Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/19/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungserklärung sollte den Titel „Frieden braucht Entwicklung“ haben. In diesem Zusammenhang kann man nur feststellen: Frieden braucht auch Solidarität, aber Solidarität verweigert diese Bundesregierung den armen Menschen, den Benachteiligten auf dieser Erde. ({0}) Ich freue mich übrigens sehr darüber, dass der Bundeskanzler heute Morgen hier ist. ({1}) Aber der Bundeskanzler ist für die Erfüllung der auf dem Kölner G7-Gipfel beschlossenen Verpflichtung verantwortlich, die öffentlichen Entwicklungshilfemittel Deutschlands zu steigern. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mittel werden in der mittelfristigen Finanzplanung um rund 1 Milliarde DM gekürzt. ({2}) Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. ({3}) Der Bundeskanzler hat übrigens in die Debatte eingeführt, dass es, was Fachkräfte betrifft, eine stärkere internationale Kooperation geben sollte. Gleichzeitig aber kürzt die Regierung - Inder sind ja im Moment stark im Gespräch - die Anzahl der Stipendienplätze für die Zusammenarbeit mit indischen ingenieurwissenschaftlichen Instituten. Dies betrifft also gerade die Leute, mit denen wir in Wissenschaft und Wirtschaft stärker zusammenarbeiten wollen. Auch hier gibt es also ein Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit. ({4}) Eins hat mich dann doch ein bisschen gewundert, Frau Ministerin. Sie haben viel über die Weltbank und die internationalen Finanzorganisationen gesprochen - alles in Ordnung; darüber müssen wir auch viel reden -, aber über die deutschen Durchführungsorganisationen, über die vielen, die sich in Deutschland für die Entwicklungspolitik engagieren, haben Sie kein Wort verloren - kein Wort über die Nichtregierungsorganisationen, kein Wort über die Kirchen, kein Wort über die politischen Stiftungen. Es ist schon ein merkwürdiger Vorgang, dass über diese Dinge überhaupt nicht gesprochen worden ist. ({5}) Man will nämlich durch die so genannte Internationalisierung der Argumentation verschleiern, dass man den deutschen Durchführungsorganisationen, den staatlichen und nichtstaatlichen, nicht die ausreichenden Mittel zur Verfügung stellt, die für eine internationale Solidarität notwendig wären. Das ist der entscheidende Punkt. ({6}) Nun, Frau Ministerin, haben Sie darauf hingewiesen, dass Sie die Zahl der Kooperationsländer verringern wollen. Möglicherweise - das werfe ich Ihnen gar nicht vor - sind Sie nicht über alle Details in Ihrem Hause informiert, aber klar ist: Wenn Sie sich einmal die Mühe gemacht hätten, sich die Rahmenplanung, also das operative Geschäft Ihres Ministeriums der letzten Jahre anzuschauen, dann hätten Sie festgestellt, dass wir nie mehr als etwa 68 oder 70 oder 72 Länder in dieser Rahmenplanung hatten, also das, was Sie uns jetzt als großen Erfolg verkaufen wollen. Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Wichtiger ist die Katalogisierung, die Klassifizierung, die Sie vornehmen. Die ist außenpolitisch schädlich, und sie ist darüber hinaus noch amateurhaft. ({7}) Sie ist nämlich rein willkürlich. Oder wie können Sie jemandem erklären, dass Georgien Schwerpunktland ist, während Aserbaidschan und Armenien es nicht sind? Diese Klassifizierung ist doch widersprüchlich. Da erklären Sie hier große Dinge zu Nigeria, plädieren dafür, dass ein wichtiges afrikanisches Land möglicherweise Mitglied der Weltsicherheitsrates wird, aber Nigeria, wo der Außenminister bei seinem Besuch einen großen Kooperationsmechanismus angekündigt hat, taucht in Ihrer Liste unter 1 und 2, also unter den Schwerpunktländern, gar nicht auf. Noch grotesker wird es bei Simbabwe. Wir haben bereits am 29. Oktober des letzten Jahres die Bundesregierung gedrängt, dass sie entschieden gegen das MugabeRegime vorgeht. Nichts haben Sie getan, sondern erst jetzt im April, da es in Simbabwe wirklich brennt, haben Sie endlich auf dem Afrikaforum der deutschen Wirtschaft politisch die deutlichen Worte gefunden, die auch in Ordnung sind, sowohl was den Bundeskanzler als auch was Sie, Frau Ministerin, anbetrifft. Das war in Ordnung, aber vielleicht hätten Sie schon vor einem halben Jahr deutlich Ihre Initiativen starten können, um Herrn Mugabe in seinen Aktionen zu bremsen. Jetzt kommt aber wieder ein kritischer Punkt: Simbabwe, jahrzehntelang ein Schwerpunktland deutscher Zusammenarbeit, taucht ebenfalls unter den Schwerpunktländern in Ihren Kategorien überhaupt nicht auf. Wie müssen das eigentlich die Menschen in Simbabwe verstehen? Wie muss das eigentlich die Opposition in Simbabwe verstehen? Wir müssen eine Politik machen, die sich gegen Mugabe richtet, aber nicht gegen die Bevölkerung in Simbabwe, und da setzen Sie mit Ihrer Klassifizierung das falsche Zeichen. ({8}) Es gibt ohnehin keine klaren, erkennbaren Kriterien. Dass bei Kuba gewisse alte Reminiszenzen wach werden gut, das ist Ihre Geschichte. ({9}) Damit habe ich persönlich keine Probleme. Wenn Herr Henkel dafür plädiert, frage ich: Wer hindert die deutsche Wirtschaft daran, wenn sie das für richtig hält, sich in Kuba wie auch in anderen totalitär regierten Ländern wirtschaftlich zu engagieren? Das ist deren Entscheidung. Es geht aber darum, dass die Bundesregierung plant, eine offizielle staatliche Zusammenarbeit mit Kuba aufzunehmen, ({10}) und das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kriterien: marktwirtschaftliche Öffnung, Respektierung des Rechts, Beteiligung der Bevölkerung an den politischen Entscheidungsprozessen. Nichts dergleichen ist in Kuba erkennbar. Nein, die Bundesregierung erklärt im zuständigen Fachausschuss ausdrücklich, die Menschenrechtssituation in Kuba habe sich in den letzten Monaten verschlechtert. Was soll das eigentlich? Sie sagen uns immer, Ihre Kriterien seien die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit einem Land. Wenn die Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind, dann können Sie doch mit einem solchen Land keine staatliche Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen. ({11}) Stärken Sie die Kräfte der so genannten Bürgergesellschaft, der Zivilgesellschaft! Stärken Sie die Kirchen! Stärken Sie die Nichtregierungsorganisationen in Kuba, die darauf hinwirken können, dass sich eines Tages auch dieses Land auf den Weg zur Demokratie macht! In der Klassifizierung ist nicht erkennbar, nach welchen Kriterien sie vorgegangen sind. Nehmen wir ein Land wie Paraguay. Viele wissen gar nicht genau, wo es liegt. ({12}) - Immer mit der Ruhe, Sie können gleich ein paar Bemerkungen dazu machen. Nachdem Paraguay den Weg der Demokratie gegangen ist, haben wir uns ganz bewusst - übrigens einvernehmlich im zuständigen Fachausschuss - dafür entschieden, die Zusammenarbeit mit Paraguay aufzunehmen. Jetzt taucht Paraguay in der Gesamtliste überhaupt nicht mehr auf. Aber die Bundesregierung verweigert die Auskunft darüber, warum das so ist. Man wird doch wohl nachfragen dürfen, warum bestimmte Länder in der Liste stehen und bestimmte Länder nicht. ({13}) Die Ministerin hat lang und breit auf die Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifik Bezug genommen. Sie hat im Vorfeld dieser Verhandlungen erklärt, für die Bundesregierung sei es klar, dass das Prinzip der guten Regierungsführung - oder auf Neuhochdeutsch: Good Governance - unverzichtbar sei. Dieses Prinzip taucht aber im Vertragswerk gar nicht auf. Auf die konkrete Frage, warum das so ist, bekommen wir die Antwort - übrigens auch vom zuständigen EU-Kommissar, Herrn Poul Nielson in Brüssel -: Die afrikanischen Länder haben damit Probleme, weil der Eindruck erweckt werden könnte, man würde Bedingungen, also Konditionalität für die Zusammenarbeit zugrunde legen. Genau das ist aber das, worüber wir uns im Parlament immer einig waren: Wenn in einem Land die Rahmenbedingungen nicht stimmen, dann ist eine umfangreiche Zusammenarbeit nicht möglich. ({14}) Dies nicht in ein Vertragswerk zu schreiben, muss Mugabe und andere ermutigen, weil sie damit rechnen können, dass es die Europäer nicht so ernst nehmen. Damit werden völlig falsche Zeichen gesetzt. Ein Letztes, was Sie zu Recht angesprochen haben, Frau Ministerin, ist die Problematik der sich ständig weiter verbreitenden Krankheit Aids. Es ist leider nicht das einzige Problem, aber ein sehr ernst zu nehmendes. Es ist übrigens - wir sollten uns vor einer gewissen Arroganz hüten - inzwischen nicht mehr nur ein Problem Afrikas. Uns werden dramatische Zahlen aus Südostasien, gerade aus dem indischen Subkontinent, berichtet. Wir hören dramatische Zahlen auch aus Osteuropa. Es ist richtig, dass Sie sich um dieses Problem kümmern wollen. Ihre Haushaltszahlen besagen aber wieder genau das Gegenteil. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Sie verkünden das eine und tun nicht das, was Sie sagen. Das ist schädlich für die Menschen in unseren Partnerländern der Dritten Welt. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hedrich, aus Zeiten, in denen wir noch in der Opposition waren, habe ich entwicklungspolitische Debatten sehr gut in Erinnerung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass damals vonseiten der Opposition über ein Gebiet, das so sensibel ist, in einer derart konfrontalen Art und Weise diskutiert worden ist. Wir sollten auf diesem Gebiet all unsere Kräfte bündeln, um die Politik gemeinsam voranzutreiben, ({0}) aber hier nicht in kleinkarierter Weise aufrechnen, wie Sie es getan haben. Dies kann ich jedenfalls nicht nachvollziehen. Die internationale Solidarität und besonders die Solidarität mit den armen Ländern war und ist immer eine Wurzel des Engagements der Grünen. Ohne die zahllosen Menschen in den NGOs, in den kirchlichen Gruppen, in den Dritte-Welt-Initiativen, deren Arbeit von unschätzbarem Wert war und ist, gäbe es den alten - auch grünen programmatischen Satz „global denken, lokal handeln“ eigentlich nicht, nach dem wir heute unsere Entwicklungspolitik mehr und mehr ausrichten. Keines der globalen Zukunftsprobleme wird ohne internationale Zusammenarbeit zu bewältigen sein. Noch sind wir - darüber besteht wohl Einigkeit - von der Umsetzung international akzeptierter Ziele weit entfernt, die in allererster Linie folgende sind: die Armut entscheidend zu senken, die Grundvoraussetzungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit zu schaffen und - das ist mir besonders wichtig - nachhaltiges Wachstum zu sichern, ohne die globalen Umweltressourcen zu ruinieren. ({1}) Wenn wir in unserem Land die regenerativen Energien - Sonne, Wind und Wasser - in unvergleichlicher Weise fördern, dann ist das für uns gut. Aber eine solche Förderung wirkt sich noch viel segensreicher auf die Entwicklungsländer aus, weil die Nutzung dieser regenerativen Energien und die Anwendung daran angepasster Techniken dort Motor für eine ökonomische Entwicklung sein können und die globalen Umweltressourcen bewahren können. ({2}) Die Entwicklungspolitik leistet aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit anderen Kulturen, Gesellschaften und politischen Systemen einen unerlässlichen Beitrag zu einer ökologisch und sozial ausgeglicheneren Entwicklung in den Ländern, mit denen wir zusammenarbeiten. Wo müssen wir weiterarbeiten? Auf welche Bereiche müssen wir unsere Arbeit noch stärker fokussieren? Wir müssen die Verschuldung der Entwicklungsländer noch sehr viel stärker senken. Der Bundeskanzler hat in Köln und in Kairo in diesem Punkt mit Entschuldungsinitiativen, die es in diesem Umfang schon lange nicht mehr gegeben hat, erfolgreich Zeichen gesetzt. Wir ermutigen ihn, auf diesem Weg weiterzugehen. ({3}) Wir müssen begreifen, dass Umweltprobleme nicht an den Grenzen Halt machen. Die Vereinbarung internationaler Umweltabkommen ist ohne Alternative, wie beispielsweise in den Bereichen Klimaveränderung, Erhalt der biologischen Vielfalt und Kampf gegen das Vordringen der Wüsten. Das alles sind Beispiele für Aufgaben, die vor uns liegen. In diesen Bereichen sichert Umweltpolitik Räume für Menschen, und zwar für ihre unmittelbare Existenz. Dadurch hat sie dort noch eine ganz andere Brisanz als bei uns. ({4}) Die Umweltabkommen müssen mit den Entwicklungsländern umgesetzt werden. Die Lösung von Umweltproblemen, ohne beispielsweise China und Indien ins Boot zu holen, ist schlechterdings unmöglich. Wer diese Länder gewinnen möchte, muss allerdings auch im eigenen Land beispielhaft handeln. Die Regierungskoalition geht diesen Weg. Wir brauchen aber auch ein verbessertes Handelssystem mit sozialen und ökologischen Normen, die auch den Entwicklungsländern mehr Chancen zur Teilnahme bieten. Entwicklungsländer müssen - darauf hat die Ministerin hingewiesen - etwa im Bereich der Landwirtschaft Mehreinnahmen erzielen können. Wir müssen Wege finden, die Erkenntnisse der modernen Medizin auch für die nutzbar zu machen, die sie heute noch nicht bezahlen können. ({5}) Die Bekämpfung von Aids, Malaria und Seuchen ist auch darüber besteht Einigkeit - eine Aufgabe, die wir intensivieren müssen. Die Bundesregierung wird weitere internationale Initiativen ergreifen, so wie sie es bereits getan hat. Man braucht zur Arbeit an diesen zentralen Zukunftsfragen einen langen Atem. Die grüne Fraktion, die grüne Ministerin, unsere Parlamentarische Staatssekretärin Uschi Eid und die Bundesregierung insgesamt haben ihn. Wir wünschen uns an diesem Punkt das gleiche nicht nachlassende Engagement. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schlauch, es hätte eine Zwischenfrage gegeben, aber deren Beantwortung ist nun nicht mehr möglich. Ich erteile dem Kollegen Joachim Günther, F.D.P.Fraktion, das Wort.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schlauch, auch Ihnen ist bekannt, dass die Ministerin noch nicht Mitglied der Grünen ist; andernfalls haben wir etwas verpasst. ({0}) „Frieden braucht Entwicklung“, so lautet das Thema unserer heutigen Debatte. Ich glaube, diesem Thema können wir alle zustimmen. Wer dieses Ziel erreichen will, der muss dafür Voraussetzungen schaffen. Aus dieser Sicht habe ich in einigen Unterlagen nachgeschaut. Frau Ministerin, ich habe bewundert, mit welchem Elan Sie in diese Legislaturperiode hineingegangen sind und welche Zielstellungen Sie sich für diesen Abschnitt vorgenommen haben. Im Koalitionsvertrag, der vor eineinhalb Jahren von Rot-Grün geschlossen worden ist, steht in der Rubrik „Entwicklungspolitik“ wörtlich: Um dem international vereinbarten 0,7 Prozent-Ziel näher zu kommen, wird die Koalition den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes umkehren und vor allem die Verpflichtungsermächtigungen kontinuierlich und maßvoll erhöhen. Das ist aus heutiger Sicht reine Satire. ({1}) Auch die Ankündigung im Koalitionsvertrag, man wolle Hermes-Bürgschaften zukünftig nach ökologischen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten gewähren, ist eine Art Zynismus. Man möge mir bitte erklären, wie Hermes-Bürgschaften für die Ausrüstung von Kernkraftwerken mit rot-grünem Ökologieverständnis in Einklang gebracht werden können oder was die Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudamms in China, der die Zwangsumsiedlung von Hunderttausenden von Menschen zur Folge hat, mit sozialen und entwicklungsverträglichen Kriterien zu tun hat. ({2}) - Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin ja dafür, dass solche Atomkraftwerke und solche Projekte, die technischen Fortschritt schaffen, auch in Zukunft mit Hermes-Bürgschaften abgesichert werden. Ich bin aber dagegen, dass ein Teil der Grünen damit Polemik betreibt, sodass wir am Ende als diejenigen dastehen, die diese Entwicklung stoppen wollen. Darin besteht der Unterschied. ({3}) Während Ihr Haushalt - das muss man einmal so sagen nicht nur mit der Heckenschere, sondern leider auch mit der Motorsäge zusammengestutzt wurde, während Beiträge zu internationalen Organisationen wie dem Weltentwicklungsprogramm UNDP oder dem Kinderhilfswerk UNICEF drastisch gekürzt werden, verkündet die Ministerin unverdrossen die deutsche Verantwortung für weltweite Solidarität und für globale Zukunftssicherung. Das ist zwar von der Sache her richtig, es sind sich aber alle einig: Wir müssen Schwerpunkte finden. Sie haben heute einige dieser Schwerpunkte angesprochen. Wir sollten uns einig sein: Entwicklungspolitische Zusammenarbeit muss darauf hinauslaufen, dass die entsprechenden Staaten unabhängig von der Entwicklungshilfe werden. Die Pflege der Zusammenarbeit zwischen den entwickelten Staaten ist dann jedoch im Verantwortungsbereich der Außenpolitik zu sehen. Eine Vielzahl von ehemaligen Entwicklungsländern, die heute keine Hilfe von außen mehr benötigen, bestätigen Ihnen eigentlich diese These. Entwicklungspolitik kann immer nur einen komplementären Beitrag zur Außen- und Sicherheitspolitik leisten. ({4}) Die F.D.P.-Fraktion hat deshalb den Antrag gestellt, dem Beispiel anderer großer Geberländer zu folgen und das BMZ und das AA zusammenzulegen. Wenn man Ihre jüngsten Reden liest und Ihre heutige Rede sehr aufmerksam verfolgt hat, Frau Ministerin, dann kann man ja auch den Eindruck gewinnen, dass das AA zum BMZ kommt. Das würde zwar gut zur Politik von Herrn Fischer passen; aber ob Sie das erreichen, dessen bin ich mir noch nicht sicher. Anstatt die Chancen der Globalisierung für die Entwicklungsländer herauszustreichen und zu nutzen, war bis vor kurzem noch vor ihren „negativen Trends und Auswirkungen“ gewarnt worden. Heute sprachen Sie schon vom Nutzen der Globalisierung. In einer Ihrer letzten Grundsatzreden sprachen Sie vom „internationalen Spekulationskapitalismus“. Wenn ich diese Aussagen sehe, dann muss ich sagen, dass das eigentlich Klischees der 70er-Jahre sind, über die wir hinaus sind. Damals ging es um die „neue Weltwirtschaftsordnung“. Das wurde überwunden. Heute sprechen Sie von gerechter Weltordnungspolitik. Ich glaube nicht, dass wir mit dem BMZ die Umkehrung der internationalen Einflüsse erreichen können. Wir sollten uns darauf besinnen, unsere Strukturreformen mutig anzugehen. Wir sollten im Endeffekt dafür sorgen, dass Themen wie gute Regierungsführung, Menschenrechtskonditionen, Eigenverantwortung, Deregulierung, Schwerpunktsetzung - diese Themen haben wir als Partei schon in unser Programm hineingebracht; Sie haben sie heute auch genannt - in den Mittelpunkt gerückt werden. Gefehlt hat mir aber der zweite Teil: Zur internationalen Zusammenarbeit gehören auch Freihandel und marktwirtschaftliche Strukturen. Diese Themen stehen bereits im Mittelpunkt unserer entwicklungspolitischen Leitlinien. Anders wird man eine Entwicklung dieser Länder nicht erreichen können. ({5}) Immerhin sehen wir mit Genugtuung, dass einige unserer Ideen von Ihnen aufgegriffen worden sind, zum Beispiel die Beteiligung privatwirtschaftlicher Unternehmen in der Entwicklungspolitik. Bis vor kurzem war die Idee Gewinn bringender Entwicklungsprojekte noch ein unantastbares Tabu. Wir wissen aber, dass sie von hohem entwicklungspolitischen Nutzen sind. Aber Not macht teilweise auch erfinderisch, muss man hier sagen. War es bis vor kurzem noch verpönt, über deutsche Investoren im Ausland zu sprechen, ({6}) die in der Entwicklungspolitik tätig sind, ({7}) so tragen sie heute schon zu einem guten Teil dazu bei, bestimmte Haushaltslücken zu überbrücken. ({8}) Die von Ihnen, Frau Staatssekretärin Eid, angekündigte regionale Konzentration der Entwicklungspolitik ist aus unserer Sicht ein richtiger Anspruch. Ich finde es auch gut, dass die Entwicklungszusammenarbeit auf 70 Partnerländer mit unterschiedlichen Schwerpunkten konzentriert wurde. Über die Art der Länder und den Inhalt kann man sicherlich immer diskutieren. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist der Ansicht, dass wir bei der Entwicklungsfinanzierung künftig noch stärker auf in- und ausländische Ressourcen zurückgreifen müssen. ({9}) Durch die stärkere Einbeziehung des Privatsektors in Finanzierung und Betrieb von Infrastrukturprojekten kann die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit auf allen Gebieten erhöht werden. Wir sehen, dass es noch viel zu tun gibt. Die F.D.P. wird noch vor der Sommerpause ihre entwicklungspolitischen Leitlinien vervollständigen und dann hoffentlich mit allen in einen guten Dialog treten. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich der Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion, das Wort.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Regierungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit setzt die Bundesregierung ein positives Signal; denn erstmals ist die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt Thema einer Regierungserklärung in der Bundesrepublik. ({0}) Joachim Günther ({1}) Es ist ein großer Tag für uns Entwicklungspolitikerinnen und -politiker. So kommen die Entwicklungspolitik und ihre Notwendigkeit allmählich in die Köpfe der Menschen hier. Dies weitet ihren Blick für die weltweiten Probleme; das tut Not.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Tröscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein! ({0}) - Weklisch net, würde ich jetzt auf frankfurterisch sagen. Ich möchte jetzt gerne meine Gedanken ausführen. Sie verstehen das sicherlich. ({1}) Dies ist Ausdruck für den Stellenwert, den wir, die Koalition, der Entwicklungszusammenarbeit beimessen. Es ist auch eine gute Gelegenheit, Bilanz der letzten eineinhalb Jahre - ich sage eineinhalb Jahre, nicht 16 Jahre - zu ziehen, Perspektiven zu verdeutlichen und sich nicht in Nörgeleien zu ergehen, Herr Hedrich. Natürlich haben wir in unseren Ausführungen nicht alles erwähnt, was erwähnenswert ist. Natürlich sind wir stolz auf unsere Durchführungsorganisationen, auf unsere Stiftungen und auf die NROs, ohne die die gesamte Zusammenarbeit nicht denkbar ist. Wir haben auch dafür gesorgt, dass sie genügend Geld für die Projekte bekommen. ({2}) Ich danke den NROs, besonders den Kirchen und den Stiftungen. Sie reden immer über das Geld und über den Haushalt, aber niemals über Strategien. Diese vermisse ich hier sehr bei Ihnen. ({3}) - Na, die haben Sie aber auch nicht hineingebracht. Das war schon ein trauriger Anblick, den man hier hatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Entwicklungspolitik der Bundesregierung zeichnet sich dabei vor allem durch folgende Punkte aus: Erstens. Entwicklungspolitik gestaltet globale Rahmenbedingungen zugunsten der Entwicklungsländer. Vor allem die Entschuldungsinitiative der Bundesregierung ist ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche globale Strukturpolitik. Natürlich muss sie ausgestaltet werden, aber der Anfang ist gemacht. ({4}) Auch die Verknüpfung von Armutsbekämpfung mit der Politik von Weltbank und Internationalem Währungsfonds, für die sich die Bundesregierung einsetzte, ist ein ganz wichtiger Baustein. Dies muss immer betrachtet und beobachtet werden, damit das auch so bleibt. Zweitens. Entwicklungspolitik wird wieder als aktive Friedenspolitik gestaltet. Ich verweise hier nur auf unsere Initiativen zum Zivilen Friedensdienst, zu Kindersoldaten und Kleinwaffen, aber auch zur Stärkung der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen in Entwicklungsländern. ({5}) Drittens. Die Bundesregierung setzt sich für eine effizientere und kohärentere EU-Entwicklungspolitik ein. Erwähnen möchte ich insbesondere die auf den Weg gebrachten Maßnahmen für eine Reform des EEF, des Europäischen Entwicklungsfonds, und die Bemühungen um ein zukünftiges Lomé-Nachfolgeabkommen. Das wurde schon von der Ministerin ausgeführt. Ich denke, wir sind hier auf einem guten Weg. Viertens. Entwicklungspolitik ist globale Zukunftssicherung. Dies hat die Bundesregierung mit Programmen zum Klimaschutz, zur Bekämpfung der Wüstenbildung und der Verbesserung der Welternährung ja auch unter Beweis gestellt; alles übrigens in anderthalb Jahren. ({6}) Fünftens. Die Entwicklungspolitik reagiert schnell und flexibel auf Naturkatastrophen und Krisen. Uns allen sind der verheerende Wirbelsturm „Mitch“, das Erdbeben in der Türkei und die Katastrophen in Mosambik noch in Erinnerung. Aber auch bei den Hilfen zum Wiederaufbau in Südosteuropa hat die Bundesregierung Handlungsfähigkeit bewiesen. ({7}) Sechstens. Die Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung fördert gute Regierungsführung. Siebtens. Frauenrechte werden in der Entwicklungszusammenarbeit gestärkt und gefördert. ({8}) - Ja, die kommen zu kurz. Achtens. Wir nutzen das Zukunftsprogramm der Bundesregierung zur Haushaltskonsolidierung auch zur Steigerung der Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich könnte diesen acht Punkten noch weitere hinzufügen. Sie kennzeichnen die letzten anderthalb Jahre der Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Ich möchte an dieser Stelle der Ministerin für ihr Engagement und ihr ständiges Treiben und auch der Bundesregierung herzlich dafür danken, dass wir schon so weit gekommen sind. ({9}) Adelheid Trösche Dies ist bedeutend mehr als das, was die Opposition in dieser Woche als entwicklungspolitische Leitlinien vorgestellt hat. Ich dachte, ich hörte hier heute ein wenig mehr. Es handelte sich eher um Nachrichten aus dem Rüttgers-Klub: ({10}) vollmundig im Titel, aber inhaltlich konzeptionslos, inkonsequent, widersprüchlich und provinziell. Erstens kritisiert die Union allen Ernstes unser Bemühen zur Haushaltskonsolidierung. Richtig ist, dass das BMZ wie alle anderen Ressorts einen Sparbeitrag zur Haushaltskonsolidierung erbringen musste. ({11}) Wäre die Vorgängerregierung - ich bin es eigentlich leid, das immer wieder zu sagen - mit den öffentlichen Mitteln genauso verantwortungsbewusst umgegangen wie wir das jetzt tun, stünde auch die Entwicklungspolitik besser da. ({12}) Ich kann diese Leier einfach nicht mehr hören! Ich warte auf neue Konzeptionen. ({13}) - Dann hören Sie doch auf damit! Wie die Pläne der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zeigen, sind diese Einschnitte durchaus eine Chance, die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu steigern. Gerade die angestrebte Konzentration in der bilateralen Zusammenarbeit auf Schwerpunktländer, die besonders unserer Hilfe bedürfen, ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mehr Effizienz erreichen kann. Natürlich kann man an der Länderliste noch herumnörgeln - das eine passt dem einen nicht, das andere dem anderen nicht -, aber gezielte Maßnahmen machen mehr Sinn, als dass jeder Geber alles überall macht. ({14}) Eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen bilateralen Gebern, EU und multilateralen Nationen ist daher notwendig. Dies entspricht auch einer schon vor langer Zeit erhobenen Forderung aus dem Parlament: nicht Gießkanne, sondern Konzentration. Frankreich hat übrigens 50 Schwerpunktländer. Bei uns hätte dies schon längst geschehen müssen. Wenn Sie entsprechende Vorschläge in der Schublade hatten, Herr Hedrich, dann frage ich mich, warum Sie sie nicht umgesetzt haben. ({15}) Zweiter Punkt. Die Union kritisiert die Aufnahme der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba. Oder wie es der Kollege Hedrich ausdrückt - so war es jedenfalls im Berliner „Tagesspiegel“ nachzulesen -, die Ministerin solle nicht nach Kuba reisen, denn damit stärke sie bewusst das kubanische Gewaltregime. ({16}) Dann, Herr Kollege Hedrich, stärken auch Kirchen, politische Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen, die sich auf Kuba engagieren, das kubanische Gewaltregime. Dann stärken auch der Kollege Kraus, der Kollege Günther und ich, die Kuba besucht haben, das Gewaltregime. Wir waren im Januar auf Kuba und haben ganz deutlich gegen die Verletzungen der Menschenrechte Stellung bezogen. Wir waren gemeinsam der Ansicht, dass ein Wandel nur geschehen kann, wenn sich unsere Länder annähern. Heute morgen haben wir schon gehört, was Herr Henkel in diesem Zusammenhang gesagt hat. Erst vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung eine Altschuldenregelung mit Kuba getroffen. So werden Hermes-Bürgschaften erst möglich. Erst jetzt wird sich die deutsche Wirtschaft auf Kuba engagieren. Vorher hat sie es nicht getan. Richtig ist: Ohne politische und wirtschaftliche Reformen und eine sie von außen unterstützende Politik wird es auf Kuba keine durchgreifende, auf Dauer tragfähige Verbesserung der Lebenssituation der kubanischen Bevölkerung geben. ({17}) Nachhaltige Entwicklung braucht die unterstützende Politik von außen. Das gilt auch für viele andere Entwicklungsländer. Ich denke, wir sind hier auf einem guten Weg. Im Übrigen: Andere EU-Staaten und Kanada versuchen schon seit langem, besseren Kontakt zu Kuba herzustellen. ({18}) Es gibt außerdem eine UN-Resolution gegen das Embargo der USA. Ich denke, wir sollten uns dieser Initiative jetzt aktiv anschließen. ({19}) Dritter Punkt: ziviler Friedensdienst. Die Union beklagt ihn als Musterbeispiel für Effekthascherei, der nicht zur langfristigen Wahrung unserer Interessen beitrage. Das Gegenteil ist der Fall. Denn wir begreifen Entwicklungspolitik auch als aktive Gestaltung von Friedenspolitik. Da spielt das neue Instrument des zivilen Friedensdienstes eine gewichtige Rolle, weil wir durch speziell ausgebildete Fachkräfte vor Ort einen Beitrag zur Mediation und Vermittlung leisten wollen. ({20}) In diesem Bereich sind die NROs besonders engagiert. Wir unterstützen sie bei der Gestaltung dieses aktiven Friedensdienstes. Vierter Punkt. Welch ein Unsinn, der Bundesregierung Ressortscheuklappen vorzuwerfen! Wir waren es doch, die jahrelang gefordert haben, Entwicklungspolitik als Adelheid Trösche Querschnittsaufgabe zu definieren und zu einer kohärenten Verankerung dieses Politikfeldes zu kommen. Unsere zahlreichen Anträge dazu haben Sie alle abgelehnt. Fünfter Punkt. Das starre Korsett der Struktur des Einzelplanes 23 müsse reformiert werden. Ich erinnere mich an viele Diskussionen und Debatten, in denen der Kollege Schuster immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen hat. Wir haben gemeinsam für Reformen gekämpft. Da klingt es schon abenteuerlich, wenn der Kollege Hedrich vom Saulus zum Paulus wird. Sie haben jahrelang die Chance für wirksame Reformen vertan. ({21}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Die Leitlinien der CDU sind vor allem aus einem Grund schlimm: Nicht nur, dass wichtige Entwicklungen der entwicklungspolitischen Diskussion nicht aufgegriffen werden, dass Armutsbekämpfung und soziale Gerechtigkeit kaum Gewicht erhalten und Gender- und Gleichberechtigungsfragen überhaupt nicht thematisiert werden, nein, am Schlimmsten ist eigentlich, dass das Wort „Frauen“ überhaupt nicht vorkommt. ({22}) Wer aber entwicklungspolitische Prozesse positiv gestalten will, der kommt nicht daran vorbei, festzustellen, dass es die Frauen sind, die den Schlüssel für eine nachhaltige Entwicklung in den Händen halten. ({23}) Insofern hat das Papier der CDU wahrlich Rüttgers-Niveau. Es ist inkonsequent und widersprüchlich, enttäuschend dünn und inhaltlich konzeptionslos.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Tröscher, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen. ({0})

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Wir vollziehen mit der heutigen erstmaligen Regierungserklärung zur Entwicklungszusammenarbeit einen symbolischen Akt. Die Entwicklungspolitik steht, wie andere Politikfelder auch, vor der Aufgabe, ihre Rolle im Zeitalter der Globalisierung neu zu bestimmen. Ihre gesellschaftliche und internationale Akzeptanz hängt von einer realistischen Einschätzung ihrer Reichweite ab. Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Das haben wir schon bis jetzt gemacht; wir sollten es auch weiterhin tun. Danke sehr. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Erika Reinhardt, CDU/CSU-Fraktion.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In den Reden hier ist immer wieder betont worden, wie wichtig es ist, dass man mit Kuba nun endlich eine wirtschaftliche Zusammenarbeit beginnt. Jetzt habe ich doch einmal die Frage, ob denn Ihre Anträge, die Sie einmal gestellt haben, noch gelten. So haben Sie damals in einem Antrag die Regierung aufgefordert, zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein, weil das als Unterstützung der Diktatur verstanden werden könne. Allenfalls, so heißt es weiter, könnten Projekte - insbesondere über Nichtregierungsorganisationen gefördert werden, die direkt der Not leidenden Bevölkerung, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften und Reformen zugute kommen. In jedem Fall müsse die Demokratisierung vorangehen. All diese Punkte sind bis jetzt nicht erfüllt. Deshalb stellt sich für mich schon die Frage: Haben Ihre eigenen Worte noch Geltung? ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Tröscher, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann das kurz machen. - Der Antrag, den Sie zitieren, ist vielleicht vor 100 Jahren gestellt worden. Aber es gibt ja Entwicklungen, denen wir uns öffnen. Zu Kuba haben wir jetzt einen Antrag gestellt, der dem von Ihnen zitierten diametral entgegensteht. Ich kenne den Antrag, den Sie zitiert haben, nicht. Wir unterhalten auch Beziehungen zu vielen anderen Staaten - insbesondere afrikanischen -, die Diktaturen sind. Wir hoffen, durch Zusammenarbeit, durch Entwicklung der Zivilgesellschaft eine Annäherung zu erreichen und dazu beizutragen, dass sich diese Länder demokratisieren. Diesen Freiraum wollen wir nutzen. Das tun wir im Falle Kuba in der nächsten Zeit. Auch bei Ihnen gibt es viele, die so denken wie wir, was das Embargo der USA gegenüber Kuba und die Entwicklungsmöglichkeiten dort anbelangt. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg und sollten der Ministerin Glück wünschen, damit sie ein Stück weiterkommt. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann bei sehr vielem an das anknüpfen, was die Frau Ministerin hier ausgeführt hat, und will das mit meinen Intentionen machen. Für mich ist sicher, dass das krasse Missverhältnis zwischen Armut und Reichtum, zwischen Einfluss und Ohnmacht, zwischen kultureller Dominanz und der Zerstörung nationaler Kulturen auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten ist - und, so will ich dazu setzen, auch nicht Adelheid Trösche aufrechterhalten werden darf. 1,4 Milliarden Menschen jeder Vierte - leben heute unterhalb der Armutsgrenze, aber das Vermögen der drei reichsten Männer der Welt ist größer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Diese 48 Länder, in denen ein Zehntel der Weltbevölkerung lebt, haben einen Anteil von nur 0,3 Prozent am Welthandel; der ganze afrikanische Kontinent 1,1 Prozent. Die Länder der so genannten Dritten Welt sind mit 2 170 Milliarden US-Dollar verschuldet. Ich finde, wer von Armut spricht, darf über Reichtum nicht schweigen. Dieser Teil fehlte etwas in der Rede der Ministerin; ({0}) deswegen will ich das ergänzen: Täglich werden Devisen mit einem Gegenwert von 1,5 Billionen US-Dollar auf den Finanzmärkten umgesetzt, was etwa dem Gesamtvolumen der Devisenbestände aller Zentralbanken der Welt entspricht. 97 Prozent dieser Umsätze haben nichts mit Produktion zu tun, sondern sind rein spekulativ, und 80 Prozent der Kapitalbewegungen haben eine Anlagedauer von weniger als sieben Tagen. Oder werfen wir einen Blick auf die ständig wachsende Macht der transnationalen Konzerne: 10 Prozent aller Beschäftigten auf der Erde - die Landwirtschaft ausgenommen - arbeiten bei einem der 44 000 transnationalen Unternehmen. Das Volumen der weltweiten Übernahmen und Fusionen betrug 1999 3,1 Billionen Dollar. All dies lastet besonders auf den Menschen der so genannten Dritten Welt. Dies sind die Probleme der Entwicklung. Wenn sie nicht gelöst werden, drohen viele der Konflikte in gewaltsame Auseinandersetzungen umzuschlagen. 34 Kriege wurden schon 1999 gezählt. Denken wir gemeinsam an Angola, Kongo, Äthiopien, Eritrea, denken wir an die Kaschmir-Region oder den Kaukasus. Soziale Wohlfahrt und ökologische Vernunft sind auch ein Weg, um Krieg zu vermeiden und Gewalt zu bekämpfen - ich finde, der beste Weg. ({1}) Vieles von dem, was ich angesprochen haben, wird in den armen Zonen der Welt ausgetragen, hat aber seine Ursachen in der Politik der reichen Zonen der Welt. Ich habe den Eindruck, dass zwei Begriffe für fast alles Unvernünftige zur Rechtfertigung herangezogen werden: „Globalisierung“ und „Markt“. Oder zusammengezogen: die Bedingungen der globalisierten Märkte. Nur stehen hinter den anonymen Begriffen „Globalisierung“ und „Markt“ konkrete Interessen. Auch über diese darf man nicht schweigen. Frieden durch Entwicklung bedarf einer anderen Außenpolitik. Sie muss auf wirtschaftlichen Ausgleich, auf Recht und Zivilität setzen. Frieden und Entwicklung fordern eine Veränderung der Politik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, Schuldenerlass und eine stärkere Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Seitdem ein bestimmter Kollege in diesem Parlament fehlt, werden ja diese Probleme auch von den Regierungskoalitionsparteien nicht mehr angesprochen, was ich bedauere. Beides bedauere ich, will ich dazu sagen. ({2}) - Ich habe den Namen nicht genannt. Ihr wisst ja, wen ich meine. Wer Frieden durch Entwicklung will, darf sich aus meiner Sicht nicht an Rüstungsexporten beteiligen. Das widerspricht dem. Frieden durch Entwicklung verträgt sich aus meiner Sicht nicht mit einer unipolaren Welt, in der die USA das erste und das letzte Wort haben. Wenn sich Frieden durch Entwicklung durchsetzen soll, muss sich die Politik ändern, auch und gerade ,wie ich finde, die Außenpolitik unseres Landes. Ich möchte abschließend zwei kurze Bemerkungen zu den vorliegenden Anträgen machen. Zuerst will ich ein Dilemma ansprechen, das ich bei dem Entschließungsantrag Regierungsfraktionen sehe. Erstens stellen wir in Rechnung, dass wir eine in dieser Frage engagierte Ministerin haben. ({3}) Wir wollen nicht, dass die Widerstände gegen sie größer werden. Sie hat genügend Probleme, auch in ihrer Partei, sich durchzusetzen. ({4}) - Das weiß man doch. Zweitens: Der Antrag ist analytisch gut und in seinen Forderungen mehrheitlich vernünftig. Wenn Sie etwas weniger Eigenlob hineingeschrieben hätten - lassen Sie sich doch einmal von anderen loben, anstatt sich immer selbst zu loben -, ({5}) wenn Sie in diesem Antrag klarer „Nein“ zu Rüstungsexporten gesagt hätten, hätte man ihm zustimmen können. So bleibt nur eine Enthaltung. Jetzt gibt es keine Kürnote, aber ich möchte doch sagen: Was die Ministerin angeht, meinerseits eine lobende Enthaltung. ({6}) Ich fand die Rede, die hier gehalten wurde, auch bemerkenswert. ({7}) - Dann braucht sie sich ja nicht selbst zu loben. Ein letzter Satz zu Kuba: Das, was ich hier von Kollegen der CDU gehört habe, ist wirklich politische Steinzeit oder Eiszeit. ({8}) - Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das sagt der Richtige!) Jeder hier im Hause weiß doch - wir wissen es alle, reden wir doch einmal darüber! -, dass das US-Embargo gegen Kuba weder sinnvoll noch moralisch gerechtfertigt und durchzuhalten ist. ({9}) Wenn die deutsche Politik hier einen anderen Weg geht, dann werden demokratische Entwicklungen gestärkt und gestützt, dann gibt es eine kooperative Zusammenarbeit. So souverän wie Italien oder Spanien sollte auch die deutsche Politik gegenüber Kuba sein. Etwas mehr Mut, trauen Sie sich, Frau Ministerin! Eine gute Reise und viel Erfolg in Kuba! ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Tobias Marhold, SPD-Fraktion.

