Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Jork von der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht gibt eine realistische Darstellung der Lage
auf dem Lehrstellenmarkt. Allerdings lassen Durchschnitts- und Zuwachsangaben die Dramatik der Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern überhaupt
nicht erkennen. Hier liegt der Schwerpunkt, auf den ich
mich konzentrieren möchte.
Mit dem Sonderprogramm der Bundesregierung, für
das wir dankbar sind, wird die Notlage gemildert. Trotzdem ist die Anzahl neuer betrieblicher Ausbildungsverhältnisse „erneut deutlich rückläufig“. Früher hätten Sie,
die jetzt an der Regierung sind, das als Katastrophe bezeichnet. Ich denke, wir bleiben im Sinne derer, die es betrifft, sachlich.
Im Handwerk gab es Rückgänge. Warum wohl? Ich
möchte den Redestil des Herrn Bundeskanzlers von gestern nachmachen und antworten: Das hat mit der Ökosteuer zu tun. Das hat mit halbherzigen Gesetzen zur
Bekämpfung der schlechten Zahlungsmoral zu tun.
({0})
Sehr hilfreich waren die Entwickler und die Berater.
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern in den Arbeitsämtern herzlich danken.
({1})
Ich bescheinige auch gern der ehemaligen Opposition
einen Erkenntnisgewinn. Das, was im jetzigen Berufsbildungsbericht steht, ist schon interessant. Sie gehen davon
aus - wir waren immer dieser Meinung -, dass die Probleme nur partnerschaftlich lösbar seien. Sie erkennen,
dass auch die Länder in der Pflicht stehen. Sie selbst sagen nun auch, dass ausländische Mitbürger gefordert
seien. Toll finde ich es zu lesen, dass jetzt auch der Bedarf
bedacht wird. Das hat vielleicht etwas mit dem Erkenntnisgewinn auf dem Gebiet der Informationstechnologie zuerst Schließung einer Hochschule und als logische
Folge davon Import von Computerspezialisten aus dem
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Ausland - zu tun. Das betrifft auch die Frage der beruflichen Bildung.
In dem Bericht steht:
Dabei kommt der mittelständischen Wirtschaft eine
besondere Bedeutung zu, sie bildet mit 1,2 Millionen
etwa 80 % aller Auszubildenden aus.
Weiter heißt es dort: Hauptanliegen ist,
dass die mittelständische Wirtschaft ihre tragende
Rolle in der Berufsausbildung beibehalten kann.
Richtig! Schön wäre es! Genau darauf möchte ich hier besonders eingehen: Wer Lehrstellen mag, der muss auch
die mittelständische Wirtschaft mögen. Alles andere ist
halbherzig.
({2})
Wie sehen nun angesichts der wirtschaftlichen Ausgangslage in den neuen Ländern die praktischen Konsequenzen aus? Frau Ministerin, wenn Sie sagen, Sie wollen das politisch anpacken, dann antworte ich Ihnen: Sie
können so viel wollen, wie Sie möchten! Ich weiß, dass
Sie und Ihr Ministerium sich bemühen. Aber das Problem
der Lehrstellen in den neuen Bundesländern ist eine gesamtwirtschaftliche sowie überministerielle Angelegenheit. Sie ist Chefsache. Wenn Sie sich bemühen, dann
reicht das nicht. Ich kann nur sagen: Hier muss der Chef
ran! Er muss den Stab zum Dirigieren in die Hand nehmen.
({3})
Im „Tagesspiegel“ vom 6. April 2000 steht: Der Aufschwung geht am Osten vorbei.
({4})
Unter dieser Überschrift wird der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern beschrieben. Wenn
man sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in
West und Ost anschaut - Herr Hilsberg, es war Ihr Hobby,
die dortigen Zahlen zu bejubeln -, dann stellt man fest,
dass die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundesländern bei 9 Prozent und in den neuen Bundesländern bei
15,7 Prozent liegt. Interessant ist auch der Vergleich der
Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen
Bundesländern: In Bayern liegt die Quote bei 5,8 Prozent,
in Niedersachsen bei 11,1 Prozent.
({5})
Für uns Ostdeutsche - das richte ich an die Adresse von
Frau Müller, die gestern im Plenum gesprochen hat - ist
es Schönfärberei und Ausdruck von Arroganz, wenn Frau
Müller sagt: Die Arbeitslosigkeit ist um 10 Prozent
zurückgegangen. Ich weise noch einmal darauf hin:
Durchschnitts- und Zuwachsangaben verkleistern den
Blick auf die extreme Situation in den neuen Bundesländern und gehen an der Realität vorbei.
({6})
Einst, als es in Ostdeutschland noch aufwärts ging,
sagte einer, der Kanzler werden wollte: Das ist mein Aufschwung. Er wurde Kanzler und erklärte den Aufbau zur
Chefsache. Nun erleben wir den Abschwung Ost. Das ist
Ihr Abschwung, Herr Bundeskanzler. Da nützt uns auch
ein „Placebo-Minister Ost“ überhaupt nichts.
({7})
Der Hauptausschuss weist in seiner Stellungnahme zur
Entwicklung des Berufsbildungsberichtes 2000 zu Recht
darauf hin, dass
die Berufsbildungsstatistik nicht zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnissen differenziert. Der Hauptausschuss erwartet, dass
das Bundesinstitut für Berufsbildung bei der nächsten Erhebung mit dem Stichtag 30.9.2000 diese Differenzierung vornimmt.
Ich halte das für richtig. Weiter steht im Bericht:
Die Versorgungslücke auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist nicht nur eine Folge der Krise des Arbeitsmarktes. Für sie sind vielmehr auch strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft verantwortlich.
Worum geht es also? Es genügt nicht, die offensichtlichen Probleme mit sektoralen Maßnahmen - ich deutete
das an - zu kurieren. Die Wirtschaft, der Mittelstand und
das Handwerk müssen auch im Ministerienverbund unterstützt werden. Man muss längerfristig planen und
Lehrstellen vorsehen können. Wer nicht weiß, ob er in einem halben Jahr noch existiert, der wird natürlich keine
Lehrlinge ausbilden. „Feststellen und fortfahren“, wie es
der Herr Bundeskanzler gestern ausdrückte, genügt nicht.
Wir brauchen eine neue Mittelstandskultur. Unser früherer Kollege Rixe sagte immer: Weiter so - aggressiv! Genau das erleben wir jetzt. „Weiter so“ langt nicht; wir
brauchen eine neue Mittelstandskultur in den neuen Bundesländern.
({8})
Dem Bericht der Bundesregierung zur technologischen
Leistungsfähigkeit entnehme ich folgende Aussage:
Dem Innovationssystem in den neuen Bundesländern ({9}) wesentliche Kernelemente und Kristallisationspunkte der Innovationssysteme der alten
Länder. Darüber hinaus leiden die kleinen und mittleren Unternehmen sehr viel häufiger als in den alten
Ländern unter einer geringen Rentabilität, fehlendem Eigenkapital und daraus resultierend auch unter
unzureichendem Zugang zu Fremdkapital.
