden -, ist Sache der Bundesregierung. Drittens. Sicherheit im Kosovo erfordert eine starke zivile Präsenz. Die Unsicherheiten an der Grenze zu Südserbien und an der Grenze zu Montenegro stehen auch damit in Verbindung, dass terroristische Aktionen der UCK oder ihrer Nachfolgeorganisationen nicht energisch genug unterbunden worden sind. In der „Welt“ von gestern ist zu lesen gewesen, dass sich jetzt auch in Mazedonien eine UCK gegründet hat, die versucht, dort eine Stimmung für Großalbanien zu schaffen und einen entsprechenden Krieg zu führen. Sie werden feststellen, dass an der KFOR-Truppe in Form einer UN-Blauhelmtruppe Staaten teilnehmen, die nicht am Krieg beteiligt waren, damit sie Vertrauen erwerben können. Diffamieren Sie Länder wie Bangladesch nicht! Vielleicht ist Bangladesch besser in der Lage, im Kosovo Frieden zu schaffen, als die USA, unser Land und andere, die Bomben geworfen haben. Auch dieser Frage müssen Sie sich einmal stellen. ({1}) Ich glaube, wenn Sie so an die UNO herangehen, wird nur eines passieren: Die UNO wird herunter- und kaputtgeredet. Das wollen wir nicht. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sollten versuchen, uns darüber zu verständigen, lieber Kollege Gehrcke, dass das Militär nach unserer Verfassung unter der Vorherrschaft der Politik, der Demokratie steht. ({0}) Das ist das fundamentale Missverständnis. Sie verstehen offensichtlich nicht, dass die Bundeswehr nichts anderes ist als ein Instrument der Politik und dass die Bundeswehr bei uns in der Bundesrepublik Deutschland nach der Verfassung ein Heer des Parlaments ist. ({1}) Das allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Missverständnis, das Sie für sich klären müssen. ({2}) Vielleicht müssen Sie sich auch noch über einen anderen Punkt verständigen, nämlich darüber, dass in jener Region, über die wir hier reden, das Kosovo und die Gesamtregion in Südosteuropa, Militär dann, wenn es unter Vorherrschaft der Demokratie eingesetzt wird, pazifizierend wirkt und eben erst die Prozesse in Gang setzt, die den Frieden wirklich herstellen. Das ist die Aufgabe von Militär. Genau dafür wird die Bundeswehr im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft eingesetzt. Das ist der Erfolg - der Bundesverteidigungsminister hat davon gesprochen -, der sich innerhalb eines Jahres abgezeichnet hat. Nehmen Sie bitte erst einmal die Realität zur Kenntnis. Dabei unterstütze ich natürlich das Recht, dass Sie an einzelnen Maßnahmen Kritik üben, dass Sie sich fragen, ob der Krieg berechtigt gewesen ist. Das ist der Unterschied zwischen dem Standard der Demokratie in jenen Regionen, von denen wir reden, und bei uns in Europa, lieber Kollege Gehrcke. ({3}) Der entscheidende Punkt ist genau der, dass KFOR jetzt die Unterstützung des Parlaments braucht. Die konstitutive Zustimmung durch unser Parlament bewirkt, dass genau diejenigen Kräfte im Kosovo freigesetzt werden, die dafür sorgen, dass zivile Konfliktregelungen unterstützt und gefördert werden. Woher soll denn eine Atmosphäre der Sicherheit kommen, sodass zum Beispiel die Kommunalwahlen, die für den Oktober vorgesehen sind, mit dazu beitragen können, dass sich Demokratie entwickelt? Woher soll denn eine Atmosphäre kommen, in der es möglich wird, dass sich die Menschen politisch mit der Zukunft auseinandersetzen? Woher soll denn eine Atmosphäre kommen, in der es möglich wird, dass diese Region aufgrund des Stabilitätspakts eine Chance bekommt, sich selbst eine europäische Perspektive zu erarbeiten? Nein, wir brauchen das Instrument des Militärs. Es muss nur begrenzt und nach den drei entscheidenden Kriterien eingesetzt werden, die ja Grundlage jeglicher konstitutiven Beschlüsse sind. Es sind dies: erstens, dass es ein UNO-Mandat gibt, zweitens, dass es eine Entscheidung des NATO-Rats gibt, und drittens, dass es die konstitutive Zustimmung des Bundestages gibt. Genau darum bitten wir und wir unterstützen die Bundesregierung bei diesem Ziel. Was wäre die Alternative? Darüber muss man sich wirklich im Klaren sein. Milosevic fordert doch, dass das KFOR-Mandat zurückgenommen wird. Was glauben Sie denn, warum er das wünscht? Glauben Sie nicht, dass für ihn der Rückzug von KFOR ein Zeichen dafür wäre, dass er jetzt endlich freie Bahn hat, um den Krieg zu führen, den er hat führen wollen, den vierten Nachfolgekrieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, nach den Kriegen in Slowenien, in Kroatien, in Bosnien-Herzegowina den Krieg im Kosovo vor einem Jahr? Das will er doch. Oder nehmen Sie die durchaus antidemokratischen und gefährlichen, nationalistischen Kräfte der UCK: Glauben Sie nicht, das sie, wenn es KFOR nicht mehr gäbe, ermutigt werden würden, das zu tun, wovon wir fürchten, dass sie es sofort tun, nämlich politisch eine Unabhängigkeitserklärung durchzusetzen? Was würde das für das Kosovo oder für eine andere Republik, Mazedonien, bedeuten, die in hohem Maße dadurch gefährdet würde, dass solche unglaublich nationalistischen Kräfte freigesetzt würden? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen die konstitutive Zustimmung des Bundestages, damit genau das abgewendet wird. Dafür brauchen wir die internationale Staatengemeinschaft und dafür brauchen wir die Präsenz des Militärs. Der Stabilitätspakt ist ja von dieser Regierung durchgesetzt worden. Ich frage mich häufig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und von der F.D.P., warum nicht damals schon die Idee entwickelt worden ist, dass man jener schwierigen Region Südosteuropa ein solches Angebot gemacht hat. Warum hat es den vierten Krieg gebraucht, bis diese Region eine neue, eine europäische Perspektive bekam? Diese Bundesregierung hat den Stabilitätspakt durchgesetzt. ({4}) Jetzt muss dieser Stabilitätspakt mit weiteren Instrumenten verknüpft werden, Herr Hoyer. Wir sind uns ja in diesem Punkte völlig einig. Das eine Instrument ist, dass das Militär dort so lange präsent bleibt - das kann lange dauern -, bis die Kräfte der Demokratie in jener Region so stark sind, dass sie jene Militärpräsenz der Staatengemeinschaft nicht mehr brauchen. Wenn sie in der Lage sein werden, Konflikte friedlich, zivil auszutragen, miteinander dafür zu sorgen, dass jene Region befriedet wird, dann braucht es auch keine Militärpräsenz der internationalen Staatengemeinschaft. Der Beschluss, der jetzt zu fassen sein wird, wird jener Region die Chance geben, an den drei entscheidenden Instrumenten teilzuhaben - nämlich: Stabilitätspakt, zivile Umgestaltung von innen und von unten, Sicherung durch die Militärpräsenz der internationalen Staatengemeinschaft -, den Weg nach vorn zu gehen und dafür zu sorgen, dass sich dieser Region in Südosteuropa in der künftigen Entwicklung - wir hoffen, dass das schnell kommt - eine Perspektive auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union eröffnet. Als sich vor wenigen Monaten die kroatische Bevölkerung durch eigene Entscheidung vom Nationalismus befreit hat, war das das richtige Signal, ein Signal dafür, dass selbst so schwierige Staaten wie Kroatien in der Lage sind, aus eigener Kraft all das hinter sich zu lassen, was mit dieser düsteren Perspektive verbunden ist, die Slobodan Milosevic vor zehn, zwölf Jahren eröffnet hat. Deshalb brauchen wir den Beschluss des Deutschen Bundestages. Lieber Kollege Lamers, lassen Sie mich Folgendes am Schluss sagen: Das, was der Außenminister im Namen der Bundesregierung erklärt hat, empfinde ich als einen Gewinn für das Parlament. Es macht nämlich deutlich, dass die Bundeswehr nichts anderes als das Heer des Parlaments ist. Das ist ein großer Gewinn für uns alle. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Bundestagsfraktion stimmt diesem Beschluss der Bundesregierung zu. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Karl Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Stabilisierung und Befriedung des Balkans und hier insbesondere des jüngsten Pulverfasses Kosovo ist zu einer zentralen Aufgabe der Sicherheitspolitik in der Welt geworden. Vor allen Dingen geht es um die Einhaltung der Menschenrechte auch in diesem Teil der Welt. Unser Ziel ist klar: die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre angestammten Heimatorte sowie der Aufbau einer demokratisch legitimierten Selbstverwaltung. Das wollen wir sicherstellen, dafür sind unsere Soldaten im Kosovo, zu diesem Auftrag bekennen wir uns in voller Verantwortung. ({0}) Zur Befriedung der Region haben wir darüber hinaus einen Stabilitätspakt geschlossen. Auch dies war richtig und notwendig. Das alles wäre nicht möglich, wenn die KFOR nicht seither in vorbildlicher und effizienter Weise die innere Sicherheit im Einsatzgebiet sichergestellt hätte. Den Soldaten der KFOR - hier wende ich mich insbesondere an die Soldaten des deutschen Kontingents - gelten unser besonderer Dank und unsere Anerkennung für ihren Gert Weisskirchen ({1}) Einsatz im Dienste des Friedens und der Völkerverständigung. ({2}) Inzwischen hat sich gezeigt, dass die internationale Sicherheitspräsenz im Kosovo aller Voraussicht nach auf längere Sicht beibehalten werden muss. Der Zwang, hier auch mit deutschen Soldaten präsent zu bleiben - genau das ist das heutige Thema -, resultiert aus der unverändert gespannten Lage. Mit der Präsenz auch unserer deutschen Soldaten wollen wir helfen, Stabilität in der Region zu sichern und Frieden unter den Volksgruppen zu wahren. Die Bundesregierung, Herr Minister Scharping und Herr Minister Fischer, spielt aus meiner Sicht in dieser Lage eine nicht sonderlich überzeugende Rolle, ({3}) und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens macht sie sich, so meine ich, viel zu wenige Gedanken darüber, wie eine künftige Friedensordnung aussehen kann, die dauerhaft von Bestand ist. Hier brauchen wir neue Ansätze zur endgültigen Stabilisierung der Region. Mein Kollege und Namensvetter Lamers hat hierzu vor einiger Zeit sehr bemerkenswerte Vorschläge gemacht. Auch die Bundesregierung sollte sich hier kein Denkverbot auferlegen. Zweitens. Was Rot-Grün in den letzten beiden Tagen geboten hat, meine Damen und Herren, war schlichtweg mangelhaft. ({4}) Die Bundesregierung hat heute einen Antrag auf Fortsetzung der Beteiligung deutscher Soldaten im Kosovo vorgelegt. Sie präsentiert diesen Antrag buchstäblich in der allerletzten Minute. Eineinhalb Tage Beratungszeit und elf Zeilen, Herr Minister Scharping, sind einfach zu dünn, wenn es um den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland geht. Dies ist eine zentrale Frage deutscher Politik; hier geht es doch nicht um die Verlängerung eines Zeitschriftenabos. Haben Sie denn - so frage ich mich - gar kein Gespür mehr dafür, was im Umgang mit unseren Soldaten, mit dem Parlament und auch mit der deutschen Öffentlichkeit geht? Wenn ein solches Mandat am 11. Juni ausläuft, Herr Minister, warum haben Sie uns, so frage ich Sie, nicht schon vor drei, vier Wochen in einer großen Debatte hier im Parlament mit dieser Frage befasst, etwa mit der Frage nach den Voraussetzungen dieses Mandats, ob Art und Umfang noch den Notwendigkeiten entsprechen? Dazu gehört auch Zeit, die der Bedeutung des Themas angemessen ist und in der alle offenen Fragen erörtert werden können. Sie haben uns diese Zeit durch die verspätete Vorlage verweigert. Das darf sich nicht wiederholen. ({5}) Ich frage Sie: Warum haben Sie das gemacht? Wollten Sie sich einer umfassenden Diskussion entziehen? Ihr Versuch, sich mit der heutigen Abstimmung ein nahezu unbegrenztes Mandat für die Verlängerung des deutschen Einsatzes im Kosovo zu verschaffen, ist Gott sei Dank gescheitert. Frau Merkel hat vorhin die Abteilung Unwahrheiten und Halbwahrheiten angesprochen. Dem möchte ich noch ein Kapitel hinzufügen. Herr Minister, Sie wissen sehr genau, dass es Ihre Partei, die SPD, und die Grünen zu ihrer Zeit als Opposition waren, die von uns ein unbegrenztes Mandat für SFOR verlangt haben. Das ist die historische Wahrheit und nicht das, was Sie heute erklären. ({6}) Die Art, wie Sie sich mit Ihren Halbwahrheiten im Ausschuss verhalten haben, trägt nicht dazu bei, eine konstruktive Atmosphäre im Parlament zu schaffen. Nein, meine Damen und Herren, uns drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Bundesregierung, dass sich Rot-Grün künftig eine Erörterung dieser Fragen im Parlament vor der Öffentlichkeit ersparen wollen. ({7}) Ich aber frage Sie: Wohin gehört diese Debatte? ({8}) Wenn es um Art und Umfang unserer Streitkräfte und die Dauer der Präsenz deutscher Soldaten im Ausland geht, gehört die Debatte ins deutsche Parlament. Deswegen werden wir darauf bestehen, dass dies auch in Zukunft so ist. ({9}) Es entspricht meinem und sicher auch Ihrem Verständnis als Parlamentarier, jedes Jahr aufs Neue unseren Soldaten und der gesamten Nation zu erklären, warum der Einsatz deutscher Soldaten im Ausland notwendig ist. Eine Selbstentmachtung des Parlaments wird es mit uns nicht geben. Es mag ja für Grüne und Rote unbequem sein, dieses Thema immer wieder zu diskutieren. Aber hier geht es nicht um bequem und unbequem, Herr Minister, sondern darum, dass wir dies unseren Soldaten und der Öffentlichkeit schuldig sind. Deshalb messen wir Sie auch an Ihrer heutigen Erklärung. Der Kollege Lamers hat bereits angekündigt, dass wir den Antrag stellen werden, dass wir in zwölf Monaten über den Einsatz unserer Soldaten im Kosovo nicht nur debattieren, sondern auch entscheiden werden. Es ist wichtig, dies hier festzuhalten. ({10}) Ich begrüße es, dass die Regierung hier eingelenkt und unserem Drängen nachgegeben hat. Das, was Sie versucht haben, ist ein bisschen Kabinettspolitik, ein Kabinettstückchen nach dem Motto „Entscheidungen im stillen Kämmerlein unter Ausschluss der Öffentlichkeit“. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das, was wir heute im Konsens erzielt haben, ist ein Sieg der Vernunft und ein Beweis für die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Institutionen und Entscheidungsgänge. Unsere Soldaten im Kosovo können und müssen wissen, dass wir hinter ihnen und ihrem Einsatz stehen und dass wir Dr. Karl A. Lamers ({11}) ihren Friedensdienst hoch einschätzen. Wir sind davon überzeugt, dass wir hier einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung des Friedens in diesem Teil der Welt leisten. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Kollege Lamers, die von Ihnen vorgetragene Erregung war reichlich künstlich. Ich denke, sie klingt jetzt auch schon ab. Ihr Vorwurf, wir wollten uns der Debatte nicht stellen, ist so abwegig, wie er nicht abwegiger sein könnte. ({0}) Wer hat sich denn mehr dieser Auseinandersetzung gestellt? Wer hat sie unter höherem Risiko geführt als RotGrün und vor allem wir Grüne? Insofern war das ein lächerlicher Vorwurf. Sparen wir ihn uns und kommen wir zum Thema zurück. Die Bilanz der letzten zwölf Monate ist in der Tat zwiespältig. Es hat dank KFOR, dank UNMIK, dank vieler Nichtregierungsorganisationen enorme Stabilisierungserfolge gegeben. Es hat enorme Aufbauleistungen gegeben. Zugleich aber - das ist genauso unübersehbar - sind das Gewaltpotenzial, die Gewaltbereitschaft und die Gewaltfähigkeit noch sehr stark. Man hat zum Teil den Eindruck, dass sie jetzt noch mehr zunehmen. Die Mandatsverlängerung ist unbedingt notwendig, um die Gewalt im Kosovo auf jeden Fall einzudämmen, um eine Entmilitarisierung voranzubringen und um einem Friedensprozess überhaupt eine Chance zu geben. Das ist der entscheidende Grund für die Mandatsverlängerung. Sie ist unverzichtbar. Wenn in diesem Zusammenhang die PDS eine Nichtverlängerung des Mandats verlangt, im Klartext: einen Abzug von Bundeswehr und KFOR, verkennt sie voll und ganz und - so behaupte ich - wider besseres Wissen, was dort von der Bundeswehr im Zusammenhang mit KFOR geleistet wird. Wenn von Ihnen von „nicht neutral“ gesprochen und behauptet wird, dass unter den Augen von KFOR Mord, Terror usw. geschehen, dem Vorschub geleistet wird, ist das eine Verdrehung der Tatsachen, die schärfstens zurückzuweisen ist. ({1}) Genauso verkennen Sie in Ihrem Antrag die aktuellen und mittelfristigen Möglichkeiten der Vereinten Nationen. Auch wir würden uns grundsätzlich wünschen, dass die Vereinten Nationen zur Führung von solchen Einsätzen in der Lage sind. Aber sie sind es auch auf kürzere Sicht nicht. Wer das jetzt fordert, schickt die Vereinten Nationen in eine Falle, aus der sie nur noch viel beschädigter wieder herauskommen. ({2}) Unsere parlamentarische Pflicht ist es, über auswärtige Einsätze der Bundeswehr zu beraten und zu entscheiden. Dies geht schnell mit der Erscheinung einher, dass wir vor allem den auswärtigen Einsatz der Bundeswehr, aber zu wenig die anderen Beiträge zur Friedenskonsolidierung im Blick haben. Auf einer Ebene haben wir sie im Blick, was sich heute gezeigt hat: Alle sagen den Polizeibeamten, den Nichtregierungsorganisationen usw. Dank. Aber unsere Pflicht geht weiter. Wir müssen uns auch ansehen, welches die Probleme in den anderen Bereichen sind, wo es Verbesserungsbedarf gibt und wo unbedingt etwas getan werden muss. In diesen 12 Monaten haben wir die Erfahrung gemacht: Wenn KFOR alleine funktioniert, wenn die zivile Polizeimission halb und die Justiz schlecht funktioniert, bedeutet das, dass wir dort kein funktionierendes rechtsstaatliches Gewaltmonopol erreichen, sondern wuchernde terroristische Gewalt, dass KFOR ewig dort bleiben muss und sie schließlich zu einer Besatzungsarmee würde. Das wäre eine verheerende Konsequenz. ({3}) Dazu, was bei der zivilen Polizeimission notwendig ist, müssen wir feststellen, dass auch die Bundesrepublik mit ihrem vorbildlichen Beitrag in den nächsten Jahren nicht mehr in der Lage ist, den entsprechenden Austausch zu gewährleisten. Das heißt, hierfür müssen wir uns etwas überlegen. Wenn die Polizisten freiwillig zu solchen Einsätzen gehen, müssen wir etwas dafür tun, dass die Situation der Freiwilligen verbessert wird, dass die Einsätze ganz anders begleitet werden, dass sie nachbereitet werden usw. Hier sind Bund und Länder in der Verantwortung, bei der Polizei mögliche Personalreserven, einen entsprechenden Personalpool aufzubauen und vor allem eine Begleitung im Einsatz zu gewährleisten. Jahr für Jahr kommen Tausende von vor allem jungen Männern und auch viele Frauen aus dem Kosovo mit elementaren, erschütternden, irritierenden, manchmal auch ermutigenden, aber auf jeden Fall einschneidenden Erfahrungen zurück. Dies sind immer Erfahrungen jenseits der deutschen Ordnungs- und Wohlstandswelt. Bisher haben wir hier im Bundestag und in der Politik überwiegend über die Entsendung von Soldaten beraten. Wir haben bisher aber viel zu wenig oder gar nicht im Blick gehabt, was mit denjenigen geschieht, die eben mit diesen sehr brisanten, aber eben auch reichen Erfahrungen zurückkehren. Ich empfehle uns allen, die Erfahrungen dieser jungen Leute vor allem aus dem Kosovo und Bosnien wirklich ernst zu nehmen, sie in unserer Gesellschaft mit diesen Erfahrungen nicht allein zu lassen. Ich meine nämlich, dass die bei diesen äußerst kritischen Einsätzen in Bosnien und im Kosovo gemachten Erfahrungen sehr nützlich und hilfreich für unsere zivilgesellschaftliche Entwicklung sind. Danke. ({4}) Dr. Karl A. Lamers ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Kurt Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Damit keine falschen Legenden gestrickt werden, will ich noch einmal darstellen, dass die CDU/CSU-Fraktion in ihrer weit überwiegenden Mehrheit immer mit in der Verantwortung gestanden hat, wenn es um Einsätze deutscher Soldaten in Krisenregionen ging, und dass auch in der heutigen Debatte keine Bedenken bestanden, diesem Einsatz zuzustimmen. Nur Irritationen kamen von der Bundesregierung mit ihrem Beschlussvorschlag, und darüber müssen wir sprechen. Wir sind der Meinung, dass es aufgrund der Verantwortung, in der wir alle stehen und mit der wir unsere Soldaten in solche schwierigen, gefährlichen und nervenaufreibenden Einsätze schicken, natürlich notwendig ist, dass ein breiter Konsens besteht und dass wir als Vertreter des deutschen Volkes diesen Auftrag mit großer Mehrheit erteilen. ({0}) Deshalb haben wir uns dieser schwierigen Aufgabe unterzogen, und deshalb haben wir unsere Kritik an die Bundesregierung zu richten, dass sie uns zum einen in so kurzer Zeit und zum anderen in der Art, wie sie es vorgesehen hatte, zu einem Beschluss zwingen wollte. Wir haben die Verantwortung, den Soldaten, die dort Dienst leisten, auch den Familien, die zu Hause bleiben, die Sinnhaftigkeit dieses Dienstes zu erläutern und darzulegen. ({1}) Herr Bundesverteidigungsminister, gerade Ihre Ausführungen und die Bilanz, die Sie aus dem vergangenen Jahr gezogen haben, zeigen ({2}) - ja, der NATO, aber Sie haben es doch vorgetragen, Herr Bundesminister - geradezu die Notwendigkeit, dass wir uns Jahr für Jahr mit dieser Thematik befassen. Das heißt doch nicht, dass wir von Hause aus eine Begrenzung wollen. Natürlich wissen auch wir, dass wir unsere Verantwortung mit tragen müssen, bis dort eine Situation eingekehrt sein wird, die wir uns alle wünschen und für die der Dienst unserer Soldaten notwendig ist. Aber die Kontrolle, die wir als Parlament wahrzunehmen haben, verpflichtet uns, diese Debatte immer wieder zu führen - nicht nur im Auswärtigen Ausschuss oder im Verteidigungsausschuss. Vielmehr haben wir diese Verantwortung auch gegenüber der breiten Öffentlichkeit. Sie haben es ja dargelegt, Herr Bundesverteidigungsminister - diese Fragen wollen wir auch in der Öffentlichkeit stellen, und wir wollen die Antworten darauf in der Öffentlichkeit darlegen -: Wie ist es mit dem Aufbau der zivilen Strukturen? Sind die Art und der Umfang des Einsatzes der Soldaten auch in einem Jahr noch so wie jetzt erforderlich? Wie ist es mit dem rechtsstaatlichen System? Ist hier ein Fortschritt erzielt worden? Sie haben ja dargelegt, dass dies der Fall ist. Ein Aspekt ist natürlich das Zusammenleben der beiden Volksgruppen, die dort zu Hause sind, sowohl der Kosovaren als auch der Serben. Es muss klar aufgezeigt werden, dass hier wieder ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander möglich und erforderlich ist. Sie hätten sich viel erspart, wenn Sie Ihren Bericht rechtzeitig vorgelegt hätten, wenn Sie den Antrag rechtzeitig beschlossen hätten, den Sie dem Parlament vorlegen wollten und der nicht den Zusatz, dass die Soldaten auf Dauer und in Ewigkeit im Kosovo bleiben sollen, haben sollte. Es ist schon erstaunlich, mit welchen Windungen Sie jetzt am Ende versucht haben, die Tatsache zu rechtfertigen, dass Ihnen offensichtlich entgangen ist, dass ein Jahr nach dem 11. Juni 1999 der 10. Juni 2000 kommt. Wenn Sie am 24. Mai einen Beschluss fassen, und zwar wohl wissend, dass das Parlament frühestens am 5. Juni 2000 zusammentritt, müssen Sie sich natürlich schon Fragen gefallen lassen und dürfen sich nicht darüber wundern, dass wir daran Kritik üben und sagen, es sei nicht möglich - wie es der Kollege Dr. Karl Lamers dargelegt hat gewissermaßen im Schnelldurchgang diese Thematik, die breit diskutiert werden muss, abzuhandeln. Dieses Thema interessiert sowohl die Öffentlichkeit als auch die Soldaten und verlangt insofern, dass Sie diesen gegenüber Rechenschaft ablegen. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir jetzt zu diesem - wenn auch nicht vollständig befriedigenden - Ergebnis gekommen sind. Es ist aber immerhin ein Ergebnis, das uns ermöglicht, im kommenden Jahr Ihnen noch einmal Rechenschaft abzuverlangen und diese Rechenschaft an die breite Öffentlichkeit weiterzugeben. Sie können sicher sein, dass wir dies einfordern werden. Ich kündige dies jetzt schon an und stelle für meine Fraktion gewissermaßen schon den Antrag für das kommende Jahr. Auch die F.D.P.-Fraktion hat ein entsprechendes Vorgehen inzwischen angekündigt. ({3}) Somit werden wir in einem Jahr nochmals den Bundestag mit diesem Thema beschäftigen und eine Beschlussfassung herbeiführen. Deshalb werden wir von der CDU/CSU-Fraktion heute mehrheitlich für die Fortsetzung dieses Mandates stimmen, und zwar eingedenk dessen, was Sie als Zusatz dem Parlament heute erklärt haben. Ich schließe mit einem Dank - auch wenn dies manche vielleicht nicht hören wollen, was ich nicht verstehen kann - an unsere Soldaten, die diesen enorm schwierigen und gefährlichen Dienst für den Aufbau der Sicherheit und Demokratie in einem schwierigen Teil Europas leisten, sowie deren Familien. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteili- gung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo, Drucksache 14/3454. Zu dieser Abstimmung haben die Kollegen Jürgen Koppelin, Norbert Otto, Thomas Dörflinger und Wolfgang Börnsen Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben, die zu Protokoll ge- nommen werden.*) Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksa- che 14/3550, dem Antrag der Bundesregierung zuzustim- men. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehe- nen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. - Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Ich frage noch ein- mal: Können wir die Abstimmung schließen? - Das ist der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be- ginnen.**) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3551. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einverstanden sind, unterbrechen wir die Sitzung jetzt nicht. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir fahren in der Beratung fort. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich rufe die Zusatzpunkte 10 bis 13 auf: ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes ZP 12 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen Das Wort zur Abgabe einer Erklärung hat Wilhelm Schmidt von der SPD-Fraktion. ({0}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird jetzt über wichtige Ergebnisse des Vermittlungsausschusses Bericht erstattet. Da Sie alle auf diese Ergebnisse seit Monaten gespannt gewartet haben, sollten Sie sich hinsetzen und zuhören. ({1}) Auch wer nicht zuhören möchte, sollte sich setzen. Niemand darf stehen bleiben. Das gilt auch für die Regierungsbank. Bitte sehr, Herr Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist so, wie es die Präsidentin gerade gesagt hat: In den vier Fällen, in denen der Vermittlungsausschuss durch den Bundesrat angerufen worden ist, liegt ein Ergebnis vor. In allen vier Fällen das möchte ich durchaus mit Genugtuung vermerken haben wir echte Ergebnisse zustande gebracht. Ich danke ausdrücklich den Vertreterinnen und Vertretern der Bundesländer dafür. Ich danke auch ausdrücklich den Vertretern der Fraktionen des Bundestages dafür, die nicht zur Koalition gehören. Herzlichen Dank, Herr Dr. Blens und Herr van Essen. Ich bedanke mich auch bei allen anderen, die daran mitgewirkt haben. ({0}) Die Ergebnisse sind auch deshalb so bemerkenswert, weil wir in einigen Bereichen relativ schwierige Verhand- lungen zu führen hatten. Diese Verhandlungen haben sich gelohnt, nicht nur deswegen, weil wir die jetzt vorliegen- den Ergebnisse erzielt haben, sondern auch deswegen, weil wir inhaltlich bei Problemen weitergekommen sind, die zum Teil seit vielen Jahren ihrer Lösung geharrt ha- ben. Ich möchte mit einer kurzen Darstellung bezüglich des Stiftungsrechts aus der Sicht der SPD-Fraktion begin- nen, weil ich finde, dass das in diesem Bereich erzielte Ergebnis das wichtigste der vier Ergebnisse ist, ohne die drei anderen zurückstellen zu wollen. Es ist deswegen so wichtig für mich bzw. für uns, weil wir der Auffassung sind, dass mit dem neuen Stiftungsrecht der Gesellschaft neue Impulse gegeben werden. Viele in diesem Hause ha- ben sich darum bemüht. Ich danke ausdrücklich der F.D.P., Herr van Essen, aber auch Frau Vollmer von den Grünen, weil sie sich besonders engagiert hat. Ich möchte *) Anlagen 2 bis 5 **) Ergebnis namentliche Abstimmung, Seite 10169 A) mich auch bei vielen Kollegen aus der SPD-Fraktion bedanken, die sich seit vielen Jahren engagiert haben. ({1}) Ich weise auch deswegen darauf hin, weil ich finde, dass wir damit bei den gesellschaftlichen Entwicklungen für eine Initialzündung sorgen, von der wir hoffen, dass sie uns in der staatlichen und gesellschaftspolitischen Arbeit voranbringt; denn wir wollen Bürgerinitiative neu entfachen. Wir wollen es denjenigen leichter machen, ihr gutes Geld den richtigen Stellen zu geben, nämlich den Stiftungen. Wir wollen ihnen das Geschäft in dieser Hinsicht erheblich erleichtern. Dabei galt es vor allen Dingen fiskalische Barrieren zu überwinden; denn die Finanzminister des Bundes und der Länder haben sich - ich kann das nachvollziehen - sehr schwer getan. Wenn man sich die Gründe des Bundesrates für die Anrufung des Vermittlungsausschusses genau anschaut, dann stellt man fest, dass alle 16 Bundesländer für die Anrufung waren. 12 von ihnen waren dafür, weil sie weniger erreichen wollten, als der Bundestag beschlossen hatte. Vier Bundesländer waren für eine Anrufung, weil sie mehr erreichen wollten. Als die Verhandlungen begannen, hatte ich zuerst das Gefühl, Herr Blens, Herr Lammert und Herr van Essen, dass man froh sein kann, wenn am Ende wenigstens das stabilisiert und gesichert werden kann, was im Bundestag durchgesetzt worden ist. Tatsächlich haben wir mehr durchgesetzt. Das finde ich in dieser Sache besonders wichtig. ({2}) Ich danke auch der Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt haben und die unter der Leitung von Herrn Lammert gute Arbeit geleistet hat. Manchmal hat diese Arbeitsgruppe in den Augen einiger, insbesondere aus dem Finanzsektor, etwas überzogen. Aber sie hat Signale gesetzt, die wir am Ende - wenn auch nicht vollends - berücksichtigen konnten. In dieser Hinsicht ist also erfolgreiche Arbeit geleistet worden, weil wir nicht nur die laufende Stiftungsarbeit verbessert fördern können, sondern von nun an auch die Neugründung einer Stiftung im Rahmen eines Zehnjahresprojektes mit bis zu 600 000 DM finanziell fördern und gleichzeitig steuerlich entlasten. Das ist ein ganz wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein. Wir haben aufgrund des Einflusses einzelner Mitglieder des Vermittlungsausschusses in letzter Sekunde die Berücksichtigung der kirchlichen Stiftungen erreicht. Auch das will ich durchaus wohlwollend erwähnen, selbst wenn es uns zuletzt fast ein bisschen aus dem Sattel gehoben hat. Wir haben in einem zweiten Projekt die Änderung der Strafprozessordnung vorgenommen. Ich würdige das deswegen, weil neben anderen mein Kollege Meyer - das will ich hier ausdrücklich erwähnen - acht Jahre persönlicher intensiver Arbeit in dieses Projekt gesteckt hat. Er hat uns in dieser ganz trockenen Materie, die sich nicht jedem Kollegen in diesem Hause sofort erschließt, sehr oft mitreißen müssen. ({3}) Entscheidend war, dass wir damit alle gemeinsam Herr Ströbele und andere haben daran mitgewirkt - einen 16-jährigen Reformstau überwunden haben; denn wir haben den Auftrag eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Datenschutz von 1983 - in Buchstaben: Neunzehnhundertdreiundachtzig - wenigstens in groben Zügen umgesetzt. Insofern haben wir eine ganz besonders wichtige Entscheidung getroffen. Auch die Regelung des Abgeordnetengesetzes war wichtig; denn wir haben endlich unsere Selbstbeschränkung bei der Versorgung festgelegt. Wir haben ebenfalls die Beschränkung bei der Versorgung von Ministern und Staatssekretären umgesetzt. Beides sind nach Überzeugung der SPD-Fraktion und der Koalition ganz wichtige Eckwerte bei der Parlamentsreform. Schließlich haben wir bei den Fernabsatzverträgen Bestellungen über das Internet oder sonstwie aus der Ferne - eine Regelung herbeigeführt. Ich danke dafür allen Beteiligten. Ich finde das sehr ermutigend, auch mit Blick auf die anstehenden Vermittlungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz. Ich fühle mich in der Arbeit, die wir alle gemeinsam geleistet haben, gestärkt. Die Ergebnisse waren gut - herzlichen Dank dafür. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Antrag der Bundesregierung über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicherheitspräsenz im Kovoso zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 bekannt. Abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 534, mit Nein haben gestimmt 39, Enthaltungen 10. Wilhelm Schmidt ({0}) Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 583 ja: 534 nein: 39 enthalten: 10 Ja BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({1}) Volker Beck ({2}) Angelika Beer Matthias Berninger Grietje Bettin Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({3}) Katrin Dagmar GöringEckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Kerstin Müller ({4}) Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({5}) Werner Schulz ({6}) Jürgen Trittin Dr. Ludger Volmer Helmut Wilhelm ({7}) CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({8}) Cajus Caesar Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Renate Diemers Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer ({9}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({10}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich ({11}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({12}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther ({13}) Gottfried Haschke ({14}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({15}) Hansgeorg Hauser ({16}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Bartholomäus Kalb Irmgard Karwatzki Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr.-Ing. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({17}) Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({18}) ({19}) Wolfgang Lohmann ({20}) Julius Louven Dr. Michael Luther Erwin Marschewski ({21}) Dr. Martin Mayer ({22}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({23}) Elmar Müller ({24}) Bernd Neumann ({25}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({26}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch ({27}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Adolf Roth ({28}) Norbert Röttgen Volker Rühe Anita Schäfer Hartmut Schauerte Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({29}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({30}) Andreas Schmidt ({31}) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Wolfgang Schulhoff Diethard Schütze ({32}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Bernd Siebert Werner Siemann Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({33}) Michael Stübgen Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß ({34}) Gerald Weiß ({35}) Heinz Wiese ({36}) Hans-Otto Wilhelm ({37}) Klaus-Peter Willsch Matthias Wissmann Werner Wittlich Aribert Wolf Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Vizepräsidentin Anke Fuchs F.D.P. Ina Albowitz Rainer Brüderle Ulrike Flach Gisela Frick Horst Friedrich ({38}) Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({39}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich Leonhard Kolb Gudrun Kopp Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Detlef Parr Cornelia Pieper Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle SPD Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel ({40}) Klaus Barthel ({41}) Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Rainer Brinkmann ({42}) Bernhard Brinkmann ({43}) Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({44}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Christel Deichmann Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Peter Friedrich ({45}) Lilo Friedrich ({46}) Harald Friese Anke Fuchs ({47}) Arne Fuhrmann Prof. Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({48}) Angelika Graf ({49}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({50}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({51}) Walter Hoffmann ({52}) Iris Hoffmann ({53}) Frank Hofmann ({54}) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Jann-Peter Janssen Ilse Janz Prof. Dr. Uwe Jens Volker Jung ({55}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Hans-Ulrich Klose Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({56}) Detlev von Larcher Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({57}) Christa Lörcher Erika Lotz Dieter Maaß ({58}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Merten Prof. Dr. Jürgen Meyer ({59}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({60}) Jutta Müller ({61}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({62}) Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Prof. Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Prof. Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({63}) Birgit Roth ({64}) Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schild Horst Schmidbauer ({65}) Ulla Schmidt ({66}) Silvia Schmidt ({67}) Dagmar Schmidt ({68}) Wilhelm Schmidt ({69}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({70}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({71}) Brigitte Schulte ({72}) Reinhard Schultz ({73}) Volkmar Schultz ({74}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dr. Angelica Schwall-Düren Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Antje-Marie Steen Rolf Stöckel Reinhold Strobl ({75}) Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Rüdiger Veit Ute Vogt ({76}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Der Antrag ist damit angenommen. ({77}) Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Lammert, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann den Ausführungen des Kollegen Schmidt nicht immer vollständig zustimmen. Da dies aber heute möglich ist, tue ich es besonders gerne. Das schließt seinen Hinweis ein, dass unter den gestern im Vermittlungsverfahren vereinbarten Beschlussvorschlägen die Änderung des Stiftungsrechts sicherlich einen ganz besonderen Stellenwert hat. Dass wir wichtige gesellschaftliche Anliegen in Deutschland nicht ausnahmslos als öffentliche Angelegenheiten definieren und schon gar nicht finanzieren können, dass wir mehr als in der Vergangenheit privates Engagement für gemeinnützige Aktivitäten mobilisieren müssen, dass es aber unter Berücksichtigung unserer heutigen Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch bessere Chancen als je zuvor für die Aktivierung privaten Engagements für gesellschaftliche Aufgaben gibt und dass wir mit der Ermutigung für eine neue Stiftungskultur eine wesentliche Entwicklung in diesem wichtigen Bereich in Gang setzen können und müssen, darüber haben wir uns in mehreren Debatten des Deutschen Bundestages in den vergangenen Monaten in dem Bemühen um eine grundlegende Verbesserung des Stiftungsrechts verständigt. Damals sind wir von der gemeinsamen Einsicht ausgegangen, dass dazu nicht nur, aber auch verbesserte steuerliche Rahmenbedingungen gehören. Trotz dieser gemeinsamen Einsicht gibt es natürlich unterschiedliche Vorstellungen über Umfang, Reichweite und Akzente einer solchen steuerlichen Förderung. Dies ist auch in den Anträgen sowohl hier im Bundestag als auch im Bundesrat deutlich geworden, die zum Teil deutlich über die Beschlussfassung des Bundestages hinausgingen, zum Teil aber auch erkennbar hinter diesen Vorschlägen zurückblieben. Nun ist bei zustimmungspflichtigen Gesetzen eine Lösung nur dann zu erreichen, wenn in beiden Häusern eine Mehrheit zustande kommt. Das heißt, dass auf beiden Seiten Bereitschaft entstehen muss, auf das Reiten eigener Steckenpferde zu verzichten und das Befördern einer Gesetzgebung, die man für notwendig erachtet, für noch wichtiger zu halten als diesen oder jenen einzelnen Punkt, der einem vielleicht besonders lieb und wichtig war. Deswegen will ich mich - ähnlich wie der Kollege Schmidt - bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die an dem Zustandekommen dieser, wie ich glaube, denkwürdigen Lösung beteiligt waren, und zwar ganz besonders den Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe, die Herr Schmidt bereits gewürdigt hat; denn wir haben bei der geschilderten Antragslage die in der Tat nicht ganz risikolose Operation vorgenommen, dem Vermittlungsausschuss einen Vorschlag zu unterbreiten, der eben nicht hinter die Vorschläge des Bundestages zurückgeht, sondern an wesentlichen Stellen darüber hinausgeht. Ich will den wichtigsten Punkt gleich nennen. Wir haben uns im Bundestag, wie ich weiß, nicht aufgrund Vizepräsidentin Anke Fuchs Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({0}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber ({1}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Jürgen Wieczorek ({2}) Helmut Wieczorek ({3}) Dieter Wiefelspütz Heino Wiese ({4}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({5}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({6}) Waltraud Wolff ({7}) Heidemarie Wright Uta Zapf Peter Zumkley Nein BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Monika Knoche CDU/CSU Dr. Wolf Bauer Wolfgang Börnsen ({8}) Franz Romer Willy Wimmer ({9}) F.D.P. PDS Monika Balt Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Eva-Maria Bulling-Schröter Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Dr. Ruth Fuchs Dr. Klaus Grehn Dr. Barbara Höll Ulla Jelpke Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Angela Marquardt Rosel Neuhäuser Petra Pau Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Enthalten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Annelie Buntenbach Steffi Lemke Claudia Roth ({10}) Christian Simmert CDU/CSU Manfred Carstens ({11}) Dr. Manfred Lischewski Norbert Otto ({12}) F.D.P. Sabine LeutheusserSchnarrenberger SPD René Röspel unterschiedlicher Auffassungen, sondern aufgrund der unterschiedlichen - na ja - Inpflichtnahmen, die sich durch die jeweiligen Rollen von Koalition und Opposition ergeben, völlig unnötig darüber gestritten, ob es denn eigentlich in erster Linie darum gehe, vorhandene Stiftungen und gemeinnützige Organisationen durch eine Stärkung der Spendenbereitschaft vor allem durchschnittlicher Einkommensbezieher zu fördern, oder ob es nicht mehr darum ginge, insbesondere durch die Ermutigung zu hohen Schenkungen und Bereitstellungen von hohen Einkommen oder Vermögen, das Zustandekommen neuer Stiftungen zu fördern. Natürlich ist es vernünftig, das eine mit dem anderen zu verbinden und sich nicht zwischen beidem kraftvoll zu entscheiden. Genau dies ist uns mit dem Vermittlungsvorschlag gelungen. Ich will nur in Stichworten die fünf wesentlichen Ergänzungen nennen, auf die wir uns gestern haben verständigen können. Erstens. Es gibt bei der Einkommen- und Gewerbesteuer einen weiteren Abzugsbetrag für die Neugründung einer Stiftung von höchstens 600 000 DM innerhalb von zehn Jahren für Zuwendungen in den Vermögensstock steuerbegünstigter, gemeinnütziger Stiftungen. Zweitens - das ist bereits angesprochen worden -: Der vom Bundestag bereits beschlossene verbesserte Spendenabzug in Höhe von 40 000 DM, der bisher auf Stiftungen privaten Rechts beschränkt war, wird auf Stiftungen öffentlichen Rechts und damit auch auf kirchliche Stiftungen erweitert. Damit sind wir übrigens auch prinzipiell einen beachtlichen Schritt weitergegangen, weil wir damit das Anliegen einer Förderung möglichst unabhängig von der Rechtsform des jeweiligen Engagements weiter vorangetrieben haben. Drittens. Wir haben uns darauf verständigt, dass bei der Neugründung von Stiftungen künftig eine unschädliche Ansparphase in den Vermögensstock für insgesamt drei Jahre vorgesehen ist. Das dient der Stärkung der Finanzkraft der Stiftung. Wir haben viertens die Rücklagemöglichkeiten steuerbegünstigter Körperschaften durch die Möglichkeit verbessert, dass sie über die Regelung hinaus, die wir im Bundestag bereits beschlossen hatten, zusätzlich 10 Prozent ihrer zeitnah zu verwendenden Mittel in diese Rücklage einstellen können. Fünftens. Wir haben uns auf verbesserte Regelungen der Abgabenordnung darauf verständigt, dass die für alle steuerbegünstigten Körperschaften gelten sollen, also rechtsformunabhängig. Meine Damen und Herren, unbeschadet der Aufgaben, die wir im Zivilrecht noch vor uns haben, für die es inzwischen aber eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe gibt, von der wir hoffen, dass sie ihre Arbeit zügig aufnimmt und möglichst bald ähnlich beachtliche Ergebnisse präsentiert, haben wir mit diesem Vorschlag wirklich einen Durchbruch erreicht, was den steuerlichen Teil der Förderung von Stiftungen und gemeinnützigen Organisationen angeht. Wir haben damit ein Signal gesetzt für eine neue Kultur gemeinnützigen Engagements in einer aufgeklärten und selbstverantwortlichen Bürgergesellschaft. Die CDU/CSU-Fraktion stimmt diesem Vermittlungsergebnis gerne zu. Sie verbindet damit die ausdrückliche Hoffnung, dass viele, die damit neue Möglichkeiten gemeinnütziger Aktivitäten erhalten, von diesen Möglichkeiten überzeugend und intensiv Gebrauch machen. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das neue Stiftungssteuerrecht ist also geschafft; es ist nicht nur gut gelungen, sondern es ist auch gut gelaufen, und zwar auf eine ungewöhnliche Art und Weise, die im Parlament nicht alle Tage vorkommt. ({0}) Das ist übrigens auch ein Hinweis darauf, dass gute langjährige Zusammenarbeit und lange Diskussionen, auch zwischen den Fraktionen, langfristig gute Ergebnisse zeitigen können. Es handelte sich hierbei um eine Initiative aus der Tiefe des parlamentarischen Raumes. Es war keine Initiative irgendeines Ministeriums. Man ahnt auch, dass die Ministerien damit durchaus Schwierigkeiten hatten. Wir sind aber froh, dass sie am Ende eingeschwenkt sind. Ich möchte, gerade weil es so ein ungewöhnlicher Prozess ist, doch einmal darauf hinweisen, dass alle in diesem Prozess eine für ihre eigene Geschichte und Tradition ungewöhnliche Rolle gespielt haben und es auch nötig war, dass alle ihre traditionellen Rollen verließen. Wer hätte damals gedacht - seit über fünf Jahren arbeite ich an diesem Thema -, dass die Initiative zur Reform des Stiftungsrechtes ausgerechnet von den Grünen gekommen wäre? Ich weiß, dass damals viele erstaunt waren, weil wir aus einem kulturellen Umfeld kamen, in dem das Stiften durchaus nicht sehr populär war. Damals hatten wir als Oppositionspartei gehofft, die CDU/CSUF.D.P.-Regierung antreiben zu können, weil wir dachten, dass dieses Anliegen ihnen etwas näher läge. Tatsächlich haben aber CDU/CSU und F.D.P. erst am Ende - nämlich in der gestrigen Debatte im Vermittlungsausschuss - einen positiven Beitrag dazu geleistet, dass dieses dann doch gelingen konnte. Das ist Dialektik. ({1}) Wer hätte gedacht, dass in der Koalitionsvereinbarung einer rot-grünen Regierung das Stiftungsrecht an so prominenter Stelle angesiedelt würde? Wer hätte gedacht, dass wir tatsächlich damit Ernst machen, dieses in den ersten zwei Jahren unserer Regierungszeit umzusetzen? Das war nicht einfach und die Diskussionen darüber haben auch die Meinungen vieler Kolleginnen und Kollegen zu diesem Thema verändert. Inzwischen kann man sagen, dass dieses Projekt mit großer Überzeugung von dieser Regierungskoalition getragen wurde. Wer hätte gedacht, dass sich Gerhard Schröder ausgerechnet zu einem Propagandisten der zivilen Bürgergesellschaft mausern würde? Das hat ihm auch keiner an der Wiege gesungen. ({2}) Wer hätte gedacht, dass gerade ein SPD-Parteitag mit einer schwierigen Antragslage einen Anstoß für den Durchbruch beim Stiftungsrecht, das wir gemeinsam wollten, liefern würde? Wer hätte gedacht, dass der Bundesrat zu einem Zeitpunkt, wo alle dagegen waren und den Vermittlungsausschuss angerufen haben - da habe ich das Zittern bekommen -, dann zu solch einem Ergebnis kommen würde? Dank der Mitarbeit der Kollegen Schmidt, van Essen, Heyne, Lammert und vieler anderer - nicht zu vergessen Ludwig Stiegler, der sehr viel im Hintergrund getan hat - sind wir nun tatsächlich an dem Punkt, dass wir mehr herausbekommen, als wir damals im Bundestag haben erreichen können. Ich bin ungeheuer froh darüber und auch richtig verblüfft über ein solch positives Ergebnis. ({3}) Ich habe gesagt, es war eine Initiative, die aus der Tiefe des parlamentarischen Raumes kam. Sie wird erst zu einer richtigen gesellschaftlichen Bewegung, wenn sie auch aus der Tiefe des gesellschaftlichen Raumes unterstützt wird. Ich hoffe, dass die Bürgergesellschaft, von der ich weiß, dass sie schon existiert, dieses Signal wirklich versteht und es, wie schon in den letzten fünf Jahren, zu Neugründungen von Stiftungen für soziale und kulturelle Zwecke kommt. Ich habe immer wieder festgestellt, während dieser fünf Jahre hat sich die gesamte gesellschaftliche Debatte um dieses Thema grundlegend verändert. Es gibt kein Anmobben von Stiftern mehr, sondern vielmehr eine positive Bereitschaft, deren Beitrag zum Gemeinwesen zu honorieren. Deswegen hoffe ich, dass wir nun zu dem kommen, was ich mir immer gewünscht habe und mit mir alle Kollegen, nämlich zu einem Aufbruch der Citoyens. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle haben mit dem Stiftungsrecht angefangen, und ich glaube, das hatte auch einen guten Grund, weil das sicherlich das politische Schwergewicht in den Beschlüssen ist, die der Vermittlungsausschuss am gestrigen Nachmittag gefällt hat. Trotzdem gestatten Sie es einem gelernten Oberstaatsanwalt, wie ich es bin, dass er mit einer anderen Thematik anfängt, weil er sich da nämlich auch freut. ({0}) Herr Schmidt hat es schon angesprochen: Man hatte ja immer ein wirklich schlechtes Gewissen, denn man kannte das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Über Jahre hinweg wurden bestimmte Regelungen angewandt, obwohl man wusste, dass sie nicht auf gesetzlichen Grundlagen beruhten, wie sie das Bundesverfassungsgericht gefordert hatte. Deshalb bin ich froh, dass wir diese gesetzlichen Grundlagen endlich haben. Der Weg dazu war unglaublich schwer. Ich erinnere mich noch an die Tagung auf dem Frankfurter Flughafen mit dem so genannten Flughafenkompromiss, bei dem alle nachgegeben haben und Bayern plötzlich „njet“ sagte und damit die ganz Mühe der letzten Legislaturperiode perdu war. ({1}) Deshalb freue ich mich umso mehr, dass wir jetzt dank den Bemühungen des Vermittlungsausschusses - ich sage: sowohl der SPD-Seite wie der anderen Seite - eine Lösung gefunden haben, die beide Interessen berücksichtigt, auf der einen Seite die notwendigen Datenschutzinteressen, auf der anderen Seite aber auch die notwendigen Interessen der Strafverfolgung. Ich glaube, dass beide Interessen hohes Gewicht haben und dass wir zu einer Lösung gekommen sind, die Bestand hat und die vernünftig ist. ({2}) Eine Lösung, die vernünftig ist, ist sicherlich auch die beim Abgeordnetengesetz gefundene. Ich war hoch alarmiert, als ich vom Einspruch des Bundesrates hörte; denn mir war völlig klar, dass das eine oder andere den Länderparlamenten nicht geschmeckt hat. Sie haben sich so schön daran gewöhnt, dass sie in jedem Jahr ihre Diäten erhöhen, während es immer wieder unglaubliche Aufregung gibt, wenn der Bundestag alle sieben oder acht Jahre die Diäten erhöht. ({3}) Sie hatten sich auch so sehr daran gewöhnt, dass wir immer wieder zurückgefahren haben, während bei ihnen gar nichts geschah. Deswegen hat es mich hoch alarmiert, als ich von diesem Einspruch gehört habe. Trotzdem bin ich sehr froh, dass wir jetzt eine Lösung gefunden haben, die den Bund möglicherweise sogar entlastet und unser Prinzip, das wir gemeinsam verfolgt haben, das Prinzip nämlich, dass es nicht zu einer Überversorgung kommen darf, weiter einhält. Deshalb ist das eine wirklich sehr erfreuliche Lösung. ({4}) Zum Stiftungsgesetz ist schon viel Positives gesagt worden. Ich kann mich dem gerne anschließen. Frau Kollegin Vollmer, Sie haben wirklich das unbestreitbare Verdienst, uns bei diesem Thema immer wieder gemahnt zu haben, vorangetrieben zu haben. Ich freue mich, dass wir in dieser Legislaturperiode etwas schneller waren als Sie ({5}) und früher einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Trotzdem ist es gut, dass zum Schluss eine gemeinsame Anstrengung daraus geworden ist. Ich glaube, wenn man sich das einmal anschaut, was jetzt noch gekommen ist mit der Möglichkeit der erhöhten Ausgabenabschreibung bis 600 000 DM und vielen anderen Dingen, die der Kollege Lammert vorgestellt hat, sodass ich sie nicht zu wiederholen brauche, stellt man fest, dass wir noch ein Stückchen weiter gekommen sind, nämlich bei der Unterstützung von bürgerschaftlichem Engagement. Das ist etwas außerordentlich Erfreuliches. ({6}) Gestatten Sie mir trotzdem, dass ich für meine Fraktion einen Tropfen Wasser in den hier dargereichten Wein fülle. Wir werden dem Fernabsatzgesetz nicht zustimmen. Wir sind der Auffassung, dass die Regelungen, die dort getroffen worden sind, zu bürokratisch sind, dass sie der Vertragsfreiheit nicht entsprechen. Wir Liberale wollen - das erwarten Sie auch von uns - in diesem Zusammenhang Vertragsfreiheit durchsetzen. Auch andere Regelungen begegnen unseren Bedenken. Deshalb werden wir den ersten drei Punkten, die wir für außerordentlich gelungen halten, gerne zustimmen, beim letzten Punkt, beim Fernabsatzgesetz, werden wir es nicht tun. Herzlichen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Petra Pau, PDS-Franktion, das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will Sie beruhigen: Ich werde die Akten, die ich mitgebracht habe, nicht vorlesen, jedenfalls nicht aus eigenem Antrieb. Aber da Sie es heute Morgen kraft Mehrheit für richtig befunden haben, meiner Fraktion die fachliche und sachliche Prüfung der Vermittlungsergebnisse zu versagen, habe ich mich zumindest gewappnet. Es könnte ja sein, dass es sachliche und fachliche Nachfragen gibt und die Kolleginnen und Kollegen von ihrem Fragerecht Gebrauch machen. Dann möchte ich natürlich auch sachkundig antworten. ({0}) Nun zu den vier Gesetzen, zu den Vermittlungsergebnissen und meinen Abstimmungsempfehlungen. Erstens zum Abgeordnetengesetz. Das übergeordnete Problem war, Mehrfachbezüge bei Abgeordneten zu verhindern. Diese Intention ist nach dem Vermittlungsausschuss erhalten geblieben. Deshalb werden wir zustimmen. Wichtig für die Geschichtsbücher dürfte aber noch etwas anderes sein, was sich in diesem Gesetz versteckt, nämlich dass Mitglieder des Bundestages aus ihrem vorhandenen Etat auch Handys und andere moderne Kommunikationsmitteln nutzen können. Natürlich werden wir auch dieser Öffnung gegenüber dem 21. Jahrhundert unsere Stimme heute nicht versagen. Zweitens zum Stiftungsrecht. Die PDS war und ist für mehr Transparenz, für weniger Bürokratie und für die Unterstützung von bürgerschaftlichem Engagement. Der vorliegende Kompromiss entspricht dem nicht. Stattdessen dürfte die Konkurrenz zwischen Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen zunehmen, sobald es um Spenden geht. Bessere Vorschläge zugunsten gemeinnütziger Vereine, zum Beispiel aus sozialdemokratisch regierten Ländern wie Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Schleswig-Holstein, wurden ausgeschlagen. Die PDS wird sich an dieser Stelle enthalten, zumindest mehrheitlich. Drittens zum Strafverfahrensänderungsgesetz. Es wurde schon auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahre 1983 verwiesen. Seit dieser Entscheidung wurde trotzdem von der Polizei alles gesammelt und erfasst, was zu erfassen war. Insbesondere die CDU/CSU hat immer wieder dafür plädiert, eine effiziente Strafverfolgung höher zu gewichten als Bürgerrechte und Datenschutz. Auch im vorliegenden Kompromiss wird einem starken Staat der Vorzug gegenüber den Bürgerrechten gegeben. Das lehnen wir ab. Um mit Franklin zu sprechen: Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren. Viertens zum Fernabsatzvertragsgesetz. Im Kern geht es um Bestimmungen, die den Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern stärken sollen - so weit, so gut. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Wer über Versandhäuser oder im Internet Waren im Wert bis zu 40 Euro ordert und diese reklamieren will, muss für das Rückversandporto selbst aufkommen. Wenn also künftig meine Oma im Internet eine Bluse für 10 DM bestellt, die sich dann als zu groß oder als schadhaft erweist, dann darf sie den üblicherweise viel zu großen Karton für ein Porto von circa 10 DM zurückschicken. ({1}) - Ich habe den Text gelesen und zumindest das nachgeprüft, was mir möglich war. Sie waren ja nicht in der Lage, mir den Einblick in die Unterlagen zu ermöglichen. Also: Außer Spesen nichts gewesen; so heißt es zumindest im Volksmund. Real trifft es aber sozial Benachteiligte. Im Übrigen hat das der Einzelhandel heute schon moniert. Er meinte, es sei richtig, dass es sozial Benachteiligte treffe; es sollten aber alle getroffen werden, deshalb solle die Regelung unendlich ausgedehnt werden, wie ich dem Ticker entnehmen durfte. Das ist unsozial und wird zumindest unsere Zustimmung nicht finden. Danke schön. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Es wird, entgegen meiner Vermutung, keine Erklärung mehr gewünscht? So ist es. Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3525? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und zum Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderung gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3526? Ich sehe, dass alle zugestimmt haben. Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz über Fernabsatzverträge und andere Fragen des Verbraucherrechts sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3527? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen der F.D.P. und Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung von Stiftungen. Der Vermittlungsausschuss hat wiederum gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3528? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei gemischtem Abstimmungsverhalten, nämlich bei Enthaltungen und Gegenstimmen der PDS, ist die Beschlussempfehlung angenommen. ({0}) Damit ist ein weiterer Schritt auf dem Wege in die Bürgergesellschaft, zum Citoyen, erfolgt. Wir wollen aber jetzt nicht die französische Nationalhymne singen. Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur Zukunft der Bundesdruckerei und der mit ihrem Betrieb verbundenen hoheitlichen Aufgaben Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die traditionsreiche Bundesdruckerei in Berlin-Kreuzberg gehört mit ihren derzeit 2 250 Beschäftigten zu einem der größten Arbeitgeber in der Hauptstadt. Ihre Leistungen in der beruflichen Ausund Weiterbildung sind verdienstvoll und unverzichtbar. Die Bundesdruckerei hat sich zu einem innovativen Hightechunternehmen entwickelt, das mit Erfolg am Markt agiert. Alles scheint also zum Besten zu stehen. Nur in einem Punkt scheint das nicht so zu sein: Die Zukunft des Unternehmens, die der Arbeitsplätze und damit die der Beschäftigten ist nicht sicher. Deshalb hat sich die Belegschaft in der vergangenen Woche für einen massiven öffentlichen Protest vor dem Finanzministerium entschieden. ({0}) Die rot-grüne Bundesregierung ist fest entschlossen, ihre Geschäftsanteile an der wettbewerbsfähigen Druckerei GmbH komplett zu verkaufen, und zwar offensichtlich deshalb, um kurzfristig Geld in die Staatskasse zu spülen. Sie hat die Frankfurter Investmentbank Metzler beauftragt, bei der Suche von Käufern Unterstützung zu geben. Wie wir heute aus einer Antwort der Bundesregierung erfahren haben, gibt es inzwischen über 70 Gesellschaften, die ein erstes Erwerbsinteresse bekundet haben. Welche Vorgaben die Bundesregierung für dieses Bieterverfahren gemacht hat, hat sie bis heute niemandem, weder der Belegschaft noch den Parlamentariern, die danach gefragt haben, gesagt. Die Regierung schweigt sich trotz berechtigter Fragen der Beschäftigten aus. Worum geht es? Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Berlin und anderswo haben in den letzten Jahren wiederholt die Erfahrung machen müssen, dass die Veräußerung eines Unternehmens zu einer Verlagerung der Produktion und damit verbunden zu empfindlichen Verlusten von Arbeitsplätzen führte. Die Regierung will das bezüglich der Bundesdruckerei in ihrer jüngsten Antwort, die wir, wie gesagt, heute erhalten haben, nicht ausschließen. Sie erwartet - so wurde dort wörtlich formuliert - lediglich, dass die Investoren den Standort Berlin attraktiv einschätzen. Ich finde, das ist eine vage Hoffnung. Mit dieser vagen Hoffnung darf man die Belegschaft nicht noch weitere Monate im Ungewissen lassen. Wir erwarten, dass die Belegschaft im Hinblick auf die bestehenden Arbeits- und Ausbildungsplätze hier am Standort Berlin Sicherheit erhält. Sicherheit muss auch dahin gehend bestehen, wie die Differenz zwischen den tatsächlichen und den bilanzierten Versorgungsansprüchen - diese Differenz beträgt 249 Millionen DM - im Verkaufsprozess gedeckt werden soll. Klarheit muss ebenfalls über den weiteren Umgang mit den Tarifverträgen geschaffen werden. Ich halte es schlicht für skandalös - um es milde zu sagen -, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung den Beschäftigten der Bundesdruckerei über Monate hinweg Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag ausgeschlagen hat mit der Begründung, dass das Unternehmen verkauft werden soll. Erst in der jüngsten Zeit gibt es da eine gewisse Bewegung. Die Praxis zeigt aber, dass der neue Eigentümer alsbald Tarifverträge mit verschlechterten Bedingungen abschließt. Das steht auch hier zu befürchten. Daher sagen wir: Das muss schon im Anfangsstadium verhindert werden. Wir erwarten auch, dass das von den Beschäftigten gemeinsam mit Unternehmensberatern erarbeitete Belegschaftsmodell einer Selbstprivatisierung bei der weiteren Entwicklung der Bundesdruckerei nicht außen vor bleibt. Wohl auch weil wir dieses Thema mit dieser Aktuellen Stunde in eine breite Öffentlichkeit heben, will das Bankhaus Metzler in den nächsten Tagen ein Verkaufsmemorandum versenden, auf dessen Grundlage auch die Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes Angebot für eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben. In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen heißt es, dass man sich für eine verbesserte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital einsetzen will. Ich frage: Warum kann die Bundesregierung, die ein öffentliches Unternehmen privatisieren will, nicht hier damit beginnen, eine Mitarbeiterbeteiligung vorzusehen? ({1}) Sollen die Mitarbeiter immer nur bei maroden Unternehmen das Recht erhalten, sich zu beteiligen? Ich denke, hier kann man bei einem wettbewerbsfähigen Unternehmen den Anfang machen. Es hätte sich gehört, die Mitarbeiterbeteiligung von Anfang an in die Vorgaben zur Privatisierung aufzunehmen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit den Beschäftigten konstruktiv über deren Vorschläge auseinander zu setzen und Klarheit zu schaffen, wie mit den berechtigten sozialen Belangen umgegangen werden soll. Der Standort der Bundesdruckerei in Berlin muss im Interesse der Beschäftigten erhalten bleiben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Georg Wagner.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass ausgerechnet Sie, Frau Kollegin Luft, diesen Antrag der PDS begründen, verstehe ich gar nicht. Sie haben doch Gelegenheit gehabt, sich vor Ort zu informieren. Sie haben am 25. Januar eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Sie haben am 14. Februar eine Antwort der Bundesregierung bekommen. Wenn Sie Anfrage und Antwort einmal nachlesen, werden Sie sehr schnell feststellen, dass die von Ihnen vorgetragenen Befürchtungen keinen Bestand haben. Für unsere Fraktion sage ich Folgendes: Panikmache würden wir in dieser Phase für das Schlimmste halten. Sie haben fälschlicherweise den Eindruck erweckt, die Privatisierung würde jetzt erst beginnen. Die Bundesdruckerei ist aber schon am 1. Juli 1994 von der alten Bundesregierung privatisiert worden, und zwar durch Umwandlung in eine GmbH. Damals wurde die klare Aussage gemacht, man wolle weitere Beteiligte suchen. In Kontinuität zu dieser Aussage der alten Bundesregierung verfährt die heutige Bundesregierung. Deshalb sollten Sie jetzt nicht den Eindruck zu erwecken versuchen, als nehme die jetzige Bundesregierung eine Privatisierung vor. Das ist falsch. Meine Damen und Herren, in der Tat ist das Problem in Kreuzberg groß. Das wissen alle, die sich in Berlin auskennen. Dass man die Arbeitsplätze dort erhalten muss, ist selbstverständlich. Für mich, für die SPD und eigentlich auch für die Koalition ist klar, dass wir dem Erhalt der Arbeitsplätze in Kreuzberg höchste Priorität einräumen, ({0}) dass wir mit den Investoren darüber reden müssen, dass sie dann, wenn sie investieren wollen, in Berlin investieren müssen. Warum muss die Bundesdruckerei in privatisierter Form weiter ausgebaut werden? Der Grund ist: Sie ist allein nicht in der Lage, auf dem Weltmarkt zu agieren. Es kommen neue Märkte hinzu. Nur mit starken Partnern, die Investitionen tätigen, kann die Bundesdruckerei bestehen und auf die Vorgänge an den Märkten reagieren. Frau Kollegin Luft, Sie haben eben gesagt, die Beteiligung der Mitarbeiter am Produktivvermögen sei Sache der SPD. In der Tat wird das seit Jahrzehnten diskutiert. Sie haben es diskutiert, jeder hat es diskutiert, keiner hat es gemacht. Das ist wirklich wahr; denn in der Auseinandersetzung zwischen den Arbeitnehmervertretungen und den Arbeitgebervertretungen wurde niemals Einigkeit darüber erzielt, was man eigentlich machen will. Man redet zwar immer darüber; man macht aber nichts. Wenn die Belegschaft und Sie - das Modell liegt Ihnen wie mir vor - diese Beteiligung wollen, bedeutet das, dass Sie von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Lohnverzicht verlangen; Sie verlangen ferner zwecks Aufbringung des Anteils Verzicht auf das Urlaubsgeld; Sie verlangen Verzicht auf das Weihnachtsgeld. Das reicht alles immer noch nicht, um die Anteile zu finanzieren. Vielmehr muss das durch Darlehen aufgestockt werden. Das heißt also, jede Arbeitnehmerin, jeder Arbeitnehmer muss ein privates Darlehen aufnehmen, um den Anteil, der gefordert wird, zu erbringen. Das halte ich für fatal. Man muss andere Formen der Mitwirkung suchen. Übrigens werden alle gesetzlichen Regelungen der Mitbestimmung überhaupt nicht berührt, wenn der Verkauf erfolgt. Ferner steht in Ihrem Antrag, dass auch das Problem der hoheitlichen Aufgaben geregelt werden müsse. In der Tat: Das steht unmittelbar vor dem Abschluss. Die jetzige Bundesregierung hat das jahrelange Hin und Her beendet. Bundesinnenminister Schily hat verhandelt. In dieser WoDr. Christa Luft che wird ein Vertrag unterschrieben, der exakt diese Frage regelt, die, wie Sie wissen, für die Bundesrepublik Deutschland wichtig ist. Es geht um den Druck von Ausweisdokumenten, von Banknoten und die Herstellung von Chipkarten, wobei ja eine gewisse Sicherheit gegeben sein muss. Es gibt auch Privatfirmen, die diese Dinge ebenfalls drucken bzw. herstellen. Sie haben den gleichen Sicherheitsstandard wie die Bundesdruckerei. Sie werden ständig überprüft. Deshalb ist auch das kein Argument, mit dem man einer an sich vernünftigen Regelung widersprechen sollte. Die Schutzrechte zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeitnehmer werden durch diese Privatisierung nicht tangiert. Die Sicherheit der Arbeitsplätze ist für uns die Priorität Nummer eins; ich habe es eben schon gesagt. Weitere Investitionen hier in Berlin haben ebenfalls Priorität. Ich weiß genau, dass es etwa 70 Interessenten gibt, die bereit sind, hier einzusteigen, die aber nur Teile übernehmen wollen. Es gibt intelligente Menschen, die die Orga übernehmen wollen, den einzigen Teilbetrieb der Bundesdruckerei, der schwarze Zahlen schreibt. Den hätten sie gern und uns und den anderen möchten sie jene Teile ans Bein hängen, die rote Zahlen schreiben. Das kann auch nicht sein. Deshalb müssen wir die Entwicklung abwarten und sehen, wie sich das in den nächsten Tagen ergeben wird. Ich bin der Auffassung, man sollte den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das sagen, was ich ihnen in der Belegschaftsversammlung gesagt habe: Die Sozialdemokraten stehen für die Sicherheit der Arbeitsplätze und für künftige Investitionen hier in Berlin. Schönen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Manfred Kolbe.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Union hat immer für eine zielstrebige Privatisierungspolitik gestanden, aber auch für eine Privatisierungspolitik mit Augenmaß. Für uns bedeutet Privatisierung wirtschaftliche Dynamik. Privatisierung erschließt ungenutzte Wachstums- und Beschäftigungsspielräume. Privatisierung ermöglicht den Abbau der Staatsverschuldung. Privatisierung schafft zusätzlichen Wettbewerb und Privatisierung sichert damit auch den Verbrauchern marktgerechte Preise. Die Union steht deshalb für eine zielstrebige Privatisierung. ({0}) Das beste Beispiel ist der Telekommunikationsbereich. Wir haben gegen viele Widerstände Anfang der 90erJahre im Telekommunikationsbereich privatisiert ({1}) - gemeinsam als Bundesregierung, Herr Niebel -, mit der Folge, dass die Telekommunikation expandiert ist und die Preise für den Verbraucher gesenkt worden sind. Sie von der jetzigen Koalition haben uns immer nur vorgeworfen, dass wir das Tafelsilber verscherbeln würden - jahrelang haben wir uns das im Haushaltsausschuss angehört -, und jetzt fahren Sie den entgegengesetzten Kurs. Sie werden in diesem Jahr wahrscheinlich Privatisierungserlöse in einer Höhe haben, die wir uns - das sage ich ein bisschen neidvoll - niemals hätten träumen lassen. Sie fahren also einen absolut widerspruchsvollen Kurs. ({2}) Das ist so ähnlich wie bei der Rente. Unser „demographischer Faktor“, der das Rentenniveau maßvoll von 70 auf 64 Prozent des letzten Verdienstes abgesenkt hätte, war für Sie das „Ende des Sozialstaats“. Jetzt senken Sie das Rentenniveau wesentlich stärker, nämlich von 70 auf 54 Prozent, nennen das „Ausgleichsfaktor“ und jetzt soll es die Lösung aller Rentenprobleme sein! ({3}) Eine ähnliche Doppelstrategie fahren Sie bei der Privatisierung, auch bei der Bundesdruckerei. Denn gerade bei der Bundesdruckerei haben wir eine erfolgreiche Privatisierung mit Augenmaß betrieben. Bis 1994 war die Bundesdruckerei eine Behörde. Sie war ein rechtlich unselbstständiger Teil der Bundesverwaltung unter der Dienstaufsicht des Bundespostministers. Wir haben die Bundesdruckerei zum 1. Juli 1994 in eine GmbH umgewandelt, die zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes steht. Wir haben die Schulden abgebaut. 131 Millionen DM sind in die Bundesdruckerei investiert worden. Sie ist heute ein hoch innovativer HightechBetrieb. Er hat auch einen schmerzlichen Personalabbau zu verkraften gehabt. Damals gab es dort 4 000 Arbeitnehmer, jetzt sind es noch 2 200. Heute macht die Bundesdruckerei Gewinn. Das war eine Privatisierung mit Augenmaß. ({4}) Wir haben damals auch einen Kabinettsbeschluss gefasst, nach dem bei einer weiteren Kapitalprivatisierung - das haben Sie zu erwähnen vergessen, Herr Wagner; deshalb trage ich es jetzt vor - nicht mehr als 49 Prozent der Anteile zu privatisieren und an keinen weiteren Investor mehr als 25 Prozent der Anteile abzugeben sind. Warum? - Damit sichergestellt ist, dass die Bundesrepublik in diesem hoheitlichen Bereich - in der Bundesdruckerei werden Pässe, Personalausweise, Visa und Banknoten gedruckt - den notwendigen Einfluss behält, der im Hinblick auf sicherheitsrelevante Belange notwendig ist. Das war eine Privatisierung mit Augenmaß. Was haben Sie jetzt vor? - Wir können nur Mutmaßungen anstellen. Auch Sie, Herr Wagner, haben sich um eine klare Aussage gedrückt. Wollen Sie mehr als 49 Prozent der Anteile privatisieren oder nicht? Das möchten wir hier im Deutschen Bundestag schon gern erfahren. Vielleicht erfahren wir es nachher von Ihnen, Frau Hendricks. Das interessiert dieses Haus jedenfalls. ({5}) Dem „Bundesanzeiger“ können wir nur entnehmen, dass „die Anteile“ zu privatisieren sind. Das lässt zunächst auf eine Totalprivatisierung schließen. Das Bundesfinanzministerium ist bisher nicht zu weiteren Informationen bereit. Die Belegschaft wird nicht informiert. Selbst dem Aufsichtsrat der Bundesdruckerei werden die notwendigen Informationen vorenthalten. Das kann so nicht weitergehen. Wir als Parlamentarier wollen in dieser Aktuellen Stunde aufgeklärt werden, wie Sie sich den weiteren Gang der Dinge vorstellen und in welchem Umfang Sie privatisieren wollen. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal den Standpunkt der Unionsfraktion zusammenfassen: Erstens sind wir für einen zielstrebigen Privatisierungskurs. Wir haben das während unserer Regierungszeit unter Beweis gestellt. Wir müssen aber zweitens darauf Rücksicht nehmen, dass in der Bundesdruckerei auch hoheitliche und sicherheitsrelevante Tätigkeiten verrichtet werden. Drittens meinen wir, dass es nicht angeht, Mitarbeiter in der Art und Weise außen vor zu lassen, wie es im Augenblick geschieht. Danke. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe am letzten Mittwoch, also vor einer guten Woche, selber an der Demonstration von der Bundesdruckerei zum Bundesfinanzministerium teilgenommen und anschließend auf der Kundgebung, die vor dem Bundesfinanzministerium stattfand, auch geredet. ({0}) - Nein, nein, ich habe mit der Belegschaft demonstriert ({1}) und auf Einladung des Betriebsratsvorsitzenden auf der anschließenden Kundgebung reden dürfen. Dort habe ich der Belegschaft versichert, dass wir ihre Befürchtungen ernst nehmen, dass sie bei den Bündnisgrünen gute und verlässliche Partner hat ({2}) und dass wir die Vorstellungen, die die Belegschaft entwickelt hat, so ernst nehmen, dass sie einer ernsthaften Überprüfung durch das Ministerium und auch einer ernsthaften Diskussion hier im Deutschen Bundestag zugeführt werden. Auch Vertreter der anderen Parteien aus Berlin, etwa der CDU, haben dort reden dürfen. Sie haben sich sehr stark dafür gemacht, dass eine Privatisierung in der Form, wie sie vorgesehen ist, dort nicht stattfinden soll. Ich bin gespannt, wie sie dann hier im Deutschen Bundestag darüber abstimmen werden. Die Befürchtungen sind gerechtfertigt. Die Bundesdruckerei - darauf ist hingewiesen worden - war ursprünglich ein Bundesunternehmen und ist 1994 privatisiert und zu einer GmbH gemacht worden. Seither hat dort ein Sanierungsprozess stattgefunden - das darf man nicht vergessen -, bei dem 30 Prozent der Arbeitsplätze, die es dort einmal gegeben hat, abgebaut worden sind. Das heißt, dieses Unternehmen hat unendlich viel - wie schwierig das ist, weiß jeder, der einmal in einer solchen Situation gewesen ist - dazu beigetragen und geleistet, dass aus ihm ein rentabler Betrieb gemacht wurde, der insgesamt seit letztem Jahr schwarze Zahlen schreibt. Das ist ein großer Erfolg, und ich glaube, wir können der Belegschaft dort nur dazu gratulieren, dass sie das hinbekommen hat. Wir dürfen es auf gar keinen Fall zulassen, dass die Belegschaft und die Geschäftsführung dadurch bestraft werden, dass wir nun den Betrieb verkaufen und es vielleicht zu einer Zerschlagung des Unternehmens kommt, wenn die profitablen Teile herausgenommen werden, der Betrieb der anderen möglicherweise eingestellt wird und dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden. Die Bundesdruckerei ist im Bezirk Kreuzberg - das ist mein Wahlkreis - der wichtigste und größte Arbeitgeber. Es wäre eine Katastrophe für diesen Bezirk, der ohnehin unter der höchsten Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt leidet, wenn dieser zentrale Arbeitgeber nicht mehr in Berlin beschäftigen würde. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist - das geben die Belegschaft und der Betriebsrat auch zu bedenken; deshalb haben sie sich über Beteiligungs- und Alternativformen der Bewirtschaftung durchaus Gedanken gemacht - der europaweite Wettbewerb. Das heißt, wenn der Euro in zwei Jahren gedruckt wird, muss das nicht unbedingt bei der Bundesdruckerei geschehen, sondern die Auftragsvergabe wird im freien Anbieterwettbewerb entschieden. Vielleicht wird er auf Sizilien billiger und möglicherweise genauso sicher gedruckt wie in Berlin-Kreuzberg. Dann ergibt sich daraus ein Problem. Daraus folgt, der Betrieb muss weiterentwickelt werden. Dabei ist vor allen Dingen der Betriebsteil Orga-Kartensystem ein sehr hoffnungsvoller Ansatz, der durch weitere Investitionen gefördert werden muss. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass ein Investor gesucht wird. Das sieht auch die Belegschaft so und auch der Betriebsrat macht dabei mit. Das sollen wir fördern. Wir müssen allerdings sicherstellen, dass der Standort gewahrt bleibt. Es kann nicht sein, dass die Hauptproduktion in Zweigbetriebe, wie jetzt nach Neu-Isenburg, verlagert wird. Es muss ein nur wenige Kilometer von hier angesiedelter Standort bleiben, bei dem ein Teil der Berliner Bevölkerung Arbeit findet. Es muss ein Arbeitgeber bleiben, bei dem nicht nur die Arbeitsplätze in diesem und im nächsten Jahr gesichert sind, sondern auch in fünf oder zehn Jahren, wenn dort keine Ausweise oder Reisepässe in der heutigen Form mehr produziert werden, sondern wenn Alternativen, etwa kleinere Chipkarten oder ÄhnliManfred Kolbe ches, hergestellt werden. Auch dann müssen sie konkurrenzfähig sein. Das muss sichergestellt werden. Ich denke deshalb, wir sind auf einem richtigen und guten Weg, wenn wir dem Betriebsrat sagen: Legt eure Konzepte vor, sie werden vom Finanzministerium geprüft! Legt eure Vorschläge für eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Produktion und den Entscheidungsprozessen vor! Wir garantieren euch, dass sie genau geprüft werden und dass angesichts des Risikos, das mit einer Veräußerung oder der Beteiligung eines Großinvestors immer verbunden ist, sichergestellt wird, dass auf absehbare Zeit keinerlei Risiken für die Arbeitnehmer und den Standort in der Stadt eintreten. Wenn wir das tun, handeln wir verantwortlich. Dann können sich dieser Betrieb und möglicherweise auch andere Bundesbetriebe oder ehemalige Bundesbetriebe solche Demonstrationen sparen, weil sie wissen, ihre Angelegenheiten sind bei der rot-grünen Koalition gut aufgehoben. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass ein Betrieb wie die Bundesdruckerei privatisiert wird, liegt im Interesse der Mitarbeiter. ({0}) - Im Interesse der Mitarbeiter, nicht in meinem Interesse. ({1}) Wenn Sie einmal nicht auf Panik machen und nicht in billiger Weise auf Stimmenfang gehen, werden Sie das auch nachvollziehen können, meine Damen und Herren von der PDS. Ich sage Ihnen Folgendes: In der Bundesdruckerei werden in klassischer Form Dokumente gedruckt, überwiegend Briefmarken, Ausweise, Wertpapiere und andere Urkunden. Wer ein wenig um sich schaut, weiß, dass dieses Geschäft erheblich zurückgeht. Es wird zwar immer wieder Dokumentendruck geben; dass in Zukunft aber noch viele Briefmarken gedruckt werden, kann ich mir nicht vorstellen. Das Geschäft geht zurück. Das Dokumentengeschäft - das hat auch Herr Ströbele eben gesagt - entwickelt sich zu einem elektronischen Geschäft. Es werden ganz andere Techniken verlangt. In einem solchen Betrieb wird es eine ganz andere Art der Mitarbeit geben müssen. Dies müsste zu einer Umorientierung mit Auswirkungen für die Mitarbeiter führen. Für eine Investition in dieses elektronische Dokumentengeschäft steht genügend privates Kapital zur Verfügung. Ich sehe daher nicht ein, warum der Staat in dieses Geschäft investieren soll, wenn andere, die dort Erfahrung haben und das Kapital bereitstellen können, das viel besser machen können als der Staat. ({2}) Das ist die klare Konsequenz, der sich auch niemand verschließen kann. Die Privatisierung und das Überführen in ein neues Geschäftsfeld sind das Normalste der Welt und das Beste für die Mitarbeiter. ({3}) Nun muss man das natürlich ordentlich machen. Ich sage noch einmal etwas zur PDS und ihren Sicherheitsbedenken. Das ist Unsinn. Als ob nicht schon Private Dokumente und auch hochsensible Dinge druckten. Dafür gibt es Gesetze und man kann Verträge abschließen. Im Übrigen liegen vertrauliche Daten bei Krankenkassen, also privaten Einrichtungen, bei Ärzten, Luftfahrtgesellschaften und Hotels. Überall gibt es vertrauliche Unterlagen und Daten. Diese sind geschützt. Wenn sie nicht geschützt werden, kann man dies ahnden. Das ist überhaupt nur ein herbeigeholtes Argument. Aber jetzt geht es um die Arbeitsplätze und die Form der Privatisierung. Das Bundesfinanzministerium führt über eine eingeschaltete Investmentbank Verhandlungen und Gespräche mit einer Reihe von privaten Interessenten. Das ist okay. Aber ich wünsche mir und stelle mir vor, dass man bei diesen Gesprächen und Überlegungen eben nicht nur fiskalische Aspekte im Sinn hat, dass man nicht nur möglichst schnell einen Erlös erzielen will. Sie haben ja bereits einen erwarteten Veräußerungserlös in Höhe von etwa 800 Millionen bis 1 Milliarde DM in den Bundeshaushalt eingestellt. Ich sage Ihnen: Lassen Sie uns das mit sehr viel Sachverstand angehen. Ich würde auch eine Überlegung ins Auge fassen, die darauf hinausläuft, dass man das Unternehmen in gewisser Weise neu strukturiert und rationalisiert sowie einen Börsengang macht. Ein Börsengang würde für den Fiskus viel höhere Erlöse, eine viel höhere Kapitalisierung als eine rasche und möglicherweise unglückliche Veräußerung an ein, zwei oder drei Interessenten bringen. Ich kann das so jetzt nicht entscheiden; aber dieser Vorschlag beruht auf den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren in Deutschland gemacht haben. Ein Börsengang wäre auch eine gute Möglichkeit, eine interessante Form der Mitarbeiterbeteiligung umzusetzen. ({4}) Die Mitarbeiter könnten einen Bonus bekommen, könnten die Aktien, die Anteile zu günstigeren Konditionen als andere Aktionäre erwerben. Das ist ernsthaft zu prüfen. Ich glaube aber, man schiebt das einfach vom Tisch, da man schnell einen Erlös erzielen will. Das, was hier von Rot-Grün gemacht wird, ist keine verantwortungsvolle Politik. Die Gewerkschaften und Mitarbeiter möchten, dass nach Möglichkeit nur 49 Prozent privatisiert werden, sie selbst eine Sperrminorität von 25,1 Prozent bekommen und die Aktien, die sie erhalten, durch Abstriche am Haustarif bezahlt werden. Der Haustarif ist im Übrigen schon höher als der normale Tarif im Druckgewerbe. Auch das muss man sehen. Frau Luft, hier darf man nicht polemisieren, sondern muss die Dinge in der richtigen Relation sehen. Ich rege also an, eine Form der Mitarbeiterbeteiligung zu finden, wie sie heute üblich geworden ist, im Interesse der Mitarbeiter und zu guten Konditionen - es muss natürlich eine mehrheitliche unternehmerische Führung möglich sein -, und anders, als Sie es jetzt tun, Frau Hendricks, einen Börsengang ins Auge zu fassen. Das Unternehmen würde eine Kapitalisierung bekommen, die weit über das hinausginge, was meiner Meinung nach bei einer Einzelveräußerung zu erzielen ist. Dies wiederum stünde zur Verfügung, um zu investieren. Diese Investitionen sind geeignet, Arbeitsplätze in diesem Unternehmen in BerlinKreuzberg zu sichern. Also gehen Sie mit Sachverstand und nicht fiskalisch daran und schon gar nicht ideologisch und billig, auf Panikmache ausgelegt sowie darauf bedacht, bei den Mitarbeitern, die natürlich Angst um ihre Arbeitsplätze haben, Punkte zu machen. Die Dinge müssen verantwortungsvoll und nicht nur mit dem Ziel angegangen werden, dass man Stimmen absahnen will. Das ist unsere Auffassung. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks das Wort.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Auffassung der Bundesregierung zur Zukunft der Bundesdruckerei GmbH ist geprägt von den Erfordernissen der Zukunftssicherung des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze. Aufgrund der Entwicklungen auf den wichtigsten Märkten der Bundesdruckerei - Herr Kollege Ströbele hat das bereits dargestellt - ist für sie der Ausbau strategischer Partnerschaften zur Unterstützung der weiteren Entwicklung der Gesellschaft und zur Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze unverzichtbar. Das ist auch - ganz im Gegensatz zu dem, was Sie uns unterstellen, Herr Rexrodt - der Grund, warum wir keinen Börsengang planen. Wir wollen eine strategische Partnerschaft bilden und eben nicht einfach nur an der Börse Kasse machen. Ginge man rein fiskalisch damit um, würde man an der Börse Kasse machen und hätte keinen strategischen Partner für die Weiterentwicklung des Unternehmens. ({0}) Uns geht es um einen strategischen Partner für die Weiterentwicklung des Unternehmens. ({1}) Der Bund hat sich in diesem Zusammenhang, wie gesagt, für die Privatisierung der Bundesdruckerei entschieden, eben um diese strategische Partnerschaft für die Zukunft zu gewährleisten. Der Zeitpunkt für diesen Schritt ist im Übrigen günstig, da in den wichtigsten Märkten der Bundesdruckerei Konsolidierungsprozesse ablaufen, die dem Unternehmen die Chance eröffnen, gemeinsam mit Partnern, die auch Erfahrungen in diesen Geschäftsfeldern haben, international eines der marktführenden Unternehmen zu werden. Der Bund hat nach Durchführung eines breit angelegten Wettbewerbsverfahrens die Frankfurter Investmentbank Metzler damit beauftragt, ihn bei der Partnersuche zu unterstützen. Die Privatisierung soll im laufenden Jahr abgeschlossen werden. Aktuell hat das Bankhaus Metzler ein Verkaufsmemorandum erstellt, auf dessen Grundlage auch die Arbeitnehmer gebeten werden, ein konkretes Angebot für eine Mitarbeiterbeteiligung abzugeben. Es ist also nicht so, dass wir dies ausschließen wollten. Wenn Frau Kollegin Luft davon sprach, dass es keine Tarifverhandlungen gegeben habe, so ist festzustellen: Selbstverständlich hat die Bundesregierung keine Tarifverhandlungen geführt. Da es sich um einen Haustarifvertrag handelt, hat natürlich die Geschäftsführung der GmbH mit dem Betriebsrat Tarifverhandlungen geführt und jetzt auch ein Angebot unterbreitet, wie die Mitarbeiterbeteiligung im Rahmen eines Tarifvertrages gewährleistet werden kann, wenn die Mitarbeiter es denn wollen. Es ist ja die Frage, ob sie das wollen. Das Bankhaus Metzler hat dies ausdrücklich in sein Angebot mit aufgenommen. Dieses Konzept wird dann in Verhandlungen mit potenziellen Kaufinteressenten einbezogen. Derzeit wird noch mit etwa 70 Gesellschaften gesprochen, die ein erstes Erwerbsinteresse bekundet haben. Dabei wird es natürlich nicht bleiben. Bei der Umsetzung des Vorhabens haben die sicherheitspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Datenschutz selbstverständlich höchste Priorität. Kollege Wagner hat schon darauf hingewiesen: Es gibt schon heute in der Bundesrepublik Deutschland ein zweites Unternehmen, das seit mehr als 40 Jahren Banknoten druckt, natürlich zur vollständigen Zufriedenheit hinsichtlich der Sicherheit. Sonst hätten wir das nicht seit mehr als 40 Jahren so handhaben können. Diese sicherheitspolitischen Interessen sind also auch dann gewährleistet. Das Bundesfinanzministerium und die Bundesdruckerei führen darüber zurzeit Gespräche mit dem zuständigen Bundesinnenministerium. Wir stehen kurz vor einem Abschluss. In einem noch abzuschließenden Vertrag sollen dann unter anderem die Anfertigung und Auslieferung der von der Bundesdruckerei herzustellenden Personaldokumente sowie Aufsichts- und Weisungsrechte des Bundesministeriums des Innern geregelt werden. Die Bundesdruckerei kann auch nach der Veräußerung ihre Aufgaben wie bisher erfüllen. Sie ist ja bisher - das wurde bereits gesagt Dr. Günter Rexrodt schon seit Juni 1994 durch Umwandlung zur GmbH in einer privaten Rechtsform tätig. Soweit die Bundesdruckerei in den vergangenen Jahren für hoheitliche Aufgabenerfüllung tätig und insbesondere für drucktechnische Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen wurde, war sie als so genannter technischer Verwaltungshelfer beauftragt und wurde von der zuständigen Stelle überwacht. Diese Möglichkeiten der Beauftragung der Bundesdruckerei ändern sich durch die Veräußerung der Kapitalanteile des Bundes an der Bundesdruckerei nicht. Zum Thema Datenschutz möchte ich im Übrigen feststellen, dass die gesetzlichen Regelungen zur Sicherung der datenschutzrechtlichen Belange natürlich auch für eine veräußerte Bundesdruckerei fortgelten. Die vom Bund angestrebte Privatisierung der Bundesdruckerei dient in einem sich rasant wandelnden Markt der nachhaltigen Sicherung des Unternehmens und der Arbeitsplätze. Die Einbindung privater Investoren wird selbstverständlich auch in Regelungen zu Arbeitnehmerrechten eingebettet sein. Grundsätzlich ist festzustellen: Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der Bundesdruckerei greift nicht in die bestehenden arbeitsvertraglichen Verhältnisse zwischen dem Unternehmen und seinen Arbeitnehmern ein. Es besteht ein gesetzliches Schutzsystem zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeitnehmer eines Unternehmens. Insbesondere gelten die Bestimmungen eines Tarifvertrages so lange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Eine solche Ersetzung ist ohne Zustimmung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter nicht möglich. Ich bitte, dies bei all den Aufregungen, die es bisher gegeben hat, zu bedenken. Ich bin ja mittlerweile an die regelmäßigen Demonstrationen der Belegschaft der Bundesdruckerei vor dem Bundesfinanzministerium gewöhnt. Ich bitte, gewissermaßen aus diesem Haus heraus nicht für weitere Unruhe zu sorgen, sondern mit Gelassenheit die Angebote zu prüfen, die die privatisierte Bundesdruckerei im weiteren Prozess den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern machen wird, sowie die Ausrichtung auf eine strategische Partnerschaft zu Sicherung des Unternehmens, der Arbeitsplätze und der Marktposition im Auge zu behalten. Abschließend möchte ich noch etwas Ungewöhnliches sagen: Ich bitte um Entschuldigung, aber meine Nichte steht vor der Tür. Ich hole sie jetzt in den Plenarsaal und bin dann gleich wieder hier. ({2}) Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, das versteht jeder. Wir sind gespannt auf die Nichte. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias.