Tobias Marhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003189, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem sich die Diskussion um die ITFachkräfte in Nordrhein-Westfalen ja offensichtlich nicht zum Stimmensammeln geeignet hat, ({0}) möchte ich dieses Thema in einen ganz anderen Zusammenhang stellen, den der Entwicklungspolitik. Es erscheint Ihnen vielleicht ungewöhnlich, wenn ich in der entwicklungspolitischen Debatte von neuen Technologien spreche. Doch wird der Zusammenhang schnell klar, wenn wir uns die in den letzten Jahren merklich gewandelte Definition von Armut betrachten. Armut ist nicht allein als Mangel an Nahrung, Einkommen und finanziellen Ressourcen zu verstehen, sondern beinhaltet auch den fehlenden Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Gesundheitsdiensten, politischer Partizipation, Dienstleistungen und Infrastruktur. ({1}) Sprechen wir in diesem Zusammenhang von dem Ziel der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die Entwicklungsländer in den Weltmarkt zu integrieren, muss der Bildung besondere Aufmerksamkeit zukommen; denn ohne gut ausgebildete einheimische Fachkräfte in ausreichender Anzahl kann sich in Zukunft kein Land in unserer globalisierten Welt im zunehmenden Wettbewerb behaupten. ({2}) Das sehen wir zurzeit nur allzu deutlich an den entsprechenden Diskussionen in unserem eigenen Land. Den Staaten des Südens muss daher der Zugang zu Informationen über das internationale Netzwerk anhand von Technologietransfers ermöglicht werden. Bildung ist dabei ein Schlüsselelement der nachhaltigen Armutsbekämpfung. ({3}) Damit steht die Entwicklungszusammenarbeit vor zwei großen Herausforderungen: die Basisversorgung der Bevölkerung in den Entwicklungsländern zu sichern sowie im Bildungsbereich die Alphabetisierung voranzutreiben und gleichzeitig die Ausbildung von Fachkräften, vor allem in der Informationstechnik, auf hohem Niveau zu ermöglichen. Die neuen Technologien bieten dabei den Ländern des Südens eine einmalige Chance; denn in den Schlüsselbranchen wie beispielsweise dem Maschinenbau oder der chemischen Industrie haben die weniger entwickelten Länder keine Möglichkeit mehr, den gewaltigen Vorsprung der Industrienationen aufzuholen. Hingegen eröffnen sich für alle Staaten dieser Welt durch die Informationstechnologien völlig neue Perspektiven, übrigens auch für Deutschland, das ebenso erst am Anfang dieses Entwicklungsprozesses steht. Sicher ist es wichtig, den Menschen langfristig eine Grundversorgung, wie Nahrung, sauberes Wasser und eine Grundbildung, zu garantieren, aber genauso notwendig - oder zukünftig noch wichtiger ist es, ihnen den Anschluss an die Zukunftsbranche der Welt zu ermöglichen. ({4}) Dabei bietet das weltweite Datennetz Möglichkeiten, denen selbst Deutschland bis vor kurzem noch nicht den richtigen Stellenwert beigemessen hat. Lassen Sie mich folgendes Beispiel nennen: Das vom BMZ finanzierte Alumni-Programm für ehemalige Studierende aus Entwicklungsländern erlaubt durch den Einsatz der neuen Kommunikationstechnologie, der AlumniEntwicklungsländer-Datenbank des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, einen intensiven Informationsaustausch, der es ausländischen Studierenden trotz der Rückkehr in ihre Heimatländer ermöglicht, am notwendigen Wissensaustausch teilzunehmen. Einen weiteren wichtigen Punkt sollten wir bei dieser Diskussion nicht vergessen: Mit der Verbreitung des Internets kann der Abwanderung der Fachkräfte nach Europa und in die USA wirksam entgegengesteuert werden, denn durch die vernetzte Welt ist es unerheblich, ob eine Fachkraft aus Bolivien oder aus München agiert. Auch müssen wir uns gerade im Bereich der Informationstechnologie für ein verstärktes, auch finanzielles Engagement der Privatwirtschaft einsetzen. Instrumente wie die Public Private Partnership, also die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft, bieten dabei gute Voraussetzungen. Meine Damen und Herren, wir müssen also das eine tun, ohne das andere zu lassen. Arbeiten wir an der Verwirklichung der weltweiten Grundversorgung aller Menschen und fördern wir gleichzeitig eine Entwicklung auf hohem technologischen Niveau, um den betroffenen Staaten eine Perspektive aus eigener Kraft zu eröffnen! ({5}) Haben diese Länder im IT-Bereich erst einmal Fuß gefasst und sich dadurch weitere Einnahmequellen erschlossen, ist dies ein zusätzlicher Meilenstein bei dem Kampf um ihre finanzielle Unabhängigkeit von den reichen Industrieländern. Unserer Unterstützung können sie sich dabei sicher sein. Darüber hinaus bieten die neuen Technologien eine weitere Chance, die oft vergessen wird und die für mich besonders wichtig ist, nämlich die Einbeziehung des großen Potenzials der Frauen dieser Länder. Wie wir alle wissen, liegt die Zukunft der Entwicklungsländer maßgeblich in den Händen der Frauen. ({6}) Gerade die Frauen sind es aber, die überproportional von Armut betroffen sind. Verantwortlich für die Kinderversorgung tragen sie zusätzlich noch die Haupterwerbslast. Es ist allseits bekannt, dass in den Ländern, in denen Frauen am besten gebildet sind, die Entwicklung aller gesellschaftlichen Bereiche am weitesten fortgeschritten ist. Das hat unter anderem auch positive Auswirkungen auf die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und damit auf eine geringere Kindersterblichkeit und eine geringere Anzahl von Geburten und Krankheiten. Frauen haben jedoch in den männerdominierten Gesellschaften in technischen Arbeitsfeldern kaum eine Gelegenheit, eine Ausbildung zu erhalten. Wenn man aber in Zukunft von jedem Punkt der Erde ohne großen technischen Aufwand kommunizieren und Dienstleistungen erbringen kann, schafft das auch für Frauen eine realistische Berufsperspektive. Deshalb müssen Frauen nicht nur bei Projekten der Armutsbekämpfung, sondern verstärkt auch bei der qualifizierten Ausbildung einbezogen werden. ({7}) Ziel unserer Politik muss daher sein, jedem Land die Möglichkeit zu geben, sich auf die globalisierte Welt, die vom technologischen Fortschritt vorangetrieben wird, vorzubereiten. Da stehen wir in Deutschland und Europa ganz klar in einer besonderen Verantwortung, übrigens gerade gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Denn wer, wenn nicht wir, muss heute handeln? Genau wie bei der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit muss auch in der EU-Entwicklungszu-sammenarbeit der Bildung und Ausbildung stärkeres Gewicht zukommen. Der jetzige Zeitpunkt ist günstig, da auf der europäischen Ebene über eine neue Strategie für die gemeinsame Entwicklungszusammenarbeit diskutiert wird. Eine ressortübergreifende Abstimmung aller außenpolitischen Instrumente ist daher geboten. Nationale Eitelkeiten einzelner Mitglieder der Europäischen Union haben da keinen Platz. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dafür sorgen, dass die Staaten des Südens im internationalen Wettbewerb eine faire Chance erhalten. Wenn wir heute handeln, profitieren auch wir in Zukunft von der gestärkten Position der Entwicklungsländer. Denn Prävention ist immer besser und natürlich für unsere Haushalte auf Dauer leichter zu verkraften. Die Bundesrepublik Deutschland muss dafür Sorge tragen, dass die in den Entwicklungsländern vorhandenen Potenziale zur Elitenbildung ausgeschöpft werden, und muss die Ausbildung von hoch qualifizierten Fachkräften unterstützen. ({9}) Die neuen Technologien dürfen nicht an den armen Ländern vorbeigehen. Das würde zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Position auf dem Weltmarkt führen und sie für immer an das untere Ende der Staatengemeinschaft verbannen. Arbeiten wir daran, dass der nächste Bill Gates - besser: eine entsprechende Frau - aus Kamerun kommt! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dies war die erste Rede des Kollegen Marhold. Herzliche Gratulation! ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Frieden braucht Entwicklung“ - dieses Motto kann jeder von uns unterschreiben. Leider müssen wir konstatieren, dass uns die Entwicklungsprobleme auch im neuen Jahrtausend treu geblieben sind und uns auch ins neue Jahrtausend gefolgt sind. Aber mit der Globalisierung kommt ein neuer Akzent hinzu. Globalisierung ist eigentlich die weltweite Vernetzung der Leistungsfähigen. Das ist auch für viele Entwicklungsländer eine große Chance. Die Entwicklungsländer insgesamt haben beim Anteil am Welthandel doppelt so viel erreicht wie der Rest der Welt. Aber nicht alle Entwicklungsländer sind positiv betroffen. Die Globalisierung geht an Hunderten Millionen von Menschen der Entwicklungsländer spurlos vorbei. Im neuen Jahrtausend steckt darin das Risiko, dass sich die sozialen Konflikte innerhalb der Länder vergrößern, statt sich zu verringern, dass sich Migrationsbewegungen verstärken, statt zu verebben, dass Stellvertreterkriege ganz neuer Art ausbrechen, Ordnungsrahmen von gewählten Demokratien unterminiert werden und der Druck auf die natürlichen Lebensgrundlagen weiter zunehmen wird. Vor diesem Hintergrund sind für die Entwicklungspolitik drei Elemente von größter Bedeutung: Erstens der Aufbau und die Durchsetzung verlässlicher internationaler Spielregeln mit sozialer und ökologischer Verantwortung; darauf ist schon hingewiesen worden. Zweitens. Es müssen in der internationalen Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit im Rahmen des Globalisierungsprozesses die richtigen Schwerpunkte und Akzente gesetzt werden. Drittens die Einflussnahme im Interesse von Good Governance. Darauf ist die Politik der rot-grünen Bundesregierung abzuklopfen. Hier sieht es trotz Lob und Eigenlob noch sehr mager aus. In puncto internationale Spielregeln ging die Debatte um eine Reform der Welthandelsordnung an Deutschland vorüber, obwohl wir eigentlich mit der sozialen Marktwirtschaft ein Erfolgsmodell anzubieten hätten, das auch international tauglich wäre. ({0}) Bei der Diskussion über Weltbank und IWF produzierte die Bundesrepublik zwar Schlagzeilen, aber nur beim stümperhaften Kampf um den Chefsessel beim IWF. Die Vereinte-Nationen-Politik der Bundesregierung siecht in Wirklichkeit genauso dahin wie die Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen selbst. Das einzig Bemerkenswerte war, dass neben viel Überflüssigem wirklich vernünftige Programme und Projekte, zum Beispiel der Bevölkerungsfonds der UN, von uns zusammengestrichen wurden. Auch bei der internationalen Entschuldungskampagne, die Sie sich, Frau Ministerin, etwas übertrieben ganz allein auf Ihre Fahnen heften, gratulieren wir erst dann, wenn die Ernte eingefahren ist. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ihr gestriger Beitrag, den ich nur am Fernseher verfolgen konnte - daher konnte ich leider nicht eingreifen ({1}) reizt mich natürlich sehr. Sie haben gesagt, eine Entschuldung gebe es erst seit dem Zeitpunkt, seitdem Sie Ministerin seien. Das ist nachweislich falsch. Denn die Wahrheit ist, dass das jetzt Geplante - wir stehen dahinter und wünschen dazu viel Erfolg - bisher nur zu Luftbuchungen geführt hat. Es ist noch keine einzige müde Mark geflossen. Wir stehen zwar zum Beispiel bei Bolivien und Uganda ante portas. Aber es ist noch nichts umgesetzt worden, wohingegen unter Ihren Vorgängern - das sollte man der Ehrlichkeit halber bei solchen Diskussionen erwähnen - 9 Milliarden DM erlassen wurden. ({2}) Auch beim zweiten Punkt, bei der sachlichen Schwerpunktsetzung, ist Kritik angebracht. Es ist richtig, dass das Wasser zum Schwerpunktthema geworden ist; aber das hat noch die alte Bundesregierung eingeleitet. Der Zivile Friedensdienst, so fürchte ich, wird ein Flop; denn das, was er leisten kann, gibt es schon, und das, was er eigentlich leisten müsste, nämlich in einem gefährlichen und gewalttätigen Umfeld Frieden stiften, kann er nicht. Entscheidend hinsichtlich Ihrer Schwerpunktsetzung ist aber, dass die kurz- und mittelfristige Kürzungsorgie im BMZ-Haushalt ausgerechnet die Felder trifft, die als Globalisierungshilfe von zentraler Bedeutung wären, ({3}) zum Beispiel die Armutsorientierung, die Bildung, Herr Marhold, die Sozialstrukturhilfe und die Bevölkerungsund Umweltpolitik. Vor dem Hintergrund der Globalisierung müssten wir eigentlich die Selbsthilfekräfte der Benachteiligten besonders stärken, die Funktionsfähigkeit von Staat, Demokratie und Verwaltung und den Kampf gegen Umweltkatastrophen. Sie aber erreichen durch die Kürzungen genau das Gegenteil. Wir stehen hinter Ihnen, wenn Sie sich in Zukunft im Trend gegen diese Kürzungen aussprechen. Wenn Sie dagegen kämpfen, kämpfen wir mit Ihnen. Auch nach Ihren vollmundigen Ankündigungen nach Ihrer Amtsübernahme reizt es einmal mehr, die Wahrheit zu beleuchten; das haben Sie gestern Abend weniger getan. Frau Tröscher, dass Sie vom Haushalt nichts mehr hören wollen, kann für uns natürlich nicht Leitfaden der Politik sein. Die Behauptungen, an den Haushaltskürzungen sei die vorhergehende Regierung schuld, sind einfach falsch. Die Haushaltskürzungen sind erstens Schuld der falschen Schwerpunktsetzung der jetzigen Regierung und zweitens Schuld des ehemaligen Finanzministers Lafontaine, der einmal schnell 30 Milliarden DM verfrühstückt hat. ({4}) Diese 30 Milliarden DM sind der eigentliche Grund dafür, warum Ihr Haushalt in Schwierigkeiten ist. Auch die Zahlen, die gestern genannt worden sind, sind falsch. Während unserer Regierungszeit - das war schmerzlich genug - mussten wir von 1993 bis 1998 Kürzungen von 8,2 Milliarden DM - das war die Rekordhöhe -auf 7,9 Milliarden DM hinnehmen. Nach der mittelfristigen Finanzplanung wäre eine weitere Absenkung des Plafonds um 36 Millionen DM erfolgt. Und was machen Sie? - Sie kürzen die Mittel in einem Jahr um 8,7 Prozent und die Plafondabsenkung beträgt nicht 36 Millionen DM, sondern 960 Millionen DM. Das kann doch wohl nicht unsere Schuld sein. Deswegen fordern wir die Einlösung Ihres nächsten Versprechens - Sie haben gestern gesagt: Was wir zugesagt haben, packen wir an -, nämlich mehr Geld für die Entwicklungshilfe und nicht weniger. Wir fordern auch eine Weiterentwicklung der Inhalte und Instrumente, zum Beispiel ein Sektorprogramm zur Reform und Stärkung des öffentlichen Dienstes, eine konsistente Energiekonzeption für Entwicklungsländer und die Einrichtung einer politischen Notfallhilfe, mit der viel schneller als bisher politische Hilfestellung geleistet werden kann. Was die Diskussion um die Länderkonzentration anbelangt, so hat Herr Hedrich dazu schon das Wesentliche gesagt. Ich halte den bisherigen Verlauf der Abgrenzung für schädlich. Es gibt ein wirklich gutes Abgrenzungskriterium, mit dem man gleichzeitig die Arbeitsteilung mit der EU voranbringen könnte, und zwar die Absorptions-, Regulierungs- und Koordinationsfähigkeit von Entwicklungsländern. ({5}) Dieses Kriterium ist logisch und nachvollziehbar und richtet außenpolitisch keinen Schaden an. Ein außenpolitischer Schaden aber tritt ein, wenn ausgerechnet die Zusammenarbeit mit Schwellenländern, zum Beispiel mit Malaysia und Argentinien, eingestellt wird. Wir sind es doch, die von diesen Ländern etwas wollen, nicht umgekehrt. In Malaysia zum Beispiel wollen wir den Tropenwald retten. Wenn wir die Zusammenarbeit mit diesen Ländern aufgeben, haben wir uns jede Möglichkeit der Einflussnahme genommen. Das ist der dritte und ebenfalls entscheidende Punkt: die Einflussnahme auf Good Governance. Auch dazu gibt es Kritik. Zum einen gibt es in dem AKP-Abkommen einen Punkt, wo wir und auch Sie sich nicht entscheidend durchgesetzt haben, nämlich in der Frage der Sanktionen. Das ist innerhalb der EU eine offene Flanke. Zudem bedeuten die Kürzungen im BMZ-Haushalt, vor allem in der FZ: weniger Geld, weniger Einfluss. Die Entschuldung wiegt das in keiner Weise auf. Nehmen wir einmal an, die Entschuldung kommt wirklich zustande, was wir alle hoffen! Dann stehen 960 Millionen DM weniger im Haushalt. Dem stehen 60 bis allenfalls 80 Millionen DM entgegen, die Sie den Entwicklungsländern aus der Entschuldung pro Jahr praktisch geben. Sie kürzen also um das Zehnfache dessen, was die Entwicklungsländer durch die Entschuldung bekommen. Da kann man wirklich nicht von einem fairen Deal sprechen. ({6}) Lassen Sie mich auch noch das Folgende sagen. Wir kritisieren die mangelnde Unterstützung des BMZ und dessen Entwicklungspolitik durch das Auswärtige Amt und andere Ressorts. Bezeichnenderweise war ja zu Beginn der Debatte, als Sie, Frau Ministerin, sprachen, kein einziger von Ihren Kollegen im Raum. ({7}) Beim Einzug in das Außenministerium haben die grünen Chefs ihren umweltpolitischen Anspruch abgelegt. Auch wenn sich die Umweltsituation gerade in den Entwicklungs- und Schwellenländern dramatisch zuspitzt und selbst viele unserer eigenen, ökologisch orientierten Entwicklungsprojekte politisch hochgradig gefährdet sind: Fischer und Volmer riskieren dazu diplomatisch nichts. Das gilt leider auch für Afrika. In der Tat sind viele afrikanische Politiker dabei, jede Glaubwürdigkeit, jedes Renommee und auch jede politische Existenzberechtigung zu verspielen. Was sich in Äthiopien und Eritrea abspielt, ist zynisch und unverschämt. ({8}) Frau Ministerin, es sind nicht nur die Industrienationen, die dorthin Waffen verkaufen. Es ist vor allem Russland, ({9}) das von Verkäufen an beide Seiten profitiert hat und den Sanktionsbeschluss so lange hinausgezögert hat, dass beide Seiten genug Waffen haben, um noch jahrelang weiter kämpfen zu können. Das ist ein Skandal, der von uns nur außenpolitisch bekämpft werden kann. ({10}) Genauso zynisch sind das Kriegsengagement einer ganzen Reihe von armen Staaten in Krisengebieten, das Aufhetzen zur rassistischen Gewalt in Simbabwe und die traurige Solidarität mit diesen gefährlichen Vorgängen auch durch den südafrikanischen Staatspräsidenten. Das muss man auch sagen; das hat mich ebenfalls enttäuscht. Ich werfe der Bundesregierung, dem Bundeskanzler und dem Bundesaußenminister zuvörderst vor, dass sie für den Frieden und die Entwicklung in Afrika nichts riskieren, was diplomatisch und politisch wehtun könnte, dass es auch kein Afrika-Konzept gibt, das diesen Namen verdient. Joschka Fischer schließt fünf Botschaften in Afrika und joggt dann werbewirksam durch die Pyramiden von Giseh. Das ist meiner und unserer Ansicht nach zu wenig. ({11}) Diese Unkollegialität gegenüber der Entwicklungspolitik wird nur noch durch das Finanzministerium in den Schatten gestellt, insbesondere durch die Person des Staatssekretärs Overhaus und die Art und Weise, wie er die Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe „Villa Borsig“ - die Insider wissen, wovon ich spreche - abgebürstet hat. Ich glaube, dass deshalb der AWZ ein Recht darauf hat, dass Finanzminister Eichel uns einmal persönlich Rede und Antwort steht und uns in Zukunft einen Gesprächspartner aus seinem Hause mitgibt, der die Entwicklungspolitik nicht ruinieren will.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ruck, Ihre Zeit ist schon deutlich überschritten.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann fasse ich zusammen: ({0}) Gegen Ihre symbolischen Gesten, Frau Ministerin, habe ich nichts einzuwenden; Ihre werbewirksamen Auftritte sind wichtig, damit man Entwicklungspolitik begreiflich machen kann. Wir haben auch nichts gegen flotte Sprüche. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass entgegen allen vollmundigen Ankündigungen die deutsche Entwicklungspolitik durch Rot-Grün in eine Krise gestürzt wurde und den wachsenden Herausforderungen derzeit nicht gerecht werden kann. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an die Adresse derer, die mich angesprochen haben, Folgendes sagen. Ich beziehe mich zunächst auf die Frage der Entschuldungsinitiative. Ich finde, die Probleme, die ich heute angesprochen habe, sind so groß, dass wir die Diskussion wirklich nicht im Kleinklein führen sollten. Vielmehr sollten wir sie so führen, dass wir gemeinsam Ergebnisse erzielen können. Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen. Sie haben uns vorgeworfen, dass wir eine Entschuldungsinitiative im Umfang von 70 Milliarden US-Dollar haben mobilisieren können und dass das den deutschen Bundeshaushalt vergleichsweise wenig belastet. Ich finde, das ist kein Vorwurf. Mit einem vergleichsweise nicht so hohen Anteil haben wir ein Maximum für die Menschen in der Welt erreicht. Das kann doch kein Vorwurf an uns sein. Wir haben uns doch sinnvoll und richtig verhalten. ({0}) Ein zweiter Punkt. Ich danke den Kollegen, die versucht haben, sachlich zur Frage der Länderliste zu diskutieren. In entwicklungspolitischen und außenpolitischen Fragen setzen die Menschen in der Welt auf Kontinuität und Verlässlichkeit. Bitte lassen Sie uns die Länderliste sachlich diskutieren. Ich habe wirklich nicht verstanden, Herr Kollege Hedrich, worin Ihr Vorwurf besteht. Sie haben einerseits behauptet, wir hätten nicht frühzeitig genug die Entwicklungszusammenarbeit mit Simbabwe eingestellt. Anschließend haben Sie uns vorgeworfen, wir hätten es nicht als Partnerland mit aufgeführt. Was ist denn jetzt Ihr Vorwurf? Sie müssen doch an dieser Stelle die Auswirkungen entsprechend mit bedenken. Ich möchte den Sachverhalt klarstellen. In Bezug auf Simbabwe haben wir die Entwicklungszusammenarbeit im finanziellen Bereich zu dem Zeitpunkt eingefroren, als sich Simbabwe in den Kongokrieg eingeschaltet hat, also schon weit früher. Was wir durchführen - dazu stehe ich -, sind die Projekte, die der armen Bevölkerung nutzen. Unser Prinzip ist: Wir werden die arme Bevölkerung nicht für ihre schlechte Regierung bestrafen, und das werden wir auch durchhalten. ({1}) Wir haben Simbabwe selbstverständlich als potenzielles Partnerland mit genannt. Zu Herrn Ruck: Sie hatten, als im Zusammenhang mit Lomé zwischen EU- und AKP-Staaten verhandelt wurde, die Chance, die Frage der verantwortungsvollen Regierungsführung zu verankern. Ich lege Wert darauf, dass unter unserer Verhandlungsführung im Abkommen zwischen der EU und den afrikanisch-karibisch-pazifischen Ländern das Prinzip der verantwortungsvollen Regierungsführung verankert worden ist. Damit wird deutlich, dass in Fällen - das ist jedem AKP-Staat klar schwerer Korruption im Land selbst die Möglichkeit der Unterbrechung der finanziellen Hilfe vonseiten der Europäischen Union gegeben ist. Das finde ich gut, weil ich dafür bin, dass in solchen Fällen die entsprechenden Sanktionen vollzogen werden; denn Korruption heißt, die arme Bevölkerung in den betroffenen Ländern zu strafen und ihnen das Geld vorzuenthalten. Deshalb haben wir das verankert und dazu stehen wir auch. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin WieczorekZeul, die drei Minuten sind vorüber.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Werner Schuster das Wort.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Christian Ruck, ich freue mich, wenn diese Debatte den Eindruck vermittelt, dass der nächste Bundestagswahlkampf vom Thema Entwicklungszusammenarbeit entschieden wird. Das wäre ein Novum. Aber dies erinnert mich an die Apostelgeschichte, in der der Saulus zum Paulus wurde. Ihr habt offensichtlich euer Damaskus rein zufällig jetzt nach 16 Jahren Gestaltungsmöglichkeit. Es ist sicher euer gutes Recht und eure Pflicht, uns zu kritisieren. Aber tut das bitte schön mit Augenmaß. Wenn ihr wirklich wollt, dass die Entwicklungspolitiker in der Regierungskoalition erreichen, dass der Haushalt im Jahre 2001 verbessert wird, dann müsst ihr uns seriöse Vorschläge unterbreiten und könnt nicht einfach nur Wahlkampfgetöse machen. Ihr habt gesagt, es habe sich nichts verändert. Dazu will ich euch ein paar Fragen stellen. Herr Hedrich und ich haben seit Jahren immer wieder darauf hingewiesen, wie groß die Ineffizienz auf europäischer Ebene ist. Jetzt bewegt sich etwas in Brüssel. Ist das nichts? Wir haben darauf hingewiesen, dass Post-Lomé strukturell geändert werden muss. Die Frau Ministerin hat das zusammen mit ihren drei Kolleginnen geschafft. Ist das alles nichts? Bei der multilateralen Entschuldung, Herr Hedrich, gab es 1986 - ich war noch nicht dabei - einen einstimmigen Beschluss im Bundestag. Passiert ist damals nichts, aber jetzt tut sich etwas. Ist das alles nichts? Die PPP - sie ist von euch mehrfach angekündigt worden, ich habe dabei eine Menge vom Kollegen Pinger gelernt - wird jetzt Realität. Ist das nichts? Entwicklungszusammenarbeit findet zum ersten Mal wieder die Aufmerksamkeit der öffentlichen Medien, und zwar dank der hervorragenden Präsentation der Ministerin. Ist das eigentlich alles nichts? ({0}) Wir haben zum Beispiel die Kernarbeitszeitnorm in die ILO eingebaut. Ist das nichts? ({1}) Sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU, lieber Christian Ruck, eine Aufgabe haben wir gemeinsam, nämlich bei unseren Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Fraktion für „Frieden braucht Entwicklung“ zu werben. Dies ist aber leider nicht umsonst zu haben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Ruck, Sie haben Gelegenheit zu antworten.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin zweimal angesprochen worden, sodass ich jetzt sechs Minuten lang reden kann, oder? ({0}) - Herr Kubatschka, ich bestätige Ihnen nicht allzu viel. Ich habe zunächst eine Gegenfrage an Werner Schuster: Sind die Kürzungen in Höhe von 960 Millionen DM auch nichts? Nun komme ich auf die Intervention der Frau Ministerin zu sprechen. Ich möchte noch einmal sagen: Wir wünschen der Entschuldungskampagne viel Glück. Ich halte es aber für übertrieben, dass Sie sich immer hinstellen und sagen: Diese 70 Milliarden Dollar habe ich verbrochen und die wiegen praktisch diese 960 Millionen DM pro Jahr auf, um die wir kürzen müssen. Diese Rechnung stimmt weder politisch noch mathematisch. Wir könnten gern weniger über diese Zahlen sprechen, wenn Sie nicht immer die Unwahrheit über die wirkliche Entwicklung Ihres Haushalts im letzten Jahrzehnt sagen würden - siehe gestern - und wenn - das muss ich leider auch sagen - die Koalition nicht immer so riesige Versprechen wie zum Beispiel vor einem drei viertel oder halben Jahr machen würde, aber genau das Gegenteil macht. Es kann niemand von uns als Opposition verlangen, dass wir, liebe Adelheid Tröscher, sagen: Die Regierung möchte das nicht mehr hören, deswegen sagen wir es auch nicht. Das kann wirklich kein Mensch von uns verlangen. ({1}) Ich habe einige Punkte, die du bei mir als Defizite kritisiert hast, ausdrücklich in positivem Sinne angesprochen. Die Bewegung auf der EU-Ebene ist ein positiver Schritt. Aber es bleibt trotzdem dabei, worauf wir immer alle Wert gelegt haben: Entschuldung nur gegen Konditionierung, zum Beispiel bezogen auf die Armutsbekämpfung. Dies muss wasserdicht, zum Beispiel mit NGOs, vereinbart werden. Dazu gibt es zwei Dinge: Das Erste ist, dass in der EU nur der Fall der schweren Korruption geregelt ist, sonst nichts. Das ist zu wenig. Das Zweite sind die Entschuldungsprogramme. Noch kein einziges Mal ist der Beweis dafür angetreten worden, dass es so - wie Sie das auch mittragen - auch funktioniert. Es funktioniert noch nicht in Bolivien und es funktioniert auch noch nicht in Uganda. Wir können gern darüber fachsimpeln, was zum Beispiel in Bolivien passiert. In Bolivien wird es so, wie es bisher läuft, nicht klappen, ganz einfach deshalb, weil die NGOs das, was geplant ist, nicht mittragen können. Wir können gern im Detail darüber diskutieren, aber lassen Sie uns jeweils fair und sportlich bei der Wahrheit bleiben, auch hinsichtlich dessen, was Ihre Vorgänger getan haben. Es ist wahr, dass wir in 16 Jahren nicht alles richtig gemacht und auch nicht alle Probleme gelöst haben. Ich darf aber daran erinnern, dass die Kriterien und die Schwerpunktsetzung von Herrn Spranger ausdrücklich von Ihnen übernommen worden sind. Sie haben 16 Jahre lang gewartet. Jetzt können Sie alles besser machen. Nach fast zwei Jahren werden wir Sie doch wohl fragen dürfen: Was ist aus den großen Versprechen geworden? Dies lassen wir uns nicht nehmen. Manches, das vielleicht im Sande versickert ist, werden wir wieder ausgraben. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich der Kollegin Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, das Wort.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der ganzen parteipolitischen Polemik würde ich gern den Versuch unternehmen und auch die Opposition dazu einladen, zu prüfen, ob wir hinsichtlich des Kerns des Verständnisses von Entwicklungspolitik immer noch Gemeinsamkeiten haben oder nicht. Deswegen möchte ich gern drei Gedanken zum grundsätzlichen Verständnis von Entwicklungspolitik äußern. Erstens zum Verständnis von Entwicklungspartnerschaft: Zu lange haben wir unsere Partnerländer in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihrem Leistungswillen unterschätzt. Zu lange haben wir diese Länder aus einer paternalistischen und sehr eurozentristischen Sichtweise heraus in eine passive Rolle gedrängt. Das will diese Bundesregierung zurechtrücken und korrigieren helfen. Wir stellen deshalb die Hilfe zur Selbsthilfe in den Kontext einer Entwicklungspartnerschaft, um den Realitäten in unseren Partnerländern besser Rechung zu tragen. Diese Kurskorrektur von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungspolitik war längst überfällig, um wieder den Anschluss an den aktuellen Stand der internationalen entwicklungspolitischen Diskussion zu finden. ({0}) Was heißt das nun für unsere praktische entwicklungspolitische Arbeit? Wir müssen darauf drängen, dass grundlegende Aufgaben der nationalen Politik von den Staatsregierungen unserer Partnerländer verantwortlich und eigenständig wahrgenommen werden. Wir müssen offen sein für alle Formen der Eigeninitiative dort. Wir müssen uns als Geber davor hüten, mit Blaupausen zu agieren, und wir müssen die selbstbestimmten Entwicklungsstrategien unserer Partner ernst nehmen. Wir müssen unseren Partnerländern verdeutlichen, dass Entwicklungszusammenarbeit nur komplementär zu Eigenanstrengungen zum Zuge kommen kann. ({1}) Entwicklungspartnerschaft bedeutet auch, dass unsere Entwicklungspolitik nicht als isoliertes Politikfeld, sondern nur als ganzheitlicher Ansatz erfolgreich sein kann. ({2}) Wir bemühen uns deshalb um eine möglichst kohärente Gesamtpolitik, auch wenn dies nicht einfach ist, und dies tun wir sowohl in der bilateralen Zusammenarbeit als auch im internationalen Rahmen. Wir haben bereits Schritte unternommen, unsere Entwicklungspolitik möglichst effizient mit anderen Politikfeldern zu vernetzen, um so den quantitativen und qualitativen Nutzen unserer Zusammenarbeit zu maximieren. Das zeigen zum Beispiel die Mitgliedschaft des Ministeriums im Bundessicherheitsrat und die Diskussionen und Entscheidungen über Rüstungsexporte. Meine zweite Bemerkung: Entwicklung braucht einen langen Atem. All das, was hier zum Beispiel zu Bolivien oder Uganda eingefordert worden ist, eine ganz schnelle Entschuldung, haucht genau nicht diesen langen Atem, Herr Ruck. Ich bitte Sie, statt auf Schnelligkeit und Quantität auf Qualität zu setzen. ({3}) Entwicklung funktioniert nicht von heute auf morgen. Wir müssen akzeptieren lernen, dass sich hoch komplexe gesellschaftliche Umwälzungsprozesse nur in kleinen Schritten vollziehen und nicht immer unserem europäischen Entwicklungsraster entsprechen. Darum müssen wir Geduld aufbringen und versuchen, auch alternative, das heißt auch andere Entwicklungsmuster zu verstehen und zu unterstützen. Geduld bedeutet aber nicht Langmut. Wir dürfen unsere Partner nicht aus ihrer Verantwortung für eine entwicklungs- und armutsorientierte Politik entlassen. ({4}) Wir müssen unseren Partnerländern - das ist sehr wichtig, das vergessen wir häufig - auch das Recht auf Fehler einräumen und dürfen uns nicht als Lehrmeister aufspielen. ({5}) Ich sage dies, obwohl ich mir dessen bewusst bin, dass gerade heute, da wir die Katastrophe in Sierra Leone vor Augen haben, da der brutale Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien herrscht, diese Ansicht auf Kritik stößt. Trotzdem meine ich, dass wir im Prinzip unseren Partnerländern auch Fehler zugestehen müssen. Nur so können wir einen ernsthaften und auf gegenseitigem Respekt beruhenden Dialog führen, Entwicklungen in diesen Ländern früher und besser einschätzen und gemeinsam über Entwicklungsalternativen nachdenken. Um der Vielfalt der kulturellen, sozioökonomischen und historisch gewachsenen Realitäten gerecht zu werden, müssen wir noch viel stärker als bisher flexible Instrumente entwickeln und einsetzen. Meine dritte und letzte Bemerkung: Ich glaube - gerade auch, wenn ich mir meine Partei ansehe -, wir haben manchmal vergessen, dass Wirtschaftswachstum Grundvoraussetzung zur Armutsbekämpfung ist. Eine Vielzahl von Ländern hat es bewiesen: Um ein langfristig hohes Wirtschaftswachstum zu erreichen, müssen und wollen die Entwicklungsländer am Welthandel teilhaben und die positiven Effekte der Globalisierung ausschöpfen. Es geht also darum - ich zitiere den Präsidenten der Weltbank -, „die Herausforderungen der Einbeziehung“ einer globalen Zukunftsfähigkeit zu meistern. Gemeint ist damit die Notwendigkeit, die Entwicklung menschlich zu gestalten und die Schwachen und Verletzlichen am Rande der Gesellschaft in die Mitte zu nehmen. Diesen Herausforderungen müssen wir uns stellen und dürfen Globalisierung nicht immer als Bedrohung für die Entwicklungsländer begreifen. ({6}) Es ist daher auch die Aufgabe der Entwicklungspolitik, unsere Partnerländer für den Weltmarkt fit zu machen. Dazu unterstützen wir sie beim Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft und treten für ein umfassenderes Mitspracherecht der Entwicklungsländer im internationalen Rahmen ein. Das heißt beispielsweise, dass wir uns in bilateralen Projekten zur Kleingewerbeförderung ebenso wie bei der Gestaltung der Welthandelsordnung für unsere und mit unseren Partnerländern engagieren. Zugleich wollen wir mit unserer Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, dass das wirtschaftliche Wachstum im Einklang mit der Natur und sozial verträglich gestaltet wird. Somit leistet unsere Entwicklungspolitik einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunftssicherung für alle. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Ernst Ulrich Weizsäcker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003257, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich danke insbesondere der Ministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, dass sie zum ersten Mal eine Regierungserklärung zum Thema Entwicklungszusammenarbeit abgegeben hat. Es ist ein symbolisch sehr wichtiger Fortschritt. Aber wir können uns mit Symbolen nicht zufrieden geben. Die Lage ist viel zu ernst. In vielen Ländern der Dritten Welt ist die Lage gefährlich gespannt. Die Globalisierung der Weltwirtschaft hat nicht etwa verhindert, sondern eher befördert, dass die Schere zwischen Arm und Reich, insbesondere innerhalb der Länder, weiter auseinander klafft. Das weitere Aufklaffen dieser Schere ist eine der ganz großen Ursachen für gefährliche Konflikte. Insofern ist gerade im Kontext der Globalisierung Entwicklung eine der besten Formen des Friedenserhalts. ({0}) Es ist besorgniserregend, wenn der globale Wettbewerb um höchste privatwirtschaftliche Kapitalrenditen die Geberländer dazu veranlasst, einen Wettbewerb um sinkende Staatsquoten zu veranstalten und dabei auch die Entwicklungshilfe zu kürzen. ({1}) Was ist zu tun? Der schon genannte Meltzer-Bericht geht exakt in die falsche Richtung. ({2}) Der Report behauptet unter lauter Beteuerungen, es gehe ihm um die Ärmsten, die meisten Länder hätten nun Zugang zu den privaten Kapitalmärkten. Bei 15 Prozent Zinsen ist das eine zynische Strategie gegenüber den Ärmsten und auch gegenüber der Umwelt und gegenüber jeder langfristig angelegten Entwicklungspolitik. ({3}) Bildung, Forschung und Infrastruktur werfen keine 15 Prozent Zinsen ab. Entwicklungszusammenarbeit ist eines der großen Querschnittsthemen auch für die neugegründete Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“. Wir sehen mit großer Freude, dass sich unter Ihrer Führung, Frau Ministerin, das BMZ auf eine enge Zusammenarbeit mit dieser Kommission eingestellt hat. Wir erwarten davon fruchtbare Fortschritte. Ich bedanke mich. ({4}) Weil wir erst am Anfang sind, ist das Zukunftsmusik. Deswegen möchte ich ein paar Worte zu dem sagen, was uns alle in den letzten zehn Jahren vor und nach dem Erdgipfel in Rio de Janeiro insbesondere in Bezug auf die nachhaltige Entwicklung beschäftigt hat. In Sonntagsreden wird oft so getan, als gäbe es gar keine Zielkonflikte zwischen Umwelt und Entwicklung. ({5}) Die wunderschönen Worte „sustainable development“, nachhaltige Entwicklung, gehen einem leicht über die Lippen. Aber in Wirklichkeit ist es sehr häufig so, dass Entwicklung auf mehr und nicht etwa auf weniger Naturverbrauch hinausläuft. Wenn 6 Milliarden Menschen den Lebens- und Wirtschaftsstil erreichen, den wir vorführen - gleichzeitig stellt sich Deutschland gerne als Weltmeister im Umweltschutz dar -, dann ist die Erde ökologisch am Ende. Das heißt, gerade bei uns müssen wir eine Neuausrichtung der Wirtschafts- und Technologiestile entwickeln, damit nachhaltige Entwicklung weltweit zustande kommen kann. ({6}) Für uns ist das ein Programm der Modernisierung. Für die Entwicklungsländer ist es angesichts von Wasser- und Energieknappheit sowie des Mangels an Geld für Rohstoffimporte eine Frage des Überlebens. Ich sehe mit Genugtuung, dass sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit dieses Themas systematisch annimmt. ({7}) Herr Kollege Schlauch hat bereits die Wichtigkeit der internationalen Umweltabkommen erwähnt. Die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt hat für die Nord-Süd-Beziehungen eine herausragende Bedeutung. Der Norden muss dabei aufpassen, dass er seine eigene Glaubwürdigkeit nicht gefährdet. Mit Empörung haben die Menschen in Südasien vor fünf Jahren reagiert, als das Europäische Patentamt in München der amerikanischen Firma Grace ein Patent auf das Öl aus dem Niembaum erteilt hat, um es als Pestizid zu nutzen. Die Inder haben das Öl seit Jahrhunderten selbstverständlich genutzt. Nun sollen sie auf einmal Patentgebühren dafür zahlen. Das ist nun glücklicherweise ein Beispiel mit einem Happy End; denn vor etwa zwei Wochen hat das Europäische Patentamt dieses Patent widerrufen. Daraufhin wurde vor zwei Tagen in Nairobi, wo gerade die Vertragsstaatenkonferenz über die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt abgehalten wird, ein Freudentanz aufgeführt und symbolisch ein Niembaum gepflanzt. Hier haben Nichtregierungsorganisationen aus dem Norden und dem Süden seit Jahren politischen Druck ausgeübt und wesentlich dazu beigetragen, dass sich endlich ein Politikwandel - in diesem Fall bis hin zum Europäischen Patentamt - vollzogen hat. Herr Kollege Hedrich hat vollkommen Recht, wenn er sagt - das ist aber für die Regierung und für die sie tragenden Koalitionsfraktionen überhaupt nichts Neues -, dass die Rolle der Nichtregierungsorganisationen gar nicht überschätzt werden kann. Ohne die Kooperation zwischen der demokratischen Öffentlichkeit in den Staaten und den Nichtregierungsorganisationen wäre ein solcher Fortschritt völlig undenkbar. ({8}) Die Globalisierung beschert uns ein spannendes und neuartiges Dreieck zwischen dem Staat, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Staat und Zivilgesellschaft müssen ein großes Interesse daran haben, dass insbesondere im internationalen Wirtschaftsgeschehen mehr Transparenz einzieht. Eine der unter Globalisierungsgesichtspunkten interessantesten Nichtregierungsorganisationen ist vor einigen Jahren in Berlin gegründet worden, nämlich Transparency International, eine Nichtregierungsorganisation, die sich spezifisch mit der Bekämpfung des Betrugs und der Korruption beschäftigt. ({9}) Die Weltbank und die deutsche Entwicklungszusammenarbeit kooperieren auf das Engste mit Transparency International, um die Glaubwürdigkeit der Geberländer, der Nehmerländer und der Privatwirtschaft wieder herzustellen. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine Nichtregierungsorganisation die Politik wesentlich mitgestalten kann. ({10}) Der Druck von demokratischen Öffentlichkeiten, Konsumentengruppen und sogar von Investoren auf die Privatwirtschaft ist entscheidend dafür, dass Entwicklung und Frieden weltweit zustande kommen. „Frieden braucht Entwicklung“, so heißt es sowohl in der Regierungserklärung als auch in unserem Antrag. Frieden und Entwicklung in einer globalisierten Wirtschaft brauchen den Frieden stiftenden Druck der demokratisch gesinnten Kräfte der Öffentlichkeit in Nord und Süd. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entsch- ließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 14/3388. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ent- schließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom- men. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/3128 und 14/3396 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit - zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/ DIE GRÜNEN Fortsetzung der Berichterstattung der Bundes- regierung zum Stand der deutschen Einheit - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr.-Ing. Paul Krüger, Günter Nooke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weiterführung des Jahresberichtes der Bun- desregierung zum Stand der deutschen Einheit - Drucksachen 14/1825, 14/2238, 14/1715, 14/2608 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Schubert Dr. Michael Luther b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Vera Lengsfeld, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Investitionsförderung verstetigen - regionale Wirtschaftsstrukturen stärken - Drucksache 14/2242 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Luther, Kurt-Dieter Grill, Dr. Angela Merkel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Strompreise in Deutschland angleichen - neue Stromsteuern im Osten aussetzen - Drucksachen 14/1314, 14/2404 Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Mathias Schubert Dr. Michael Luther Werner Schulz ({3}) Gerhard Jüttemann d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Paul Krüger, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({5}), Dr. Michael Luther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen in den neuen Ländern fortsetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Förderung und Unterstützung von technologieorientierten Unternehmensgründungen ({6}) bedarfsgerecht weiterentwickeln - Drucksachen 14/1594, 14/2152, 14/2954 Berichterstattung: Abgeordnete Jelena Hoffmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Debatte ist der Staatsminister Rolf Schwanitz.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute zum zweiten Mal den Bericht zum Stand der deutschen Einheit aus dem vergangenen Jahr. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einige Anmerkungen zur aktuellen wirtschaftlichen Situation in den neuen Ländern und auch zur Angleichung der Lebensverhältnisse zu machen, einem Thema, das die Ostdeutschen sehr bewegt. Dabei hat für die Menschen die Angleichung der Einkommen natürlich ein ganz besonderes Gewicht. Was den öffentlichen Dienst betrifft, sind wir zurzeit in der Schlichtung. Ich persönlich habe in den zurückliegenden Monaten aus meinen Hoffnungen - bei aller gebotenen Zurückhaltung - keinen Hehl gemacht. Ich will deswegen zu Beginn meiner Rede ausdrücklich sagen: Ich bin sehr zuversichtlich, dass es den Tarifparteien gelingen kann, eine Perspektive für die Angleichung aufzuzeigen, die das ist mir besonders wichtig - den finanziellen Leistungsmöglichkeiten der ostdeutschen Länder und Gemeinden entspricht. Die Perspektiven für den Aufbau Ost sind gut. Immer deutlicher wird das verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland zum konjunkturellen Zugpferd. Zweistellige Wachstumsraten bei den wichtigsten Kennziffern, vom Export bis hin zu den Ausbildungsplätzen im Handwerk, zeigen, dass der Osten auf dem richtigen Weg ist. Das ist keine Schönfärberei. Natürlich gibt es daneben noch schmerzhafte Anpassungsprozesse, vor allen Dingen in der ostdeutschen Bauwirtschaft, die auf die Arbeitsmarktsituation des gesamten Ostens durchschlagen. Aber die Trendwende ist geschafft. Die positiven Signale sind überdeutlich. Die Industrie in den neuen Bundesländern wächst schon heute schneller als die im Westen. Die in den letzten Wochen und Monaten gelegentlich geäußerten Befürchtungen, die neuen Länder könnten auf Dauer vom Wirtschaftswachstum und von der steigenden Beschäftigung im Land abgekoppelt sein, sind deshalb unbegründet. ({0}) Dies wird beispielsweise dadurch deutlich, dass das mittelständisch geprägte verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland im ersten Quartal dieses Jahres einen Produktionsanstieg von 13,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr verbuchen konnte. ({1}) Das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe wächst damit fast zweieinhalbmal so schnell wie das in den alten Bundesländern. Das gleiche Bild zeigt sich erfreulicherweise bei den Auftragseingängen und bei den Erwartungen der ostdeutschen Unternehmen. Ich erinnere an das letzte Konjunkturbarometer, das vor kurzem im „Handelsblatt“ erschienen ist. Ich sage ganz klar: Der Osten ist auf dem richtigen Weg. ({2}) Besonders freut mich: Das schlägt auch auf den Export durch - jahrelang eine große Schwachstelle der ostdeutschen Wirtschaft. Mit einem Plus von 10,5 Prozent verzeichnete das ostdeutsche verarbeitende Gewerbe 1999 einen außerordentlichen Exporterfolg. Damit wuchsen die ostdeutschen Ausfuhren deutlich schneller als die Ausfuhren in den alten Bundesländern, und das übrigens nicht nur in traditionellen Bereichen, in denen der Osten auch in der Vergangenheit schon stark war: beispielsweise beim Maschinenbau, bei der Elektronik oder im Fahrzeugbau. Die ostdeutschen Ausfuhren stiegen auch in Bereichen der so genannten Spitzentechnologie: in der Medizintechnik, in der Optik oder auch in der Datenverarbeitung. Ostdeutsche Produkte fassen zunehmend auf den internationalen Märkten Fuß und sind in der Lage, den harten Wettbewerb zu bestehen. Meine Damen und Herren, der Export wird zu einer wichtigen Säule des Wachstums im Osten. Immer deutlicher wird das verarbeitende Gewerbe zum Träger der Konjunktur im Osten. Das ist die neue Qualität des Wachstums. Darüber sollten wir alle uns in diesem Hause freuen. ({3}) Die Exportquote hat natürlich noch nicht den westdeutschen Wert erreicht; das ist völlig klar. Wir liegen etwas über der Hälfte des Wertes in den alten BundeslänVizepräsidentin Petra Bläss dern. Im vergangenen Jahr stieg die Exportquote in Ostdeutschland auf 18,4 Prozent. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres stieg sie jedoch auf 20,7 Prozent. Das ist ein gewaltiger Sprung, der zeigt, dass der Exportboom Herr Kollege Türk, wir haben im Ausschuss darüber geredet -, der in den alten Bundesländern greift, nicht an Ostdeutschland vorbeigeht. Auch das ist ein wichtiges Signal, meine Damen und Herren. ({4}) Deutlich sind auch die Signale hinsichtlich der Beschäftigungssituation. Im verarbeitenden Gewerbe gibt es einen Beschäftigungszuwachs; 1999 betrug der Arbeitsplatzzuwachs rund 1,4 Prozent. Im Februar dieses Jahres lag die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe bereits um 2,5 Prozent über dem Vorjahreswert. Auch hier gehen die Zahlen also nach oben; das ist die richtige Entwicklung. ({5}) Besonders freut mich, dass es auch bei den Ausbildungsplätzen positive Signale gibt. Nicht nur hat sich das haben wir mehrfach debattiert - über das wichtige Jugendsofortprogramm des letzten Jahres zum ersten Mal die sich in den zurückliegenden Jahren immer weiter öffnende Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland wieder etwas geschlossen, wenn auch nicht so wie in den alten Bundesländern. In diesem Jahr - Sie haben die April-Zahlen vor kurzem debattiert - gibt es Signale, dass nun auch im betrieblichen Bereich die Zahl der Ausbildungsplätze nach oben geht. Die regionalen Handwerkskammern melden, wie gestern geschehen, dass die Handwerksbetriebe aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung fast 18 Prozent mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr anbieten. Über diese positiven Signale sollten wir uns alle freuen, meine Damen und Herren. ({6}) Dieser Erfolg kommt nicht von selbst. Dahinter stehen in erster Linie - ich sage das ganz deutlich - die harte Arbeit und der Einsatz der Ostdeutschen und natürlich auch die konsequente Politik der Förderung des Aufbaus Ost, der Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, die wichtige aktive Arbeitsmarktpolitik, die Verstärkung von Forschung und Entwicklung in Ostdeutschland und schließlich die Gründung von innovativen Unternehmen sowie die gezielte steuerliche Entlastung von kleinen und mittelständischen Unternehmen, die Kernpunkt unserer Steuerreform ist. Deshalb werden wir an diesem Kurs, meine Damen und Herren, ausdrücklich festhalten. ({7}) Insbesondere ertragsschwache kleinere und mittlere Unternehmen - von ihnen gibt es in den neuen Ländern bekanntlich überproportional viele - profitieren von der schrittweisen Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent und von der Anhebung des Grundfreibetrags. Gerade in Ostdeutschland versteht übrigens niemand, worin der Vorteil einer weiteren Senkung des Spitzensteuersatzes liegen soll. Die Ertragssituation der Unternehmen in Ostdeutschland liegt weit unter dem westdeutschen Durchschnitt. Von einer weiteren Senkung des Spitzensteuersatzes, wie von der Opposition gefordert, würden vor allen Dingen Unternehmen profitieren, die ein zu versteuerndes Einkommen von weit über 120 000 DM haben. Diese, meine Damen und Herren, muss man in Ostdeutschland mit der Lupe suchen. Deshalb sage ich ausdrücklich noch einmal: Spitzenverdiener, die hier begünstigt werden sollen, sitzen überwiegend in den alten Bundesländern und nicht in Ostdeutschland. ({8}) Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu einer aktuellen Forderung, die von der CDU/CSU in dieser Woche zu vernehmen war: Mit ihrer Forderung, im Zusammenhang mit der Steuerreform entweder den Spitzensteuersatz auf 35 Prozent zu senken oder den Solidaritätszuschlag abzuschaffen, bricht bei der CDU eine klare antiostdeutsche Haltung durch. ({9}) Sie wollen die Regierung im Vermittlungsausschuss zwingen, entweder Spitzenverdiener, die in den alten Bundesländern sitzen, zu entlasten oder dem Solidarpakt die finanzielle Grundlage zu entziehen. Das tun Sie, während wir gerade darangehen, einen zweiten Solidarpakt auszuhandeln. ({10}) Die Verlierer bei einer solchen Forderung, die Sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, sitzen in beiden Fällen in Ostdeutschland. Ich habe die Debatte gestern aufmerksam verfolgt. Sie haben nichts zu dieser Forderung gesagt. Ich bin gespannt, ob Sie sich hier hinstellen, vielleicht auch in der Person der Parteivorsitzenden, und diese Forderung zurücknehmen; sie zeugt nämlich eindeutig von einer feindlichen Haltung gegenüber dem Osten. ({11}) Zum Schluss möchte ich noch ausdrücklich sagen, die Förderung und die Unterstützung vor allen Dingen innovativer Prozesse bleiben ein ganz zentraler Punkt beim Aufbau Ost. Ich bin sehr froh, wie gut, wie umfangreich und wie durchschlagend gerade auch die neu konzipierten Förderprogramme des Bundes dabei greifen. Ich möchte dabei das Thema Inno-Regio wenigstens noch einmal ansprechen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Staatsminister, gestatten Sie, bevor Sie das tun, eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?