Was dort steht, stimmt.
Wir hatten ein Gespräch mit der Handwerkskammer
Chemnitz. Zu diesem Gespräch wurden vier Forderungen
formuliert - sie sind im Grundsatz klar -, die zeigen, wie
Wirtschaft und Lehrstellen unmittelbar zusammenhängen:
Erstens. Die Lehrlinge sollen - darüber haben wir
früher schon gesprochen - möglichst umfassend im Betrieb arbeiten.
Zweitens: eine deutliche Entlastung von Steuern und
Abgaben.
Drittens: Entlastung von Nebenkosten.
Viertens: eine angemessene Relation des Lehrlingsentgeltes zum Gesellenlohn.
Bereits in Gesprächen mit dem Arbeitsamt Pirna wurde
vor einiger Zeit - am 14. April hatte ich ein solches Gespräch in Meißen - festgestellt, dass wir eine Facharbeiterlücke haben werden. Ich freue mich, dass auch das in
dem Bericht angesprochen wird.
Wir brauchen intelligente Lösungen für dieses Problem. Ich gehe davon aus, dass ein größerer Schwerpunkt
auf die modulare Gestaltung der Ausbildung gelegt werden soll. Der Vertreter der IG Metall wies in einer Beratung übrigens darauf hin, dass die öffentliche Infrastruktur in den neuen Bundesländern einen Rückstand von
30 Prozent hat und dass es vor allem Defizite im industriellen Bereich gibt. Wiederum stellt sich die Frage: Was
hemmt? Bestehende Hemmnisse haben mit der Steuerreform, der Ökosteuer und hohen Lohnnebenkosten zu tun.
Ich möchte Schlussfolgerungen ziehen. Unsere Fraktion wird auf Drucksache 14/3185 eine Vorlage mit dem
Titel „Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungen
angehen“ in die Beratungen einbringen. Wir fordern klar:
Es hat keinen Sinn, an den Krankheitssymptomen zu laborieren; es geht darum, dass der Körper Berufsbildung in
den neuen Bundesländern insgesamt so konditioniert
wird, dass der betriebliche Teil der dualen Ausbildung
überhaupt funktionieren kann. Ich erinnere dabei an die
Vorschläge, die ich in der Debatte am 28. Januar gemacht
habe.
Den Leuten in den neuen Bundesländern ist nicht zum
Lachen. Die Zahlen dort sprechen eine deutliche Sprache.
Es geht wirklich darum, dass sich die Bundesregierung als
Regierung und der Chef der Chefsache endlich als in der
Pflicht stehend verstehen.
({10})
Ich darf noch einmal darauf hinweisen - ich freue
mich, dass dieser Gedanke auch in den Papieren der Bundesregierung zunehmend Akzeptanz findet -, dass die
Diskussion zu Modulen in der beruflichen Bildung geführt wird. Ich habe in meiner Rede vom 4. März 1999 den
Versuch einer Definition gemacht und der Vertreter der
SPD hat damals im Plenum gesagt, wir sollten darüber reden. Das hat bisher nicht stattgefunden, aber ich finde das
an einigen Stellen schon in den Papieren.
Die modulare Berufsbildung hat, wenn sie von ideologischen Vorbehalten und Blockaden entkleidet wird, den
Vorteil, dass sie die Flexibilität der Arbeit erhöht, dass sie
die schrittweise Modernisierung der Berufsbilder ermöglicht, dass es möglich wird, betriebsspezifische Aufgaben
in der Ausbildung und Weiterbildung - davon ist heute
schon gesprochen worden - zu berücksichtigen. Außerdem ist das - das halte ich für wichtig - eine Chance für
die Befähigung bei unterschiedlicher Eignung.
Abschließend möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen, dass die modulare Berufsbildung keineswegs das Berufsprinzip infrage stellt, sondern dieses Berufsprinzip ergänzt und flexibilisiert.
({11})
Ich möchte kurz auf die Drucksache eingehen, die ich
gerade in die Hand bekommen habe. In diesem von den
Regierungsparteien eingebrachten Entschließungsantrag
steht unter Nr. 2:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, Wirtschaft,
Handwerk, freie Berufe und öffentlichen Dienst verstärkt anzuhalten mehr Ausbildungsplätze anzubieten.
Ich zitiere Sie, Frau Ministerin. Sie haben eben gesagt,
Appelle genügten nicht. Genau das ist es. Die Wirtschaft
braucht keine Appelle. Sie will. In allen Beratungen, die
wir zu Hause im Wahlkreis führen, merke ich das Ringen,
mehr Ausbildungsplätze bereit zu stellen. Den Leuten ist
schon bewusst, dass es um die eigene Zukunft geht. Aber
bitte - Ihre Worte - nicht nur Appelle, bitte gemeinsame
Arbeit über die Ministeriumsgrenzen hinweg! Kommen
Sie zur Sache! Appelle nützen nichts und sind überflüssig.
({12})
Ich möchte kurz zu zusammenfassenden Bemerkungen
kommen. Die Zeit ist um.
Es gibt im Bericht eine realistische Darstellung. Ich
freue mich, dass das deutlich gesagt wird. Die Bundesregierung hat an vielen Stellen über JUMP geholfen. Wir haben wiederholt gesagt, dass wir das gut finden, dass die
Nachhaltigkeit, der Effekt verbessert werden muss. Ich
glaube, wir sind uns darüber einig. Die Arbeit über die
Ministeriumsbereiche hinweg halte ich für ungenügend.
Die Konsequenzen sind halbherzig, begrenzt und oberflächlich. Ich bin der Meinung, der Chef sollte kommen
und das tun, was er versprochen hat.
Danke schön.
({13})
Das Wort
hat nun der Kollege Ulrich Kasparick von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Jork, nur auf den Chef zu warten
reicht nicht,
({0})
sondern da muss man sich schon selber hinsetzen und selber etwas unternehmen. Man muss sich mit den gutwilligen Menschen im Lande, die es in genügender Anzahl
gibt, zusammentun und genauer definieren, wo die
Schwachpunkte sind.
({1})
Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Ich finde die Situation in Ostdeutschland nicht nur bedrückend, sondern
ausgesprochen bedrohlich, weil es Trends gibt, die auch
im Plenum des Deutschen Bundestages noch zu wenig besprochen worden sind. Deshalb erlauben Sie mir, dass ich
auf ein paar dieser Trends heute aufmerksam mache.