Siegfried Helias (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003144, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde der Nichte auch gerne guten Tag sagen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Mitarbeitern des Finanzministeriums müssten an sich die Ohren geklungen haben. Den ganzen Mai über hielten die Beschäftigten der Bundesdruckerei eine Mahnwache vor ihren Toren ab, und zwar nicht mit Pauke, aber mit Trompete. Offensichtlich wurde aber der richtige Ton nicht getroffen oder der Betriebsrat der Bundesdruckerei traf mit seinen Forderungen auf taube Ohren. Dabei forderte er nicht mehr und nicht weniger als die Umsetzung des von meinem Kollegen Kolbe bereits genannten Beschlusses der Regierung Kohl, bei einer Kapitalprivatisierung der Bundesdruckerei nicht mehr als 49,9 Prozent zu privatisieren und davon nicht mehr als 25 Prozent in eine Hand zu geben. Im Gegensatz zu manchen anderen Rednern - zum Beispiel dem Kollegen Rexrodt - sehe ich aus hoheitlicher Sicht sehr wohl Aufgaben, die datenschutzrechtliche Belange berühren. Man kann, Herr Dr. Rexrodt, Hoteldaten nicht mit Nato-Flugplänen vergleichen. Beispielsweise hat auch der Druck aller Steuerzeichen und Asylbescheinigungen eine hohe sicherheitspolitische Relevanz, die der Bund nicht völlig außer Acht lassen darf. Es gibt aber auch handfeste finanzielle Gründe dafür, sich an den ehemaligen Kabinettsbeschluss zu halten. Die Bundesdruckerei ist finanziell gesund, hat alle Schulden abgebaut und alle Investitionen der letzten Jahre aus eigenen Mitteln finanzieren können. Was macht die Bundesregierung? - Sie schlachtet das Huhn, das goldene Eier legt. Wenn sie dies schon tut, sollte sie wenigstens die Beschäftigten der Bundesdruckerei zu Tisch bitten; zumal dann, wenn der Bundesfinanzminister sie dazu indirekt ermutigt. Ich zitiere zu diesem Punkt Hans Eichel. Er sagte im „Spiegel“ vom 10. Januar 2000: Ein Unternehmen wird zufriedene Kunden nur bekommen und gute Leistungen bringen, wenn es zufriedene Mitarbeiter hat. Recht hat er. Weiter sagte er: Deswegen finde ich alle Arten von Mitarbeiterbeteiligungen wichtig. Ich bin strikt dagegen, dass es nur Aktienoptionspläne für die Chefs gibt und für leitende Mitarbeiter, ich bin für eine breite Beteiligung der Belegschaft. Dichtung und Wahrheit! Die Wahrheit ist: Das Finanzministerium und damit die gesamte Regierung drücken sich um die Verantwortung. So erklärte Finanzstaatssekretär Overhaus im Frühjahr dieses Jahres, die Beschäftigten sollten mit den Konzernen, Banken und Fondsgesellschaften mitbieten. Herr Overhaus nennt dies „Transparenz und Gleichbehandlung der Bieter“. Das ist soweit in Ordnung; nur ist es absolut lächerlich, wenn die Mitarbeiter überhaupt keine Informationen erhalten. Es ist nicht zu vertreten, wenn das verkaufsbegleitende Bankhaus Metzler, von dem die Rede war, ein Memorandum erstellt, es aber den Mitarbeitern nicht zur Verfügung stellt. Hier, Frau Dr. Hendricks, muss ich Ihnen ganz nachdrücklich widersprechen. Bis zum heutigen Tage Stand 16.30 Uhr - hat der Betriebsrat, haben die Mitarbeiter keinerlei Informationen, haben sie kein verkaufsbegleitendes Memorandum erhalten. Ich bitte Sie, richtig zu stellen, ob ich mich irre oder ob Sie - gegebenenfalls in Unkenntnis der Tatsache - etwas Falsches gesagt haben. Das erste Bieterverfahren der Interessenten wurde am 5. Juni diesen Jahres abgeschlossen. Ich halte noch einmal ausdrücklich fest: Die Mitarbeiter haben keinerlei Informationen bekommen und sind auch sonst in keiner Weise an den Verkaufsverhandlungen beteiligt worden. So sieht der Umgang der Bundesregierung mit den Beschäftigten der Bundesdruckerei tatsächlich aus. Betriebsrat und die über 2 000 Beschäftigten der Bundesdruckerei sind keine Totalblockierer. Sie wollen aber an der Zukunft ihres Unternehmens angemessen beteiligt werden. Sie fordern unter anderem: kein Verkauf im Eilverfahren, keine Zerschlagung der Bundesdruckerei, Sicherung der Standorte und Sicherung der erworbenen Rechte. Dies sind Punkte, die man, wie ich meine, unterstreichen kann. Die Mitarbeiter der Bundesdruckerei sind engagiert, sie sind couragiert und sie sind verantwortungsbewusst. Sie haben verdient, Frau Dr. Hendricks, dass man ihnen zuhört. Alles andere ist im wahrsten Sinne des Wortes unerhört. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Siegrun Klemmer.

Siegrun Klemmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesdruckerei ist mit der Umwandlung in eine GmbH im Juni 1994, die aus der traditionsreichen Druckerei ein innovatives Hightech-Unternehmen gemacht hat, das erfolgreich am Markt operiert, gut gefahren. So hat sich der Umsatz von 1993 bis 1999 fast verdoppelt. Durch Investitionen und sozialverträgliche Rationalisierungsmaßnahmen konnte eine stabile Grundlage künftiger Gewinnentwicklung geschaffen werden. Nicht zuletzt diese Investitionen - auch die des Bundes - zusammen mit dem Engagement von Geschäftsleitung und Belegschaft haben diese erfolgreiche Entwicklung ermöglicht und der Bundesdruckerei zu einer hervorragenden Startposition im internationalen Wettbewerb verholfen. Im Moment stehen Überlegungen für eine zweite Phase der Privatisierung im Raum. Für die SPD-Fraktion ist selbstverständlich von Anfang an klar gewesen, dass der Erhalt der Arbeitsplätze an allen Standorten und die Zukunftssicherung des Unternehmens oberste Priorität besitzen. Mit uns ist eine Zerschlagung des Unternehmens ebenso wenig zu machen wie die Aufgabe einzelner Produktionsstandorte. ({0}) Auch der besonders ertragreiche Unternehmensbereich Orga darf bei einer Privatisierung auf keinen Fall als Solitär aus dem Unternehmen herausgelöst werden. Klar ist aber auch: Eine Beibehaltung des Status quo würde nicht zuletzt der Bundesdruckerei selbst und vor allen Dingen den Beschäftigten schaden. Die sich verschärfenden europäischen und weltweiten Wettbewerbsbedingungen fordern eine strategische Investitionspolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie alle wissen, dass der Bund die Kosten dafür in Zukunft nicht wird übernehmen können. ({1}) Wem es um die Sicherung der Arbeitsplätze geht, muss der Bundesdruckerei einen starken Partner wünschen, mit dem der eingeschlagene Weg fortgeführt werden kann. Dass die Frankfurter Investmentbank Metzler ein so großes Interesse in- und ausländischer Investoren ausgemacht hat, stärkt die Verhandlungsposition des Bundes und damit die der Bundesdruckerei außerordentlich. Die Bedingungen für eine Veräußerung müssen erstens der Erhalt und Ausbau der Arbeitsplätze, zweitens die Sicherung aller Standorte, drittens die Beibehaltung der Zahl der Auszubildenden, viertens der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, ({2}) fünftens die Wahrung der Arbeitnehmerrechte und sechstens die Übernahme der Versorgungsverpflichtungen sein. ({3}) Wir wünschen uns - das ist an die Adresse des Finanzministeriums gerichtet -, dass die Beschäftigten in Zukunft besser informiert werden. ({4}) Neuinvestitionen sollten vor allen Dingen dem Hauptstandort Berlin zugute kommen. In Berlin zählt die Bundesdruckerei mit ihren 2 085 Beschäftigten - das ist schon erwähnt worden - zu den zehn größten Industriebetrieben der Stadt. Mit knapp über 2 000 Beschäftigten einer der zehn größten Industriebetriebe der Stadt! Mit derzeit 70 Auszubildenden ist die Bundesdruckerei der größte Ausbilder der Druckindustrie in der Region Berlin-Brandenburg. Diese Region hat seit dem Fall der Mauer nahezu die Hälfte der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren. Die Bundesdruckerei ist mit ihren qualifizierten und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einem unverzichtbaren Teil einer positiven Entwicklung in dieser Region geworden. Diese Region hat seit der Wiedervereinigung - das darf immer noch erwähnt werden - mit erheblichen strukturellen Veränderungen zu kämpfen. 40 Prozent der Belegschaft der Bundesdruckerei wohnen in Kreuzberg. Das ist in Berlin der Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind Frauen. Auch deswegen muss der Standort Kreuzberg als Zentrale und Hauptproduktionsstätte erhalten bleiben. ({5}) Ich habe in der heutigen Debatte mitunter den Eindruck gewonnen, wir würden uns heute für den Verkauf oder gar für einen bestimmten Investor entscheiden. Das ist natürlich nicht der Fall. Erst dann, wenn dem Deutschen Bundestag ein akzeptables Angebot vorliegt - ein solches Angebot liegt natürlich zuerst dem Finanzministerium vor; aber ich gehe davon aus, dass auch der Haushaltsausschuss an der Entscheidung beteiligt sein wird -, wird eine Entscheidung fallen und wird allen Beschäftigten der Bundesdruckerei eine realistische Option auf eine gute Zukunft eröffnet werden können. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Ich möchte die letzten Worte der Kollegin Klemmer gleich aufnehmen: Natürlich geht es heute nicht um den Verkauf der Bundesdruckerei. Worum geht es heute? Es geht um einen Vorgang, der alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik angeht, und zwar nicht nur deshalb, weil es um den Datenschutz geht. Der Kollege Helias hat die datenschutzrelevanten Produkte dieses Unternehmens aufgezählt, die weit über Personalausweis, Fahrerlaubnis und über das, was man sonst noch alles im Leben erwirbt, hinausgehen. Es geht um eine Belegschaft, die bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, die politisch agiert und zumindest bisher von der Bundesregierung links liegen gelassen wurde. ({0}) Es geht aus meiner Sicht um eine Regierung, die sich unpolitisch - als schlechter Kassenwart darstellt und die obendrein - das müssen Sie sich sagen lassen; Sie sind vorhin eine Antwort schuldig geblieben - mit Tricks und mit Halbwahrheiten operiert. Das werde ich Ihnen gleich beweisen. Beispiel Datenschutz und hoheitliche Aufgaben: Die Bundesregierung antwortet auch heute, hoheitliche Aufgaben könnten wie bisher, von der zuständigen Stelle überwacht, erfüllt werden. Unter datenschutzrechtlichen Aspekten sei die Bundesdruckerei zwar sensibel, aber die datenschutzrechtlichen Vorschriften würden auch für eine veräußerte Bundesdruckerei uneingeschränkt weitergelten. Außerdem würden alle Aspekte des Datenschutzes und der allgemeinen Sicherheitsbelange des Bundes mit dem federführenden Bundesministerium des Innern abgestimmt. Alle drei Antworten sind zumindest nachfragewürdig, gerade weil sie für alle Bürgerinnen und Bürger hochsensibel sind; denn dass die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben entsprechenden Kontrollen unterliegen muss, ist ein Allgemeinplatz. Es bleibt vielmehr zu bedenken - und zwar vor dem Verkauf -, dass der Bund mit seinem Totalausscheiden auch seinen unternehmerischen Einfluss preisgibt, was nicht ausschließt, dass sich über kurz oder lang auch die Unternehmensphilosophie ändern kann. Interessierte Verlagshäuser haben sich dazu geäußert. Die „beruhigenden“ Antworten zum Datenschutz beunruhigen mich aus mehreren Gründen: Zum einen wissen wir aus dem Büro des Datenschutzbeauftragten, dass unsere Bedenken von ihm durchaus geteilt werden. Zweitens hat sich nach unseren Informationen der Datenschutzbeauftragte vor Wochen an die Bundesregierung gewandt, um entsprechende Informationen zur geplanten Privatisierung zu erhalten und um Ihnen, so wie ich ihn kenne, Ratschläge zu geben, damit wir an dieser Stelle nicht nachbessern müssen. Das heißt - drittens -, die Bundesregierung ist offensichtlich keineswegs von selbst an den Datenschutzbeauftragten herangetreten. Antworten hat er allerdings auch von Ihnen bisher nicht bekommen. Diese Praxis der Unterlassung widerspricht aber den heute gegebenen Antworten und allen Versicherungen gegenüber der Belegschaft. Von einer datenrechtlichen Entwarnung kann keine Rede sein. Wenn diese Befürchtungen stimmen, dann bleibt auch Ihre Antwort, die Erwerber der Geschäftsanteile würden selbstverständlich die gesetzlichen Verpflichtungen und Bestimmungen des Datenschutzgesetzes zu beachten haben, nachfragewürdig. Was heißt denn nun „beachten“? Gefragt war sowohl in den mehrfach gestellten Anfragen als natürlich auch heute nach den Vorgaben, die etwaigen Interessenten zu diesem Vorgang gemacht wurden. Sie bleiben die Antwort schuldig. Ein weiteres Problem - heute schon mehrfach angesprochen - ist die soziale Sicherung. Im Kern haben Sie geantwortet: Tarifverträge gelten, solange sie gelten, und neue bedürfen der Zustimmung der Arbeitnehmer. Gefragt war allerdings - und zwar die Bundesregierung als potenzieller Verkäufer und zugleich als weiterhin zuständiger Ansprechpartner -, was sie unternimmt - oder auch nicht -, um zu verhindern, dass ein Verkauf der Bundesdruckerei sozial zulasten der Beschäftigten geht. Der Antwort ist zu entnehmen: nichts. Die logische Begründung dafür wäre, dass Finanzminister Eichel ausschließlich an einem hohen Verkaufspreis interessiert ist. Wir wissen natürlich, dass soziale Belange auch ein Verkaufshindernis sein können. Ungeklärt bleiben bisher die Ausbildung und die Frage nach den Pensionen. Spätestens nach der Privatisierung der Post sind die Beschäftigten sehr wohl zu Recht misstrauisch, wie man damit umgeht. Ungeklärt bleibt außerdem die Arbeitsplatzfrage in Berlin-Kreuzberg. In diesem Bezirk liegt die Arbeitslosenrate bei 30 Prozent. Letzter Punkt. Sie sollten sich klarmachen, dass sich alle im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien CDU, SPD, PDS und Bündnis 90/Die Grünen; die F.D.P. ist dort seit längerem nicht mehr vertreten, deshalb konnten Sie darüber nicht aufgeklärt werden, Herr Rexrodt ({1}) mit dem Senat und den Kreuzberger Bezirksverordneten einig sind, dass die Bundesdruckerei erhalten werden muss und dass sie weder voll privatisiert noch zerlegt werden darf. Das heißt, die Bundesregierung betreibt nicht nur eine Politik gegen die Belegschaft, sondern in diesem Fall auch gegen das Land Berlin. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Oswald Metzger das Wort.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, es ist legitim, wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Bundesunternehmen um ihre Arbeitsplätze Angst haben, wenn ein Eigentümerwechsel ansteht. Daran kommt man nicht vorbei und das muss man akzeptieren. Deshalb muss sich die Koalition mit dieser Frage ernsthaft auseinander setzen. Ich werde mich morgen früh mit dem Betriebsratsvorsitzenden treffen. Der Haushaltsausschuss des Bundestags war bereits vor Wochen im Betrieb und hat mit der Geschäftsleitung ausführlich gesprochen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die selber Kontakte zur Bundesdruckerei haben. Sie können sich darauf verlassen: Niemand aus der Koalition und auch niemand aus meiner Fraktion würde die Hand heben, wenn es darum ginge, diesen Betrieb in Kreuzberg zu schlachten. Dieser Eindruck wird in dieser Debatte immer wieder - aus meiner Sicht zu Unrecht - erweckt. ({0}) Es geht um einen florierenden Betrieb, der in den letzten Jahren als 100-prozentige Eigengesellschaft des Bundes in privater Rechtsform eine Leistung erbracht hat, die Anerkennung verdient. Aus einem Verlustbringer wurde die frühere Bundesbehörde - ich weiß sehr wohl: unter Verlust von 30 Prozent der Belegschaft - in ein betriebswirtschaftlich gut geführtes und leistungsfähiges Unternehmen umgewandelt. Aber das Unternehmen ist zukunftsfähig und marktorientiert. Es gibt 70 Interessentinnen und Interessenten. Gerade das zeigt doch, dass es sich um ein florierendes Unternehmen handelt, das angesichts der Veränderungen auf den Märkten - ich erinnere an die Sicherheitsdruckbereiche - strategische Partner braucht. Wer glaubt, dieses Kreuzberger Unternehmen würde in einem hart umkämpften, sich konsolidierenden europäischen Markt in der jetzigen Rechtsform, mit den jetzigen Eigentumsverhältnissen weiter existieren können, der täuscht sich. Wir brauchen strategische Partner. Ohne die strategischen Partner wird dieser Betrieb unter Druck geraten. Deshalb glaube ich, dass die Privatisierungsbemühungen nicht nur zu einem Erhalt der Belegschaft in ihrem Kernumfeld, sondern auch dazu führen, dass durch strategische Allianzen mit anderen Partnern am Standort Kreuzberg weitere Beschäftigungsfelder erschlossen werden. Es gibt im Interessenbekundungsverfahren durchaus Hinweise darauf, das dem so ist. Kollege Helias hat vorhin eine Behauptung aufgestellt, die ich so nicht stehen lassen will. Er hat gesagt, bis heute Nachmittag hätten die Arbeitnehmervertreter der Bundesdruckerei noch keine Kenntnis von diesem Memorandum erhalten. Das ist richtig. Aber auch noch keine der Firmen, die sich für eine Übernahme interessieren, hat dieses Memorandum; denn es befindet sich erst in der abschließenden Abstimmung des Bankhauses Metzler und des Finanzministeriums. Zeitgleich mit den anderen Interessenten werden auch die Belegschaften dieses Memorandum erhalten und damit die Chance haben, auch Mitarbeiterbeteiligungsmodelle in dieses Verfahren einzubringen. Ich kann Ihnen versichern, dass im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages eine sehr ernsthafte und seriöse Debatte über die Privatisierung stattfinden wird, wenn sich die Angebote konkretisieren, sodass wir eine Entscheidung im Lichte der sozialen Belange der Belegschaft und im Lichte der datenschutzrechtlichen Erfordernisse treffen können, die man in diesen Bereichen nicht hintanstellen kann. Der Bundesinnenminister, in dessen Geschäftsbereich der Datenschutzbeauftragte gehört, ist zu Recht mit einem Vertrag mit der Bundesdruckerei befasst, mit dem man die Einhaltung dieser Sicherheitsbelange gewährleisten will. Daher wird im Haushaltsausschuss auch im Lichte der datenschutzrechtlichen Regelungen und natürlich auch der Arbeitnehmerschutzbelange eine Entscheidung getroffen werden, die dem Standort Kreuzberg der Bundesdruckerei und damit der strategischen Zukunftssicherung dieses Unternehmens alle Chancen einräumt. Ich werde persönlich und für meine Fraktion - ich denke, ich kann das auch für die Koalition tun - jede Garantie abgeben, dass der Verkauf nicht zur Ausschlachtung dieses florierenden Unternehmens, sondern eher zu seiner langfristigen Sicherung beitragen wird. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jochen Henke.

Hans Jochen Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003146, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen, dass ich dieser Aktuellen Stunde bisher mit großem Interesse gefolgt bin; denn ich denke, dass dieses Thema es - weit über den Teilaspekt hinaus, der von der PDS zur Grundlage dieser Aktuellen Stunde gemacht wurde - verdient, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Dieser Meinung bin ich noch aus einem anderen Grund. Diese Aktuelle Stunde reiht sich heute für mich in eine Reihe von Tagesordnungspunkten ein, die - das sage ich den Regierungskoalitionären - bei mir Zweifel daran aufkommen lassen, ob Sie mit Ihrem ständigen Reden von der Notwendigkeit der Ablösung der alten Regierung Recht haben. ({0}) Unter dem ersten Tagesordnungspunkt heute Morgen gab es eine Regierungserklärung des Verkehrsministers zu Urban 21. Da war man unisono voll des Lobes für die vorherigen Minister. Dann haben wir uns mit der inneren Situation der Europäischen Union und dem Verhältnis zu Österreich beschäftigt. Ich denke, auch da wird sich Ihre Position noch normalisieren und zunehmend an unserer Haltung orientieren. ({1}) Der dritte Tagesordnungspunkt betraf den Kosovo. Sie können froh sein, dass die Vorgängerregierung und deren Minister die Kärrnerarbeit geleistet haben, auf der Sie aufbauen können. Sonst hätten wir die Beschlüsse heute gar nicht fassen können. ({2}) Insofern ist diese Debatte eigentlich nur die konsequente Fortsetzung der vorangegangenen Debatten. Mit diesem Tagesordnungspunkt landen wir an einer Stelle, an der Sie nun wirklich überhaupt keinen Grund haben, sich irgendwelche eigenen Verdienste an den Hut zu heften. All das, was negativ passiert - die Beiträge belegen es teilweise eindrucksvoll -, zeigt aber, dass Sie das Geschäft leider Gottes eigentlich noch nicht richtig verstehen. ({3}) Hätten wir mit dem, was Sie in Ihrer Regierungserklärung festgeschrieben haben, Kollege Wagner, Kollege Metzger, nämlich den Staat zu modernisieren und auf seine Kernaufgaben zurückzuführen, im Rahmen unseres Privatisierungskonzeptes in der vorausgegangenen Legislaturperiode nicht schon nachhaltig Ernst gemacht, dann könnten Sie heute - meine Vorredner, Herr Kolbe und Herr Helias, haben das ausgeführt - gar keine Früchte ernten. ({4}) Ich will, Frau Staatssekretärin, an der Stelle auf zwei Dinge abheben: ({5}) Erstens. Ihre Privatisierungspolitik ist ausschließlich von fiskalischen Überlegungen geprägt, ({6}) sonst würden Sie nicht die Privatisierung von seit 1998 zur Privatisierung anstehenden Unternehmen ständig von Jahr zu Jahr verschieben. Warum tun Sie das? Sie können die Einnahmen im Haushalt nicht gebrauchen, weil sie zu sehr Begehrlichkeiten wecken. ({7}) Zweitens. Die Ausführungen von verschiedenen Beteiligten auf Ihrer Seite zum konkreten Thema sind im Grunde alles Luftnummern. Tatsache ist, dass in der vorausgegangenen Legislaturperiode gegen kein Privatisierungsprojekt - da gab es außerordentlich schwierige und konfliktträchtige - in irgendeiner Form Demonstrationen stattfinden mussten oder stattgefunden haben. Interessant ist, dass bei Demonstrationen gegen die Art und Weise Ihres Vorgehens nun Repräsentanten der Koalitionsfraktionen mit auf der Straße stehen, sich in den Demonstrationszug einreihen und im Grunde gegen die eigene Regierung demonstrieren. ({8}) So weit haben wir es nicht gebracht. Das ist das Ergebnis Ihrer bisherigen Politik. Wir meinen, dass es tatsächlich notwendig ist, Privatisierungsgrundsätze und Maßstäbe zur Modernisierung für die einzelnen Unternehmungen und Bereiche zu definieren. Diese Aufgabe ist in der Tat bei der Bundesdruckerei - die Argumente sind ausgetauscht - lösbar. Die Interessen der Belegschaft können berücksichtigt werden, eine strategische Neuausrichtung ist möglich und gleichzeitig kann die Privatisierung nach vertretbaren und akzeptablen Maßstäben durchgeführt werden. Nur, dafür ist es nötig, ehrlich und offen zu sein und Farbe zu bekennen. Der Finanzminister und die Mehrheitsfraktionen tun dies im Haushaltsausschuss jedoch nicht. Gestern war der Finanzminister dort. Was hat er zur Privatisierungspolitik im Jahre 2000 gesagt? Irgendwann werde es Einnahmen durch eine Teiltranche der Postprivatisierung und durch die zweite Tranche von Telekomaktien sowie durch die Vergabe von Mobilfunklizenzen geben - ansonsten kein Wort. Das wird der sozialen, ordnungspolitischen und haushaltspolitischen Dimension dieses Themas, die allein in diesem Jahr voraussichtlich eine Größenordnung von 120 bis 150 Milliarden DM an Einnahmen erreicht, nicht gerecht. Sie aber treten bei diesem Thema auf der Stelle, weil Sie nicht wissen, was Sie wollen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesdruckerei wurde im vorigen Jahr 120 Jahre alt. 120 Jahre Reichsund Bundesdruckerei bedeuten 120 Jahre Spitzenleistungen im grafischen Gewerbe. Dieses leistungsfähige Unternehmen hat in der Tat über mehr als 100 Jahre insbesondere für einen Kunden gearbeitet: Das war der Staat; deswegen auch die Frage, um welche hoheitlichen Aufgaben es geht. Wir müssen aber sehen, dass sich die Bedingungen geändert haben. Heute werden alle Leistungen, die die Bundesdruckerei anbietet, europaweit ausgeschrieben. Wenn der Staat, wenn die Bundesregierung oder wenn eine andere deutsche Behörde Leistungen der Bundesdruckerei in Anspruch nehmen will, kann der Auftrag erst erteilt werden, wenn sich die Bundesdruckerei im Wettbewerb mit anderen durchgesetzt hat. Das haben wir alle so gewollt. ({0}) Dass die Zukunft dieses Unternehmens nur gesichert werden kann, wenn das Unternehmen im Wettbewerb mithalten kann, das ist der springende Punkt. Und da sage ich Ihnen: Ich bin ganz sicher, die Zukunft der Bundesdruckerei in Kreuzberg, die Zukunft der Bundesdruckerei in Deutschland insgesamt ist nur zu sichern, wenn die Leistungsfähigkeit europaweit gegeben ist. Dazu braucht dieses Unternehmen Investitionen. Es braucht Beweglichkeit und es braucht Partner. Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit auch einmal einen Dank aussprechen, ({1}) - ja, Herr Rexrodt, das haben Sie nicht getan! ({2}) einen Dank an die Mitarbeiter, an die Geschäftsführung, auch an den Betriebsrat; denn ein wesentlicher Teil der Qualität dieses Unternehmens besteht in der Qualität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. ({3}) All diese Leistungen wären nicht zu erbringen, wenn es nicht diese Tüchtigkeit, dieses Qualitätsbewusstsein und die Verbundenheit mit diesem Unternehmen gäbe. Deswegen kann ich das, was mehrere Kollegen und übrigens auch die Frau Staatssekretärin gesagt haben, nur unterstreichen. Natürlich wird es eine Lösung für die Zukunft immer in engem Kontakt mit der Geschäftsführung und auch mit den Beschäftigten, mit der Personalvertretung dieses Unternehmens geben. All dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Unternehmen eine Zukunft nicht nur als Anbieter von Leistungen für die Bundesrepublik Deutschland, für die Bundesregierung braucht. Das fängt schon damit an, dass der Banknotendruck, über Jahrzehnte ein Kerngeschäft des Unternehmens, künftig beim Euro natürlich nicht in Form eines Monopols betrieben werden kann, sondern die Bundesdruckerei wird mit anderen Unternehmen in Europa konkurrieren müssen. Aber die Bundesdruckerei wird durch Verbreiterung des Geschäftsfeldes auch in der Lage sein, ihre Leistungen für eine Vielzahl von Kunden anzubieten. Sie hat dabei im Wesentlichen schon sehr gute Fortschritte gemacht. Ich meine, wir alle tun gut daran, bei aller berechtigten Kritik und bei allem kritischem Hinschauen die Zukunft der Bundesdruckerei nicht durch Polemik zu beschädigen. Wir müssen diesem Unternehmen durch Stärkung der eigenen Leistungsfähigkeit - das wird sicherlich nur durch starke Partner möglich sein - den Weg ebnen. Das Ziel ist klar. Es geht nicht darum, Kasse zu machen, sondern darum, die Zukunft dieses Unternehmens mit seiner 120 Jahre alten Tradition in einer neuen Form zu sichern. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss.