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Ich würde dieses gerne im Zusammenhang beenden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie können die Zwischenfrage nur jetzt zulassen, denn danach ist die Redezeit vorbei.

Not found (Gast)

Ich möchte trotzdem im Zusammenhang vortragen. Ich bin sehr froh, wie gut Inno-Regio an dieser Stelle greift. Die Überlegung, verstärkte Kooperationen aufzubauen und Netzwerke zwischen Wirtschaft, wissenschaftlichen Einrichtungen und Verwaltungen zu knüpfen, ist ein richtiger Schritt gewesen. Bei vielen Besuchen dieser Projekte vor Ort merkt man, dass ein Ruck durch die Region geht und es als etwas Wichtiges und Neues, als eine Chance begriffen wird, solche Innovationsprozesse aus den Regionen heraus zu entwickeln. Deswegen, meine Damen und Herren, sage ich ausdrücklich: Wir sollten diese Erfolge nicht kleinreden und auch nicht vor dem Hintergrund einseitiger parteipolitischer Interessen die wirtschaftliche Situation schlechtreden. ({0}) Die Signale sind klar: Die Entwicklung im Osten zieht an und die Menschen, die dafür vor Ort in Ostdeutschland gesorgt haben, können zu Recht auf diese Entwicklung stolz sein. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege Günter Nooke.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Ihnen scheint die Rede nicht so sehr gefallen, zumindest Sie nicht überzeugt zu haben. Ihr Gesichtsausdruck zeigte jedenfalls keine Begeisterung. ({0}) Bezüglich der Ausführungen zum Solidaritätszuschlag möchte ich anmerken, dass es hier darum geht, dass wir das Geld für den Osten organisieren. Entscheidend ist, was hinten herauskommt. Wenn sich am Ende nebenbei auch eine Vereinfachung beim Steuerrecht ergeben sollte, haben wir überhaupt nichts dagegen. Bei seiner Regierungserklärung hat sich der Bundeskanzler letzte Woche über schöne Arbeitsmarkt- und Wirtschaftszahlen gefreut. Dabei gab es bei objektiver Betrachtung - das entspricht ja auch dem, was jetzt hier gesagt wurde - dazu überhaupt keinen Grund. Mir kam das vor, als wenn sich der Besitzer eines Hauses, dessen Dach undicht ist, über eine bessere Großwetterlage freut, weil es dann weniger hereinregnet. Nein, zur Freude gibt es längst noch keinen Anlass. Kluge Hausbesitzer freuen sich nicht über schönes Wetter, sondern reparieren die Dächer möglichst schnell. Herr Bundeskanzler, das haben Sie bisher versäumt. Der Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche hier im Hause deutlich gemacht, welche Bedeutung er den neuen Ländern zumisst. Im Zusammenhang mit einigen Zahlen über Wirtschafts- und Ausbildungsplätze sprach er, wie immer vermeintlich leicht und locker, von „bei uns im Westen“ und damit implizit von den Ostdeutschen als „ihr“ und „euch“. ({1}) Herr Gysi musste den Kanzler daran erinnern, dass auch der Osten zu Deutschland gehört. Wenn die Sache nicht so ernst wäre, könnte man lästern: Hier sind alte und neue Spalter unter sich. Aber ich glaube, wir alle sind uns einig - nicht nur in dieser Debatte über die deutsche Einheit -: Wir in Deutschland gehören zusammen; wir sind gemeinsam für Erfolg und Misserfolg verantwortlich. ({2}) Der Aufbau Ost geht uns alle an. Er bleibt eine Aufgabe für alle Deutschen. Damit meine ich nicht, der Westen gibt das Geld und der Osten gibt es aus. Vielmehr geht es darum, diese Aufgabe als materielle und geistige Herausforderung für alle - im Westen wie im Osten der Republik - zu begreifen. Während die einen denken, dem Osten gehe es schon viel zu gut, kommen die anderen aus dem Zustand des Klagens und des Selbstmitleides nicht heraus. Weder Jammern noch Schönreden, sondern Fakten sind gefragt. Diese Fakten, Herr Bundeskanzler, sind bedrückend. Allein im April - und das bei schönem Wetter - gab es 55 000 mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist. Die Jugendarbeitslosigkeit im Osten ist um 20 Prozent gestiegen. Das sind Ihre Arbeitslosen, Herr Bundeskanzler. ({3}) Ihre Zahl nimmt ständig zu. Aber die Menschen im Osten haben dafür kein Verständnis. Sie wollen teilhaben an der wirtschaftlichen Entwicklung und sich in die Gesellschaft einbringen. Die CDU/CSU-Fraktion wird der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach tatenlos zusehen. Wir werden nicht zulassen, dass Sie auf diese Weise den Radikalen von links und rechts die Wähler zutreiben. Wir werden uns mit eigenen Konzepten einmischen. ({4}) Bleiben wir erst einmal bei den Zahlen. Unglaublich viel wurde erreicht, dank der Initiative der Menschen in den neuen Bundesländern, dank der Hilfe aus Westdeutschland und dank der alten Bundesregierung unter Helmut Kohl. ({5}) Wir dürfen aber am Ernst der derzeitigen Lage nicht vorbeireden, so wie es Staatsminister Schwanitz gerade getan hat. Während die Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist wie in Westdeutschland, beträgt das Gesamtsteueraufkommen je Einwohner weniger als 30 Prozent von dem der westdeutschen Länder. In Westdeutschland wird jährlich mehr Vermögen vererbt, als in ganz Ostdeutschland vorhanden ist. Der teilungsbedingte Nachholebedarf bei der Infrastruktur wurde kürzlich von den führenden Wirtschaftsforschungsinstituten mit etwa 40 bis 45 Prozent berechnet. Das sind keine akademischen Zahlen. Sie zeigen vielmehr konkret den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern. Der Sachverständigenrat hat 1999 festgestellt, dass Personen- und Gütertransporte in den neuen Ländern durchschnittlich 20 Prozent zeitaufwendiger sind als in den alten Ländern. Die Zahlen sehen also nicht gut aus. Doch die Regierung hat auch hier Glück: Eine verantwortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzureden. Ich fordere Sie, Herr Bundeskanzler, aber auf: Nehmen Sie sich einmal ein paar Stunden Zeit und schauen sich diese Zahlen genau an! Herr Bundeskanzler, wir reden heute über Ihre Versäumnisse beim Aufbau Ost. ({6}) Der Wanderzirkus Ihres Kabinetts führt Sie meist nur zu den fein gedeckten Tafeln in den Staatskanzleien der neuen Länder. ({7}) Aber die Wirklichkeit ist sehr viel rauer. Um im Bild von vorhin zu bleiben: An unserem deutschen Haus ist das Dach am Westgiebel undicht geworden. Der Ostgiebel ist aber noch gar nicht gedeckt. Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt der Bauleiter. Bauen Sie dieses Haus Deutschland! Legen Sie die Pläne der Chefsache Aufbau Ost vor! Nennen Sie Ihr Ziel! Die Verringerung der Arbeitslosigkeit kann es ja nicht sein; denn dann hätten Sie hier und heute Ihr Scheitern eingestehen müssen. ({8}) Erst wenn Sie wissen, was Sie wollen, lohnt es sich, qualifizierte Handwerker zu beauftragen und den Baufortschritt zu kontrollieren. Setzen Sie die richtigen Prioritäten! Es reicht nicht aus, den Westgiebel zu streichen, wenn die Ostseite noch offen ist. Keinem in Deutschland ist geholfen, wenn unser Haus nur auf einer Seite bewohnbar ist. ({9}) - Das ist doch gerade unser großes Problem. Hören Sie einmal zu! Nie zuvor in den letzten zehn Jahren haben so viele Menschen in den neuen Bundesländern daran gedacht wegzuziehen. Die Prognose ist niederschmetternd: 1 Million Menschen in den nächsten zehn Jahren. Gerade die jungen und gut ausgebildeten Menschen verlassen Ostdeutschland. Leerstand und Geisterstädte in Ostdeutschland sind die Folge. Anders als 1990 gehen sie nicht nur nach Westdeutschland, sondern auch nach Übersee. Deutschland verliert viel zu viele gute Leute. Das ist die Realität, Herr Bundeskanzler. Da hilft es wenig, mit der Scheinlösung Green Card gute Leute aus Indien abzuwerben. Eines zeigt doch Ihre Kampagne auch: So attraktiv wie Deutschland einmal vor Jahrzehnten für jugoslawische Putzfrauen oder türkische Gemüsehändler war, ist es für indische Computerspezialisten lange nicht. Das hat Gründe. Deutschland ist im internationalen Vergleich keineswegs immer Spitze, sondern meist nur Mittelklasse. ({10}) Wenn einer aus dem Ausland rein will, dann darf er nicht. Das muss sich ganz schnell ändern. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum die Situation in den neuen Bundesländern besonders schlimm ist. Beim größten ostdeutschen Unternehmen, dem ostdeutschen Braunkohleverstromer VEAG - mit 6 500 Arbeitsplätzen von 20 000 Beschäftigten im Bereich der Braunkohlewirtschaft insgesamt - verfolgte die Bundesregierung offenbar eine Strategie im Interesse westdeutscher protagonistischer Anteilseigner. ({11}) Der Wirtschaftsminister hatte freie Hand, über ein Stabilisierungsmodell zu verhandeln, das fast ein Jahr Zeit kostete - wertvollste Zeit, die andere Unternehmen zur Marktpositionierung nutzen konnten. Bundeswirtschaftsminister Müller hat hier auf das falsche Pferd gesetzt. ({12}) Er kam zwar aus dem richtigen Stall, aber er lief auf der falschen Rennbahn. ({13}) Er wollte Atomausstieg mit Braunkohle verrechnen, aber hat dabei nicht beachtet, dass in der Politik nicht - wie in der Wirtschaft - die Bilanzen über die Macht, sondern die Macht über die Bilanzen entscheidet. Warum sollten denn die westdeutschen Energiekonzerne frühzeitig Zugeständnisse machen? Oder hat er wirklich gedacht, der grüne Koalitionspartner sei neben dem ideologisch begründeten Atomausstieg an einem tragfähigen energiepolitischen Gesamtkonzept interessiert? ({14}) Wir haben ausländische Unternehmen zur Übernahme der VEAG-Anteile bereits zu einem Zeitpunkt aufgefordert, als uns die Bundesregierung noch weismachen wollte, das sei gar nicht nötig. Der Wirtschaftsminister fehlt heute, daher muss ich mich an den Herrn Chefsachenkanzler wenden: Wie soll ich dieses Verhalten werten, grob fahrlässig oder bedingt vorsätzlich? Das ist eine Frage, auf die wir eine Antwort erwarten, und zwar nicht hier, sondern in Form von Ergebnissen. Wer verhandelt eigentlich mit den Wettbewerbsbehörden und bemüht sich, dass ein großes Regionalversorgungsunternehmen mit abgegeben werden muss, damit die VEAG einen eigenen Zugang zu den Kunden erhält? Sorgen Sie dafür, dass - nachdem 1990 den westdeutschen Stromkonzernen erlaubt wurde, die DDR-Staatsmonopolisten unter sich aufzuteilen - wenigstens ein international wettbewerbsfähiges Stromunternehmen in Ostdeutschland übrig bleibt. ({15})) Wir erwarten nicht Geld von Eichel, um die VEAG als eigenständiges Unternehmen zu erhalten, sondern einfach Engagement der Bundesregierung. ({16}) Der Aufbau der neuen Länder braucht endlich wirksame Impulse. Ein West-Ost-Gefälle kann nicht hingenommen werden. Dies ist ein Zitat aus dem Arbeitsprogramm der Bundesregierung von 1999. Schön, dass wir in dieser Aussage übereinstimmen. Doch, wie gesagt, nicht an ihren Worten, sondern an den Taten sollt ihr sie erkennen - und die Bilanz fällt eindeutig aus!

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Luft?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt erst einmal nicht. ({0}) Wollten Sie zur VEAG fragen, Frau Luft? ({1}) - Gut, dann bitte.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Nooke, wie ist Ihre Position zu der aus den Reihen des Arbeitnehmerflügels der Christlich-Demokratischen Union erhobenen Forderung - geäußert neulich von Ihrem Parteikollegen Eppelmann -, recht bald eine Ost-West-Angleichung bei den Löhnen herbeizuführen? Ist das in Ihrer Fraktion inzwischen Mehrheitsposition oder ist das eine Einzelmeinung, mehr auf - was man immer uns vorwirft - populistische Wirkung gemünzt? Wie ist Ihre Meinung dazu?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Kollegin Luft, das ist eine ernst zu nehmende Position in unserer Fraktion. Nur, ich rede hier nicht über das Verteilen, sondern über den Standort Ostdeutschland und über Wirtschaftspolitik. ({0}) Deshalb müssen wir die Löhne im produktiven Bereich immer mit im Blick haben. Meine Damen und Herren, da ich so etwas vermutet habe, lassen Sie mich noch einmal ausführen, was „belasten“ hier eigentlich heißt. Sinnbild dafür ist doch die Ökosteuer. Hunderttausende von Pendlern in den neuen Bundesländern werden dadurch tagtäglich zusätzlich belastet, weil sie weite Wege zurücklegen müssen. Die Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt fordern auch heute noch diesen hohen Tribut. Immerhin sind heute 80 Prozent der Menschen im Osten nicht mehr dort beschäftigt, wo sie vor der Wende beschäftigt waren. Die Menschen wollen bei ihrer Flexibilität aber nicht überproportional durch höhere Spritkosten belastet werden. Auch dort könnte man den Menschen helfen. Ebenfalls nicht vergessen sind überproportionale Belastungen im Bundeshaushalt 2000, die der Osten zu tragen hat. Dies nennt die Bundesregierung „wirksame Impulse“. Wie soll es weitergehen? Die Pressespatzen pfeifen es bereits von den Dächern: Mit dem Thesenpapier des Bundesfinanzministers „Aufbau Ost - Perspektiven der Förderung durch den Bund“ sollen weitere Programme für die neuen Länder zurückgeführt werden. Aufbau Ost verkommt zunehmend zum Rückbau Ost. Wenn dies nicht der Wahrheit entsprechen sollte, fordere ich den Bundesfinanzminister auf, zu bestätigen, dass es mit ihm bis zum Jahre 2004 keine weiteren Kürzungen beim Aufbau Ost geben wird. Ich sage Ihnen bereits jetzt: Der Bundesfinanzminister wird eine solche Zusage nicht geben. Noch eine klare Bemerkung zum Sparen, weil mich das gestern wirklich geärgert hat. ({1}) Wir waren und sind nicht gegen das Sparen. Im Gegenteil, die Vorschläge der Unionsfraktion hätten sogar zu weniger Ausgaben im aktuellen Haushalt geführt als die Maßnahmen der Bundesregierung. In den 80er-Jahren wuchs unter Unionsführung der Schuldenstand des Bundes deutlich langsamer als in den 70er-Jahren und auch langsamer als der Schuldenstand in den Bundesländern. ({2}) - Das ist völlig richtig. - Aber Herr Eichel hat hier noch etwas anderes erwähnt: Sie haben nämlich so getan, als hätten Sie das Sparen erfunden. Aber was er tut, ist nichts anderes, als die deutsche Einheit immer wieder schlechtzureden. ({3}) - Hören Sie doch mal zu! Er hat in der Steuerreformdebatte gefragt: Was werden unsere Kinder sagen, wenn sie 2010 deutlich mehr Schulden haben als beispielsweise dänische Kinder? Ich kann Ihnen die Antwort geben. Unsere Kinder werden sagen: Wir beteiligen uns gern am Schuldenabbau. Ihr habt 1990 mit der deutschen Einheit die richtige Entscheidung getroffen. Meine Kinder werden noch hinzufügen: Sonst wäre unsere Reise nach Amerika nämlich an Mauer und Stacheldraht hier kurz vor der Tür schon gescheitert. ({4}) Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Es ist wahr, dass wir für die Wiedervereinigung und die damit verbundenen Kosten Schulden gemacht haben. Ich bereue keine einzige Mark für den Aufbau Ost. Ich kenne niemanden in der Union, der diese Ausgaben bereut, selbst wenn wir mit dem Wissen von heute sagen, vielleicht wäre das eine oder andere auch effizienter gegangen. Wir haben keinen Unsinn finanziert. Wir haben nach all den großen deutschen Misserfolgen - und davon gibt es genug - das größte, sinnvollste und friedlichste Projekt finanziert, das Deutschland im 20. Jahrhundert jemals mit eigener Kraft betrieben hat. ({5}) Wir haben etwas zu reparieren versucht, was zuvor zwei Diktaturen in Deutschland angerichtet haben. Die deutsche Einheit ist deshalb keine Schuldenlast, sie ist eine historische Investition in die Zukunft Deutschlands und eines neuen Europa. Wir sind noch beim Stichwort „belasten“. Auf der Einnahmeseite will der Bundesfinanzminister beispielsweise die Preise für Bundeseigentum massiv erhöhen und damit den gleichen Effekt erzielen: Mehreinnahmen für die öffentliche Hand und Belastungen für die Bürger. Konnten Erwerber von land- und forstwirtschaftlichen Flächen in den neuen Ländern noch bis Ende 1998 Flächen um bis zu 65 Prozent verbilligt erwerben und damit sowohl die Nachteile der Vergangenheit ausgleichen wie auch den Aufbau landwirtschaftlicher Betriebe stützen, so schneidet die Bundesregierung nunmehr dieses Programm auf maximal 35 Prozent zurück. Selbst in bereits abgeschlossene Kaufverträge wird eingegriffen. ({6}) Noch ein konkretes Beispiel: „Chancen verspielt“. Deutschland profitiert vom Export, so die führenden Wirtschaftsinstitute in ihrem aktuellen Frühjahrsgutachten. Der schwache Euro trägt - ob gewollt oder ungewollt dazu bei. Die wesentlichen Zahlen sind bekannt, aber ich will sie wiederholen: Die Prognose für Deutschland liegt mit 2,8 Prozent pro Jahr merklich unter den Wachstumsraten Europas. Was die Bundesregierung als Erfolg feiert, ist in Wahrheit die weitere Abkoppelung vom europäischen Wachstumspfad. Es kommt schlimmer: Es ist in Wahrheit vor allem auch die weitere Abkoppelung Ostdeutschlands von den gesamtdeutschen und weltwirtschaftlichen Chancen. Denn das ostdeutsche Wachstum wird 2000 und 2001 weit unter den 2,8 Prozent für Gesamtdeutschland liegen. Nach den bescheidenen 1,2 Prozent in den ostdeutschen Flächenländern im Jahre 1999 wird das Inlandsprodukt wohl durchschnittlich nur um 2 Prozent in 2000 zunehmen. Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt in Spanien wird mit 3,9 Prozent ungefähr doppelt so stark steigen wie das in Ostdeutschland. In Portugal sind es 3,5 Prozent, 4,8 Prozent in Polen und 5 Prozent in Ungarn. Sind ostdeutsche Arbeiter schlechter als Portugiesen oder Polen? Ganz sicher nicht. ({7}) Die Bundesregierung koppelt Ostdeutschland nicht nur von Westdeutschland, sondern genauso von Europa ab. Eigentlich wollten die Menschen in den neuen Bundesländern den Abstand zum Westen verringern und nicht von Polen eingeholt werden. Die neuen Länder müssen also stärker am Exportboom teilhaben; da sind wir uns sicher einig mit der Bundesregierung. Der Anteil der neuen Länder am gesamtdeutschen Außenhandelsumsatz ist aber mit circa 6 Prozent weiter viel zu niedrig. Im verarbeitenden Gewerbe liegt der Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz bei nur 18 Prozent. Damit ist er um die Hälfte niedriger als die vergleichbare Exportquote westdeutscher Unternehmen. ({8}) Westdeutschland ist Exportweltmeister, Ostdeutschland spielt in der Regionalliga. Da wirkt es schon zynisch, wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung letzte Woche gesagt hat: Lasst uns ein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Exportwirtschaft gut geht. ({9}) Die frühzeitige Stärkung des ostdeutschen Exportes hätte zu einer wesentlich stärkeren Partizipation Ostdeutschlands geführt. Ich erinnere an den Antrag unserer CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Absatzförderung Ost, den wir zuerst vorgelegt haben. ({10}) Bereits 1999 wurde die Entwicklung verschlafen. Die Weichen wurden falsch gestellt, bei der EU-Osterweiterung wurden keine klaren Aussagen getroffen. Da muss man sich über die negative Wirtschaftsentwicklung in Bezug auf die mittel- und osteuropäischen Staaten nicht wundern. Betrug der Export 1998 noch 98 Milliarden DM, so betrug er im Jahre 1999 nur noch 84 Milliarden DM. Was ist zu tun, um den Aufbau Ost wieder voranzubringen? Die Zahlen in den Ländern des Ostens Deutschlands sind nicht gut. Aber das Ziel kann nur eine sich selbst tragende Wirtschaftsentwicklung sein. Heute fehlende Investitionstransfers sind schon morgen Sozialtransfers. Die neuen Länder bleiben auf absehbare Zeit eine große nationale Herausforderung, eine Aufgabe, die Regierung und Opposition gleichermaßen fordert. Wir sind bereit, mit Ihnen zusammen Bilanz zu ziehen und aus den Erfahrungen der letzten zehn Jahre die richtigen Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Wir wollen keine Gegensätze konstruieren, wo keine sind, sondern klare Schwerpunkte setzen. Ganz kurz die wichtigsten Punkte. Wir brauchen eine Förderpolitik aus einem Guss. Die Leistungen für die neuen Länder, die Staatsminister Schwanitz in der Liste zusammengefasst hat, müssen im kommenden Haushalt erhalten bleiben. Mit Mogelpackungen sollte es erst gar nicht versucht werden. ({11}) Wir sollten uns zunehmend von der Vorstellung trennen, der Osten müsse den Westen kopieren und ihn dadurch einholen. Wer ständig Vergleiche zieht und merkt, dass der Abstand sogar größer wird, fällt weiter zurück. Diese auch mentale Sperre muss überwunden werden. Vielleicht stimmt die Formel „Überholen, ohne einzuholen“ ja doch. Wir erleben den Wechsel von einer Industriezu einer Wissens- und Ideengesellschaft. In diesem Prozess müssen wir neue Ziele definieren; industrielle Leuchttürme bleiben wichtig, Hightech-Signale sind genauso notwendig. Es geht darum, in den Zukunftsbereichen sowohl schneller als auch besser zu sein. Das mag unrealistisch klingen; aber nur wer das Unmögliche anstrebt, kann das Mögliche erreichen. Gleichwohl braucht eine solche Förderpolitik auch künftig ein solides Fundament. Die Zahlen zu Beginn haben es deutlich gemacht: Investitionen in die Infrastruktur sind das A und O. Investitionen in Straßen, Schienen, Datenautobahnen bleiben für eine Volkswirtschaft überlebensnotwendig. Sie stärken den Standort Ost und regen zu neuen Ansiedlungen an. Haben Sie den Mut, Herr Bundeskanzler, künftig weniger Geld für den zweiten und dritten Arbeitsmarkt und mehr für den ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen! ({12}) Die Menschen verdienen echte Perspektiven in Dauerarbeitsplätzen. ({13}) Die Luftbuchungen bei der Bundesanstalt für Arbeit kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Wirklich neue Arbeitsplätze schafft nämlich nur die Wirtschaft. ({14}) Diesen Punkt halte ich für äußerst wichtig. Wir sollten den Bürgern nicht den Eindruck vermitteln, die öffentliche Hand allein könne mit Steuergeldern den weiteren Aufbau der neuen Bundesländer bewältigen. Die Politik kann Impulse geben, sie kann anregen und überzeugen. Aber sie kann und darf sich nicht auf die Rolle des Heilsbringers festlegen lassen. Wir brauchen die Unterstützung der Wirtschaft, vor allem die der eigenen westdeutschen Wirtschaft. Ich bin mir hier nicht zu schade, auch zu sagen: Wir müssen an den Patriotismus der Unternehmer in Deutschland appellieren. ({15}) Bundeskanzler Kohl hatte diesen entscheidenden Ansatz bereits 1993 erkannt, als er die Wirtschaft für den Solidarpakt I mit an den Tisch geholt und dort Zusagen zugunsten des Ostens erhalten hat. Wir brauchen eine Einkaufsoffensive nicht nur für ostdeutsche Produkte, sondern zum Beispiel auch für ostdeutsche Dienstleistungen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, Sie sind jetzt schon weit über die Redezeit. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen. ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gab ja eine Zwischenfrage. Ich möchte das noch zu Ende führen: Wir müssen Dienstleistungen, Anwaltsleistungen und auch Versicherungsleistungen in Ostdeutschland einkaufen. Ich lasse aufgrund der fortgeschrittenen Zeit die anderen Punkte, die ich noch nennen wollte, weg. ({0}) Ich möchte aber an dieser Stelle noch auf Folgendes deutlich hinweisen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, ich muss Sie wirklich bremsen. Sie hatten eine reichliche Redezeit und die ist jetzt vorbei. ({0})

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir müssen das nächste Mal über die in den neuen Bundesländern im Bildungsund Studienbereich bestehenden Fehlentwicklungen sprechen. Da sehen die SPD-geführten Länder ganz schlecht aus. ({0}) Während die CDU-geführten Länder das Abitur nach zwölf Jahren übernommen haben, haben die SPD-geführten Länder Wettbewerbsvorteile leichtfertig aus der Hand gegeben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, ich muss Sie noch einmal erinnern.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich höre auf. Ich möchte als Letztes einen Vorschlag machen: ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, ich möchte Ihnen nicht unbedingt das Mikrofon abschalten. Deshalb wäre es gut, Sie würden von sich aus das Rednerpult verlassen.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann bedanke ich mich für Ihre Aufforderung. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Schubert, SPD-Fraktion.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nooke, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede wörtlich gesagt - ich zitiere -: „Eine verantwortliche Opposition hat kein Interesse daran, den Standort neue Bundesländer kaputtzureden.“ Ich stelle nach Ihrer Rede fest: Sie haben weiter nichts getan, als den Standort Ost schlechtzureden. ({0}) Sie haben nicht nur den Standort Ost schlechtgeredet, sondern auch die gesamte Debatte ideologisiert. Sie sind aufgrund Ihrer ideologischen Vorprägung nicht bereit, das, was der Kanzleramtsminister im Hinblick auf die Daten und Fakten in Ostdeutschland gesagt hat, positiv zu würdigen. Ich verlange von Ihnen als Opposition nicht, dass Sie Hurra schreien. Wenn Sie aber von uns und übrigens auch vom Bundeskanzler ({1}) als Gesprächspartner ernst genommen werden wollen, dann verlange ich von Ihnen, dass Sie zumindest die Fakten zur Kenntnis nehmen. Das war der erste Punkt. Ein zweiter Punkt - er passt übrigens zu der ideologisierten Unverantwortlichkeit, die Sie hier zum Besten gegeben haben -: Ich war gespannt auf Ihre Antwort auf die von Ihnen gestellte rhetorische Frage: Was ist zu tun? Was Sie in diesem Zusammenhang ausgeführt haben, verehrter Herr Nooke, war außer lauer Luft und der Aussage, dass die Politik nicht zuständig sei - auch das habe ich gehört - der Hinweis: Wir machen weiter so, wie das Herr Kohl begonnen hat. Genau das ist ein wesentliches Problem dafür, weshalb wir zurzeit in Ostdeutschland nicht nur glänzen, sondern auch vor schwierigen Situationen stehen. Wenn Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen neue Wege eingeschlagen und neue Strategien ergriffen haben, die zu wirken beginnen, dann sind Sie für uns - es tut mir wirklich Leid - ein unverantwortlicher Oppositionspolitiker, mit dem sich im Grunde genommen ein Dialog nicht lohnt. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nooke, zur Erwiderung bitte.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie hätten mich ja ausreden lassen können - ich hätte nur noch eine Minute gebraucht -, dann wäre dies jetzt nicht nötig gewesen, Herr Schubert. ({0}) Ich habe ausgeführt, dass wir nicht einfach sagen können, die Bauwirtschaft gehe zurück, da wir in Ostdeutschland diese Investitionen zum einen für den Aufbau der Infrastruktur und zum anderen für die Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt und für höhere Wachstumsraten bräuchten. Wir brauchen keine neue Verteilungsdebatte, wie die Lohnangleichung aussehen muss. Vielmehr brauchen wir einen sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung. Ich habe Sie aufgefordert, im Hinblick auf all diese Punkte und auf den Export aus den vergangenen zehn Jahren die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aber was ich nicht machen kann, ist, die wirklich bedrückenden Zahlen schönzureden. Ich kann einfach nicht so tun, als sei das Problem Ostdeutschland mit dem Gefälle zwischen Nord und Süd in Westdeutschland zu vergleichen. Das ist nicht richtig. Herr Schubert, wir müssen uns klarmachen: Der Aufbau Ost ist eine nationale Herausforderung. Das sollte Ihre Fraktion der Bundesregierung deutlich machen. Es kann nicht sein, dass der Aufbau Ost so nebenher angegangen wird, keiner den zuständigen Staatsminister kennt und der Kanzler in diesem Zusammenhang immer den Eindruck erweckt, als sei er gelangweilt. ({1}) Es geht darum - davon bin ich sehr überzeugt -, zu verhindern, dass der Osten Deutschlands zum Mezzogiorno wird. Es wäre nett, wenn der Kanzler in diesem Sommer seinen Urlaubsaufenthalt von Positano nach Ostdeutschland verlegen ({2}) - das wäre doch gut - und sich dort einmal umschauen würde. Es gibt dort schöne Ecken. Aber es gibt noch unwahrscheinlich viel zu tun. Danke. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in der Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Günter Nooke, ich halte es für falsch, den Zustand der deutschen Einheit am Gesichtsausdruck des Kanzlers ablesen zu wollen. ({0}) Das war schon früher nicht möglich. Da hing alles, ({1}) obwohl es durchaus Aufwärtstendenzen gab. Aber ich glaube, es ist falsch, wenn man den Aufschwung Ost als eine politische Face-Lifting-Veranstaltung betrachtet. ({2}) Es handelt sich vielmehr um eine ernsthafte und anstrengende Angelegenheit, von der ich glaube, dass wir sie durch Parlamentsdebatten nicht allein voranbringen werden - damit enttäusche ich dich aufgrund deines gerade gezeigten Einsatzes vielleicht -; denn dies hängt von der Leistungsbereitschaft und der Tatkraft der Leute in den neuen Bundesländern und von den politischen Maßnahmen der Bundesregierung, auch dieser Bundesregierung, ab. Deshalb ist es nicht angebracht, alles pauschal in Bausch und Bogen zu kritisieren. ({3}) Es ist ein Pauschalvorwurf, wenn gesagt wird, diese Regierung habe kein Konzept. Ich kenne das, mir kommt das Ganze irgendwie sehr vertraut vor. ({4}) Manchmal habe ich den Eindruck, als hätten wir nicht nur unsere Rollen getauscht, sondern zugleich auch unsere Texte. ({5}) - Dass ich mich in meiner Kritik wiederhole, darf Sie doch wirklich nicht wundern. Einiges ist ja so geblieben; da muss noch nachgebessert werden. Anfang der 90er-Jahre war die Kritik, dass es kein Konzept gab, durchaus berechtigt. Aber mittlerweile gibt es ein Konzept. Und ein Bestandteil dessen ist, Günter Nooke, dass wir mit den erfolgreichen Teilen der alten Bundesregierung, die es ja gegeben hat - das stellen wir überhaupt nicht in Abrede -, fortfahren. ({6}) Zudem gibt es einen Reparaturplan, also einen Plan, was wir alles in Ordnung bringen, wo es Fehler und Fehlallokationen gegeben hat. Das ist Ihnen bekannt. Wir haben ja gerade bezüglich der Entwicklung der Kapazitäten in der Bauwirtschaft damit zu kämpfen, dass Kapital auf der grünen Wiese im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt worden ist. Die Überkapazitäten, dieser Normalisierungsprozess im Bauwesen, haben also mit den Fehlern der alten Bundesregierung zu tun. Und wir haben Ansätze, zum Beispiel die Konzentration auf Innovations- und Investitionsförderung. Hier gibt es völlig neue Gesichtspunkte. Ich bitte also zu berücksichtigen, dass diese Regierung ein gestrafftes neues Konzept hat. Wenn ich mir allerdings einige Ihrer Anträge anschaue, die heute zur Diskussion stehen, zum Beispiel den Antrag zur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, so muss ich feststellen, dass wir dies bereits 1995 gefordert haben. Damals haben Sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass es überhaupt einen solchen Bericht gibt. ({7}) Jetzt kann er nicht lange genug weitergeführt werden. Jetzt soll es ihn bis 2005 geben. Ich habe nichts dagegen. Aber wir dürfen bestimmte Dinge nicht durcheinander bringen. Ich erinnere an die Anpassung der Strompreise. Günter Nooke, wir haben doch in der Volkskammer gemeinsam gegen den Stromvertrag gekämpft. ({8}) Das ist doch die Ursache dafür, dass es zur Lex VEAG, dass es durch die erhöhten Strompreise zu einem Standortnachteil für ostdeutsche Betriebe gekommen ist. Womit wir es jetzt zu tun haben, ist das Abräumen von Fehlern der Regierung Kohl - um dies einmal ganz klar zu sagen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nooke? ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ein wichtiges Thema. Ich glaube nicht, dass sich die deutsche Stromwirtschaft mit Ruhm bekleckert hat, wenn es um die deutsche Solidarität zwischen Ost und West geht. Das will ich ganz deutlich sagen. Herr Kollege Schulz, es ist mir schon wichtig, dies zu sagen, auch da Staatssekretär Tacke jetzt hier ist: Dieses Jahr, das wir durch die VEAG verloren haben, weil ein unsägliches Stabilisierungsmodell umzusetzen versucht wurde, welches jetzt gescheitert ist, geht zu Ihren Lasten. ({0}) Stimmen Sie mir darin zu, Herr Werner Schulz, dass es nicht nur in der Vergangenheit Fehler gegeben hat, sondern dass es hier auch ganz konkrete Fehler der jetzigen Bundesregierung gibt?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Günter Nooke, was die ostdeutsche Stromwirtschaft anbelangt, so haben wir acht Jahre verloren. ({0}) Werner Schulz ({1}) Womit wir uns jetzt herumschlagen - ich wiederhole es -, sind die Fehler, die am Anfang gemacht wurden, indem im Grunde Monopolstrukturen erhalten und ausgeweitet worden sind, indem drei westdeutsche EVUs die gesamte ostdeutsche Stromwirtschaft übernommen haben, dieses Gebiet in gewisser Weise wie ein Sondergebiet behandelt worden ist und Wettbewerb überhaupt nicht möglich war. Wir haben jetzt einen neuen Ansatz der Privatisierung, um überhaupt ausländisches Kapital hereinholen und einen eigenständigen ostdeutschen Stromkonzern erst einmal aufbauen zu können. Das ist doch der Punkt. ({2}) - Ich kann mich nicht damit abfinden, dass man nicht mehr weiß, was man getan hat. Wir haben es doch mit der so genannten PSA-Formel - Privatisierung, Sanierung, Abwicklung - zu tun gehabt. ({3}) Dies ist häufig in einem Projekt, einem Betrieb erfolgt. Noch heute gibt es eine Schmierspur, die nach Leuna führt. Ich will gar nicht alles, womit wir zu tun haben, aufrollen. Wir haben, um einen Kalauer bzw. Kohlauer aufzugreifen, 1998 keine blühenden Landschaften übernommen, sondern eher eine Landschaft im Umbruch, im Zwielicht. Auf der einen Seite ging es um eine Verbesserung der materiellen Ausstattung der Lebensbedingungen. Das geht auf die alte Bundesregierung zurück. Da ist viel passiert; das kann niemand in Abrede stellen. Jeder, der die Städte im Osten besucht, weiß, was dort in Bezug auf den Städtebau und den Wohnungsbau geschehen ist, dass die Lebensbedingungen vorangebracht worden sind. Auf der anderen Seite erleben wir Defizite im Hinblick auf den Aufbau einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur. Das sind im Grunde genommen die Schwächen. Es ist auch müßig, immer wieder zu betonen, dass der Osten beim Wachstum zurückbleibt. ({4}) Das gilt dann, wenn man das gesamte Bruttoinlandsprodukt betrachtet. Dort ist das der Fall. Aber wenn man es differenziert betrachtet, Kollege Türk, sieht das anders aus: Wir haben zwar einen Rückgang in der Bauwirtschaft, aber wir haben zweistellige Wachstumsraten bei den interessanten, modernen Branchen, bei der IT-Branche, in der Medizintechnik, in der Biotechnik und anderen. Man muss sich das also schon etwas genauer anschauen. Es sind im Osten vor allen Dingen kapitalintensive Betriebe aufgebaut worden und weniger arbeitsintensive Betriebe. Das ist auch ein Grund dafür, dass es diese hohe Arbeitslosigkeit gibt. Ursprünglich waren es einmal 9 Millionen Beschäftigte, jetzt sind es noch 6 Millionen. Wir haben dort eine extrem hohe Arbeitslosenquote; sie ist doppelt so hoch wie im Westen, keine Frage. Wenn man verdeckte Arbeitslosigkeit mit einrechnet, haben wir eine Arbeitslosigkeit von etwa 25 Prozent. Allerdings gibt es auch eine wesentlich höhere Erwerbsquote, bezogen auf die Bevölkerungszahl. Auch das ist hochinteressant. Auch darüber muss man diskutieren. ({5}) - Nein, das habe ich immer betont, Paul Krüger. So ist es doch nicht. Das sind interessante Phänomene, die man nicht so einfach abtun kann. Man kann nur nicht sagen: Die Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen ist zu hoch; wenn es die nicht gäbe, könnten wir das Problem lösen. Das ist Ihr Ansatzpunkt; ihn teile ich nicht. ({6}) - Ich kenne diesen Ausdruck von Kurt Biedenkopf; es ist die Wahrheit. Er hat zusammen mit Meinhard Miegel die Auffassung vertreten: Wenn man die Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen wieder auf die drei Ks zurückdrängen kann, also Kinder, Kirche, Küche, dann ist die Sache geritzt und dann könnte man einen gewissen Gleichstand herstellen. ({7}) Was ich interessant finde - das sollte man vielleicht auch einmal betrachten -, ist dieAnnäherung bei den Realeinkommen in Ost und West. Wenn man sich den vorletzten Wochenbericht des DIW anschaut, wird man auf das interessante Phänomen stoßen, dass es in dieser Frage im Westen eher eine Rückentwicklung gibt. Die Zahl - soweit ich sie jetzt in Erinnerung habe - lag da im Schnitt bei 38 000 DM und ist jetzt auf etwa 37 000 DM zurückgegangen, während sie im Osten von 24 000 DM auf 30 000 DM gestiegen ist. Das heißt, es findet eine Angleichung der Einkommensverhältnisse und damit auch der Lebensverhältnisse statt. Man muss auch berücksichtigen, dass man im Osten heutzutage da und dort immer noch etwas preiswerter lebt. ({8}) - Vielleicht nicht da, wo Sie, Herr Jüttemann, herkommen; ich weiß es nicht. Wir leben im Moment im Osten auf einem Niveau, das 85 Prozent des Westniveaus entspricht. Das kann man sagen. Es hat eine Annäherung gegeben. Man sollte auch vorsichtig sein, inwieweit man die Forderung nach Angleichung der Löhne kurzfristig hochschrauben sollte, wie die PDS das beispielsweise tut. Das ist ein ambivalentes Problem. Im Moment ist das Lohnniveau im Osten ein Standortvorteil. Ich kann aber Werner Schulz ({9}) auch sehr gut verstehen, dass die Leute eine Perspektive brauchen, damit sie sehen können: Wie geht es weiter? Wie entwickeln sich die Löhne? Dazu sage ich: Schauen Sie sich beispielweise einmal den öffentlichen Dienst an. Wenn wir im öffentlichen Dienst Ihre Forderung, die Löhne anzugleichen, erfüllen würden, dann würde das zu Entlassungen führen; das müssen Sie fairerweise hinzufügen. Die Beschäftigtenquote im öffentlichen Dienst, bezogen auf 1 000 Einwohner, liegt im Westen bei etwa 20 Beschäftigten; in Sachsen sind es 23, in Sachsen-Anhalt 33 und in Brandenburg sind es, glaube ich, 27. Das heißt, die Zahlen im Osten liegen weit höher als im Westen. Das würde bedeuten, dass wir, wenn wir im öffentlichen Dienst im Osten zu vergleichbaren Kosten arbeiten wollten, einen Beschäftigungsabbau vornehmen müssten. Die gleiche Lohnsumme würde sich also auf weniger Beschäftigte verteilen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schulz, was ich bei Ihrer Argumentation nicht verstehe, ist, warum Sie nur von der Kostenseite her diskutieren. Es gibt ja zum Beispiel die gesetzliche Bestimmung, wonach jedem Kind ab dem dritten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zur Verfügung stehen muss. Dies ist in den alten Bundesländern bei weitem noch nicht erreicht, in den neuen Bundesländern konnte es zum Glück erhalten werden. Auch das ist eine Ursache dafür, dass die Quote im öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern höher ist als in den alten Bundesländern. Wenn Sie nur über die Kosten diskutieren und dabei völlig wegwischen, welche Aufgaben durch die öffentliche Hand erfüllt werden, kommen wir, so glaube ich, nicht zu einem sinnvollen Vergleich. Damit können wir die gesellschaftlichen Aufgaben, die anstehen, nicht bewältigen. ({0})