Wir beobachten leider, dass Berufsschullehrer, die wir
für neue IT-Berufe dringend brauchen, das Land verlasDr.-Ing. Rainer Jork
sen. In Sachsen-Anhalt beispielsweise ist es so, dass von
40 ausgebildeten Berufsschullehrern 30 weggehen, zum
Teil aggressiv abgeworben werden. Deswegen sage ich an
dieser Stelle: Wir müssen über den BAT reden.
({2})
Als ich kürzlich die Fachhochschule Stralsund besuchte, sagte mir der Direktor auf meine Frage, wo seine
Absolventen hingingen, dass sie zu fast 100 Prozent in die
alten Länder gingen.
Wir müssen darüber reden, woran es liegt, dass die Menschen, die wir dringend für Innovationen, bei der Entwicklung neuer Berufe und als Ausbilder brauchen, weggehen.
Gut finde ich an dem Bericht der Bundesregierung, dass
die Regierung die Schwierigkeiten nicht verschweigt, sondern vielmehr dieses besondere Problem in Ostdeutschland genau wahrnimmt. Dafür bin ich der Regierung ausgesprochen dankbar, denn wir haben auch schon anderes
erlebt. Da wurde nicht in einer solchen Offenheit über die
Schwierigkeiten gesprochen. Ich wünsche mir, dass wir
weiter untereinander so ehrlich bleiben. Es ist ein guter
Zug zu sagen, wie die Situation wirklich ist.
({3})
Ich will noch auf ein paar Besonderheiten aufmerksam
machen, die die Berufsbildung in Ostdeutschland betreffen: In Thüringen, so sagte mir der zuständige Referatsleiter im Landesarbeitsamt, als ich ihn zur Vorbereitung
dieser Rede anrief, verhält es sich so, dass etwa 17 Prozent der Lehrlinge in die alten Länder gehen und zusätzlich etwa 18 Prozent pendeln. Darüber hinaus gibt es noch
eine große Grauzone. Es gibt andere Regionen in Ostdeutschland - ich nenne als ein Beispiel Stendal -, aus denen fast ein Viertel der Lehrlinge weggehen.
Wenn man woanders in Deutschland eine Lehrstelle
findet, ist das gut. Es entsteht aber zugleich ein strukturpolitisches Problem: Wenn Menschen in den alten Ländern - beispielsweise gehen sehr viele nach Süddeutschland - eine Ausbildung machen, liegt es nahe, dass sie
dann auch dort bleiben. Das heißt, es entsteht nicht nur aktuell ein Mangel an Fachkräften in Ostdeutschland, sondern zukünftig werden wir auf dem Arbeitsmarkt noch
mehr Probleme bekommen, wenn wir nicht jetzt mehr tun,
als bisher getan worden ist. Deswegen lautet mein Appell ich bin mir sehr sicher, dass der auch gehört werden wird -,
noch ein wenig mehr Gewicht auf diese Frage der Berufsausbildung in Ostdeutschland zu legen. Ich denke,
dass es eine ganze Reihe von gutwilligen Partnern gibt,
die dazu auch bereit sind.
Wir können es uns nämlich nicht leisten, bis zum Jahre
2007 zu warten. 2007 wird sich die Situation völlig umdrehen. Da werden wir in Ostdeutschland die Situation
haben, dass mehr Ausbildungsplätze vorgehalten werden,
als sich Auszubildende bewerben. Ich fand es gut, als mir
Leute von der Industrie- und Handelskammer und auch
von den Kreishandwerkerschaften sagten, dass die Betriebe in Ostdeutschland es mittlerweile verstehen, dass
ab 2006/07 dieser Einbruch kommt, und deshalb jetzt
schon damit beginnen, mehr auszubilden. Das ist ein
wichtiger Trend. Die Betriebe, insbesondere die Kammerbetriebe, fangen an, mehr auszubilden. Wir müssen
sie dabei allerdings unterstützen.
Ich nenne nur als Beispiel die IT-Berufe. Es ist gut,
dass es da einen Aufwuchs gibt. Aber auch hier merken
wir, dass die jungen Leute in Ostdeutschland von diesem
Aufwuchs noch nicht so profitieren, wie das wünschenswert wäre. Wir haben bei den gemeldeten Ausbildungsstellen in den neuen Berufen einen Aufwuchs von
etwa 3 bis 4 Prozent. Das ist zu wenig; es muss mehr werden. Was ist zu tun? Klar ist, solche Programme wie
JUMP müssen fortgesetzt werden. Ich finde es gut, dass
das schon zugesichert wurde. JUMP geht weiter, das ist
ganz wichtig für den Osten.
({4})
Jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß allerdings, dass die Realität der beruflichen Ausbildung in Ostdeutschland noch weit entfernt ist von einem wirklichen
dualen System, denn dort ist Ausbildung fast eine rein
staatliche Veranstaltung.
({5})
Wenn man nämlich zu der staatlichen Ausbildung an den
Berufsschulen die Pro-Kopf-Prämien, die in manchen
Ländern noch gezahlt werden, hinzuzählt, dann kommt
man auf einen staatlichen Anteil am Ausbildungsmarkt
von bis zu 80 Prozent. Von daher liegt es auf der Hand,
dass sich der Staat da weiter engagieren muss. Ich finde
die Zusage der Ministerin gut ({6})
- Das kommt noch dazu; auf das zusätzliche Programm
gehe ich gleich noch ein. Einige Länder, beispielsweise
Thüringen, haben solch ein Programm ja schon aufgelegt.
Wir müssen an einer Schlüsselstelle etwas tun, nämlich
in der Verbundausbildung. Zurzeit sieht die Situation
folgendermaßen aus: Nur etwa die Hälfte der Betriebe in
Ostdeutschland glauben, dass sie ausbildungsberechtigt
seien. Ich habe noch einmal mit den Handwerkskammern
telefoniert; sie haben mir das bestätigt. Das heißt: Viele
wissen gar nicht, dass sie ausbildungsberechtigt sind.
Daher brauchen wir eine konzertierte Aktion. Verbünde sind dazu wichtig. Die Kammern bemühen sich
mit den Sozialpartnern. Die Länder sind sehr engagiert
und auch der Bund hilft. Wir brauchen aber an einer
Schlüsselstelle eine gezielte Förderung - ich bin mir sicher, dass dies mit einem Sonderprogramm jetzt zu realisieren ist -: Wie bekommt man das Management dieser
Verbünde angeschoben? Die Idee ist, dass man für die
erste Zeit eine degressive Förderung vorsieht. Man kann
in diesem Zusammenhang - ob es nun die ersten drei
Jahre sind - über Zeiträume reden. Ein Verantwortlicher
muss Betriebe akquirieren und das Management der Verbundausbildung in die Hand nehmen. Er muss also auf die
beteiligten Akteure zugehen. Ich denke, eine degressiv
gestaltete Förderung ist sinnvoll. Das Ziel muss sein, dass
die Wirtschaft selber die Ausbildung übernimmt.