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Mein mehr grundsätzliches Konzept lege ich auf die Seite und drücke mein Erstaunen aus über den Wandel in der SPD und bei den Grünen. Argumente, die hier vorgetragen worden sind, könnten zum Teil von uns stammen. Man sieht: Das Sein verändert das Bewusstsein. ({0}) Sie werden am Ende so viel von uns gelernt haben, ({1}) dass wir uns schwer tun werden, Sie abzulösen. Es wird uns trotzdem gelingen. Die beste Voraussetzung dafür, dass die Bundesdruckerei Zukunft hat, ist, sie wettbewerbsfähig zu machen. Alle, die der Meinung sind, man könnte ihnen mit dem Mäntelchen des Staatsbetriebs die Zukunft erhalten, täuschen die Leute in den Betrieben und gaukeln ihnen etwas vor, was so keine Zukunft haben wird. Jeder von uns weiß, dass gerade im grafischen Gewerbe zurzeit ein mörderischer Wettbewerb herrscht; viele Betriebe bleiben auf der Strecke. Das heißt, wenn wir dieses für Berlin und Kreuzberg sehr wichtige Unternehmen zukunftsfähig machen wollen, brauchen wir private Investoren, ({2}) Leute mit Kapital, aber auch mit Know-how, damit sie in der Lage sind, im europäischen Wettbewerb zu bestehen, denn das wird die Konsequenz für diesen Betrieb sein. Wir werden, wenn der Euro gedruckt wird, einen europäischen Wettbewerb in dieser Angelegenheit haben. Wir müssen den Leuten in dem Unternehmen klarmachen, dass sie nur dann bestehen werden, wenn dieser Betrieb den Wettbewerb bestehen kann. Es gibt dazu keine Alternative. ({3}) Es ist eine Illusion, anzunehmen, dass wir mit einem defizitären Staatsbetrieb die Arbeitsplätze erhalten können. Alle, die eine solche Illusion erzeugen, wenden sich gegen die Interessen der Arbeitnehmer, von denen hier mehrfach gesprochen wurde. Das will ich mit Nachdruck sagen. Wenn sich in dieser Frage eine große Koalition mit den verehrten Kollegen von der F.D.P., von der CDU/CSU und auch von den Grünen und der SPD bilden sollte, kann das nur im Interesse dieser Leute sein. Deswegen werden wir mit großer Aufmerksamkeit die Schritte mitvollziehen. Es kann natürlich nicht sein, dass man einem Anbieter Konditionen gewährt, die mit denen eines Staatsbetriebes vergleichbar wären. Das ist Heuchelei, das ist unehrlich. Das geschieht möglicherweise nur, um vor Ort Stimmung zu machen. Das hat auch etwas mit dem Antrag der PDS zu tun; da wollen wir einmal ganz ehrlich sein. Das ist ja der Hintergrund dieser Überlegungen. Wahrheiten vorzutragen ist immer etwas unbequemer. Ich habe manchen Zwischenton von der SPD gehört, der mich optimistisch stimmt. Frau Hendricks, ich hoffe, dass Ihre Nichte gut angekommen ist und das mitverfolgt. Wir bleiben dabei: Unser Ziel muss sein, dass in der Bundesdruckerei in Berlin - gerade in unserer gebeutelten neuen Hauptstadt, durch den Veränderungsprozess gebeutelt in wirtschaftlichen Fragen -, dass in Kreuzberg diese 2 000 Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ein großes Kompliment an die alte Bundesregierung: Sie hat die Voraussetzungen geschaffen, damit sich dieser Betrieb modernisieren konnte. Er wurde von einer Behörde zu einer florierenden GmbH gemacht. Aber ich sage noch einmal: Derjenige, der meint, er könne bei diesem rasanten technologischen und technischen Wandel auf dem Status quo verharren und ihn festschreiben, gefährdet in Wahrheit die Arbeitsplätze. ({4}) Das ist nicht unser Ziel. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die Modernisierung fortschreitet, dass „fresh money“ in den Betrieb kommt, aber auch die Kenntnisse, wie man am Markt bestehen kann. In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Henke, die Koalition und die Bundesregierung wissen genau, was sie wollen. ({0}) Sie wollen nämlich die von Ihnen aufgebauten Schulden abbauen. Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung, um überhaupt noch Investitionen vornehmen zu können. Sie haben durch Ihren Schuldenberg verursacht, dass wir in einer solch schwierigen Lage sind. Daran können Sie nicht vorbeireden. ({1}) Der zweite Punkt. Minister Eichel hat gestern sehr klar zum Ausdruck gebracht, wie er in der gegenwärtigen fiskalischen Situation seinen Haushalt durchbringt und im Rahmen der Eckwerte bleibt. Wir wissen, dass er den Haushalt 1999 sogar mit einer geringeren Nettokreditaufnahme als vorgesehen hat abwickeln können. Das ist eine große Leistung von Eichel. Er wird doch nicht auf dem offenen Markt darlegen, welche Konditionen bzw. Erlöse er sich bei den weiteren Bereichen, die zur Privatisierung anstehen, vorstellt. Das kann er nicht tun. Meiner Meinung nach hat er gestern eine klare Position bezogen. Er hat den Haushaltsausschuss sehr umfassend unterrichtet. Das muss man zu seiner Ehre sagen. ({2}) Wir Mitglieder des Haushaltsausschusses haben ja die Bundesdruckerei besucht. Ich kann nur feststellen: Wir haben einen äußerst guten Eindruck bekommen. Wir waren zu einem Zeitpunkt da, als der Betrieb voll lief und die letzte 10-DM-Note gedruckt wurde. ({3}) - Herr Rexrodt, Sie waren nicht dabei und haben den Druck der letzten 10-DM-Note nicht erlebt. Was ist Ihnen da entgangen! ({4}) Wir haben also wirklich einen hervorragenden Eindruck gewinnen können. Geschäftsführung und Betriebsrat haben uns überzeugend dargelegt, wo sie hinwollen, nämlich dahin, unter den Bedingungen der Konkurrenz zu bestehen und in Europa und im Weltmaßstab zu überleben. Das ist wichtig. Ich gehe davon aus, dass die Arbeitnehmer der Bundesdruckerei gebeten werden, ihre Vorstellungen über eine Mitarbeiterbeteiligung im Rahmen eines konkreten Angebots in die Verkaufsverhandlungen mit einzubringen. Da ist die Bundesregierung gefordert. Sie sollte dies - das wird sie auch tun - ernst nehmen, damit wir zu einem Konsens kommen. Der Verkauf der Geschäftsanteile des Bundes an der Bundesdruckerei greift - das wissen Sie doch alle überhaupt nicht in bestehende Arbeitsverhältnisse und tarifvertragliche Regelungen ein. Das geht nicht und ist auch nicht gestattet. Es ist gut, dass das Tarifrecht eine solche Wirkung hat. Gesetzliche Schutzrechte zur Wahrung der Sozialbelange der Arbeitnehmer werden von der Privatisierung nicht tangiert. Ich gehe davon aus, dass wir alle daran interessiert sind, dass im Hinblick auf die Zukunftssicherung eine Konzeption und ein Ergebnis erreicht werden, damit die Bundesdruckerei mit ihren weiteren Betrieben eine gute Perspektive hat. Wir wünschen uns Standortsicherung und Konkurrenzfähigkeit. Ich möchte hier betonen, dass folgende Überlegungen für uns eine Rolle spielen: Es darf nicht nur zu einem fiskalischen Ergebnis kommen. Um eine strategische Allianz muss gestritten und gekämpft werden. Man muss im zuständigen Ministerium und im Haushaltsausschuss hinsichtlich der Beteiligung der Belegschaft jede denkbare Fantasie spielen lassen, damit wir vorankommen. Auf jeden Fall müssen wir eine Standortsicherung für die Berliner und für die anderen Betriebe, die die Bundesdruckerei unterhält, erreichen. Hierzu sage ich der Bundesregierung ganz deutlich: Sie hat eine große Fürsorgepflicht. Diese Fürsorgepflicht, die wir in allen gewerblichen Betrieben einfordern, gilt auch hier für die Anteilseigner. Das ist die Bundesregierung. Ich glaube, die Bundesregierung wird die heutige Debatte sehr, sehr ernst nehmen. Wir werden einen guten, konkurrenzfähigen Betrieb schaffen, der die Arbeitsplätze der Belegschaft sichern kann. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten und der Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU - Drucksache 14/3523 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Widerspruch höre ich nicht. Dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Aufschwung in Deutschland gewinnt rasant an Fahrt. Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Experten der Forschungsinstitute rechnen für dieses und nächstes Jahr mit einem realen Wirtschaftswachstum von 2,8 bis 3,3 Prozent. Tragende Säulen dieser positiven Entwicklung sind vor allem Mittelstand, Handel, Handwerk und Gewerbe. Sie sichern und sie schaffen Arbeitsplätze. Über 70 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind bei kleinen und mittelständischen Unternehmen beschäftigt. In mittelständischen Betrieben und im Handwerk werden Jahr für Jahr Hundertausende neue Arbeitsplätze geschaffen. Kleine und mittlere Unternehmen machen über 90 Prozent aller Betriebe in Deutschland aus. 80 Prozent aller Lehrlinge werden in kleinen und mittelständischen Unternehmen ausgebildet. Kleine und mittelständische Betriebe sind in vielen Bereichen flexibler und engagierter als die so genannten Global Player. Diese Unternehmen sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Sie verdienen unsere vollste Unterstützung, nicht in Sonntagsreden, sondern durch die konkrete Tat. ({0}) Meine Damen und Herren, was hat der Mittelstand mit den Baseler Beschlüssen, mit der heutigen Debatte zu tun? Ginge es nach den Vorstellungen der USA im Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht, so müsste sich die deutsche mittelständische Wirtschaft warm anziehen; denn mit den von den Amerikanern favorisierten Neubestimmungen für die Kapitalausstattung von Kreditinstituten würde die Kreditvergabe an kleinere und mittlere Unternehmen erheblich gefährdet und verteuert werden. Die amerikanischen Pläne, die Risiken bei Firmenkrediten anhand von Bonitätsbeurteilungen nicht mehr, wie bisher bei uns praktiziert, von den Banken selbst, sondern von externen Ratingagenturen bewerten zu lassen, sind durchsichtig, da es auf dem Markt fast nur amerikanische Ratingagenturen gibt. Dies sorgt in der informierten mittelständischen Wirtschaft Deutschlands zu Recht für Aufruhr - das kann man nachvollziehen -; denn die geplante Zulassung von ausschließlich externen Ratings bringt den mittelständischen Unternehmen und Handwerksbetrieben gegenüber den extern gerateten amerikanischen Unternehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile. Dies ist aus deutscher Sicht nicht hinnehmbar, weil kleine und mittlere Firmen in Deutschland über kein externes Rating verfügen, weil es sich der kleine Handwerksbetrieb nicht leisten kann, 40 000 DM bis teilweise 120 000 DM für seinen „Richter“ aufzubringen, der im schlimmsten Fall über die Existenz des Unternehmens entscheidet. Die meisten kleinen Unternehmen werden finanziell gar nicht in der Lage sein, sich raten zu lassen. Dabei sind es gerade kleine und mittlere Firmen, die im Allgemeinen keinen direkten Zugang zum Kapitalmarkt haben und demzufolge auf Fremdfinanzierung im Wege der Kreditaufnahme bei Banken, Sparkassen und auch bei den Volksbanken angewiesen sind. Anders in den Vereinigten Staaten: Während kleine und mittlere Unternehmen in den USA auf eine durchschnittliche Eigenkapitalquote von fast 50 Prozent kommen, bleiben in Deutschland fast zwei Drittel unserer Mittelständler unter einer Eigenkapitalquote von 10 Prozent. Das hat seinen Grund darin, dass der Eigenkapitalhinterlegung in Deutschland traditionell eine geringere Bedeutung zukommt. Für Investitionen aus eigener Kraft bleibt da kaum Spielraum. Umso wichtiger ist es, den Unternehmen Zinskonditionen zu bieten, die sie finanziell nicht austrocknen. Das kann nur ein internes Rating sicherstellen. ({1}) Schließlich führt eine von Fremdfirmen durchgeführte und für die meisten nicht bezahlbare Bonitätsbeurteilung bei schlecht oder nicht gerateten Unternehmen zu einer höheren Eigenkapitalhinterlegung bei den Banken und damit zu höheren Kreditzinsen für die Betriebe. Dies trifft insbesondere nicht geratete Unternehmen. Welcher Unternehmer kann sich im harten Wettbewerb schon einen Kreditzinssatz von 10 bis 20 Prozent erlauben? Diese Probleme kommen auf den mittelständischen Unternehmer zu, weil er die billigen Kreditzinsen, die der geratete Großunternehmer bekommt, im umgekehrten Sinne mehr oder weniger mit subventionieren muss. Meine Damen und Herren, am amerikanischen Wesen wird die deutsche Wirtschaft nicht genesen. Denn die USA verfolgen mit der Forderung nach externen Ratings - ich wiederhole und formuliere das sehr bewusst - ureigene wirtschaftliche Interessen. Man muss wissen: Unsere mittelständische Wirtschaftsstruktur ist den Amerikanern so fremd wie ein rheinischer Sauerbraten. In Deutschland sind nur rund 170 Firmen, meist Global Players, geratet. Aber in den USA sind es bereits über 8 600 Unternehmen. 95 Prozent der gesamten Kreditmittel werden in den USA von nur 40 000 Unternehmen in Anspruch genommen. Die verbleibenden 5 Prozent teilen sich die restlichen 7 Millionen Unternehmen. Hieran kann man eine total andere Unternehmensstruktur erkennen, als es bei uns der Fall ist. In den USA sind 85 Prozent aller in 1999 vergebenen Firmenkredite außerhalb des Bankensektors vergeben worden. Das heißt, hier sind Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds an die Stelle von Banken und Sparkassen getreten. In Deutschland hingegen werden 90 Prozent der gewerblichen Kredite von Banken vergeben. Der laute Ruf der amerikanischen Banken nach ausschließlich externen Ratings ist vor diesem Hintergrund zwar verständlich, aber er ist im Interesse der deutschen, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft für uns in keiner Weise akzeptabel. Bei diesen Zahlen wird der Bruch, der unterschiedliche Welten aufzeigt, förmlich spürbar. Ich glaube, hier sind unsere Interessen gefragt, und die müssen auch durchgesetzt werden. Von deutscher Seite muss bei den internationalen Verhandlungen konsequent und kompromisslos sichergestellt werden, dass ein internes Rating mit einer für alle Kreditinstitute durchführbaren Standardmethode durchgesetzt wird. Denn gerade die Sparkassen und Genossenschaftsbanken können nicht auf die ausgefeilten Bewertungsoder Ratingverfahren der großen Banken zurückgreifen. ({2}) Es muss sichergestellt werden, dass externe und interne Ratings zeitgleich und nicht vor dem Jahre 2003 eingeführt werden, weil es wiederum ein absoluter Wettbewerbsvorteil für die amerikanischen Banken, aber auch für die amerikanischen Ratingunternehmen wäre, wenn das vor 2003 geschähe; denn wir sind nicht in der Lage, die Ratings in dieser Breite für unsere Firmen in dieser Größenordnung zu erstellen. Meine Damen und Herren, damit keine Missverständnisse auftreten, möchte ich sagen: Die Idee, durch Ratingverfahren eine verlässliche Risikoanalyse für die Kreditvergabe zu gewährleisten, ist - darüber sind wir uns alle einig - grundsätzlich zu begrüßen, weil dadurch künftig besser als bisher gewährleistet werden kann, dass alle solvenzgefährdenden Risiken einer Bank durch ausreichendes Eigenkapital abgesichert werden. Wer aber, wenn nicht die heimischen Banken - hier denke ich insbesondere an die Sparkassen sowie an die Volks- und Landesbanken mit ihren genauen Kenntnissen der regionalen Märkte - kann die Risiken angemessener und vor allem kostenneutraler beurteilen? Ein internes Rating ermöglicht den Banken, je nach Ausrichtung der Geschäftstätigkeit, individuelle Bonitätsbeurteilungen in einer flexiblen Art und Weise. Dies ist einer der wichtigsten Punkte. Deshalb ist ein gleichberechtigtes internes Bankenrating unerlässlich. ({3}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte noch einen zweiten Knackpunkt der Baseler Verhandlungen ansprechen: Die Baseler Pläne sehen vor, dass gewerbliche Realkredite grundsätzlich mit einem Gewichtungssatz von 100 Prozent anzurechnen sind. Dies widerspricht der in der EU verankerten und in Deutschland praktizierten Regelung. Aufgrund geringer Ausfallrisiken werden bei uns gewerbliche Realkredite mit einem Gewichtungssatz von nur 50 Prozent erhoben. Dem Baseler Ausschuss ist empirisch nachgewiesen worden, dass das Ausfallrisiko durch insolvente Firmen in Deutschland ausgesprochen gering ist. Trotzdem zeigen sich die Banken der Vereinigten Staaten, die ihre Lobby hier sehr bewusst einsetzen, nicht bereit, eine andere Gewichtung als 100 Prozent vorzunehmen. Dabei macht eine solch niedrige Gewichtung mehr als Sinn. Denn geringe Ausfallquoten bedeuten eine hohe Wahrscheinlichkeit bei der Kreditrückzahlung und rechtfertigen somit auch eine niedrige Eigenkapitalunterlegung. Meine Damen und Herren, wenn einige Staaten unter der Federführung der USA in dieser Frage weiterhin auf Durchzug stellen, dann darf es keine deutsche Zustimmung zu den Baseler Beschlüssen geben. Ich sage das sehr offen. Ich nehme auch das Wort Veto in den Mund. Hier sind ureigene deutsche Interessen berührt; denn es geht um einen Wirtschaftszweig, der das Rückgrat der deutschen Wirtschaft darstellt. ({4}) Hier sind keine Kompromisse, sondern kompromissloses Eintreten für diese Interessen auch durch unsere Bundesregierung gefragt. ({5}) Wir haben keinen Zweifel daran, dass alle wissen, dass unser Handeln dort auch mit unserem Reden übereinstimmen muss. ({6}) Meine Damen und Herren, die grundpfandrechtliche Sicherung von Bankendarlehen spielt insbesondere bei der Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen eine große Rolle; denn sie bietet besonders niedrige Zinsen und schafft so Anreize auch für Investitionen. Politische Großzügigkeit auf dem Baseler Verhandlungsparkett können und dürfen wir uns auf Kosten unserer mittelständischen Wirtschaft nicht leisten. Was in Basel zu Lasten unseres Mittelstandes ausgekocht und in Brüssel serviert werden soll, muss von deutscher Seite gehörig versalzen werden. Wenn unsere mittelständischen Unternehmen nämlich blank sind, dann können sie auch die Investitionen, die notwendig sind, um Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern, nicht tätigen. Daher bin ich diesem Parlament und allen seinen Fraktionen äußerst dankbar, dass diese Entschließung von uns allen gemeinsam getragen wird. Es kommt selten genug vor, dass alle Fraktionen dieses Hauses eine Entschließung gemeinsam unterstützen. Damit wird auch nach außen hin erkennbar, dass dieses Parlament geschlossen hinter der Position des mittelständischen Gewerbes steht. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit Drucksache 14/3523 legen wir eine gemeinsame Entschließung vor. Auch wenn viele Begriffe in dieser Entschließung sehr technisch klingen und leider nicht allgemein gehalten werden konnten, weil man hier wirklich konkret werden muss, geht es doch um Fragen, die für unsere mittelständische Wirtschaft und deren Betriebe von existenzieller Bedeutung sind. ({0}) Mit der gemeinsamen Entschließung zum so genannten Konsultationspapier des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben die Fraktionen im Finanzausschuss eine gemeinsame Plattform für die Verhandlungsführer bei den Baseler Verhandlungen gefunden. Mit dieser Entschließung, die übrigens als ureigene parlamentarische Initiative entwickelt wurde, soll sichergestellt werden, dass die Chancengleichheit im Wettbewerb zwischen national und international tätigen Banken sowie zwischen Kreditinstituten verschiedener Institutsgruppen in Deutschland gewahrt wird und eine einseitige Benachteiligung und Belastung für die mittelständische Wirtschaft vermieden werden. ({1}) Hätten wir diese Initiative nicht parlamentarisch ergriffen, meine Damen und Herren, wären wir wahrscheinlich vom Bundesfinanzminister nicht rechtzeitig darüber informiert worden, ({2}) was hier von Basel droht und was uns nachher über EURichtlinien in der Umsetzung der Baseler Beschlüsse gedroht hätte. Dann wären die neuen Richtlinien mit dem Hinweis verkündet worden, sie seien gemeinsam vereinbart worden und müssten nun vom Bundestag parlamentarisch entgegengenommen werden. ({3}) Das Konsultationspapier des Baseler Ausschusses schlägt eine Überarbeitung der Baseler Eigenkapitalübereinkunft in Richtung einer differenzierteren Erfassung und Eigenkapitalunterlegung von Kreditrisiken sowie einer stärkeren Berücksichtigung von Instrumenten zur Reduzierung des Kreditrisikos vor, was grundsätzlich zu begrüßen ist. Damit wird das bisherige Regelwerk für eine adäquate Eigenkapitalunterlegung den Erfordernissen der Gegenwart und Zukunft angepasst. Das Verhandlungsergebnis von Basel will die EUKommission in Richtlinien zur Neuregelung der Eigenmittelvorschriften für die Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU einfließen lassen. Dies war auch der Grund, warum wir uns vor Verhandlungsabschluss mit dem Konsultationspapier im Finanzausschuss auseinander gesetzt haben. Wir wollten mit dieser Entschließung vor der endgültigen Entscheidung Einfluss auf die abschließenden Regelungen nehmen können. ({4}) Unsere Beratungen im Finanzausschuss wurden von Fachgesprächen mit dem Zentralen Kreditausschuss, der Bundesbank und dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen begleitet. Kernpunkt der neuen Regelungen wird die Art und Weise der Bestimmung der Risikogewichtung über die Bonitätseinschätzung der Kreditnehmer sein. Hierfür schlägt der Baseler Ausschuss einen Standardsatz auf der Grundlage externer Ratings vor. Eine ausschließliche - Herr Lennartz, Sie haben darauf schon hingewiesen - Anerkennung externer Ratings würde aufgrund der geringen Anzahl der in Deutschland „gerateten“ Unternehmen - das sind circa 170 - und einer kostenaufwendigen Erstellung der Ratings für kleinere und mittlere Unternehmen zu erheblichen Benachteiligungen gegenüber Wettbewerbern aus dem angelsächsischen Bereich führen, da in den USA bereits über 8 000 Unternehmen extern „geratet“ sind. Deshalb fordern wir in der Entschließung, dass im Rahmen der internationalen Verhandlungen durch die Bundesregierung und die Verhandlungsführer sichergestellt wird, dass das interne Bankenrating ein gleichwertiges, aufgrund einfacher Standardmethoden gewichtetes Verfahren wird, das im Grunde dem externen Rating gleichkommt. Wichtig ist auch, dass dies zum gleichen Zeitpunkt eingeführt wird, damit nicht über die Zeitachse bei der unterschiedlichen Einführung Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Bei den Verhandlungen in Basel und bei der EU-Kommission muss die risikoreduzierende Wirkung von Sicherheiten ebenso berücksichtigt werden wie die Auswirkungen von Größenklassenstreuungen - Granularitäten im Rahmen des einfachen bankinternen Ratingansatzes. Das ist die Berücksichtigung des so genannten Portfolioeffektes. Es kommt auch darauf an, dass die Gewichtung des Gesamtengagements gesehen und berücksichtigt wird, wie viele einzelne Kreditnehmer es in der jeweiligen Größenordnung gibt. Auch das gehört zur Betrachtung unserer spezifischen Bankenstruktur, weil unsere mittelständisch geprägte Bankenstruktur überwiegend kleinere und mittlere Kreditnehmer betreut. Herr Lennartz hat bereits ausgeführt, dass der gewerbliche Hypothekarkredit aufgrund seiner niedrigen Ausfallraten mit höchstens 50 Prozent gewichtet wird. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das noch umgesetzt werden muss; denn über die EU-Solvabilitätsrichtlinie besteht bereits diese Möglichkeit und sie wird in Deutschland angewandt. Auf den Aspekt der einheitlichen Einführung habe ich bereits hingewiesen. Das sind die Positionen, die wir erwarten. Das Rating an sich, ob extern über Agenturen, bankintern oder in neuen Kombinationen, bekommt auch hierzulande zukünftig einen wesentlich größeren Stellenwert, als das bisher der Fall war. Mit diesen Forderungen, meine Damen und Herren, wollen wir erreichen, dass es bei der Einteilung der Risikoklassifizierungen aufgrund externer Bonitätsbeurteilungsinstitute international nicht zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen kommt und unsere mittelständisch geprägte Kreditwirtschaft und die Unternehmen das mit vollziehen können. Auf einen Punkt, der das bankinterne Rating betrifft, muss noch hingewiesen werden: Es darf, auch wenn es einfach strukturiert ist, nicht zu einem so genannten Discount-Rating werden. Es muss aufgrund des Anspruchs, gleichgewichtig und gleichwertig zu sein, auch gewissen Qualitätsanforderungen entsprechen. Sonst ist damit auch der mittelständischen Wirtschaft im Endeffekt nicht geholfen. Mit dieser Entschließung haben wir der Bundesregierung und den Vertretern der deutschen Position bei den Baseler Gesprächen eine Verhandlungsplattform geschaffen, die unmissverständlich klarmacht, was wir wollen. Dass dies einvernehmlich zwischen den Fraktionen möglich war und ist, verstärkt diese Position. Mit der Formulierung „sicherzustellen“ in der Entschließung wollen wir klar stellen, dass die Verhandlungsführer auch das Mittel des Vetos einsetzen sollen und müssen, wenn die Forderungen aus der Entschließung nicht realisiert werden. Dies sind, meine Damen und Herren, die Erwartungen, die wir mit dieser gemeinsamen Entschließung verbinden. Es klingt - ich habe es eingangs schon betont - vieles sehr technisch, aber die Kernforderungen, die wir erhoben haben, sind für unsere mittelständische Wirtschaft und für unsere Unternehmenskultur existenziell. Herzlichen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über eine Entschließung im Rahmen der Verhandlungen zur Neuauflage der Baseler Eigenkapitalrichtlinien für Kreditinstitute, um die deutsche Position in den laufenden Verhandlungen zu stärken. Diese wird auch gestärkt; davon können wir ausgehen. Für die Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne: Es wird in der Öffentlichkeit immer wieder gesagt, wir träfen hier keine gemeinsamen Entscheidungen. Heute jedoch wollen wir - beispielhaft - für die Vertretung Deutschlands in internationalen Gremien gemeinsam einen Beschluss fassen, der die deutsche Linie in diesem Zusammenhang sehr klar und sehr eindeutig festlegt und damit die deutsche Verhandlungsposition stärkt. Infolge der jüngsten Krisen auf den Finanzmärkten Stichwort: Asienkrise; sie ist für viele noch in Erinnerung - haben Banken im Übermaß Kredite vergeben, ohne dass eine ausreichende Risikoprüfung und Risikovorsorge erfolgte. In Japan zum Beispiel gingen Banken Pleite. Wir erinnern uns alle daran; denn das versetzte damals alle Finanzmärkte rund um den Globus in Aufruhr. Darüber hinaus spielten und spielen Finanzderivate als Finanzierungs-, Absicherungs- und auch Anlageinstrumente eine immer größere Rolle, vor allem auf den internationalen Finanzmärkten. Damit nun die Finanzinstitute künftig die von ihnen übernommenen Risiken angemessen kontrollieren und berücksichtigen, ist es notwendig, die Baseler Eigenkapitalrichtlinien den aktuellen Erfordernissen der internationalen Finanzmarktentwicklung anzupassen: zum Schutz der Banken, aber auch zum Schutz der Anteilseigner, der Wirtschaft als Ganzes und letztendlich zum Schutz der Steuerzahler und der Steuerzahlerinnen; denn im Zweifel zahlt der Steuerzahler, wenn eine Rettung nicht anders möglich ist. Das haben wir beispielsweise in Japan gesehen. ({0}) Nun muss man diese Argumente aber ins Verhältnis zum Ganzen setzen. Es kann nicht sein, dass Banken derart hohe und damit auch entsprechend teure Eigenkapitalhinterlegung betreiben müssen, dass die Kreditkosten gerade für kleine und mittlere Unternehmen, also für die Handwerker wie für die Internet-Dienstleister, so in die Höhe schnellen, dass dies ihre Geschäftsfähigkeit stranguliert. Die deutschen Banken - das muss man an dieser Stelle lobend erwähnen - gelten ohnehin weltweit bereits als sehr risikobewusst und als sehr vorsichtig. Es ist oft kritisiert worden, dass deutsche Kreditinstitute bei der Kreditvergabe an junge Start-ups, an innovative Existenzgründer, die für unseren technologischen wie auch wirtschaftlichen Fortschritt sehr wichtig sind, sehr zögerlich seien. Ein Rückzug der Kreditinstitute auf breiter Front aus der Finanzierung unseres unternehmerischen und aktiven Mittelstandes wollen und können wir uns nicht leisten. In den ersten Entwürfen des überarbeiteten Baseler Akkords hat das so genannte externe Rating, also die Bonitätsbewertung eines Unternehmens durch externe Agenturen, im Vordergrund gestanden - dies wohl deshalb, weil Amerika es sehr gut verstanden hatte, seine landestypischen Gegebenheiten zum allgemein gültigen Maßstab zu erheben. In den USA ist es weit verbreitet, dass sich große Kapitalgesellschaften vor allem von einer der beiden großen amerikanischen Rating-Agenturen, Standard & Poor’s oder Moody’s, bewerten lassen und danach entsprechend gute Kreditkonditionen von den Banken erhalten. Künftig wären diese Kunden für die Banken noch um ein Vielfaches lukrativer, da die Eigenkapitalvorhaltung der Banken entsprechend geringer und damit schlichtweg billiger wäre. Das heißt, die Banken würden mit großen, leistungsstarken Unternehmen ein gutes Geschäft machen, beim Mittelstand aber wären die Margen so gering, dass sich ein Engagement kaum mehr lohnen würde bzw. die Konditionen sich extrem verschlechtern würden. In Deutschland sind externe Ratings noch kaum verbreitet. Externe Ratingagenturen beginnen erst jetzt, sich langsam in Europa zu etablieren, was auch nicht verkehrt ist; denn Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft. Wir haben zum Beispiel eine Agentur wie Euroratings, die im Aufwachsen begriffen ist. Aber was hätte dies nun für unseren Mittelstand bedeutet? - Externes Rating ist teuer und bei fehlendem Rating hätten die Banken, vor allem die Sparkassen, die Volks- und Raiffeisenbanken, mehr Eigenkapital vorhalten müssen. Die Konsequenz wären erheblich schlechtere Finanzierungskonditionen für die Mittelständler und das wollten und konnten wir so nicht hinnehmen. Daher ist es gut, dass heute diese Entschließung vorliegt, die zusammen mit dem Bundesfinanzministerium, mit dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen, der Deutschen Bundesbank und auch dem Zentralen Kreditausschuss erarbeitet wurde. Wir haben damit praktisch mit diesen genannten Organisationen eine gemeinsame Resolution auf den Weg gebracht. Ich meine, darauf können wir alle gemeinsam hier in diesem Haus stolz sein. Das wichtigste Element ist, dass künftig auch ein auf bankinterne Ratings gestützter Ansatz zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen für das Kreditrisiko möglich sein muss, dass ein solcher Ansatz einfach sein muss und gleichzeitig mit der Standardmethode eingeführt wird. Dieser Ansatz muss für alle Banken unmittelbar ab dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Regelung nutzbar sein, damit es keine Wettbewerbsnachteile gibt, weder für die deutschen Kreditinstitute noch für die kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Messlatten - sowohl eine risikoadäquate Eigenkapitalvorsorge als auch internationale Wettbewerbsgleichheit für Kreditinstitute und Mittelstand - legen wir auch an andere Maßnahmen an, zum Beispiel an die Gewichtung der Hypothekenkredite bei der Bemessung der notwendigen Eigenkapitalvorsorge. Die Gewichtung darf nach unserer Ansicht höchstens 50 Prozent betragen - eben wegen der typischerweise niedrigen Ausfallraten. Auch dies muss im Baseler Eigenkapitalakkord und natürlich auch in der daraus folgenden EUEigenkapitalrichtlinie sowie bei der Umsetzung in nationales Recht berücksichtigt werden. Ich denke, wir haben hier als Team eine gute Arbeit geleistet; nur gemeinsam können wir auch auf internationaler Bühne durchsetzungsfähig sein. Die deutschen Verhandlungsteilnehmer können nun gestärkt nach Basel fahren. Die Chancen stehen gut, dass wir dort als gleichberechtigter Partner ernst genommen werden und unser Anliegen im Sinne des deutschen Mittelstandes erfolgreich einbringen. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat Kollege Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Überwiegend hat eigentlich Kollege Funke das Wort. ({0})

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Baseler Konsultationen sind ein Ausdruck dafür, dass die Globalisierung, die Vernetzung der Finanzmärkte immer weiter voranschreitet. Man kann dies zwar bedauern, aber leugnen kann man diese Tatsache nicht. Man braucht ja kein Prophet zu sein, um zu sagen, dass die Vernetzung der Finanzmärkte in rasantem Tempo weiter voranschreiten wird. Das wird keine Beschlusslage - welcher Parteien in der Welt auch immer - aufhalten können. ({0}) Das sind die Tatsachen. Deswegen ist es gut, dass im Rahmen internationaler Vereinbarungen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die zu gleichen oder zumindest vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen an den Weltfinanzmärkten führen. Man wird bei diesen Verhandlungen Acht geben müssen, dass die unterschiedlichen Kulturen, die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme, Wirtschaftsverfassungen und nationalen Rahmenbedingungen nicht alle unter das amerikanische System gepresst werden. - Kollege Lennartz hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland sehr unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen gibt, auch im Mittelstand, den es dort natürlich auch gibt, aber nicht im gleichen Umfang wie bei uns. Insoweit begrüße ich, dass es in den Verhandlungen nach anfänglichen Schwierigkeiten gelungen ist, für die Berechnung des notwendigen Eigenkapitals der Kreditinstitute auch bankinterne Ratings gleichgewichtig zuzulassen. Der Ansatz der Baseler Verhandlungsrunde, das Kreditrisiko international stärker als bisher durch Ratings zu quantifizieren, ist durchaus begrüßenswert. Nur so kann auch definiert werden, wie die Kreditrisiken durch entsprechendes Eigenkapital der Banken unterlegt werden müssen. Dies ist keine neue Erkenntnis, die durch die inChristine Scheel ternationalen Märkte auf uns zukommt, sondern sie findet sich bereits seit Jahrzehnten in § 18 KWG und im Übrigen in den Grundsätzen zum KWG wieder. Die Banken werden sich jedoch durch die Baseler Grundsätze dazu gezwungen sehen, die Kreditrisiken aufgrund von § 18 KWG noch stärker als bisher systematischer und nach einheitlichen Grundsätzen zu durchleuchten und dabei strengere Anforderungen - ich sage das ausdrücklich im Interesse der Kreditnehmer - an die Kreditnehmer zu stellen. Es darf nicht dazu kommen - darauf hat Kollege Dautzenberg zu Recht hingewiesen -, dass es sich bei den Banken um ein Billigrating handelt. Wenn wir es auf beide Beine - externe und interne Ratings stellen wollen, muss auch beides gleichgewichtig sein. In diesem Punkt sind wir einer Meinung. Nur so werden zusammengefasste Kreditrisiken handelbar und nur so wird es zu einem international gültigen Rating der Banken kommen können. Dabei ist vor allem von deutscher Seite darauf zu achten, dass die kleineren und mittleren Unternehmen nicht unter die Räder geraten - darauf ist hingewiesen worden -, weil sie aufgrund der verschärften Ratingbedingungen entweder höhere Zinsen zu zahlen haben oder vielleicht gar keine Kredite erhalten. Der Verwirklichung des angesprochenen Zieles dient die Entschließung, die Ihnen fraktionsübergreifend vorgelegt wird. Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Entschließung und ihrer Formulierung sagen. Diese Formulierung ist um es vorsichtig zu sagen - schwer lesbar. Dies wird dadurch deutlich, dass ich als Jurist, der es gewohnt ist, mit Texten umzugehen, einen Absatz dreimal lesen muss, um einigermaßen zu verstehen, was sich dahinter verbirgt. Man muss sich fragen, ob die Bevölkerung, die unsere Botschaft verstehen soll - nicht nur die Herren in Basel sollen sie verstehen -, diese Formulierung auch begreift. Ich will hier einräumen, dass vielleicht durch die Übersetzung aus dem Englischen das eine oder andere an verquastem Bankchinesisch aufgenommen worden ist. Wir sollten uns aber in Zukunft bemühen, diesem Hohen Haus lesbare Texte vorzulegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst bei dem grundlegenden Schlüsselbegriff anfangen: Rating heißt auf Deutsch Bewertung. Alle meine Vorredner haben diesen Begriff nur auf Englisch gebraucht. Alle meine Vorredner haben betont, dass sie froh darüber sind, dass es ein interfraktioneller Antrag war, an dem wir im Finanzausschuss gemeinsam gearbeitet haben. Ich kann der Entschließung zustimmen, da der Inhalt des Antrages berechtigt ist. Auch die PDS unterstützt das Anliegen, einheitliche Richtlinien für die Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute, durch die ja deren Risiko abgesichert werden soll, zu entwickeln. Wir wissen alle, dass die steigenden Risiken auf den Finanzmärkten erhebliche Gefahren für die wirtschaftliche und soziale Situation der einzelnen Länder in sich bergen. Die Finanzmärkte sind internationale Märkte, die nicht mehr nur national organisiert sind. Deshalb wird es immer notwendiger, entsprechende Maßstäbe zur Risikoabsicherung auf internationaler Ebene zu entwickeln. Wir Fachabgeordnete haben nach dieser Einsicht gehandelt. Ich muss leider feststellen, dass die Vorstände der beiden großen Fraktionen, der SPD und der CDU/CSU, diese Einsicht noch nicht hatten; denn der Antrag ist nicht wirklich interfraktionell. Die PDS wurde in diesen Antrag nicht mit einbezogen, weil sich - nur so kann ich es mir erklären - die SPD hat erpressen lassen, da die CDU an diesem Punkt eine ideologische und nicht eine inhaltliche Debatte führen wollte und gesagt hat: Sie bekommen unsere Unterschrift nur, wenn die PDS als Mitverfasser des Antrags nicht erwähnt wird. Ich muss sagen: Gerade wenn Ihnen Ihr Anliegen, das Vertreten der Interessen des Mittelstandes, so wichtig ist, bin ich zutiefst enttäuscht von einer solchen kleinkarierten und peinlichen Politikauffassung, die Sie mit diesem Antrag wieder praktiziert haben. ({0}) Wir Fachabgeordnete haben hier größere Einsicht gezeigt. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig aber möchte ich betonen - ich habe nicht so viel Zeit, um darauf näher einzugehen -, dass mir bei Herrn Lennartz, aber auch bei Herrn Dautzenberg eine zu starke nationalistische Betonung aufgefallen ist. Gerade bei der Frage der Gleichwertigkeit externer und interner Ratings geht es um ein Problem, welches an vielen Stellen vorhanden ist. Es kann nicht sein, dass eine große Industriemacht wie die USA ihr praktiziertes System auf alle anderen Staaten übertragen will. Es ist notwendig, dass sich das Parlament hiermit beschäftigt. Es gibt darüber hinaus noch viele andere Punkte - ich nenne hier das Stichwort gerechter Welthandel -, bei denen sich zeigt, dass wir die gleichberechtigten Interessen von Staaten der Dritten Welt nicht entsprechend berücksichtigen. Deshalb darf man die eigenen Interessen bei einer solchen Debatte wie der heutigen nicht so nationalistisch betonen. Ich glaube, dass man sonst sehr schnell in schwieriges Fahrwasser kommen kann. ({1}) Abschließend möchte ich davor warnen, dass mit unserer Positionierung, die sich hoffentlich bald in den Baseler Beschlüssen niederschlägt, überhöhte Erwartungen geweckt werden. Das betrifft insbesondere die Rolle der Ratings zur Verhinderung internationaler Finanzkrisen. Es gibt in der Welt niemanden, der ein Mittel gefunden hat, um Finanzkrisen zu verhindern. Es ist notwendig, hier einen Mix verschiedener Instrumente anzustreben. Das Rating-Verfahren ist nur ein Bestandteil dieses Mixes, wenn auch ein guter und wichtiger. Ich glaube, es ist notwendig, auch andere Maßnahmen zu diskutieren und in die internationale Diskussion einzubringen. Ich möchte an die Tobin-Steuer zur Eindämmung und Verhinderung von spekulativen Finanzgeschäften erinnern. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht - hierzu habe ich bisher schon einige positive Akzente gehört -, der eine wichtige Ergänzung der heutigen Diskussion darstellt. Ich bedanke mich. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk das Wort für die SPD-Fraktion.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute unter einem recht trockenen Titel brisante Vorschläge zur Neuregelung der weltweiten Kreditwirtschaft, die, wenn sie so bleiben, wie es die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die BIZ, vorgeschlagen hat, gravierende Auswirkungen auf die Kreditversorgung der Entwicklungsländer und der aufstrebenden Märkte in Asien, aber auch auf das deutsche Bankensystem und damit auf die Finanzierungsmöglichkeiten der Wirtschaft haben werden. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen und erst Recht Existenzgründer und „Frischlinge“ auf dem Markt werden, wenn die Vorschläge so bleiben, mit deutlich höheren Kreditzinsen und mit geringeren Kreditangeboten rechnen müssen. Dies gilt es durch kluge Änderungen der bisher vorliegenden Vorschläge in einer gemeinsamen Anstrengung der Bundesregierung und der Europäischen Union zu verhindern und einen möglichen Flurschaden möglichst klein zu halten. ({0}) Übrigens, Herr Kollege Dautzenberg, die Bundesregierung hat sehr früh informiert. Wir haben uns im Unterausschuss ERP-Rahmenpläne im vergangenen November beim dritten Potsdamer Gespräch ausgiebig über das Thema Rating unterhalten. ({1}) - Lieber Herr Michelbach, Sie waren nicht dabei. Schreien Sie also nicht so laut dazwischen! - Wir haben uns damals sorgfältig informieren lassen und haben mit der Bundesregierung darüber diskutiert, wie die Maßnahmen auf der Arbeitsebene aussehen sollen. Dabei ist klar geworden, dass die alten Regelungen der BIZ aus dem Jahre 1988 nach den schweren Finanzkrisen des letzten Jahrzehnts nicht mehr zu halten waren und dringend einer Reform bedurften. ({2}) - Ich darf die Kollegen aus dem Finanzausschuss, die ich außerordentlich schätze, daran erinnern, dass sich auch der Wirtschaftsausschuss mit Fragen der Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen befasst und dass wir uns in dessen Unterausschuss ERP im Rahmen des dritten Potsdamer Werkstattgesprächs - der Kollege Schauerte, den ich hier sehe, kann das bestätigen - dieser Fragen angenommen haben. Deswegen fühlen zumindest wir uns ordentlich informiert. Die Mitteilung, dass die Bundesregierung ihre Sache ordentlich gemacht hat, sollte Sie nicht beunruhigen. Sie sollten vielmehr zustimmend Beifall klatschen. ({3}) Ich komme wieder zum Thema zurück. Die alten Regelungen der BIZ aus dem Jahre 1988 waren nach den schweren Finanzkrisen des letzten Jahrzehnts nicht mehr zu halten und bedürfen, wie gesagt, dringend einer Reform. Die spätestens alle zwei Jahre auftretenden Finanzkrisen - von der Russlandkrise bis zum Asiencrash - haben einen ungeheuren Schaden angerichtet, haben gewaltige Kapitalmassen vernichtet und haben auch große Volkswirtschaften ins Unglück gestürzt - allein in Asien 200 Millionen Menschen unter die Armutsgrenze -, sodass ein Fortbestehen des alten, weitgehend deregulierten und unkontrollierten Zustandes vor allem außerhalb Europas und der USA nicht mehr zu halten war. Neue Regeln waren und sind unabdingbar, vor allem dann, wenn es um die Bekämpfung einer der wesentlichen Ursachen geht, nämlich die hoch riskante, zum Teil völlig unverantwortliche Ausleihpolitik der Banken und anderer Kreditgesellschaften, und wenn verhindert werden soll, dass die Notenbanken gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds immer wieder einspringen, bürgen und umschulden müssen, um eine Kette von Bankzusammenbrüchen zu vermeiden. Das war zum Teil sehr teuer für den Steuerzahler, auch für den in Deutschland. Wir müssen bei allem Lob für die internationalen Rating-Agenturen, die mit ihren neutralen Bewertungen solche Krisen wenn nicht verhindern, so doch vermindern sollten, auch feststellen, dass die vier großen US-Agenturen und die eine englische die Finanzkrisen leider eher verstärkt als abgeschwächt haben. Ist zum Beispiel ein Land in den Strudel von Finanz- und Währungskrisen geraten, dann hatten und haben auch die besten Unternehmen dieses Landes kaum eine Chance, Kredite zu bekommen oder - wenn sie überhaupt welche bekommen nur zu ungünstigsten Konditionen. Für viele Entwicklungsländer und Emerging Markets hat das eine katastrophale Krisenverschärfung und Krisenverlängerung bewirkt. Auch darüber muss man offen reden. Es ist deswegen wenig verständlich, dass die BIZ ohne Revision ihrer Grundsätze - das so genannte externe Rating durch die oben erwähnten Agenturen sogar noch ausweiten will. Das bedeutet nicht, dass wir Sozialdemokraten gegen eine externe Risikobewertung von Staaten, Institutionen und Unternehmen sind. Eine rationale und neutrale Bewertung von Risiken ist notwendig und vernünftig. Außerdem geht auf den internationalen Kapitalmärkten für größere Unternehmen kein Weg an einer externen Bewertung vorbei, wenn sie Kapital zu günstigeren Konditionen - egal, ob Eigen- oder Fremdkapital erhalten wollen. Allerdings sind die privaten Rating-Agenturen nicht gerade billig. Darauf hat der Kollege Lennartz bereits hingewiesen. Für kleine und mittlere Unternehmen sind sie zum Teil schlicht unerschwinglich. Bliebe dies die releDr. Barbara Höll vante Bewertungsmethode, die unseren Banken zur Einschätzung von Risiken bei der Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen vorgeschrieben wäre, würden alle Kredite für ungeratete kleine Unternehmen gemäß der höchsten Risikoklasse eingeschätzt und dementsprechend massiv verteuert, auch wenn diese Unternehmen erstklassig und solide wären. In den USA beträgt die Zinsspanne zwischen den gerateten und den nicht gerateten Unternehmen mittlerweile mindestens 3 Prozent, wenn nicht deutlich mehr. Wir sind deswegen entschieden gegen die Vorschriften des externen Ratings für alle Unternehmen. ({4}) - Nein, das Risiko ist bei kleinen und mittleren Unternehmen nicht a priori höher. Das kann man immer erst im Nachhinein feststellen. Deswegen hängt die Frage nach der Höhe des Risikos nicht von der Größe des Unternehmens ab, sondern vom Markt, von seiner Solidität und von seinem Vorgehen. Gleichwohl: Eine neutrale und rationale Bewertung von Risiken ist - wenn sie für das Unternehmen bezahlbar bleibt - vernünftig. Wir Sozialdemokraten meinen, dass es deswegen darin sind wir uns alle einig - auch ein bankeninternes Rating zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderung für das Kreditrisiko geben muss, gleichwertig mit der Standardmethode. Allerdings muss dies den regionalen Risikolagen angemessen sein und darf die Finanzierungsmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen nicht unnötig einengen. Was meine ich damit? Ein Beispiel unter vielen - in der Begründung des Antrags, dem auch Sie zustimmen, sind einige angeführt - ist die pauschale Behandlung von Hypothekenkrediten. Sie sind nach den bisherigen Überlegungen der BIZ als relativ riskant eingestuft ({5}) - ja, der Gewerblichen -, was in keiner Weise der Realität der deutschen Wirtschaft entspricht. Wenn die BIZ nicht nachgibt, dann kommt es zu einer erheblichen Verteuerung der Kredite an kleine und mittlere Unternehmen, für die die Beleihung ihrer gewerblichen Grundstücke ein wesentliches Finanzierungsinstrument darstellt. Ein zweites Beispiel ist die pauschale Anforderung an Kreditinstitute, so genannte sonstige Risiken in der Eigenkapitalunterlegung zu berücksichtigen. Prinzipiell ist die Einbeziehung „sonstiger Risiken“ sinnvoll; nur gibt es dafür - das wissen wir - bisher kein tragfähiges quantifizierbares Verfahren. Jede nicht am tatsächlichen Risiko ausgelegte Unterlegungspflicht ist schädlich und führt in der Regel zu einer Verteuerung für kleine und mittlere Unternehmen. Deswegen fordern wir, dass auch die Bankenaufsicht in Deutschland schnell auf die Erarbeitung von qualitativen Anforderungen an das Management der „sonstigen Risiken“ drängt. Zusätzlich muss jeder wissen, dass alle bisher diskutierten Methoden, nämlich externes und internes Rating nach pauschalierten Methoden, zwei grundsätzliche Probleme haben: Erstens. Man kann nur die Risiken der Vergangenheit pauschal beurteilen. Zweitens. Man sortiert Risiken relativ grobschlächtig nach Branchen, Regionen und Unternehmensklassen. Damit wird man weder der Beurteilung künftiger Risiken noch der Beurteilung des künftigen Erfolges gerecht. Letztlich zählt aber nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Es zählt die Qualität der Ideen und der Menschen, die für das Unternehmen stehen. Ein erfolgreicher Risikokapitalmanager sagte mir einmal: „Ich schaue mir die Idee und den Mann an und nicht die Sicherheiten von Mama und Papa.“

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit, Frau Kollegin.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich. - Von beidem ist in den Ratingmodellen bisher aber nicht die Rede. Deswegen müssen wir sorgfältig darauf achten, dass die Vorschläge es Existenzgründern und Newcomern nicht noch schwerer als bisher machen. Eine dynamische, erfolgreiche Wirtschaft lebt davon, dass neue Ideen realisiert werden können und nicht mit noch höheren Risikozuschlägen als bisher bestraft werden. Wir Wirtschafts- und Finanzpolitiker sind aufgerufen, über neue Finanzierungsmöglichkeiten für den Mittelstand auch nach Basel II nachzudenken, wenn Lösungen gefunden und diskutiert sind. ({0}) Ich meine, wir kommen nicht darum herum. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluss dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Aufmerksamkeit der CDU/CSU-Fraktion ist es letztendlich zu verdanken, dass schwerwiegende Fehlentwicklungen für die deutsche Wirtschaft, für die Kreditwirtschaft und für die Unternehmen thematisiert werden und dass die heutige Entschließung des Deutschen Bundestages herbeigeführt wird. Es geht uns um die Chancengleichheit der deutschen Wirtschaft bei Kreditvergaben, um die Finanzierungsmöglichkeiten gerade für kleine und mittlere Unternehmen und letzten Endes um die generelle Wettbewerbsfähigkeit regional, national und international tätiger Kreditinstitute. Wir sind deshalb dankbar für den gemeinsamen Entschließungsantrag; denn die in den Konsultationspapieren des Baseler Ausschusses und in der EU-Kommission im vergangenen Jahr vorgestellten Überlegungen zur Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten gehen in ihrer Tragweite weit über die Kreditwirtschaft hinaus. Von den neuen Eigenkapitalregeln werden nicht nur die Banken, sondern alle Unternehmen, vor allem die mittelständischen Unternehmen, betroffen sein. Wenn Sie heute das Hohelied des Mittelstandes singen, dann muss ich bei dieser Gelegenheit sagen: Ihre mittelstandsfeindliche Politik darf keine Fortsetzung finden. ({0}) - Regen Sie sich nicht auf, Herr Lennartz. Wenn Sie von der Regierungskoalition vom Mittelstand sprechen, läuten bei den Mittelständlern inzwischen alle Alarmglocken. Das muss ich Ihnen deutlich sagen. ({1}) Die neueste Umfrage des Deutschen Bankenverbandes habe ich dabei. 69 Prozent der Deutschen meinen, der Mittelstand hat inzwischen schlechte Zukunftsperspektiven. 78 Prozent der Deutschen finden aktuell, der Staat benachteilige mittelständische Unternehmen. ({2}) Das ist auf die Verschlechterung der Rahmenbedingungen zurückzuführen. Herr Lennartz, regen Sie sich nicht auf. Die Leute sind unzufrieden mit Ihrer Steuerpolitik für den Mittelstand. ({3}) Sie sind unzufrieden mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Sie sind unzufrieden mit den Fortschritten bei der Deregulierung des Arbeitsmarktes. Sie sind unzufrieden mit Ihrer Bildungs- und Existenzgründerpolitik. Die mittelstandsfeindliche Politik darf jetzt nicht noch eine Fortsetzung im Finanzmarktbereich finden. Das ist der Punkt. ({4}) Es darf keine Benachteiligung der deutschen Wirtschaft bei Kreditvergaben geben. Nach den Vorschlägen des Baseler Ausschusses und der EU-Kommission soll die heutige Pauschalregelung demnächst der Vergangenheit angehören. In Zukunft sollen die Eigenkapitalanforderungen der Banken von der Bonität des kreditnehmenden Unternehmens abhängen. Für Unternehmen mit guter Bonität soll der notwendige Eigenkapitalbetrag also sinken, während für Kredite an Unternehmen mit schlechterer Bonität ein höherer Betrag erforderlich sein wird. Ziel ist eine stärker an den tatsächlichen Risikoverhältnissen orientierte Bankenaufsicht. Wir meinen, - auch da gibt es unterschiedliche Auffassungen -, dass letzten Endes auch das Risikomix des Kreditportfolios eines Unternehmens, einer Bank eine Rolle spielen muss. Dabei, meine Damen und Herren, sollen für Unternehmen verschiedene Gewichtungssätze zum Tragen kommen. Das ist für uns natürlich eine große Herausforderung, weil unsere mittelständischen Unternehmen die geringste Eigenkapitalquote und die niedrigste Nettoumsatzrentabilität in Europa haben. Deswegen ist das, was mehr Wachstum und Beschäftigung angeht, für uns so wesentlich. ({5}) Mit der Einführung verschiedener Gewichtungssätze ist für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit und auch für die deutsche Unternehmensstruktur eine erhebliche Gefahr verbunden. Der Teufel steckt natürlich auch hier im Detail. Das Baseler Konsultationspapier sieht nämlich vor, dass für die Bonitätsbeurteilung der Unternehmen externe Ratings, das heißt Ratings einer großen, meist amerikanischen Rating-Agentur, erstellt werden sollen. Dies würde nicht nur zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zulasten der deutschen Kreditwirtschaft, sondern auch zu einer massiven Benachteiligung deutscher Unternehmen und dabei insbesondere der mittelständischen Unternehmen führen. Ich spreche hier von der Rating-Lücke zwischen den USA und Deutschland: Während in den USA heute rund 8 000 Unternehmen geratet sind, verfügen in Deutschland nur circa 170 Unternehmen über ein Rating. Gerade kleine und mittlere Unternehmen, für welche die Kreditfinanzierung eine große Rolle spielt, werden sich ein Rating mit Kosten von mehreren 10 000 DM zumeist nicht leisten können. Es geht ja auch nicht nur um eine einmalige Ausgabe, sondern auch um jährliche Aktualisierungen des Ratings. Das sind fortlaufende Kostenbelastungen für unsere Betriebe, die ohnehin schon über die Maßen belastet sind. Für den Mittelstand ist es deshalb von zentraler Bedeutung, dass neben dem externen Rating gleichzeitig da sind wir uns ja einig - und gleichwertig bankinterne Verfahren der Klassifizierung eines Kreditnehmers anerkannt werden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die mittelständischen Unternehmen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden, in Zukunft bei der Konditionengestaltung der Kreditvergabe Vorteile aus ihrer jeweiligen Bonität erzielen können und zugleich nicht zu große Differenzen entstehen. Die deutsche Kreditwirtschaft hat frühzeitig einen Vorschlag zur bankaufsichtlichen Berücksichtigung bankinterner Ratings entwickelt. Dieser Vorschlag sieht vor, dass von den Aufsichtsbehörden lediglich ein Gewichtungssatz für bestimmte Ausfallklassen vorgegeben wird, die einzelnen Kreditinstitute die Ausfallwahrscheinlichkeit des einem bestimmten Unternehmen gewährten Kredites aber mit eigenen Verfahren der Bonitätsbeurteilung und in eigener Verantwortung ermitteln bzw. einschätzen. Eine Bank muss immer noch eine unternehmerische Aufgabe haben und ein unternehmerisches Risiko tragen. In einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung und einer sozialen Marktwirtschaft gehört dies zu den allerersten Voraussetzungen. Meine Damen und Herren, es gibt jedoch nach wie vor Widerstand von amerikanischer Seite, die die RatingLücke zugunsten ihrer Banken nutzen will. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere gemeinsam erarbeiteten Grundsätze voranbringen. Die CDU/CSU-Fraktion hat folgende Grundsätze aufgestellt: Die Kreditfinanzierung der deutschen Wirtschaft darf mit Blick auf Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht erschwert und nicht gefährdet werden. Die Besonderheit des deutschen Mittelstandes muss spezielle Berücksichtigung finden. Die Kapitalbeschaffung der Existenzgründer und mittelständischen Unternehmen darf nicht verteuert und die Leistungsfähigkeit regional tätiger Banken wie Kreditgenossenschaften und Sparkassen darf nicht beeinträchtigt werden. Neben den externen Ratings müssen deshalb interne Ratings gleichberechtigt anerkannt werden. Für Kredite mit einer Höhe bis zu 100 000 DM und für kurzfristige Finanzierungskredite mit einer Laufzeit von maximal 120 Tagen ({6}) sollte nach meiner Meinung gar kein Rating vorgeschrieben werden. Der gewerbliche Hypothekarkredit sollte aufgrund seiner niedrigen Ausfallrate mit höchstens 50 Prozent gewichtet werden. Ein mittelstandskonformes Rating dürfte hier nach meiner Meinung eine spezielle Lösung darstellen. Die Bundesregierung muss im Rahmen der internationalen Verhandlungen sicherstellen, dass eine wettbewerbsneutrale Ausgestaltung für alle Betriebe und für alle Bankengruppen stattfindet und Zuwiderhandlungen mit einem Veto belegt werden. Wir werden prüfen, was aus dieser Entschließung geworden ist, wie Sie verhandeln und wie ernst Sie dieses Anliegen der deutschen Wirtschaft nehmen. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Neuregelung der angemessenen Eigenkapitalausstattung von Kreditinstituten und der Eigenmittelvorschriften für Kreditinstitute und Wertpapierfirmen in der EU auf Drucksache 14/3523. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! Stimmenthaltungen? - Dieser Antrag ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Gunnar Uldall, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weltausstellung EXPO 2000 als Chance für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland nutzen - Drucksache 14/3374 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Ich bitte dann auch, den Zeitrahmen von einer Dreiviertelstunde einzuhalten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDU/CSU hat der Kollege Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni 2000 öffneten sich in Hannover die Tore für die Weltausstellung EXPO 2000. Dies ist die erste Weltausstellung auf deutschem Boden. Unter gewaltigem Medieninteresse wurde die EXPO dabei von den Politikern jener Parteien eröffnet, die dieses Projekt teilweise zögerlich bzw. gar nicht umgesetzt sehen wollten. Insofern bedanken wir uns an dieser Stelle bei denjenigen, die Ende der 80er-Jahre diese Vision entwickelt haben und ohne deren Initiative die Bundesrepublik Deutschland nicht die Chance erhalten hätte, am Anfang des neuen Jahrtausends der Gastgeber für die Welt zu sein. Hier sind vor allem der ehemalige Ministerpräsident Niedersachsens Ernst Albrecht, die damalige niedersächsische Finanzministerin Birgit Breuel und unser Alt-Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zu nennen. Ohne ihr couragiertes Eintreten wäre die damalige Vision nicht in die Realität umgesetzt worden. Dies ist nicht der erste Antrag zu diesem Thema und es wird ganz gewiss auch nicht der letzte sein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die anfängliche Totalverweigerung der Grünen in Niedersachsen und im Bund oder an die vom Hannoveraner SPD-Oberbürgermeister Schmalstieg 1992 gestartete Bürgerbefragung ({0}) verbunden mit der Hoffnung, die Mehrheit der Bürger werde sich gegen die EXPO entscheiden. Es ist gerade mal vier Jahre her, dass PDS und Grüne die EXPO absagen wollten. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt ist sie Gott sei Dank eröffnet, die Kleingeister haben sich nicht durchgesetzt. ({1}) Besonderer Dank gebührt den Machern der EXPO dafür, dass es gelungen ist, die 16 deutschen Bundesländer - vor allem auch die ostdeutschen Bundesländer - in den letzten zehn Jahren voll in das Projekt zu integrieren. Der Ansatz, die EXPO nicht nur in Hannover, sondern über die weltweiten Projekte in Deutschland und in vielen Staaten und Regionen der Welt stattfinden zu lassen, hat zu dieser Integrationsleistung maßgeblich beigetragen. Als Vorsitzender der sächsischen Jury und als Mitglied der Bundesjury zur Auswahl der weltweiten Projekte bin ich stolz, dass sich beispielsweise der Freistaat Sachsen mit 24 weltweiten Projekten an der EXPO beteiligt. Stellvertretend sei hier nur das Projekt des Wiederaufbaus der Dresdner Frauenkirche genannt. Leider zeigt sich seit der Eröffnung erneut, dass Deutschland ein Problem mit Großveranstaltungen hat. Täglich melden sich über die Presseticker selbsternannte „EXPO-Experten“ und profilieren sich mit „klugen Verbesserungsvorschlägen“, obwohl die Kenntnisse der Gesamtzusammenhänge häufig gänzlich fehlen. Meine Damen und Herren, als Tourismuspolitiker haben wir die EXPO 2000 seit 1995 intensiv und kritisch begleitet. Als Beispiel nenne ich nur unsere Forderung an die Tourismuswirtschaft, ein einheitliches Buchungs- und Reservierungssystem für Tickets und Pauschalangebote einzurichten. Weiterhin haben wir uns immer für ausreichende Marketingmittel zur nationalen und internationalen Vermarktung der EXPO eingesetzt. Die Erfüllung dieser Forderungen ist heute aktueller denn je und daher ein zentraler Punkt unseres Antrages. Die zusätzlich geforderten Marketingmittel in Höhe von 50 Millionen DM sind in Anbetracht der nicht erzielten Verkaufserlöse durch Eintrittskarten und Merchandisingprovisionen und in Anbetracht der Ausfälle im Mietund Pachtbereich eine ausgesprochene Marginalie. Durch zusätzliche Investitionen des Bundes müssen wir den Versuch unternehmen, Herr Staatssekretär Mosdorf, die bisher erwarteten Verluste in dreistelliger Millionenhöhe nicht noch weiter steigen zu lassen. Anstelle der öffentlichen Forderung, die Tickets zu verbilligen - was die Einnahmen der EXPO weiter drastisch reduzieren würde -, sehen alle Fachleute aus der Tourismuswirtschaft im zusätzlichen Einsatz von Marketingmitteln den Königsweg. Leider ist es offensichtlich noch nicht gelungen, allen Bürgern zu vermitteln, wie faszinierend, spannend und hochinteressant die EXPO tatsächlich ist. ({2}) - Ich war da. ({3}) Dabei ist nach ersten Erhebungen die Besucherzufriedenheit überwältigend. Die „Reichsbedenkenträger“ dürfen in den Medien nicht die Oberhand in der öffentlichen Diskussion gewinnen. Darüber hinaus ist der Bekanntheitsgrad der EXPO in wichtigen ausländischen Quellmärkten noch viel zu gering. Das exzellente Produkt EXPO muss mit dem weltweiten Marktpotenzial zusammengeführt werden. Hierzu haben wir, wie bekannt, nicht mehr viel Zeit. Mein Appell an die Vertreter der Regierungskoalition lautet: Wenn wir jetzt nicht schnell handeln, dann werden nicht nur der Bund, das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover kräftig zur Kasse gebeten, sondern es kostet Deutschland vielleicht auch seinen guten Ruf als Wirtschafts- und Tourismusstandort. Meine Damen und Herren, stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu! Lassen Sie uns gemeinsam diese nationale Verantwortung wahrnehmen!

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, Sie sprachen eben davon, dass seinerzeit der hannoversche Oberbürgermeister Schmalstieg eine Umfrage in der Stadt Hannover initiiert hatte. Ich nehme an, das Ergebnis wird Ihnen bekannt sein: 48 Prozent der Hannoveraner Bürger und Bürgerinnen haben sich gegen die EXPO ausgesprochen. In Ihren Ausführungen folgte der Satz, dass sich die „Kleingeister“ nicht durchgesetzt hätten. Sind Sie der Ansicht, dass es sich bei den 48 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Hannover um „Kleingeister“ handelt? Und wie wollen Sie Ihren Antrag, den Sie uns gerade vorgelegt haben, nämlich noch einmal 50 Millionen DM für eine entsprechende Werbung zu investieren, damit in Einklang bringen, dass aus dem Bereich des Haushaltsausschusses, und zwar nicht von PDS-Kollegen, sondern von Kollegen Ihrer Fraktion und auch der SPD-Fraktion, schon vor drei Wochen angekündigt wurde - damals war noch nicht zu erkennen, welcher Flop die EXPO werden würde, was die Besucherzahlen angeht -, ({0}) dass mindestens 2 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt investiert werden müssten, um die Ausfälle bei der EXPO auffangen zu können?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will direkt kurz auf Ihre erste Frage eingehen. 52 Prozent der Hannoveraner haben sich für die EXPO ausgesprochen. Wenn Sie angesichts der exzellenten Infrastruktur in dieser Stadt und Region, die letztendlich im Wesentlichen mit Bundesmitteln finanziert worden ist, die Hannoveraner heute fragen würden, dann kämen wir, glaube ich, auf eine Zustimmung zur EXPO von 90 Prozent, wenn nicht sogar von 100 Prozent. ({0}) Das ist Punkt eins. Punkt zwei. Man muss in der Politik fähig sein - ich gehe einmal davon aus, dass die bürgerlichen Parteien dies sind -, eine Entscheidung von gestern, die möglicherweise nicht richtig war, zu überdenken und, wenn sich eine neue Gegebenheit und Situation ergibt, neu zu treffen. So bin ich hundertprozentig der Überzeugung, dass wir mit den demokratischen bürgerlichen Parteien in diesem Hause, möglichst in Übereinstimmung mit dem Haushaltsausschuss, eine Möglichkeit für diesen von mir aufgezeigten Königsweg finden, um die einkalkulierten Verluste von etwa 400 Millionen DM, die, das wissen Sie, von Anfang an als Bürgschaftslücke im Finanzierungskonzept gestanden haben, nicht zu überschreiten oder, was natürlich noch viel besser wäre - das ist unsere gemeinsame Hoffnung -, sie zu minimieren. Sie von der PDS können sich gerne überlegen, ob Sie diesem innovativen Antrag nicht eventuell zustimmen wollen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Birgit Roth, SPD-Fraktion, das Wort.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Werte Interessierte! Die Inhalte der EXPO 2000, „Mensch - Natur Technik“, sind hervorragend. Sie haben bereits am Eröffnungstag circa 150 000 Besucherinnen und Besucher nach Hannover gelockt. Die EXPO ist sicherlich auch eine Visitenkarte für Deutschland - zunächst in technischer Hinsicht: Denken Sie nur an all die Innovationen, die dort ausgestellt werden. Sie ist sicherlich genauso in ökologischer Hinsicht eine Visitenkarte, auch wenn es - auch von unserer Seite - viel Kritik gegeben hat, zum Beispiel weil das Mehrwegsystem auf der EXPO nicht realisiert wurde. Aber dafür werden die Fragen des 21. Jahrhunderts problematisiert, zum Beispiel: Wie sieht es mit unserem Energiebedarf aus? Wie können wir unseren Energiebedarf decken? Wie gehen wir mit Energie insgesamt um? Die EXPO ist sicherlich auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine Visitenkarte für Deutschland. Bedenken Sie alleine, wie viele Nationen, wie viele verschiedene Mentalitäten teilnehmen, wie viele Stände es gibt; denken Sie an das Ereignisprogramm oder auch an das Kulturprogramm, durch das die EXPO führt. Insgesamt sind es 170 Nationen, die sich beteiligen, die durch ihre Verschiedenartigkeit, durch die Vielfalt der Mentalitäten zum Erfolg der EXPO beitragen. Wir haben des Weiteren 800 dezentrale weltweite Projekte, die das Motto der EXPO „Mensch - Natur - Technik“ untermauern und ergänzen, davon alleine 280 bei uns in Deutschland. Die EXPO wirft vor allem Fragen auf, provoziert sicherlich auch ein Stück weit. Sie fragt: Wie wollen wir im 21. Jahrhundert leben? Wie sieht unser Energieverbrauch aus? Wie lösen wir das Problem der Mobilität? Was ist mit unserer Gesundheit, mit der Ernährung? Aber es werden auch Themengebiete angerissen wie die Frage, was wir im Bereich der grünen oder der roten Gentechnik vorhaben und wie wir damit umgehen. Sicherlich wird die EXPO nicht alle Probleme, die dort aufgeworfen werden, lösen. Aber das ist auch nicht der Anspruch der EXPO. Die Themen sollen problematisiert werden, es soll angeregt werden zum Weiterdenken, es soll ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen werden. Nehmen wir das Umweltbewusstsein in Deutschland als Beispiel. Dies ist bei uns über Jahre bzw. über Jahrzehnte hinweg gereift. Das war ein Prozess. Genau daran setzt die EXPO an und versucht, ein Bewusstsein für die herausragenden Probleme des 21. Jahrhunderts herzustellen. Deswegen halten wir die Inhalte der Weltausstellung für wirklich gelungen. ({0}) Dass Fehler im Bereich des Managements - sei es im Bereich des Verkaufs, des Ticketings, aber auch bei der Werbekampagne; das ist ja oft genug durch die Presse gegangen - gemacht worden sind, ist, glaube ich, nicht mehr strittig. Frau Breuel sowie Herr Volk und Co werden dafür die Verantwortung tragen müssen. Wir im Tourismusausschuss haben in den letzten anderthalb Jahren wirklich kontinuierlich auf Schwachstellen hingewiesen, und zwar so lange, bis sich etwas geändert hat. Denn wir sehen ganz klar unsere Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, in erster Linie aber auch gegenüber dem Steuerzahler. Aus dieser Perspektive beurteilen wir die in dem von der CDU/CSU eingebrachten Antrag formulierte Forderung, dass weitere 50 Millionen DM kurzfristig in Werbemaßnahmen hineingepumpt werden. Es ist bereits angesprochen worden: Sowohl der Bund als auch das Land Niedersachsen haben bereits Millionenbürgschaften für die EXPO übernommen. Das heißt, wir stehen bereits in der Verantwortung bzw. in der Pflicht. Herr Brähmig, nachdem die EXPO gerade einige wenige Tage ihre Tore geöffnet hat, fordern Sie bereits, weitere Finanzspritzen für Werbemaßnahmen bereitzustellen. Ich kann an dieser Stelle nur an Ihr Verantwortungsgefühl gegenüber dem Steuerzahler und in Bezug auf das Gelingen der EXPO appellieren. Ich halte das, was Sie hier tun, für eine unnötige Debatte. ({1}) Warten Sie bitte erst einmal ab! Wir haben doch noch überhaupt keine aussagekräftigen Zahlen vorliegen. Sie können doch nicht schon nach fünf Tagen abschließend urteilen. Denn zum Beispiel die Sommerferien haben noch gar nicht begonnen. Ausländische Touristinnen und Touristen können noch gar nicht da sein. Schauen Sie sich einmal die Umfrageergebnisse in Bezug auf die EXPO an: Das Ergebnis ist, dass 90 Prozent der Besucherinnen und Besucher mit den Inhalten der EXPO sehr zufrieden sind und 64 Prozent nochmals kommen möchten. Oder denken Sie an die letzte Weltausstellung in Sevilla. Dort hat es in den letzten vier Wochen einen wahrhaftigen Run auf die Weltausstellung gegeben. Sie aber geben nach fünf Tagen ein abschließendes Urteil über eine Ausstellung ab, die insgesamt fünf Monate dauern wird. Das, Herr Brähmig, halte ich, mit Verlaub, für verantwortungslos. ({2}) Lassen Sie mich auf den Antrag der CDU/CSUFraktion zurückkommen. Es geht hier ja um die Weltausstellung, um ein nationales Symbol und vor allem um die Chance, uns technisch versiert und kompetent, aber auch aufgeklärt gegenüber dem Ausland zu präsentieren. Was Sie da tun, ist so zu beurteilen - das finde ich nicht in Ordnung; ich halte es für falsch und finde es sehr schade -: Sie benutzen die EXPO als Vorwand, um parteipolitische Forderungen in den Vordergrund zu stellen. ({3}) Ich habe mir Ihren Antrag einmal genauer angesehen und möchte Ihnen dazu drei Beispiele nennen: Erstens fordern Sie, „den Großraum Hannover für die Dauer der EXPO 2000 zu einer Pilotregion zur Entbürokratisierung und Deregulierung zu machen ...“ Herr Brähmig, ich bin mir sehr sicher: Der Anspruch einer Weltausstellung ist ein wahrhaft anderer. ({4}) Anspruch und Ziel der Weltausstellung sind es, die Probleme, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu thematisieren und nicht für wenige Wochen ein Musterstädtchen der Entbürokratisierung zu sein. ({5}) Dass der Abbau der Bürokratie eine politische Herausforderung für uns alle ist, die schon seit Jahren auf der Tagesordnung steht, ist richtig, sollte aber nicht in solch einer Form geschehen. Denn ein Abbau der Bürokratie ist meines Erachtens nur langfristig wirklich zu bewältigen. ({6}) Zweitens fordern Sie, „auf Ausnahmeregelungen bei den arbeitsrechtlichen Voraussetzungen ... hinzuwirken“. Dies liegt zum einen ganz klar im Verantwortungsbereich der Tarifpartner. Zum anderen rufen Sie dadurch, dass Sie auf Ausnahmeregelungen hinwirken, sofort nach der Politik. Da muss ich Sie mit einem süffisanten Lächeln auf die erste Forderung Ihres Antrages verweisen. Dort sprechen Sie sich nämlich für den Abbau von Bürokratie aus. Jetzt erklären Sie, wir sollten Ausnahmeregelungen schaffen. Dies ist nicht ganz logisch, Herr Brähmig. Lassen Sie mich ein drittes Beispiel anführen. Auch hier ein Zitat aus Ihrem Antrag: Wir sollen Einfluss darauf nehmen, „dass gleich zu Beginn der EXPO Sonderangebote der Deutschen Bahn AG aufgelegt werden, um zu einem guten Start der Weltausstellung beizutragen.“ ({7}) Herr Brähmig, die Bahn ist mittlerweile privatisiert, wie das kleine Wörtchen AG, Aktiengesellschaft, schon sagt. Wie kann die Politik auf die Preisgestaltung eines Unternehmens Einfluss nehmen? Manchmal frage ich mich, welche politischen Vorstellungen Sie von Marktwirtschaft haben. Sie sprechen nämlich von Preisregulierung. ({8}) Ich muss Sie mit einem weiteren, ich hoffe charmanten, süffisanten Lächeln auf Punkt 1 Ihres eigenen Antrags verweisen, in dem Sie Entbürokratisierung, aber vor allem auch Deregulierung fordern. Deregulierung bedeutet mehr Wettbewerb. Ich kann daher nicht ganz verstehen, dass Sie unter Punkt 12 Ihres Antrags klare Preisfestsetzungen und klare Preisregulierungen fordern. Abgesehen davon möchte ich Sie darauf hinweisen, dass der Tourismusausschuss da sehr aktiv war. Herr Hinsken hat bereits im Januar dieses Jahres führende Vertreter der Deutschen Bahn eingeladen. Der Vorstand war bei uns zu Gast. Schon im Januar sind uns die Preiskalkulationen der Bahn vorgelegt worden - Sie erinnern sich vielleicht noch daran -: die Familienkarte für 199 DM bzw. 249 DM. Das heißt, Punkt 12 Ihres Antrags ist bereits seit Monaten realisiert. ({9}) Was ich schade finde, ist die Art und Weise, in der wir über dieses Thema debattieren, nämlich: Das Glas ist halb leer und nicht halb voll. In diesem Sinne möchte ich an Sie appellieren: Wir wollen unsere Augen sicherlich nicht vor den Problemen, gerade auch den finanziellen Problemen der EXPO 2000 verschließen. Ich bitte Sie aber, auch die Stärken der EXPO anzuerkennen, die Errungenschaften und die Leistungen der EXPO in den Vordergrund zu stellen. ({10}) Ich fordere Sie auf, die Augen vor diesem Ziel nicht zu verschließen und jetzt nicht diese Debatte zu führen. Vielmehr sollten die Stärken der EXPO ganz klar herausgestellt werden, nämlich die Leistungen und Errungenschaften im Bereich der Innovation und im Bereich der Technik für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Vielen Dank. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als jemand, der Ende der 80er-Jahre daran beteiligt war, dass die niedersächsische Landesregierung den Antrag bei der Bundesregierung gestellt hat, die EXPO durchzuführen, freue ich mich, dass sie nun eröffnet worden ist und dass sie mit ihrem Angebot eine Ideenbörse und Trendsetter in Deutschland für das 21. Jahrhundert ist. Wir sollten gemeinsam festhalten und uns darüber freuen, dass Deutschland die einmalige Chance hat, am Beginn dieses Jahrhunderts die Welt in Deutschland zu versammeln, dass Deutschland die Nationen angeregt hat, in ihren Pavillons zu zeigen, wie sie sich das 21. Jahrhundert vorstellen, und einige Angebote aus Deutschland zu machen. Birgit Roth ({0}) Ich möchte mich an dieser Stelle bei zweien bedanken, die dieses Ziel in unterschiedlichen Positionen politisch mit vorangetrieben haben. Als Niedersachse denke ich natürlich zuerst an die Bundesebene; die anderen können sich selber loben. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat diese EXPO mit großer Verve gefördert. Ich möchte ihm dafür danken. ({1}) Man sollte hier aber genauso festhalten, dass sich der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder von Anfang an und in einer Zeit, in der Rot-Grün in Niedersachsen die EXPO madig gemacht hat und sie am liebsten kaputtgeredet hätte, zu der EXPO bekannt hat. Ich denke, in einer solchen Diskussion, die wir weltoffen führen wollen, wird es uns helfen zu sagen, wer die ganze Zeit gemeckert hat, wer das Projekt madig gemacht hat und wer nicht wollte, dass aus Deutschland positive Zeichen in die Welt hinausgehen: Anfang der 90er-Jahre haben insbesondere die Grünen versucht, alles kaputtzumachen, statt positiv Einfluss zu nehmen. ({2}) Das geht bis hin zu dem Trauerspiel, das damals in der Stadt Hannover stattfand. Die Begeisterung der Besucher spricht für sich. Jetzt haben wir fünf Monate lang die Chance, gute Nachrichten aus Deutschland zu verbreiten. Aber dies verbietet natürlich in keiner Weise, gemeinsam darüber nachzudenken, wie angesichts des schleppenden Kartenverkaufs Hinweise gegeben werden können, wie man die EXPO rundum zu dem Erfolg macht, der notwendig ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Unternehmen, wie es die EXPO ist, auf den Markt, den es in diesem Bereich gibt, reagieren muss. Dies bedeutet, dass man, wenn der Kartenverkauf zu Anfang schleppend ist, bestimmte zusätzliche Angebote machen muss. ({3}) Mir leuchtet es nicht ein, warum es erst einmal einige Tage brüsk abgelehnt worden ist, etwa für Familien die Eintrittspreise vor den Sommerferien um ein Drittel billiger zu gestalten. Mir leuchtet es auch nicht ein, warum es - trotz der Flaute, die wir im Augenblick haben - zunächst abgelehnt wurde, an den Tageskassen auf den zusätzlichen Eintrittspreis zu verzichten. Heute lese ich in Meldungen aus dem Ticker - es ist klar, dass ich mich darüber freue -, dass die Verantwortlichen inzwischen ebenfalls zu dieser Überzeugung gekommen sind. In diesem Zusammenhang fordere ich Flexibilität statt Prinzipienreiterei ein. ({4}) Angesichts der Globalisierung ist dies etwas, was man gerade auch in Deutschland braucht. Ich denke, auch ein neuer Werbeanlauf ist geboten. Bei diesem Punkt knüpfe ich an das an, was der Kollege Brähmig zu Anfang gesagt hat: Über Beträge kann man sich immer unterhalten. Ich hielte es für gut - mehr möchte ich dazu nicht sagen -, wenn die Geschäftsführung der EXPO ihre Situation im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vortragen, neue Maßnahmen vorschlagen und gemeinsam den Rückenwind, den sie ja aus diesem Parlament und auch von der Bundesregierung haben kann, nutzen würde, um Deutschland entsprechend darzustellen. Frau Roth, das ist doch etwas, was wir in einer solchen Debatte gemeinsam an Positivem sagen könnten. Jeder Tag zählt. Ich freue mich, dass Frau Breuel erklärt hat, dass es eine zusätzliche Werbekampagne geben soll. Ich warne vor Panikmache auf der einen Seite ({5}) und vor Trotzreaktionen auf der anderen Seite, als müsste man gar nichts ändern. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns von Anfang an damit beschäftigen: Wenn denn tatsächlich 1 Million Besucher weniger käme, bedeutete dies geringere Einnahmen in Höhe von 45 Millionen DM. Deswegen muss sich dieser Bundestag auch mit solchen Fragen beschäftigen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuchardt?

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte nur noch diesen Gedanken zu Ende bringen. - Wir tun dies auch in anderen Zusammenhängen bei weit kleineren Beträgen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, bitte sehr.