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das war mehr eine Feststellung, die ich nicht einmal widerlegen kann. Ich glaube bloß, dass die Garantie auf einen Kindergartenplatz nicht die hohe Beschäftigungsquote im öffentlichen Dienst auslöst. In diesem Fall haben Sie Recht, auf der anderen Seite ist es aber so, dass der öffentliche Dienst, dass die Verwaltungen im Osten einfach überbesetzt sind. Das wissen wir, das ist ein Problem. Bei den Lehrern wurde das Problem gelöst, indem die Lehrer im öffentlichen Dienst blieben und teilweise für weniger Geld arbeiten. Das ist eine kreative Lösung und man sollte sie nicht angreifen und sagen, sie müssten jetzt alle gleich bezahlt werden. Wir haben das auch deshalb gemacht, damit die Leute - das halte ich für den besseren Weg - in Beschäftigung bleiben und dafür auf einen gewissen Teil ihres Einkommens verzichten. ({0}) Wir haben eine positive Einkommensentwicklung - sie geht zwar manchen nicht schnell genug -, aber man muss aufpassen, dass sie nicht kontraproduktiv wird. ({1}) Wenn man sich die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen näher anschaut, sieht man, dass im Osten jährlich 15 000 bis 20 000 neue Arbeitsplätze hinzukommen. Das heißt, der Osten ist von der wirtschaftlichen Entwicklung überhaupt nicht abgekoppelt. Im Gegenteil: Das kommt in den nächsten Jahren noch besser zum Tragen. Das hat der Bundeskanzler letzte Woche in seiner Regierungserklärung bereits ausgeführt. Hier muss natürlich - ich will das jetzt nicht vertiefen, denn wir haben bereits gestern diese Diskussion geführt die Steuerreform, das Steuerentlastungsgesetz gewürdigt werden. Ich finde, es hat vor allen Dingen positive Auswirkungen auf den Osten. Der Osten gehört wirklich zu den Gewinnern des Steuerentlastungsgesetzes, und zwar nicht nur bei den privaten Einkommen. Dort ist das Gros der Entlastung zu erwarten, weil es im Osten überwiegend mittlere und kleine Einkommen gibt. Familien mit Kindern werden durch das erhöhte Kindergeld, die Existenzfreibeträge und die Senkung des Eingangssteuersatzes besser gestellt. Hier wirkt sich das Gesetz aus. Das DIW hat festgestellt - das wurde eingangs schon erwähnt -, dass das Realeinkommen der Haushalte zugenommen hat. Aber auch die kleinen und mittelständischen Betriebe im Osten sind im Vorteil. Es werden zum Beispiel, was von der CDU/CSU, so von Herrn Rauen, an anderer Stelle kritisiert wird, die reinvestierten Gewinne besser gestellt. Das, was hier vorgenommen wird, lohnt sich gerade für Existenzgründer, deren Kapitaldecke dünn ist. Das sind überwiegend Betriebe im Osten, für sie ist das rentabel. Das gilt genauso für die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. Auch das zahlt sich für viele aus; denn sie können das komplett absetzen. Die Steuerreform ist, wenn Sie so wollen, ein sehr mittelstandsfreundliches Konzept für den Osten. ({2}) Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die ostdeutschen CDU-Abgeordneten daran herumkritteln. Da haben sie selbst während der Regierungszeit von Helmut Kohl mehr Mut gehabt und sind hervorgetreten und haben ihre eigenen Interessen vertreten. Ich hoffe, dass zumindest die ostdeutschen Ministerpräsidenten, auch die der CDUregierten Länder, nicht gegen ihre eigenen Interessen im Bundesrat stimmen werden. ({3}) Werner Schulz ({4}) Denn wer gegen das Steuerentlastungsgesetz stimmt, der stimmt gegen das Wirtschaftswachstum im Osten, der spricht sich gegen die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus ({5}) und vertieft auf diese Weise auch die Spaltung zwischen Ost und West. ({6}) Ich würde Ihnen empfehlen, das noch einmal gründlich zu überlegen und Ihre Haltung zu revidieren. ({7}) - Darüber haben wir gestern schon ausführlich diskutiert. Ich will das hier nicht vertiefen, aber es ist tatsächlich so. Ihr Einwand, dass wir darüber reden müssen, erschüttert mich nicht sonderlich. Das tun wir doch hier. ({8}) Wir haben überhaupt keinen Grund, beim Aufbau Ost einen Gang zurückzuschalten, denn die Sache läuft relativ gut. Auf der anderen Seite ist uns klar, dass die Entwicklung noch auf hohe gesamtstaatliche Transfers angewiesen ist. Deswegen wird es in der nächsten Zeit auch darauf ankommen, dass wir einen neuen Solidarpakt schließen, damit das Föderale Konsolidierungsprogramm fortgesetzt wird. Anknüpfend an die Debatte zum vorherigen Tagesordnungspunkt Entwicklungshilfe möchte ich sagen: Auch hier gilt das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir müssen aufpassen, dass keine große Wunschliste zusammengestellt wird, die sich möglicherweise aus den Gutachten der fünf Institute ableitet und zur Folge hat, dass große Leistungen zur Erfüllung dieser Ansprüche erbracht werden müssen. Wir müssen uns die Entwicklung im Osten - auch hinsichtlich der Infrastruktur - genauer und differenzierter ansehen. In einigen Bereichen ist die Infrastruktur in den neuen Bundesländern mittlerweile moderner als in den alten Bundesländern, so zum Beispiel bei der Telekommunikation. Dort liegen Zukunftsinvestitionen unter der Erde. In anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Verkehrsinfrastruktur, hinken wir nach wie vor hinterher. Dort muss nachgerüstet werden. Dies bezieht sich nicht nur auf die 19 Verkehrsprojekte deutsche Einheit mit einem Volumen in Höhe von 65 Milliarden DM, übrigens von der alten Bundesregierung unterfinanziert. Deswegen haben wir hier auch so große Schwierigkeiten. Bei manchen Dingen müssen wir uns im Osten selbstkritisch an die eigene Nase fassen. Wir haben uns vielfach länger mit der Umbenennung einer Straße als mit ihrem Zustand und ihrer Qualität beschäftigt. Den Kommunen war es wichtiger, sich zu überlegen, wie eine Straße heißen sollte, als festzulegen, wie sie aussehen sollte. Es geht also darum, wie wir Fördermittel abrufen und wo wir sie einsetzen. Wir wissen, dass wir nach wie vor in das Bildungssystem investieren müssen. Die Bildungseinrichtungen, zum Beispiel die Schulen, sind nach wie vor in einem schlechten Zustand. Die Attraktivität der Hochschulen lässt noch zu wünschen übrig. Deswegen ist der Zulauf zu den ostdeutschen Hochschulen noch nicht befriedigend. Demgegenüber sind wir bei vielen weichen Standortfaktoren, was Dienstleistungen anbelangt, mittlerweile moderner als der Westen. Für den Abschluss des Solidarpaktes II kommt es sehr darauf an, ob der Osten in der Lage ist, zwischen seinen Wünschen und seinen Bedürfnissen zu unterscheiden, ob er seine Bedürfnisse genau benennt und ob er auf die Solidarität des Westens, der alten Bundesländer, bauen kann. Ich glaube, das Beste, was der Osten selbst leisten kann, ist die Konzentration auf Erneuerung, auf Innovation. Insofern finde ich es hochinteressant, dass der Innenminister von Sachsen einen Vorschlag zur Länderfusion unterbreitet hat. Er bezog sich nicht nur auf Berlin und Brandenburg, sondern er schlug vor, Sachsen, Thüringen und Teile von Sachsen-Anhalt zusammenzulegen. Ich weiß, dies führt zu großen Debatten. Dabei geht es um Identitäten, gewachsene Bindungen und dergleichen mehr. Aber wir müssen uns heute in diesem komplizierten Europa schon darüber verständigen, wie man Regionen in Deutschland wettbewerbsfähig und leistungsfähig machen kann, wie das Ganze zusammengefügt werden kann. Wir müssen auch überlegen, ob wir alles immer nur in Form eines hochkomplizierten Länderfinanzausgleichs regeln können, oder ob vieles nicht durch eine Länderfusion einfacher und kostengünstiger geregelt werden könnte. Hier kommen zumindest interessante Denkanstöße aus dem Osten. Ich glaube, damit und nicht durch ein Lamento auf schwachem Niveau kann er auf sich aufmerksam machen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um den Bericht zur deutschen Einheit. Dieser liest sich in Teilen wie ein Lamento oder eine Selbstbeweihräucherung, obwohl dies nicht sein Zweck ist. Es geht hier vielmehr um Fakten. Und ohne Fakten kann man die Ursachen nicht beseitigen, das heißt, wenn man sie nicht erkennt und benennt. ({0}) Aber dies setzt sich fort: In der vorigen Woche hat der Kanzler seine Regierungserklärung zur „modernen Wirtschaftspolitik“ abgegeben. Sie war eine einzige Beweihräucherung und Schönrederei. ({1}) Werner Schulz ({2}) Heute geht es mit dem Staatsminister so weiter. Ich glaube nicht, dass man den Aufbau Ost so betreiben kann. Ich glaube auch nicht, dass dies eine gute Voraussetzung für die Schaffung der deutschen Einheit ist, denn der Aufbau Ost ist nach wie vor eine Voraussetzung für die deutsche Einheit. Vieles, was negativ ist oder so ausgelegt werden könnte, taucht im Bericht nicht auf. Ich habe ihn mir wirklich sehr genau angesehen. Bei der Zahl der Patentanmeldungen beispielsweise gibt es zwischen Ost und West immer noch große Unterschiede. Dazwischen liegen Welten. Ein weiteres Beispiel: In dem Bericht findet sich kein einziges Wort darüber, dass im Sommer 1999 eine Haushaltssperre für alle vom Wirtschaftsministerium geförderten Forschungs- und Entwicklungsprogramme in den neuen Bundesländern verfügt wurde. Diese Sperre, dieses Hin und Her hat der ostdeutschen Forschungslandschaft geschadet. ({3}) Ungeachtet aller anders lautenden Beteuerungen setzt die Bundesregierung diesen Zickzackkurs in der Forschungsförderung auch jetzt noch fort. Auch in diesem Jahr wurde bereits eine Haushaltssperre von 6 Prozent verhängt. Das Weglassen solcher wichtiger Daten und Fakten im Bericht erinnert mich in fataler Weise an ein Argument aus Zeiten der alten DDR: Man darf dem politischen Gegner keine Munition liefern. - Das bringt uns aber wirklich nicht weiter. Die Folge ist, dass uns jetzt ein Bericht vorliegt, der nicht ausgewogen ist. Er liefert keine objektive Zustandsanalyse, die wir brauchen, ({4}) um beim Aufbau Ost gemeinsam voranzukommen. ({5}) Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen, dass die künftigen Berichte über die Entwicklung in Ostdeutschland deutlich differenzierter Auskunft geben. ({6}) Im Jahresbericht wimmelt es geradezu von Beteuerungen der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wolle, um den Aufbau Ost zu befördern. Aber Versprechen sind das eine, Taten das andere. Ein weiteres Beispiel: Zwar hat die Bundesregierung die von uns 1997 begonnene und 1999 ausgelaufene Fördermaßnahme „FUTOUR“ bis 2003 verlängert. Aber während wir damals für 200 Technologieunternehmen noch 500 Millionen DM zur Verfügung hatten, sehen Sie hier heute lediglich 140 Millionen DM vor. ({7}) Mit Sicherheit wird das nicht sehr viel weiterhelfen. Das reicht nicht. Wenn man also Entscheidungen wie diese trifft, dann braucht man sich wirklich nicht zu wundern, warum keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden ({8}) und das bei einer Arbeitslosigkeit von jetzt circa 20 Prozent im Osten. Legt man also an den Kanzler, der nicht da ist, die Latte an, die er für sich selbst zum Maßstab gemacht hat, nämlich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, dann hat er die Latte im Osten gerissen, denn im letzten Jahr gab es im Osten fast 55 000 Menschen mehr ohne Arbeit. Darüber kann man natürlich nicht mit einem einfachen „Weiter so“ hinweggehen, sondern man muss untersuchen, wie man das ändern kann. ({9}) Wenn man die verdeckte Arbeitslosigkeit, die heute schon angesprochen worden ist, hinzurechnet, dann sieht es natürlich noch schlimmer aus. Ihr Ausweg ist: Wir legen beim zweiten Arbeitsmarkt etwas drauf. Ich glaube, das ist ein Schuss, der inzwischen wirklich nach hinten losgeht. ({10}) Um sachlich zu bleiben: Der zweite Arbeitsmarkt ist ja von uns allen als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gedacht. Man muss ganz realistisch feststellen, dass das nicht mehr aufgeht. 5 Prozent kommen in den ersten Arbeitsmarkt, und diejenigen, die im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, belasten den ersten. Das ist kontraproduktiv. Da muss man sich wirklich - ich bin dafür, dass wir das gemeinsam machen - überlegen, wie man das ändern kann. ({11}) Die Regierung ist aufgefordert, dafür zu sorgen, dass am ersten Arbeitsmarkt Arbeitsplätze entstehen - das ist ja ihre generelle Aufgabe -, und die entsprechenden notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die gestern verabschiedete ungerechte Steuerreform so will ich sie einmal bezeichnen - kann es nicht sein. Trotz gegenteiliger Behauptungen, die heute immer wieder vorgetragen wurden, belastet sie die Kleinen und Mittleren. ({12}) Das kann natürlich nicht die Rahmenbedingung sein, in der der Aufbau Ost vorangebracht werden könnte. ({13}) Aber es gibt ja noch Chancen. Die Entscheidung über die Steuerreform steht bald im Bundesrat an. Wir haben zum Beispiel den Brandenburger Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, der sich dafür einsetzen will, dass hier nachgebessert wird. Ich meine, Sie bessern ja ohnehin schon ständig nach. Warum dann nicht auch an dieser Steuerreform, um das einmal wieder auf die Füße zu stellen? ({14}) Die Stunde der Wahrheit kommt bald im Bundesrat. Außerdem sind wir der Meinung, dass insbesondere Ostdeutschland ein flexibles Tarifvertragsrecht braucht. ({15}) Das ist natürlich für ganz Deutschland eine sinnvolle Forderung, aber insbesondere für den Osten, denn dort gibt es kein Tarifvertragsrecht mehr, weil keiner mehr daran teilnimmt. Wir haben dort also einen totalen Wildwuchs. 40 Prozent der Unternehmen sind noch dabei. Ich kann Sie namens der F.D.P. nur auffordern, dort wieder Ordnung zu schaffen, damit der Flächentarif im Osten nicht völlig verschwindet. Hier muss endlich etwas gemacht werden; er muss reformiert werden. Dass wir bei den Lohnzusatzkosten eine Entlastung brauchen, ist klar. Es muss also schnell etwas in Sachen Rentenbeitragspunkte gemacht werden. Das kann man nicht auf das nächste Jahr verschieben und hier, wie so oft, auf das Bundesverfassungsgericht warten. Wir müssen uns schneller einigen und dürfen das Thema nicht endlos verschieben, wie wir es bei der Steuerreform erlebt haben. Ostdeutschland braucht, Herr Staatsminister Schwanitz, auf keinen Fall die Ökosteuer, ({16}) die kleine und mittlere Unternehmen, besonders im Transportgewerbe, in ihrer Existenz gefährdet. Man kann nicht immer sagen - das ist totaler Unsinn -, dass sie insbesondere dem Osten etwas bringe. Man muss das mal untersuchen und sich mit den Leuten, die davon betroffen sind, unterhalten und fragen, ob das wirklich so ist oder ob man nicht doch etwas anderes machen müsse. Warum, Herr Schwanitz, haben Sie solche den Aufbau Ost gefährdenden Belastungen zugelassen? Es ist doch Ihre Aufgabe, keine Maßnahmen zuzulassen, die insbesondere den Osten belasten. Denn für den Osten war gerade Entlastung und nicht zusätzliche Belastung angesagt. Oder hatten hier etwa die Grünen das Sagen? Nein, Herr Schwanitz, Gesundbeten und Schönreden - so habe ich das heute empfunden -, wie Sie das auch heute wieder in der „Freien Presse“ betrieben haben, bringt den Aufbau Ost nicht weiter. Es ist doch nicht Ihre Aufgabe, auf ein Wachstum im Jahre 2002 - so steht es im Interview - zu verweisen, das zufälligerweise ein Wahljahr ist. Wir müssen jetzt etwas tun, damit der Aufbau Ost nicht abgehangen wird. ({17}) Es stellt sich außerdem die Frage, warum der „Bericht über gesamtwirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsfortschritte in Ostdeutschland“ - so etwas gab es einmal - von der Bundesregierung 1999 abgeschafft wurde. Etwa deshalb, weil es keine Fortschritte mehr gibt? Oder deshalb, weil darin festgestellt wurde, dass die Kapitalausstattung der Arbeitsplätze erst 70 Prozent des Westniveaus erreicht hat? Das hat natürlich etwas mit Arbeitsproduktivität zu tun. Wenn ich nur 70 Prozent der Kapitalausstattung habe, ist es schwer, die gleiche Arbeitsproduktivität zu erreichen. Sie machen sich und uns etwas vor, wenn Sie die Industrie mit einem Wachstum von 6 Prozent als Hoffnungsträger aufbauen. Sie haben davon gesprochen, dass das Wachstum im letzten Quartal einen zweistelligen Wert erreicht habe. Aber eine Schwalbe - sprich: ein solches Quartalsergebnis - macht noch keinen Sommer. Darauf kann man nicht bauen. Lassen Sie die konjunkturelle Lage in der Welt ein bisschen einbrechen - und schon bricht Ostdeutschland wieder weg. Warum wird die Misere in der ostdeutschen Bauwirtschaft nicht analysiert? Wir reden zwar immer davon, dass es sie gibt, aber man muss sie doch auch einmal analysieren und die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Ich habe erwartet, dass das in dem „Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit“ geschieht. Sich hier hinzustellen und zu sagen, dass sich der überhitzte Bausektor wieder abkühlen müsse, ist doch eine billige Aussage, die nicht weiterhilft. Ich weiß auch, dass der Bausektor etwas überhitzt war. Aber man muss natürlich nach Lösungen suchen. Das muss man insbesondere dann, wenn man weiß, dass ein investitionshemmendes Infrastrukturloch von 300 Milliarden DM besteht. Es ist also nicht nach einer Beschäftigungstheorie für die Bauwirtschaft zu suchen; vielmehr müssen wir hier erst einmal diese 300 Milliarden DM aufbringen. Sparen und Schuldenabbau sind wichtig. Das unterstützen wir auch weiterhin. Wenn aber der Aufbau Ost rückläufig ist, dann werden Sie aus dem Sparstrumpf bald das Doppelte herausnehmen müssen. Das kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein. Im Übrigen: In den immer leerer werdenden Plattenbausiedlungen tickt eine Zeitbombe. Das muss man bei dieser Gelegenheit sagen. Hier steht neben der Altschuldenbefreiung eine umfassende Wohnumfeldverbesserung, einschließlich eines schonenden Rückbaus, an. Das alles sind sinnvolle und notwendige Leistungen für die Not leidende Bauwirtschaft. Es geht hier also nicht um Beschäftigungstheorie, sondern um sinnvolle Arbeit. Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Betreuung neu gegründeter und bereits länger am Markt vorhandener kleiner und mittlerer Unternehmen durch die Hausbanken. Hier sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht nach dem Vorbild der Deutschen Ausgleichsbank Förderbanken Leistungen, einschließlich qualifizierter Beratung, aus einer Hand anbieten. Zum Schluss fordere ich Sie auf: Verhindern Sie, dass die Zahl der Großbetriebe in Ostdeutschland noch weiter abnimmt - dort gibt es schon jetzt zu wenige -, indem Sie den ostdeutschen Kohle- und Energieversorgern bei der Suche nach neuen Anteilseignern und deren Etablierung mehr als bisher helfen. Hier muss ich Sie, Herr Schwanitz, fragen: Wo waren Sie? Das ist unser letztes großes Vorhaben; denn nur eine zügige Entflechtung wird zu stabilen und wettbewerbsfähigen Unternehmen führen. Die Chance ist da! Als Cottbuser sage ich Ihnen: Wir brauchen ostdeutsche „Energie“, aber in der Ersten Bundesliga. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Türk, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, dass das ein echter Beitrag zur deutschen Einheit wäre. Ich sage Ihnen allen: Glück auf! ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt für die SPD-Fraktion die Kollegin Jelena Hoffmann.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich zu Hause in meinem Wahlkreis in Chemnitz bin und mit den Menschen rede oder Betriebe besuche oder einfach durch die Stadt gehe, dann bin ich stolz auf das, was wir in den letzten zehn Jahren erreicht haben. ({0}) Wir haben bei weitem noch keine blühenden Landschaften, außer vielleicht zu dieser Jahreszeit im Erzgebirge. Ich weiß, dass für viele die Angleichung der Verhältnisse in Ost und West noch viel zu langsam vorankommt. Aber die Veränderungen sind klar und deutlich erkennbar. Wer diese nicht sieht, der ist wirklich blind, Herr Nooke. Das, was wir schon aufgebaut haben, kann sich sehen lassen. Ich möchte an dieser Stelle auf Ihre Rede eingehen, Herr Nooke. Ich habe Sie oft im Ausschuss reden gehört. Aber heute haben Sie mich unheimlich enttäuscht. Ich habe vier Jahre beobachtet, wie Ihre Fraktion den Wirtschaftsstandort Deutschland im Deutschen Bundestag schlechtgeredet hat. ({1}) Jetzt machen Sie das mit Ostdeutschland. Dann wundern Sie sich auch noch, dass die Menschen aus Ostdeutschland weggehen. Ich glaube nicht, dass dies ein guter Beitrag für die Einheit von West- und Ostdeutschland ist. ({2}) Ich möchte wiederholen: Das, was wir aufgebaut haben, kann sich sehen lassen. In den neuen Ländern stehen die produktivsten Automobilfabriken. Durch zahlreiche Unternehmensgründungen sind neue und meistens leistungsfähige Strukturen entstanden. Über 530 000 Unternehmen sind aufgebaut worden. Dort arbeiten mehr als 3,2 Millionen Menschen. Die Produktivität ist stetig gestiegen. Beim Aufbau eines modernen Kapitalstocks ist die ostdeutsche Wirtschaft ein gutes Stück vorangekommen. Die Infrastruktur wurde erheblich verbessert. Wir haben schon vieles geschafft. Darauf können und müssen wir auch stolz sein, Herr Nooke. Dennoch müssen wir in vielen Bereichen deutlich zulegen. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner dürfte in Ostdeutschland erst bei circa 60 Prozent des westdeutschen Niveaus liegen. Die niedrigen Löhne im Osten bedeuten meiner Meinung nach - darüber kann man sehr kontrovers diskutieren - einen direkten Kaufkraftverlust für die meistens regional agierende einheimische Wirtschaft. Die industrielle Basis ist noch immer nicht ausreichend. Die noch immer zu hohen Arbeitslosenzahlen sind ein Beleg für viele ungelöste Probleme. Dieses Feld muss mit Nachdruck bearbeitet werden. Dabei werden wir und die Bundesregierung die ostdeutschen Betriebe auch weiterhin nach Kräften unterstützen. Staatliche Förderungen sind in vielen Bereichen noch immer unerlässlich, zum Beispiel bei Investitionen und Innovationen sowie bei Existenzgründungen. Die Investitionsförderung bleibt auch weiterhin der Schwerpunkt der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern. Deshalb haben wir die I-Zulage zuerst auf 10 Prozent bzw. für kleine und mittlere Unternehmen auf 20 Prozent verdoppelt und dann noch einmal um 25 Prozent erhöht. Zur gezielten Förderung des Mittelstandes kann man an drei Punkten des „betrieblichen Lebenszyklus“ anknüpfen: an der Förderung von Existenzgründungen, an der Wachstumsphase und schließlich an der Übergabe an einen Nachfolger. Der erste Aspekt - Existenzgründung - ist gerade für den Aufbau stabiler wirtschaftlicher Strukturen in den neuen Ländern von ganz entscheidender Bedeutung. ({3}) Wir brauchen unbedingt mehr Mut, mehr Engagement und mehr Unternehmenskultur, um ein solides Fundament für nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Doch oft reichen Mut und Engagement nicht aus. Oft braucht man auch finanzielle Unterstützung. Besondere Akzente setzen wir bei der Stärkung von Innovationsfähigkeit und Forschungskompetenzen. Neben Programmen wie PRO INNO, Inno-Net, BTU, Inno-Regio - ich hoffe, Sie, liebe Oppositionskollegen, haben noch nicht vergessen, dass wir trotz aller Sparzwänge für die Folgejahre in diesem Bereich eine „Zukunftsmilliarde“ vorgesehen haben - möchte ich besonders das Programm FUTOUR ansprechen. Zu den beiden Anträgen von CDU/CSU und PDS, die heute unter anderem beraten werden, möchte ich sagen: Es sieht ganz danach aus, als wäre der Schuss nach hinten losgegangen, da wir das, was Sie fordern, bereits machen, und zwar auf ökonomisch vernünftige Weise. ({4}) Wir haben die richtige Entscheidung getroffen, indem wir das Programm FUTOUR über das Haushaltsgesetz 2000 verlängern. Wie ich aus dem Wirtschaftsministerium erfahren habe, ist das Programm sehr erfolgreich angelaufen. Bislang sind 180 Betriebe in den Genuss von FUTOUR gekommen. Die Berliner, vor allen Dingen die Ostberliner, können sich besonders freuen, weil in Ostberlin 55 Unternehmensgründungen realisiert worden sind. In Sachsen wurden 38 und in Sachsen-Anhalt 29 neue Unternehmen gegründet. Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen, dass zum Beispiel in meinem Wahlkreis Chemnitz Verfahren in Lasertechnik entwickelt wurden und dass weltweit agierende Hightechunternehmen im Bereich optischer Prüf- und Messtechnik entstanden sind. In Zwickau ist ein weltweit neues System zur Nutzung der Energie bei Luftaustauschprozessen erfunden worden. Ich möchte Sie fragen: Wissen Sie, was SynotecPsychoinformatik ist? Nein? - Ich wusste es auch nicht. Dann müssen Sie mit mir nach Geyer im Erzgebirge fahren, weil dort daran gearbeitet wird - das alles dank unserer Unterstützung. Allein in Südwestsachsen sind 1999 durch die Unterstützung von Existenzgründungen im Technologiebereich 964 Arbeitsplätze in 206 neuen Unternehmen entstanden. ({5}) Das hat Roman Herzog mit seiner „Ruck“-Rede gemeint. Aber das haben Sie nicht einmal begriffen, geschweige denn umgesetzt. ({6}) In diesen speziellen Förderprogrammen wirkt natürlich unsere Politik der wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen. Das Zukunftsprogramm 2000 gibt uns ein gutes Stück der finanzpolitischen Handlungsspielräume zurück, die wir für den Aufbau Ost ganz dringend brauchen. Auch die Steuersenkungen werden zu einem Investitionsschub führen, der - davon bin ich überzeugt gerade den Ostbetrieben zugute kommen wird. Wir haben die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt und bemühen uns nachhaltig, das Ausbildungsproblem zu lösen. Alle diese Maßnahmen sind gut und richtig. Wir brauchen sie dringend, um die Probleme zu lösen, die zweifelsohne noch anstehen. Ich bin die Letzte, die dafür wäre, die Probleme unter den Teppich zu kehren. ({7}) Wir müssen uns aber auch bewusst machen, was die Menschen in Ostdeutschland in den letzten Jahren schon erreicht haben. Wenn wir uns diese Erfolge vor Augen halten, dann gewinnen wir auch die Kraft und Motivation, die Aufgaben zu meistern, die noch vor uns liegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Weg aus der Krise an die Spitze ist hart, manchmal sehr hart, aber er lohnt sich auf jeden Fall, vor allen Dingen im Interesse der Menschen. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die PDSFraktion hat jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ihre Zuversicht hinsichtlich der Entwicklung der Realeinkommen Ost, Herr Kanzleramtsminister Schwanitz, würde ich ja gern teilen. Aber die Realität spricht leider eine andere Sprache. Wie Sie wissen, kämpft die ÖTV gegenwärtig unter anderem um die Angleichung der Löhne und Gehälter Ost an das Westniveau. Derzeit werden im Osten nur 86 Prozent gezahlt. Hauptgegner der ÖTV ist dabei das Bundesinnenministerium, ({0}) das diese Angleichung nach Möglichkeit auf den SanktNimmerleins-Tag verschieben will. Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang eine Dienstinformation des Bundesministeriums des Inneren an die obersten Bundesbehörden und andere unterstellte Institutionen. Darin heißt es, dass für die beabsichtigte Einstellung eines bisher im Westen beschäftigten Arbeitnehmers im Tarifgebiet Ost der Osttarif anzuwenden sei.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Jüttemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld?

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Lengsfeld, Ihre Fragen sind niveaulos. Lassen wir das lieber, danke. ({0}) Die dadurch entstehenden Einkommensverluste könnten jedoch - so heißt es in dem Schreiben - zu Problemen bei der Personalgewinnung führen. Als Konsequenz wird in der BMI-Information Folgendes ausgeführt: Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist, erhebe ich - im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen - keine Bedenken, wenn dieser Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt wird und anschließend in das Tarifgebiet Ost wechselt. Im Klartext heißt das nichts anderes als das Einverständnis der Bundesregierung zur Tarifangleichung Ost an West, allerdings nur für Leute aus dem Westen. So viel zur viel zitierten Behauptung, vor dem Gesetz seien alle gleich! Seit Heinrich Heine hat sich offenbar nicht allzu viel verändert: ({1}) Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn auch die Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein Und predigten öffentlich Wasser. ({2}) Noch ein Wort zur Angleichung der Löhne in Ost und West: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat in seiner jüngsten Studie vom 10. Mai erstmalig die Tendenz einer solchen Einkommensangleichung registriert. Die durchschnittlichen Jahreseinkommen der Haushalte Ost seien 1997 - neuere Zahlen standen nicht zur Verfügung - auf 85 Prozent des Westniveaus angestiegen. Interessant ist die Begründung: Neben den steigenden Löhnen im Westen führt das DIW hier nämlich auch die Jelena Hoffmann ({3}) seit 1992 rückläufigen Realeinkommen im Westen an. Setzt sich diese Tendenz fort, wird die Angleichung der Löhne - das Gleiche gilt im Übrigen auch für die Lebensverhältnisse im Allgemeinen - eine Angleichung nach unten sein. Das heißt, das allgemeine Niveau wird gesamtgesellschaftlich abgesenkt. Das kann ja wohl weder im Interesse der Bevölkerung im Osten noch der im Westen sein. ({4}) Lassen Sie mich diese Tendenz noch an einem Beispiel belegen: Am 6. März dieses Jahres erhielt der Betriebsrat der niedersächsischen Firma Hemeyer-Verpackungen Bad Lauterberg die Nachricht vom Unternehmer, dass das Werk am 31. Dezember 2000 seine Pforten schließen und nach Bitterfeld in Sachsen-Anhalt umsiedeln werde. ({5}) Ähnliches vernimmt man aus der Firma Brandt Zwieback aus Hagen, die es nach Thüringen zieht. Was ist der Hintergrund solcher Umzüge, die es gehäuft bei kleineren Firmen im ehemals grenznahen Raum gibt? Erstens locken natürlich im Osten die Fördermittel der Gemeinschaftsaufgabe. Zweitens werden im Osten in aller Regel weniger Arbeitskräfte eingestellt, als im Westen entlassen werden. Drittens bekommen sie durchweg entschieden weniger Lohn. Viertens schließlich ist der Stand der Mitbestimmung im Osten, also gewerkschaftliche Vertretung, gewerkschaftliche Stärke, Betriebsräte usw., weitaus niedriger, fast null. Das wissen Sie doch selbst. Unterm Strich heißt das alles nichts anderes, als dass gesamtgesellschaftlich gesehen schon einmal erreichte soziale Standards abgebaut werden und damit das Gesamtniveau der Lebensverhältnisse gesenkt wird. Dafür werden auch noch staatliche Fördermittel ausgereicht. ({6}) Die PDS-Fraktion hält solche Vorgänge für einen eindeutigen Missbrauch von öffentlichen Geldern und fordert die Veränderung der Förderrichtlinien dahin gehend, dass ein solcher Missbrauch verhindert wird. ({7}) Zum ersten Jahresbericht der deutschen Einheit, den die neue Bundesregierung vorgelegt hat, möchte ich nur so viel sagen, dass er im Gegensatz zu früheren Berichten eine Reihe realistischer Einschätzungen des tatsächlichen, in vielen Fragen unbefriedigenden Zustandes enthält. Man findet in ihm darüber hinaus eine Reihe von Stichworten und Maßnahmen, die durchaus zur Verbesserung der Situation beitragen könnten. Der entscheidende Mangel des Berichts ist jedoch, dass er keine erkennbare Strategie enthält, um die Hauptprobleme der neuen Länder in einem klar abgesteckten Zeitraum zu lösen. Hierzu gehört der Abbau der Massenarbeitslosigkeit im Zusammenhang mit einem sich selbst tragenden kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwung. Ohne eine solche Strategie wird die Angleichung der Lebensverhältnisse in der gewünschten Form, also ohne Abschwung West, jedoch nicht zu haben sein. Wir halten deshalb die Frage, ob der Jahresbericht zur deutschen Einheit zukünftig in der bisherigen oder in einer veränderten Form vorgelegt wird, für nicht so entscheidend. Wichtig ist allein der Inhalt; wichtig ist, dass der nächste Bericht endlich eine solche Strategie, verbunden mit einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse, enthält, den die PDS ebenso kontinuierlich einfordert, wie sich die Regierung seiner Aufstellung bisher verweigert. ({8}) Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen zu unserem FUTOUR-Antrag. Auf nachdrückliche Erinnerung der PDS hat die Bundesregierung im Zuge der Haushaltsberatungen 1999 eine Verlängerung des Programm FUTOUR bis 2003 realisiert. ({9}) Besonders der Verband der Innovativen Unternehmen hatte auf die prekäre Situation technologieorientierter Unternehmen aufmerksam gemacht. Deshalb hat die PDS die Bundesregierung aufgefordert, zukünftig ostdeutsche industrielle Forschungsvereinigungen und -verbände an der Ausgestaltung neuer Förderprogramme zu beteiligen. Wie der VIU treten auch wir für eine langfristig angelegte Programmlaufzeit von zehn Jahren ein. Gründern von technologieorientierten Unternehmen in den neuen Bundesländern, aber auch in strukturschwachen Regionen der alten Bundesrepublik soll eine Förderung zugesichert werden. Die Förderung soll vorrangig auf die Gründung von technologieorientierten Unternehmen mit ökologisch-sozialer Ausrichtung konzentriert werden, die in regionale und Landesentwicklungskonzeptionen strukturpolitisch eingebunden werden, um so einen ökologischsozialen Umbau zu unterstützen. Zum CDU-Antrag zur Angleichung der Strompreise und zur Aussetzung der Stromsteuern im Osten nur ein Satz: Das klingt zwar alles recht gut, läuft aber am Ende auf nichts anderes als auf die Subventionierung der VEAG-Eigentümer mit öffentlichen Mitteln hinaus. Diesen Großkonzernen in Ostdeutschland käme das sicher sehr gelegen; aber letztlich lässt sich mit diesem Antrag nicht ein einziges Problem lösen: nicht das der Überkapazitäten, nicht das der Sicherung der Arbeitsplätze bei der VEAG und auch nicht das der ökologischen Energiegewinnung. In diesem Rahmen möchte ich noch ein anderes Beispiel erwähnen. Keine Antwort ist ja auch eine Antwort. In der Fragestunde des brandenburgischen Landtages kam es zu einem Eklat. Die Landesregierung verweigerte zum zweiten Mal die Antwort auf eine Anfrage der PDSAbgeordneten Esther Schröder. Diese bestand auf einer Offenlegung der Personalstruktur im Landesdienst hinsichtlich der Ost- oder Westherkunft der Bediensteten. Diese Anfrage hatte sie schon vor Wochen einmal gestellt, war aber mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass der dafür notwendige Aufwand nicht angebracht sei und zehn Jahre nach der Wende die geographische HerGerhard Jüttemann kunft keine Rolle mehr spielen dürfe. Die Abgeordnete äußerte gestern vor dem Parlament den Verdacht, dass ostdeutsche Bewerber noch heute schlechtere Karten beim Versuch des Eintritts in den Landesdienst hätten als Bewerber aus den alten Ländern, obwohl sie ihre Ausbildung nach der Wende gemacht haben. ({10}) Die gleiche Frage könnte man doch einmal den anderen Landesparlamenten im Osten stellen, wie viele Bedienstete dort prozentual aus den neuen Bundesländern kommen. Hat man denn kein Vertrauen in die Menschen? Akzeptiert man die Bildung, die sie genießen, einfach nicht? Oder ist der wahre Grund, dass wir im Osten einfach noch nicht anerkannt werden? Es wird höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte findet an einem fast historisch zu nennenden Tag statt; denn am gestrigen 18. Mai vor zehn Jahren wurde in Bonn von Theo Waigel und Walter Romberg der Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR unterzeichnet. ({0}) Lieber Herr Staatsminister Schwanitz, diese Tatsache hätten Sie in Ihrer Rede ruhig einmal erwähnen können. ({1}) Dieser Vertrag war ein erster entscheidender Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit. Mit ihm begann ein neuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Der Vertrag entsprach der Forderung nach nationaler Solidarität und den Wünschen der Menschen in der DDR nach Freiheit und Wohlstand. Dieser Vertrag wurde sowohl im Deutschen Bundestag als auch in der Volkskammer der DDR fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit gebilligt. Zur historischen Wahrheit gehört aber auch, dass im Bundesrat zwei Ministerpräsidenten dagegen stimmten. Es handelt sich um den jetzigen Bundeskanzler Schröder - er ist nicht mehr anwesend; die Debatte scheint ihn so wie damals auch heute nicht zu interessieren ({2}) und den ehemaligen Finanzminister Lafontaine. Ich erwähne das der Vollständigkeit halber; denn bei manchen Debattenbeiträgen der Koalition hatte man heute den Eindruck, Sie hätten die Einheit gegen die CDU erkämpft. Dem war aber nicht so. ({3}) Dieser Vertrag war die Grundlage für die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in der DDR und damit die Grundlage für das wirtschaftliche Zusammenwachsen Deutschlands. Bereits in der letzten Debatte zum Jahresbericht, die wir am 11. November des letzen Jahres führten, waren wir uns fraktionsübergreifend einig, dass seitdem unbestreitbar große Erfolge beim Aufbau Ost erzielt wurden. Diese Erfolge sollten wir nicht kleinreden. ({4}) - Sie von der SPD können ruhig klatschen. Am deutlichsten werden die Erfolge, wenn wir uns die Krisenanalyse des letzten Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, vom 30. Oktober 1989 anschauen. Sie enthält zum Beispiel die Aussage: Allein ein Stoppen der Verschuldung der DDR würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen. Das war die Wahrheit aus Sicht der Staatlichen Plankommission der DDR des Jahres 1989. Seitdem haben wir dank gesamtdeutscher Solidarität und dank der Leistungsbereitschaft in Ost und West - ein großes Stück des Weges zurückgelegt und viel erreicht. Aber bei der heutigen Debatte muss auch ausgesprochen werden, dass die wirtschaftliche Angleichung in Deutschland seit Mitte der 90er-Jahre stagniert und unter Rot-Grün zum Stillstand gekommen ist. Herr Schwanitz und Herr Schulz, Sie können zwar viele Zahlen vorlegen, Sie kommen aber nicht an der Tatsache vorbei - ich sage das mit Bedacht -, dass seit Mitte der 90er-Jahre die wirtschaftliche Angleichung zum Stillstand gekommen ist. Das müssen wir ändern. Schauen Sie sich einmal die Wachstumsraten an! Sie müssen sie erst zur Kenntnis nehmen und können sie dann interpretieren. Während in der ersten Hälfte der 90erJahre die Wirtschaft im Osten mit einer Rate von bis zu 10 Prozent wuchs, wächst sie seit vier Jahren langsamer als die im Westen: um 1,7 Prozent gegenüber 2,3 Prozent im Jahre 1997; um 2,1 Prozent gegenüber 2,9 Prozent im Jahre 1998, um 1,2 Prozent gegenüber 1,4 Prozent im Jahre 1999 und dieses Jahr voraussichtlich nur noch um 2,2 Prozent gegenüber 2,8 Prozent. Seit vier Jahren geht also die Schere wieder auseinander, Herr Schwanitz. ({5}) - Sie regieren aber seit fast zwei Jahren. Nehmen Sie zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt Ost je Einwohner. In 1991 betrug es 30 Prozent des Westwertes. Bis 1994 stieg es rasant auf 53 Prozent und stagniert seitdem bei rund 55 Prozent des Westwertes. Die Steuerdeckungsquote Ost hatte in 1991 einen Ausgangspunkt von 22,3 Prozent und stieg bis auf 50 Prozent in 1995. Auf diesem Niveau sind wir geblieben. Herr Schulz, das sind die wesentlichen wirtschaftlichen Zahlen. Sie können natürlich auch die eine oder andere positive Zahl finden. Aber das sind die wichtigsten Kerndaten. Im europäischen Rahmen betrachtet lässt sich sagen: Die Wirtschaftskraft im Osten Deutschlands liegt nach wie vor stabil unter 75 Prozent des EU-Durchschnitts und damit auf dem Niveau vieler südeuropäischer Regionen und Länder wie Portugal, Sizilien und Griechenland. Deutschland droht also, wenn Sie, Herr Schwanitz, nicht handeln - Sie haben im Augenblick die Regierungsverantwortung -, eine dauerhafte wirtschaftliche Spaltung. Das akzeptieren wir von der Union nicht. ({6}) Anstatt dem Aufbau Ost neue Impulse zu geben, hat die rot-grüne Bundesregierung seit 1998 bei den Investitionen überproportional gekürzt. ({7}) Die allgemeine Investitionsquote im Bundeshaushalt sinkt kontinuierlich - von 12,5 Prozent in 1998 auf 11,6 Prozent in 1999 bis auf 10,6 Prozent im Jahre 2003. Das besondere Opfer dieser rückläufigen Investitionsquote sind die Verkehrswegeinvestitionen Ost. Wir wissen alle: Verkehrswege sind von ganz besonderer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung. Unser Kollege Wolfgang Dehnel aus der CDU-Landesgruppe Sachsen, der hinter mir als Schriftführer sitzt, hat das in der Schkeuditzer Erklärung im Januar dieses Jahres für die Landesgruppe überzeugend herausgearbeitet: Ohne Verkehrswegeinvestitionen gibt es keinen wirtschaftlichen Aufschwung. ({8}) Was aber hat die Bundesregierung unternommen, Herr Schwanitz? Die Bundesregierung hat am 3. November 1999 ein vom Bundesverkehrsminister - er ist nicht da; ihn scheint das nicht zu interessieren - aufgelegtes Investitionsprogramm - besser wäre der Name „Investitionsverhinderungsprogramm“ gewesen - für die Jahre 1999 bis 2002 beschlossen, ({9}) was, Frau Kaspereit, die Verkehrsinvestitionen in dieser Legislaturperiode um 3,5 Milliarden DM zurückführt. Insbesondere im Osten kürzen Sie. Sie haben die Schienenanbindung Mitteldeutschlands, das Verkehrsprojekt deutsche Einheit Nr. 8, gestoppt. Deswegen haben wir jetzt den Schildbürgerstreich, dass der neue Leipziger Flughafen ohne ICE-Anschluss ist. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kolbe, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit?

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es nicht von der Redezeit abgeht, ja.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolbe, können Sie mir bitte die Höhe der Unterdeckung im Verkehrswegeplan der alten Bundesregierung nennen?

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie verwechseln permanent den Verkehrswegeplan mit dem Haushaltsplan. Der Haushaltsplan ist ein Finanzierungsplan; der Verkehrswegeplan ist ein Investitionsplan. Ich kann nur feststellen, dass zu unserer Regierungszeit gebaut worden ist - und die Bauten sind auch bezahlt worden -, ({0}) während Sie die Bauten gestoppt haben. An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. Wenn das so weitergeht, dann warten wir noch 20 Jahre auf eine Autobahn zwischen den beiden großen Städten Leipzig und Chemnitz mit einer halben Million und einer drittel Million Einwohner. Das ist doch keine zukunftsorientierte Politik. ({1}) Die ausbleibenden Infrastrukturmaßnahmen behindern die weitere wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands und führen sogar dazu, dass die Abwanderung aus dem Osten, die uns alle ganz besonders große Sorgen macht, weitergeht. Wir kommen nicht um die Feststellung herum: Unter Schröder und Schwanitz ist der Aufbau Ost von der Chefsache zur Nebensache degradiert worden. Die CDU wird dafür sorgen, dass er wieder zur Chefsache wird. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Abgeordneten Otto Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Kollege Jüttemann hat gemeint, in die Debatte ein Schreiben aus dem Bundesinnenministerium einführen zu müssen. ({0}) - Lassen Sie mich doch darauf eingehen! Es ist ja interessant, Informationen dazu zu bekommen. Ich habe nicht die Absicht, mit der Debatte auf das Schlichtungsverfahren im Rahmen der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst Einfluss zu nehmen. Aber einige Feststellungen sind, so denke ich, notwendig. Das erwähnte Schreiben betrifft die Frage der Personalgewinnung. Bei dem Absatz, der hier zitiert worden ist, dürfen Sie folgenden Satz nicht übersehen: Soweit dies zur Personalgewinnung notwendig ist, - so hat der Mitarbeiter aus dem Ministerium geschrieben erhebe ich keine Bedenken, wenn dieser Arbeitnehmer zunächst im Tarifgebiet West eingestellt wird. Das betrifft meiner Kenntnis nach ganz wenige Fälle, die man an einer Hand abzählen kann, ist also keine generelle Vorgabe, die die Tarifstruktur berührt. Herr Kollege Jüttemann, der Bund verhält sich in dieser Frage solidarisch mit den neuen Bundesländern und den Kommunen. Ich kann nur den Kollegen Milbradt zitieren, der an den Tarifgesprächen unmittelbar beteiligt ist. Er weist zu Recht darauf hin, dass er, wenn es um Transferleistungen geht, zunächst einmal daran denkt, die Transferleistungen für Investitionen zu verwenden und nicht für Tariferhöhungen, und dass auch der Abstand zur freien Wirtschaft - das Lohnniveau im Osten liegt nämlich bei 75 Prozent des Westniveaus - deutlich erkennbar bleiben muss. Ich glaube nicht, dass wir im öffentlichen Dienst eine Anhebung auf 100 Prozent verantworten können, wenn in der freien Wirtschaft nur 75 Prozent gezahlt werden. Das sind die Bedingungen, an denen man sich orientieren muss. Man kann sehr viel wünschen; das tue ich auch. Ich hätte ja persönlich überhaupt nichts dagegen, wenn wir auf 100 Prozent steigern würden. Allerdings sollten dann im Osten netto nicht mehr als 100 Prozent herauskommen. Das wäre auch nicht die richtige Lösung. Ich wäre dankbar, Herr Kollege Jüttemann, wenn Sie die Polemik, die aus Ihren Kreisen in diesem Bereich betrieben wird, etwas zurückfahren könnten und den Menschen reinen Wein - Sie haben über Wein und Wasser gesprochen - über die wahren Gegebenheiten in den neuen Bundesländern einschenken würden. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung der Kollege Jüttemann, bitte.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich habe wörtlich vorgelesen. Es stimmt ja wohl. Die Frage ist doch: Wie gehen Sie an die Sache heran? Sie billigen möglicherweise einem Beamten, der im Ostteil arbeiten will, zu, über einen Umweg erst im Tarifgebiet West eingestellt zu werden, aber dann zurück ins Tarifgebiet Ost zu kommen und Westgehalt zu bekommen. Es ist doch keinem Normalbürger hier verständlich zu machen, dass heute zwei beamtete Schutzpolizisten nebeneinander die gleiche Arbeit machen, von denen der eine länger arbeitet und 15 Prozent weniger Lohn kriegt. Das können Sie nach zehn Jahren Wiedervereinigung niemandem erklären. Versetzen Sie sich einmal in die Situation. Hätte die alte Bundesregierung den Menschen 1990 so etwas erzählt, hätte man die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Das wäre unfassbar gewesen. ({0}) Zehn Jahre nach der Wende versuchen Sie, mit Taschenspielertricks westlichen Kollegen Dinge zugute kommen zu lassen, und die östlichen Kollegen haben keine Chance. Das ist doch die wahre Situation. Ich habe kein Wort falsch vorgelesen. Natürlich sagen Sie, es betreffe bloß wenige Fälle. Das können wir schlecht prüfen. Aber es betrifft Fälle; das ist die Tatsache. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin in der Debatte ist jetzt die Kollegin Ingrid Holzhüter für die SPD-Fraktion.