({7})
Ich möchte noch einen zweiten Punkt kurz ansprechen.
Auch da gibt es eine große Bereitschaft zum Handeln, die
nur noch mithilfe eines kleinen staatlichen Anstoßes sozusagen zusammengeführt werden muss. Es stellt sich
nämlich die Frage: Wie können sich die Arbeitsplatzentwickler, die Arbeitsplatzvermittler und die Menschen, die
für die Akquise von Ausbildungsplätzen unterwegs sind,
besser absprechen? Man kann häufig feststellen, dass
diese Akteure nebeneinander agieren. Ich wünsche mir
daher eine bessere Absprache, was den Regionen nur helfen kann.
Der zentrale Punkt ist: Wir müssen den Betrieben, die
ausbildungswillig sind - es gibt sie - helfen. Das Stichwort heißt: Ausbilden zum Ausbilder. Das BMBF bereitet entsprechende Maßnahmen vor, die in die richtige
Richtung gehen. Auch die Verbundausbildung weist in die
richtige Richtung, möglicherweise ausgestattet mit einem
degressiv gestalteten Förderprogramm.
Ich rufe von dieser Stelle die Kammern auf, ihre eigenen Betriebe darüber zu informieren, wer eigentlich alles
ausbildungsberechtigt ist. Mich hat die Zahl etwas irritiert, dass etwa nur die Hälfte der Betriebe wissen, dass sie
ausbilden können. In diesem Zusammenhang wäre eine
Informationskampagne sehr sinnvoll; denn jeder Betrieb,
der ausbildet, wird dringend benötigt, auch wenn er nur
einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellt. Wir wollen
den Betrieben dabei helfen.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächste
Rednerin hat das Wort die Kollegin Cornelia Pieper von
der F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist noch gar nicht lange her, dass wir in diesem Hause den
Berufsbildungsbericht 1999 abschließend behandelt haben und ich an gleicher Stelle stand. Das ist insofern von
Interesse, als ich mit nur knapp vier Monaten Abstand
zwei Berichte analysieren und miteinander vergleichen
kann, die auf das Wirken von zwei grundverschiedenen
Bundesregierungen zurückzuführen sind.
Damals sagte ich Ihnen: Der Berufsbildungsbericht
1999 macht deutlich, dass die alte Bundesregierung bei
der Schaffung von Ausbildungsplätzen eine richtige Weichenstellung vorgenommen hat.
({0})
Mit vertrauensbildenden Maßnahmen schafft man gerade
im Mittelstand den besseren Nährboden für Engagement.
Ich bitte Sie, diese Tatsache einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Ich komme auf das Thema Mittelstandspolitik gleich
zurück.
Heute haben wir darüber zu befinden, ob die neue Bundesregierung - getreu dem Kanzlerwort „Wir machen
nicht alles anders, aber vieles besser“ - erfolgreich gearbeitet hat. Am Abbau der Jugendarbeitslosigkeit möchte
sich Herr Schröder messen lassen. In der Tat: Der Bericht
weist einen Zuwachs gegenüber 1998 von 18 500 Ausbildungsverträgen aus. Ich sage ganz deutlich: Jede Investition in die Ausbildung eines Jugendlichen ist mir das Geld
wert; denn die beste Sozialpolitik, die man für einen jungen Menschen machen kann, ist, ihm einen Ausbildungsplatz zu verschaffen.
({2})
Wir alle wissen, das Programm umfasste im vergangenen Jahr insgesamt 2,2 Milliarden DM. Doch auch Ende
1999 standen immerhin noch 8 100 Jugendliche ohne Ausbildungsstelle da. Das sind die Fakten.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Es gibt in Deutschland eine Schieflage,
was die Ausbildungsplatzsituation anbelangt. Dabei handelt es sich nicht um eine Situation, die ich als Oppositionelle im Deutschen Bundestag sozusagen herbeirede.
Diese Situation ist im Berufsbildungsbericht beschrieben.
Frau Nahles und elf andere Bundestagsabgeordnete der
SPD haben dies in einem offenen Brief an Bundeskanzler
Schröder zum Ausdruck gebracht.
({3})
Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt:
Die Verbesserung der Ausbildungsplatzbilanz ist
allerdings im starken Maße auf die Ausweitung der
öffentlich finanzierten Ausbildung, insbesondere auf
das Sofortprogramm der Bundesregierung zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, zurückzuführen.
Das heißt, Sie haben es nicht geschafft, dass Ausbildungsplätze in kleinen mittelständischen Betrieben in der
Wirtschaft entstehen können.
({4})
Das haben Sie nicht geschafft, und das müssen Sie sich
von der Opposition und von der deutschen Bevölkerung
vorwerfen lassen. Ich sage noch einmal: Die Appelle an
die Wirtschaft werden nicht reichen, und auch Ihre Politik für die großen und starken Unternehmen wird nicht
reichen. Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die die
kleinen Handwerksbetriebe, die Freiberufler und die mittelständische Wirtschaft unterstützt.
({5})
Dafür haben Sie sowohl mit dem 630-Mark-Gesetz als
auch mit dem Gesetz über die Scheinselbstständigkeit und
mit der vorgelegten Unternehmensteuerreform die falschen
Rahmenbedingungen geschaffen.
({6})
Bringen Sie doch endlich den Mut zu echten Reformen
auf, und hören Sie auf, mittelstandsfeindliche und damit
ausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden!
Setzen Sie Ihren Schwerpunkt nicht allein auf noch so
schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme, sondern stärken Sie den Mittelstand
vor Ort.
({7})
Der Kollege von der SPD, der vor mir gesprochen hat, hat
es ja auch deutlich gemacht. Es kommt darauf an, dass wir
den Mittelstand stärken,
({8})
damit Ausbildungsplätze geschaffen werden. Aber Sie
machen es ja nicht.
({9})
Das ist gerade für den Osten Deutschlands von existenzieller Bedeutung.
Dazu will ich in diesem Hohen Hause noch einmal feststellen: Wir behandeln heute den Berufsbildungsbericht
2000, werten also das Ausbildungsjahr 1999 aus. Wir alle
wissen um die dramatische Situation im Osten Deutschlands. Wir sind uns einig, dass dort die Ausbildungsplätze
auch öffentlich gefördert werden müssen. Wir diskutieren
hier, und ich vermisse die Anwesenheit des dafür zuständigen Ministers.
({10})
Wo ist Staatsminister Schwanitz?
({11})
Der Bundeskanzler dieser Bundesrepublik Deutschland
hat erklärt: Aufbau Ost ist Chefsache. Sind ihm die Ausbildungsplätze so wenig wert? Ist ihm die Mittelstandspolitik so wenig wert, dass er heute im Plenum nicht anwesend ist?