Prof. Dr. Erika Schuchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002788, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin über die Vorschläge, die Sie hier eingebracht haben, sehr froh und möchte nur einen Aspekt besonders in den Mittelpunkt rücken: ({0}) die Frage, ob der Aspekt Jugendliche auf der EXPO, denen der Zutritt gegenwärtig durch den Preis der Eintrittskarten in Höhe von 69 DM nicht möglich ist, mit berücksichtigt wird. Denn ich denke, dass ein Ferien-EXPOPass eine Maßnahme wäre, die nicht nur den Jugendlichen das Tor zur Welt öffnen würde, sondern sie auch - das haben Sie angesprochen - als Werbeträger nutzen würde. Denn Jugendliche sind die besten Werbeträger für die Zukunft. Daher habe ich am Montag einen Brief an die Generalkommissarin der EXPO, Frau Breuel, geschrieben, und zwar mit dem Hinweis, dass es hier eine Zielgruppe gibt, die bisher nicht berücksichtigt ist. Denn die Jugendlichen, die die EXPO in den Sommerferien besuchen würden, sind diejenigen, die keinen Taucherurlaub in Ägypten machen. Sie hätten für 20 DM die Chance, das Tor zur Welt kennen zu lernen, und könnten zum Werbeträger werden. Ich bitte Sie, darüber noch einmal nachzudenken.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Schuchardt, ich will gern akzeptieren, dass das ein Aspekt ist. Ich würde hier allerdings die Hilfe eher bei den Kommunen ansiedeln, aus denen diese Jugendlichen kommen. Heute hat aus den verschiedensten Gründen gerade ein Teil der Jugendlichen mehr Geld als etwa ein Teil der älteren Generation. Deswegen plädiere ich nicht dafür, dass die Einzelkarte verbilligt abgegeben wird. Im Übrigen gibt es weitere Überlegungen, die dafür sprechen, dass man das nicht tun sollte: Zigtausende haben nämlich schon im Vorverkauf Karten erworben; sie würden sozusagen bestraft, wenn es jetzt zu einer anderen Regelung käme. Wir sollten aber etwas für Familien tun, damit sie etwa in der Zeit vor den Ferien das Angebot bereits nutzen. In der Zwischenzeit sollte - ich freue mich, dass die EXPO darauf offenbar eingeht - der Aufschlag, der an der Tageskasse erhoben wird, abgeschafft werden. In einer Situation, in der der Zulauf ungenügend ist, wäre es das Einfachste, einen abschreckenden Zusatzbeitrag nicht mehr zu erheben. Dass wir darüber überhaupt noch diskutieren müssen, ist schade. Ich plädiere in diesem Zusammenhang - ich sage das zusammenfassend - für mehr Flexibilität; denn das 21. Jahrhundert - auch das vermittelt die EXPO im Übrigen bei den vielen Visionen, die sie vorstellt - braucht mehr Flexibilität gerade im Hinblick auf die Globalisierung. Ich würde mir diese Flexibilität auch in der Region Hannover wünschen; ein Stichwort dazu wäre das Thema Ladenschluss. Das Wichtigste ist aber, meine Damen und Herren, dass weltweit kein Zweifel daran besteht, dass die deutsche Politik - ich freue mich, dass das quer durch die meisten Fraktionen der Fall ist - die EXPO als eine riesige Chance ansieht und dann, wenn sich Probleme stellen, verlangt, wie wir es von uns selbst auch immer verlangen, der Sache gerecht zu werden und Flexibilität anstatt Panikmache und Prinzipienreiterei an den Tag zu legen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt keine Panikmache, aber natürlich einer derjenigen, die das früher alles schon sehr kritisch gesehen haben. Trotzdem sage ich, dass es natürlich sinnvoll ist, für den Besuch der EXPO in Hannover zu werben. ({0}) Die CDU/CSU hat es sehr gut beschrieben und hier wurde es mehrfach gesagt: Die EXPO ist ein Diskussionsforum für die zentralen sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen des 3. Jahrtausends. Es gibt fantasievolle Pavillons der rund 180 teilnehmenden Nationen und internationalen Organisationen. Es gibt einen Themenpark mit spektakulären Vorstellungen und Simulationen. Es gibt ein attraktives Kultur- und Ereignisprogramm mit über 800 Veranstaltungen. Es gibt Außenprojekte der EXPO. Viele hoch qualifizierte Arbeitsplätze sind geschaffen worden und werden hoffentlich auch erhalten. Es ist auch angenehm, jetzt zur EXPO zu fahren. Ich wohne ja nicht so weit davon entfernt und bin in den letzten Tagen ein paarmal über den Messeschnellweg unter den EXPO-Brücken durchgefahren. Ich kann Ihnen und allen Zuhörern sagen: Früher gab es zwar Diskussionen darüber, ob man die Infrastruktur zustande bringen würde, die die Besuchermassen verkraftet, die man braucht, damit die EXPO kostendeckend stattfinden kann. Jetzt aber sehen wir, dass man ohne Schwierigkeiten hinfahren kann und große Parkplätze vorfindet, auf denen verloren einige Rudel Autos stehen. Es gibt kein Gedränge auf den EXPO-Wegen. Wer wie ich über den Messeschnellweg fährt, sieht auf den drei Brücken, die über den Messeschnellweg führen, kleine Besuchertrüppchen tröpfeln. Die Kehrseite davon sind viele leer stehende Hotelbetten und Privatzimmer. In Hannover gibt es ja ein Gewerbe der Messewirte und der Familien, die Messegäste aufnehmen. Mir hat am Montag ein Taxifahrer erzählt, die einzigen, die an der EXPO verdient hätten, seien die Möbelhäuser, denn er habe mit seinem Lasttaxi in den letzten zwei Monaten allein an 50 Adressen neue Betten und neues Bettzeug geliefert. Es gibt also viele Privatbürger in Hannover, die sich jetzt fragen, ob sie das Geld, das sie investiert haben, durch Mieten wieder hereinbekommen. Es ist ein Jammer und gerade weil es so ist, sollten alle zur EXPO fahren. ({1}) Ich sage noch eins: Ich verzichte darauf, hier rechthaberisch zu argumentieren und zu sagen, wir Grünen seien schon immer dagegen gewesen; wir seien wegen der enormen Naturbelastung durch Parkplatzflächen usw. und wegen der ökonomischen Belastung durch die befürchtete Preissteigerung auf dem Wohnungsmarkt dagegen gewesen. Die nachteiligen Folgen auf dem Wohnungsmarkt sind ebenso wie ökologische Belastungen durch höhere Verkehrsaufkommen nicht eingetreten. Alle Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Ich muss den Oberbürgermeister Schmalstieg wirklich in Schutz nehmen, er hat keinen Bürgerentscheid angeordnet. Er musste einen anordnen, weil er durch Ratsbeschluss, der von den Schuldigen, den Grünen, herbeigeführt worden ist, gezwungen wurde. ({2}) - Wir waren die Missetäter. Die Grünen haben damals 48,5 Prozent Zustimmung gehabt. 2 Prozent mehr und Hannover, dem Land und dem Bund wäre das Desaster erspart geblieben. ({3}) Danach haben wir uns demokratisch verhalten. Der Umweltdezernent in Hannover, der ein Grüner ist, hat die grüne Begleitplanung gemacht. Grüne Gruppen im Lande haben EXPO-Projekte vorgeschlagen. Dass Uelzen jetzt einen wunderbaren, von Hundertwasser als Letztes vor seinem Tod ausgemalten Bahnhof hat, geht auf eine Idee zurück, die von einem Grünen stammt. Wir haben uns also voll beteiligt. Rechthaberei gibt es überhaupt nicht. Natürlich rufen wir jetzt auch deshalb dazu auf, zur EXPO zu fahren, weil wir keine Belastung von Land und Bund durch die hohe Defizitabdeckung, die auf sie zukommt, wollen. ({4}) - Mein lieber Herr Hirche, ich lese in der „Hannoverschen Allgemeinen“ vom Dienstag, dass es schon am Montag eine erste Alarmsitzung des niedersächsischen Landeskabinetts gegeben hat. Dort heißt es: Sollten die Besucherzahlen im bisherigen Rahmen bleiben, „würden beim Land Defizite hängen bleiben, die wir nicht verkraften können“. ({5}) - Natürlich, deshalb sage ich ja auch: Alle hin! Ich unterstütze auch alle weiteren Werbeprogramme und alles, was dem Tourismusausschuss einfällt. Man muss aber auch fragen: Wie sieht das aus? Es waren täglich 260 000 Besucher kalkuliert, um einigermaßen hinzukommen. Am ersten Tag kamen 150 000. Ich muss meinen Vorredner ein wenig korrigieren: Das waren nicht alles begeisterte Hannoveraner. 40 000 Besucher waren Schüler hannoverscher Schulklassen, denen Gratistickets in die Hand gedrückt wurden, weil der Bundeskanzler bekanntlich seinen großen Eröffnungstag hatte. Rund 10 000 weitere Besucher waren Bauarbeiter, die auch nichts für den Besuch bezahlt haben, was sozial absolut richtig war. Bauarbeiter sollen auch etwas davon haben und nichts dafür bezahlen. Es waren also alles in allem weniger als 100 000 zahlende Gäste da. So geht es weiter: In den ersten vier Tagen kamen 360 000 statt der erwarteten 1 Million Besucher. Am Sonntag kamen 16 000 statt 300 000 Besucher und am Montag 70 000 statt 260 000 Besucher. Bis Ende Oktober - das sind 150 bis 160 Tage - müssten 40 Millionen Besucher kommen, also 260 000 täglich. Das scheint nicht so zu laufen. ({6}) Es kann natürlich daran liegen, dass jetzt nicht Reisezeit ist. ({7}) Sevilla hat gezeigt, dass die Besucher am Ende doch noch gekommen sind. ({8}) - Ich unterstütze die EXPO doch. ({9}) - Ich habe doch darauf hingewiesen, dass es leere Parkplätze gibt. Es ist wunderbar, zur EXPO zu fahren. Jetzt rechnen wir einmal: Es gab 400 Millionen DM an öffentlichem Zuschuss; ursprünglich sollte er mitberechnet werden, dann ist er nachgelassen worden. ({10}) Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch einen Moment Redezeit.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich habe noch gar nichts gesagt. ({0})

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Damals hatte man einen hohen Kartenvorverkauf in die Planung einberechnet, der sich nicht realisieren ließ. Dann war die Messe AG praktisch pleite. Daraufhin musste man die 400 Milliarden DM hineinstecken. Es gibt 200 Millionen DM Einnahmeausfall durch die Industrie; denn das Industriesponsoring, mit 950 Millionen DM angesetzt, hat nur 750 Millionen DM gebracht. Ludolf von Wartenberg hat gesagt: Jetzt ist genug, mehr kommt von uns nicht. Diese 200 Millionen DM muss man auch berücksichtigen. Die ersten sechs Tage bringen einen Ausfall in Höhe von 72 Millionen DM, so haben wir ausgerechnet. Sie alle haben jetzt ein Ticket bekommen. Ich habe ausgerechnet, dass das noch einmal 46 000 DM sind, die Ihnen nachgeschmissen werden. Rundherum 672 Millionen DM an Defizit, die Milliarde ist bald erreicht. Das Problem ist natürlich, wie Sie wissen, die Defizitabdeckung von 50:50. Beim Bund kommt auch etwas an, aber das Land Hannover hat es wirklich schwer. Oder sollte vielleicht der US-Botschafter Kornblum Recht haben mit der Begründung, mit der er den amerikanischen Pavillon absagte? Das ist genau derselbe Spruch, mit dem wir die Diskussion vor zehn Jahren begannen. Wir sagten nämlich: Die EXPO ist im elektronischen Zeitalter wahrscheinlich keine zeitgemäße Veranstaltung mehr. Das wird so nicht funktionieren. ({0}) Die Leute sind über alles Mögliche informiert, auch über Naturtechnik. Sie sind informiert, Sie müssen nicht nach Hannover.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Aber nun, Herr Kollege, muss ich doch auf die Uhr schauen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich folge der Ermahnung der Präsidentin und ende mit folgenden Worten: Im 19. Jahrhundert hat Deutschland es nicht geschafft, eine EXPO zu veranstalten. Danach hat Deutschland Kriege geführt. Jetzt hat Deutschland seine EXPO - nach 150 Jahren. Vielleicht ist es aber so: Wer zu spät kommt, den bestraft die Börse. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann das Loblied, das von den zwei großen Fraktionen auf die EXPO gesungen wurde, nicht mitsingen. Das ist sicherlich nachzuvollziehen. Seit 1851 nimmt jede Weltausstellung Bezug auf aktuelle Fragen und Aufgaben der jeweiligen Zeit. Neben dem Kennenlernen fremder Kulturen sollen Herausforderungen, Chancen und Risiken zur Lösung der globalen Probleme erörtert sowie innovative und zukunftsfähige Ideen nach dem Prinzip der Nachhaltigkeit diskutiert und vorgestellt werden. Sie wissen - das haben einige Redner heute schon bestätigt -, dass die PDS der Entwicklung des Projektes der EXPO von Anfang an sehr kritisch gegenübergestanden hat. ({0}) Die Kritikpunkte seit der 13. Legislaturperiode haben sich vom Inhalt her nicht verändert, sondern sie sind nach wie vor aktuell. ({1}) Nachdrücklich forderten wir ein in sich schlüssiges Konzept, das inhaltlich so gestaltet ist, dass kostengünstig eine Entwicklung in Richtung eines ökologischen und sozialen Umbaus sowie ein Ausgleich zwischen Industriestaaten und Staaten der so genannten Dritten Welt herbeigeführt werden. Mit dieser Zielsetzung könnte in der gegenwärtigen Zeit eine Weltausstellung sicherlich Sinn machen. Das, denke ich, hat Herr Lippelt in seinen Ausführungen sehr deutlich gemacht. Nun ist eingetreten, worauf wir aufmerksam machten und was wir bereits in den vergangenen Jahren forderten. Deshalb müssen sich Frau Breuel und ihr Vorstand fragen lassen - und zwar nicht nur von der PDS -, was sie mit all den Vorschlägen, die in den vergangenen Jahren unterbreitet wurden, gemacht haben. Wo sind all die Vorschläge gelandet? Wie ist sie damit umgegangen? Harren die Vorschläge vielleicht geduldig in einem Schreibtisch oder verschwanden sie gleich im Papierkorb? Auch die Bundesregierung muss sich an dieser Stelle fragen lassen, wie sie mit den Haushaltsmitteln umgeht, was mit ihnen passiert, ob sie überhaupt sinnvoll eingesetzt worden sind. Angesichts der dramatischen Haushaltslage, wo jeder aufgefordert ist zu sparen, war es von Anfang an nicht zu rechtfertigen, dass die EXPO durch ökonomisch weit überzogene Investitionen die öffentlichen Haushalte belastet und Millionen oder Milliarden DM Steuergelder verschlingt. Dafür ist das Geld da, aber nicht für die jährliche Nettolohnanpassung von Renten, von Arbeitslosengeld oder auch von Sozialhilfe. ({2}) Nun kommt ein Antrag von der CDU/CSU; auch das ist schon benannt worden. Sie fordert, kurzfristig 50 Millionen DM zusätzlich für den Haushalt der EXPO und für die DZT einzustellen. Was soll man dazu noch sagen? Ist das noch verantwortungsvoll? Wie erklären Sie das zum Beispiel sozial Betroffenen? ({3}) Meine Damen und Herren, in Politik und Wirtschaft sind bei zentralen Aufgaben stets Prioritäten zu setzen. Beim Thema EXPO muss beachtet werden, welches Ausmaß ein solches Projekt eigentlich annehmen darf, denn wir müssen uns heute schon fragen: Begeben sich die ausrichtenden Städte und Länder im Rahmen des globalen Wettbewerbs nicht in unverantwortlicher Weise in Schwindel erregende finanzielle Belastungen, um immer größer, besser und gigantischer zu werden, und das alles zu lasten des eigentlichen inhaltlichen Anliegens dieser Weltausstellung? Sicherlich ist es jetzt noch zu früh, Rückschlüsse auf das Projekt der EXPO zu ziehen, aber die täglichen Meldungen zu den Verlusten sollten nicht irgendwo als nicht relevant oder vielleicht als überzogen abgewiesen werden. Ob Motto, Themenparkgestaltung und die weltweiten Projekte die sehr hoch gesteckten Ziele auch erfüllen können oder eine multimediale und von der Technik dominierte Supershow der Wirtschaft vorherrscht, wird man erst am Ende der Weltausstellung beantworten können. Unsere Kritik an der EXPO wird sich daran ausrichten, was sich nachhaltig zum Wohl der Menschen und der Natur überall auf dieser Welt entwickeln wird. Konkret heißt das für uns, solche Fragen wie diese zu beantworten: Welche Nachnutzungskonzepte gibt es? Welche Zukunft haben die vielen externen Projekte? Welche Nachbereitungsmaßnahmen bzw. Nachbereitungsprogramme gibt es für die Länder der so genannten Dritten Welt? War die EXPO wirklich eine Chance für Wirtschaft und Tourismus? ({4}) Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich dem Kollegen Ernst Hinsken, von der CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 1. Juni hatten wir den Startschuss zur EXPO 2000 durch unseren Bundespräsidenten. Alle Redner waren des Lobes voll, und dies deshalb, weil erstmals seit 150 Jahren - seitdem gibt es Weltausstellungen - eine Weltausstellung in der Bundesrepublik Deutschland stattfindet und Deutschland Gastgeber ist. Das touristische Topereignis dieses Jahres hat begonnen. Man kann - das möchte ich als Appell hinausposaunen - die Welt in zwei Tagen erwandern. Ich meine, es ist eine Weltreise gerade für den kleinen Mann, der sich vieles sonst nicht erlauben kann. ({0}) Nach den Olympischen Spielen 1972 in München steht Deutschland mit diesem globalen Topereignis im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. 130 Staatsgäste geben sich ein Stelldichein, haben sich angemeldet. Wir alle haben uns gefreut, dass so viele zugesagt haben. Viele von uns hätten sich noch mehr gefreut, wenn der amerikanische Präsident Herr Clinton am 1. Juni auch zur EXPO gegangen wäre. ({1}) Viele haben sich auch geärgert und die Meinung vertreten, es sei ja nicht richtig, dass die USA als Aussteller durch Abwesenheit glänzen. Nein, meine Damen und Herren, auch die Vereinigten Staaten von Amerika sind mit acht Pavillons bei dieser Weltausstellung vertreten. Lassen Sie mich das flapsig bemerken. Es ist nämlich achtmal Mc Donalds hier zugegen. ({2}) Meine Damen und Herren, es ist - sicherlich nicht nur für mich, sondern auch für Sie alle erfreulich, dass die EXPO-Projekte nicht nur in Hannover zu bestaunen sind, sondern dass diese Ausstellung weltweit begleitet wird, dass vor allen Dingen allein in der Bundesrepublik Deutschland 280 Projekte diese EXPO Hannover begleiten, die Leute animieren, eben nicht nur diese Einzelprojekte anzusehen, sondern auch nach Hannover zu kommen. Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen Fraktionen herzlich bedanken, weil immer das Verständnis dafür vorhanden war, dass wir dieses Thema mehrmals im Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages auf die Tagesordnung gesetzt haben. Warum? Weil wir das Ganze kritisch und konstruktiv begleiten wollten und auch begleitet haben. Viele der Maßnahmen, die erst im letzten Jahr Platz gegriffen haben, sind eben durch unsere Beschlüsse zuwege gebracht worden.Wir waren zweimal in Hannover und haben uns auch hier in Berlin informiert. Ich möchte ein Zweites zur Historie sagen. Es ist mir wichtig zu erwähnen, dass vor allem Altbundeskanzler Helmut Kohl, Altministerpräsident Ernst Albrecht, aber auch Birgit Breuel und die Stadt Hannover positiv hervorgehoben werden müssen. Diese haben maßgeblich dazu beigetragen, dass vor 14 Jahren die Entscheidung gefällt wurde, diese EXPO in Hannover durchzuführen. Leider - das musste ich am Eröffnungstag feststellen -, glich Hannover einer belagerten Stadt. ({3}) Erfreulicherweise hatten aber die aus allen Teilen Deutschlands zusammengekarrten, angereisten Chaoten keine Chance. ({4}) Deshalb möchte ich auch der dort tätigen Polizei ein Kompliment aussprechen. ({5}) Es wäre in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild entstanden, wenn es Berichte nicht über die EXPO, sondern über die Krawalle gegeben hätte, die dort verschiedene Personen zu inszenieren versucht haben. Wenn Sie sich von der PDS einmal die Flugblätter anschauen - Sie können sich eines von mir holen -, werden Sie feststellen, mit welchen Argumenten man versucht hat Stimmung zu machen. Das ist pervers. Das halte ich nicht für gut und deshalb meine ich, dass das nicht hingenommen werden kann. Die EXPO braucht Erfolg und diesen wollen wir alle. Es ist bestürzend, dass in den ersten fünf Tagen nicht einmal die Hälfte der erwarteten Besucher gekommen sind. Es sind bereits 10 bis 12 Millionen DM an Verlust entstanden. 125 Arbeitsverträge wurden gelöst. 400 weitere Arbeitsplätze stehen auf der Kippe. Wir müssen uns deshalb gerade bei dieser Debatte die Frage stellen: Warum bleiben die Besucher denn aus? Sind es vielleicht die zu hohen Hotelpreise, die abschreckend wirken? Oder: Ich bringe ein kurzes Beispiel: Eine Berliner Familie mit vier Kindern, die für einen Tag nach Hannover fährt, wird mit zirka 530 bis 550 DM belastet. Das kann sich nicht jedermann leisten. Ich könnte das hier aufgegliedert vortragen, was aber den Rahmen bzw. die Zeit sprengen würde. ({6}) Ich meine deshalb: Hier ist einerseits das EXPO-Management und andererseits die Deutsche Bahn AG gefordert, Überlegungen darüber anzustellen, inwieweit im Laufe der verbleibenden 145 Tage zusätzliche Anreize gegeben werden können, um vermehrt zu animieren, sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen, sondern vielmehr mit dabei zu sein, weil die EXPO nicht mehr so greifbar nahe sein wird: „Werbung, Werbung, Werbung“ ist das Zauberwort und das kostet Geld. Deshalb hat die CDU/CSU-Fraktion ihren Antrag eingebracht. ({7}) Es bleibt deshalb zu wünschen, dass alles darangesetzt wird, die Besucherzahlen zu steigern. Es wird weder gelingen, die Zahlen von Sevilla, wo 1992 41,3 Millionen Menschen die Weltausstellung besuchten, noch die von Paris zu erreichen, wo im Jahre 1900 48,1 Millionen Menschen auf der damaligen Weltausstellung begrüßt werden konnten. Wir müssen anstreben, wenigstens einen Teil davon zu erreichen. Wir sollten uns alle glücklich schätzen, wenn es uns gelingt, bei den Besucherzahlen mit einer Drei im 10-Millionen Bereich abzuschließen. Wir haben als Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages dann einen wesentlichen Anteil daran: Denn wir haben animiert und angeschoben, um die EXPO vielleicht noch zu dem Erfolg zu führen, den wir ihr alle wünschen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 1851 wurde die erste EXPO in London veranstaltet und damals war das Vereinigte Königreich das internationalste Land der Welt. London war dabei der Mittelpunkt und der Treffpunkt für die ganze Welt. Diese Begegnung wäre heute viel leichter, damals war sie jedoch ein richtiges Experiment. Ich komme gerade von Hannover und habe heute Prinz Edward beim Nationentag des Vereinigten Königreichs begleiten dürfen. Prinz Edward hat an die Entwicklung und die Änderungen der EXPO erinnert und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass wir im heutigen Zeitalter - das sage ich zu Herrn Lippelt -, gerade weil wir durch die Elektronik die Ferne so nah geholt haben, auch wieder eine Form von Sinnlichkeit und Anmut brauchen. Wer einmal die EXPO erlebt hat, weiß, dass die EXPO das leistet. Die EXPO 2000 bietet eine Vielzahl von unterschiedlichen Pavillons an. Sie brauchen sich nur einmal den deutschen, den finnischen oder andere Pavillons anzusehen. ({0}) - Den holländischen. Dies ist eine große Leistung. Wir müssen den Gastländern noch einmal Dankeschön sagen, die mit tollen Projekten zu uns gekommen sind. ({1}) Meine Damen und Herren, ich kann überhaupt nicht verstehen - das sage ich den Kollegen der PDS -, dass Sie zu den schärfsten Kritikern der EXPO geworden sind. Wir investieren in die Korrespondenzregion Sachsen-Anhalt,wir machen ökologische Projekte in den neuen Bundesländern; ich erinnere an die Revitalisierung bei der Braunkohle. Es gibt viele hundert spezielle EXPO-Projekte allein in den neuen Bundesländern. Sie müssten eigentlich dankbar dafür sein, dass wir uns so stark engagieren; denn es geht um die Zukunft und nicht darum, dass man immer nur die Vergangenheit bewältigt. Das sind Zukunftsprojekte in den neuen Bundesländern. Deshalb verstehe ich Ihre Kritik überhaupt nicht. ({2}) Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass Herr Hirche darauf hingewiesen hat, dass nicht nur der alte Bundeskanzler seine Verdienste hat. Das wird überhaupt nicht bestritten. Er hat sich dafür engagiert. Herr Brähmig, ich nehme es Ihnen nicht übel, vielleicht haben Sie es nicht direkt mitbekommen: Auch der neue Bundeskanzler hat sich bei der damaligen Diskussion von Anfang an vehement für das EXPO-Projekt ausgesprochen. Herr Hirche hat hier vollständig Recht. ({3}) Es war ein wichtiger Diskussionsprozess, weil es ihm nicht darum ging, irgendeine Technik oder irgendeine Veranstaltung an den besten Messeplatz der Welt zu holen, sondern weil er davon überzeugt war, dass wir zu Beginn des neuen Jahrhunderts über Visionen reden müssen. Ich glaube, das ist das Spannende. Wir alle wissen: Es geht nicht nur darum, dass wir fantastische Pavillons haben, dass wir viele Menschen zu einer Begegnung führen, die sie über das Internet nie haben könnten. Wenn ich mir den Veranstaltungskalender ansehe, wenn ich mir die Diskurse ansehe, wenn ich mir die internationalen Begegnungen ansehe, dann ergibt sich: Wir haben die Chance, dass gemeinsam Visionen entwickelt werden, dass wir ein offenes, ein gastfreundliches Land werden und damit auch Einladungen aussprechen und dass wir akzeptieren, dass man im 21. Jahrhundert interkulturelle Zusammenarbeit braucht. Die EXPO bietet hierfür eine Plattform, die wir nutzen sollten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich habe heute die Vorabergebnisse einer Repräsentativumfrage mitgebracht, die in den nächsten Tagen veröffentlicht wird. Diese Befragung ist an den ersten Tagen bei den Besuchern der EXPO gemacht worden. Dabei kommt man zu folgendem Ergebnis: Beim Gesamturteil über die EXPO 2000 in Hannover geben 62 Prozent der Besucher, die dort waren, das Urteil sehr gut bis gut ab. Von den Besuchern der ersten Tage - nur darum geht es; es ist eine neue repräsentative Umfrage - haben 60 Prozent die Meinung geäußert, dass sie noch einmal zur EXPO kommen wollen. Diese Zahlen sprechen dafür, dass die EXPO gute Chancen hat, zu einer Erfolgsveranstaltung, zu einer Success-Story zu werden. Wir alle sollten nicht nörgeln und nicht mäkeln, sondern offensiv für die EXPO werben. Ich habe über die Parteien hinweg gehört, dass das auch die Absicht ist. ({5}) Das sollten wir gemeinsam tun. Wenn das Management der EXPO - Herr Hinsken und andere Abgeordnete haben darauf hingewiesen - versucht, in der jetzigen Situation etwas zu korrigieren oder neu zu justieren oder entsprechende Signale zu setzen, dann finde ich das richtig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen sagen: Die Entscheidung, Jugendgruppen einen besonderen Bonus einzuräumen, finde ich völlig richtig. Ich begrüße diese Entscheidung ausdrücklich. Ich habe die herzliche Bitte an das Management der EXPO, nicht nur Jugendgruppen der Kirchen - das ist sehr wichtig - und Jugendgruppen der Sportvereine, sondern - lassen Sie mich das ganz simpel sagen - zum Beispiel auch die Jugendfeuerwehr in diese Projekte einzubeziehen. ({6}) Wir brauchen gerade auch diejenigen, die vor Ort ihre Pflicht tun. Wenn das gelingt, wäre es ein deutliches Signal. Die Bundesregierung unternimmt in diesen Tagen große Anstrengungen - wir alle bemühen uns darum -, damit die EXPO ein Erfolg wird. Ich habe bei der Eröffnungsveranstaltung - obwohl Abgeordnete des ganzen Hauses anwesend waren - niemanden getroffen - egal, von welcher Fraktion -, der enttäuscht war und der nach dem ersten Rundgang gesagt hat: Das ist keine Chance. Im Gegenteil: Viele haben gesagt, die EXPO 2000 in Hannover bietet uns eine große Chance, die wir gemeinsam nutzen wollen. Wir alle strengen uns an. An dieser Stelle möchte ich den vielen tausend Helferinnen und Helfern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der EXPO für die Bewältigung der ersten Tage danken. Sie haben damit gezeigt, dass sie sich mit Engagement in eine Aufgabe gekniet haben, die weiß Gott nicht einfach ist. ({7}) Die TV-Anstalten in Deutschland erwägen zu prüfen - das ist eine neue Anstrengung, auf die ich Sie hinweisen möchte und die ich ausdrücklich unterstütze -, ob man nicht im Rahmen einer konzertierten Aktion durch kostenlose Werbung für die EXPO ein besonderes Signal setzen kann. ({8}) Ich möchte das ausdrücklich unterstützen und begrüßen. Ich würde mir sehr wünschen, dass sich alle Anstalten, private wie öffentlich-rechtliche, an dieser Aktion beteiligen. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schuchardt?

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Selbstverständlich.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich dämme die Zahl der Fragesteller etwas ein, weil noch so viel auf der Tagesordnung steht. Deswegen gehe ich etwas zügiger voran. Ich bitte Sie, dies nicht als unfair anzusehen. Eigentlich wollte ich schon jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen. Frau Kollegin, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Erika Schuchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002788, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich finde es ausgezeichnet, dass Sie Jugendfeuerwehren und ähnliche Jugendgruppen genannt haben. Kann für den verbilligten Eintritt dieser Gruppen noch eine Sonderfinanzierung vorgesehen werden? Wenn man 10 000 Jugendlichen, die während ihrer Ferien nicht in den Urlaub fahren können, den Eintritt zur EXPO verbilligte, dann würde das hochgerechnet ungefähr 0,5 Millionen DM kosten. Dieser Betrag würde noch nicht einmal 1 Promille der genannten Defizite ausmachen. Hat das Bonusprogramm für Jugendliche Priorität? Ich frage das, weil Sie gerade von Jugendlichen als Werbeträgern sprachen. Eine solche Aktion ließe sich doch mit einem Wettbewerb um die beste Berichterstattung verbinden.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Kollegin, wenn Sie gestatten, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich nie von Jugendlichen als Werbeträgern gesprochen habe. ({0}) Das wäre mir einfach zu schlicht und zu marketingmäßig. Aber Sie können davon ausgehen, dass wir uns in der Sache engagieren werden, damit das Bonusprogramm für Jugendliche erfolgreich umgesetzt wird und damit auch die Jugendfeuerwehren berücksichtigt werden. Ich glaube, dass es gerade zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz wichtig ist, mit jungen Leuten über Zukunft und Zukunftsprojekte zu reden. Ich habe heute, als ich gemeinsam mit Prinz Edward einen Teil der Pavillons besucht habe, festgestellt, dass sehr viele Jugendliche an der EXPO interessiert sind und dass viele Jugendliche verschiedener Nationalität miteinander diskutieren. Nach meiner Meinung bietet die EXPO eine einmalige Chance für Begegnungen, die wir nutzen sollten. Deshalb begrüße ich die Initiative, einen Bonus für Jugendliche einzuführen. Ich bitte nur darum, auch andere Jugendgruppen in den Genuss dieses Bonus kommen zu lassen. Wir können also aus dem Projekt EXPO etwas machen. Wir sollten das gemeinsam tun. Ich möchte zum Schluss noch sagen, dass wir auch auf das stolz sein können, was im deutschen Pavillon zu sehen ist. ({1}) Der deutsche Pavillon ist ein gelungenes Projekt. Wenn man sich die Pre-Show mit den 50 Köpfen - von Beethoven bis Steffie Graf, von Adenauer bis Joseph Beuys -, die Deutschland ausmachen, anschaut - das ist natürlich immer eine Geschmacksfrage -, dann kann man zufrieden sein. ({2}) - Nicht so parteipolitisch, sondern richtig kulturell. Deutschland ist eine Kulturnation. Deshalb machen wir das nicht so platt wie Sie. Ich glaube, dass Ihr Kollege neben Ihnen, der gleich das Wort hat, nicht so platt wie Sie ist und Ihre Plattheit ausräumen wird. Nach einer Umfrage, die unter den Besuchern des deutschen Pavillons durchgeführt worden ist, haben 73 Prozent den Pavillon als gut bis sehr gut bezeichnet. Von diesen - auch das hat man festgestellt; das ist ein großer Erfolg - haben 93 Prozent die Absicht, wiederzukommen. Auf der EXPO wird das Bild vermittelt, dass Deutschland eine Ideenwerkstatt ist, dass es nicht fertig ist und dass es dabei ist, an sich zu arbeiten und ein Modell im Sinne eines Laboratoriums der Moderne zu entwickeln. Wenn wir die EXPO 2000 als Laboratorium der Moderne verstehen, dann besteht die Chance, dass es nicht nur eine Messe ist, sondern eine internationale Begegnung mit kulturellem Tiefgang. Das sollten wir gemeinsam nutzen. Wir sollten alles tun, damit es ein Erfolg wird. Deshalb sollten wir bei dem, was jetzt ansteht, helfen. Heute wurde mir berichtet, dass die Besucherzahl von gestern bei weit über 100 000 lag. Auch bei meinem Besuch heute war die EXPO wirklich gut besucht. Ich habe den Eindruck, dass wir nach Pfingsten eine sehr positive Entwicklung bekommen werden und dass wir vielleicht, so ähnlich wie in Lissabon, am Ende sogar eine sehr positive Bilanz ziehen können. Dazu müssen wir alle mithelfen. Ich glaube, dass wir das alle wollen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluss dieser Aussprache erteile ich dem Kollegen Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Staatssekretär Mosdorf für seine sachliche und vorwärts orientierte Rede dankbar. In der Tat sollte es unser aller Ziel in diesem Hause sein, diese EXPO, die erste Weltausstellung auf deutschem Boden, mit etwas weniger Meckern, Zweifeln, Selbstkritik usw. zu begleiten; vielmehr sollten wir uns dahinter stellen und stolz sein; denn nur das ist eine gute Werbung für die EXPO. Das braucht sie wirklich und das hat sie auch verdient. ({0}) Die Art und Weise, wie sich der Kollege Lippelt von den Grünen mit diesem Thema beschäftigt hat, spricht für sich. Natürlich sagt auch er: Ich freue mich, wenn viele kommen, und ich werbe auch. Aber im nächsten Satz zitiert er Herrn Kornblum, ob das eigentlich noch zeitgemäß sei. Aus jedem zweiten oder dritten Satz sprach die Schadenfreude darüber, dass bisher zu wenig Besucher gekommen sind. Wenn wir an dieses Projekt so herangehen, wie es die Grünen vom ersten Tag der EXPO an getan haben, dann können wir die Menschen für diese großartige Weltausstellung in der Tat nicht begeistern. ({1}) Ich will die Sache überhaupt nicht schönreden. Natürlich war der Start nicht besonders gut und darüber sollten wir nicht hinwegschauen. Die Eröffnungsveranstaltung und die Gala waren langweilig und die Besucherzahlen sind nicht besonders hoch. Ich bin zwei Tage auf dem EXPO-Gelände gewesen. Kollegin Schuchardt, die eben eine Zwischenfrage gestellt hat, ist sogar schon vier Tage da gewesen und hat sich alles genau angeschaut. Dasselbe gilt für viele andere von uns. Ich finde, dass sich der Besuch auf der EXPO wirklich gelohnt hat. Er ist jedem zu empfehlen, weil es eben nicht nur einfach eine Industrieshow ({2}) oder eine verbesserte Messe ist, sondern weil sich die EXPO sehr ernsthaft mit dem Thema „Mensch, Natur, Technik im 21. Jahrhundert“ beschäftigt. Wir sollten in der Tat vielen kleinen Nationen aus der Dritten Welt danken, die dort ganz fabelhafte Beiträge präsentieren. Zum Beispiel haben sich Indien und die Vertreter aus Afrika mit ihren Pavillons sehr viel Mühe gegeben und es macht Spaß, sich deren Angebote anzuschauen. Dort lernt man etwas. Deswegen sollten wir ein bisschen weniger über die negativen Aspekte reden. Auch in Sevilla und in Lissabon ist es schleppend losgegangen und hinterher waren es große Besuchererfolge. Werfen wir also die Flinte jetzt nicht ins Korn! Nehmen wir dieses Projekt vielmehr mit ganzer Kraft und auch mit der Unterstützung, wie sie die Kollegen Brähmig und Hinsken hier vorgetragen haben, an! ({3}) Ich fand es gut, dass Gerhard Schröder, unser Bundeskanzler ({4}) - ich habe und ich hätte ihn nicht gewählt; aber er ist nun einmal der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland -, den Stil gehabt hat, dem Vorgänger zu danken. Ich hätte es gut gefunden, wenn Herr Gabriel, der niedersächsische Ministerpräsident, den gleichen Stil gehabt hätte und zum Beispiel Ernst Albrecht gedankt hätte. ({5}) Ich hätte es für richtig befunden, wenn man auf der Eröffnungsveranstaltung zum Beispiel den Vorgängern von Frau Breuel, Herrn Heede und Herrn Diener, die es am Anfang sehr schwer hatten, ein Wort des Dankes gesagt hätte. Als hannoverscher Abgeordneter - wir Politiker sollten uns nicht immer nur selbst feiern - richte ich einen Dank an alle Kollegen dieses Hauses, zum Beispiel an die aus Bayern, aber auch an die aus Stade oder Osnabrück. Viele Kollegen haben durch Bewilligungen von Geldern vor der EXPO - für den Straßenausbau oder für den öffentlichen Nahverkehr in Hannover - in ihren Wahlkreisen Opfer bringen müssen. Sie haben ihre Umgehungsstraße nicht bekommen, die ihnen eigentlich schon seit langem versprochen worden war. Ich finde, es gehört einfach dazu, den Kollegen, auch denen aus dem Haushaltsausschuss, die dafür ihren Kopf hingehalten haben, ganz herzlich dafür zu danken, dass sie eine solche Mittelkonzentration auf Hannover und die Umgebung in den letzten Wochen, Monaten und Jahren ermöglicht haben. Ganz herzlichen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für die gute Zusammenarbeit. ({6}) Herr Kollege Mosdorf, Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie gerade aus dem britischen Pavillon kommen, wo Sie Prinz Edward begleitet haben. Ich hoffe, dass die Staatsgäste aus anderen Ländern ähnlich angemessen betreut werden. ({7}) Sie erlauben mir bitte auch die Frage, mit wem die Bundesregierung den österreichischen Präsidenten, Herrn Klestil, auf das EXPO-Gelände zu schicken gedenkt. Wird Herr Klestil, der demokratisch gewählte Präsident, dort vernünftig betreut werden, vernünftig wahrgenommen werden? Wir, die Unionsfraktion, hätten jedenfalls kein Verständnis dafür, dass Frau WieczorekZeul nach Kuba fährt, um dort die Entwicklungshilfe wieder aufzunehmen bzw. zu verstärken, während gleichzeitig der demokratisch gewählte Präsident von Österreich auf der EXPO mit der Kneifzange angefasst wird. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit!

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist kein Popanz und das hat nichts mit tiefster Provinz zu tun, ganz im Gegenteil. ({0}) Wenn man den Präsidenten eines demokratischen und befreundeten Landes nicht angemessen wahrnimmt, wäre das ein Skandal, für den ich mich als Hannoveraner Abgeordneter schämen würde, Herr Kollege. ({1}) Ich habe hier angemahnt und gefragt, nichts weiter. ({2}) Wir sollten - unabhängig von Meinungsverschiedenheiten, die wir zum Beispiel über den Sinn oder Unsinn von Sanktionen gegenüber Österreich haben - alle miteinander dieses großartige Ereignis EXPO nicht von solchen Sanktionen überschatten lassen. Wir sollten ein guter Gastgeber für die ganze Welt sein. Das sollten wir alle miteinander tun. Vielleicht gelingt es uns im Laufe der nächsten Wochen und Monate, auch noch die Grünen von dem hervorragenden Projekt und davon zu überzeugen, dass es wirklich einen Beitrag zum Zusammenleben von Mensch, Natur und Technik leistet, Herr Kollege Lippelt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3374 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt bitte ich vor allem die Geschäftsführer um Aufmerksamkeit. Ich rufe jetzt nämlich Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Lilo Friedrich ({1}), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Cem Özdemir, Marieluise Beck ({3}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Migrationsbericht - Drucksachen 14/1550, 14/2389 Berichterstattung: Abgeordnete Lilo Friedrich ({4}) Dr. Hans-Peter Uhl Marieluise Beck ({5}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Die vereinbarte Debatte muss nicht stattfinden, weil alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind.*) Das nehme ich einmal so zur Kenntnis. Damit komme ich gleich zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und des Bündnis 90/ Die Grünen zum Migrationsbericht, Drucksache 14/2389. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1550 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Das ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenom- men. *) Anlage 7 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 9. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({6}), Ernst Burgbacher, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen - Drucksache 14/3106 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Pau, Dr. Roland Claus und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes ({8}) - Drucksache 14/3309 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Innenausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt ({10}), Ernst Bahr, Eckhardt Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Annelie Buntenbach, Cem Özdemir, Marieluise Beck ({11}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlich- keit, Antisemitismus und Gewalt - Drucksache 14/3516 - Auch hierzu sind alle Reden zu Protokoll gegeben wor- den.*) Damit findet eine Aussprache nicht statt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3106, 14/3309 und 14/3516 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 10 wurde abgesetzt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl Lamers, Christian Schmidt ({12}), Dr. Andreas Schockenhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für eine gemeinsame europäische Position in der Frage der Raketenabwehr ({13}) - Drucksache 14/3378 - Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben wor- den, sodass eine Aussprache nicht stattfindet.**) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3378 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.- Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatzpunkt 7 auf: 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Becker-Inglau, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({14}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf - Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5 - Drucksache 14/3515 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß ({15}), Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung in Genf ({16}) - Drucksache 14/3504 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dagegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Zu diesem Punkt liegen tatsächlich wieder Wortmeldungen vor. Insofern kann ich die Aussprache eröffnen. Das Wort hat die Kollegin Ingrid Becker-Inglau, SPDFraktion.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Fünf Jahre ist es her, dass der Weltsozialgipfel der Vereinten Nationen in Kopenhagen tagte. Der Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung wurde höchste Priorität eingeräumt. Von allen Beteiligten wurde formuliert, dass eine Liberalisierung von Wirtschaftspolitik und Welthandel allein nicht die Probleme von Armut und Ungleichheit in der Welt lösen kann. In Kopenhagen verabschiedeten weit über 100 Staats- und Regierungschefs gemeinsam eine Erklärung mit zehn Verpflichtungen sowie ein darauf aufbauendes Aktionsprogramm. Die zentrale Aussage des Gipfels lautete: Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeutung wie Wirtschaftsentwicklung. ({0}) Soziale Gerechtigkeit und die Achtung aller Men- schenrechte sind Voraussetzungen für Frieden und Si- cherheit innerhalb eines Staates und zwischen Staaten. Der UNO-Generalsekretär Kofi Annan stellt hierzu in sei- nem Bericht über die Umsetzung der Beschlüsse von Ko- penhagen fest, dass man der sozialen Entwicklung eine Vizepräsidentin Anke Fuchs *) Anlage 8 **) Anlage 9 sehr viel höhere Priorität einräumt. Dies ist der wichtigste Wechsel, der seit dem Gipfel in Kopenhagen stattgefunden hat. Verstärkte Aufmerksamkeit für die sozialen Dimensionen der Wirtschaftspolitik und eine größere Offenheit und öffentliche Debatte weltweit in den Industrieländern und in den Entwicklungsländern kennzeichnen die Zeit nach dem Gipfel in Kopenhagen. Kopenhagen + 5 Ende Juni in Genf wird die bisherige Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels überprüfen und darauf aufbauende Maßnahmen und Initiativen beschließen. In vielen Bereichen gibt es bereits jetzt Ansätze, die positiv zu nennen sind. Dennoch dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern vergrößert hat, ebenso die Kluft zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern. ({1}) Deutliche Merkmale dafür sind Unausgewogenheit beim Einkommen, beim Zugang zu sozialen Leistungen sowie bei der Beteiligung an öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen. ({2}) Zu den positiven Veränderungen zählt ein verstärktes Bekenntnis zu sozialer Entwicklung als übergeordnetes Ziel von Regierungspolitik. Konkret bedeutet das, dass heute immerhin 75 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in Ländern mit einer Einschulungsrate von 70 Prozent und mehr leben. Gleichzeitig gibt es aber immer noch etwa 130 Millionen Kinder, zum größten Teil in SubsaharaAfrika, die keine Schule besuchen. Das ist für die Entwicklung dieser Länder eine Katastrophe. ({3}) Die Analphabetenrate ist in der Welt seit 1990 von 25 Prozent auf 20 Prozent gefallen, aber fast alle der etwa 900 Millionen Analphabeten leben in Entwicklungsländern, zwei Drittel davon sind Frauen. ({4}) Hier liegt eines der Felder mit enormem Handlungsbedarf, denn wir alle stimmen wohl mit der Weltbank in der Einschätzung überein, dass Investitionen in die Ausbildung von Frauen und Mädchen die wichtigsten Investitionen in die Zukunft überhaupt sind. ({5}) Es besteht heute ein Konsens zwischen Politikern in Subsahara-Afrika und den Entwicklungspartnern, dass Entwicklungsanstrengungen insbesondere auf die Armutsreduzierung ausgerichtet sein müssen. 42 Prozent aller Menschen in Subsahara-Afrika, das heißt etwa 300 Millionen Menschen, leben von weniger als 1 USDollar pro Tag. Die relative Armut mag gesunken sein, doch die absolute Zahl der Armen ist weltweit gestiegen. Lokale und regionale Konflikte - ich erinnere an Äthiopien und Eritrea - haben ebenso wie Naturkatastrophen, siehe Mosambik oder Nicaragua, Rückschritte bei der sozialen Integration hervorgerufen, Seuchen wie Aids raffen zum Beispiel in Uganda eine ganze Generation hinweg. Das Ausmaß dieser Katastrophe für die Zukunft, für die Entwicklung eines solchen Landes ist, glaube ich, in seiner gesamten Dimension noch gar nicht erfasst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen also, dass trotz der beachtenswerten Fortschritte noch immer ein ungeheurer Handlungsbedarf besteht, wenn wir die Zahl der Armen bis zum Jahre 2015 halbieren und unsere Welt sozial gerechter gestalten wollen. Unserer Bundesregierung danke ich an dieser Stelle dafür, dass sie einige wesentliche Initiativen zur Umsetzung der Kopenhagener Beschlüsse ergriffen hat. ({6}) Ich möchte auf den internationalen Teil der Kopenhagener Verpflichtungen eingehen, der nur mit entwicklungspolitischen Strategien zu verwirklichen ist. Es war daher konsequent, dass das BMZ die Federführung innerhalb der Bundesregierung übernommen hat. Unserer Ministerin danke ich für den Einsatz, den sie auch in dieser Sache gezeigt hat. Ich möchte beispielhaft drei Aspekte herausstellen, die deutlich machen, dass es ein internationales und insbesondere ein entwicklungspolitisches Problem ist. Da ist zum einen die 20 : 20-Initiative zu nennen. Dazu muss man einfach sagen: Wenn wir Herrn Blüm damals nicht gehabt hätten, hätte diese 20 : 20-Initiative auf dem Weltsozialgipfel nicht diese Bedeutung erlangt, wie dies jetzt geschehen ist. ({7}) Zum anderen sind die HIPC-Initiative und die Förderung der Zivilgesellschaft zu nennen. Die 20:20-Initiative gehört zu den konkreten und schon deshalb oft zitierten Beschlüssen im Aktionsprogramm von Kopenhagen. Sie fordert Industrie- und Entwicklungsländern Vereinbarungen ab, durchschnittlich jeweils 20 Prozent der Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit und 20 Prozent des Staatshaushaltes für soziale Grunddienste zur Verfügung zu stellen. Damit sollen wesentliche Bedürfnisse der Armen, die zur Überlebenssicherung notwendig sind, abgedeckt werden. Bisher wurden mit etwa 20 Ländern, zum Beispiel mit Bolivien, Peru, Côte d‘ Ivoire und Burkina Faso, Vereinbarungen über die Umsetzung dieser Initiative getroffen. Der Anteil für soziale Grunddienste, bezogen auf diese Länder, beträgt unsererseits circa 25 Prozent. Die 20 Prozent sind also kein absoluter Fixpunkt, sondern die Initiative soll ein Grundverständnis und eine Grundrichtung zum Ausdruck bringen, sie muss fortgeführt und fortentwickelt werden. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auch dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass diese Initiative Teil der entwicklungspolitischen Gesamtstrategie der EUKommission wird. ({8}) Bei der angestrebten Verkoppelung von Entschuldung und Armutsbekämpfung in den HIPC-Ländern muss der Förderung sozialer Grunddienste gemäß dem 20 : 20-Ansatz ein unverzichtbarer Stellenwert eingeräumt werden. Für die soziale Entwicklung ist die Schaffung positiver Rahmenbedingungen eine Notwendigkeit. Die HIPCInitiative ist hierbei ein entscheidender Schritt. In vielen der ärmsten Länder verhindert die drückende Schuldenlast jegliche Entwicklung. So muss zum Beispiel Tansania neunmal so viel für den Schuldendienst aufwenden, wie es für die Basisgesundheitsversorgung im Land zur Verfügung hat. Entschuldung bleibt also eines der wichtigsten Ziele unserer Entwicklungspolitik. ({9}) Es ist nun unserer Bundesregierung gelungen, die HIPC-Initiative zur Entschuldung der ärmsten Länder entscheidend zu erweitern und voranzubringen. Vereinbarungsgemäß sollen die durch die Schuldenerleichterung frei werdenden Mittel für armutsmindernde Maßnahmen eingesetzt werden. Dazu sollen die Entwicklungsländer unter Beteiligung ihrer Zivilgesellschaft Strategiepapiere zur Armutsreduzierung ausarbeiten. Auch dies ist eine fundamentale Änderung gegenüber der bisherigen Praxis, nach der sich die Strukturanpassungsprogramme ausschließlich an makroökonomischen Gesichtspunkten orientierten, ohne die sozialen Auswirkungen der Programme zu berücksichtigen. Umfassende Entschuldungspakete sind bereits für Uganda, Mosambik, Bolivien, Mauretanien und Tansania beschlossen. Es ist damit zu rechnen, dass die Länder nach der Entschuldung im Durchschnitt nur noch weniger als 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Schuldendienst aufwenden müssen. Dies ist eine echte Verbesserung der Rahmenbedingungen. Dieser Weg muss fortgesetzt werden. Nun zu meinem letzten Punkt. Die Bedeutung der Zivilgesellschaft kann nicht häufig genug betont werden. Zu der guten Zusammenarbeit mit den deutschen Nichtregierungsorganisationen brauche ich keine Ausführungen zu machen. Die Zusammenarbeit ist sinnvoll, notwendig und Teil unserer Entwicklungspolitik. Aber es geht in diesem Fall auch um die Stärkung der Zivilgesellschaft in unseren Partnerländern. Hier wurde im Rahmen der Entschuldungsinitiative ein wesentlicher Fortschritt erzielt, denn Good Governance ist Bedingung für die Entschuldung wie für die Umsetzung der im Lande entwickelten Armutsstrategien. Dazu gehört die Beteiligung des Parlaments - auch der Opposition - und der Zivilgesellschaft, und das nicht nur als ein politisches Credo, sondern als Voraussetzung für die politische Durchsetzbarkeit der Armutsbekämpfung. So ist es besonders wichtig, dass das BMZ diesem Aspekt in bilateralen Verhandlungen besondere Aufmerksamkeit schenkt und weitere Finanzmittel bereitstellt. Dieser Aspekt wurde bei unserer gestrigen Ausschussanhörung noch einmal deutlich herausgestellt. In Genf sollte darauf geachtet werden, dass in allen neu zu beschließenden Initiativen die Rolle der Zivilgesellschaft und des Privatsektors sowie die zwingende Notwendigkeit der Förderung von Frauen und Mädchen hervorgehoben werden. Generell muss gelten, dass im Rahmen der HIPC-Initiative frei werdende Mittel teilweise zur Unterstützung der Zivilgesellschaft eingesetzt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Sinn dieser Weltkonferenzen wie der in Rio, Kairo, Peking und Kopenhagen sowie ihrer Überprüfung liegt darin, die Regierungen und die Nichtregierungsorganisationen für diese Themen in unserem Dorf „Welt“ zu sensibilisieren, sie für eine gerechtere Welt zu mobilisieren und vor Augen zu führen, dass heute niemand mehr alleine und unbeobachtet agieren kann. Unser vorliegender Antrag ist eine Hilfe auf diesem Weg. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Weltsozialgipfel vor fünf Jahren in Kopenhagen haben sich die Staats- und Regierungschefs auf gemeinsame Zielsetzungen zur Bekämpfung der Armut, zur marktgerechten Förderung der produktiven Beschäftigung, zur sozialen Integration benachteiligter Gruppen sowie zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme auf solidarischer Grundlage geeinigt. Fünf Jahre später soll jetzt in Genf bei einer Sondergeneralversammlung Bilanz gezogen werden. Die gemeinsamen Anstrengungen zur Bekämpfung der Armut weltweit, was in Kopenhagen zentrales Thema war, sind fünf Jahre später gleichermaßen notwendig. Bei allem Hin und Her sozial- und entwicklungspolitischer Debatten und trotz aller interessanten Diskussionen über angeblich neue Ansätze oder Schwerpunkte der Entwicklungszusammenarbeit gibt es für mich keinen Zweifel, dass es auch für die Zukunft richtig ist, unsere Politik prioritär am Ziel der Armutsbekämpfung auszurichten. ({0}) Deshalb fordere ich von der Sondergeneralversammlung in Genf, dass das von der OECD ausgegebene Ziel, die weltweite Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren, übernommen, bekräftigt und seine Umsetzung angegangen wird. ({1}) Das heißt, dass auch die entsprechenden Instrumentarien und finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es bedeutet nicht weniger Entwicklungszusammenarbeit, wie das derzeit leider von Rot-Grün praktiziert wird, sondern mehr Entwicklungszusammenarbeit. So wichtig die Entschuldung ist und so sehr die Entschuldungsinitiative zu begrüßen ist: Die Entschuldungsinitiative darf nicht zu einer großen Entschuldigungsinitiative werden. Es ist wahr: Entschuldung ist notwendig. Die freigesetzten Mittel sollen für eigene Anstrengungen der Länder zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden. In den nächsten Jahren muss sich erst erweisen, ob diese Kondition der Entschuldung erfüllt wird. Aber Entschuldung ist kein Ersatz für Entwicklungszusammenarbeit. Es bleibt ein Fakt, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder sein beim Genfer Gipfel gegebenes Versprechen, die Entschuldungspolitik gleichzeitig durch eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit zu ergänzen, gebrochen hat. Durch das Streichkonzert der rotgrünen Bundesregierung wird den Entwicklungsländern in den nächsten Jahren letztlich mehr genommen, als ihnen durch die Entschuldung gegeben wird. Das ist ein trauriger Fakt. ({2}) Eines der konkretesten Ergebnisse des Weltsozialgipfels vor fünf Jahren - Frau Becker-Inglau hat es vorgetragen - war die auf maßgebliches deutsches Drängen zustande gekommene 20:20-Initiative. ({3}) Wie notwendig es ist, diese Initiative umzusetzen, zeigt, dass Länder wie zum Beispiel das von Ihnen erwähnte Tansania noch heute 16 Prozent des Staatshaushaltes für Verteidigung und 14 Prozent für Gesundheit und Bildung zusammen ausgibt. In Uganda sind es 26 Prozent für Verteidigung und 17 Prozent für Gesundheit und Bildung, in Mosambik 35 bzw. 15 Prozent und in Indien 15 bzw. 4 Prozent. In den Ländern des Nordens ist die 20:20Initiative ebenfalls nur unzulänglich umgesetzt worden. Nun stimmt es in der Tat, dass wir Deutschen bei den Ländern, mit denen Deutschland eine konkrete Vereinbarung getroffen hat, die 20:20-Initiative umsetzen. Aber insgesamt stellt Deutschland nicht 20 Prozent seines Entwicklungshilfeetats für soziale Grunddienste zur Verfügung. Es ist wesentlich weniger. Als besonders krass fällt der Absturz zwischen den Haushaltsjahren 1999 und 2000 auf. Im Bereich der Grundbildung ist ein Rückgang von 115 Millionen DM in 1999 auf nur noch 53 Millionen DM in 2000 und im Gesundheitssektor von 235 Millionen DM in 1999 auf nur noch 127 Millionen DM in 2000 zu verzeichnen. Ich finde, durch ihr schlechtes Beispiel liefert die Bundesregierung ihrerseits den Entwicklungsländern einen Vorwand, die Verpflichtungen aus dem Kopenhagener Weltsozialgipfel ebenfalls nicht einzuhalten. ({4}) Ihren Sinn kann die 20:20- Initiative übrigens nur dann erfüllen, wenn die Mittel für die öffentliche Entwicklungshilfe erhöht und nicht gesenkt werden. Leider geht da auch von Deutschland keine Trendwende aus. Im Rahmen der Haushaltsplanung der rot-grünen Koalition - das ist bereits vollzogen - wurde im Jahre 2000 nicht nur der Entwicklungshilfeetat im Vergleich zu 1999 um 8,7 Prozent abgesenkt. Vielmehr ist auch vorgesehen, dass der Anteil der Entwicklungshilfe am Gesamthaushalt von 1,6 Prozent in 1999 auf einen Anteil von nur noch 1,3 Prozent im Jahre 2003 abstürzen soll. Deswegen steht die Bundesregierung in Genf im Hinblick auf diese hervorragende, auf deutsche Initiative hin beschlossene 20:20Initiative mit leeren Händen da. Ich kenne das von Ihnen vorgetragene Gegenargument: die Haushaltssituation. Aber ich bin der Auffassung: Wenn der Bund in den nächsten Jahren durch Privatisierungen und durch Lizenzvergaben einmalige Einnahmen in unwahrscheinlich hohem Ausmaß erwirtschaftet - ich unterstütze, dass man das nicht für laufende Ausgaben ausgibt -, dann könnte man diese Mittel teilweise in eine Stiftung einbringen, durch die wir auf Dauer die Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit und der Maßnahmen zur Armutsbekämpfung verstetigen und gewährleisten. Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel ist nicht nur eine Veranstaltung der Staats- und Regierungschefs. Er wurde und wird von einem breiten Spektrum zivilgesellschaftlicher Akteure mitbegleitet, von den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Nichtregierungsorganisationen, den Stiftungen, den Frauenorganisationen, den Gewerkschaften sowie den Arbeitgeber- und Unternehmerverbänden. Es ist übrigens bezeichnend für das in vielen Staaten der Welt vorherrschende schlechte Gewissen, dass im Vorfeld des Genfer Gipfels die Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen höchst umstritten war und dass einige Regierungen ihren Vertretern kein Rederecht einräumen bzw. die Teilnahme kontingentieren und reglementieren wollten. Von daher finde ich es schade, dass fünf Jahre nach dem Weltsozialgipfel in vielen Bereichen, zum Beispiel auch bei der Frauenthematik, wieder die gleichen Diskussionen geführt werden müssen wie vor fünf Jahren. Offensichtlich haben sich in vielen Ländern der Welt auch hinsichtlich der Mentalität keine Fortschritte ergeben. In der Tat ist die Beteiligung von Mitgliedern der Zivilgesellschaft ein wichtiges Element für eine nachhaltige Entwicklung. Frau Kollegin Becker-Inglau hat bereits die gestrige Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erwähnt, die dies deutlich unterstrichen hat. Peter Weiß ({5}) Nichtregierungsorganisationen sind Träger und Initiatoren einer Vielzahl von Initiativen und Diensten aktiver Armutsbekämpfung und des Aufbaus sozialer Grunddienste. Sie fungieren aber auch als wichtige Instrumente der öffentlichen Kontrolle des Regierungshandelns sowohl in den Entwicklungsländern als auch in den Industrienationen. ({6}) Gerade die Kirchen und die Nichtregierungsorganisationen mit ihren ausgeprägten und gut funktionierenden Partnerstrukturen nehmen eine wichtige Rolle wahr. Deswegen ist deren Beteiligung am Weltsozialgipfel und an der weiteren Verwirklichung der Initiativen eine wichtige Voraussetzung für deren Erfolg. ({7}) Meine Damen und Herren, der Weltsozialgipfel vor fünf Jahren war für viele Menschen ein Zeichen der Hoffnung, dass die soziale Entwicklung zu einer zentralen Zielsetzung und Aufgabenstellung der internationalen Staatengemeinschaft wird. Die Zwischenbilanz fünf Jahre später fällt unterschiedlich aus. Umso mehr sollten wir uns für die Konferenz in Genf vornehmen, der sozialen Entwicklung und der weltweiten Armutsbekämpfung eine neue Dynamik zu verleihen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Uschi Eid vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich möchte gern auf einige Punkte eingehen, die von Herrn Kollegen Weiß angesprochen worden sind. Erstens. Er fordert, dass sich die Staatengemeinschaft jetzt darauf einigt, die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Ich möchte dem Haus mitteilen, dass man sich schon bei der Vorbereitung in New York auf dieses Ziel geeinigt hat. Dies ist also auf dem besten Weg. Zweitens. Ich möchte der Behauptung entgegentreten, dass die 20:20-Initiative das Hauptziel des Sozialgipfels von Kopenhagen war. Die 20:20-Initiative ist nur eine Maßnahme von vielen, die gerade aber auch von deutschen Nichtregierungsorganisationen als Schwerpunkt aufgegriffen worden ist. Wir sehen andere Initiativen zur Armutsbekämpfung, wie zum Beispiel die HIPC-Entschuldung, als eine ähnlich wichtige Aufgabe an. Diese haben wir im Juni letzten Jahres auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln auf einen guten Weg gebracht. Drittens. Der Haushaltsetat sinkt; das ist richtig; das bedauern wir alle. Aber - das sollte der Kollege Weiß eigentlich wissen - unter der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung ist der Einzelplan 23, also der Etat für Entwicklungszusammenarbeit, ständig gesunken, während die öffentlichen Ausgaben jener Regierung für andere Bereiche gestiegen sind. ({0}) Das ist der Kernunterschied zu der jetzigen Regierung: Jedes Kabinettsmitglied unserer Regierung, jedes Ministerium hat dazu beigetragen, die Ausgaben zu senken, um diesen Haushalt, den Sie zerrüttet hinterlassen haben, zu konsolidieren. ({1}) Ich bitte Sie, dies hier endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Vierter und letzter Punkt: Die Nichtregierungsorganisationen spielen in der Tat - da gebe ich Ihnen Recht eine sehr wichtige Rolle. Wir haben das gestern wieder gemeinsam in der AWZ-Anhörung gesehen. Herr Weiß, ich möchte Sie doch einmal bitten: Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, dass für die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen 35 Millionen DM zur Verfügung stehen und dass es gerade auch die Fach- und Haushaltspolitiker des Deutschen Bundestages waren, die dazu beigetragen haben, dass der Etat so ausgefallen ist. Ich glaube, dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es hier im Bundestag eine Gemeinsamkeit in der Frage der Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen gibt. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, möchten Sie darauf reagieren? - Bitte schön.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin Dr. Eid, dass wir uns in der Zielsetzung einig sind, bis zum Jahr 2015 das ehrgeizige Ziel der Halbierung der Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, zu erreichen, ist erfreulich und wird von mir nicht in Frage gestellt. Aber die entscheidende Frage ist doch: Stellen wir auch die Instrumentarien und Mittel zur Verfügung, um dieses Ziel zu erreichen? ({0}) Unter den Instrumentarien und Mitteln war und ist die 20:20-Initiative, ({1}) nämlich dass unsererseits 20 Prozent der Entwicklungshilfe für soziale Grunddienste zur Verfügung gestellt werden und dass andererseits die Entwicklungsländer 20 Prozent ihres Haushalts für soziale Grunddienste zur Verfügung stellen, ein sehr konkretes und effektives Mittel. Deswegen ist es schade, dass wir als Bundesrepublik Deutschland dieses Ziel nicht erreichen, sondern darunter bleiben. Deswegen fordern wir, denke ich, zu Recht, dass das Ziel der 20:20-Initiative nicht nur für die Länder, mit Peter Weiß ({2}) denen wir es konkret vereinbart haben, sondern generell zum Ziel der Haushaltspolitik wird. Verehrte Frau Kollegin Eid, dies kann eben nicht durch die Entschuldungsinitiative ersetzt werden. Die Entschuldungsinitiative ist notwendig und richtig. ({3}) Sie ersetzt aber nicht - dies haben Sie ja im Dokument des Kölner Gipfels erklärt - die Notwendigkeit, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Nun haben Sie Recht - das gebe ich gerne zu -, wenn Sie sagen, dass der Entwicklungshilfeetat, was seinen Anteil am Bundeshaushalt anbelangt, in den letzten Jahren in Zickzackbewegungen abgesunken ist. Aber, sehr verehrte Frau Kollegin Eid, das Argument der ständigen Debatten, das immer gebracht wird, ist doch kein Argument, um nun seitens der rot-grünen Koalition den Entwicklungshilfeetat auf einen historischen Tiefstand sondergleichen herunterzuführen. Dafür ist dies wahrhaftig kein Argument. ({4}) Es ist auch kein Argument dafür, dann, wenn man den Bundeshaushalt um 1,6 Prozent abschmilzt, den Entwicklungshilfeetat um 8,7 Prozent abzuschmelzen. Es ist auch kein Argument dafür, dass Sie nach Ihrer mittelfristigen Finanzplanung die Mittel des Bundeshaushaltes in den nächsten Jahren wieder erhöhen wollen, aber den Haushalt des Entwicklungshilfeministeriums weiterhin tief nach unten sinken lassen. Deswegen behaupte ich: Diese rot-grüne Koalition steht in Kopenhagen mit leeren Händen da. Das, was Sie als Gegenargumente vortragen, ersetzt bei weitem nicht das, was Sie als Schaden für die Entwicklungszusammenarbeit und die internationale Glaubwürdigkeit Deutschlands anrichten. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für das Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack das Wort.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Genf findet die Folgekonferenz zum Kopenhagener Weltsozialgipfel statt. Dabei geht es um eine Zwischenbilanz des weltweiten Kampfes gegen Armut, Erwerbslosigkeit und insbesondere auch gegen soziale Ausgrenzung, der von den vorigen Rednern beschrieben worden ist. Zu den nationalen Verpflichtungen möchte ich sagen, dass die neue Regierung erste Reformen zu einer spürbaren Senkung der Erwerbslosigkeit bei uns gestartet hat. Die Steuerreform stärkt die Binnennachfrage und entlastet die Unternehmen. Die Konjunktur springt an und die Erwerbslosenzahlen gehen zurück. Das Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit gibt mehr Jugendlichen Hoffnung auf eine berufliche Zukunft. Nach langen, verlorenen Jahren wird der Reformstau bei uns endlich aufgelöst. ({0}) Auch ein Armutsbericht, der jahrelang vergeblich bei der alten Regierung angemahnt wurde, wird im Jahre 2001 erstellt. Damit wird Deutschland seine Verpflichtungen endlich erfüllen, die es in Kopenhagen eingegangen ist. Kommen wir nun zur internationalen Situation: Da sieht es leider nicht so positiv aus. Einerseits gab es zwar durchaus Verbesserungen für die soziale Lage vieler Menschen, beispielsweise eine Erhöhung der Lebenserwartung und auch bessere Ausbildungsbedingungen. Die Zahl der Erwachsenen, die lesen und schreiben können, hat sich seit 1970 weltweit mehr als verdoppelt. Auf der anderen Seite ist die internationale Staatengemeinschaft noch sehr weit von ihrem angestrebten Ziel entfernt, die extreme Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren. Armut, Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung haben viele Ursachen - bei uns, aber auch in den Ländern des Südens. Die Verantwortung liegt natürlich in erster Linie bei den Staaten selbst, Verbesserungen in ihrem Land umzusetzen. Wenn wir ein Instrument wie Public Private Partnership bei uns entwickeln, stünde es vielen Ländern im Süden ebenfalls gut an, dieses Instrument in ihrem eigenen Kontext ebenfalls zu entwickeln. Es reicht nicht aus, dass nur die Länder des Nordens die Wirtschaft und auch private Institutionen und Geldgeber als wichtigen Faktor einbeziehen; vielmehr müssen sich auch die Reichen und die großen Industrien im Süden daran beteiligen. ({1}) Darauf haben wir natürlich nur begrenzten Einfluss. Wir können aber durch den Politikdialog Verbesserungen befördern, indem wir immer wieder die Beachtung elementarer menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Standards zur Grundlage nicht nur unserer Entwicklungspolitik, sondern auch unserer Außen- und nicht zuletzt unserer Außenwirtschaftspolitik machen. Dazu muss hier natürlich noch einiges an den Instrumentarien geändert werden; ich nenne insbesondere die Reform der HermesBürgschaften. ({2}) Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit haben wir einige Schritte getan, so beispielsweise in den Verhandlungen um das Lomé-Folgeabkommen mit der Verankerung von Good Governance. Das bezieht sich nicht nur auf die Länder des Südens, sondern auch auf unsere eigenen Länder im Norden. Auch die jetzt vorgelegte Länderliste macht deutlich, dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft auf die Länder konzentrieren wird, in denen Reformen intern schon am Laufen sind und eine Zusammenarbeit zur Armutsbekämpfung, zum Umweltschutz und zum Aufbau von Bildungseinrichtungen sinnvoll ist. Da, wo Regierungen im Süden überhaupt nicht zur Kooperation bereit sind, also keine Ownership für diese Entwicklungen übernehmen, können wir uns nämlich noch so abstrampeln; trotzdem wird dort nichts passieren. Peter Weiß ({3}) Das Gießkannenprinzip, nach dem die alte Regierung verfahren ist, wird jetzt durch eine durchdachte Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit ersetzt. Um nachhaltige Lösungen für die Probleme der Länder des Südens voranzutreiben, ist eine grundlegende Veränderung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nötig. Im Verständnis von Entwicklungspolitik als internationaler Strukturpolitik ist es deshalb besonders vordringlich, bei uns die Kohärenz zwischen den Ressorts zu verbessern. Gleichzeitig muss auch intensiv auf eine demokratische Öffnung der internationalen Finanzinstitutionen und auf Transparenz bei der WTO hingearbeitet werden. ({4}) Bei der erfolgreichen Entschuldungsinitiative wird klar, dass die rot-grüne Bundesregierung längst überfällige Lösungen für entscheidende Probleme der Entwicklungsländer vorantreibt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass mit der Entwicklung der neuen Armutsbekämpfungsstrategien von IWF und Weltbank sichergestellt werden soll, dass zum einen das eingesparte Geld tatsächlich den Systemen der sozialen Grundsicherung zugute kommt. Zum anderen aber muss auch die Zivilgesellschaft grundsätzlich in diesen Prozess einbezogen werden, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch in den Ländern des Südens. In einem klaren Politikdialog muss hier noch sehr viel erreicht werden. Ich verweise auch auf die interessanten Ergebnisse unserer Anhörung von gestern. Das zentrale Ergebnis von Kopenhagen war, dass der sozialen Entwicklung die gleiche Bedeutung wie der wirtschaftlichen Entwicklung zukommt. Das heißt auch, dass man diese beiden Formen von Entwicklung nicht voneinander trennen kann. Wenn Statistiken über Durchschnittseinkommen auch in so genannten Schwellenländern angeführt werden, muss man wissen, dass diese Statistiken natürlich nur den offiziellen Markt betreffen und den gesamten informellen Sektor außen vor lassen. Selbstverständlich müssen wir die Entwicklungsländer bei einer Politik unterstützen, die wirtschaftliches Wachstum ermöglicht, allerdings ohne dass die Ausbeutung der ökologischen Grundlagen fortgeführt wird. Die internationale Umweltpolitik hat deswegen einen besonderen Stellenwert im neuen Zusammenwirken von Außen-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik erhalten. Grundlage für alle sozialen Entwicklungen und Verbesserungen ist aber die Sicherung des Friedens. Hier hat Rot-Grün erste Maßnahmen für eine zivile Krisenprävention auch im Bereich Nord-Süd umgesetzt. Auch die Waffenexportrichtlinien wurden reformiert, sodass in Zukunft der Export von Waffen in Spannungsgebiete ausgeschlossen werden soll. Wir sehen in Regionen wie dem südlichen Afrika, dass das für eine nachhaltige und friedliche Entwicklung ganz entscheidend sein wird. Das heißt in diesem Zusammenhang natürlich, dass wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel vollzogen haben, die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit nach einer dringend benötigten Haushaltskonsolidierung wieder spürbar anheben müssen. Denn wer die zentralen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich verändern will, braucht dafür Geld. Ich begrüße ausdrücklich die intensive Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Vorbereitungsprozess für den Genfer Gipfel. Diese Erfahrungen dürfen nicht vernachlässigt werden. Ich möchte daher noch einmal auf die Ausführungen des Kollegen Weiß zurückkommen und sagen, dass die Bundesregierung in Verhandlungen mit einigen Staaten schon entsprechende Vereinbarungen zur 20:20Initiative getroffen hat. Wir sind in diesen Fällen bei 24 Prozent. Auf den Weltgipfeln der Vereinten Nationen, insbesondere auf dem Weltsozialgipfel, wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass die zentralen Probleme der Menschheit wie Armut, Ungleichheit, Hunger und Umweltgefährdungen nur gemeinsam gelöst werden können und dass das Umdenken durch den Politikdialog ständig befördert werden muss. Das heißt aber auch, dass die Industrieländer nicht nur eine Verpflichtung haben, mit den ärmeren Ländern bei der Lösung ihrer Probleme zu diskutieren, sondern auch partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Die Industrieländer müssen bei sich selbst anfangen und ihre Produktions- und Lebensweise verändern, wenn die globalen Probleme gelöst werden sollen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die F.D.P. hat nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen Kopenhagen + 5, die Ende Juni in Genf stattfinden wird, wird eine erste Zwischenbilanz über die Umsetzung der Beschlüsse des Weltsozialgipfels von Kopenhagen ziehen. Fünf Jahre ist er jetzt her und viele Regierungen haben eine Menge an Anstrengungen unternommen. Es hat Fortschritte und Rückschläge in der Dritten Welt gegeben, aber die Ziele, die in Kopenhagen beschlossen worden sind, bleiben nach wie vor auch aus liberaler Sicht gültig. ({0}) Erstens. Die Globalisierung bringt neue Herausforderungen, aber auch neue Chancen für die Entwicklungszusammenarbeit. Die Beispiele einiger Schwellenländer belegen, dass es das vornehmste Ziel sein muss, aus der Abhängigkeit von Entwicklungshilfe herauszukommen ({1}) und damit sicherzustellen, dass Entwicklungshilfe nicht zur Weltsozialhilfe wird. Spätestens seit dem Weltgipfel für soziale Entwicklung ist dies ein anerkanntes Ziel, das aber auch in der täglichen Politik um- und durchgesetzt werden muss. Die in Kopenhagen beschlossene so genannte 20:20-Initiative, nach der das Partnerland 20 Prozent seines Budgets und Regierungen - auch die Bundesregierung - 20 Prozent ihrer Hilfe für soziale Grunddienste zur Verfügung stellen, wird in der deutschen Entwicklungshilfe hoffentlich auch in Zukunft berücksichtigt. Dies ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen dafür, dass Entwicklung stattfinden kann. Zweitens. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist und bleibt in der Tat das Fundament für eine nachhaltige Entwicklung. Menschenrechte und deren Absicherung durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören untrennbar zusammen. Sie müssen daher im Mittelpunkt aller Entwicklungsbemühungen stehen. Schon die alte Bundesregierung hat deswegen die Zusammenarbeit zur Entwicklung von Justizsystemen besonders vorangetrieben, aber auch die Entwicklung unabhängiger Medien und Maßnahmen zur Demobilisierung von Soldaten aus Bürgerkriegen. Leider mit sehr unterschiedlichem Erfolg. ({2}) - Halbherzig, Herr Kollege Schuster, möchte ich nicht sagen, sondern: schwierig, weil andere Arbeitsplätze kaum zur Verfügung stehen. Wer ein Gewehr hat, hat immer noch die Macht und deswegen eine bessere Grundlage, seine Existenz zu sichern. Auch das ist etwas, was wir bei der Beendigung von Bürgerkriegen und bei der Einleitung von Entwicklungen nie übersehen sollten. Politische Bildungsarbeit, menschenrechtsbezogene Ausbildung von Kräften im Sicherheits- und Vollzugsbereich sind eine Maßnahme, um die Zivilgesellschaft zu entwickeln und zu stabilisieren. Good Governance - das Synonym dafür, dass Korruption von Regierungen nicht Platz greift, sondern die Zivilgesellschaft im Gegenteil wirklich das Sagen hat muss zur überprüfbaren Voraussetzung für Entwicklungszusammenarbeit werden. Eine Kopplung von Entwicklungshilfe und guter Regierungsführung ist nicht etwa Auswuchs einer neokolonialistischen Bewegung und Bevormundung, sondern Konsequenz der globalen Verantwortungsgemeinschaft. Drittens. Es besteht nach wie vor der Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Ohne Reformwillen und Eigenanstrengungen in Staat und Gesellschaft der Partnerländer können auch Maßnahmen von außen nichts bewirken. ({3}) Entwicklungspolitik kann nur komplementär sein und darf Eigeninitiative nicht ersetzen. Entwicklungsländer sind nicht von ihrer Verantwortung zur primären Eigenvorsorge entbunden. Deswegen müssen erfolgreiche wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Reformen im nationalen Bereich die Grundlage sein. Priorität genießt dabei die Bildung, daneben aber auch öffentliche Infrastruktur, der Finanzsektor und die Förderung der Privatinitiative. Armutsbekämpfung - das ist nun ein besonderer Bereich - ist an die Zukunft der Frauen geknüpft und an die Entwicklung der Chancen von Frauen gebunden. Selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung ist immer dort besonders erfolgreich, wo Kleinprojekte durch Kredite an Frauen gefördert werden; denn Frauen haben sich als besonders kreditwürdig und auch zuverlässig erwiesen. Deswegen sind sie der Träger der Entwicklung in vielen Ländern überhaupt. ({4}) Daneben muss allerdings eine besondere Anstrengung für eine breite Alphabetisierung verwendet werden, insbesondere für die der Frauen. Frauen werden zu häufig zu häuslichen Diensten herangezogen, als dass sie tatsächlich die Bildungschancen nutzen könnten, die ihnen nach den Buchstaben des Gesetzes auch in vielen Entwicklungsländern zustünden. Alphabetisierung ist die Grundlage dafür, dass die Entwicklung über einen anfänglichen Status der Notwendigkeit hinauskommt. Viertens. Marktwirtschaftliche Strukturen: Soziale Marktwirtschaft ist das effizienteste System. Freihandel auch das, was dort in den letzten Jahren für die Entwicklungsländer verhandelt worden ist - ist eine gute Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung. Das sage ich auch in Bezug auf die Europäische Union, ({5}) die mit ihrem nach wie vor existierenden Agrarprotektionismus nicht zur Entwicklung beiträgt. ({6}) Fünftens und letztens. Verschuldung an sich ist kein Makel, sondern ein normaler und ökonomisch sinnvoller Vorgang. Dies setzt jedoch voraus, dass mit dem Geld tragfähige wirtschaftliche Investitionen und Produktionssteigerungen erwirtschaftet werden. Deswegen sind wirtschaftspolitische Reformen von dringender Notwendigkeit. Meine Damen und Herren, vieles ist gemacht worden. Der Sozialgipfel von Kopenhagen hat eine Grundlage für eine vernünftige Entwicklung gelegt. Diese Bundesregierung ist aufgefordert eine Trendwende herbeizuführen auch mit mehr Geld, Frau Kollegin Eid -, damit diesen Zielen Rechnung getragen werden kann. Danke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das Wort.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Verlauf der Debatte ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der erste Sozialgipfel der Vereinten Nationen 1995 in Kopenhagen mit anspruchsvollen Selbstverpflichtungen aller UN-Mitgliedstaaten endete, die sich im Kern um zwei Maßnahmen drehten, nämlich erstens den Aufbau eines Systems internationaler Zusammenarbeit für soziale Entwicklung und zweitens die Stärkung der staatsinternen Sozial- und Beschäftigungspolitik. Die Bilanz nach fünf Jahren ist ernüchternd und beschreibt eine gegenläufige Tendenz. Armut und Elend greifen global weiter um sich, sowohl in den reichen Staaten des Nordens als auch in den Entwicklungsländern, natürlich entsprechend der jeweiligen Ausgangslage. So leben weltweit gegenwärtig insgesamt 1,3 Milliarden Menschen unter der Armutsgrenze. Die strukturell ungerechte Weltwirtschaftsordnung und Reichtumsverteilung als wesentliche Ursache von Unterentwicklung und Entrechtung haben im Zuge der fortschreitenden neoliberalen Globalisierung und Deregulierung in den letzten fünf Jahren weiter an Dynamik gewonnen. Es ist eine verhängnisvolle Dynamik. Weiterhin sind es vor allem die Frauen, die weltweit am stärksten davon betroffen sind. Das ist die Ausgangslage und die Herausforderung für die Nachfolgekonferenz Ende Juni in Genf. Meine Redezeit ist mit vier Minuten knapp bemessen. Erlauben Sie mir deshalb, mich auf einige Kernforderungen an den Konferenzverlauf und auf die daraus resultierenden Maßnahmen zu beschränken. So erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie sich in Genf selbstkritisch einer Analyse der Armutsentwicklung stellt, um die bisherigen Maßnahmen der dramatischen Situation entsprechend weiterzuentwickeln, gegebenenfalls zu reformieren oder gar zu revidieren. Dazu müssen besonders die bereits angesprochene 20:20-Initiative, die Kölner Entschuldungsinitiative, die Strukturanpassungsprogramme, die Maßnahmen der Frauenförderung oder das Konzept der Public Private Partnership gehören. Darüber hinaus sollte sich die Bundesregierung in Genf vor allem für die Implementierung der zehn Forderungen der weltweiten „Koalition für globale Solidarität und soziale Entwicklung“ aussprechen und sich auch nach der Konferenz in Genf aktiv an diesem internationalen Prozess beteiligen. Kern dieses Prozesses ist es, der neoliberalen Globalisierung der Ökonomie endlich eine tragfähige Struktur weltweiter sozialer Standards und gerechter, nachhaltiger Entwicklungschancen entgegenzusetzen. Ansätze dafür liegen seit langem auf dem Tisch, etwa die Einführung einer Tobin-Steuer, die grundlegende Reform der Strukturanpassungsmaßnahmen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, eine angemessene Intensivierung der finanziellen wie strukturellen Maßnahmen zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015, die Erfüllung des vereinbarten Wertes von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für staatliche Entwicklungspolitik und natürlich ganz besonders die Förderung von Frauen in den Programmen der Armutsbekämpfung und Entwicklung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann es nicht oft genug sagen: Nicht schöne Worte und wohlfeile Erklärungen im Anschluss an Konferenzen sind gefragt, sondern grundsätzliche Reformen, die den Menschen des armen Südens endlich die Entwicklungschancen eröffnen, die ihnen zustehen. ({0}) Die Zeit drängt, und das gilt ganz konkret für jeden einzelnen Menschen, der heute schon nicht weiß, wovon er sich morgen ernähren soll, wo sein Kind zur Schule oder zum Arzt gehen kann. Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Kollege Peter Dreßen von der SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sozialentwicklung hat die gleiche Bedeutung wie die Wirtschaftsentwicklung - so die zentrale Aussage in Kopenhagen vor fünf Jahren. Ist dies im Zeitalter der Globalisierung wirklich so? Wird der Sozialentwicklung der gleiche Stellenwert beigemessen? Werden zum Beispiel die Kernarbeitsnormen in allen Ländern eingehalten? Es wäre traumhaft, wenn ich diese Fragen mit Ja beantworten könnte. Dann würden keine Kinder mehr zur Arbeit gezwungen oder gar verkauft werden. Dann gäbe es keine sexuelle Ausbeutung, keine Haushaltssklavinnen, keine Kinder im Drogenhandel und keine reichen Scheichs, die Kinder als Jockeys für Kamelrennen kaufen. Dann könnten sich Arbeitnehmer ohne drohenden Verlust des Arbeitsplatzes oder gar Gefahr für Leib und Leben frei in Vereinigungen treffen. Dann würden Frauen nicht benachteiligt, sondern gleich entlohnt und Mädchen hätten in der ganzen Welt die gleichen Chancen auf Bildung. Dies alles ist fürwahr ein Traum. Während sich in den vergangenen Jahren die Globalisierung der Wirtschaft in rasantem Tempo fortsetzte, sind die politischen Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut, der Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Beseitigung von Diskriminierung und Ausgrenzung sehr bescheiden. Die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut leben, ist seit 1995 sogar noch gestiegen. Finanzkrisen haben die soziale Lage in einer Reihe von asiatischen und lateinamerikanischen Staaten sowie in Russland sogar stark verschärft. Wenn nun in Genf auf dem Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5 Bilanz gezogen wird, werden wir sehen, dass noch viel vor uns liegt, um der zentralen Aussage „Sozialentwicklung hat den gleichen Stellenwert wie die Wirtschaftsentwicklung“ näher zu kommen. Sicher hat Kopenhagen etwas bewegt und Deutschland hat daran einen wesentlichen Anteil. Erinnert sei an die erweiterte HIPCEntschuldungsinitiative, die auf dem Weltwirtschaftsgipfel 1999 in Köln auf den Weg gebracht wurde und zu der die Bundesregierung einen umfassenden Finanzierungsbeitrag leistet. Ich begrüße es sehr, dass sich die Bundesregierung aktiv für die Einhaltung der Kernarbeitsnormen und der Konvention gegen die Kinderarbeit einsetzt sowie die ILO umfassend bei dem internationalen Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit fördert und unterstützt. ({0}) So entspricht die Gesamtorientierung der deutschen Entwicklungspolitik den Beschlüssen des Kopenhagener Gipfels. Aber auch bei der Umsetzung der Verpflichtung und Beschlüsse von Kopenhagen auf nationaler Ebene erledigt die Bundesregierung ihre Hausaufgaben. So wurde ein nationaler Armutsbericht, dem sich die CDU/CSU und die F.D.P. in der Vergangenheit stets verweigerten, eingeführt, die Familien entlastet, das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit umgesetzt, die Gespräche des Bündnisses für Arbeit initiiert und Reformanstrengungen zur Zukunftsfestigkeit der sozialen Sicherungssysteme unternommen. Was muss in Genf in Angriff genommen werden, damit der Traum, den ich eingangs beschrieben habe, endlich Wirklichkeit werden könnte? Zunächst gilt es, die bisherige Umsetzung zu prüfen und dann neue Initiativen zu vereinbaren. Diese neuen Initiativen sollten dazu beitragen, das Aktionsprogramm von Kopenhagen umzusetzen. Dabei müssen wir neuere Entwicklungen berücksichtigen, wie die Auswirkungen der Globalisierung, die sozialen Folgen von Finanzkrisen, die noch unzureichenden Chancen der Entwicklungsländer im Welthandel und die zunehmende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Gruppen. In unserer Zeit, in der wir sekundenschnell über den Globus hinweg miteinander kommunizieren können und in der Arbeit in vielen Bereichen global organisiert ist, dürfen Politik, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen nicht an nationalen Grenzen Halt machen. ({1}) Die Lösungen für weltweite Herausforderungen lassen sich nur global finden. Soziale Gerechtigkeit wird in keinem Land der Erde auf Dauer haltbar sein, wenn wir nicht auch international für dieses Ziel kämpfen. Der wichtigste Grund dafür, sich für die Durchsetzung sozialer Aspekte in der Globalisierung einzusetzen, liegt darin, dass ein globales Regime reiner Gewinninteressen einen Prozess der Selbstzerstörung und der Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklung auslösen würde. Ich bin davon überzeugt: Eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz braucht starke internationale Institutionen. Sie braucht nicht nur UNO, Weltbank und WTO, sondern auch und gerade eine starke Internationale Arbeitsorganisation ILO und starke Nichtregierungsorganisationen. ({2}) Oder wie Theo Sommer in der „Zeit“ von heute schreibt: Wo muss, wenn man eine Marktwirtschaft will, aber keine Marktgesellschaft, der Markt enden und die Gesellschaft beginnen? Was wir brauchen, ist ein Umdenken bei den führenden Köpfen, insbesondere in den Entwicklungsländern. Bei der Durchsetzung von Gleichrangigkeit von globaler wirtschaftlicher Entwicklung und globalem sozialem Fortschritt stehen wir erst am Anfang, obwohl das Konzept der Gleichrangigkeit in Kopenhagen beschlossen wurde. Das Konzept schwebt noch in den Wolken. Von der harten Wirklichkeit scheint es oft unglaublich weit entfernt zu sein. Es muss heruntergezogen und alltagsbestimmt werden. Dies ist die Aufgabe der Konferenz in Genf und für jedes weitere Handeln. Ein Umdenken ist dahin gehend notwendig, wie es im Berliner Kommunique „Modernes Regieren für das 21. Jahrhundert“ 14 Staats- und Regierungschefs formulierten. Ich zitiere daraus: Was uns vor allem zusammenhält, sind unsere Wertvorstellungen. Wir bekennen uns zu Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Wir glauben, dass alle Menschen gleichwertig und füreinander verantwortlich sind. ({3}) - Wenn das eine Parteiveranstaltung war, Herr Weiß, dann bin ich froh, dass ich in der Partei bin, die solche guten Ideen entwickelt. ({4}) Vielleicht gelingt es dem Bundeskanzler und den übrigen Regierungschefs, diese Botschaft auch in die Köpfe mancher hirnverbrannter militaristischer Staatschefs einzupflanzen, die militärische Auseinandersetzungen führen, statt Armut und Ungerechtigkeit im eigenen Land zu bekämpfen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationale Organisationen sind bekanntermaßen häufig etwas schwerfällig. Da bilden der Weltsozialgipfel und die Sondergeneralversammlung Kopenhagen plus Fünf sicher keine Ausnahme. Dennoch muss man sich im Vorfeld einer solchen Versammlung überlegen: Wo standen wir eigentlich vor fünf Jahren und wie weit sind wir seitdem vorangekommen? Wenn man manche Äußerung rund um den Gipfel hört und liest - ich zähle dazu auch den Antrag der Koalitionsfraktionen zu dieser heutigen Debatte -, dann könnte man den Eindruck haben, als ständen wir noch am Anfang der Diskussion. Aber Diskussionen über Themen wie Kernarbeitsnormen und Sozialstandards, Förderung von Frauen, der Zivilgesellschaft und Schutz der Umwelt sind Diskussionen, die schon vor fünf Jahren geführt wurden. Deswegen will ich deutlich sagen: Natürlich war Kopenhagen 1995 ein guter Anfang für die Diskussion und für Verabredungen auf dem Gebiet der weltweiten Sozialpolitik. Es war ein guter Anfang, zu dem die Regierung Helmut Kohl einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Ich bin auch dafür dankbar, dass von der Kollegin BeckerInglau die herausragende Rolle von Norbert Blüm gewürdigt worden ist. ({0}) Im Vergleich dazu kann man die Wertschätzung der heutigen BMA-Spitze an diesem Thema sehen, denn sie ist in dieser Debatte nicht vertreten. Hier hat sich schon etwas verändert. Ansonsten finde ich es erstaunlich und mutig, wenn der Kollege Dreßen etwas zur innenpolitischen Debatte beiträgt. Herr Kollege, wie Ihre Zukunftssicherung der sozialen Sicherungssysteme aussieht, erleben wir zurzeit an allen Zapfsäulen im Land. ({1}) Dass sie das gerade in dieser Woche zum Thema machen, da Sie das Rentenkonzept Ihres Arbeitsministers versenkt haben, ist schon mutig. Zu diesem Mut beglückwünsche ich Sie jedenfalls. ({2}) Seit der Konferenz in Kopenhagen sind fünf Jahre vergangen. Man muss feststellen, dass sicher manche Hoffnungen auf der Strecke geblieben sind. Wir müssen auch feststellen - Sie können nicht darum herumdiskutieren -, dass die rot-grüne Bundesregierung auch bei diesem entwicklungspolitischen Thema weder Antreiber noch Vorbild ist. Wir können lange darüber streiten, wie zentral die 20:20-Initiative sein mag. Es ist aber so, dass Sie Ihren Beitrag zur Erreichung des 20:20-Ziels verfehlen, in der Tendenz immer weiter. Das sagen nicht nur wir als Oppositionsfraktion, sondern das stellen auch Organisationen fest, von denen die Kollegin Becker-Inglau zu Recht sagte, dass die Ihnen bisher mit sehr viel Goodwill begegnen, wie das deutsche NRO-Forum „Weltsozialgipfel“. Es weist deutlich darauf hin: Die Bundesregierung verfehlt die von ihr selbst in Kopenhagen entscheidend mit vorangebrachten Zielvorgaben bezüglich ihrer EZ dramatisch. Dramatisch, wohlgemerkt. Das ist die Aussage von Entwicklungsorganisationen, von NROs, auf die Sie sich sonst in Ihrer Argumentation so gerne stützen. Deswegen ist es notwendig, in den entsprechend Fragen konkret voranzukommen. Wenn Sie in Ihrem Antrag von Kernarbeitsnormen reden, dann ist das grundsätzlich nichts Neues. Die Frage der Kernarbeitsnormen ist im internationalen Welthandel nicht in erster Linie die Frage von Kindern als Jockeys. Es geht um sehr viel schwierigere Fragen. Sie weisen selber darauf hin: Dem Protektionismus soll nicht weiter Vorschub geleistet werden. Sie formulieren, dass Sozialstandards dafür nicht missbraucht werden dürften. Sie fordern für die Entwicklungsländer auch die Aufrechterhaltung komparativer Wettbewerbsvorteile. Auf der anderen Seite sprechen Sie sich aber auch dafür aus, mit Liberalisierungen vorsichtig zu sein und der besonderen Situation von Entwicklungsländern Rechnung zu tragen. Es geht nicht alles gleichzeitig. Es gibt immer bestimmte Sonderinteressen. Aber wir sollten uns einig sein, dass mehr Freihandel zwischen den einzelnen Ländern den Ländern insgesamt nützt. Das sollte eigentlich unsere gemeinsame Position in den WTO-Verhandlungen sein, um auch die soziale Situation in den Entwicklungsländern zu berücksichtigen. ({3}) Seit Kopenhagen sind fünf Jahre vergangen, in denen das muss man sagen - viel Zeit vertan worden ist. Das kann man nicht nur auf die entwicklungspolitischen Institutionen schieben; vielmehr muss sich jedes Land und jede Regierung zur eigenen Verantwortung bekennen. Deutschland hat ein starkes Gewicht in diesen Organisationen. Sie sind - leider - in manchen Bereichen auf dem Weg, dieses Gewicht zu verspielen. Aber noch haben wir es. Wir spielen auch eine bedeutende Rolle in internationalen Finanzorganisationen. Deswegen erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie aufgrund ihres Gewichtes darauf achtet, dass Strukturanpassungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramme in den Entwicklungsländern auch sozial ausreichend abgefedert werden. Das ist unsere Position und unsere Erwartung. ({4}) Wenn man Ihre regierungsamtlichen Verlautbarungen liest, dann stellt man fest, dass Sie mit dem IWF durchaus Ihren Frieden gemacht haben, seit Sie an der Regierung sind. Der IWF und die Weltbank haben sich auch schon in vielen Bereichen bewegt. Unsere Erwartung ist, dass Sie diese internationalen Organisationen verstärkt in die entsprechende Richtung bringen. Wir von der CDU/CSU stehen dann an Ihrer Seite, wenn es wirklich um die Bekämpfung der Armut in der Welt und damit um die Lösung des größten entwicklungspolitischen Problems überhaupt geht. Nur, für uns gehört ganz unzweifelhaft dazu, dass nicht nur geredet, sondern auch gehandelt wird. Diese Bundesregierung muss die Prioritäten im nächsten Bundeshaushalt so setzen, dass sich die international eingegangenen VerpflichDr. Ralf Brauksiepe tungen auch widerspiegeln. Lassen Sie Ihren schönen Worten auch einmal Taten folgen. ({5}) Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen „Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen vom 26. bis 30. Juni 2000 in Genf - Weltsozialgipfel Kopenhagen + 5“ auf Drucksache 14/3515. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zur Umsetzung der Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung auf Drucksache 14/3504. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist der Antrag bei Zustimmung der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. mit den Gegenstimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der PDS abgelehnt. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Förderung des Radverkehrs - Drucksache 14/3445 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Sind Sie einverstanden, dass alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden?*) Das ist der Fall. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten KarlJosef Laumann, Dr. Maria Böhmer, Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse - Drucksache 14/3292 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 14/3292 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Haltung der Bundesregierung zu den Men- schenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China - zu dem Antrag der Abgeordneten Hermann Gröhe, Monika Brudlewsky, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Menschenrechte in der Volksrepublik China - Drucksachen 14/661, 14/2694, 14/3501 - Berichterstattung: Abgeordnete Rudolf Bindig Hermann Gröhe Sabine Leutheusser-Schnarrenberger b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine China-Resolution der VN-Menschen- rechtskommission - Drucksachen 14/2915, 14/3517 - Berichterstattung: Abgeordnete Rudolf Bindig Hermann Gröhe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Volker Neumann von der SPD-Fraktion das Wort. *) Anlage 10