Ingrid Holzhüter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002683, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich will eingangs auf Äußerungen wie „Schönrederei“ usw. zurückkommen. Ich denke, eine angemessene Portion Stolz ({0}) in den neuen Ländern ist angebracht. ({1}) Da leben nämlich flexible, intelligente und fleißige Leute mit einer Biografie, hinter der sie sich nicht immer verstecken müssen nach dem Motto: Das war ja DDR. Ich denke, wir müssen ein bisschen offensiver mit den Dingen umgehen und dürfen nicht so tun, als hätten wir auch an dieser Stelle noch die Teilung zwischen gut und böse, zwischen intelligent und faul oder wie auch immer. ({2}) Das ist doch in der Öffentlichkeit oft ein Thema. Wir müssen dafür sorgen, dass das endlich aus den Köpfen verschwindet, dass hier der eine jammert und da der andere rudert, und dass wir alle daran denken: Wir haben überall sone und solche. ({3}) Der Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit setzt im Vergleich zu den Vorgängerberichten deutlich neue Akzente. Es ist der erste Bericht der neuen Regierung. Er macht deutlich, dass beim Aufbau Ost eine Menge erreicht wurde. Durch Schwerpunktsetzung ist der vorliegende Bericht der Bundesregierung übersichtlicher und lesbarer geworden. Lieber Herr Türk, es kann also nun endlich konkret nachvollzogen werden, welche der aufgeführten Leistungen wirklich in den Aufbau Ost geflossen sind, und der unsinnige Mix aus so genannten Transferleistungen, die Ost und West inzwischen gleichermaßen zustehen, ist endlich verschwunden. ({4}) Der Bericht zeigt auch auf, wo es noch drückende Probleme bei der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West gibt und welche mit Priorität angegangen werden müssen. Der Aufbau Ost ist von dieser Bundesregierung aus guten Gründen zur Chefsache erklärt worden. Rolf Schwanitz wurde die Aufgabe des Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten der neuen Länder übertragen und es gibt einen neuen Bundestagsausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder. Damit wird deutlich, wo wir den Aufbau Ost ansiedeln. Vorrangiges Ziel ist und bleibt die Erreichung einer Einheit in der Lebenswirklichkeit und im Bewusstsein der Menschen; dazu habe ich eingangs schon etwas gesagt. Dieses Ziel haben wir trotz aller Bemühungen noch nicht erreicht. Wir versprechen keine Wunder und wir haben auch noch einen langen Weg vor uns. Aber einige Voraussetzungen haben wir schon geschaffen. Wir haben das höchste Wachstum seit dem so genannten Einheitsboom, wir haben über 3 Prozent mehr Lehrstellen, und wenn wir den Prognosen glauben dürfen - ich glaube an die Zukunft -, dann werden wir demnächst 300 000 neue Jobs haben. Die Politik der Bundesregierung hat also Erfolg. Die Förderprogramme für die berufliche Erstausbildung in den neuen Ländern, auf die ich noch zu sprechen kommen möchte, belegen dies exemplarisch. Leider ist es so, dass die konjunkturellen Impulse in den neuen Ländern und Berlin noch nicht ausreichend zum Tragen gekommen sind. Die vielen Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich eben nicht kurzfristig beheben. Bundeskanzler Schröder hat darauf hingewiesen, dass es bei den Ausbildungsplatzangeboten im Osten weiterhin Probleme gibt. Das liegt, wie ich glaube, daran, dass im Zuge der ostdeutschen Transformationsprozesse ganze Branchen weggebrochen sind, sodass einige Betriebe fehlen. Aber es gibt, wie auch im Westen, Betriebe, die nicht ausbilden. Hier müssen wir etwas tun, wobei ich nicht vergesse, dass es für kleine und mittlere Betriebe manchmal schwierig ist auszubilden. Da müssen wir ihnen helfen, auch durch schon ausgebildete Hightechkräfte, damit sie auf diesem Gebiet noch etwas nachbessern können. Es wird erwartet, dass die Industrie im Osten gerade in diesem Bereich schon bald schneller wachsen wird als im Westen. Fachleute bestätigen, dass die neuen Länder bald modernere Strukturen aufweisen werden als die alten Länder. Sie werden also im wahrsten Sinne neue Länder sein. Noch ein Wort zur überbetrieblichen Ausbildung. Diese ist oft besser als ihr Ruf und keine „Discountausbildung“. Ich höre sogar oft, dass man sich in diesen Betrieben oft sehr viel intensiver um die Auszubildenden kümmert als in den gewinnorientierten Firmen. Wenn uns die Opposition nun vorwirft, wir würden die Jugendlichen dort nur parken, so hat sie sich durch diese Aussage selbst gründlich disqualifiziert. ({5}) Es bleibt notwendig, die gezielten arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen fortzusetzen. Das Riester-Programm trägt dazu bei. Doch, wie schon angedeutet, auch die Wirtschaft muss in dieser Richtung etwas tun. Aber die Fahrtrichtung stimmt. Ich nenne einige Schlaglichter. Die Aprilbilanz 2000 deutet auf eine Steigerung der Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze hin; die Ausbildungslücke in den neuen Ländern ist jedoch noch groß. Mit den neu erarbeiteten Ausbildungsverordnungen in den neuen Berufen ist auch hier ein erster Schritt getan, um Ausbildungsprofile und sich schnell verändernde wirtschaftliche Betätigungsfelder neu aufeinander abzustimmen. Gerade im Bereich der Dienstleistungen zeichnen sich weitere Wachstumsfelder ab, die durch das Berufsbildungsgesetz, die Handwerksordnungen usw. bis jetzt nicht erfasst werden. Das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“ des BMBF hat seit seinem Beginn im Juli 1995 einen wesentlichen Beitrag zur Mobilisierung geleistet. Allein im Zeitraum vom 1. März bis zum 31. August 1999 wurden über 14 000 Ausbildungsplätze zugesagt, von denen in der Regel 70 Prozent realisiert werden. Dieses Programm werden wir fortführen. ({6}) Auch durch die von den Kammern durchgeführten Programme „Ausbildungsberater“ und „Lehrstellenwerber“ wurden im letzten Jahr mehrere tausend Ausbildungsplätze geschaffen. Für das Programm „Ausbildungsberater“ sind für 2000 Fördermittel in Höhe von 2 Millionen DM eingeplant. Das ist doch etwas! ({7}) Ich möchte an dieser Stelle auf das Riester-Programm eingehen. Das Ziel dieses Sofortprogramms war der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Es gab bis zum 31. Dezember 1999 219 055 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Allein in Ostdeutschland sind so 72 787 Jugendliche zu einer Ausbildung gekommen. Auch in diesem Jahr stehen wieder 2 Milliarden DM für dieses Programm zur Verfügung. ({8}) Auch die Zusage der Wirtschaft, bis 2003 60 000 neue Ausbildungsplätze im IT-Bereich zur Verfügung zu stellen, weist in die richtige Richtung. Aber wir brauchen nicht nur IT-Fachleute, sondern auch andere Fachkräfte. Nicht jeder Jugendliche ist ein geborener Akademiker. Viele Jugendliche haben eher handwerkliche Fähigkeiten. Auch Jugendliche ohne einen qualifizierten Schulabschluss dürfen von uns nicht vernachlässigt werden. Es gibt auch im nicht akademischen Raum durchaus zukunftsträchtige Berufe. Wir dürfen nicht vergessen, dass es neben der Unterqualifizierung noch ein weiteres Handicap gibt: die Überqualifizierung. Das ist gerade in den neuen Ländern der Fall. Ich kenne Frauen mit akademischer Ausbildung, denen, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen, seitens potenzieller Arbeitgeber gesagt wird: Sie sind überqualifiziert; Sie sind mir zu teuer. Dann gibt es noch die Menschen, die älter als 45 Jahre alt sind und angesichts unseres Jugendwahns teilweise überhaupt keine Chancen mehr haben. Wir werden zwar immer älter; aber ab 45 gehören wir schon fast zum alten Eisen. Ich packe alles noch hervorragend, obwohl ich schon über 45 bin, wie viele von Ihnen. Die Bundesregierung hat die Probleme auf dem Weg zur Vollendung der inneren deutschen Einheit im Auge und weist dies im vorliegenden Bericht nach. Meine Redezeit ist knapp; aber trotzdem will ich den Goldenen Plan Ost erwähnen. Ich bin auch Sportpolitikerin. Ich denke, dass es ein gutes Zeichen ist, dass wir auch an anderen Stellen zur Gleichheit beitragen möchten. ({9}) Der Bundeshaushalt steckt natürlich den Rahmen ab. Das wissen Sie so gut wie wir. Trotzdem liefert der vorliegende Bericht den notwendigen Überblick, was insgesamt noch zu tun ist und was wir tun können. ({10}) Der Bericht liefert kompakte Informationen. Denn auch wir als Parlament sind aufgefordert, etwas zu tun. Wir können und wollen ja nicht alles der Regierung überlassen. Als so genannter „Wossi“ mit Berliner kommunaler Erfahrung sage ich Ihnen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Deshalb bitte ich um zustimmende Kenntnisnahme des vorliegenden Jahresberichtes. Ich fordere die Bundesregierung auf, uns die Fortführung des Berichtes in gleicher Weise zur Kenntnis zu geben. Ich bedanke mich für die gute Arbeit. ({11}) Ein bisschen weniger zu jammern und sich etwas mehr zu freuen wäre - auch für unser Haus - eine ganz gute Sache. Vielen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Paul Krüger, Fraktion der CDU/CSU.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zitiere aus dem Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit. Seit der Wiedervereinigung sind beachtliche Fortschritte in der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschen erreicht worden. Ich finde, das ist eine positive Aussage, die ich ausdrücklich unterstreichen will. ({0}) Das ist - so muss man hier feststellen - natürlich in erster Linie auf die Arbeit der alten Bundesregierung zurückzuführen und nicht auf die der neuen Bundesregierung. ({1}) Denn ich hatte heute manchmal den Eindruck, als ob für alle positiv zu verzeichnenden Entwicklungen die jetzige Regierung verantwortlich sei. ({2}) Ich zähle Ihnen einige Fakten auf, die positiv sind: die Angleichung der sozialen Bedingungen insbesondere im Bereich des Gesundheitswesens, der Aufbau der Kommunikations- und Verkehrsnetze, bei denen es noch immer viele Defizite gibt, der Wohnungsbau und vor allen Dingen die Wohnungssanierung, die Zahl der Existenzgründungen und deren Entwicklung sowie - nicht zu vergessen - die Umwelt- und Altlastensanierung. Diesen Katalog könnte man erweitern. Ich zähle diese Dinge deshalb auf, damit Sie nicht behaupten können, wir würden alles mies machen. Im Gegenteil - Herr Nooke hat deutlich darauf hingewiesen -, es gibt eine positive Entwicklung dies ist immer wieder zu konstatieren - und die haben wir gestaltet. ({3}) Trotzdem scheint es heute in den neuen Bundesländern eine gewisse Stagnation - man möchte fast sagen: eine Resignation - zu geben. Herr Schwanitz, da stimme ich mit Ihrer Einschätzung nicht überein. Die neue Bundesregierung muss sich fragen lassen: Wo sind die Ursachen für die stagnierende Unternehmensentwicklung, das stagnierende Wachstum und die zunehmende Zahl von Insolvenzen zu suchen? Womit sind die rückläufigen Investitionen zu begründen? ({4}) Einen Grund dafür hat Herr Kolbe hier aufgezeigt: Der Bundeshaushalt weist rückläufige Investitionszahlen aus. Es ist klar, dass diese daraus resultierenden Einbrüche auch den Bausektor belasten. - Was ist der Grund für die Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für die Stagnation der Zahl der Arbeitslosen bei gleichzeitigem Wegfall von Arbeitsplätzen in einem enormen Umfang? Zur schlechten Stimmung tragen auch emotionale Faktoren bei; darauf geht der Bericht ein. Dort steht: Die Verwirklichung der deutschen Einheit ist mehr als finanzielle Hilfen und wirtschaftliches Wachstum. Die innere Einheit braucht auch eine emotionale Basis. - Ich frage mich: Wer ist eigentlich verantwortlich für die schlechte Stimmung, die hier eingetreten ist? Die neue Bundesregierung hat es innerhalb eines Jahres geschafft, das Vertrauen, das viele Bürger gerade in Ostdeutschland in sie gesetzt haben, massiv und nachhaltig zu erschüttern. Dafür gibt es leider viele Beispiele. ({5}) Lassen Sie mich einige Beispiele dafür aufführen, warum die Menschen erkannt haben, dass der Aufbau Ost für die neue Bundesregierung nicht Herzens-, sondern nur Chefsache ist. Schauen Sie sich einmal die Mehrbelastungen an! Die Ökosteuer zum Beispiel belastet die ostdeutschen Haushalte und Unternehmen in besonderem Maße. Die Mineralölsteuererhöhung benachteiligt die Vermögens- und Einkommensschwachen bei gleicher Belastung natürlich überproportional. Dies gilt auch für die Flächenländer, die dünn besiedelten Länder in Ostdeutschland. ({6}) Genauso ist es mit der mittelständischen Wirtschaft. Es ist eben nicht so, wie Sie heute gesagt haben. Die mittelständische Wirtschaft wird durch die Steuerreform, die Sie gestern verabschiedet haben, verstärkt belastet. ({7}) Herr Schwanitz, Sie haben nicht Recht, wenn Sie sagen, in Ostdeutschland gebe es nur kleine Unternehmen. Wir haben nicht nur Existenzen mit kleinen Einkommen bzw. kleinen Gewinnen. Gerade die Unternehmen im innovativen Bereich brauchen Gewinne, die sie wieder einsetzen können, um wachsen zu können. Genau an dieser Stelle aber greifen Sie ein. Damit blockieren Sie das Wachstum in Ostdeutschland. ({8}) Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben den Transrapid auf das Abstellgleis geschoben. Das trifft Ostdeutschland ganz besonders hart. ({9}) Man muss es sich einmal vorstellen: 30 Jahre lang ist entwickelt worden. Alle möglichen Regierungen haben dieses Projekt unterstützt. Aber jetzt, da es sozusagen baureif ist, stellen Sie es auf das Abstellgleis. ({10}) Das trifft die neuen Länder besonders hart. ({11}) Sie machen auch eine falsche Arbeitsmarktpolitik; darauf ist heute schon eingegangen worden. ({12}) Ich will noch ein Beispiel nennen, das mich besonders bekümmert. Der A3XX ist das größte Industrieprojekt Europas, welches derzeit verwirklicht wird. Ich habe mir gestern von der Dasa die Zahlen geben lassen. Die DASA gibt an, dass durch dieses Projekt 15 600 direkte Arbeitsplätze und 31 200 indirekte Arbeitsplätze - macht zusammen 46 800 Arbeitsplätze - in Deutschland geschaffen werden. ({13}) Die Masse dieser Arbeitsplätze wird jedoch nicht in Ostdeutschland entstehen. Im Gegenteil, dort wird fast kein Arbeitsplatz entstehen, und das, obwohl die Bundesregierung auf diese Entwicklung natürlich nachhaltig Einfluss hat; denn sie soll auch dieses Projekt fördern, und zwar mit einem enormen Investitionsvolumen. Wir wissen alle, dass die Flugzeugindustrie in Deutschland mit Unterstützung des Staates aufgebaut worden ist. Trotzdem kümmert sich dieser Bundeskanzler, der jetzt leider nicht mehr hier ist, keinen Deut darum, dass aufgrund dieses Projekts in Ostdeutschland, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern, mehr Arbeitsplätze entstehen. Das halte ich für einen politischen Skandal. ({14}) Wenn Sie solche Maßnahmen beschließen, dürfen Sie sich nicht wundern, dass in der Folge die Konjunktur in Ostdeutschland einbricht, dass die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, sondern stagniert, und dass gleichzeitig Arbeitsplätze vernichtet werden bzw. nicht entstehen können. Eine weitere Folge sind die Abwanderung von Leistungsträgern, insbesondere von qualifizierten Jugendlichen, und der Wohnungsleerstand, den wir allenthalben beklagen müssen. Herr Nooke ist darauf eingegangen. Meine Damen und Herren, wir müssen eine positive Stimmung erzeugen. Dass es Beispiele dafür gibt, dass wir sie erzeugen können, kann ich Ihnen sagen. Ich nenne das Programm „FUTOUR“. Die Mittel für „FUTOUR“ waren im letzten Haushalt gestrichen worden; das Programm sollte 1999 auslaufen. Im Haushalt für 2000 waren keine Mittel dafür enthalten. Wir haben uns daraufhin bemüht, mit einem Antrag und durch massive Intervention das Programm wieder zu starten. Das ist uns nach langem Kampf gelungen. Die Bundesregierung hat das eingesehen. Warum sollte man das von dieser Stelle aus nicht positiv erwähnen? Die Bundesregierung hat unsere Initiative aufgegriffen und hat das Programm verlängert. Dadurch können - das hat heute schon jemand gesagt - in den neuen Bundesländern viele Arbeitsplätze entstehen. Wir können doch auch anders. Warum orientieren wir uns nicht mittelfristig an diesen positiven Beispielen? Deshalb fordere ich Sie und die Bundesregierung auf: Nehmen Sie in dieser Hinsicht Vernunft an. Sorgen Sie dafür, dass eine positive Stimmung in den neuen Bundesländern entstehen kann. Machen Sie eine mittelstandsfreundliche Steuerreform. Realisieren Sie die Transrapid-Strecke von Berlin nach Hamburg. Machen Sie eine Arbeitsmarktpolitik, die den Arbeitslosen eine echte Chance auf Dauerarbeitsplätze sichert. Setzen Sie sich für den A3XX-Standort in Mecklenburg-Vorpommern ein. Dann haben die Menschen in Ostdeutschland und hat nicht zuletzt die Wiedervereinigung wieder eine echte Chance. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte Kollegen! Ich möchte zuerst zu dem etwas sagen, was Herr Krüger gerade zum A3XX vorgetragen hat. Herr Krüger, Sie sind bei diesem Thema in Ihrer Funktion als Ausschussvorsitzender stets so vorgegangen, dass Sie das Fell des Bären immer schon verteilt haben, ehe er überhaupt erlegt war. ({0}) Sie wissen ganz genau, dass bis heute dazu keine Entscheidung getroffen wurde. ({1}) Sie haben in der Anhörung, die Sie veranstaltet haben, versucht, die Vertreter von Airbus Industrie zu einer Aussage zu nötigen. Sie wissen ganz genau, dass das Vertreter der Wirtschaft sind, denen Sie keine Vorschriften machen können. Den Gefallen, eine Aussage zu treffen, haben sie Ihnen auch nicht getan. Sie haben aber sowohl der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern als auch der Bundesregierung bestätigt, dass sie alles getan haben, um eine Ansiedlung vorzubereiten und zu ermöglichen. Das wollte ich hier noch einmal gesagt haben. ({2}) Nun zur Sache. Bei der Berichterstattung zum Stand der deutschen Einheit konzentriert sich die neue Bundesregierung künftig auf eine aktuelle und insgesamt auch kürzere und prägnante Darstellung. Wir werden zukünftig die Zahlungsströme herausstellen, die der wirtschaftlichen Entwicklung ausschließlich in Ostdeutschland in besonderer Weise zugute kommen. Da gehören solche Dinge wie BAföG und Kindergeld überhaupt nicht mit hinein. Das haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ja immer in Ihre Zahlenspiele mit hinein genommen. Wir haben uns dann immer über diese großen Zahlen gewundert, mit denen Sie argumentiert haben. Ich begrüße, dass die neue Bundesregierung einen Weg des ehrlichen Umgangs mit den Zahlen gewählt hat. Insgesamt - das lässt sich für jedermann erkennen setzt die Koalitionsregierung neue Maßstäbe beim Aufbau Ost. Lassen Sie mich das wie folgt begründen: Erstens. Um in Zukunft, was die Entwicklung der neuen Bundesländer betrifft, noch handlungsfähig zu sein, ist es unumgänglich, die Staatsfinanzen zu sanieren. Das jahrelange Wirtschaften auf Pump und die sich daraus ergebende enorme Zinsbelastung haben dramatische Auswirkungen gerade für den Gestaltungsspielraum in Ostdeutschland. Es gibt aus meiner Sicht keine Alternative zur Haushaltskonsolidierung. Wenn es uns gelingt - ich bin davon überzeugt, dass es uns gelingt -, die Staatsverschuldung abzubauen, werden wir die freigesetzten Mittel, die wir dann nicht mehr für Zinsen ausgeben müssen, zum Beispiel in die Infrastruktur der neuen Bundesländer lenken. Da haben wir die Mittel, die uns heute fehlen, dringend nötig. ({3}) Zweitens. Die neue Bundesregierung hat ein Steuerentlastungsgesetz auf den Weg gebracht, das insbesondere den Menschen in Ostdeutschland zugute kommt. ({4}) Die Senkung des Eingangssteuersatzes auf 15 Prozent und der erhöhte Steuerfreibetrag stärken gerade die vielen Bezieher niedriger Einkommen ({5}) und Familien mit geringem Einkommen. Sie wissen genauso gut wie ich, Herr Türk, dass gerade jene überproportional in den neuen Bundesländern vorhanden sind. ({6}) - Jawohl! Dies führt zu einer erhöhten Nachfrage im Bereich des Handels und des Handwerks und stärkt nicht zuletzt die Kaufkraft. Das ist doch ein positiver Effekt, den wir alle wollen. ({7}) Wir machen eine Unternehmensteuerreform, von der die kleinen und mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland besonders profitieren werden. Entgegen allen Behauptungen ist dies deshalb der Fall, weil in den neuen Ländern die kleinen und privaten Personengesellschaften vorherrschend sind. ({8}) Viele Unternehmen kommen, was das Betriebsergebnis betrifft, gar nicht erst in die Gelegenheit, den von der Union favorisierten gesenkten Spitzensteuersatz zahlen zu müssen. Das wissen Sie doch ganz genau. ({9}) Der liegt für so manche Personengesellschaft in ganz weiter Ferne. Denen helfen wir aber nur dadurch, dass wir den Eingangssteuersatz - in Verbindung mit dem Steuerfreibetrag - heruntersetzen. ({10}) Hinzu kommt: Die Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer führt zu einer Stärkung der Eigenkapitalbasis in den Betrieben. ({11}) Das schafft Investitionsanreize, die sich längerfristig auch auf dem Arbeitsmarkt niederschlagen werden. Beides - die Haushaltskonsolidierung und die bereits im Vorfeld angekündigte Steuerentlastung für die Unternehmen - hat in Deutschland einen Aufschwung bewirkt, wie es ihn seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. ({12}) Nach Zeiten der Stagnation gehen die Arbeitslosenzahlen in den alten Ländern deutlich nach unten. Die Preissteigerungsraten bleiben stabil. Das ist - nebenbei gesagt - ein besonders sozialer Faktor auch für die Menschen in Ostdeutschland. ({13}) Motor bei dieser Entwicklung ist die Exportwirtschaft. Zwar auf niedrigem Niveau, aber doch ebenfalls deutlich - das ist sehr erfreulich, darauf hat der Staatsminister hingewiesen - entwickeln sich die Exportchancen auch für die ostdeutschen Unternehmen. Wir unterstützen mit unserer Fraktion und dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder einen Antrag zur „Stärkung von Absatz und Export der ostdeutschen Wirtschaft“. Es geht uns darum, kleinen Unternehmen und zahlreichen Neugründern zu helfen, die nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten haben, auf internationalen Märkten Fuß zu fassen. Bei ihnen fehlt es oft am Know-how, an ausreichenden finanziellen Mitteln und am Einsatz moderner Informationstechnologien. Hier werden wir flankierende Hilfen anbieten und wir ermuntern die Wirtschaft sowie die Regierungen der neuen Länder, ihre Export- und Absatzhilfen fortzuführen. Man kann beispielsweise Unterstützung bei Messeauftritten im In- und Ausland oder im Bereich der sprachlichen Hilfestellung leisten. Das prognostizierte Wachstum von 2,8 Prozent in diesem Jahr und die positiven Aussichten für das nächste Jahr sind die Voraussetzung für einen deutlichen Abbau der Arbeitslosigkeit, auch im Osten. In Ostdeutschland wird sich dieser Effekt, der in den alten Bundesländern bereits eingetreten ist, zwar zeitversetzt und von einem niedrigen Niveau ausgehend, ebenfalls einstellen. Davon bin ich überzeugt. Erfreulich ist das wirtschaftliche Wachstum in den neuen Bundesländern im Bereich des verarbeitenden Gewerbes von 5 Prozent im Jahre 1999. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hält in diesem Jahr 6,5 Prozent für möglich. Diese Zahlen - dessen bin ich mir bewusst werden allerdings durch die nicht befriedigende Entwicklung im Bauhauptgewerbe beeinträchtigt. Das ist hier bereits mehrere Male angesprochen worden, und wir wissen alle, dass sich hier gegenwärtig noch ein Strukturwandel vollzieht. Drittens. Wir gestalten die Wirtschaftsförderung gezielter und effizienter, und zwar gerade vor dem Hintergrund der notwendigen Überprüfung und Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen. Die Bundesregierung hat mit einem Bündel von Maßnahmen den Aufschwung Ost vorangetrieben. Dabei kommt der Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung sowie deren Vernetzung mit der Wirtschaft eine große Bedeutung zu. Beispielgebend sei hier das Programm Inno-Regio genannt, das regionale Initiativen in einem Wettbewerb mobilisiert. Es hat exemplarische Funktion für eine neue Förderpolitik des Bundes. Das muss man doch zur Kenntnis nehmen! ({14}) Das Programm PRO INNO, das die Forschungskooperation zwischen Unternehmen und mit Forschungseinrichtungen im In- und Ausland einschließlich eines zeitweiligen Personalaustausches fördert, ist ein weiteres Beispiel. Daneben tun wir etwas im Bereich der zukunftsorientierten Wirtschaftsförderung. Ich hätte mir gewünscht, die alte Bundesregierung wäre hier ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dann hätten die neuen Bundesländer heute Vorreiter auf diesem Gebiet sein können. Auch die aktuelle Green-Card-Kampagne verdeutlicht, dass im Osten Chancen im Zuge der Umstrukturierung der Ausbildung vergeben wurden. Auch das muss man an dieser Stelle einmal deutlich sagen. ({15}) Die Bundesregierung setzt neue Akzente bei der Risikokapitalfinanzierung von Existenzgründern. So wurde das ERP-Innovationsprogramm, das von der Kreditanstalt für Wiederaufbau durchgeführt wird, seit Januar 1999 um eine Beteiligungsvariante - hier handelt es sich um voll haftendes Risikokapital anstelle von Bankdarlehen - ergänzt. Viertens haben wir bei der Arbeitsmarktpolitik gehandelt. Angesichts der immer noch erheblichen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist dies auch unverzichtbar. Mein Wahlkreis liegt in Mecklenburg-Vorpommern zwischen Müritz und dem Oderhaff, einer landschaftlich sehr reizvollen Gegend. Aber trotz einer aufstrebenden Tourismuswirtschaft gibt es dort immer noch eine strukturell bedingte Arbeitslosenquote von 20 bis 25 Prozent. Daher hat das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit eine große Bedeutung für die Überwindung der Arbeitslosigkeit. ({16}) Erfreulich ist, dass sich alle Bündnispartner ihrer Verantwortung bewusst sind. Dies ist keine „Quasselbude“, wie Sie es immer beschrieben haben. Vielmehr zeigen die jüngsten maßvollen Tarifeinigungen in der Bauindustrie Ostdeutschlands, wie dieser Verantwortung Rechnung getragen wird. ({17}) Gerade den arbeitslosen Jugendlichen haben wir mit unserem JUMP-Programm wieder eine Perspektive gegeben. Ich war in den Arbeitsämtern meines Wahlkreises. In den Gesprächen mit den Leitern dieser Arbeitsämter ist mir bestätigt worden, dass diese Initiative greift und dass auch erfolgreiche Eingliederungen in den ersten Arbeitsmarkt zu verzeichnen waren. All die von mir aufgezeigten Beispiele machen deutlich, dass die Bundesregierung neue Akzente setzt, dass sie gehandelt hat und weiterhin handeln wird, um die Probleme in Ostdeutschland einer Lösung zuzuführen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme gleich zum Ende. Dazu bedarf es allerdings auch weiterhin des solidarischen Handelns aller Bundesländer. Dies gilt auch im Hinblick auf den ab 2004 neu zu gestaltenden Solidarpakt II. ({0}) Den Bemühungen der bayerischen Landesregierung sowie Baden-Württembergs, die die Intention haben, sich aus der Verantwortung für Ostdeutschland zu verabschieden, werden wir auch in Zukunft energisch entgegentreten. ({1}) Die Bundesregierung bemüht sich aus meiner Sicht nach Kräften, den Aufbau Ost voranzutreiben. ({2}) Die CDU-geführten Länder müssen sich aber genau überlegen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, dies muss nun wirklich der letzte Satz sein.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ob sie mit ihrer Ablehnung der Spar- und Steuerbeschlüsse von Hans Eichel letzten Endes die Voraussetzungen für den weiteren Aufbau Ost blockieren. Ich danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Krüger das Wort. Sie haben dann die Möglichkeit zu antworten.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Hempel, Sie haben mich vorhin direkt angesprochen. Ihre Aussage kann ich so nicht stehen lassen. Deshalb bitte ich die Kollegen um Verzeihung, dass ich ihre wertvolle Zeit jetzt noch in Anspruch nehme. ({0}) - Lassen Sie doch Ihre unqualifizierten Störungen. Herr Hempel, so einfach, wie Sie es dargestellt haben und wie Sie es sich machen, ist es leider nicht. Wenn sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung nichts weiter tun, als das Konzept für den Standort Rostock/Laage, das dazu dienen sollte, die Endmontage des Großflugzeuges A3XX dort anzusiedeln, zu übergeben und danach zu schweigen bzw. lediglich auf irgendwelchen Veranstaltungen, an denen in der Regel kaum Publikum von außen teilnimmt, den Eindruck zu vermitteln versuchen, dass man für diesen Standort kämpfen würde, dann reicht das nicht. ({1}) Die gesamte Flugzeugindustrie in Deutschland ist durch massive staatliche Interventionen in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren entstanden ist. Dies wissen Sie alles. Die Gelder, die gezahlt worden sind, um diese Industrie aufzubauen, gehen in die Milliarden. Es waren brutto etwa 15 Milliarden DM. Es sind Rückzahlungen erfolgt, sodass in diese Industrie netto etwa 10,2 Milliarden DM hineingeflossen sind. Heute wäre dies wegen der internationalen Wettbewerbskontrolle gar nicht mehr möglich. Das Konsortium Airbus International hat vor, ein neues Großflugzeug zu bauen. Der Entwicklungsaufwand beläuft sich auf etwa 11 Milliarden Dollar. Allein in Deutschland entstehen - dies mögen sich alle auf der Zunge zergehen lassen - 46 800 neue Arbeitsplätze; so prognostiziert von der deutschen Airbus. Wir wollen, dass Mecklenburg-Vorpommern zusätzlich zu dem marginalen Anteil, den die neuen Bundesländer an der Zulieferindustrie haben, trotz Konkurrenz mit den vielen westdeutschen Standorten eine Chance bekommt, dort wieder Flugzeuge zu bauen. In diesem Land wurden vor dem Krieg von etwa 20 000 Menschen Flugzeuge gebaut, so wie im Chemiedreieck die Chemieindustrie und in anderen Regionen, so in Sachsen, die Mikroelektronikindustrie angesiedelt war oder ist. Da kann man sich darüber streiten, ob es möglich ist, einen Endmontageplatz für ein solches Flugzeug auf die grüne Wiese zu setzen. Wir haben uns dafür eingesetzt, und da die Bundesregierung hier nicht gehandelt hat, sondern Herr Schröder sich sogar durch aktives Handeln für den Hamburger Standort eingesetzt hat, haben wir gemeint, wir müssen dagegen etwas unternehmen. Deshalb haben wir mit dem gesamten Ausschuss übrigens auch mit Ihren Stimmen - diese Anhörung durchgeführt und versucht, die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, welcher politische Skandal es ist, wenn die neue Bundesregierung sich mit keinem Federstrich dafür einsetzt, dass tatsächlich in MecklenburgVorpommern wieder Flugzeugbau stattfindet. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Krüger, eine Kurzintervention dauert wirklich nur drei Minuten.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dafür werden wir weiter kämpfen, und ich bin auch hoffnungsfroh, dass es uns gelingen wird, hier zumindest im Zulieferbereich einiges zu tun. Aber wesentlich mehr Engagement durch die Bundesregierung hätte man hier nicht nur erwarten dürfen, sondern müssen. ({0})

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Krüger, wir hatten ja nichts gegen die Anhörung, aber man kann sich dann nicht hinstellen und die Vertreter von Daimler-Chrysler und von Airbus Industrie zu einer Aussage nötigen. Das wissen Sie doch ganz genau. ({0}) Sie wissen auch genau, wie sensibel dieses Thema eigentlich zu behandeln gewesen wäre, denn wenn sich zwei streiten, freut sich in der Regel der Dritte, in diesem Fall Toulouse. Zunächst einmal muss das Ding nach Deutschland kommen, und dann können wir uns darüber unterhalten. Das war immer unsere Intention. Ansonsten sind wir da überhaupt nicht unterschiedlicher Meinung. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Sie haben sich da strategisch nicht vernünftig verhalten. Das muss ich Ihnen immer wieder vorwerfen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke. Ich schließe damit die Debatte. Wir kommen zu den Abstimmungen und Überweisungen. Zunächst kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder auf Drucksache 14/2608 zu drei Vorlagen zum Stand der deutschen Einheit. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Jahresbericht 1999 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? ({0}) Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. ({1}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja sehr spät. Ich bemühe mich, die Verhandlungen hier bei allem, was passiert, einigermaßen zügig durchzubringen. Bitte unterstützen Sie mich doch dabei. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortsetzung der Berichterstattung der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Drucksache 14/2238 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden, aber die CDU/CSU hat sich enthalten. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Weiterführung des Jahresberichts der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit auf Drucksache 14/1715 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen worden. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Strompreise in Deutschland angleichen - neue Stromsteuern im Osten aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1314 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Fortsetzung der Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen in den neuen Ländern auf Drucksache 14/2954. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1594 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur bedarfsgerechten Weiterentwicklung der Förderung und Unterstützung von technologieorientierten Unternehmensgründungen: Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2152 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Haltung der Bundesregierung, insbesondere des deutschen Außenministers Joseph Fischer, zu den europapolitischen Aussagen des Bürgers Joschka Fischer am 12. Mai 2000 ({2}) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann. ({3})