({12})
Ich fordere den Staatsminister auf, an dieser Debatte teilzunehmen. Für mich ist es ein Affront gegen die Jugendlichen, insbesondere im Osten Deutschlands,
({13})
dass der Minister für besondere Aufgaben Aufbau Ost an
dieser Debatte im Plenum nicht teilnimmt.
({14})
Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass Sie dieses Thema so begeistert. Ich will es noch einmal an einem
ganz konkreten Punkt deutlich machen.
({15})
Wenn Sie im Haushalt des Jahres 2000 für die Technologieförderung im Wirtschaftsministerium Mittel streichen
und ich weiß, dass im zuständigen Ministerium in einem
Umfang von 35 Millionen DM Anträge ostdeutscher
mittelständischer Betriebe liegen, die in eine innovative
Branche vordringen wollen, Anträge, die nicht bewilligt
werden können, weil das Geld nicht eingestellt worden
ist, Anträge, mit denen innovative Existenzgründungen
auf den Weg gebracht werden könnten, dann ist das die
falsche Akzentuierung. Durch jeden Betrieb, der neu entsteht, könnten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze gerade im Osten Deutschlands entstehen.
({16})
Das werfen wir Ihnen allerdings vor, meine Damen und
Herren.
({17})
- Genau, weder Wirtschafts- noch Aufbauminister. Das
kann auch ruhig ergänzt werden, denn dieses Thema ist
einfach im Zusammenhang zu sehen. Es ist nicht allein,
verehrte Frau Ministerin Bulmahn, ein bildungspolitisches Thema, es ist ein Wirtschaftsthema. Das kann man
gar nicht genug deutlich machen.
({18})
- Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich im Moment
keine Frage beantworten möchte. Ich möchte gern den
Zusammenhang darstellen.
Und es ist ein schulpolitisches Thema. Schulpolitik ist
Aufgabe der Länder. Aber die Qualität der Schulbildung
entscheidet über die Ausbildungsfähigkeit junger Menschen. Das will ich hier auch noch einmal sagen.
({19})
Die schlechte Unterrichtsversorgung und Ausstattung an
den Schulen Deutschlands trägt doch nicht dazu bei, dass
wir gut ausgebildete und ausbildungsfähige junge Menschen in den Berufsschulen haben.
({20})
22,6 Prozent Ausbildungsabbrecher, die mit den theoretischen Anforderungen nicht mitkommen, können uns nicht
kalt lassen. Das muss uns doch bewegen. Da stimmt in der
Schulpolitik etwas nicht.
({21})
Wir brauchen mehr praxisorientierte Schulpolitik, eine
Schule, die auch gemeinsam mit der Wirtschaft rechtzeitig Modelle entwickelt, damit Jugendliche auf ihre Ausbildung, auf ihren zukünftigen Arbeitsplatz vorbereitet
werden.
Aber auch die Berufsausbildung muss ihren Beitrag
leisten. Um den veränderten Bedingungen in der Arbeitswelt voll Rechnung tragen zu können, brauchen wir eine
stärkere Flexibilisierung und Differenzierung in der Berufsausbildung. Die F.D.P. - das wissen Sie - setzt sich
schon lange für eine Modularisierung der beruflichen
Ausbildung auf der Basis von Grundberufen mit anschließenden Spezialisierungsrichtungen nach dem Muster eines Baukastensystems ein. Dabei haben wir leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen
gleichermaßen im Auge. Eine Modularisierung von
Ausbildungsgängen mit berufsqualifizierenden Abschlüssen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Berufsbilder auch auf jene zuzuschneiden, die nicht durch ihre
guten theoretischen Begabungen auffallen, sondern eher
praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen. Diese
jungen Menschen erhalten in einem solchen System eine
echte Chance für ihren Einstieg in den Beruf.
({22})
Gerade das ist wichtig, denn die Zahl der Einfacharbeitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immer
weniger Chancen. Ich sage hier noch einmal: Der Fachkräftemangel in der Wirtschaft, der in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird - das stellt auch der Berufsbildungsbericht fest -, wird immens sein. Deshalb
brauchen wir mehr Flexibilisierung in der dualen Berufsausbildung. Deswegen müssen wir zu einer echten
Reform in der beruflichen Bildung kommen.
({23})
Hier erwarten wir von der Bundesregierung weiter gehende Akzente.
Ich sage aber ebenfalls, Frau Ministerin Bulmahn - Sie
haben es auch in Ihrem Bericht erwähnt -, dass die neuen
Berufsbilder eine echte Chance bieten, die Anzahl der
Ausbildungsplätze zu erhöhen. Die alte Koalition hat
1997 die ersten vier neuen Berufsbilder für die IT-Berufe
beschlossen und auf den Weg gebracht. Die 30 000 Ausbildungsplätze, die innerhalb der letzten drei Jahre entstanden sind, insbesondere in den IT-Berufen, sind auf
diese Initiative zurückzuführen. Auch das darf noch einmal so deutlich gesagt werden. Ich möchte Sie ermutigen,
diesen Weg weiterzugehen und moderne Berufsbilder zu
entwickeln.
({24})
Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Kultur der
Selbstständigkeit, Mut zur Existenzgründung, gerade bei
jungen Menschen in diesem Land. Wenn wir das hinbekommen, werden wir von denen, die eine Existenz, eine
Firma in diesem Land gründen, auch einen Beitrag für
mehr Ausbildungsplätze in Deutschland erhalten. Diese
Kultur der Selbstständigkeit ist nicht zu erkennen. Das
Klima für Maßnahmen, die den Mittelstand, die Freiberufler, die Handwerker unterstützen, ist bei der Politik der
Bundesregierung nicht befriedigend. Das stellen wir unter Kritik.
Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem nächsten vorzulegenden Berufsbildungsbericht neue Akzente
für zukunftsträchtige Ausbildungs- und Arbeitsplätze für
junge Menschen zu setzen.
Vielen Dank.
({25})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Stephan
Hilsberg von der SPD-Fraktion das Wort.
Liebe Frau Pieper, nachdem Sie in Ihrer Rede beliebt haben, Nebelkerzen zu werfen
({0})
- das ist ja parlamentarisch erlaubt, das macht jeder; aber
dann ist es auch erlaubt, zu sagen, was die andere Seite
wirklich macht -, möchte ich sagen: Sie können natürlich
auf die technologische Leistungsfähigkeit ostdeutscher
Betriebe hinweisen. Sie wissen aber ganz genau, dass die
technologische Leistungsfähigkeit der Mittelstandsbetriebe in Ostdeutschland zum Teil exquisit und fantastisch
ist und teilweise besser als in manchen westdeutschen Betrieben.
Sie können natürlich auch Ihren Mangel an Gegenvorschlägen, was die Behebung der Probleme der ostdeutschen Ausbildungsplatzsituation angeht, zu kaschieren
versuchen, indem Sie immerfort rufen, das sei Chefsache.