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt sicherlich viele Gründe, über China und Menschenrechte zu sprechen. Wir haben das schon im März gemacht, auch damals zu später Stunde. Der ursprüngliche Antrag der F.D.P. stammt vom letzten Jahr. Er war anlässlich des Besuchs des Bundeskanzlers in China im Mai eingebracht worden. Jetzt beraten wir abschließend die Empfehlung vor dem Besuch des Ministerpräsidenten der Volksrepublik China Zhu Rongji in Deutschland. Ich will keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass wir diesen Besuch begrüßen, weil er geeignet ist, die guten Beziehungen zu China zu vertiefen. Auch wenn wir im Menschenrechtsausschuss den nun von der Regierungskoalition vorgelegten Änderungsantrag nicht einstimmig beschließen konnten, so bin ich doch überzeugt, dass die grundlegenden Positionen parteiübergreifend Konsens finden. Das bedeutet insbesondere, dass wir unsere Möglichkeiten nutzen sollten, auf China dahin gehend einzuwirken, die Menschenrechtslage zu verbessern. Wir sind uns darüber einig, dass es zu diesem Zweck zu einem offenen und von beiden Seiten mit Respekt geführten Dialog kommen muss. Auch der Besuch von Zhu Rongji bietet für unsere Regierung Anlass, diesen Dialog zu fortzusetzen. Der Dialog sollte aber auch von den Abgeordneten beider Staaten fortgesetzt werden, so wie er gestern im Auswärtigen Ausschuss und in vielen Einzelgesprächen mit Mitgliedern des außenpolitischen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses in aller Offenheit geführt worden ist. Obwohl sich die wirtschaftliche Lage für viele Menschen in China unzweifelhaft verbessert hat, ein Stück mehr Rechtssicherheit eingetreten ist und es Reformen auf dem Wirtschaftssektor gab, die persönliche Freiräume geschaffen haben, bleibt eine Tatsache bestehen: Die Menschenrechtssituation hat sich im vergangenen Jahr verschlechtert. 1999 war nach Ansicht vieler Beobachter sogar das schwierigste Jahr seit 1989 für Dissidenten sowie für religiöse und ethnische Minderheiten. Es gehört zu den demokratischen Tugenden, Fragen offen anzusprechen. Das gilt auch gegenüber der Volksrepublik China, mit der sich immer bessere Beziehungen auf vielen Feldern der Politik entwickeln. Für chinesische Ohren hört es sich fast wie eine Selbstverständlichkeit an, wenn wir fordern, dass die Rechte von Minderheiten respektiert werden müssen. Dennoch scheint China in vielen Fragen eine andere Sicht der Dinge zu haben. Die religiösen, weltanschaulichen und ethnischen Minderheiten haben in China einen schweren Stand. So waren vor allem die moslemischen Uiguren in der westchinesischen Region Xinjiang nach übereinstimmenden Berichten in jüngster Vergangenheit Opfer staatlicher Verfolgung. Die Lage für die Tibeter in der autonomen Region Tibet hat sich nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Die Flucht des 17. Lebenden Buddha Anfang des Jahres nach Indien zeigte schlagartig die Lage der Tibeter auf. Er ist der dritthöchste Würdenträger der Tibeter, der sowohl von der chinesischen Regierung als auch vom DalaiLama anerkannt wird. Wir fragen immer wieder und werden weiter fragen: Was hindert die führenden Politiker der Volksrepublik daran, endlich einen Dialog mit dem Dalai-Lama zu beginnen? ({0}) Warum schwieg Jiang Zemin, als Bill Clinton diese einfache Bitte äußerte? Für uns gilt, dass die Ein-China-Politik weiterhin Grundlage unserer politischen Überlegungen ist. Sie war es übrigens auch bei der Tibet-Resolution im Jahre 1996, die damals zu Irritationen in den deutsch-chinesischen Beziehungen geführt hat. Nachdem die Volksrepublik immer die Wiedervereinigung Deutschlands unterstützt hat, gibt es keinen Grund, einer Teilung Chinas das Wort zu reden. Wir beklagen aber gegenüber China, dass noch immer gewaltloser politischer Widerstand zu Verhaftungen, Administrativhaft und Arbeitslager führen kann, und wir beklagen die extensive Anwendung der Todesstrafe. Spätestens seit der Wiener Menschenrechtskonferenz gilt für China, dass die Diskussion über die Fragen der Menschenrechte keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ist. Die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte wird auch von China anerkannt. Ich bin überzeugt, dass auch ein verstärkter Dialog mit China auf bilateraler und europäischer Ebene eine Folge dieser Erkenntnis ist. ({1}) Es wird immer wieder eingewandt, dass wir China in der Frage der Menschenrechte anders behandeln als kleinere, wirtschaftlich relativ unbedeutende Länder. Ich meine, das stimmt nicht. Wir üben unsere Kritik. Aber es ist legitim, in Bezug auf ein Land dieser Größe andere Wege zu gehen. Ich denke, die Bundesregierung hat eine neue Richtung aufgezeigt. Beim Besuch des Bundeskanzlers im vergangenen Jahr wurde eine neue Qualität des Rechtsstaatsdialogs begonnen. ({2}) Schon in der nächsten Woche besuchen die Bundesjustizministerin, die Vizepräsidentin des Bundestages und Kollegen die Volksrepublik, um diesen Dialog fortzusetzen. ({3}) Damit beginnen wir bei den Wurzeln des Menschenrechtsschutzes, nämlich bei der Rechtsstaatlichkeit. Der Schutz der Menschenrechte steht in unauflösbarem Zusammenhang mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. ({4}) China steht nach den Verträgen mit der EU und den USA kurz vor der Aufnahme in die Welthandelsorganisation. Es ist der politische Wille der Führung in Peking, die wirtschaftliche Öffnung weiter voranzutreiben. China wird den Weg auf Dauer aber nur gehen können, wenn er mit politischen Öffnungen verknüpft ist; denn nur so wird langfristig Stabilität zu erreichen sein und nur mit Stabilität wird China die Früchte der wirtschaftlichen Reform ernten können. Diese Erfahrung haben auch schon andere aufstrebende Länder in Asien gemacht. In Indonesien beispielsweise war es die wirtschaftlich erstarkte Mittelschicht, die nach Bürgerrechten drängte und gemeinsam mit den Studenten die Absetzung Suhartos bewirkte. Das Defizit an Demokratie und Menschenrechten, der Mangel an Teilhabe an den politischen Entscheidungen waren letztlich die Ursache für den Umbruch. ({5}) Auch in China gibt es diese aufstrebende Mittelschicht, während allerdings der Großteil der Bevölkerung von den wirtschaftlichen Fortschritten ausgeschlossen ist. Wir sehen die Probleme des bevölkerungsreichsten Landes der Erde. Aber wir anerkennen auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Wir sehen die Schwierigkeiten der Umstrukturierung der Wirtschaft und die Gefahr der Massenarbeitslosigkeit. Wir sehen auch die Entwicklungsanstrengungen im Westen Chinas. Dennoch: Wir müssen gegenüber der chinesischen Führung immer wieder unsere Überzeugung deutlich machen, dass die Teilhabe der Menschen am politischen Meinungsbildungsprozess und die Wahrung der Menschenrechte Voraussetzung für eine dauerhafte Stabilität ist. ({6}) Dauerhafte Stabilität ist wiederum Voraussetzung für eine verlässliche Politik. Der chinesischen Führung sollte es deshalb nicht egal sein, wie ihr Verhalten in Menschenrechtsfragen von der Welt gesehen wird. Der Dialog über Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sollte intensiv fortgeführt werden. Handel und Prosperität allein werden nichts bewirken. Sanktionen oder Provokationen allerdings auch nicht, wie wir in anderen Fällen gesehen haben. Der Äußerung des amerikanischen Präsidenten beim Abschluss der Handelsverträge mit China kann ich mich nur anschließen: Mit ausgestreckter Hand wird unser positiver Einfluss größer sein als mit geballter Faust. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! China ist ein Kontinent. ({0}) Dieser Kontinent hat mit eines der größten Gewichte in der gesamten Welt. Das ist nicht nur ein Land. Wir alle wissen, welche Höchstleistungen dieses Land im Laufe seiner langen Geschichte in der Kultur der Sprache, der zivilisatorischen Entwicklung erbracht hat. Auch der zivilisatorische Fortschritt in unserer Zeit ist beachtlich. Was heißt es denn, einen Lebensstandard herzustellen, der bewirkt, dass über 1 Milliarde Menschen Brot haben und keinen Hunger leiden müssen, zumindest nur in sehr wenigen Fällen? Damit wird eine Leistung erbracht, die, wenn wir als Maßstab die ganze Welt nehmen, einzigartig ist. Das alles verdient höchste Anerkennung. Leider verdunkelt sich die Szene beim Thema Menschenrechte. Die Zahl von Menschen, die in so genannter Administrativhaft sind, das heißt, die ohne jedes Gerichtsverfahren und ohne das Wissen sind, ob sie jemals aus diesen Lagern heraus kommen - das muss man sich einmal vorstellen -, geht in die Hunderttausende. Das ist im Übrigen auch im weltweiten Vergleich einzigartig. Sie finden in kaum einem Land eine mit den chinesischen Arbeitslagern vergleichbare Institution. Auf die hohe Zahl der Hinrichtungen wurde hier schon eingegangen. Hinzu kommen die religiöse Unterdrückung von Christen - insbesondere Romtreue Katholiken und Mitglieder protestantischer Hauskirchen sind betroffen - und die Unterdrückung von Minderheiten. Beispielhaft verweise ich auf Tibet oder die Uiguren. Was in Tibet an Religion, an Kultur und auch an Umwelt vernichtet wird, ist skandalös. ({1}) Zu dieser Situation werden wir alle einmal sagen, wenn es so weitergeht: In unseren Tagen ist eine der ältesten und einzigartigsten Kulturen vom Dach der Welt verschwunden. Die Kampagne gegen den Dalai-Lama geht zwar völlig ins Leere, wird von keinem abgenommen und wirft eigentlich nur ein schlimmes Bild auf ihre Verursacher zurück, bewirkt aber immerhin Böses. Trotzdem, meine Damen und Herren, können wir nicht mit erhobenen Zeigefingern sagen: Bei uns ist das alles anders und ihr müsst euch jetzt an uns ausrichten. Auch Europa hat weiß Gott eine Geschichte, die keinesfalls als Beispiel dienen kann. Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um Menschenrechte und Menschenwürde bei uns in Verfassungen zu etablieren. Das Gleiche gilt auch für die Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist sicher richtig, dass die Geschwindigkeiten der Geschichte an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich sind. Während es bei uns Regierungszeiten eines Königs oder einer Koalition gab, die einige Jahre oder höchstens einige Jahrzehnte umfassten, bestanden chinesische Dynastien zwischen 100 und 300 Jahren. Dass das heute nicht mehr so ist, ist mit Sicherheit auch richtig. Dass es nicht von heute auf morgen geht, die Volker Neumann ({2}) Geschwindigkeit dieses Milliardenvolkes mit unserer Geschwindigkeit zu harmonisieren, ist auch klar. Man muss aber auch die Chinesen selber beim Wort nehmen: Sie wollen weltweite Verantwortung in einem Zeitalter der Globalisierung durch Informations- und Kommunikationstechniken tragen. Sie wollen überall vorne mit dabei sein. Das heißt, sie wollen Verantwortung übernehmen. Man kann nicht als eines der größten Länder der Welt Mitglied der Vereinten Nationen sein und die Charta der Menschenrechte mit Füßen treten. ({3}) Wenn das kleine Schurkenstaaten machen, ist das bedauerlich, aber ein solches Riesenland mit dem Gewicht, der Anerkennung und dem Respekt, wie China für sich fordert, sollte eine andere Verantwortung haben, als sie hier gezeigt wird. ({4}) Denken Sie daran, dass China Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates ist. Als solches muss man Verantwortung übernehmen. Man kann nicht nur die eigene Position vertreten. Denken Sie daran, wie China nur aus Verärgerung über die Beziehungen zwischen Mazedonien und Taiwan die UN-Truppe an der Grenze zu Jugoslawien, also zu Serbien, zurückgezogen hat. Obwohl alle anerkannt haben, dass das eine der erfolgreichsten Missionen werden könnte, ist sie am Veto der Chinesen im Sicherheitsrat gescheitert. Das ist nicht die Verantwortung, die China hier zeigen muss. Es liegt aber auch nicht im Sinne seiner eigenen Verfassung. In Kapitel 2 der Verfassung aus dem Jahr 1982 werden die Freiheit der Rede, die Freiheit der Presse, die Freiheit der Versammlung, die Vereinigungsfreiheit, die Demonstrationsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Freiheit der Person und der Privatsphäre garantiert. Das sind alles Lügen. Das müssen wir leider sagen. In der Wirklichkeit sieht es völlig anders aus. Eine kleine Gruppe, die sich auf dem Tiananmen-Platz versammelt und ein kleines Pappschild hoch hält, um an irgendetwas zu erinnern, wird mit beispielloser Brutalität sofort von der Polizei eingesammelt und verschwindet für wer weiß wie lange in Arbeitslagern oder Gefängnissen oder Ähnlichem. ({5}) Also nichts von dem, was in der Verfassung steht, wird eingehalten. Das zeigt natürlich die innere Schwäche des Regimes. Deng Xiaoping hat die erste Stufe der Marktwirtschaft eingeleitet, sicherlich auch mit dem Gedanken, dass China materiell nicht mehr auf einen grünen Zweig kommt, wenn man nicht gleichzeitig einige Freiheiten mehr zulässt. Er hat sicherlich gewusst, dass er nicht alles auf einmal kann, aber er hat nicht davon gesprochen, dass das alles wieder gestoppt und beendet wird und dass es keine zweite Stufe gibt. Das haben seine Nachfolger gemacht. Dabei müsste China ein eigenes Interesse an einer weiteren Entwicklung haben, denn die zweite Stufe der Marktwirtschaft ist ohne gewisse Freiheitsrechte für Personen, für Gruppen völlig ausgeschlossen - nicht weil wir das wollen, sondern weil es in der inneren Logik von Freiheit und Wirtschaft liegt. Daran wird China scheitern. Je früher es das erkennt, umso eher vermeidet es das Scheitern. Der „Große Markt“, bei dem alles nach China strebt, ist längst vorbei. Die großen Investitionen in China sind rückläufig, weil man natürlich weiß, dass der „Große Markt“ so nicht funktionieren kann. Wie reagiert man nun auf eine solche Situation? Man kann anprangern, man kann Gespräche führen, man kann einen Dialog führen. Man muss eben in diesem Falle im Grunde genommen alles tun. Wir müssen auf der einen Seite die Dinge beim Namen nennen und dürfen nicht vor lauter Vorsicht schon gar nichts mehr aussprechen. Da bin ich schon sehr verwundert. Ich war mit der Menschenrechtspolitik unserer eigenen Regierung damals keineswegs immer einverstanden. Das wissen Sie sehr genau. Aber wie vorsichtig diese Regierung, deren Mitglieder uns damals in entsprechender Weise vorführen wollten, heute agiert, hätte ich so nie vermutet. ({6}) Es ist auch nicht wahr, wenn gesagt wird, das sei eine ganz andere Kultur. Diesbezüglich müssen wir vorsichtig sein. Wer die chinesische Kultur kennt, weiß, dass die chinesische Kultur menschenfreundlich ist und die Würde des Menschen achtet. Sie brauchen nur an Konfuzius oder Mo-Ti zu denken. Von ihnen wird die Würde des einzelnen Menschen genauso beschrieben wie von Denkern bei uns. Derartige Behauptungen sind also Blödsinn. Nur Machthaber und Tyrannen beschreiben plötzlich ihre Kultur anders, obwohl natürlich der, der gefoltert wird oder im Gefängnis sitzt, genauso leidet, ob er nun in Europa, in China oder in Amerika sitzt. ({7}) Das muss ausgesprochen werden. Wir bedauern, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist. Wir von der CDU/CSU-Fraktion haben unseren Antrag wirklich mit außerordentlicher Sensibilität abgefasst. Ich würde sagen: selbst nach chinesischen Maßstäben „Chung-jung“: mit Maß und Mitte. ({8}) Aber was nun herausgekommen ist, sind so seichte Töne, dass sie bei den Chinesen keinen Respekt hervorrufen werden. Das kann ich Ihnen sagen. Die Chinesen haben Respekt vor Leuten, die selbstbewusst sind, die stark sind und darüber hinaus Sensibilität besitzen, aber nicht vor Leuten, die so vorsichtig sind, wie das in dieser Beschlussempfehlung zum Ausdruck kommt. Wir werden also dieser Beschlussempfehlung nicht zustimmen, weil es eine meines Erachtens sehr viel bessere Formulierung im Antrag der CDU/CSU-Fraktion gibt. In gleicher Weise gilt das übrigens auch für den Antrag der F.D.P.-Fraktion. Aber der Kernpunkt unserer Kritik geht darüber hinaus. Der Antrag der Unionsfraktion zielte darauf ab, eine parlamentarische Behandlung der Frage herbeizuführen, welche Position die Bundesregierung im Hinblick auf die Menschenrechtslage in China im Rahmen der Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf einnehmen will. Der Antrag wurde von uns am 15. Februar eingebracht. Die UN-Menschenrechtskommission tagte in Genf bis Ende April. Obwohl Staatsminister Volmer bei der Einbringung des Antrags das Interesse der Bundesregierung an einer interfraktionellen Einigung über eine Beschlussempfehlung ausdrücklich erklärt hat, hat es keinerlei Bemühungen vonseiten der Regierungsfraktionen um eine solche Einigung gegeben. Insbesondere hat es überhaupt keine Bemühung gegeben, eine solche Einigung, was sehr wohl möglich gewesen wäre, vor Abschluss der Tagung in Genf herbeizuführen. Das ist der Grund, warum wir dieser Beschlussempfehlung nicht zustimmen können. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Woher wissen Sie eigentlich, wie ich jetzt reden werde? Warten Sie doch einmal ab! ({0}) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer wieder der gleiche Reflex: Wenn es um Menschenrechte geht, wird sehr schnell der Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten erhoben. ({1}) Aber Menschenrechte sind keine inneren Angelegenheiten und Menschenrechte kennen keine Grenzen. Wenn wir heute - leider wieder zu viel zu später Stunde, was ich überhaupt nicht nachvollziehen kann, denn wir müssen uns als Deutscher Bundestag nicht vor einer Menschenrechtsdebatte verstecken - darüber diskutieren, wie deutsche Politik Reformprozesse in China mit initiieren und mit unterstützen kann, wie deutsche Politik unter anderem mit dem begonnenen Rechtsstaatsdialog dazu beitragen kann, immense menschenrechtliche Defizite zu überwinden, dann ist das im besten Sinne der Versuch der konstruktiven Unterstützung eines überfälligen und nötigen Demokratisierungsprozesses in China. ({2}) Mit unserem Antrag und unserer Debatte werden nicht, wie der chinesische Botschafter befürchtet, die Gefühle der Chinesinnen und Chinesen verletzt. Nein, es werden die legitimen Menschenrechte der Bevölkerung Chinas unterstützt, die verletzten Rechte von Minderheiten, wie der Tibeter und Uiguren, die verweigerten Rechte von Christen, Moslems und den Anhängern der Falun Gong. Es wäre keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas gewesen, wenn sich die Genfer Menschenrechtskommission bei ihrer Tagung mit der Verfolgung Andersdenkender, der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, der Presse- und Versammlungsfreiheit, mit der Administrativhaft - Dr. Schwarz-Schilling hat sehr viel dazu ausgeführt -, mit Zwangslagern, mit der exzessiven Praxis der Todesstrafe in China auseinander gesetzt hätte, ({3}) sondern das wäre schlichtweg der Auftrag der Menschenrechtskommission gewesen. Eine China-Resolution hätte all diejenigen unterstützt, die sich in China für die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte einsetzen. Ein solcher Beschluss hätte zur Glaubwürdigkeit der Genfer Kommission beigetragen. Die Verweigerung, auch nur eine Debatte über die Situation in China zu führen, hinterlässt einen schalen Geschmack der selektiven Kritik an Menschenrechtsverletzungen. In der Tat glaube ich, auch die Bundesregierung muss überdenken, welche Strategie die richtige ist, um einen Beschluss zur Menschenrechtssituation in China, sollte sie sich nächstes Jahr nicht verbessert haben, aktiv zu unterstützen. ({4}) Dem weltweiten Schutz der Menschenrechte wurde in Genf kein guter Dienst erwiesen. Ich glaube, dass ein bilateraler Rechtsstaatsdialog, wenn er denn intensiv geführt wird, tatsächlich eine Chance bietet. Ich appelliere ausdrücklich und eindringlich an die Bundesregierung, auf allen politischen Ebenen und in allen verschiedenen Gremien die Menschenrechtssituation im Dialog mit der Volksrepublik China offensiv anzusprechen. Ich appelliere analog an die deutsche Wirtschaft, ihrerseits Spielräume und Möglichkeiten im Sinne des Ausbaus und des Schutzes unveräußerlicher Rechte wie der sozialen Rechte zu nutzen, die nach wie vor nicht verwirklicht sind. Das wäre übrigens auch im eigenen Interesse, denn Stabilität ist die Voraussetzung für Investitionen und sie basiert gerade auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das ist das Motiv für die heutige Debatte und für den heutigen Antrag. Der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in wenigen Wochen bietet die gute Möglichkeit, deutlich zu machen, dass die wirtschaftliche Öffnung der politischen Öffnung bedarf. Ich gehe davon aus, dass in den Gesprächen zwischen dem Ministerpräsidenten und der deutschen Bundesregierung die Verwirklichung der UNO-Pakte und der politische Dialog mit dem DalaiLama eingeklagt werden ({5}) und dass auf die weltweite Bedeutung der Menschenrechte hingewiesen wird. Das ist kein erhobener Zeigefinger, sondern die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit eines demokratischen Chinas. Das, wie Dr. Schwarz-Schilling es gesagt hat, anzusprechen, was anzusprechen ist, das zu kritisieren, was zu kritisieren ist, und einen Dialog zu führen, wo ein Dialog, wenn er zur Verbesserung der Situation beiträgt, geführt werden muss und geführt werden kann, das wird eine Delegation des Menschenrechtsausschusses auf ihrer Reise nach China und Tibet im August und September dieses Jahres sicher tun. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der F.D.P.-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Durchsetzung und die Beachtung der Menschenrechte sollten zum Dreh- und Angelpunkt der Politik der Regierung Schröder werden. Jedenfalls war dies das Versprechen, das SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihren Anhängern und der deutschen Öffentlichkeit gegeben haben. Diese Ankündigungen sind von der Wirklichkeit deutscher Regierungspolitik längst und sehr schnell eingeholt worden. Dafür ist die Befassung mit der Menschenrechtslage in der Volksrepublik China nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr eindrucksvolles. Wir befassen uns heute Nacht unter anderem mit zwei Anträgen meiner Fraktion. Der erste ist im März 1999, also vor der vorletzten Konferenz der UN-Menschenrechtskommission, eingebracht worden und der zweite vor der letzten Konferenz. Inzwischen sind beide Konferenzen längst beendet, ({0}) und zwar mit einem Beratungsergebnis in Bezug auf China, das vollkommen unbefriedigend ist. Da teilen wir von der F.D.P.-Fraktion Ihre Einschätzung, Frau Roth. Ein Weiteres kommt hinzu - das muss in dieser Debatte gesagt werden -: Wenn nicht die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. drei Anträge in die parlamentarischen Beratungen eingebracht hätten, hätte es für Sie noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, sich mit Ihrem Änderungsantrag in letzter Sekunde in diese Beratungen einzubringen. Dann hätten Sie entweder unseren Anträgen zustimmen müssen ({1}) oder Sie hätten sie abgelehnt; dann aber hätte es hier überhaupt keine bzw. eine negative Beschlussfassung gegeben. Ich glaube, das muss man sehen, wenn man die Befassung mit der Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China realistisch betrachtet. Das ist schon fast ein absurdes Theater, vor allen Dingen deshalb, weil dies kurz vor dem sehr wichtigen Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten stattfindet. ({2}) Dieser Besuch verlangt, dass man sich sachlich und konstruktiv, aber auch mit der notwendigen Kritik mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Volksrepublik China auseinander setzt. Wir begrüßen jede Öffnung, jede Bereitschaft zu mehr wirtschaftlicher Zusammenarbeit und die Perspektiven, die sich mit dem WTO-Beitritt Chinas ergeben werden. Wir begrüßen dies nicht nur deswegen, weil es um wirtschaftliche Entwicklung geht, sondern auch deswegen, weil dadurch von uns zu Recht eine positive Sogwirkung hinsichtlich der Achtung der Menschenrechte in China eingefordert wird. Ich muss nichts zur Realität der Menschenrechtslage in China sagen. Das ist ein Punkt, den wir an der Beschlussempfehlung kritisieren: dass sie die Realität nicht zur Kenntnis nimmt. Wir lehnen sie deshalb ab. Es ist eben nicht so, dass sich die Entwicklung der Menschenrechte so positiv entwickelt hat, wie man gehofft hat. Sie hat sich verschlechtert. Das ist die jetzige Situation. ({3}) - Das steht dort nicht. ({4}) In der Beschlussempfehlung steht unter Punkt 2: Trotz dieser Verbesserungen hat sich die Lage der Menschenrechte in der Volksrepublik China noch nicht in der erhofften Weise positiv entwickelt. Nein, sie hat sich verschlechtert, was Todesstrafen, Hinrichtungen, Inhaftierungen, Administrativhaft und den Umgang mit Minderheiten angeht. Gerade vor ein paar Tagen kam es zur Festnahme von 15 friedlichen Demonstranten auf dem Tiananmen, die sich dort anlässlich des 11. Jahrestages des Massakers versammelt hatten. Gestern kam es zudem zur Festnahme eines jungen Menschen, der auf einer Web-Seite die Massaker auf dem Tiananmen dokumentiert hat. Er wurde festgenommen, weil er von seinem Recht auf Meinungsfreiheit, von einem Menschenrecht, das wir alle für unverzichtbar halten, in Claudia Roth ({5}) einer harmlosen Art und Weise Gebrauch gemacht hat. Ich glaube, das muss man hier einfach einmal ansprechen, auch wenn es schon so spät am Abend ist. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich ad personam an den Entschließungsanträgen zu orientieren, die Bündnis 90/Grüne 1993, 1994 und 1996 in den Bundestag eingebracht haben. 1996 haben wir, Grüne und F.D.P., der Regierung eine Entschließung abgetrotzt - wir hatten damals einen Riesenkrach -, die wirklich mehr Substanz hatte als das, was heute zur Beschlussfassung vorliegt. Der Rechtstaatsdialog hat überhaupt noch nicht begonnen. Vielleicht beginnt er jetzt, wenn ein Regierungsmitglied, die Justizministerin, nach China reist. Aber es sind schon wieder Monate vergangen, ohne dass irgendetwas passiert ist. Das konstatieren Sie in Ihrem Antrag, indem Sie sagen, man soll diesen Dialog breit anlegen. Das ist nicht das, was wir von einer engagierten Menschenrechtspolitik erwarten - zusammen mit China, das eine Riesenbedeutung hat und von uns erwartet, dass wir eine klare Sprache sprechen. Die verstehen die Chinesen nämlich sehr wohl. Das habe ich selbst erleben dürfen, als ich als Justizministerin den Besuch des chinesischen Justizministers hatte. Da hat es auf einer Pressekonferenz, auf der ich ihn zur Einhaltung der Menschenrechte aufgefordert habe, großen Ärger gegeben. Danach sind wir in einen sehr konstruktiven, kritischen Dialog eingetreten. Nur so funktioniert das, meine Damen und Herren. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Menschenrechtslage in der Volksrepublik China ist weiterhin äußerst problematisch. Meine Vorredner haben bereits auf die massenhafte Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe hingewiesen, auf fehlende Presse-, Versammlungs-, Organisationsund Religionsfreiheit, auf Fälle von Folter, auf massive Repression durch Sicherheitskräfte und Geheimdienste, auf die Administrativhaft und vieles andere mehr. Ich brauche das daher nicht im Einzelnen zu erwähnen. Mich wundert jedoch schon, dass die Entschiedenheit, mit der von den jeweiligen Fraktionen des Bundestages auf die Menschenrechtsverletzungen in China hingewiesen wird, offenbar davon abhängig ist, ob man gerade in der Regierungsverantwortung ist oder nicht. ({0}) Ich habe mir die diesbezüglichen Protokolle aus der letzten Legislaturperiode kommen lassen. Sie sind schon erhellend für alle. Das gilt nicht nur mit Blick auf China. Die Regierungsbeteiligung scheint also - in der China-Frage vielleicht mit Ausnahme der F.D.P. - eine Art Menschenrechtsweichspüler zu sein. Das finde ich äußerst bedenklich, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({1}) umso bedenklicher, als die anzulegenden Menschenrechtsstandards Gegenstand internationaler Vereinbarungen sind - übrigens Vereinbarungen, zu denen sich inzwischen auch China offiziell bekannt hat -, denen sich die Bundesrepublik oft schon seit Jahrzehnten verpflichtet fühlt, was nicht nur für unsere Innen-, sondern auch für unsere Außen- und Wirtschaftspolitik Bedeutung haben sollte. Nun erwarte ich nicht - das wäre politisch wie historisch sicher eine Dummheit -, dass sich die Bundesrepublik international quasi als Gralshüter der Menschenrechte inszeniert. Zu tief ist sie in viele internationale Prozesse und Verhältnisse involviert, die den Menschenrechten und einer gerechten globalen Entwicklung diametral entgegenstehen. Was ich aber erwarte, ist, dass nicht allein die Frage, ob es sich bei dem entsprechenden Land um einen interessanten Markt oder, wie etwa bei der Türkei, um einen NATO-Partner handelt, darüber entscheidet, mit welchem Nachdruck und in welcher Offenheit die Frage der Menschenrechte angesprochen wird. ({2}) Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen jedenfalls ist ein Paradebeispiel für ein verklausuliertes Diplomatendeutsch, das zumindest meinem Begriff von Offenheit im Dialog und von echter und belastbarer zwischenstaatlicher Partnerschaft nicht entspricht. Dennoch werde ich ihm zustimmen, nicht zuletzt deshalb, weil selbst die verklausulierte Botschaft offenbar angekommen ist, wie unter anderem die Aktivitäten der chinesischen Botschaft der vergangenen Tage verdeutlichen. Gleichzeitig erwarte ich aber auch, dass all diejenigen, die hier die Menschenrechtslage in China problematisieren, ebenfalls mit im Boot sind, wenn etwa die Menschenrechte in der Türkei, in Saudi-Arabien oder die Todesstrafe in den USA zur Diskussion stehen. Bei vielen Kolleginnen und Kollegen habe ich daran keinen Zweifel, bei vielen leider schon. Menschenrechte dürfen nicht instrumentalisiert werden. Man kann sie nicht gegen andere Interessen abwägen. Sie sind universell gültig. Sie sind Menschenrechte. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Staatsminister Ludger Volmer das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vermag in der grundsätzlichen Einschätzung der nach wie vor unbefriedigenden und sich weiterhin verschlechternden Menschenrechtslage in China durch dieses Haus keine großen Unterschiede zu erkennen. Andererseits Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auch darauf ist hingewiesen worden - wird niemand den großen Entwicklungsschub verkennen wollen, den die Volksrepublik China seit ihrer Gründung und insbesondere seit Aufnahme der Reform- und Öffnungspolitik erlebt hat. Die Verschlechterung der Menschenrechtslage ist ein Indiz dafür, dass die gesamte westliche Menschenrechtspolitik bisher wohl nicht gegriffen hat. Sonst müssten wir unsere Strategien nicht überprüfen und diese intensive Diskussion nicht führen. Frau Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, dass Sie persönlich - ich betone: persönlich - in dieser Frage glaubwürdig sind, ist völlig unstrittig. Aber wenn sich Ihre Partei und Ihre Außenminister so deutlich geäußert hätten wie Sie, ({0}) dann hätte sich die Situation ja wohl verbessern müssen, wenn Ihre These stimmt, dass der deutsche Einfluss eine direkte, lineare Einwirkung auf die innerchinesischen Verhältnisse hat. ({1}) 30 Jahre lang hat die F.D.P. den Außenminister gestellt. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, entweder haben die Außenminister nichts gesagt oder es war völlig uneffektiv. ({2}) Sonst könnten Sie heute nicht festhalten, dass sich die Verhältnisse in China verschlechtert haben. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich erinnere daran - das spricht für Sie persönlich -, dass Sie seinerzeit doch die Brocken als F.D.P.-Ministerin hingeworfen haben, weil Sie sich in der Partei nicht durchsetzen konnten. ({3}) Aus all dem ergibt sich die Frage, wie wir es der chinesischen Seite ermöglichen, auf die europäischen Sorgen um die Lage der Menschenrechte in China wirklich einzugehen. Dazu ist es nötig, an dieses Problem ohne Überheblichkeit heranzugehen, auch eingedenk der eigenen, hier mehrmals beschriebenen Geschichte sowie in Kenntnis und Anerkennung der Ungleichzeitigkeit von Entwicklungen. China legt ebenso wie wir großen Wert auf den Ausbau der bilateralen Beziehungen zu Deutschland und Europa. Es ist grundsätzlich bereit, auch in sensiblen Fragen mit uns zusammenzuarbeiten. ({4}) Hiervon konnte ich mich gestern in Gesprächen mit dem Assistierenden Außenminister Chinas und heute in Gesprächen mit dem Auswärtigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses selber überzeugen. Die Bundesregierung setzt in der Menschenrechtsfrage auf Dialog und Kooperation mit der chinesischen Regierung. Dies schließt deutliche - auch öffentliche Worte überhaupt nicht aus. Es schließt auch symbolische Aktivitäten nicht aus. Es war der grüne Außenminister Fischer, der den Dalai-Lama als erster offiziell auf Regierungsebene empfangen hat. ({5}) Dies ist auch der Ansatz der dem Hause vorliegenden Beschlussempfehlung. Nur über die Fortsetzung des Menschenrechtsdialogs auf allen politischen Ebenen wird es gelingen, China von der Notwendigkeit substanzieller Verbesserungen bei den Menschenrechten zu überzeugen. Wir haben der chinesischen Seite konkrete Vorschläge für eine intensive Zusammenarbeit im Rahmen der Rechtsstaatsinitiative unterbreitet, der die chinesische Regierung im November 1999 zugestimmt hat. Wir gehen davon aus, bis zum Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Ende Juni dieses Jahres Einigung über unsere prioritären Projekte zu erzielen. Die Bundesjustizministerin und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Vollmer, werden morgen nach China reisen, um an einem hochrangig besetzten Seminar zur Rechtsbindung der Verwaltung und zum Individualrechtsschutz teilzunehmen, das unsere Botschaft in Peking gemeinsam mit der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften vorbereitet hat. Im Rahmen unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der VR China bildet die Kooperation im Rechtsbereich einen Schwerpunkt, für den wir insgesamt bereits über 60 Millionen DM bereitgestellt haben. ({6}) Mit all diesen Maßnahmen ist eine Infrastruktur geschaffen, in deren Rahmen sich jenseits der großen öffentlichen Anklagen ein Dialog entwickeln wird, von dem wir wissen, dass er auch im Interesse Chinas ist; denn China weiß, dass es als globale Macht nur dann von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt werden wird, wenn es sich demokratisiert. Wir wissen aus vielen Studien, dass Staaten ihre internationalen Beziehungen so wie ihre innerstaatlichen Probleme zu regeln pflegen. Deshalb ist es im fundamentalen Interesse der internationalen Gemeinschaft, dass ein in die globale Gemeinschaft hineinwachsendes, stärker werdendes China sich substanziell demokratisiert. Dazu haben wir eine Dialoginitiative ergriffen. Ich lade Sie, die Sie sich so vehement dafür eingesetzt haben, ein, an dieser Initiative teilzunehmen. Je breiter die Berührungsflächen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und China auf allen Ebenen sind, desto größer ist die Chance, dass wir unsere Wertvorstellungen im Dialog vermitteln können. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China, Drucksache 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/661 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu Menschenrechten in der Volksrepublik China, Drucksache 14/3501. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag der CDU/CSU auf Drucksache 14/2694 in der von der Ausschussmehrheit beschlossenen Fassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sowie drei Stimmen aus der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der Fraktion der PDS im Übrigen angenommen. ({0}) - Entschuldigung, Herr Klose. Eine Gegenstimme aus den Reihen der SPD-Fraktion. ({1}) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine China-Resolution der VN-Menschenrechtskommission“, Drucksache 14/3517. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1999 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({2}) - Drucksache 14/3141 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu Protokoll genommen werden.*) Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3141 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Evelyn Kenzler, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens ({3}) - Drucksache 14/1993 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder ({5}) - Drucksache 14/2933 Berichterstattung: Abgeordnete Christel Deichmann Dr. Michael Luther Hier werden alle Reden bis auf die der Kollegin Kersten Naumann zu Protokoll genommen. ({6}) - Jetzt habe ich es richtig gemacht; vielen Dank für den Beifall. Ich erteile Ihnen das Wort. Bitte schön.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist der Knackpunkt in dieser Debatte? Die PDS sagt: Gesellschaftliches Eigentum darf nicht auf Teufel komm raus privatisiert werden. ({0}) Der Abgeordnete Dr. Michael Luther von der CDU/CSU hat der PDS bei der ersten Lesung unseres Antrags vorgeworfen, wir würden damit über kurz oder lang in alte, längst überholte und von der Geschichte ad absurdum geführte Zustände zurückfallen. Der Abgeordnete Jürgen Türk von der F.D.P. assistierte ihm mit der Bemerkung, die PDS kann es nicht verwinden, dass die Zeit des gesellschaftlichen Eigentums an Grund und Boden passé ist. ({1}) Ich hoffe, dass auch dem Kollegen Türk nicht entgangen ist, dass ein Staat ohne gesellschaftliches Eigentum an Grund und Boden nicht denkbar ist. ({2}) Wir halten es nicht wie Dr. Luther für einen absurden Zu- stand, wenn sich in den westlichen Bundesländern circa 4 Millionen Hektar Wald in Staats- und Körper- schaftseigentum befinden. Das sind immerhin 73,8 Pro- zent der Gesamtfläche. *) Anlage 11 Die PDS fordert keine Enteignung, wie sie leider durch die Länder gegenwärtig auf der Grundlage des Art. 233 EGBGB erfolgt. Wir wollen die Nichtprivatisierung von Bodenreformflächen. Dabei befinden wir uns in voller Übereinstimmung mit dem bayerischen Landwirtschaftsminister Josef Miller, was ja nicht so ganz alltäglich ist. ({3}) Dieser informierte laut „AgraEurope“ vom 7. Februar darüber, dass unter dem Aspekt des Gemeinwohls ... die Bayerische Landesregierung einer Privatisierung der Staatsforsten schon im November 1999 eine klare Absage erteilt hat. Es heißt weiter: Mit der Haltung der Landesregierung ist ... auch einer einseitig gewinnorientierten Ausrichtung ein Riegel vorgeschoben worden. Ich frage Dr. Luther: Ist aus solchen Bemerkungen zu schlussfolgern, dass in Bayern absurde Zustände herrschen? Offensichtlich hat auch der Abgeordnete Jürgen Türk nicht Recht, dass die Zeit des gesellschaftlichen Eigentums an Grund und Boden passé ist. Die PDS fordert lediglich, dass in den neuen Bundesländern so viel Bodenreformwald in Staatsbesitz bleibt wie in Bayern und Baden-Württemberg. Das bedeutet, dass keine Bodenreformwaldflächen privatisiert werden. Der Vorwurf, die PDS folge einer überholten Ideologie, ist nicht mehr als hilflose und unsachliche Argumentation. ({4}) Die Realitäten bestehen in Folgendem: Erstens. Die Privatisierung wird nur in sehr begrenztem Umfang dazu führen, dass sich die Pachtzahlungen der Landwirtschaft verringern werden. Die neuen Bodeneigentümer werden den erworbenen Boden meist nicht selbst bewirtschaften bzw. sie werden auch Pacht verlangen, wenn sie sich an Gemeinschaftsunternehmen beteiligen. Dann werden allerdings private statt staatliche Taschen gefüllt. Zweitens. Der Abgeordnete Dr. Luther ist der Meinung, Private sind auf Dauer immer die besseren und effektiveren Bewirtschafter von Gütern, besser als es der Staat je sein kann. Ob diese Aussage richtig ist, kann offen bleiben; denn um die Bewirtschaftung geht der Streit ja gar nicht. Wir wollen nur, dass die Politik auf eine Entwicklung reagiert, die sich in beiden Teilen Deutschlands vollzieht. Sie ist dadurch charakterisiert, dass der Bewirtschafter und der Eigentümer zunehmend voneinander getrennt werden. Jahr für Jahr steigt der Anteil der Pachtflächen in Westdeutschland. Zu Recht ist nirgendwo davon die Rede, dass deshalb die Verpächter zum Bodenverkauf gezwungen werden sollen. Drittens. Wenn es um das Gemeinwohl geht, erweisen sich die Rahmenbedingungen für die Nutzung des privaten Eigentums als nicht ausreichend. Aus gutem Grund gibt es deshalb Art. 15 des Grundgesetzes. ({5}) Beim Antrag der PDS geht es nicht um Enteignungen, sondern die Ablehnung des Verschleuderns von gesellschaftlichem Eigentum, was für eine am Gemeinwohl orientierte Politik unverzichtbar ist. ({6}) Diese Position hat auch die CDU in ihrem Ahlener Programm vertreten. Zur Erinnerung an diese vor 55 Jahren beschlossenen Grundwerte erlaube ich mir, daraus zu zitieren: ({7}) - Die werden Sie hoffentlich nachgelesen haben. Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Bei allen Reformen der deutschen Wirtschaft, mag es sich um Bodenreform, Neuaufbau der industriellen Wirtschaft oder Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Betrieb handeln, ist das erste und vornehmste Ziel das Wohl des gesamten Volkes. Die deutsche Wirtschaft hat weder in erster Linie dem Wohle einer bestimmten Schicht zu dienen noch dem Auslande. So weit aus dem Ahlener Programm. Mit dem staatlichen Eigentum an den Bodenreformflächen bestehen - entgegen den Äußerungen der Abgeordneten Steffi Lemke in der ersten Lesung - klare Eigentumsverhältnisse: Das ist gesellschaftliches Eigentum. Dieses kann, wie die zurückliegenden zehn Jahre zeigen, sehr wohl Grundlage einer tragfähigen Wirtschaftspolitik sein. Der PDS geht es mit ihrem Antrag um die Sicherung der Einflussnahme des Staates im Sinne des Boden-, Umwelt- und Naturschutzes, aber auch um kontinuierliche Einnahmen des Staates, die wie die Vergabe dieser Mittel einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Machen Sie deshalb Schluss mit Ihrem Schreckgespenst „gesellschaftliches Eigentum“! Liefern Sie nicht alles gnadenlos dem Markt aus! Wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung für das lebenswichtige Gut des Menschen - den Boden. Der Antrag der PDS wird dieser Verantwortung gerecht. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu! ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Treuhandgesetzes auf Drucksache 14/1993. Der Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder empfiehlt auf Drucksache 14/2933, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1993 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Juni 2000, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.