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Außenminister ist rechtzeitig zurück aus Indien, von einer sehr wichtigen Reise, die wir ausdrücklich begrüßen, und wir haben heute wenigstens kurz die Möglichkeit, sehr wichtige europapolitische Vorstellungen dort zu diskutieren, wo sie eigentlich hingehören, nämlich im Parlament, meine Damen und Herren. ({0}) Seit langer Zeit fordert die F.D.P. eine Grundsatzdiskussion über Ziele und Finalität des europäischen Integrationsprozesses. Insofern, Herr Fischer - damit hier keine Missverständnisse entstehen -, begrüßen wir eine grundsätzliche Diskussion über Europa ausdrücklich. Es gibt in Ihren Überlegungen ja auch eine Menge guter Vorstellungen von Herrn Genscher, von Herrn Kinkel: Verfassungsidee, föderative Struktur. Das ist wahrlich nichts Neues. Am Gedenktag von Robert Schuman ist aus Joschka Fischer kein zweiter Robert Schuman entstanden, aber es ist eine solide Grundlage. Wir haben heute nicht die Zeit, über die ganze Sache zu sprechen. Aber es gibt zwei wichtige Knackpunkte. Erstens. Die F.D.P. wendet sich gegen jede aufgewärmte Form einer Kerneuropaidee. Wir wollen umgekehrt, dass wir möglichst viele Versuche machen, alle Länder einzubeziehen. Wir sind auch gar nicht der Meinung, dass die sechs Gründerländer die integrationsfreundlichsten Länder sind, Herr Fischer. Wir sollten Länder wie die skandinavischen Länder, insbesondere Finnland und andere Länder, in der Avantgarde nicht ausschließen. ({1}) Zweitens. Der Zweikammervorschlag bedarf einer äußerst sorgfältigen Erörterung. Es ist eine gute Idee. Dieser Punkt sollte aber nicht außerhalb des Parlamentes, sondern hier diskutiert werden; denn er betrifft unsere Möglichkeiten, unsere Rechte in vitaler Weise. Der Kernpunkt der Aktuellen Stunde ist jedoch folgender: Warum sind dies nur Äußerungen von Ihnen privat in der Universität? Dagegen haben wir nichts, aber warum sind dies keine Vorschläge der Bundesregierung? ({2}) Meine Damen und Herren, es ist doch interessant: Wir haben Stellungnahmen der Sozialdemokraten. Wir haben Stellungnahmen der Christdemokraten. Wir haben Stellungnahmen der Freien Demokraten. ({3}) - Es gibt aber bisher, Herr Schlauch, überhaupt keine Stellungnahme vonseiten der Grünen zu Herrn Fischers Vorschlägen. ({4}) Ich kann nur sagen, dass das eine schwache Vorstellung ist. Herr Fischer, große Initiativen waren immer Initiativen zweier oder dreier Länder. Ich erinnere an die ColomboGenscher-Initiative, die sehr wichtig war. Ich erinnere an die Initiative von Herrn Genscher zum Weimarer Dreieck mit Herrn Kubiczewski und Herrn Dumas. Die Frage ist: Inwieweit ist das ein persönlicher deutscher Alleingang? Inwieweit sind das Vorstellungen, die unser wichtigster Partner, Frankreich, teilt, was bei solchen Initiativen immer entscheidend ist? Der entscheidende Punkt aber ist, Herr Fischer: Sie machen den dritten vor dem ersten Schritt. Heute geht es darum, zu fragen, welche Zwischenschritte es gibt. Wo bleibt die Umsetzung? Visionen sind gut, meine Damen und Herren. Aber in zehn Jahren haben die Grünen mit der konkreten Gestaltung der Regierungspolitik in Sachen Europa sowieso nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren. ({5}) Deshalb, verehrte Sozialdemokraten, fordere ich Herrn Fischer auf: Kehren Sie zu einer realistischen Europapolitik zurück! Derzeit gehen von Deutschland keine konkreten Fortschritte aus. Herr Schlauch, nehmen Sie zur Kenntnis, dass die F.D.P. die Grünen bei den letzten wichtigen Wahlen geschlagen hat und dass die Freidemokraten inzwischen die dritte Kraft sind! ({6}) Die Zustimmung zu Europa ist bei uns und in den neuen Beitrittsstaaten Osteuropas rückläufig. Wir brauchen endlich konkrete Schritte. Wir brauchen eine deutsch-französische Initiative. ({7}) Herr Fischer, beenden Sie die unsägliche Behandlung Österreichs, ({8}) die inzwischen in vielen kleinen Staaten, insbesondere auch in Osteuropa, die Befürchtung ausgelöst hat, dass große Staaten mit kleinen immer so umgehen könnten. ({9}) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Das ist ein ernstes Problem. Reden Sie einmal mit Vertretern der baltischen Staaten über dieses Problem! ({10}) Wann wird endlich der konkrete Zeitplan für die Osterweiterung vorgelegt? ({11}) Die Debatte, die in Polen über Europa geführt wird, ist äußerst negativ. Es ist nicht zuletzt Ihre Aufgabe, Herr Fischer, als Außen- und Europaminister die Stabilität der europäischen Währung, das wichtigste europäische Projekt, zu verteidigen. Heute hat der Euro erneut einen historischen Tiefstand erreicht: unter 0,90 US-Dollar! Selbst die Europäische Zentralbank, die zu Recht zu politischer Neutralität verpflichtet ist, hat heute mitgeteilt: Die EuroSchwäche ist hausgemacht. Die Euro-Staaten kommen bei der Lösung ihrer Arbeitsmarktprobleme nicht voran. Wir brauchen ernsthafte reformerische Anstrengungen, damit vor Einführung des europäischen Geldes der Euro wieder stärker wird. Dies sind die konkreten Schritte, die wir von Ihnen erwarten. Wir erwarten nicht nur Visionen von Ihnen. Diese Schritte müssen bitte im Namen der Bundesregierung und nicht im Namen eines Privatmannes angekündigt und getan werden. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Gloser.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Haussmann, was wollen Sie eigentlich? Einmal beklagen Sie das Fehlen von Visionen bei der Bundesregierung in Sachen Europapolitik. Dann wird von einem überzeugten Europäer etwas ausgeführt. Anschließend fordern Sie wieder konkrete Schritte. Ich frage nur: Was wollen wir eigentlich mehr? Endlich ist eine Debatte über Europa angestoßen worden, deren Fehlen wir in der Vergangenheit ständig beklagt haben. Jetzt ist sie endlich da! ({0}) Die Rede, mit der diese Debatte angestoßen worden ist, hat ein überzeugter Unionsbürger und Europäer, unser Außenminister, gehalten. Ich finde, diese Debatte ist auch überfällig. Es ist notwendig, dass wir diese Debatte über Europa im Parlament und in unserem Land führen. Es ist auch notwendig, dass unsere Partner diese Debatte führen. Herr Fischer hat es vor einer Woche in seiner Rede auf den Punkt gebracht: Ist die Europäische Union mit künftig 27 oder mehr Mitgliedstaaten noch tragfähig, wenn die bisher üblichen Methoden der Integration angewandt werden? Man muss nicht alle seine Überlegungen teilen. Es handelt sich schließlich um eine Diskussion. Wir waren uns darüber einig, dass wir auch hier im Parlament eine breit angelegte Debatte führen müssen. Die gegenwärtige Regierungskonferenz zeigt auch - ich möchte auf Ihre Rede eingehen, Herr Dr. Haussmann -: Eine größer werdende Europäische Union, die wir alle wollen, benötigt nicht nur eine andere Statik, sondern vor allem auch eine andere Perspektive und eine Vision. Diese hat Joschka Fischer vor einer Woche sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. ({1}) Vor wenigen Tagen haben wir uns - insofern gibt es einen Konsens - der Rede Robert Schumans und seiner Gedanken erinnert. Dabei ist auch das Thema einer europäischen Föderation aufgegriffen worden. Es ist in der Tat wichtig, eine breit angelegte Diskussion über die Frage zu führen: Was bedeutet eigentlich „europäische Föderation“? Natürlich kann man über manches, was Sie, Herr Außenminister, gesagt haben, unterschiedlicher Auffassung sein. Aber mit den Fragen: „Wie nehme ich die Bürgerinnen und Bürger bei diesem Prozess in Europa mit? Warum erscheint vielen bei uns Europa als superferne Bürokratie?“ ist ein wichtiger Anstoß gegeben worden. Über diesen Anstoß sollten wir in den folgenden Debatten im Bundestag und an anderen Stellen diskutieren. Weil gelegentlich - zu Recht oder zu Unrecht - Kritik geäußert worden ist, will ich gar nicht auf die vielen Mäkeleien aus den Reihen der CDU/CSU, die es vor allem in Presseveröffentlichungen gegeben hat, eingehen; stattdessen will ich mich auf einen wesentlichen Punkt konzentrieren: Joschka Fischer hat davon gesprochen - es ist wichtig, das herauszuheben -, dass es mit ihm kein Kerneuropa als Exklusivklub gibt. Dies haben andere Unionsbürgerinnen und -bürger, auch aus Ihrer Fraktion, vor einigen Jahren ganz anders gesehen; insofern ist das ein ganz deutliches Signal gegenüber anderen. ({2}) Der Leitsatz dieser Diskussion muss lauten: Differenzierung in der Europäischen Union ohne Diskriminierung anderer. Diese Europäische Union ist in der Tat auch bei dieser Vision offen für andere Länder. Wir Sozialdemokraten fanden und finden diese Rede zukunftsweisend. Es war vor allem eine integrationsfreundliche Rede, die es verdient, einer breiten Debatte unterzogen zu werden. Ich wünsche mir vor allem, dass wir dies in den nächsten Wochen - das müssen wir in diesem Parlament entsprechend regeln - tun werden. Ich hoffe zugleich, Herr Außenminister, dass Ihre fulminante Rede vor der Humboldt-Universität einen Impuls für die laufende Regierungskonferenz gibt. Dabei können sicherlich nicht alle Fragen in den nächsten Monaten geklärt werden. Vor dem Hintergrund dessen, was wir in den nächsten Jahren in Europa leisten müssen, ist es wichtig, dass wir auf der Regierungskonferenz in konkreten Punkten weiterkommen. Signale aus den verschiedenen Mitgliedstaaten und von Regierungen zeigen, dass Sie einen wichtigen Impuls gegeben haben. Sie haben sich nicht hinter diplomatischen Floskeln verschanzt, sondern Herzblut für dieses Europa gezeigt. Ich glaube, das ist auch für die laufende Debatte wichtig. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Hintze. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihre Rede in der Humboldt-Universität, Herr Bundesaußenminister, war ein wichtiger Beitrag zu der Frage, wie Europa in Zukunft aussehen könnte. Es ist gut, dass wir im Parlament Gelegenheit haben, einmal über die damit verbundenen Gedanken zu sprechen. ({0}) Ich unterstütze dabei ausdrücklich Ihre Idee eines Verfassungskompromisses zwischen den Nationalstaaten und Europa. Wir sollten ein wenig die Hitze aus der Debatte nehmen. Wir sind im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, im Reichstagsgebäude; auf der einen Seite befindet sich die Bundesflagge und auf der anderen Seite die Europaflagge. Diese historische Synthese zwischen Europa und den Nationalstaaten kommt in diesem Raum symbolisch zum Ausdruck. Ich finde es interessant, die von Ihnen aufgeworfenen Ideen einmal weiterzudenken. ({1}) Unser Ziel sind die vereinigten Nationalstaaten von Europa. Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort in die Debatte einführen. Herr Kollege Gloser und andere Kollegen haben im Vorfeld Äußerungen gemacht, die den Sachverhalt nicht treffen. Mit Ihrem Vorschlag zur Schaffung einer europäischen Föderation, Herr Bundesaußenminister, und mit der Ausgestaltung dieses Vorschlages sind Sie das muss ich Ihnen sagen - auf dem Boden der Programmatik angekommen, die CDU und CSU in den letzten Jahren entwickelt haben. Das begrüßen wir. ({2}) Dabei erscheint uns aber kritikwürdig, dass Sie den Denkanstoß, der beispielsweise in dem von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers erarbeiteten Papier vorgelegt wurde, nämlich die Idee eines Kerneuropas, absolut falsch interpretieren. Kein Mensch, der diese Papiere gelesen hat, kommt zu einer solchen Interpretation, wie sie bedauernswerterweise Herr Gloser vorgenommen hat. Natürlich ist die Idee der Union von einem Kerneuropa im Gegensatz zu dem, was Sie ihr unterstellen - eine Idee des Integrationszugewinnes und der Integrationsbeschleunigung; sie ist eine Idee, wie wir Europa effizienter, transparenter und handlungsfähiger machen können. Sie wollen ja auch, dass diejenigen, die das wollen, das auch können. Vielleicht liegt darin die Chance zu einem gemeinsamen Projekt. „Gravitationszentrum“, „Kompetenzabgrenzung“ und „Verfassungsvertrag“ sind Begriffe, die in der Union entwickelt worden sind und erfreulicherweise bei Ihnen auftauchen. Auch das will ich in dieser Debatte einmal sagen. ({3}) In der Tat seltsam ist - Herr Kollege Haussmann hat es angesprochen - die Trennung zwischen dem Bundesaußenminister Fischer und dem Bürger Fischer. Ich will hierüber gar keine Scherze machen. Aber gerade der Bundesaußenminister und die gesamte Bundesregierung sind gefordert, aus dem lähmenden Stillstand in der Regierungskonferenz, für den die Regierung Mitverantwortung trägt, in ganz konkreten Fragen herauszukommen. Sie können nicht einfach sagen: Ich verabschiede mich von meinem Amt und trage eine große Vision vor, weil ich mit der konkreten Wirklichkeit nicht fertig werde. Vielmehr sind hier im Parlament und zusammen mit den europäischen Partnern Initiativen zu entwickeln, wie wir konkret zu mehr Integration und zu einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Europa und den Nationalstaaten und damit zu einer höheren Effizienz und Transparenz in Europa kommen. Wir wollen Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie zwar eine Vision liefern, die wir gerne diskutieren und auch interessant finden, dass zugleich aber auf der Regierungskonferenz die konkreten Dinge auf der Strecke bleiben. ({4}) Jetzt möchte ich in kurzen Stichworten darauf hinweisen, dass die Risiken und Nebenwirkungen Ihres Planes natürlich auch im Blick zu halten sind. Ein Binnenmarkt, der sich in Kerne auflöste, wäre das Gegenteil dessen, was wir wollen; darauf ist eben schon einmal hingewiesen worden. Kern-Europa muss eine Zugewinnchance in sich bergen und als Integrationskern ausgestaltet werden. Es darf keinen Rückfall in das Intergouvernementale geben, sondern wir müssen hin zu mehr Integration. Darauf müssen wir gemeinsam achten. ({5}) Ich persönlich halte übrigens die Euro-Zone schon für einen solchen Kern, aus dem heraus sich das entwickeln kann. Warum ist Europa so schwerfällig? Zwei Punkte: Erstens gibt es eine ungute Kompetenzvermischung zwischen Europa und den Nationalstaaten und zweitens keine klare Gewaltenteilung, sondern ein Durcheinander von Exekutive und Legislative im Rat. Hierzu Folgendes wiederum nur in Stichworten: Ihre negative Bewertung der ersten Kammer, also des Europäischen Parlaments, teile ich ausdrücklich nicht. Das Parlament ist der wahre Gewinner von Amsterdam. Es ist auch kompetenter und effektiver geworden. Ihr Vorschlag eines Parlamentes aus Doppelmandataren führte zu einem gelähmten Riesen; dann würde man weder die Aufgaben in Brüssel noch die in Berlin richtig wahrnehmen können, insbesondere nicht die Kontrollfunktion. Deswegen bin ich für eine Stärkung des Europäischen Parlaments. ({6}) Der letzte Gedanke: Die Minister und ihre Beamten fühlen sich - das ist eine Entwicklung, an der wir auch unseren Anteil haben - im Rat quasi allzuständig: für die europäische Gesetzgebung, für die europäische Exekutive, also für das Erlassen und das Durchführen von Gesetzen. Sie haben auch im Rahmen der jetzt bestehenden Verträge eine Chance, diese zweite Kammer, also den allgemeinen Rat, so auszugestalten, dass es mit dieser Vermischung ein Ende hat und hier ein Fortschritt eintritt. Wir laden Sie ein, Ihre Vision in den Handlungsfeldern, auf denen Sie handeln können, ein Stück weit Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei sollte der Privatmann Fischer dem Bundesaußenminister Fischer vielleicht ein paar Tipps für die Regierungskonferenz geben und dafür sorgen, dass es zu mehr Kompetenzabgrenzung, einer stärkeren Selbstbeschränkung des Rates, zu höherer Effizienz und mehr Transparenz kommt. Der Weg zu den Vereinigten Nationalstaaten von Europa lohnt eine gemeinsame Anstrengung. Es war in diesem Hause immer Tradition, dass wir in den großen Fragen der Europapolitik zusammenzufinden versuchten, dass wir zusammen diskutierten und das Ergebnis der Diskussion gemeinsam vertraten. Ihr Plan bietet einen Ansatzpunkt für eine solche gemeinsame Initiative. Lassen Sie uns sie angehen! ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir hat sich bisher noch nicht erschlossen, was eigentlich die Ratio dieser Aktuellen Stunde sein soll. ({0}) Ist es wirklich der Vorwurf, dass der Außenminister als Unionsbürger eine wegweisende Rede hält? Das rechtfertigt wohl wirklich keine Aktuelle Stunde. Sie müssen zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass es keine Kritik, sondern Unterstützung zum Beispiel aus dem Bundeskanzleramt gab. Das war oft in den Zeitungen zu lesen. Insofern konstruieren Sie Widersprüche innerhalb der Regierung, die keineswegs existieren. Dann wurde die Haltung der Fraktionen angesprochen. Ich kann Ihnen davon berichten, dass der europapolitische Sprecher der SPD und der der Grünen, also Herr Kollege Gloser und ich, bei dieser Rede anwesend waren. ({1}) Ich habe in einer Erklärung, die auch über den Ticker lief, unmittelbar nach der Rede diese Rede sehr begrüßt und gehe auch weiterhin davon aus, dass diese Rede einen enormen Schub für die europapolitische Debatte darstellt. Ein Kabinett stimmt über Gesetzentwürfe, über Haushalte und politische Maßnahmen, aber nicht über Visionen ab. ({2}) Insofern können wir durchaus nachvollziehen, dass Ihnen während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit der Sinn für visionäre Politik ziemlich abhanden gekommen ist. ({3}) Viele diesbezügliche Erfahrungen haben Sie ja nicht gemacht. Eröffnen Sie also keine Nebenkriegsschauplätze, sondern stellen Sie sich der Debatte über das, was angestoßen worden ist! ({4}) Dazu ist die Aktuelle Stunde nicht der richtige Ort. ({5}) Ich frage mich, warum Sie sich geweigert haben, hier in diesem Hause darüber eine vereinbarte Debatte zu führen. ({6}) Wir hätten dann Zeit gehabt, auch inhaltlich tiefer gehend zu diskutieren. ({7}) Nein, Sie eröffnen Nebenkriegsschauplätze, um mit lockeren Sprüchen über das, was diese Rede enthält, hinwegzutäuschen. Das ist ein Punkt, der hier nicht in Vergessenheit geraten darf. ({8}) Die Rede enthält Visionen. Das ist der notwendige Denkanstoß. Sie aber entfachen eine Neiddebatte. ({9}) Ihre einzige Vision besteht offensichtlich in der Hoffnung auf erneute Regierungsbeteiligung. Das haben Sie ja auch hier ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu der Bedeutung dieser Rede sagen. Ich glaube, dass die Bedeutung erstens darin liegt, dass die vor sich hindümpelnde Europadebatte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa wirklich einen ganz kräftigen Impuls erhalten hat. ({10}) Das zeigen auch die positiven Reaktionen in den anderen EU-Ländern. Dort ist dieser Ball aufgenommen worden. Ich hoffe, dass auch Sie diesen Ball in Zukunft inhaltlich und politisch aufnehmen, ({11}) mitdiskutieren und nicht Debatten über Nebenkriegsschauplätze führen. Zweitens liegt die Bedeutung darin, dass mit dieser Rede ein Tabubruch einherging, weil endlich offen über „Finalität“ gesprochen und diskutiert wurde und nicht gemeinsam geschwiegen wurde. Das Schweigen ist ja ein Element, das Ihre Europapolitik in den letzten Jahren sehr stark geprägt hat. ({12}) Es wird endlich eine Debatte geführt, wie wir über Regierungskonferenzen hinaus zu einer gemeinsamen Vorstellung von Europa kommen. Dieser tabuisierte Bereich wurde nun offen zur Diskussion gestellt. Ich kann Sie nur auffordern: Beteiligen Sie sich ernsthaft an dieser Debatte! ({13}) Der dritte wichtige Punkt ist, dass es Joschka Fischer in seiner Rede gelungen ist, sehr verschiedene und isoliert geführte europapolitische Diskurse zusammenzuführen. Es gab die Debatte um ein Kerneuropa, es gibt die Debatte um Kompetenzen innerhalb Europas, es gibt den Verfassungsdiskurs, Diskussionen über die Demokratisierung der EU und die Föderalismusdebatte. Alle diese Debatten wurden relativ isoliert geführt. Aber in dem Entwurf, in dieser Vision einer Föderation Europa ist es gelungen, alles, was bisher puzzlehaft nebeneinander lag, zusammenzufügen. Das ist der entscheidende Punkt. Deshalb hat die Rede eine solche Bewegung ausgelöst und einen solchen Anstoß gegeben, der die Debatte in Europa hoffentlich dauerhaft bereichert. Insofern hoffe ich, dass dieser Anstoß, der der Debatte damit gegeben worden ist, sich nicht auf die heutige Aktuelle Stunde beschränkt. Ich kann Sie nur auffordern, mit uns gemeinsam diesen Ball aufzunehmen, ihn weiterzuspielen ({14}) und das Momentum, das dadurch ausgelöst wurde, aufrechtzuerhalten. So kann ein weiterer Schub in Richtung Integration ausgelöst werden. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde die Formulierung des Themas dieser Aktuellen Stunde ausgesprochen witzig. Es ist doch vielleicht schon eine Stunde wert, dass man zu einem witzig formulierten Thema reden kann. ({0}) - Okay, das war es dann auch schon. Ich habe auch eine plausible Erklärung dafür, warum eine Trennung zwischen dem Außenminister und dem Privatmann Fischer vorgenommen wurde: Das ist ein Medientrick, auf den wir alle abgefahren sind. ({1}) Auch ich war natürlich außerordentlich neugierig, was der Privatmann Fischer im Gegensatz zum Außenminister Fischer sagen kann. Der Trick ist gelungen; denn wir debattieren heute über dieses Thema. ({2}) Schluss mit diesen Vorbemerkungen, zur Sache selbst: Für mich hatte und hat das Ziel „Vereinigte Staaten von Europa“ - Außenminister Fischer benutzt ja diesen Begriff nicht; ich glaube, er benutzt ihn bewusst nicht -, ein föderatives Staatswesen, begründet auf Wohlfahrt und Demokratie, eine ganz starke Anziehungskraft, wenngleich ich zugeben muss: Ich habe mir das Zustandekommen immer ganz anders vorgestellt. Es gibt darüber auch eine längere theoretische Debatte in der Linken. Die Vereinigten Staaten von Europa, gegründet auf eine demokratische Verfassung, bedingen - ich glaube, hier hat Fischer Recht - einen Vertrag, der die Rechte der Nationalstaaten und der Föderation demokratisch und zugleich sensibel bestimmt. Nationalstaat und europäische Integration können in ein neues, sinnvolles und beiderseitig nützliches Verhältnis gebracht werden. Die europäische Einheit - das ist meine feste Überzeugung - muss eine Einheit in der Vielfalt sein und darf sich nicht auf Zentralisierung gründen. ({3}) Einheit in der Vielfalt ist die Chance für einen gemeinsamen Weg zu einem geeinten Europa. Ein föderales Europa - dieser Gedanke ist in der Rede des Außenministers nicht vorhanden - braucht in diesem Sinne eine europäische Staatsbürgerschaft. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir alle über eine doppelte Staatsbürgerschaft verfügen werden: eine nationalstaatliche und eine europäische. Gerade dieser Gedanke einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft weist über nationalstaatliche Identitäten hinaus. Ich weiß sehr gut, dass diese Fragen auch in der politischen Linken Europas höchst umstritten sind. In der politischen Linken habe ich viele Freunde, die sich mit solchen Gedanken nur wenig anfreunden können. Ich halte allerdings diese Gedanken für zukunftsfähig und perspektivisch. Obwohl ich, wie ich gerade ausgeführt habe, den Anstoß des Außenministers interessant finde, liest sich seine Rede - so war mein Eindruck; ich habe sie nicht gehört, sondern gelesen - über weite Teile sehr blutleer. In dieser Rede kommen die Menschen - die tatsächlichen Menschen, um die es ja geht - gar nicht vor. Die in Europa lebenden Menschen sind bei Außenminister Fischer offenkundig nur eine Fiktion, irgendeine Komponente angesichts dessen, was als Motor der Integration angesehen wird. Der Außenminister benennt drei Faktoren: den Euro, das gemeinsame Recht und die gemeinsame Militärpolitik. Zugegeben: Das sind wichtige Faktoren. Aber es findet sich kein Wort über gemeinsame Beschäftigungs- und Sozialpolitik, über kooperative Bildungspolitik und vernünftige Umweltpolitik. Ein Mehr an Erwerbsarbeit, sozialer Sicherung, Umweltstandards und Bildung, ein Mehr an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit oder Schwesterlichkeit könnte die Menschen für Europa aufschließen und den Menschen Ängste vor Europa nehmen. ({4}) Das müssen wir erreichen. Ein vereintes Europa von oben wird es nicht geben. Wir müssen die Ängste vor diesem Europa gemeinsam abbauen. Darüber fand sich in der Rede kein Wort. In der Rede von Außenminister Fischer - ich sollte vielleicht „Privatperson Fischer“ sagen - wird auch nicht darüber nachgedacht - das hat mich schon sehr gewundert -, warum Rassismus, Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa zunehmen, obwohl deren Bekämpfung ein wichtiger Schritt zum vereinten Europa wäre. Der Bundespräsident hat das in seiner Rede am gleichen Tag getan. Mit dem Timing müssen sich andere auseinander setzen. ({5}) Offensichtlich hat der Außenminister Europas Grenzen fest im Kopf. Aber gehören nicht Weißrussland, die Ukraine und auch Russland zu Europa? Zumindest nachdenken muss man wohl darüber. Es darf nicht zu einer Abschottung kommen. Das europäische Haus, das jetzt gebaut werden muss, wird immer - wie ich hoffe: gute - Nachbarn haben. Warum, so frage ich, sollen europäische Interventionskräfte, für die nach den Worten des Außenministers der Kosovo der Anstoß war, uns Europäer - verzahnt mit der NATO - zusammen bringen? Die militärische Zusammenarbeit wird Europa nicht einigen. Wenn Europa und Frieden in Europa und gegenüber der Welt nicht mehr in einem Atemzug genannt werden können, dann nimmt Europa Schaden. Ich glaube, dass das Europa, das der Außenminister vorgestellt hat, von oben gedacht ist. Mein Europa soll von unten wachsen. Noch besser wäre es, wenn an diesem Europa von oben und unten gleichzeitig gearbeitet würde. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken sagen. Wenn man die Vereinigten Staaten von Europa ernsthaft will, muss dieser Prozess für alle Länder offen sein: für kleine und große Staaten, für Länder der ersten Stunde und für Länder, die später hinzukommen, für Länder aus dem Osten und für die aus dem Süden. Dass die deutsch-französische Zusammenarbeit dabei einen herausragenden Platz einnimmt, ist historisch erwachsen, begründbar und nicht zu ersetzen. Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir bereits heute. Ich glaube aber, dass das etwas anderes ist als der Vorschlag eines Kerneuropas. Mit einer Trennung in Kern und Rest entstünde ein Bündnis im Bündnis. Dies wird, einmal geschaffen, seine eigene Dynamik entfalten. Das wäre aus meiner Sicht kein Weg zur Integration, sondern ein Hindernis auf diesem Weg. Einen letzten Satz: Ich würde sehr vorsichtig mit dem Begriff der „Finalität“ dieses Prozesses sein. Ich hoffe, dass er unumkehrbar ist; sichergestellt ist es noch nicht. Es wird keine Finalität eines solchen Weges geben, wenn er ein Prozess bleibt - genauso wie es kein Ende der Geschichte gibt. Es wird ein offener, zu gestaltender Prozess bleiben, der noch nicht final ist. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Gehrcke, merken Sie sich diesen Tag: Die PDS-Fraktion hat selten so viel Applaus von der F.D.P. erhalten. Das wird sicherlich in die Annalen Ihrer Fraktion eingehen. ({0}) - Galt der Beifall jetzt mir, Herr Westerwelle? ({1}) - Wunderbar, der Tag wird gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir ist - ich sage das einmal in aller Offenheit - eigentlich schnurzpiepegal, ob zukunftsweisende Reden von Unionsbürgern, Europäern oder ({2}) glücklicherweise bundesdeutschen Außenministern gehalten werden. Es kommt auf den Inhalt an. Es ist etwas vorgetragen worden, was sicherlich einer langen und intensiven Debatte bedarf, vor allem auch hier im Bundestag. Insofern freue ich mich auch ein bisschen über die Aktuelle Stunde, ({3}) weil sie mir Gelegenheit gibt, etwas zu dem einen oder anderen Punkt anmerken zu dürfen. Die Verfassungsdebatte ist belebt worden. Die Vorschläge des Außenministers betten sich ja in zahlreiche andere Vorschläge ein: Helmut Schmidt, Valéry Giscard d´Estaing, Jacques Delors, die drei Weisen haben etwas vorgelegt, Außenminister Védrine hat sich geäußert, kürzlich gab es eine Veröffentlichung des Hochschulinstitutes Florenz, in der es auch um die zukünftige Struktur der Europäischen Verträge geht. Ich finde diese Einbettung wunderbar. Ich finde es auch gut, Herr Kollege Hintze, wenn Sie hier vor dem Bundestag erklären, dass wir zur Zusammenarbeit bereit sein müssen, und Ihre Bereitschaft dazu unterbreiten, wobei ich im Augenblick das Problem weniger aufseiten der Koalitionsfraktionen sehe. Mich treibt eher die Sorge um, dass aus dem Süden dieser Republik immer wieder Schwadronaden bis nach Berlin vordringen, die alles andere als integrationsfreundlich sind. Insofern müssen Sie einmal in Ihren eigenen Reihen für Remedur, für Ordnung sorgen ({4}) und klare Vorschläge unterbreiten. Das ist zumindest die Meinung der SPD-Fraktion. Ich will eine Anmerkung zu den Vorschlägen für ein Kerneuropa machen. Herr Lamers hat diesbezüglich vor ein paar Jahren etwas sehr Kluges zum Ausdruck gebracht. Jedoch haben Sie damals - im Gegensatz zum Außenminister Fischer - einen massiven Fehler gemacht. Sie haben nämlich in Ihrem Papier explizit einige Mitgliedstaaten benannt, die diesem Kerneuropa angehören sollen; andere wiederum haben Sie nicht genannt. Dann sind Sie sehr umständlich wieder zurückgerudert. Ich meine, die Fairness gebietet es, Herr Lamers, dass heute noch einmal deutlich gesagt wird: Der Nukleus, das „Gravitationszentrum“, von dem Herr Fischer gesprochen hat, meint etwas anderes als die Ideen, die Sie im Rahmen Ihrer Vorschläge zu einem Kerneuropa unterbreitet haben. ({5}) Die Verfassungsdebatte ist meines Erachtens notwendig, weil wir bei unseren zahlreichen Debatten hier im Bundestag über die Regierungskonferenzen an einem relativ enttäuschenden Punkt angelangt sind. Wir hangeln uns bei jeder Regierungskonferenz von einem kurz- und mittelfristigen Problem zum nächsten, ({6}) obwohl wir wissen, dass wir auf den Regierungskonferenzen - auch in Nizza - nicht alles Notwendige auf den Weg bringen können, was die Bürgerinnen und Bürger von uns erwarten. Umso wichtiger ist es, dass wir neben den kurz- und mittelfristigen Schritten, die auf den Regierungskonferenzen auf den Weg gebracht werden, eine langfristige Perspektive entwickeln. Das ist mit der Rede von Außenminister Fischer geschehen. Ich appelliere auch an Offenheit. Es gibt nun einmal in Europa verschiedene Denkschulen, es gibt auch verschiedene Modelle. Es gibt eine eher intergouvernementale Linie und eine eher integrationsfreundliche Linie. In der Bundesrepublik gilt eher die zweite Linie. Wir sollten diese Differenzen auch nicht unter den Tisch kehren. Es muss mit unseren Partnern in Europa ganz offen über diese verschiedenen Modelle geredet werden. Nur wenn wir Argumente kraftvoll und überzeugend herüberbringen, können wir auch überzeugen für unsere Linie und für die Vorschläge, die von Vertretern der Bundesregierung und von Vertretern des Bundestages gemacht werden. ({7}) Ich halte auch nichts von einem Streit um Terminologien. Wir sollten uns über die Frage unterhalten: Was ist eigentlich unser Ziel? Das wurde auch in dieser Rede klar anvisiert. Wir wollen ein demokratischeres, ein handlungsfähigeres und ein bürgernäheres Europa. Wir sollten auch gar keine Angst vor Begriffen haben. Ich habe kein Problem damit, von einer europäischen Verfassung zu reden. Auch von der Föderation kann man reden. Begriffe sind nicht das Entscheidende. Es geht darum: Was steht hinter diesen Begriffen? Einen Punkt sehe ich allerdings - das ist auch schon erwähnt worden - etwas anders als der Kollege Fischer. Wenn wir eine Parlamentarisierung in Europa anstreben, sollten wir nicht abgehen von dem Weg der direkten demokratischen Legitimation der Mitglieder des Europäischen Parlaments. ({8}) Ich glaube, dass die Bundestagsabgeordneten wahrlich genug zu tun haben und nicht noch einzelne Aufgaben in Brüssel übernehmen sollten. Das ist meine ganz persönliche Auffassung. Nur mit einer Parlamentarisierung machen wir auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich, worum es bei einer Europawahl geht. Im Augenblick ist das nicht klar. Wenn sich bei einer Wahl des Europäischen Parlaments dann irgendwann in der Konsequenz eine neue Mehrheit widerspiegelt und deutlich wird, wer überhaupt in der europäischen Regierung sitzt, welche politische Kraft in Europa gestalterisch tätig wird, haben wir eine ganze Menge erreicht. Ich glaube, das war eine mutige Rede. Europa braucht Mut und Europa braucht mutige Bürgerinnen und Bürger. Wenn einer unter den mutigen Bürgerinnen und Bürgern dann Joschka Fischer heißt, ist das meines Erachtens nichts Schlechtes, sondern etwas sehr Gutes. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Guido Westerwelle. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer, Sie haben am Freitag eine wirklich bemerkenswerte Rede gehalten, die Anerkennung verdient. Wir hätten uns diese Rede vom deutschen Außenminister gewünscht und darüber reden wir hier. ({0}) Sie sprachen in Ihrer Rede selber von Einschränkungen, denen Sie unterliegen. Sie sagten, das sei Ihre persönliche Zukunftsvision. Sie sagten dort, den Außenminister würden Sie jetzt definitiv weit hinter sich lassen. Wie geht das eigentlich, wenn man Außenminister ist? Sie sprachen von der beengenden Rolle des deutschen Michael Roth ({1}) Außenministers, die es Ihnen nicht erlaube, derartige zukunftsträchtige Ausführungen zu machen. Wer beengt Sie? Was beengt Sie? Beengt Sie die Bundesregierung? Beengt Sie der Kanzler? Beengt Sie Ihre eigene Partei, so etwas hier zu sagen? ({2}) Ich finde, es ist notwendig, dass jemand Anstöße gibt. Das ist zu Recht gewürdigt worden, übrigens ausdrücklich auch von der Fraktion der Freien Demokraten. Aber es ist notwendig, meine Damen und Herren, dass dann im Deutschen Bundestag eine solche Debatte stattfindet. Was ist das denn für ein Parlamentsverständnis, wenn man hier eine Debatte beantragt, weil ein Privatmann eine Rede hält, der zufällig noch Minister ist? Setzt man eigentlich als Minister mal einen Hut auf und setzt ihn dann wieder ab und wenn man ihn abgesetzt hat, darf man sagen, was man will, und wenn man ihn aufgesetzt hat, darf man nur sagen, was andere ihm vorgegeben haben? ({3}) Wir wünschten, dass solche zukunftsträchtigen Ausführungen - und das waren sie - die Politik der Bundesregierung wären und nicht die Politik des Privatmannes Joschka Fischer. ({4}) Sie haben angekündigt, hier zu sprechen. Sie stehen auch auf der Rednerliste und das ist gut. Allein das zeigt, dass die von uns beantragte Debatte hier Sinn macht. Sie haben jetzt gleich die Gelegenheit, hier zu sprechen, übrigens dann als Außenminister Fischer. Kommen Sie nicht auf die Idee, gleich als Privatmann zu uns zu sprechen. ({5}) Hier sprechen Sie als Außenminister und wir möchten gleich von Ihnen als Außenminister hören: Sind die klugen Ausführungen der künftige Leitfaden der europäischen Politik der deutschen Bundesregierung? Ich finde es ausgesprochen interessant, was der Langstreckenläufer Fischer uns zu erzählen hat, aber die Außenministermeinung ist gefragt. Wenn jemand Außenminister ist, muss er auch wie ein Außenminister handeln. ({6}) Der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der Ehrenvorsitzende der F.D.P., hat das, wie ich finde, in einem bemerkenswerten Artikel im „Tagesspiegel“ in dieser Woche öffentlich ausgeführt. Ehre, wem Ehre gebührt. Er sagt dort: Die Bundesregierung gewinnt damit nach anfänglicher Abstinenz europapolitisches Profil. Fischers Vorstellungen sind weit reichend; sie werden auch Widerspruch hervorrufen, aber die Richtung stimmt. ({7}) Besser kann man es in wenigen Sätzen nicht ausdrücken. Es ist notwendig, dass Sie sich zu Ihrer Rolle als Außenminister bekennen. Natürlich wissen wir alle, warum Sie vor einer Woche, kurz vor der Wahl, unbedingt in der Humboldt-Universität sprechen wollten: ({8}) Sie haben sich davon eine Wirkung erhofft. Ich finde es, offen gestanden, einen reichlich fragwürdigen Akt, dass Sie am selben Tag wie der Bundespräsident eine Konkurrenzrede zu seiner Berliner Rede halten mussten. Das bleibt Ihnen überlassen. Es ist in meinen Augen eine Stilfrage. Die Verfassungsorgane, Privatmann Fischer und Bundespräsident Rau werden sich damit noch auseinander setzen. Es ist wirklich eine bemerkenswerte Debatte, die Sie angestoßen haben; das soll anerkannt werden. Aber es ist auch mein Parlamentsverständnis, dass Sie als deutscher Außenminister, wenn Sie solche Anstöße geben, gegenüber diesem Parlament, das Sie als Regierungsmitglied schließlich zu kontrollieren hat, erklären: „Das ist unser Weg“ oder „Das ist nicht unser Weg“, auch damit wir, wenn wir uns als Parlamentarier mit Ihren einzelnen Vorschlägen auseinander setzen möchten, wie es Herr Kollege Roth und andere vorhin getan haben, nicht damit vertröstet werden können: Das hat der Außenminister gar nicht gesagt, das geht Sie als Abgeordnete gar nichts an. Diese Rede hatte zu Recht eine große internationale Wirkung. Sie hätten sie deswegen auch mit Ihren Amtskollegen, wenigstens mit einigen von ihnen, abstimmen müssen. So muss man, aus unserer Sicht jedenfalls, europapolitische Initiativen starten. Die Bundesregierung fährt schlecht damit, wenn sie zunächst einmal, gewissermaßen als Minenhund, den Privatmann Fischer dem Außenminister Fischer vorgehen lässt, bevor sie sich vielleicht anschließend verhaftet fühlt. Der deutsche Bundeskanzler hat, wie wir vom Regierungssprecher erfahren durften, im Kabinett mit freundlichem Nicken darauf reagiert. Dann hätten wir das auch hier gern einmal gehört! Sie sprechen jetzt gleich. Sagen Sie zu uns, zum Deutschen Bundestag, zu dem Verfassungsorgan Bundestag, zu den Volksvertreterinnen und Volksvertretern, die wir alle gewählt sind: Das ist der Kurs der Regierung. ({9}) Dann haben Sie auch unseren Respekt und unsere Anerkennung dafür. ({10}) Aber bei der Vorstellung, dass der Außenminister als Privatmann reden kann, weil er sich ansonsten zu beengt fühlt, kann man nur sagen: Machen Sie sich frei, Herr Fischer, geistig gesehen! ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Außenminister Joschka Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich erinnere mich an die letzte Debatte, die etwas später am Tag stattgefunden hat, über die ganz wichtige Frage der Regierungskonferenz, bei der es auch um einen Bedeutungsverlust des Deutschen Bundestages ging; darin waren sich die wenigen anwesenden Europapolitikerinnen und Europapolitiker einig. Jene Debatte hat wenig Interesse gefunden. Die heutige Debatte zeigt - das hat der Kollege Westerwelle gerade nachhaltig demonstriert -, dass sie weit über die Europapolitiker hinausreicht. Das ist gut so. ({0}) - Dass Sie neuerdings sich selber Beifall klatschen, Herr Westerwelle, finde ich interessant. Aber bitte. ({1}) Ich möchte das jetzt nicht vertiefen, obwohl ich Lust hätte; denn Sie haben mich gerade in einer Rede, in der mindestens 38-mal das Wort „Außenminister“ vorkam, dazu verpflichtet, als Außenminister zu sprechen, und das will ich auch tun. ({2}) Aber gestatten Sie mir doch eine Vorbemerkung. Sie mögen das glauben oder nicht, aber das hat mit den Wahlen wirklich nichts zu tun gehabt. Die Rede war seit langem geplant. ({3}) - Dass die F.D.P. das so sieht und dass Sie so denken, kann ich ja verstehen. Aber glauben Sie mir - das wissen auch Kollegen aus der Opposition, die mich in der Europapolitik schon länger kennen -: Erstens bin ich nicht der Meinung, dass man mit einem solchen Thema landespolitisch große Wählerströme bewegen kann, zweitens war diese Rede nicht ohne Risiko, was die öffentliche Reaktion betrifft, und drittens wissen alle, dass es mir hier wirklich um die Sache geht. Insofern war der 50. Jahrestag einer bedeutenden und zentralen Rede von Robert Schuman der eigentliche Anlass. Herr Westerwelle, vielleicht können auch Sie eines Tages nachvollziehen, wie wichtig das für einen überzeugten Europäer ist. ({4}) Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir noch eine weitere Vorbemerkung. Sie haben ja aus dem von HansDietrich Genscher im „Tagesspiegel“ erschienenen Artikel zitiert - ich bedanke mich nachdrücklich für diesen Artikel sowie für das, was Sie, Herr Hintze, gesagt haben; ich komme darauf gerne noch einmal zu sprechen -, der die Überschrift „Allons, enfants de l’Europe: Folgt Fischers Initiative!“ hatte. Wenn das die Haltung der F.D.P. ist, dann bedanke ich mich auch bei der F.D.P. ({5}) Ich habe mich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Westerwelle, etwas intensiver mit der Tradition meines Amtsvorgängers - von Hans-Dietrich Genscher, der ein bedeutender Vorgänger von mir und ein großer Liberaler ist, kann man sehr viel lernen, vor allen Dingen, was das jeweilige Vorgehen betrifft - und damit beschäftigt, wie er vorgegangen ist, wenn er einen neuen Akzent setzen wollte, bei dem er nicht so ohne Weiteres davon ausgehen konnte, dass es dabei schon um die Schlussabstimmung ging - der Beginn einer Debatte ist nach Meinung der jetz-igen Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen keine Schlussabstimmung. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: Kollege Genscher hat in diesem Artikel zu Recht geschrieben, Außenminister Fischer habe mit seiner Europarede eine gute Tradition des Auswärtigen Amtes als Ideengeber und Motor der Europapolitik fortgesetzt. Da kam kein Wort der Kritik über den Privatmann bzw. den Bundestagsabgeordneten, den Sie ja sehr gering einschätzen. Auf die deutsch-italienische Initiative für eine Politische Union im Jahre 1981 folgte - das ist für mich der entscheidende Punkt - 1988 der konzeptionelle Vorstoß des AA, sprich: von Hans-Dietrich Genscher, zur Währungsunion. Es war - das ist aus dem Deckblatt ersichtlich und alle, die damals beteiligt waren, erinnern sich noch sehr gut - seine persönliche Initiative. Dafür gab es damals Gründe. Dies war eine Initiative, mit der er völlig Recht hatte und die später zur Politik der Bundesregierung bzw. der damaligen Koalition und somit historische Wirklichkeit wurde. Aber angestoßen hatte er dies auf eine ähnliche Art und Weise wie ich. Herr Westerwelle, regen Sie sich also ab. Von HansDietrich Genscher kann man sehr viel lernen. Das kann ich Ihnen nur empfehlen. ({6}) Nun zur Sache. Ich freue mich über die heutige Diskussion. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Diskussion bei nächster Gelegenheit etwas ausführlicher fortsetzen könnten. Diese Debatte hat es nicht verdient, sie auf das Niveau kurzfristiger parteipolitischer Interessen herunterzuziehen. ({7}) Interessen werden dann, wenn Entscheidungen anstehen, wichtig genug. Im Rahmen der dann stattfindenden Regierungskonferenz mag ein solches Vorgehen angemessen sein. Aber wir stehen doch vor der Situation, dass nach der historischen Herausforderung von 1989/1990, die bis heute nicht wirklich durchdacht und bewältigt wurde, Europa zusammengefunden hat. Nach 1945 gab es zwei zentrale Entscheidungen, die das Schicksal unseres Kontinents grundsätzlich verändert haben, nämlich zum einen die Tatsache, dass die USA auf diesem Kontinent geblieben sind. Zum anderen die zentrale Entscheidung von Robert Schuman sowie Jean Monnet und dann auf deutscher Seite von Adenauer und all den anderen Europäern, statt auf das Prinzip des Gleichgewichts der Mächte zu setzen, das zu der Katastrophe von zwei Weltkriegen und zur Selbstzerstörung Europas geführt hat, in Europa ein neues Prinzip zu kreieren und durchzusetzen, also auf das Europa der Integration zu setzen. Dies führte zum Zusammenführen der materiellen Interessen mit dem Fernziel der Vollendung der europäischen Integration und der Schaffung eines wie auch immer gestalteten einheitlichen Europas. Von der Erarbeitung dieser Idee ging es im Laufe der Zeit über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hin zur Gemeinsamen Schlussakte, schließlich zur Europäischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion. Nur, dies hatte einen Nachteil: Erzwungen durch die Teilung Europas und auch Deutschlands war diese Idee immer nur in Westeuropa zu Hause. Die Ost- und Mitteleuropäer konnten sich nicht daran beteiligen; sie waren durch den Eisernen Vorhang von diesem Projekt getrennt. Die Tatsache, dass 1989/1990 Mauer und Stacheldraht gefallen sind, führte dazu, dass wir jetzt vor der historischen Notwendigkeit der Erweiterung stehen. ({8}) Diese Erweiterung ist beim Europäischen Rat in Helsinki beschlossen worden. Insofern ist die Position, die besagt, dass es über die Dimension, über die Außengrenzen der Union Unklarheiten gebe, nicht richtig. Diese Frage ist durch die Beschlüsse von Helsinki definiert worden. Die Verhandlungen mit 12 neuen Kandidaten werden aufgenommen. Das bedeutet aber in der Konsequenz, dass sich die Union spätestens jetzt die Frage stellen muss, wie denn eine Union mit 27 oder gar 30 Mitgliedstaaten funktionieren und stark bleiben kann, sich also nicht zurückentwickelt zu Handlungsunfähigkeit oder Stagnation. ({9}) Ich halte die Erweiterung historisch für unverzichtbar. Europas Sicherheit darf nicht zwei Prinzipien folgen; das würde den Integrationsprozess gefährden. Dies zwingt uns diese Debatte auf. Es war übrigens mein Kollege Hubert Védrine, der mir diese Frage zum ersten Mal gestellt hat. Und die Diskussion zwischen uns läuft bereits seit November 1998. Die Planungsstäbe wurden eingeschaltet, mehr und mehr aber auch die Minister selbst. Ein bilateraler Besuch von mir in Portugal hat schließlich dazu geführt, dass die Präsidentschaft diese Diskussion zum ersten Mal auch beim Informellen Rat auf den Azoren im Kreise der Kollegen eröffnet hat. Das war eine hervorragende Diskussion, in der genau diese Themen besprochen wurden. All das, was dort zusammengeflossen ist, wurde mit der französischen Seite auf der Ebene der Außenminister und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seit November 1998 intensivst diskutiert, ohne dass eine Harmonisierung unserer Positionen stattgefunden hat. Aber man kann doch auch beim besten Willen nicht erwarten, dass bereits zu Beginn einer Debatte über eine solch entscheidende Frage, über die Frage, wie eine Union mit 30 Mitgliedstaaten als politisches Subjekt funktionieren kann, fertige Konzepte vorliegen werden. Zunächst muss die Debatte beginnen. ({10}) Ich muss mich auch beim Kollegen Lamers bedanken; denn er hat mich anlässlich eines Abendessens vor vielen Monaten auf einen ganz entscheidenden Punkt gebracht. Er hat insistiert und die Notwendigkeit angesprochen, dass die Erweiterung nicht zu einem Erlahmen des Integrationsprozesses führen darf. Ansonsten nämlich wäre die Erweiterung selbst gefährdet. Das macht die Schwierigkeit dieses Prozesses aus. Wir hatten vor etwa drei Wochen mit Jacques Delors und Richard von Weizsäcker ein Brainstorming, das ebenfalls überaus nützlich und hilfreich war. Und wenn man noch die Interventionen von Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing und die jetzigen Äußerungen des Kommissionspräsidenten Prodi hinzunimmt, dann wird doch klar, dass wir angesichts der Herausforderung, eine Union mit 30 Mitgliedstaaten funktionsfähig halten zu müssen, nicht mehr ausschließlich nach der Methode Monnet vorgehen können. Ich stimme allen zu, Herr Kollege Hintze, die sagen, dass wir uns nicht auf die Intergouvernementalisierung, das heißt: auf die Regierungsarbeit, zurückziehen dürfen, so wichtig sie auch als Bindeglied sein kann. Es stellt sich letztendlich die Frage der Vergemeinschaftung. Man muss allerdings die praktischen Probleme berücksichtigen, die es schon heute gibt. Herr Kollege Gehrcke, das ist natürlich ein offener Prozess. Man kommt aber an einen Punkt, wo ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Das heißt im Klartext: In dem Moment, da sich Teile der Europäischen Union oder die ganze Union entscheiden, den Schritt zur Vollendung der Union zu gehen, wird ein Kapitel beendet und ein neues aufgeschlagen. Das bedeutet Finalität. Meine These ist, dass wir uns in den praktischen Problemen festlaufen werden, wenn wir die Finalitätsdebatte heute nicht beginnen, weil wir als Europäer, als überzeugte Integrationisten angesichts dieser historischen Herausforderung kneifen werden. Und diesen Prozess habe ich mit meiner Rede versucht anzustoßen. ({11}) Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Europäer - ich lege das jetzt bewusst überparteilich an, weil sich dies nicht an Parteigrenzen festmacht - versuchen müssen, die rationalen Gründe, die hinter der EuroSkepsis stecken, zu berücksichtigen. Ganz entscheidend sind in diesem Zusammenhang - das halte ich für rational - die Intransparenz - so erscheint es den Bürgern - des europäischen Institutionen- und Entscheidungsgeflechtes, die Angst, etwas zu verlieren, was man kennt, wo man sich zu Hause fühlt, was auch den Charakter einer Schutzgarantie hat, zum Beispiel soziale Schutzgarantie oder Grundrechtsschutzgarantie, gegenüber Superstrukturen, die man nicht durchschaut. Hier hält man an einem Nationalstaat fest und daraus speist sich meines Erachtens eine Euro-Skepsis, die man ernst nehmen muss. Wenn man gleichzeitig aber weiß, dass an einer Vollendung der Integration im 21. Jahrhundert - wie schnell es auch immer gehen mag - kein Weg vorbeiführt, und wenn man gleichzeitig sieht, dass die Nationalstaaten und vor allen Dingen die Nationen mit ihrer Geschichte, ihrer Sprache und ihrer Kultur auf für uns nicht absehbare Zeit Realität bleiben werden, dann heißt die Aufgabe: Wie können wir dies in ein europäisches Integrationskonzept zusammenführen? Wir gehen also weg von einer abstrakten bundesstaatlichen Konstruktion und hin zu einer vollen Übertragung der Kernsouveränitäten und der Übertragung alles dessen, was unverzichtbar europäisch geregelt werden muss, auf die europäische Ebene. Diese Föderation sollte auf selbstbewussten Gliedern, auf Nationalstaaten, die fortexistieren werden, gründen. ({12}) Schauen Sie, das war mein Problem mit der Aktuellen Stunde. Ich wollte hier meine Position erläutern. Dann kommt der Parlamentarische Geschäftsführer der F.D.P.Fraktion und sagt - formal zu Recht übrigens -, dass ich meine Redezeit überschritten hätte. ({13}) Ich kann meine Position aber nicht in den vorgesehenen acht Minuten darlegen. ({14}) - Wenn Sie die Kritik vorbringen, ich hätte es hier machen sollen, dann können Sie mir jetzt doch nicht sagen: Er redet aber länger als acht Minuten! ({15}) Sonst muss ich ähnliche Schlagworte produzieren wie andere hier. Ich glaube, damit wäre der Sache nicht gedient. Ich würde das gern zu Ende bringen. ({16}) Der entscheidende Punkt, Kollege Hintze, ist für mich nicht die Kritik an den Europa-Abgeordneten. Ich weiß, was sie leisten, wie schwer es ist, was sie tun, und dass es teilweise hervorragend ist, was sie leisten. Vielmehr zielt meine Kritik auf die Institution - ich habe mich in dieser Frage auch bei anderen Kollegen erkundigt -: Die Anbindung dieses Parlaments an die politische Realität, an die Menschen im Land ist völlig unzureichend. ({17}) Das ist keine Schuld des Parlaments; damit Sie mich hier nicht missverstehen. Dieses Problem geht zurück auf die von den Sprachen und den Kulturen gezogenen Grenzen. Die entscheidende Frage, die ich mir stelle, lautet: Wie bringt man die politischen Eliten, die von den Bürgerinnen und Bürgern aller Parteien identifiziert werden, in die Verantwortung für dieses Europa? Es wird nicht funktionieren, wenn man hier eine abstrakte Trennung vornimmt. Es gibt unterschiedliche Optionen; ich habe sie erwähnt. Eine haben Sie angesprochen. Ich bin der festen Überzeugung: Wir, die wir jetzt diese Debatte führen, müssten sie auch beispielsweise mit der französischen Seite und mit Partnern aus allen Mitgliedsländern führen. Es sollte eine Debatte zwischen politischen Eliten sein, die in ihren jeweiligen Ländern Verantwortung tragen. Das Ziel sollte sein, das zusammenzufügen. Wir werden nie ein einheitliches europäisches Staatsvolk, sondern immer nur Staatsvölker haben. Das ist der große Unterschied zu den USA. Das liegt daran, dass Europa ein sehr geschichtsträchtiger Kontinent mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen ist. Deswegen habe ich an die Konstruktion mit den zwei Kammern gedacht. Wenn jemandem etwas Besseres einfällt, um das Problem zu lösen, wäre ich dafür offen. Mich interessiert die praktische Lösung und nicht eine sozusagen nur theoretische Positionierung. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber in Abwägung aller Faktoren komme ich zu keinem anderen Vorschlag. Gestatten Sie mir, dass ich das Folgende auch noch kurz anspreche. Diese europäische Föderation wäre eine schlanke Föderation, die sich auf die Kernsouveränitäten und auf das unbedingt europäisch Notwendige konzentrieren würde. Gleichzeitig würde es eine Souveränitätsteilung mit fortexistierenden Nationalstaaten geben. Dieses müsste in einem Verfassungsvertrag definiert werden. Das wäre dann die Subsidiarität als Verfassungswirklichkeit, wie sie etwa auch der Realität unserer Verfassung entspricht. Wie kann der Weg dorthin aussehen? Der erste Schritt ist die verstärkte Zusammenarbeit. Das ist der entscheidende Punkt, an dem diese perspektivische Debatte Auswirkungen auf die Regierungskonferenz haben wird. Zu dem Treffen mit dem französischen Präsidenten, dem Premierminister und dem Außenminister wollen der Bundeskanzler und ich nachher aufbrechen. Das wird dort sicher auch eine Rolle spielen. Unser Ziel ist es, dass die Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft praktisch ein Erfolg wird. Das ist der entscheidende Punkt. ({18}) Gleichzeitig wird dieser Erfolg einen weiteren Schritt erforderlich machen. Ein Bindeglied wird dabei die verstärkte Zusammenarbeit und die Diskussion darüber, wie sie formal und inhaltlich ausgestaltet wird, sein. Dieser Punkt wird auch über die nächste Regierungskonferenz hinaus von Bedeutung sein. Ich bin der Meinung, dass sich über kurz oder lang die Frage stellen wird, ob Einzelne vorangehen sollen. Meine Überzeugung ist: Einzelne werden in der Diskussion vorangehen. Wenn dann allerdings die Europäer merken, dass es ernst wird, wie etwa im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion, werden viele nachziehen. Das heißt, das Avantgardemodell - ich kann dem Kollegen Lamers nur Recht geben, er hat das in den Medien geäußert - wird ein Movens sein. Aber angesichts der Erfahrungen mit der Wirtschaftsund Währungsunion glaube ich, ehrlich gesagt, bezüglich der praktischen Perspektive nicht mehr, dass ein solcher Kern entstehen wird. Ich glaube eher, dass sich viele der heutigen Mitglieder dafür entscheiden werden. Sie muss dabei offen bleiben für die neuen Mitglieder - auch das muss völlig klar sein -, sie darf nicht exklusiv, sondern muss inklusiv sein. Es führt kein direkter Weg von der verstärkten Zusammenarbeit in die Föderation, in den Verfassungsvertrag, in die Souveränitätsteilung, sondern das wird eines Tages ein politisch notwendiger Sprung sein. Er wird noch viele Diskussionen erfordern. Das ist auch die Position des Außenministers Joschka Fischer. Ich würde mich freuen, Herr Westerwelle, wenn Sie das so ähnlich sähen. Ich harre Ihrer Unterstützung. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie haben es sicherlich gesehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab hier vorne einige Debatten. Ich will Sie nun über den Sachverhalt aufklären. Normalerweise hat die Bundesregierung in einer Aktuellen Stunde ein Rederecht von zehn Minuten. Wenn sie darüber hinaus redet, tritt § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung in Kraft, wenn das eine Fraktion beantragt. Das hat soeben die F.D.P. getan, das heißt, es wird im Anschluss an diese Aktuelle Stunde noch eine Debatte über diesen Punkt geben. Damit verlängert sich die Debattenzeit über diesen Punkt. Es ist aber nicht richtig, Herr Kollege Koppelin - das möchte ich Ihnen jetzt sagen -, dass Sie die Präsidentin zwingen können, etwas vorzunehmen. Ich halte mich genau an die Geschäftsordnung. Sie erwerben nur Rechte. Ich habe nicht die Möglichkeit, den Außenminister zu zwingen, seine Rede zu unterbrechen. Das darf ich nämlich laut Geschäftsordnung nicht. Ich glaube, wir haben das jetzt korrekt festgestellt. Im Übrigen ist das kein Fall, der heute zum ersten Mal auftritt, sondern er ist bereits bei vielen Regierungsreden in der Vergangenheit vorgekommen. Da es in der Aktuellen Stunde keine persönlichen Erklärungen gibt, rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Karl Lamers auf.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, wir haben bislang eine bemerkenswerte und gute Debatte geführt. ({0}) Wir sollten jetzt nicht in einen Streit über die Geschäftsordnung eintreten, zumal sonst die Gefahr besteht, dass wir uns nachher wieder verwässern und nicht der Sache angemessen debattieren. Herr Minister, Sie haben zweifelsfrei das Verdienst, die bislang äußerst enge, ja gefährlich enge, fast beengte und dahinmarodierende Debatte über Europa wieder angestoßen und ihr - so hoffe ich - eine Perspektive gegeben zu haben, die der Herausforderung, vor der Europa steht, angemessen ist. Wenn Ihnen das endgültig gelungen sein sollte - das hängt nicht nur von uns ab -, dann haben Sie sich ein großes Verdienst erworben. Ich bin der Letzte, der nicht bereit wäre, das anzuerkennen. Sie haben gesagt, wir brauchen angesichts der Osterweiterung nicht nur ein vertieftes Nachdenken über Europa, sondern auch Antworten auf eine Herausforderung, die, gemessen an den bisherigen Herausforderungen, neuer Natur ist. Nun muss ich allerdings ein kritisches Wort sagen: Das ist schon seit einiger Zeit bekannt, lieber Herr Fischer, und Wolfgang Schäuble und ich haben 1994 aus genau diesem Grund erwähnt, dass wir mit Blick auf die Erweiterung, die wir alle in diesem Haus genauso wollen wie Sie, eine Lösung für Europa brauchen, das viel differenzierter sein wird, als es sich uns jetzt darbietet. Wir brauchen differenzierte Formen der Mitgliedschaft. Die Frage ist: Sind sie temporär oder dauerhaft und befinden sie sich im institutionellen Rahmen oder außerhalb desselben? Sie haben uns - das bedaure ich - in Ihrer Rede unterstellt, wir hätten eine dauerhafte Differenzierung gewollt, obwohl das Papier nun wirklich vollkommen eindeutig ist. Damals haben unsere französischen Freunde zu unserem großen Bedauern unseren Vorschlag diskreditiert, weil sie nicht antworten, sondern ausweichen wollten. Sie haben das getan, indem sie behaupteten, wir wollten die anderen dauerhaft ausschließen, obwohl es in Wirklichkeit - das kann ich Ihnen unter vier Augen erzählen - prominente Franzosen gab, die genau das wollten. Es ist so gewesen, glauben Sie es mir. Sie sollten dies nicht wiederholen. Ich sage das nur deswegen - es ist mir fast zu dumm, dies zu sagen -, weil ich meine, dass wir klar feststellen müssen, wo wir einer Meinung sind und wo wir unterschiedlicher Meinung sind. In diesem Punkt sind wir ganz klar einer Meinung. Damit will ich es bewenden lassen. ({1}) Das Zweite ist: Einen Verfassungsvertrag haben Wolfgang Schäuble und ich vor ziemlich genau einem Jahr auch vorgeschlagen. Unser Vorschlag hat viel weniger Furore gemacht, aber wir haben ihn gemacht. Ich freue mich, dass Sie auch hier sagen: Das ist ebenfalls meine Meinung. - Auch Edmund Stoiber hat die Möglichkeit eines Verfassungsvertrages ausdrücklich anerkannt. Dieser hat im Kern die Frage zu beantworten: Wer macht was, und zwar sowohl auf der jeweiligen Ebene als auch zwischen den Ebenen? Dies haben Sie sich zu Eigen gemacht. Man kann eigentlich auch nicht anders denken, vor allen Dingen dann nicht, wenn man wie Sie zu Recht sagt: Wir brauchen eine Teilung der Souveränitäten und die Nationalstaaten werden nicht einfach aufgelöst. Dies ist übrigens ein Thema, über das wir noch nachdenken müssen. Es geht nicht nur um den Nationalstaat, sondern auch um die Nation. Wenngleich beides nicht ganz voneinander zu trennen ist, sind es doch zwei verschiedene Dinge. Ich sage dies auch deswegen, lieber Herr Fischer, weil ich Ihre soeben zum Ausdruck gebrachte Meinung über den europäischen Souverän - so will ich dies einmal nennen - nicht ganz teile. Natürlich wird es kein europäisches Volk geben, wie es heute die nationalen Völker, die Nationen gibt. Aber schon heute haben wir ein europäisches Bewusstsein. Jedenfalls entwickelt sich eine Gemeinschaft, die sich ihrer selbst bewusst ist. Übrigens können wir nur dann wählen, wenn wir sie bekommen. Das Europäische Parlament ist in mancher Hinsicht ein Vorgriff auf diesen sich entwickelnden europäischen Demos. Aber wenn wir daran nicht glauben, sieht es sehr schlecht um die Zukunft der Demokratie in Europa aus und wir wollen ja nicht nur ein starkes und effizientes, sondern - wir müssen dies auch wollen - ein demokratisches Europa, damit es von den Bürgern anerkannt wird. Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Chancen sagen. Sie werden sicher gelesen haben, was Alain Juppé, der neuerdings Berater des französischen Präsidenten für die Fragen der institutionellen Reformen ist und der ohne jeden Zweifel - ich sage es vorsichtig - einer der Europäischsten in dem uns nahe stehenden Lager, ein überzeugter Europäer ist, gesagt hat: Wir müssen die Frage „Wer macht was?“ beantworten. Nun will ich dies nicht für mich beanspruchen, aber Alain Juppé und ich haben über diese Frage sehr eingehend gesprochen. Ich kann Ihnen nur versichern: Dies ist nicht nur so dahingesagt. Er hat klar erkannt, dass wir in diese Richtung gehen müssen. Wenn es ihm gelingt, mit Frankreich - von dem Sie zu Recht gesagt haben, dass wir es für jeden europäischen Fortschritt brauchen - einen „accord“ zu finden, haben wir eine Chance, diese Regierungskonferenz so zu beenden, dass sie sicherstellt - was Sie meiner Meinung nach zu Recht in unserem persönlichen Gespräch zitiert haben -, dass der europäische Einigungsprozess, dass das politische Projekt Europa auch nach dieser Erweiterung weitergeht. Dies liegt nicht nur im Interesse der heutigen Mitglieder, sondern gerade auch im Interesse der zukünftigen Mitglieder, die zu überzeugen allerdings unsere gemeinsame und nicht ganz leichte Aufgabe sein wird. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Karl Lamers, ich finde das, was Sie gerade gesagt haben, sehr bedenkenswert. Ich möchte daran anknüpfen. Was uns in Europa fehlt - das haben Sie gerade deutlich gesagt -, ist so etwas wie die Grundlage des europäischen Souveräns und die Beantwortung der Frage, wer das denn sei. In den Nationalstaaten haben wir diesen Souverän sehr wohl. Genau dies ist der Grundgedanke, den Joschka Fischer in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt hat und an den er anknüpft. Jetzt befinden wir uns in einem Staatenverbund oder wie die Politikwissenschaftler dazu sagen - in einer Mehrebenenpolitik, was dies auch immer sei.Gerade in dieser Mehrebenenpolitik sind wir in einem ungeahnten Maße effizient, ob Sie als Beispiel den Euro, das Schengener Abkommen oder andere Absprachen, die auf der regulatorischen Basis festgehalten worden sind, nehmen. Wir haben dabei ein ungeheures Ausmaß an technischer Effizienz. Was aber fehlt - das hat Kollege Lamers eben angesprochen -, ist die Antwort auf die Frage nach der Legitimation mit dem Blick auf das, was künftig geschehen soll. Das Ganze hat sich jetzt mittlerweile fast bis an den Rand jener Möglichkeiten der technischen Effizienz entwickelt. Aber was kommt danach? Was soll perspektivisch aus diesem Europa werden, wenn die bisherigen Grenzen der westeuropäischen Integration fast erreicht sind? Das ist genau das Problem, nämlich die Legitimationsbasis für politisches Handeln. Sie konnte bei dem alten Nationalstaat, der noch nicht zu seinem Ende gekommen ist, aber an dessen Fundamenten der Legitimation es ja Probleme gibt, leicht beschrieben werden. Wie kann eine neue Legitimation für das, was jetzt kommen wird - einerseits die Erweiterung, die wir alle wollen, und andererseits aber eben auch das, was als Legitimation formuliert werden muss -, gefunden werden? Solange wir leben werden und die, die hier im Plenum sind, ihre Politik machen werden, wird es kein europäisches Volk als Legitimationsbasis für das politische Handeln geben. Das ist wohl ziemlich sicher. Norbert Elias sagt, was für politische Legitimation nötig sei, sei eine Wir-Identität. Diese Wir-Identität ist erst in Anfängen erkennbar. Insofern - davon müssen wir ausgehen -: Solange wir mittelfristig Politik machen und Konzeptionen entwickeln, können wir diesen neuen Legitimationsbedarf durch den alten Gedanken des Souveräns nicht decken. Wie soll dieser Bedarf, der für die Demokratie unverzichtbar ist - damit ich hier nicht missverstanden werde -, gedeckt werden? Ich will nicht darüber reden, dass wir in der zukünftigen Entwicklung auf eine Legitimation verzichten möchten. Es ist sozusagen die Konstituente jeder demokratischen Politik, dass sie auf einen fundamentalen Legitimationsbedarf bezogen sein muss. Wie kann denn dieser Bedarf jetzt gedeckt werden? Wenn Sie sich das, was der Citoyen Joschka Fischer dazu gesagt hat, einmal anschauen, dann wissen Sie meiner Meinung nach auch, was die Antwort darauf ist: Wir brauchen ein zweites Grundelement neben dieser Idee des Souveräns. Es besteht darin, eine Debatte zu erzeugen, Diskurse zu entwickeln. Das ist der zweite Punkt, auf den es ankommt. Es könnte doch sein, dass wir in eine Demokratieentwicklung hineingehen, die sich anders als bisher versteht, nämlich als eine Demokratieentfaltung, die die Amerikaner deliberative Demokratie nennen. Wenn Sie einmal lesen, was Jürgen Habermas dazu schreibt, oder wenn Sie sich die gesamte amerikanische Debatte, angefangen bei den Kommunitaristen über Richard Rorty bis zu John Rawls - das müsste ja für Liberale ein ganz wichtiger Autor sein -, anschauen, dann stellen Sie fest, dass der Grundgedanke eine Erweiterung von Demokratie ist. Aber man kann doch nur dann dieses Ziel ansteuern, wenn es Impulse gibt, wenn es Menschen gibt - ob als Außenminister, ob als Staatsbürger -, die diese Debatte erzeugen. Genau das ist der entscheidende Punkt: Joschka Fischer erzeugt hier eine Debatte und kommt genau auf die entscheidenden Punkte, die künftig in der Entwicklung Europas wichtig sind. ({0}) Deswegen bin ich dankbar dafür, dass Joschka Fischer diese Rede gehalten hat, und ich bin überzeugt davon, dass - das zeigt auch unsere Debatte hier - dieser Impuls seine Folgen haben wird. Ich hoffe sehr, er wird die Folge haben, dass nicht nur die Verbindungslinie zwischen Frankreich und Deutschland lebendig ist, die ja als Kernelement, als Motor dessen, was Integration heißt, den gesamten Integrationsprozess Europas getragen hat, sondern es auch gelingt, diesen Prozess voranzutreiben. Nehmen Sie den Begriff, den er, wie ich finde, vielleicht noch einmal überdenken sollte, nämlich den der Finalität. Dieser Begriff kommt aus der französischen Debatte. Ich finde, wir sollten an diesem Punkt auch deutlich machen, dass wir einen eigenen Begriff entwickeln könnten. Ich würde viel lieber den Begriff „Zweck“, den Immanuel Kant benutzt hat, verwenden. Also: Zu welchem Zweck treiben wir diese Integration voran? Zu welchem Zweck nehmen wir die Erweiterung vor? Der wesentliche Zweck muss in einem dringenden dritten Schritt liegen. Der erste Schritt betraf die Integration der letzten 50 Jahre. Der zweite Schritt wird die Erweiterung sein. Der dritte Schritt muss meiner Meinung nach ein neuer Gründungsakt für Europa sein. Dieser neue politische Gründungsakt kann die Teilung der Souveränität sein, was Joseph Fischer sagt, um damit eine neue legitimatorische Basis für ein gemeinsames Europa zu schaffen, die zu einem späteren Zeitpunkt den nach uns kommenden Politikern eine Perspektive eröffnet, damit Europa seine eigene Souveränität als ein gemeinsamer Souverän wirklich entfalten kann. Insofern ist das, was Joseph Fischer in Gang gesetzt hat, ein fruchtbarer Prozess, den wir dringend brauchen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, als neues Mitglied des Ausschusses für Europaangelegenheiten einige Anmerkungen zu machen. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Dynamik der Europapolitik erlahmt ist. In der Bevölkerung nehmen die Zweifel zu, ob das Ziel erreicht werden kann, ein modernes, zukunftsorientiertes, vereintes und demokratisch kontrolliertes Europa zu schaffen. Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung für diese negative Entwicklung in den letzten eineinhalb Jahren die Verantwortung trägt. ({0}) Nehmen wir einmal die Ratspräsidentschaft aus dem Jahre 1999: Viele Punkte sind halbherzig angegangen worden. Bei der Osterweiterung wurde zum Beispiel überhaupt keine finanzielle Sicherung erreicht. Deutschland ist nicht mehr der Motor der europäischen Einigungspolitik. Deshalb ist es geradezu wohltuend, dass der deutsche Außenminister zwar nicht in seiner Ministerfunktion, aber doch als Bürger der Bundesrepublik Vorstellungen zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses entwickelt hat, die die Bilanz unseres Bundeskanzlers Schröder ein bisschen aufbessert, mit dem Ziel, eine engagierte, zukunftsorientierte Politik in Europa zu machen. Die Rede des Außenministers ist deshalb ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Europapolitik der Bundesregierung. ({1}) Die Handlungsfähigkeit Europas muss gesichert werden. Die Gefahr der Selbstblockade der Europäischen Union droht uns. Die Klärung der europäischen Kompetenzzuordnung - dies ist ein entscheidender Punkt - unter den bestimmenden Gesichtspunkten der Subsidiarität im Amsterdamer Vertrag duldet keinen weiteren Aufschub. Es ist bemerkenswert, sehr geehrter Herr Minister, dass Sie die langjährige Forderung Bayerns nach einer präzisen Kompetenzabgrenzung nicht nur aufgegriffen, sondern darüber hinaus zu Recht als Hauptachse des Verfassungsvertrages bezeichnet haben. ({2}) Deswegen stellen wir die Forderung: Was nicht unbedingt EU-einheitlich geregelt werden muss, hat in nationaler Kompetenz zu verbleiben, und zwar unabhängig davon, welche Kompetenzen die Kommission inzwischen an sich gezogen hat. Die elementaren Interessen des Bundes und der deutschen Länder müssen gewahrt werden. ({3}) Meine Damen und Herren, die EU-Osterweiterung ich wohne unmittelbar an der Grenze zu Tschechien; deswegen ist mir die Erweiterung ein Herzensanliegen; wir Gert Weisskirchen ({4}) dürfen nicht nur von der Osterweiterung der EU sprechen, sondern wir können von der Wiedervereinigung Europas sprechen - wird scheitern, wenn die Handlungsfähigkeit der Institutionen nicht sichergestellt werden kann. Für die Erweiterung der EU muss deshalb der entscheidende Grundsatz lauten und gelten: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die europäische Einigung ist nicht nur eine Abfolge unzähliger EU-Gipfeltreffen und Regierungskonferenzen. Gerade wegen der um sich greifenden Europamüdigkeit innerhalb der Bevölkerung müssen wir die Menschen mitnehmen und einbinden. Die positiven Seiten der europäischen Wiedervereinigung müssen den Menschen vermittelt werden. Europa und insbesondere die EU-Osterweiterung müssen in den Köpfen und auch - erlauben Sie mir diese Bemerkung - in den Herzen der Menschen verankert werden und eine entscheidende Rolle spielen. ({5}) Deshalb, sehr geehrter Herr Minister Fischer, ist Ihr vorgeschlagenes System mit einem aus zwei Kammern, Abgeordneten- und Staatenkammer, bestehenden Europäischen Parlament als Legislative und mit einer europäischen Regierung als Exekutive grundsätzlich der richtige Weg. Dieser Weg wird zum Beispiel von der Bayerischen Staatsregierung und auch von unserem Ministerpräsidenten mitgetragen. Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: Ich bin stolz darauf, dass insbesondere die Bayerische Staatsregierung europäische Kompetenz nachweist, dass wir mit Nachdruck für Europa eintreten und dass die Europapolitik der Bayerischen Staatsregierung und der CSU insgesamt geradlinig und ehrlich ist. Bereits im Jahre 1993 ist die Bayerische Staatsregierung für ein Mehrkammersystem eingetreten. ({6}) Deshalb, Herr Außenminister, gilt heute ganz besonders: Nicht nur reden, sondern handeln und das als richtig Erkannte in praktische Politik umsetzen! Dass der amtierende Außenminister als Privatmann eine Grundsatzrede zur Europapolitik hält, verwirrt uns. Vermutlich gibt es keine abgestimmte Haltung innerhalb der Bundesregierung über die zukünftige Gestaltung der EU. Es stimmt uns nachdenklich, dass die Bundesregierung zum Teil konzeptionslos in die Europadiskussion geht. Deutschland muss sich wieder an die Spitze des europäischen Einigungsprozesses stellen. Nutzen wir die historische Chance der europäischen Wiedervereinigung! Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns längst in einer großen Debatte, die ursprünglich von der F.D.P.-Fraktion so nicht beantragt worden ist, die aber von ihr hätte beantragt werden können. Wenn ich mich frage: „Wie ist es dazu gekommen?“ und mir den Titel der Aktuellen Stunde, die Unterscheidung zwischen dem Bürger und dem Außenminister Fischer sowie die Klagen, Herr Fischer müsse doch als Außenminister für die Bundesregierung sprechen, vor Augen führe, dann stelle ich fest: Der Außenminister hat Ihnen, Herr Westerwelle, geradezu eine Lektion in der Frage „Wie setzt man Themenschwerpunkte?“ erteilt. Er hat das an einem schönen Beispiel von Herrn Genscher deutlich gemacht. Ich denke noch immer, dass die von der Opposition beantragte Debatte ursprünglich in eine andere Richtung zielte. Aber inzwischen dürften wir alle wohl die Veröffentlichung der Rede von Herrn Fischer im „Staatsanzeiger“ beantragen. Wir alle schließen uns gerne dem Lob der F.D.P. an. ({0}) Nachdem ich dies gesagt habe, lasse ich alles, was ich mir noch sonst an Polemik zurechtgelegt hatte, beiseite und trenne zwischen dem Abgeordneten Lippelt und der Fraktion der Grünen; denn das, was ich jetzt sagen werde, ist mit meiner Fraktion nicht abgestimmt, obwohl ich glaube, dass die Fraktion meinen Ausführungen guten Gewissens zustimmen kann. Wir befinden uns in der inhaltlichen Debatte. Deshalb sage ich Folgendes: Es gibt einige Punkte, über die wir weiter diskutieren müssen. Der eine Punkt, mit dem der Begriff „Finalität“ eng verbunden ist, betrifft die europäischen Grenzen. Dazu sage ich: Es ist ein großes Problem, wenn zu früh über die endgültigen Grenzen der EU diskutiert wird; denn die EU ist verpflichtet, für einen Transfer von Stabilität in den Raum der ehemaligen Sowjetunion zu sorgen. Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine an die Vorstellung, der EU beizutreten, geradezu klammert, dann muss ich auf das hinweisen, was der zuständige EU-Kommissar anrichtet, wenn er der Türkei eine Beitrittsperspektive eröffnet und der Ukraine nicht. Wir sind letztlich auch für die Ausgestaltung der ukrainisch-russischen Grenze verantwortlich. Darüber nachzudenken ist eine Reaktion auf den Prozess, in dem wir stehen. Stabilitätstransfer wird bei Regelungen ähnlich dem Schengener Abkommen nicht möglich sein. Der Außenminister hatte einen persönlichen Grund dafür, zu sagen, dass er erst einmal als Privatmann spricht. Er hat für das, was er Visionen nennt, Modelle vorgegeben: Senat, Bundesrat, Zweikammersystem. Ich denke, dass - im Ergebnis - die „obere“ Kammer früher oder später eine Staatenkammer sein wird, in der die Europäischen Räte notwendigerweise vertreten sein müssen. Zur Idee des Doppelmandats möchte ich Folgendes sagen: Ich habe meine größten Bedenken, wenn wir - wie in den USA oder anderswo - versuchen, uns über ein Unterhaus mit einer einheitlichen Sprache usw. zu integrieren. Der entscheidende Ort wird das Europäische Parlament sein müssen. Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Die Imagination der Menschen wird durch nichts - auch nicht durch schöne und noch so gute Reden - so sehr gefesselt wie durch Auseinandersetzungen. Eine, die wir erlebt haben, fand statt, als das Europäische Parlament die Europäische Kommission, also seine Regierung, abgesetzt hat. Als das geschah, wussten alle, was in Europa vor sich geht. Ich bedaure ein bisschen, dass die kurzatmigen Gespräche in der Regierungskonferenz die Frage der Kommission offensichtlich kaum behandeln können. Vor Abschluss des Vertrages von Amsterdam haben die Franzosen einmal von einer Zahl zwischen sieben und zehn EU-Kommissaren gesprochen. Auf meine Frage an Giscard d’Estaing, ob das perspektivisch heiße, dass Frankreich vielleicht einmal keinen Kommissar stelle, antwortete er mit Ja und sagte, dass das damit verbunden sein müsse. Nachdem Prodi zum neuen Präsidenten der EU-Kommission berufen worden war - diese schnelle Einigung war wirklich ein Erfolg der jetzigen Bundesregierung -, haben wir, als er seine Kommissare bestimmen wollte, erlebt, wo bestimmte Grenzen sind. Es wird ganz wichtig sein, dass sich die Regierungen an diesem Punkt auf Vorschlagslisten zurückziehen und von festen Nennungen abrücken.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Lippelt, die Zeit.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme jetzt zum Ende, Frau Präsidentin. Der Präsident der Kommission sollte wie ein Regierungschef in der Lage sein, sich ein Kabinett zusammenzustellen, das die Mehrheit im neu gewählten Europäischen Parlament repräsentiert. Meine Gedanken gehen in eine etwas andere Richtung. Auch deshalb habe ich als „privater“ Abgeordneter gesprochen. Die Diskussion hatte einen schönen Anfang. Wir müssen für den Anstoß zu dieser Diskussion und für die Debattierlust unseres Außenministers dankbar sein.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Lippelt, das war doch so ein schöner Schlusspunkt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Man kann den Gesprächen in Rambouillet nur den Erfolg einer deutsch-französischen Initiative wünschen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Meine Aufforderung an Sie war nur ein Vorschlag. - Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde, dass die Rede von Joschka Fischer an der Humboldt-Universität eine gute und wichtige Rede gewesen ist. Es war eine Rede, die nach anderthalb Jahren der manchmal etwas kurzatmigen Politik, dem nationalen Schacher, der in Europa in den letzten Monaten vorgeherrscht hat, endlich eine Perspektive, eine Vision entgegensetzt. Insofern halte ich den Ansatz Ihrer Kritik, Herr Kollege Haussmann, für nicht ganz richtig. Wir haben uns doch immer die Diskussion um Visionen und Ziele gewünscht. ({0}) Im Übrigen können wir angesichts der Ausführungen nicht nur von der F.D.P., sondern von fast allen Seiten des Hauses mit viel Stolz sagen, dass wir auch jetzt noch einen relativ starken Konsens über Europa haben. Das sollten wir an dieser Stelle einmal deutlich machen. ({1}) Die Rede von Herrn Fischer birgt viele Konsensmöglichkeiten auch für die Zukunft in sich. Unser Land fährt doch niemals besser, als wenn wir mit unseren europäischen Partnern und in der Welt untereinander einig sind. Dass es trotzdem einige kritische Punkte gibt, braucht dann niemanden zu verwundern. Über sie werden wir uns auseinander setzen; sie sind ebenfalls, wenn ich es richtig sehe, fraktionsübergreifend angesprochen worden. Einig sind wir erstens darin - ich fand es gut, dass die Bundesregierung das eigentlich zum ersten Mal deutlich gemacht hat -, dass das Ziel der Osterweiterung als einer historischen Notwendigkeit, die in unserem Interesse liegt, wirklich glaubwürdig herübergekommen ist. ({2}) Zweitens ist in dieser Rede herübergekommen, dass es wichtig ist, wenn wir Europa gestalten wollen, zwischen Kernkompetenzen, die wir nach Europa geben, und den übrigen Kompetenzen, die wir auf der nationalstaatlichen bzw. regionalen Ebene belassen, zu unterscheiden und das in einem Verfassungsvertrag niederzulegen. Darüber bestand absoluter Konsens, wenn ich das richtig sehe. ({3}) Schließlich besteht Konsens darüber, dass wir in der einen oder anderen Form so etwas wie eine Avantgarde, ein Gravitationszentrum oder einen Kern brauchen. Das ist nichts Neues; das ist auch schon mehrfach gesagt worden. Mit dem Euro oder dem Abkommen von Schengen haben wir so etwas schon. Aber dass dieser Kern verstärkt werden muss, wenn sich die EU erweitert, wird - das glaube ich herausgehört zu haben - niemand wirklich infrage stellen. Jetzt stellen sich aber doch auch ein paar kritische Fragen. Ich halte Herrn Fischers Bewertung der Möglichkeiten und Chancen der Supranationalität für zu pessimistisch. Gerade wenn wir an Monnet erinnern, müssen wir doch feststellen, dass die Supranationalität - die Verflechtung der Ideen der Zusammenarbeit, zum Beispiel die Schaffung einer Kommission und eines Parlaments auf europäischer Ebene - der eigentliche Integrationsfortschritt war, der überhaupt erst Frieden auf diesem Kontinent geschaffen und dafür gesorgt hat, dass wir nicht mehr gegeneinander Kriege führen. ({4}) Hier ist Herr Fischer zu pessimistisch, indem er jetzt all das, was sich zukünftig tun soll, auf die intergouvernementale Ebene, also auf die Ebene zwischen den Regierungen, abschiebt. Das macht mich besorgt, denn er fängt dabei schon mit dem Europäischen Parlament an. Natürlich muss man kritisieren, dass das Europäische Parlament nicht so demokratisch und bürgernah ist, wie wir es uns wünschen, dass es über viele parlamentarische Möglichkeiten nicht verfügt und dass unsere nationalen Eliten sich oftmals nicht hineinwählen lassen. Wir haben sehr gute Europaparlamentarier; aber es könnte noch besser sein. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, es sei klug, ein Doppelmandat zu schaffen und das Europaparlament, das die Supranationalität mit am besten verkörpert und eine der größten Errungenschaften des vergemeinschafteten europäischen Ansatzes ist, dadurch zu ersetzen, dass nur noch nationale Delegierte nach Brüssel geschickt werden, die dort dann immer einmal auf einer Konferenz zusammensitzen. So würden weder die Kontrollkompetenzen noch die Gesetzgebung und erst recht nicht die Demokratie gestärkt. Ich glaube, dies ist der größte Irrtum der ganzen Rede von Herrn Fischer. ({5}) Überhaupt muss man sich fragen, ob das Schaffen von verschiedenen Avantgarden außerhalb der EU-Verträge nicht letztlich auch die große Gefahr einer Erosion in sich birgt, die Gefahr, dass wir europäische Identität verlieren. Es könnte eine Art Europa à la carte werden: Jeder pickt sich die Form der Zusammenarbeit heraus, die er gerade gerne hätte. Ich glaube nicht, dass dies der Minister intendierte. Aber die Gefahr ist da, wenn man sozusagen alle zukünftigen Avantgardechancen eines Kerns, der weiter voranschreitet, auf der Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und nicht mehr in den Gemeinschaftsinstitutionen und dem Gemeinschaftshaushalt ansiedelt. Das ist die Gefahr dieser Rede, meine Damen und Herren. Dann muss man sich fragen, was eigentlich die Mittelund Osteuropäer dazu sagen. Ich finde, dass das das Schwierigste ist. Sie geben sich eine ungeheure Mühe, reformieren ihre Staaten, nehmen Arbeitslosigkeit in Kauf, um einen unglaublichen Fortschritt zu machen, und bekommen dann von Herrn Fischer quasi gesagt: Wenn ihr nach all diesen Anstrengungen letztlich in der Lage seid, in das europäische Mietshaus einzuziehen, dann sind ein paar bereits in die europäische Villa eingezogen; ihr seid sozusagen Mieter zweiter Klasse. Damit entmutigt man diese Länder. Dem muss man mit allen Mitteln entgegenwirken. Das sollten wir alle miteinander tun. Deshalb ist unbeschadet von allem Positivem, was sich in dieser Rede findet, festzuhalten, dass es fatal wäre, wenn in Mittel- und Osteuropa der Eindruck entstünde, als wären mit dieser Rede Formen von Abwehr und Isolierung verbunden. Es wäre fatal, wenn wir das, was Herr Fischer als die Methode Monnet bezeichnet, links liegen lassen würden. Wir sollten ihn alle miteinander ein wenig erziehen, damit aus dem guten Kern der Rede etwas wirklich Vernünftiges für uns alle entwickelt wird. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der Beitrag von Herrn Pflüger hat gerade gezeigt, dass wir uns in der Diskussion jetzt auf dem richtigen Weg befinden. Es wurde deutlich, dass die Rede des Außenministers, in welcher Eigenschaft er sie letztlich auch immer gehalten hat, längst überfällig war. ({0}) - Herr Haussmann, bei jedem Wortbeitrag sagen Sie, er hätte sie gleich hier halten sollen. Ich kann es verstehen, dass man vielleicht ein wenig beleidigt ist, weil man bei der Rede in der Humboldt-Universität nicht dabei war und über sie in der Presse lesen musste. Es macht sich natürlich auch gut, wenn die erstarkten Liberalen jetzt zu so einem wichtigen außenpolitischen Thema eine Aktuelle Stunde beantragen. Das kann ich verstehen. Ich kann mir in dem Zusammenhang aber auch nicht die Bemerkung verkneifen, dass die Beiträge von Herrn Lamers oder von Herrn Pflüger außenpolitisch viel konkreter waren als das, was ich von Ihnen und Herrn Westerwelle gehört habe. ({1}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie inhaltlich, wenn Sie schon eine Aktuelle Stunde hierzu beantragen, an die große Tradition liberaler Außenminister angeknüpft hätten. Diese Chance haben Sie vertan. Sie haben sich in Erbsenzählerei ergangen, wann wer was in welcher Funktion gesagt hat und ob das alles so richtig war. Sie haben hier eine Chance verpasst Aber das ist nicht mein, sondern Ihr Problem. ({2}) - Lassen Sie sich da auch einmal einladen, die nehmen Sie bestimmt auch. ({3}) - Gut, sehr schön. Ich möchte die derzeitige konstruktive Diskussion fortführen und auf das eingehen, was Herr Pflüger gesagt hat. Ich halte es für einen ganz wichtigen Punkt, dass die Interessen, die Gefühlslage und die Geschichte unserer osteuropäischen Nachbarn sehr ernst zu nehmen sind. Ich glaube, dass es uns als Europapolitikerinnen und Europapolitiker auszeichnen würde, wenn wir auf der Grundlage der Rede des Außenministers weiterdiskutieren und das, was er angestoßen hat, weiterentwickeln würden, nämlich wie ein Gravitationszentrum aussehen kann, das nicht zu einem Europa à la carte und nicht zur Rosinenpickerei führt, und wie man deutlich machen kann, dass es eigentlich im Interesse eines funktionierenden Gravitationszentrums sein müsste, dass auch neue Mitglieder der Europäischen Union möglichst schnell in dieses Zentrum vorstoßen. Anhand der Reaktionen, insbesondere auch anhand der Äußerungen des polnischen Außenministers, können wir feststellen, dass man in diesen Ländern zwar verunsichert ist, weil man nicht weiß, wohin die Reise führt, aber durchaus auch offen dafür ist, darüber nachzudenken und sich in die Verhandlungen einzubringen, wie die Union so weiterentwickelt werden kann, dass am Ende alle, die wollen, die Chance haben, an diesem Beschleunigungsprozess teilzunehmen und in dieses Gravitationsfeld hineinzukommen. ({4}) Ich möchte auch noch einmal ausdrücklich unterstreichen, dass der Außenminister in seiner Rede betont hat, dass dieses Gravitationszentrum wirklich für alle ein Magnet sein soll, der sie förmlich anzieht, sich dort einzubringen. Es lohnt sich, darüber zu diskutieren und zu überlegen, wie wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Regierung dabei unterstützen können, dies umzusetzen. Auch das ist ein wichtiger Punkt, den wir uns immer wieder und auch in der heutigen Debatte klar machen müssen. Wichtig ist auch, dass man zwischen langfristigen Perspektiven, mutigen Visionen und dem, was man so schön das Tagesgeschäft nennt, unterscheidet. Wir müssen aufpassen, dass die jetzige Rede des Außenministers nicht zum Anlass genommen wird, zum Beispiel den Forderungskatalog für die Regierungskonferenz zu überziehen bzw. aufzublähen. Das würde wiederum die Gefahr mit sich bringen, dass wir durch unsere überzogenen Forderungen am Ende weniger erreichen, als wenn wir geschickt und auf bestimmte Fragen konzentriert verhandeln würden. Auch in diesem Punkt müssen wir also abwägen. Zum Schluss ist gesagt worden - auch das kann ich unterstreichen -, dass den Worten des Außenministers immer Taten folgen müssen. Ich glaube, das gilt nicht nur für den Außenminister und die Regierungsmitglieder, sondern für uns alle. ({5}) Wir müssen so sensibel über Europa diskutieren, dass das Thema für die Bürgerinnen und Bürger interessant ist und sie nicht abgeschreckt werden. In unseren Diskussionen dürfen wir nicht immer nur die Risiken, die ein solcher dynamischer Prozess mit sich bringt, in den Vordergrund stellen - damit verunsichern wir die Bürger -, sondern wir müssen die Chancen herausarbeiten. Auch darin liegt eine große Verantwortung für uns alle. Auch wenn es eben schon angesprochen worden ist, möchte ich Ihnen sagen: Hören wir auf die Unterüberschrift des Artikels des ehemaligen Außenministers Genscher! Diese lautet: „Folgt Fischer“. Lasst uns in diesem Sinn konstruktiv diskutieren! Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung könnte die F.D.P. eine zusätzliche Debatte beantragen, da der Bundesaußenminister seine Redezeit weit überzogen hat. Es war richtig und gut, dass wir diese Aktuelle Stunde beantragt haben, da der Bundesaußenminister zum ersten Mal zu seiner Rede an der Humboldt-Universität in Berlin in diesem Parlament Stellung nehmen konnte und wir darüber diskutieren konnten. Wir sind dankbar für diese Diskussion. Die F.D.P. ist der Auffassung, dass dieses Thema weiter auf der Tagesordnung bleiben muss. Der Bundesaußenminister hat uns davon unterrichtet, dass er einen wichtigen Termin hat. Er hat deshalb vorzeitig die Debatte verlassen müssen. Wir akzeptieren das. ({0}) - Frau Kollegin, der Herr Bundesaußenminister hat uns darüber informiert, dass er einen Termin hat und deshalb die Debatte vorzeitig verlassen muss. Wir akzeptieren das das ist ein Entgegenkommen der Opposition -, weil wir wissen, welchen Termin er wahrnimmt. Wir verzichten also auf eine Debatte nach § 44 Abs. 3 der Geschäftsordnung. Das Thema bleibt aber weiter auf der Tagesordnung. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank. Damit sind wir in der Lage, mit der ursprünglich vorgesehenen Tagesordnung fortzufahren. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Fortentwicklung der Altersteilzeit - Drucksache 14/3158 ({0}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksache 14/3392 - Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Meckelburg b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/3393 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann Antje Hermenau Dr. Christa Luft Die Abgeordneten Rennebach, Meckelburg, Kolb, Deligöz und Grehn haben beantragt, ihre Reden zu Proto- koll geben zu dürfen.*) Ebenso soll die persönliche Er- klärung der Abgeordneten Hinsken, Feibel und Bleser zu Protokoll gegeben werden.**) Sind Sie damit einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Fortent- wicklung der Altersteilzeit. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/3392, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthal- tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange- nommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c sowie Zusatzpunkt 7 auf: 18. a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter - Drucksache 14/3372 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({4}) - zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe - zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Nolte, Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen - Bilanz der Behindertenpolitik - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Vorlage eines Gesetzes zur Sicherung der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten am Leben der Gemeinschaft, zur deren Gleichstellung und zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile ({5}) - Drucksachen 14/2237, 14/2234, 14/827, 14/2913 Berichterstattung: Abg. Silvia Schmidt ({6}) c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst - Drucksache 14/2415 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({7}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Barnett, Silvia Schmidt ({8}), Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin GöringEckardt, Volker Beck ({9}), Grietje Bettin, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft - Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern - Drucksache 14/3382 - Der Redner der F.D.P., der Kollege Kolb, hat gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie da- mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wurde eine Debattendauer von einer Stunde vereinbart, wobei die PDS sechs Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wi- derspruch. Dann ist es so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer *) Anlage 4 **) Anlage 2 *) Anlage 5 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Abgeordnete Ulrike Mascher. ({10}) - Ich rufe die Abgeordnete Ulrike Mascher auf, die gleichzeitig Parlamentarische Staatssekretärin ist.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Freitagnachmittag und vielleicht ist es bisher schon etwas erschöpfend gewesen. Der Arbeitsminister Walter Riester hat am 2. Dezember vergangenen Jahres in seiner Rede zum Welttag der Behinderten folgende Feststellung getroffen: Schwerbehinderte Menschen ... sind leistungsfähig und nicht weniger qualifiziert als Nichtbehinderte. Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgewählt oder der Behinderung angepasst ist, wenn Gebrauch gemacht wird von den technischen Möglichkeiten, um einen Arbeitsplatz oder das Arbeitsumfeld behindertengerecht auszustatten, dann können Schwerbehinderte die gleiche Leistung erbringen wie Nichtbehinderte. ({0}) An dieser Stelle gab es Beifall im ganzen Haus. Wir haben also alle gemeinsam die Überzeugung, dass eine Integration Schwerbehinderter in das Arbeitsleben möglich ist. Dafür müssen dann aber die Rahmenbedingungen stimmen. Wir brauchen das notwendige Instrumentarium zur besseren Eingliederung Schwerbehinderter in das Arbeitsleben. Die Koalition hat in der Koalitionsvereinbarung angekündigt, dieses Instrumentarium zu schaffen. Der Ihnen heute vorliegende Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter löst dieses Versprechen ein. Es ist das Nahziel dieses Gesetzes, die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten schon in den nächsten zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu verringern. ({1}) Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf die Entwicklung von 1982 bis 1998 umkehren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, Herr Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Staatssekretärin, es freut mich, dass Sie das Zitat an den Anfang Ihrer heutigen Rede gesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich im Anschluss daran sozusagen für die Regierung dafür entschuldigen, dass der Deutsche Bundestag in der vergangenen Woche ein Gesetz verabschiedet hat, das es schwerbehinderten Menschen verbietet, Steuerberater zu werden. Ich möchte einmal Ihre Meinung dazu hören, ob es eine Chance gibt, dies in sehr kurzer Zeit zu revidieren?