Das ist noch kein einziger Vorschlag. Aber nehmen Sie
doch einmal Stellung zu den Fakten! Wenn Sie schon sagen, dass wir das JUMP-Programm brauchen, um die
Lehrstellensituation in Ostdeutschland zu verbessern,
warum stimmen Sie dann beispielsweise im Haushaltsausschuss dagegen? Und warum nehmen Sie zu den
Nachwuchssorgen vieler ostdeutscher Betriebe, die katastrophal und existenziell sind, spätestens 2005, 2006, in
keiner Weise Stellung? Wenn Sie immer so tun, als sei nur
die Bundesregierung daran schuld, dass die Betriebe zu
wenige junge Leute einstellen, dann stärken Sie deren Situation noch, da die Betriebe so sagen können: Schuld ist
die Bundesregierung, sie unterstützt uns nicht, wir stellen
keinen ein.
Zum Schluss haben die Betriebe keinen einzigen Lehrling. Wenn die Betriebe jetzt nicht anfangen - das gilt für
viele Betriebe; das ist wirklich als ein ernster Appell zu
verstehen -, sich auf die demographische Falle, die in den
Jahren 2005 bzw. 2006 einsetzt, so einzustellen, dass bereits jetzt antizyklisch ausgebildet wird, dann werden wir da gebe ich Ihnen Brief und Siegel - in vier Jahren über
die Frage diskutieren, warum viele Betriebe in Ostdeutschland trotz hoher Arbeitslosigkeit dichtmachen
müssen. Das werden sie deshalb tun müssen, weil sie keinen Nachwuchs mehr haben.
({1})
Frau Kollegin Pieper, zur Erwiderung, bitte schön.
Guten Morgen, Herr
Schwanitz.
({0})
Ich freue mich, dass die Opposition es erreicht hat, dass
der für die Ausbildungsplätze im Osten Deutschlands zuständige Minister endlich anwesend ist.
({1})
Herr Kollege Hilsberg, trotz all meiner Wertschätzung
Ihrer Person gegenüber möchte ich feststellen: Ich finde
es skandalös, dass Sie sagen, ich würde parlamentarische
Nebelkerzen werfen, wo es doch um Existenzfragen für
kleine und mittelständische Handwerksbetriebe im Osten
Deutschlands geht.
({2})
Das sind keine Nebelkerzen. Ganz im Gegenteil: Das hat
etwas mit der Sorge um die Zukunft eines Teils in
Deutschland zu tun, die für uns als Liberale ein ganz
wichtiges Thema darstellt.
({3})
Sie haben überhaupt kein Konzept für den Aufbau Ost.
Sie haben keine Ideen, was die Entwicklung von Arbeitsplätzen anbelangt. Sie schaffen keine entsprechenden
Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft.
Das habe ich Ihnen vorgeworfen.
In der Tat gibt es im Osten Deutschlands zum Glück
auch leistungsfähige Betriebe. Nur ist leider deren Anzahl
viel zu gering, um ausreichend Arbeits- und Ausbildungsplätze insbesondere für junge Menschen zu schaffen. Eine
Chancengleichheit ist nicht gegeben, wenn Sie allein an
die Eigenkapitaldecke ostdeutscher mittelständischer Unternehmen denken.
Ich habe genügend Vorschläge vorgetragen. Sie haben
uns ja vorgeworfen, wir hätten nicht genügend Vorschläge. Ich habe deutlich gemacht, dass das JUMP-Programm, insbesondere das Sonderprogramm für die neuen
Bundesländer wichtig ist und dass ich das sogar unterstütze, dass dies aber nicht die Lösung des bestehenden
Problems ist. Das ist der Punkt.
({4})
Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die sich sehen
lassen kann. Eine solche Politik der Bundesregierung vermissen wir. Sie zocken doch immer nur diejenigen ab, die
fleißig sind und ihr Geld in Ausbildungs- und Arbeitsplätze investieren.
({5})
Schauen Sie sich doch Ihre Steuerreform an! Diese Politik können wir als F.D.P. nicht unterstützen.
({6})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper,
wenn junge Menschen hier in diesem Lande wieder eine
Chance auf Ausbildung haben, wenn diese Jugendlichen,
wie es auch die Shell-Studie zeigt, wieder zuversichtlich
und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken, dann ist das der
Politik der jetzigen Regierung bzw. der jetzigen Koalition
zu verdanken.
({0})
Das zeigen die aktuellen Zahlen. Das sollte einmal deutlich gemacht werden.
Die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen haben wir
als rot-grüne Koalition innerhalb von einem Jahr um rund
drei Viertel reduziert. 30 000 Ausbildungsverträge wurden 1999 in Berufen abgeschlossen, die erst in jüngster
Zeit entstanden und entwickelt wurden. Zurzeit sind weitere 50 Berufsbilder in der Modernisierungs- bzw. Entwicklungsphase.
Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen und
auf unseren Lorbeeren ausruhen. Das heißt für uns vor allem, dass wir weiterhin tätig werden müssen, dass wir
weitermachen und dass wir weiter gestalten wollen. Vieles ist in diesem Bereich in der Tat noch zu tun. Die Situation im Osten ist angesprochen worden. Dort ist das
duale System immer noch nicht so richtig in Schwung gekommen. Es entwickelt sich.
Mehr als 50 Prozent der Auszubildenden erlernen Berufe, in denen nur 25 Prozent der Berufstätigen beschäftigt sind. Die Konzentration auf geschlechtstypische Modeberufe ist unverändert hoch. Die Quote der Ausbildungsabbrecher liegt bei 25 Prozent und ist immer noch
sehr hoch. Häufig ist es so, dass diese Menschen später
keine zweite Chance bekommen.
Kritisches lässt sich sicherlich auch über die Qualität
der Ausbildung sagen. Kreatives Denken und Handeln,
soziale Kompetenz, Team- und Kommunikationsfähigkeit
kommen in der Ausbildung häufig zu kurz. Lernen
lernen - eine Grundvoraussetzung in der Wissensgesellschaft - wird leider noch etwas vernachlässigt. Aber gerade diese Herausforderungen erfordern eine koordinierte
Anstrengung, sowohl von der politischen Seite als auch in
den Betrieben vor Ort, in den Ausbildungsstätten. Was wir
brauchen, sind unkonventionelle, neue Lösungen, neue
Ideen, neue Gestaltungskonzeptionen. Wenn dann aber
Vorschläge gemacht werden wie die Wiedereinführung
von Kopfnoten in den Schulen zum Beispiel, dann ist das
ein Armutszeugnis für die Politik. Das in dieser Form in
die Diskussion zu bringen war von der Frau Merkel nicht
besonders intelligent.
({1})
Zukunftsfähig sein heißt, auch Neues zu denken. Ein
Ansatz liegt in der Modularisierung: Module als Qualifikationsbausteine. Mich wundert es, dass die Opposition
ausgerechnet jetzt - da wir längst darüber reden und versuchen, das auszugestalten - auf die Idee kommt, das
Ganze aufzugreifen. Wo waren Sie denn in den vergangenen Jahren? Konnten Sie in Ihrer Regierungszeit denn
nichts in diesem Bereich tun? Warum fällt es Ihnen ausgerechnet jetzt ein, eine Modernisierungsphase einzuleiten, wenn wir längst dabei sind?
({2})
Einzelne Firmen wie Siemens haben mit der Modularisierung schon gute Erfahrungen gemacht, auf die wir
auch zurückgreifen. Dabei ist es wichtig, nicht bei der
Ausbildung stehen zu bleiben, sondern auch die Fort- und
Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anzugehen. Wichtig sind auch Flexibilität und Transparenz:
Eine Werkzeugmacherin von heute muss sich morgen zu
einer Kfz-Meisterin ausbilden lassen können, ohne die gesamte Ausbildung wiederholen zu müssen. Gleiches gilt
für die Ausbildungsabbrecher. Auch sie müssen eine
Chance bekommen, ihre Qualifikation in die neue Ausbildung einzubringen, ohne von vorne anfangen zu müssen. Wir dürfen diese Debatte nicht auf die Leistungsstarken reduzieren.
Wenn wir über Modularisierung reden, dann müssen
wir von vornherein ein paar Eckpunkte festhalten: Modularisierung darf nicht zu einer Qualitätsminderung der Berufsausbildung führen.
({3})
Es müssen klare Linien bestehen, wie die Ausbildung ablaufen muss, damit ein vollwertiger Berufsabschluss gewährleistet ist. Überhaupt nicht infrage stellen wir dabei
das duale Ausbildungssystem. Es hat sich bewährt. Was
wir in diesem Bereich brauchen, ist nicht ein Ersatz,
sondern eine Weiterentwicklung in Verbindung mit einer Qualitätssicherung. Nicht zuletzt sind die Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene wichtig.
Wir müssen kompatibel werden mit dem Ausland; dann
können wir auch für unser Land einen Nutzen daraus ziehen.
Eine gute Ausbildung findet allerdings nicht in einem
luftleeren Raum statt. Eine gute Wirtschafts- und Technologiepolitik ist die Grundlage. Da setzt bei uns die Mittelstandspolitik an.
({4})
Wir haben in diesem Bereich Akzente gesetzt.
({5})
Noch vor wenigen Jahren sind die Solarzellenhersteller
aus Deutschland ausgewandert. Was passiert heute? NRW
hat sich seit der Regierungsbeteiligung der Grünen bei der
Solarkapazität von null an die Bundesspitze katapultiert.
Das ist erfolgreiche Mittelstandspolitik.
({6})
Das 100 000-Dächer-Programm sowie das Energieeinspeisungsgesetz sind so erfolgreich, dass sie jegliche
Erwartungen sprengen. Die Erzeugung regenerativer Energien, die Energieerzeugung aus Sonne, Wind und Wasser,
die Informationstechnologien, intelligente, vielseitige
Mobilitätskonzepte und innovative soziale Dienstleistungen - das sind die Ausbildungsstätten der Zukunft, das
sind die Arbeitsmärkte der Zukunft.
({7})
In diesen Bereichen entstehen nicht nur Jobs, sondern
auch Ausbildungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungsplätze. Dadurch dass heute junge Leute in ihrem Studium,
in ihrer Ausbildung nicht mehr auf Dinosauriertechnologien wie die Atomkraft zurückgreifen müssen, sondern
sich mit neuen Technologien beschäftigen können, haben
sie viel mehr Möglichkeiten der Entwicklung und Gestaltung. Sie können viel kreativer sein und haben mehr Möglichkeiten.
({8})
Was wir in diesem Land brauchen, sind Handwerker,
die Experten für Solaranlagen und für die intelligente
Nutzung von Biomasse und Erdwärme sind. Wir brauchen
Spezialisten für ingenieurtechnische Grundlagen, die auch
Software entwickeln können. Wir brauchen Ingenieure,
die das Zweiliterauto und umweltfreundliche Kraftstoffe
entwickeln. Nicht zuletzt brauchen wir engagierte junge
Leute, die optimistisch in die Zukunft sehen und neue
Wege bei den sozialen Dienstleistungen gehen.
Dafür stellt diese Regierung heute und auch in Zukunft
die Weichen. Um es bewusst zu unterstreichen: Wir stellen in der Koalition die Signale auf Grün.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Erste, was mir in den diesjährigen Debatten zum Berufsbildungsbericht auffiel, war
die Geschlossenheit, mit der die Ergebnisse durch den
Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung
aufgenommen wurden. Da fragt sich doch: Wo ist das kritische Potenzial der vergangenen Jahre geblieben? Oder
steht es mit der Ausbildung wirklich schon zum Besten,
wenn die Bilanz durch das Sofortprogramm verbessert
werden konnte? Lediglich einige Abgeordnete der SPDFraktion unternahmen einen zaghaften Versuch, die Regierung an die Ausbildungsumlage zu erinnern, die erhoben werden sollte, wenn die Wirtschaft ihre Lehrstellenzusage nicht einhält.
Obwohl in bekannter Weise mit den Unschärfen der
Statistik hantiert wird - diese Hinweise gab es auch schon
zu Zeiten des Herrn Rüttgers -, kommt auch die neue Regierung nicht um das Eingeständnis herum, dass die Zahl
der von den Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in den
neuen Ländern um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist.
Zudem muss man in diesem Zusammenhang bedenken,
dass in der Berufsbildungsstatistik nicht zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnissen differenziert wird - das ist einer der wenigen Kritikpunkte, die im Hauptausschuss übrig geblieben sind und überdies auch die betriebliche Ausbildung vom Steuerzahler gesponsert wird. Das dürfte doch ein Alarmsignal sein. Auf jeden Fall - da haben Sie Recht, Frau
Bulmahn - ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen.
Mit Sicherheit ist diese Situation ein weiteres Indiz
dafür, dass die politischen Instrumente, welche die Arbeitgeber zwingen, ihre Lehrstellenversprechen einzuhalten, nicht allein Appelle und Bündnisgespräche sein können.
({0})
Wer sich heute Wettbewerbsvorteile verschafft, indem er
an der Ausbildung spart, ruft morgen nach Green Cards,
weil der Nachwuchs fehlt. Derweil werden mit immer
neuen Sofortprogrammen oft konzeptionslos Jugendliche
beschäftigt und, wenn überhaupt, wieder in den falschen
Berufen ausgebildet. Mit den viel gepriesenen Vorzügen
des dualen Systems hat das alles schon lange nicht mehr
viel zu tun.