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seifert, ich habe mit meiner Kollegin, Frau Hendricks, gesprochen, die auch damals hier geredet hat und mit der Sie bereits eine Diskussion darüber geführt haben. Nach diesem Gespräch steht fest, dass wir unabhängig von diesem Fall auch in anderen Berufsgesetzen prüfen werden, inwieweit darin einschränkende bzw. diskriminierende Regelungen für Schwerbehinderte enthalten sind. Ich denke, dies ist ein guter Anlass, um nicht nur in Bezug auf die Steuerberater, sondern insgesamt in allen Berufsgesetzen, die von verschiedenen Ressorts federführend betreut werden, nachzuprüfen, ob sie Regelungen enthalten, die mit Art. 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, der die Benachteiligung von Behinderten verbietet, übereinstimmen. Sie haben dafür einen wichtigen Anstoß gegeben und wir werden das überprüfen. ({0}) Ich wiederhole: Wir wollen die Entwicklung von 1982 bis 1998 umkehren, die die Erfüllungsquote bei der Beschäftigungspflicht von 5,9 Prozent im Jahre 1982 auf 3,8 Prozent im Jahre 1998 hat sinken lassen. Wir wollen eine Entwicklung umkehren, die die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten von 93 800 im Jahre 1981 auf 188 500 im Jahre 1998 hat ansteigen lassen. Eine wesentliche Ursache für den seit Jahren rückläufigen Anteil Schwerbehinderter an der Zahl der Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen ist die Gestaltung der Ausgleichsabgabe. Diese Abgabe hat ja nicht nur eine Ausgleichs-, sondern auch eine Antriebsfunktion. Die Entwicklung der letzten 16 Jahre zeigt, dass die Ausgleichsabgabe nicht mehr so gewirkt hat, wie sie sollte. Deswegen sehen wir eine Neugestaltung zur Erhöhung der Wirksamkeit des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe vor. Arbeitgeber, die sich um die Beschäftigung Schwerbehinderter bemühen und nur wenig unter der Pflichtquote liegen, werden mit der Ausgleichsabgabe nicht stärker belastet als bisher. Sie zahlen also weiterhin 200 DM. Arbeitgeber hingegen, die ihre Beschäftigungspflicht gröblich verletzen, zum Beispiel überhaupt keinen Schwerbehinderten beschäftigen, haben künftig eine höhere Ausgleichsabgabe zu zahlen als bisher, bis zu 500 DM monatlich. ({1}) - Gut, aber es ist doch ein Schritt in die richtige Richtung, Herr Seifert. ({2}) Wir wollen ein gestaffeltes System bei der Ausgleichsabgabe. Je höher der Grad der Nichterfüllung, desto höher die Ausgleichsabgabe. Für Kleinbetriebe ist eine Sonderregelung vorgesehen. Arbeitgeber mit bis zu 39 Arbeitsplätzen haben nach wie vor 200 DM monatlich zu zahlen, wenn sie keinen Schwerbehinderten beschäftigen. Die Arbeitgeber haben in diesem Zusammenhang immer wieder darauf hingewiesen, dass die 6-Prozent-Quote Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer nicht bedarfsgerecht, sondern übermäßig sei. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Beschäftigungspflicht gar nicht zu erfüllen sei. Sie haben darauf hingewiesen, die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber werde sich vergrößern, wenn die Quote auf 5 Prozent abgesenkt werde. Wir wollen mit der Veränderung der Quote die Arbeitgeber jetzt beim Wort nehmen, mehr zu tun als bisher. ({3}) Aber diese Reduzierung der Pflichtquote ist an eine Bedingung geknüpft. Wird die Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten bis Oktober 2002 nicht um 25 Prozent das sind rund 50 000 - abgesenkt, dann kehren wir ab 1. Januar 2003 automatisch wieder zu der bisherigen Pflichtquote von 6 Prozent zurück. Genauso wichtig wie die Verbesserung des Systems von Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe ist es, diese Beschäftigungspflicht auch umzusetzen. Deswegen wollen wir sowohl die Rechte der Schwerbehinderten stärken als auch die Rechtstellung der Schwerbehindertenvertretung in Betrieben und Dienststellen verbessern. Innerbetrieblich sollen die Arbeitgeber mit der Schwerbehindertenvertretung und dem Betriebs- oder Personalrat verbindliche Regelungen zur Integration Schwerbehinderter vereinbaren. Weil schwerbehinderte Frauen es bei ihrer Eingliederung in Arbeit vielfach besonders schwer haben, sollen in der Integrationsvereinbarung Regelungen zur Beschäftigung eines angemessenen Anteils schwerbehinderter Frauen getroffen werden. ({4}) Von diesen Vereinbarungen erhalten die Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämter Kenntnis. Diese sollen dann geeignete Schwerbehinderte vorschlagen. Sie sollen sich schon im Vorfeld um die Qualifizierung von Schwerbehinderten kümmern, denn Arbeitgeber werden nur geeignete Schwerbehinderte einstellen. Schwerbehinderte, die für den Arbeitsplatz geeignet sind, werden ihren Arbeitsplatz auf Dauer behalten. An der Prüfung, ob Arbeitsplätze mit vorgeschlagenen Schwerbehinderten besetzt werden können, wird die Schwerbehindertenvertretung stärker beteiligt als bisher. Um für die 865 000 erwerbstätigen Schwerbehinderten die Arbeitsplätze sicherer zu machen, soll auch die betriebliche Prävention ausgebaut werden. Schon bisher gab es Pflichten der Arbeitgeber gegenüber beschäftigten Schwerbehinderten. Diese Pflichten werden zu Rechten der Schwerbehinderten umgestaltet: Rechte auf einen behinderungsgerechten Arbeitsplatz, auf Beschäftigung entsprechend den Kenntnissen und Fähigkeiten, auf bevorzugte Teilnahme an innerbetrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen, auf Erleichterung der Teilnahme an außerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen und auf Teilzeitarbeit, wenn die kürzere Arbeitszeit wegen Art und Schwere der Behinderung notwendig ist. Ein für Schwerbehinderte besonders wichtiger Schritt soll bei der Arbeitsassistenz gegangen werden. Schwerbehinderte haben künftig gegenüber der Hauptfürsorgestelle im Rahmen der begleitenden Hilfe einen aus der Ausgleichsabgabe zu finanzierenden Anspruch auf Übernahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz. Einzelheiten bleiben einer Rechtsverordnung vorbehalten. Der Rechtsanspruch selbst ist jedoch nicht vom Erlass der Verordnung abhängig, er soll ab In-Kraft-Treten des Gesetzes gelten. Die Bundesanstalt für Arbeit und die Hauptfürsorgestellen sind die beiden wichtigsten Verwaltungen, die für die Integration Schwerbehinderter in Arbeit, für die Beschaffung und Erhaltung eines Arbeitsplatzes zu sorgen haben. Wir wollen die Arbeit der Arbeitsverwaltung dadurch verbessern, dass wir neben einer Verstärkung der Vermittlungs- und Beratungsaktivitäten auch ein neues Instrument, nämlich Integrationsfachdienste, einsetzen wollen. Diese neuen Integrationsfachdienste sollen arbeitslosen Schwerbehinderten, die besondere Schwierigkeiten haben, in das Arbeitsleben integriert zu werden, zur Verfügung stehen, um ihnen die notwendige aufwendige und personalintensive Unterstützung zu geben. Ein Punkt ist mir besonders wichtig. Verschiedene Kolleginnen und Kollegen, aber auch Werkstätten für Behinderte, Organisationen und Verbände der Behinderten haben die Befürchtung geäußert, dass die von uns allen gewünschte Förderung der Beschäftigung von Schwerbehinderten, dass die Entwicklung neuer Instrumente, die Schaffung von Integrationsfirmen, Integrationsabteilungen und Integrationsbetrieben, die Förderung von Werkstätten für Behinderte beeinträchtigen könnte. Ich sage es deshalb noch einmal ganz deutlich: Die Möglichkeit zur Förderung insbesondere von Werkstätten für Behinderte durch den Ausgleichsfonds des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung im Rahmen des erforderlichen Bedarfs und der verfügbaren Mittel bleibt unberührt. Da ändert sich das Gesetz nicht. Wir wollen aber hinsichtlich des Bedarfs an Werkstätten für Behinderte eine Erhebung machen, wieweit wir über die 2003 zur Verfügung stehenden 200 000 Plätze in den Werkstätten für Behinderte hinaus noch regionale Schwerpunkte für eine Verstärkung des Netzes der Werkstätten für Behinderte brauchen. Wir werden Ende dieses Monats erste Gespräche dazu führen. Wir haben uns mit den Verbänden darüber verständigt, dass eine solche Bedarfserhebung notwendig und sinnvoll ist. Auch die weiteren besonderen Fördermöglichkeiten für Werkstätten für Behinderte bleiben erhalten. ({5}) Arbeitgeber, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllen und Ausgleichsabgaben zu zahlen haben, können diese durch die Vergabe von Aufträgen an Werkstätten für Behinderte reduzieren. Darüber hinaus sind Arbeitgeber der öffentlichen Hand verpflichtet, Aufträge, die von Werkstätten für Behinderte durchgeführt werden können, bevorzugt diesen Werkstätten anzubieten. Ich hoffe, dass damit Klarheit geschaffen worden ist, dass niemand, weder die Regierung noch die Koalitionsfraktionen, den Bestand und die Weiterentwicklung der Werkstätten für Behinderte durch die verstärkte Förderung der Beschäftigung von Schwerbehinderten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise einschränken oder tangieren will. Alle Beteiligten, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Behindertenorganisationen, haben dieses Konzept, das ich Ihnen jetzt in Kurzform vorgestellt habe, mit entwickelt. Es ist im Dialog entstanden. Das Ergebnis ist ein Konsens. Dass er erreicht werden konnte, ist beachtlich. Ich denke, er lässt uns alle gemeinsam hoffen, dass wir das hochgesteckte Ziel, die Arbeitslosigkeit in zwei bis drei Jahren um rund 50 000 zu reduzieren, tatsächlich erreichen. ({6}) Alle Beteiligten - das sage ich ausdrücklich noch einmal sind guten Willens. Gehen wir gemeinsam an die Arbeit, verlieren wir keine Zeit, nutzen wir die Chance des sich positiv entwickelnden Arbeitsmarktes auch für die Schwerbehinderten! Ich danke Ihnen! ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Koppelin, wenn Sie mit den protokollarischen Anweisun- gen fertig sind, können wir hier vielleicht fortfahren. Ich habe einige formale Dinge bekannt zu geben. Zum Tagesordnungspunkt 17, Altersteilzeit, teilt die CDU/ CSU mit, dass sie zustimmen wollte. Da lag ein Versehen vor. Wir nehmen das protokollarisch zur Kenntnis. Damit ist das korrigiert. Außerdem bitten die Abgeordneten Schmidt-Zadel und Strebl, ihre Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann rufe ich jetzt als nächste Rednerin die Abgeordnete Claudia Nolte auf.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe nur, dass die heutige Debattenzeit nicht ein Omen für die neue Prioritätensetzung in diesem Politikbereich ist. ({0}) Das erste konkrete Vorhaben dieser Bundesregierung zur Behindertenpolitik hätte wahrlich mehr Aufmerksamkeit verdient. Wir beraten auch über einen Antrag, den alle in diesem Hohen Hause unterstützt haben. Uns ist sehr wichtig, was in diesem Antrag steht. Uns ist dieser Antrag vor allem deshalb wichtig, weil sich die Regierungskoalition darin ausdrücklich zur Schaffung eines SGB IX bekennt. Leider hat man ja im Moment den Eindruck, als ob sich bei der Arbeit an diesem Vorhaben die gleichen Schwierigkeiten ergeben, wie auch wir sie hatten. Ich sage „leider“, weil wir natürlich sehr gerne sehen würden, wenn wir in diesem Bereich einen großen Schritt nach vorne gehen könnten. Wir haben im Moment eher den Eindruck, dass die Rohentwürfe von Mal zu Mal weniger Substanz enthalten und dass sich das große Ziel, zu einer stärkeren Homogenität in der Leistungserbringung und zu einer besseren Verzahnung der Reha- und Eingliederungsleistungen zu kommen, immer schwerer erreichen lässt. Ich frage beispielsweise: Was beinhaltet die Aussage, dass der Sozialhilfeträger künftig auch Rehaträger sein wird, konkret? Inwieweit gelten die Prinzipien für Rehaleistungen dann künftig auch für die heute im BSHG stehenden Leistungen? ({1}) - Ich bin bei dem Antrag, in dem unter anderem gefordert worden ist, ein neues SGB IX zu schaffen. Ich bitte, das zu berücksichtigen. Ich finde das für die weitere Beratung wichtig. In den vorliegenden Entwürfen ist vom Wunsch- und Wahlrecht wenig zu spüren. ({2}) Es besteht keine Klarheit darüber, welche Leistungen des Sozialhilfeträgers als Rehaleistungen bewertet werden und welche dann vielleicht nur noch zu den Hilfen zum Lebensunterhalt zählen. Auch wird nicht deutlich, inwieweit das Nachrangigkeitsproblem geklärt wird. Unklar ist auch, ob die zu zahlende Eingliederungshilfe künftig von einem zu erwartenden Erfolg abhängig gemacht wird, wie das bei Rehaleistungen der Fall ist. Ich finde, das sind wichtige Fragen, die beantwortet werden müssen und auf die in den vorliegenden Entwürfen leider nicht klar eingegangen worden ist. Gerade weil die Zahl dieser Fragen eher mehr wird statt weniger, möchten wir die Regierung ausdrücklich bitten, zumindest in diesem Fall Qualität vor Schnelligkeit gehen zu lassen. ({3}) Wir werden Ihnen keinen Vorwurf machen für den Fall, dass der Termin 1. Januar 2001 nicht zu halten ist - das verspreche ich Ihnen -, wenn wir dadurch ein Gesetz erreichen, das seinen Namen verdient und das wir alle unterstützen können. ({4}) Ich habe deshalb schon frühzeitig den Vorschlag ge- macht, die Dinge, die man regeln muss, zum Beispiel die Integrationsfachdienste, die Integrationsbetriebe und an- deres, notfalls in einer vorgezogenen Novelle zum Schwerbehindertengesetz zu regeln. Daher finde ich es sehr gut, dass die Regierung diese Idee aufgegriffen hat *) Anlage 5 bzw. selber hatte und wir heute darüber diskutieren können. Denn uns allen geht es doch so: Wir betrachten die bei Schwerbehinderten bestehende hohe Arbeitslosenquote von 18 Prozent für unhaltbar und erdrückend. Deshalb werden wir all das, was dazu dient, etwas zum Positiven zu verändern, unterstützen. Aus diesem Grunde stellen wir auch fest: Die Grundelemente des vorliegenden Gesetzentwurfes sind richtig. Wir halten es sehr wohl für akzeptabel, wenn, da die bisherigen Regelungen zur Ausgleichsabgabe und Beschäftigungsquote nicht zum Erfolg geführt haben, versucht wird, mit Modifizierungen mehr Anreize zur Beschäftigung von Schwerbehinderten zu schaffen. Integrationsfachdienste bzw. Integrationsprojekte aufzunehmen war gleichermaßen unser Anliegen. Wir halten den Versuch, die Mitwirkungsrechte der Schwerbehindertenvertretung zu stärken und Prävention zu etablieren, für ebenso notwendige Maßnahmen. Aus Erfahrung sind wir etwas vorsichtiger, was die Prognose, 50 000 Schwerbehinderte in den ersten Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, anbelangt. Wünschenswert ist dies ganz sicher. Nun liegt es in der Natur der Sache, dass es leichter ist, allgemeine Grundsätze zu formulieren, als Grundsätze in einen Gesetzestext zu gießen, was dann obendrein noch Erfolg zeigen soll. Deshalb hoffe ich ganz einfach, dass wir während der weiteren Beratungen trotz des straffen Zeitplans etwas Zeit für die Details haben werden. Ich möchte nämlich schon noch nachfragen können, ob die vorgesehene Form der Modifizierung von Beschäftigungsquote und Ausgleichsabgabe ihre Lenkungswirkung erfüllt. Wenn wir dann Großbetriebe weniger belasten und den Mittelstand stärker belasten, ist die Lenkungswirkung falsch. Das sollte - insbesondere im Rahmen der in diesem Zusammenhang stattfindenden Anhörungen - noch einmal durchgerechnet werden. ({5}) Ich würde auch prüfen, wie der folgende Punkt denn nun wirklich geregelt werden soll: Frau Mascher, Sie haben soeben ausdrücklich betont, dass es keine Abstriche bei der Förderung von Werkstätten und von Wohnheimplätzen für Behinderte gibt. Am Mittwoch dieser Woche sagten Sie uns aber, die Regierung habe im Rahmen der Modifizierung der Ausgleichsabgabe nicht unbedingt Mehreinnahmen geplant. Nun ist es eine Aufgabe der Mathematik: Wenn nicht mehr in den Topf kommt, aber mehr Leistungen finanziert werden sollen, muss dies zulasten irgendeiner anderen Sache gehen, die heute finanziert wird. Deshalb sind die bei den Verbänden und den entsprechenden Einrichtungen, zum Beispiel bei den Werkstätten für Behinderte, bestehenden Ängste zu verstehen und gerechtfertigt. Diese Befürchtung kommt nicht von ungefähr, Frau Mascher. In den Vorbesprechungen zu diesem Gesetzentwurf ist von den Mitarbeitern Ihres Hauses gesagt worden, dass daran gedacht werde, die Förderung der Werkstätten für drei Jahre auszusetzen und sie danach, wenn Gelder da sind, vielleicht wieder einzuführen. Das ist es doch, was die Leute aufgeschreckt und ihnen Angst gemacht hat. Von daher sind die Befürchtungen gerechtfertigt. Ich glaube, dass nur der Protest der Einrichtung dazu geführt hat, dass die Förderung nicht ausgesetzt wird. Ich denke auch, dass die Begründung, die für diese Maßnahme angeführt worden ist, nämlich dass man das Ziel hat, 3 500 Mitarbeiter der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt auszugliedern, was zu Ersparnissen führt, die eine Investitionsförderung ermöglichen, vollkommen wirklichkeitsfremd ist. Das ist einfach nicht zu erreichen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Nolte, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mascher?

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn Sie die Uhr sofort anhalten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das mache ich.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Nolte, hat Ihnen Ihr Kollege Laumann die Beantwortung seiner Frage, die schriftlich erfolgen musste, gegeben?

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die habe ich noch nicht bekommen!

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darin findet sich nämlich eine Zahl, die mir am Mittwoch nicht präsent war: Wenn wir 50 000 Schwerbehinderte zusätzlich beschäftigen, werden wir durch die Anhebung der Ausgleichsabgabe, die bei Nichtbeschäftigung von Schwerbehinderten zu zahlen ist, immerhin eine Steigerung der jährlichen Einnahmen von 180 Millionen DM erreichen. Ich möchte aber betonen, dass es unser gemeinsames Ziel sein muss, die Einnahmen gegen null fahren zu lassen. Aber die Sorge der Werkstätten um ihre Behinderten ist ausgeräumt worden. Es gibt bezüglich der Förderung kein Moratorium von drei Jahren. Ich frage Sie, ob das inzwischen bei Ihnen angekommen ist.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Mascher, ich nehme das gerne zur Kenntnis, muss aber darauf hinweisen, dass meine Aussagen nicht von mir erfunden wurden. Die Aussagen erfolgten seitens Ihres Hauses. Wenn das inzwischen zurückgenommen worden ist - umso besser. Was die konkreten Zahlen angeht, so hoffe ich, dass uns in der Anhörung Besseres zur Prüfung vorgelegt wird. - Vielen Dank. Dass Integrationsfachdienste und Integrationsprojekte institutionell abgesichert werden, ist richtig und notwendig. Ob die starre Festlegung, dass pro Arbeitsamtsbezirk nur ein Integrationsfachdienst tätig sein soll, sinnvoll ist, wage ich dagegen zu bezweifeln. Wir haben schon heute viele Formen von Fachdiensten, die sich auf Behinderungsarten spezialisiert haben. Dass die Zusammenführung zu einem Integrationsfachdienst diese Arbeit effizienter und wirkungsvoller macht, glaube ich nicht. Lassen Sie uns auch darüber sprechen, ob diese strenge Festlegung Sinn macht. Ich bin auch immer dann skeptisch, wenn wir auf Rechtsverordnungen verwiesen werden. Das entzieht sich dann der parlamentarischen Beratung und Kontrolle. Deshalb wäre ich doch sehr daran interessiert, von dieser Praxis Abstand zu nehmen. Das betrifft im Übrigen auch die Aufnahme der Möglichkeit, einen Arbeitsassistenten zu fordern. Wir begrüßen dieses neue Instrument in jedem Fall; es ist notwendig. Näheres sollte aber bitte im Gesetz und nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden. ({0}) Die Beratung wird auch in dem Punkt interessant sein, inwieweit die Ziele der Prävention und Mitwirkung der Schwerbehindertenvertretung wirklich greifen oder ob nicht nur eine Modifizierung des Verfahrens vorgenommen wird, der Schwerbehindertenvertretung also eigentlich gar nicht mehr Rechte eingeräumt werden. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, mein hauptsächlicher Kritikpunkt - das widerspricht ein bisschen dem, was Sie, Frau Mascher, sagten, nämlich dass alles abgestimmt sei und in großer Einigkeit erfolge bezieht sich auf eine sehr grundsätzliche Frage. Wenn man sich die ersten Konzeptionen dieses Gesetzentwurfes anschaut und diese mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf vergleicht, dann stellt man doch erhebliche Veränderungen fest. Diese sind vor allem der Tatsache geschuldet, dass Sie sich sehr darum bemüht haben, diesen Gesetzentwurf von der Zustimmungspflicht zu befreien. ({1}) Da frage ich mich schon: Warum hat Ihr Minister Angst davor, dieses Gesetz mit den Bundesländern in aller Konsequenz zu beraten und am Ende zu verabschieden? Sie müssen sich doch davor fürchten, irgendetwas nicht realisiert zu bekommen. ({2}) - Ja, aber wir hatten Gründe. ({3}) Deshalb frage ich: Was sind Ihre Gründe? Aufgrund seiner Konstruktion bleibt dieses Gesetz ein Torso; denn bestimmte Dinge können nicht geregelt werden. Es sind die Hauptfürsorgestellen, die einen Großteil der Aufgaben, die sich aus diesem Gesetz ergeben, erledigen müssen. Sie aber müssten, damit dies möglich wird, auch Veränderungen erfahren. Nur um die Zustimmungsfreiheit zu erreichen, sind die Hauptfürsorgestellen aus dem Gesetzentwurf herausgenommen worden. Ich weiß noch gar nicht, wie Sie das am Ende umsetzen wollen. ({4}) Deswegen verstehe ich nicht, woher dieses Misstrauen kommt. Ich nehme an, dass das auch der Grund dafür ist, dass bestimmte Maßnahmen wie etwa die Prävention nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form durchgeführt werden - dafür braucht man nämlich die Hauptfürsorgestellen -, dass beispielsweise bei der Vereinbarung eines Integrationsplans die Hauptfürsorgestellen nicht stärker einbezogen werden und nur die Formulierung gewählt wurde, dass auch sie eingeladen werden können, oder dass nicht mehr in Bezug auf die Mitarbeit der Hauptfürsorgestellen im Bereich der Integrationsprojekte geregelt wird, bei denen die Zuordnung der Hauptfürsorgestellen zur Bundesanstalt für Arbeit nicht unbedingt fachlich begründet erscheint oder nachvollziehbar ist. Ich habe auch Sorge, ob die Umsetzung in dem vorgesehenen Zeithorizont zu schaffen sein wird, gerade wenn ich berücksichtige, dass manche Maßnahmen bis Oktober greifen sollen. Alles in allem heißt das, dass wir im Anhörungsverfahren noch eine ganze Reihe von Punkten näher betrachten müssen. Ich betone noch einmal: Wir werden in diesem Bereich nur erfolgreich sein, wenn wir konstruktiv zusammenarbeiten. ({5}) Das Misstrauen, das sich hier niederschlägt, lässt mich befürchten, dass auch unsere konstruktive Zusammenarbeit beim SGB IX dadurch gefährdet werden könnte. Das wäre sehr bedauerlich. Ich habe die Hoffnung, dass wir in den Ausschussberatungen stärker einbezogen werden; das fand bei diesen Gesetzen im Übrigen gar nicht statt. Wir werden darauf achten, dass die Länder in einer Art und Weise beteiligt werden, dass sie guten Gewissens zustimmen können. Dadurch würde dieses Gesetz abgerundet. In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Nolte, einige Ihrer Fragen sind ja noch offen. ({0}) Deshalb werden wir im Anschluss an diese Debatte heute noch eine Obleutebesprechung durchführen, um eine Anhörung gerade zu dieser Thematik zu beschließen, in der dann alle Ihre offenen Fragen beantwortet werden können. Einer Sache können Sie sich allerdings schon jetzt ganz sicher sein: Die Regierung wird hier in Kooperation mit den Betroffenenverbänden und nach Rücksprache mit den Interessenvertretern eine sehr gute, solide Arbeit leisten ({1}) im Interesse der behinderten Menschen und auch der nicht behinderten Menschen in diesem Lande. Wir wollen Integration verwirklichen und nicht nur in der Theorie Worte darüber verlieren. ({2}) Zurück zur Sachlichkeit, die gerade bei dieser Thematik angebracht ist. Arbeitslosigkeit hat in der Tat sehr viele Faktoren: Alter, Geschlecht, eine unzureichende Ausbildung, Langzeiterwerbslosigkeit. Wenn man diese Risikofaktoren zusammen betrachtet, wird man feststellen, dass alle diese Faktoren gleichermaßen auf gehandicapte Personen zutreffen. Meistens werden gehandicapte, schwerbehinderte Menschen aus dem Arbeitsleben aktiv ausgegrenzt, indem man ihnen eine Frühverrentung empfiehlt. Sie erhalten keine Chance mehr, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Häufig trifft das vor allem diejenigen, die etwas älter sind. Manche haben überhaupt gar keine Möglichkeit gehabt, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden, ({3}) weil sie nicht die Möglichkeit hatten, eine Ausbildung abzuschließen, oder weil sie von vornherein nicht am Arbeitsmarkt teilhaben konnten. Aus diesem Grunde ist die Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten in diesem Lande sehr hoch. Aber es gibt in diesem Zusammenhang auch etwas Erfreuliches zu vermelden. Die Zahlen vom März 2000 besagen, dass die Behindertenarbeitslosigkeit im Vergleich zum Vormonat um 2,9 Prozent gesunken ist. Mit dem heute hier in der ersten Lesung eingebrachten Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter legen wir einen Gesetzentwurf vor, der eine umfangreiche Integrationsförderung von Menschen mit Handicap vorsieht. Das Ziel, 50 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen, muss sowohl von der parlamentarischen Seite als auch von der Bundesregierung kritisch begleitet werden. Noch nie wurde ein Gesetzentwurf von einem derart großen Konsens in der Gesellschaft getragen wie der Gesetzentwurf, der heute vorliegt. ({4}) Wir möchten die Beschäftigungsquote von schwerbehinderten Menschen von 6 Prozent auf 5 Prozent innerhalb kürzester Zeit senken und heben gleichzeitig die Staffelung der Ausgleichsabgabe auf 500 DM an. Die Ausgleichsabgabe, von den Arbeitgebern oft als Strafinstrument bezeichnet, ist kein Strafinstrument. ({5}) Sie ist eine außerordentliche Möglichkeit der sinnvollen Lenkung der Unterstützungsleistungen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Deligöz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Seifert, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Deligöz, die Senkung der Pflichtquote auf 5 Prozent wird in Ihrem jetzt vorgelegten Antrag damit begründet, dass es eine realistische Quote sei, die die Arbeitgeber seit langem fordern. Gleichzeitig sagen Sie, wenn innerhalb von zweieinhalb Jahren nicht zusätzliche 50 000 Arbeitsplätze geschaffen werden, wird die Pflichtquote automatisch wieder auf 6 Prozent erhöht. Können Sie meine Befürchtung entkräften, dass dann, wenn die 50 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden, gesagt wird, die 5 Prozent sind immer noch unrealistisch, wir müssen sie weiter senken, anstatt sie wieder auf 6 Prozent anzuheben, um damit die Pflicht deutlich zu machen, die die Gesellschaft gegenüber behinderten Menschen hat? Ihre Argumentation kann ich beim besten Willen nicht verstehen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Seifert, ich finde es ein wenig bedauerlich, dass Sie immer von vornherein mit Vorwürfen kommen. Zum einen haben wir gerade diese Problematik im Gesetz festgeschrieben, zum anderen werden wir die Situation nicht verbessern, wenn wir nichts machen. Wir müssen jetzt zu Taten schreiten, um nach vorn zu kommen, um endlich einmal so etwas wie einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik zu erreichen. ({0}) Wenn wir nicht jetzt handeln, werden wir in zwei Jahren eine noch viel schlimmere Situation haben. Gerade deshalb ist es jetzt angebracht, diesen Gesetzentwurf gemeinsam, auch mit Ihrer Unterstützung - ich schätze Ihre Unterstützung ganz besonders, weil Sie aus Erfahrung reden -, zu verabschieden, ({1}) damit wir in diesem Bereich endlich vorankommen. Ich möchte in dieser späten Stunde am Freitagnachmittag zu der Ausgleichsabgabe als Strafinstrument zurückkommen. Kein Arbeitgeber in diesem Land ist gezwungen, eine Ausgleichsabgabe zu zahlen. Wenn die Beschäftigungsquote erfüllt ist, wird auch nichts gezahlt. Solange aber die Erfüllung dieser Quote in diesem Land nicht selbstverständlich ist, solange einige Vorbehalte bei den Arbeitgebern vorherrschen, müssen wir - vielleicht leider, vielleicht erst recht - auf dieses Instrument zurückgreifen. Wir nehmen die Kritik von Arbeitgebern ernst, die davon sprechen, dass sie zwar gern einen Schwerbehinderten einstellen würden, aber niemanden finden. Diese Kritik nehmen wir besonders ernst, wenn es darum geht, bestimmte Stellen zu besetzen. Wir nehmen sie aber auch ernst angesichts des ganzen Gewirrs von Förderund Unterstützungsmöglichkeiten, die in diesem Land bestehen, was dazu führt, dass die Arbeitgeber keinen Überblick mehr haben bzw. ihn verlieren. Gerade aufgrund dieser Probleme möchten wir die Bundesanstalt für Arbeit zu einer engeren Zusammenarbeit heranziehen, um diese Probleme gemeinsam zu lösen. Wir setzen vor allem auf die Integrationsfachdienste, die bei der Vermittlung von behinderten Menschen eine gute und wichtige Arbeit leisten. Die herausragenden Vermittlungserfolge - über 60 Prozent - lassen sich darauf zurückführen, dass sie eine gute Vorauswahl treffen und eine berufsbegleitende Beratung machen, dass sie Profile festschreiben, dass sie auf zahlreiche Arbeitsmarktinstrumente zurückgreifen und für die Arbeitgeber zuverlässig sind. Weil sie ein verlässlicher Ansprechpartner sind, möchten wir diese Dienste auch weiterhin unterstützen und ausbauen und dafür die Rahmenbedingungen sicherstellen. Aber es kann nicht richtig sein, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für behinderte Menschen nur durch Appelle an das soziale Gewissen geschaffen werden. Das greift zu kurz. Letztendlich interessiert es den Arbeitgeber auch nicht, welches Handicap jemand hat, sondern ihn interessiert, ob die Arbeit erledigt wird und ob der Arbeitnehmer zuverlässig ist. Umso notwendiger ist es, adäquate Arbeitsplätze zu finden. Nur so lassen sich in einem Betrieb moderne und humane Arbeitsbedingungen so verwirklichen, dass sowohl die betroffenen Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber zufrieden sind, Leistungsbereitschaft vorhanden ist und auch die übrige Arbeitnehmerschaft in den Betrieben mit den neu eingestellten Arbeitnehmern kooperieren kann. Dies sollte nicht aus einem Zwang heraus geschehen, sondern weil man von der Qualität der Bewerber überzeugt ist. Akzeptanz - und damit Unterstützung - lediglich vonseiten der die Einstellung vornehmenden Personen reicht nicht aus. Der Kollegenkreis ist besonders wichtig. Erst dann, wenn sich in einem Betrieb alle gemeinsam für die Integration einsetzen, wird das Wort „Integration“ mit Leben erfüllt. Der entscheidende Punkt dieser Gesetzesnovelle liegt für mich darin, den Arbeitsmarkt zu stärken, die Mittel des Arbeitsmarktes einzusetzen, Arbeitsassistenz zu gewähren, den Aus- und Aufbau von Integrationsfachdiensten zu fördern, Arbeitsmarktprogramme zu entwickeln, die besondere Gruppen von Schwerbehinderten ansprechen und insbesondere auf die Probleme der schwerbehinderten Frauen eingehen, gleich bei der Ausbildung anzufangen, schwerbehinderte Jugendliche anzusprechen und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. An diesem Punkt wird die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik in diesem Land deutlich. ({2}) Ich bin etwas überrascht, dass uns immer wieder vorgehalten wird, wir würden bei der Werkstättenförderung kürzen und damit Beschäftigungsmöglichkeiten erster und zweiter Klasse schaffen. Oft haben sich die betroffenen Organisationen selbst immer wieder gewünscht und von uns eingefordert, den Blick endlich einmal zu weiten oder von einer rein institutionellen Förderung in den Sondereinrichtungen abzugehen. Was beabsichtigen wir? Wir wollen die Integrationsfachdienste in die Regelfinanzierung übernehmen, wir wollen Integrationsfirmen rechtlich stärken und wir wollen einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz festschreiben. Das sind unsere Ziele. Für uns sind diese Menschen alle gleichermaßen arbeitsfähig. Das ist unser Ausgangspunkt. Gerade dafür möchten wir die Rahmenbedingungen schaffen. Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss kommen. Der Weg in die Zukunft liegt für uns nicht in dem Entweder-oder zwischen Werkstatt, Integrationsdiensten, Arbeitsmarkt und institutioneller Förderung, sondern unser Weg ist der goldene Mittelweg. Wir wollen einerseits die Erwerbsrealität wahrnehmen und darauf reagieren und andererseits Rahmenbedingungen schaffen, damit in diesem Bereich tatsächlich Integration stattfindet. Teilhabe, Selbstbestimmung, Integration statt Ausgrenzung - das sind unsere Leitbilder, das ist unsere Motivation. Ich freue mich, dass wir diesem Ziel heute einen Schritt näher gekommen sind und wir in diesem Sinne weitermachen können. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne und draußen! Wir haben heute so viele Anträge und andere Dokumente zu dieser Debatte vorliegen, dass man kaum noch überschauen kann, was davon nun gerade Gegenstand der Diskussion ist. Es handelt sich also im Grunde genommen um eine allgemeine behindertenpolitische Debatte. Insofern ist es in Ordnung, dass sich jeder den Punkt heraussucht, den er für besonders wichtig erachtet. Ich finde es gut, dass wir im Bundestag seit dem Regierungswechsel wesentlich häufiger, wesentlich intensiver und auch zielorientierter über Behindertenfragen reden, als das in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. - Das ist aber jetzt erst einmal genug Lob für euch. ({0}) Jetzt müssen wir einmal zur Sache reden. ({1}) Es reicht nicht aus, dass hier ein paar Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker sitzen und einen guten Vorschlag unterbreiten, wie wir in der Frage der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen vielleicht voranEkin Deligöz kommen, während Ihre Justiz- oder Rechtspolitikerinnen und -politiker, Ihre Finanzpolitikerinnen und -politiker nicht einmal wissen, dass Sie hier andauernd von einem Paradigmenwechsel reden. ({2}) -Nein, ich kann das schon begründen. Vor einer Woche haben wir hier ein Gesetz verabschiedet, das von Ihnen, von Ihrer Regierung vorgelegt worden ist, in dem der eindeutig diskriminierende Satz steht, dass Personen, die körperliche Gebrechen haben - den Begriff „körperliche Gebrechen“ gibt es in der Behindertenpolitik schon seit Jahren nicht mehr - oder bei denen Schwächen der geistigen Fähigkeiten nachgewiesen werden ({3}) - ja, ich komme gleich dazu -, zu einem bestimmten Beruf nicht zugelassen werden können, selbst wenn sie alle ihre Prüfungen bestanden haben. Als das hier im Plenum diskutiert wurde, rührte sich keine Hand aus Ihrer Fraktion, Ihrer Koalition, wenigstens dem Antrag der PDS zuzustimmen - und das aus rein parteipolitischen, taktischen Gründen. ({4}) Es ist nicht zu akzeptieren, dass Sie Sachfragen hier nicht ins Kalkül ziehen. ({5}) Insofern freue ich mich sehr, Frau Mascher, dass Sie jetzt angekündigt haben, diesen Fakt in verschiedenen Berufsgesetzen zu überprüfen. Ich hoffe, dass die Überprüfung auch zu Änderungen führt. Die zentrale Forderung der behinderten Menschen, die auch dieses Jahr am 5. Mai, dem europaweiten Aktionstag, gestellt wurde, war: Wir brauchen ein Gleichstellungs- und Diskriminierungsverbotsgesetz. ({6}) Das haben wir von Ihnen bisher nicht bekommen. Auf unsere Anfrage an die Bundesregierung - die leider nur vom BMJ beantwortet wurde, offenbar ist das etwas anderes als die Bundesregierung - antwortete diese: Wir sind gerade dabei, den zivilrechtlichen Teil zu bearbeiten, das andere geht uns nichts an. Ja, gibt es denn etwa keine Diskriminierung im berufsrechtlichen Teil? Gibt es keine Diskriminierung in allen anderen Bereichen des Lebens, zum Beispiel im Baurecht, im Personenbeförderungsrecht und so weiter? Ist das BMJ dafür nicht zuständig? Es will nicht zuständig sein, obwohl ein klarer Entwurf der Behindertenjuristinnen und -juristen vorliegt, an dem man sich orientieren könnte. Deshalb: So schön es ist, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken, wie wir 50 000 schwerbehinderte Menschen innerhalb von zweieinhalb Jahren in Arbeit bekommen da haben Sie mich voll auf Ihrer Seite -, so unübersehbar bleibt, dass das Stückwerk ist, das keine klare Konzeption erkennen lässt, die den Menschenrechts- und den Bürgerrechtscharakter des Themas, über das wir hier beraten, deutlich werden ließe. Sie machen daraus eine sozialpolitische Maßnahme, eine bildungspolitische Maßnahme, eine berufspolitische Maßnahme, aber keine wirklich menschenrechtspolitische Frage. ({7}) Das ist der Punkt, den ich Ihnen ankreide. Wir haben - Frau Kollegin Nolte wies darauf hin heute unter anderem über eine gemeinsame Entschließung abzustimmen, die alle Fraktionen dieses Hauses eingebracht haben; das will ich noch einmal hervorheben. Zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode konnten sich alle Fraktionen zu einer gemeinsamen Entschließung durchringen. ({8}) - Frau Nolte, Sie sollten das nicht kleinreden. Es war eine große Leistung, auch von Ihrer Fraktion, dass Sie über Ihren Schatten gesprungen sind und Ihre ideologischen Scheuklappen abgenommen haben. Diese gemeinsame Entschließung fußt auf drei Anträgen: sowohl von Ihnen, der SPD und den Grünen, als auch von der CDU/CSU und von uns. Mit dem Antrag zum Teilhabesicherungsgesetz haben wir ein sehr umfangreiches und umfassendes Konzept im Bereich der Behindertenpolitik vorgelegt, in dem dargestellt wird, wie der Menschenrechtsaspekt, der Bürgerrechtsaspekt zur Geltung gebracht werden kann und wie das Verbandsklagerecht, die arbeitspolitischen Maßnahmen, die Änderungen in vielen Einzelgesetzen und die Finanzierung durchgesetzt werden können. Ich sage noch einmal: Wir brauchen nicht nur das Recht auf Arbeitsassistenz, so wichtig es ist, wir brauchen auch eine finanzielle Untersetzung des Rechts auf Arbeitsassistenz. Wir brauchen eine Definition dessen, was Sie unter notwendiger Arbeitsassistenz verstehen. ({9}) Wer definiert für wen, welche Assistenz er braucht? Wenn das medizinische Aspekte sind - dann gute Nacht. Wenn das finanzpolitische Aspekte sind - dann Mahlzeit. Wenn es keine Menschenrechtsaspekte sind, brauchen wir nicht ernsthaft darüber zu diskutieren. Lange Rede, kurzer Sinn - ich will meine Redezeit nicht zu sehr überziehen -: Sie werden uns auf Ihrer Seite haben, wenn wir in den praktischen Dingen vorankommen. Sie werden aber die Menschen mit Behinderungen auf der Straße finden und uns an deren Seite und im Parlament Laut gebend, wenn Sie nur Stückwerk liefern und keine Konzeption dahinter steht, die uns insgesamt bürgerrechtlich voranbringt - Menschen mit und ohne Behinderungen. Danke schön. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Karl-Hermann Haack das Wort.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Ich melde mich zu Wort wegen der Aussagen des Kollegen Seifert, die sich auf das Gesetz bezogen, das wir in der letzten Woche verabschiedet haben. Als Beauftragter für die Belange der Behinderten kann ich sagen, dass wir all das in dem Gleichstellungsgesetz regeln werden, was er hier angesprochen hat. Das Problem liegt darin, dass wir mit allen 16 Ländern über Gesetze des Bundes reden müssen. Wir müssen alle Gesetze der Länder, die dazugehörigen Verordnungen und Regelungen durchlesen und darauf durchforsten, ob darin antidiskriminierende Vorschriften stehen. Es ist bereits in der Vergangenheit versucht worden, dies in einer Arbeitsgruppe zu erarbeiten. Aber nach meinen Recherchen ist diese Arbeitsgruppe wegen des großen Arbeitsaufwandes sanft entschlafen. Doch jetzt werden wir dies in irgendeiner Form zu leisten haben. Ich sage Ihnen: Wenn wir jetzt ein Gleichstellungsgesetz machen, dann gibt es mit Sicherheit jemanden, der sagt, dass wir noch etwas vergessen haben. Ich bitte Sie aber, es positiv zu bewerten, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, und uns frühzeitig die Handreichungen zu geben, die notwendig sind, damit ein solches Gesetz Erfolg hat. Zum Stand der Dinge, die Sie anmahnen, Herr Seifert: Es ist eine endgültige Klärung herbeigeführt worden, dass Frau Justizministerin Däubler-Gmelin ein Dach über ein „Antidiskriminierungsgesetz“ macht; so der Titel. Dieses gilt für Menschen mit Behinderungen, für Ausländer, sprachliche, ethnische Minoritäten und für das Problem der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Darüber hinaus erarbeitet sie den zivilrechtlichen Teil. Wir haben geklärt, dass in einem Verfahren erarbeitet wird, wer den allgemeinen Teil des Gleichstellungsgesetzes unter Einbeziehung dessen, was Frau Däubler-Gmelin macht, erarbeitet. Dazu habe ich - vereinbarungsgemäß mit der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Mascher - die dafür zuständigen Parlamentarischen Staatssekretäre der Ministerien für den kommenden Freitag eingeladen. Ich habe sie gebeten, eine Erklärung darüber abzugeben, inwieweit der Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes des Forums behinderter Juristinnen und Juristen eine Grundlage sein kann. Sie sehen, dass prozessual alles gut organisiert ist. Wenn wir am nächsten Freitag zu einem Ergebnis kommen und uns schriftlich dargelegt wird, was vom jeweiligen Ressort geleistet werden kann, dann muss auf Leitungsebene des Bundesministeriums für Arbeit geprüft werden, welche nächsten Schritte für ein Gleichstellungsgesetz unternommen werden können. Nach der Geschäftsordnung, nach dem Geschäftsverteilungsplan sind sowohl die Justizministerin als auch der Bundesminister für Arbeit für ein solches Gesetz zuständig. Das ist der Grund für den längeren Klärungsbedarf. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Dr. Seifert, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Haack, ich danke Ihnen für die Information. Sie haben mir sogar mehrere Informationen gegeben. Erstens. Wenn das Bundesjustizministerium bzw. die Bundesregierung ein umfassendes Gleichstellungsgesetz vorlegt, das wahrscheinlich sehr knapp formuliert sein kann, dann werden Sie mich auf Ihrer Seite haben. Meine Linie ist es immer gewesen, die verschiedenen so genannten Minderheiten nicht gegeneinander auszuspielen. Herzlichen Dank! Ich hoffe, dass es bald vorgelegt wird. Zweitens. Es gibt keinen Grund ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen -, in der Zeit, in der ein Gleichstellungsgesetz vorbereitet wird, Gesetze zu verabschieden, mit denen diskriminierende Tatbestände festgeschrieben werden. ({0}) Aber genau das haben Sie in der vergangenen Woche gemacht. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Das können Sie auch nicht mehr ungeschehen machen. Um solche diskriminierenden Tatbestände zu verbieten, benötigen wir kein Diskriminierungsverbotsgesetz. Sie hätten sie einfach nicht festschreiben dürfen. Erlauben Sie mir - drittens - eine letzte Bemerkung: Geschäftsverteilungspläne mögen für die Regierung sehr wichtig sein. ({1}) Aber für Menschen mit Behinderungen ist ausschließlich wichtig, welche Gesetze gelten und in Kraft gesetzt werden und welche Botschaft wir von hier aus vermitteln, also ob sie lautet: „Das Ganze ist ein bürokratischer Akt“ oder ob sie lautet: Wir wollen die Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderung verbessern, damit sie so zusammenleben können, wie die Kollegin Deligöz es beschrieben hat. Man muss sich im Umgang miteinander zwanglos wohl fühlen können und einen Behinderten auch einmal doof finden dürfen. Auch ich als Behinderter muss Nichtbehinderte blöd finden dürfen. Das ist schließlich eine Frage von Sympathie und Antipathie. So etwas gibt es zwischen Menschen nun einmal. Wenn man einen Behinderten doof findet, dann erfüllt man nicht gleich einen Diskriminierungstatbestand. Deshalb benötigen die Behinderten - das möchte ich nicht verhehlen - einen leistungsgesetzlichen Anspruch, der nichts mit der Sozialhilfe zu tun hat. Wenn Sie einen solchen Rechtsanspruch nicht sicherstellen, dann bleiben die Behinderten leider viel zu weit zurück. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Silvia Schmidt für die SPD-Fraktion.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin enttäuscht angesichts dessen, was hier vorgetragen worden ist; denn wir haben in sehr kurzer Zeit etwas ganz Tolles und qualitativ Hochwertiges geleistet. Das ist meine Überzeugung. Da müssen Sie nicht den Kopf schütteln, Frau Nolte. ({0}) Von Ihnen habe ich etwas mehr erwartet. Auf der einen Seite behaupten Sie, für Behinderte zu sprechen. Auf der anderen Seite muss ich erleben, dass Sie für Verunsicherung sorgen, gerade im Bereich der Förderung von Werkstätten für Behinderte, über die gestern ausführlich diskutiert worden ist und zu der es auch Pressemitteilungen vom Bundesarbeitsministerium gibt. Sie möchten zwar mitarbeiten, verunsichern aber die Behinderten. Das können unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger gar nicht gebrauchen. ({1}) Sie behaupten - ich hoffe, Sie haben den letzten Entwurf des Gesetzes gelesen; das setze ich natürlich voraus, wenn sie zu diesem Thema eine Rede halten -, es werde nur ein Integrationsfachdienst eingerichtet. Tatsächlich steht drin: „mindestens“ - das heißt, es werden mehrere sein. ({2}) - Lassen Sie mich bitte ausreden! Die Hauptfürsorgestellen sind mit dabei. Das müssten Sie eigentlich vernommen haben. Herr Seifert, über das Teilhabesicherungsgesetz haben wir bereits gesprochen. Ich hoffe, dass Sie, wenn es um die Schaffung von 50 000 Arbeitsplätzen für Behinderte geht, genauso engagiert mitarbeiten werden, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wenn ein Mensch Arbeit hat, dann ist er nicht auf Sozialhilfe und Almosen der Gesellschaft angewiesen. Das ist die Grundvoraussetzung. Behinderte Menschen wollen nicht nur einen gesetzlichen Anspruch auf Zuwendungen haben; sie wollen auch mitarbeiten. Die Integration Behinderter in das Arbeitsleben ist dieser Regierung besonders gut gelungen, Herr Seifert. ({3}) Ich habe heute trotzdem ein sehr gutes Gefühl, denn wir haben - ich habe das bereits am Anfang meiner Rede erwähnt - einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt. Das ist ein qualitativ hochwertiger Schritt. Wir werden mit diesem Gesetz die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter nachhaltig verringern. Damit haben wir einen großen Schritt zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit getan; denn diejenigen Menschen, die in unserer Gesellschaft ohnehin diskriminiert sind und benachteiligt werden, trifft die Arbeitslosigkeit doppelt schwer. Es gehört zu den Grundelementen unserer Sozialpolitik, für die Beseitigung derartiger Ungerechtigkeiten einzutreten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Nolte?

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das muss jetzt nicht sein. Wir können gern im Ausschuss reden. Ich habe heute schon zu viel gehört. ({0}) Es ist einfach sozial ungerecht, wenn Menschen - aus welchem Grund auch immer - aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, wenn wir keine Möglichkeiten zur Integration bieten und ihnen, kurz gesagt, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verweigern. Wir werden mit unserem Gesetzentwurf einen ersten richtigen Schritt gehen, um diese Missstände abzubauen. Es ist wichtig, dass es uns gelingt, innerhalb sehr kurzer Zeit 50 000 Arbeitsplätze für Schwerbehinderte zu schaffen. Frau Staatssekretärin Mascher hat schon gesagt, mit welchen rechtlichen Mitteln wir dieses Ziel erreichen wollen. Die Zustimmung der Verbände und der Gewerkschaften sowie die Mitwirkung der Arbeitgeberverbände geben uns Recht. Eine entscheidende Ursache für den großen Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Schwerbehinderten liegt in der unzureichenden Vermittlung und Betreuung. Schwerbehinderte brauchen eine gezielte Beratung, Schulung und Vermittlung, weil sie von vornherein auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Das hat auch die meisten Arbeitsämter und Hauptfürsorgestellen überfordert. An diesem Punkt setzen wir an. Jedes Arbeitsamt wird einen Ansprechpartner bekommen, der für die Beratung Schwerbehinderter geschult wird und nur für deren Belange zuständig ist. Zusätzlich wird ein breites Netz an Integrationsfachdiensten geschaffen, und zwar wird es für jeden Arbeitsamtbezirk mindestens einen Fachdienst geben. Der Integrationsfachdienst kann von einem Verband eingerichtet werden und aus einem Verbund mehrerer Verbände bestehen. Die Integrationsfachdienste werden auf die spezifischen Bedürfnisse, die Ausbildung, die Fähigkeiten, die Behinderung und die Ansprüche einzelner Schwerbehinderter zielorientiert eingehen. Sie werden dem Schwerbehinderten auch dann noch bei Problemen zur Seite stehen, wenn er auf dem ersten Arbeitsmarkt bereits Fuß gefasst hat. Wir haben damit auch die Chance, schwerbehinderte Frauen, Schwerbehinderte, die älter als 50 Jahre sind, und gerade Schwerbehinderte in den neuen Bundesländern vermehrt in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Ich möchte Ihnen kurz ein Beispiel nennen: Ich hatte neulich ein Gespräch mit dem als Modelleinrichtung realisierten Integrationsfachdienst in Wittenberg. Dieses Gespräch machte mir einfach Mut. So sagte man mir zum Beispiel, dass zunächst etwa 50 Prozent der privaten Firmen und Unternehmen nicht einmal wissen, was ein Schwerbehindertenausweis ist, was er bedeutet und welche Fördermittel sie erhalten können, wenn sie einen Schwerbehinderten einstellen. Nach einem klärenden Gespräch mit den Unternehmen könnten Unsicherheiten ausgeräumt und Ängste beseitigt werden, sodass einer Einstellung Schwerbehinderter nichts mehr im Weg steht. - In diesem Bereich bestehen erhebliche Defizite, die wir gemeinsam mit den Verbänden, mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgeberverbänden durch Information abbauen müssen. Übrigens sind wir damit voll im Trend; denn in der aktuellen Diversity-Diskussion geht es in vielen großen Unternehmen der USA schon darum, Talente, verschiedene Begabungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschiedlichster Gruppen zu nutzen, zum Beispiel in gemeinsamen Teams von Männern und Frauen, Behinderten und Nichtbehinderten, Alten und Jungen sowie Menschen verschiedenster Herkunft. Noch etwas anderes macht mir Mut: Die Vertreter der Integrationsfachdienste sagten mir, dass etwa genauso viele schwerbehinderte Frauen wie schwerbehinderte Männer in Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten. Den Weg der Integrationsfachdienste sollten wir weitergehen. Der Frauenanteil in den Werkstätten für Behinderte liegt bei 42,2 Prozent. Das ist eine relativ gute Zahl. Aber auch diese Frauen müssen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Bedenkt man diese erschreckende Benachteiligung schwerbehinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt, so kann man die Bedeutung von Integrationsfachdiensten, aber auch von Integrationsfirmen und -unternehmen gar nicht hoch genug schätzen; denn sie haben bis jetzt 6 000 Arbeitsplätze für schwerbehinderte Menschen geschaffen. Zum ersten Mal gibt es für diese Dienste, für diese Firmen und für diese Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf eine Rechtssicherheit. Das Forschungsprojekt „LIVE“ hat in einer umfangreichen Studie herausgestellt, dass Erwerbstätigkeit, Ausbildung und Beruf bei schwerbehinderten Frauen einen außerordentlich hohen Stellenwert haben. Ich zitiere die Aussage einer im Rahmen der Studie befragten Frau: Ich glaube, dass Ausbildung für mich einen höheren Stellenwert hat als für viele Nichtbehinderte, weil man einfach besser sein muss, um das Gleiche zu bekommen wie Nichtbehinderte. In dieser Studie zeigten sich überwiegend so genannte gebrochene Berufsbiografien, wobei neben frauentypischen Gründen wie Erziehungsurlaub vor allem die Behinderung Ursache dafür war - also etwa bei Reduzierung der Stundenzahl -, dass man sich nicht gut gefühlt hat; Teilzeitarbeit gab es erst ab 55 Jahren. Die Studie zeigt weiter, dass bei den befragten Frauen immer großes Bedauern und oft auch Resignation angesichts ihrer Berufsbiografien zu finden war.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Schmidt, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das mache ich. Meine Damen und Herren, Sie sehen, wie dringend notwendig es für den Gesetzgeber ist, endlich zu handeln. Ich glaube, wir alle hier im Saal sind dieser Meinung. Wir sind glücklich, dass endlich sehr viele Punkte wie zum Beispiel der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz und Teilzeitarbeit in unserem Gesetz verankert werden. Zum Schluss betone ich noch einmal: Wir alle müssen gemeinsam mit den Verbänden, den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften dazu beitragen, soziale Gerechtigkeit für die behinderten Mitbürger herzustellen. Das ist eine Herausforderung an unsere Zivilgesellschaft. Wir nehmen diese Herausforderung an. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3372 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- nung auf Drucksache 14/2913. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung vom Kollegen Dr. Ilja Seifert gibt.*) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/2913, folgende Anträge für erledigt zu erklären: Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Die Integration von Menschen mit Behinderungen ist eine dringliche politische und gesellschaftliche Aufgabe“, Drucksache 14/2237, Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Alte Versprechen nicht erfüllt und neue Wege nicht gegangen Bilanz der Behindertenpolitik“, Drucksache 14/2234, sowie Antrag der Fraktion der PDS auf Vorlage eines Teilhabesicherungsgesetzes, Drucksache 14/827. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung, diese Anträge für erledigt zu erklären? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/2415 und 14/3382 an die an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. Juni 2000, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.