Die Verstaatlichung der Berufsausbildung schreitet
weiter voran. In Brandenburg sind mittlerweile über
80 Prozent der betroffenen Ausbildungsplätze staatlich
subventioniert. Politik verkommt zum Löcherstopfen im
Schlepptau der Wirtschaft, sowohl in der Ausbildung als
auch bei der Behebung des aktuellen und künftig zu erwartenden Fachkräftemangels. Politik ohne Perspektive
wird einfach in „Jugend mit Perspektive“ umdefiniert und
das Problem ist gelöst.
Aber so einfach geht es offensichtlich doch nicht. Auch
wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung des JUMP-Programms nur tröpfchenweise
durchsickern, wird schon deutlich, dass weder Arbeitsnoch reguläre Ausbildungsplätze in nennenswertem Umfang zusätzlich geschaffen wurden. Von den befragten Jugendlichen, die dieses Programm bereits bis November
1999 verlassen hatten, sind zwischen 13 und 35 Prozent
wieder arbeitslos. Allerdings liegt der Anteil der Übergänge in berufliche Ausbildungen bei bis zu 50 Prozent
und in Erwerbstätigkeit bei zwischen 22 und 48 Prozent;
auch das muss selbstverständlich gesagt werden.
Vollends absurd wird das Ganze aber, wenn die Fundamentalkritik am Sofortprogramm ausgerechnet von den
Arbeitgeberverbänden formuliert wird: außerbetriebliche
Ausbildung ohne Beschäftigungschancen, Konkurrenz
staatlich finanzierter Wunschausbildungen gegen weniger
attraktive Ausbildungsplätze in Kleinbetrieben sowie
Bindungen von Ausbildungskapazitäten in Betrieben
durch Praktika des Sofortprogramms.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein besonderes Problem aufmerksam machen - einige haben das
schon angesprochen -: Eine Studie zur Evaluierung der
Ausbildungsprogramme in Sachsen-Anhalt - ein Thema
übrigens, dem sich inzwischen auch die Arbeitsgruppe
Aus- und Weiterbildung im Bündnis für Arbeit angenommen hat - kommt zu gravierenden Schlussfolgerungen
hinsichtlich der Folgewirkungen einer konzeptionslosen,
unabgestimmten staatlichen Förderpolitik. Die Autoren
sprechen von einer „Förderfalle“, in die sich die staatliche
Berufsbildungspolitik hineinbewegt: Zum einen bilden
sich bei einer zunehmenden Zahl von Unternehmen Verhaltensmuster heraus, für die die staatliche Förderung beruflicher Erstausbildung nicht mehr nur eine Chance zu
Mitnahmeeffekten, sondern eine Gelegenheit regulärer
Einnahmeerzielung ist. Zum anderen führt die staatliche
Förderung zu einer Berufsstruktur der Auszubildenden,
die in offenem Widerspruch zu den langfristigen Interessen der Jugendlichen und der Wirtschaft des Landes selbst
steht.
Eben dieser letzte Punkt sollte doch allen, die wiederum Sonderprogramme zur Überwindung der Lehrstellenlücken konzipieren, schwer zu denken geben. Wenn in
der Berufsstruktur der Auszubildenden jene dominieren,
für die unter allen denkbaren Annahmen nur ein begrenzter bis sehr begrenzter Bedarf zu erwarten ist, bzw. jene
dominieren, bei denen die Ausbildung nur sehr geringe
Nettokosten verursacht - wenn sie nicht sogar deutliche
Nettoerträge erbringt -, so kann hier wohl kaum noch die
Rede von „Jugend mit Perspektive“ sein.
Deutlich unterrepräsentiert sind demgegenüber Berufe
mit einer hohen Verwendungsbreite der erworbenen Fertigkeiten und Kenntnisse sowie die Vorbereitung auf
Tätigkeiten mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Hier
wirken sich vor allem unzureichende Ausbildungskapazitäten großer Teile der Industrie negativ aus.
Angesichts des Förderdschungels, der Auszubildende
erster, zweiter und dritter Klasse produziert, der die Grenzen von Ausbildung, Praktika und Erwerbstätigkeit zunehmend verwischt und so der Ausnutzung Auszubildender als billige Arbeitskräfte Vorschub leistet, ist es dringend notwendig, die Ausbildungsqualität endlich zur
Chefsache zu machen.
Das Strukturproblem im Osten ist keinesfalls - das wissen hier alle; das ist ja auch schon deutlich geworden durch Programme zu lösen. Dieses Problem ist nur lösbar,
wenn sich alle Verantwortlichen die Frage beantworten:
Durch welche Maßnahmen kann es erreicht werden, dass
die Wirtschaft Bedingungen vorfindet, die sie ermutigt,
im Osten ein produzierendes Gewerbe zu schaffen? Die
duale Ausbildung verkommt ansonsten zur Farce; auch
das wissen wir hier im Saal alle. Damit ich richtig verstanden werde: Es geht mir nicht um fehlendes Engagement der in den Ausbildungszentren Tätigen; denn dieses
ist sehr groß. Aber auch sie können dieses Strukturproblem nicht lösen, weil sie daran nicht herankommen.
Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Reihe von
Reformvorschlägen eingehen, die die GEW derzeit im
Zusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz und der
Handwerksordnung diskutiert. Dort geht es um Kernfragen wie die Dominanz der Wirtschaft, die Stellung der Berufsschule, Struktur und Gestaltung der dualen Ausbildung sowie die Einbeziehung anderer Ausbildungsgänge.
Ausgangspunkt der Analysen ist die Feststellung, dass
sich die Berufsbildung in Deutschland de facto zu einem
Mischsystem von Angebotstypen entwickelt hat, die unterschiedlichen Regelsystemen zugeordnet sind, quantitative Defizite, fehlende Auswahlmöglichkeiten, ungleiche
Akzeptanz, heterogene Ausbildungsbedingungen, fehlende Transparenz, fehlende Anschlussfähigkeit und europäische Kompatibilität aufweisen und durch eine ungezielte, Nachfrage-, Bedarfs- und Qualitätsaspekte außer
Acht lassende staatliche Berufsbildungs- und Förderpolitik gekennzeichnet sind.
Die Antwort der PDS auf die Frage „Wozu eigentlich
Ausbildung, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt sowieso
nichts bringt?“ kann nicht im Abbau von Bildungsmöglichkeiten nach dem Motto „Eigenverantwortung und
Selbststeuerung“ bestehen. Wir fordern einen weiteren
Ausbau, eine Differenzierung und Verlängerung von Bildungsgarantien - und zwar für alle, nicht nur für die, „die
können und wollen“.
({1})
Als
nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian
Simmert von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Berufsbildungsbericht geht es um die Startchancen junger Menschen, um Ausbildung und die Möglichkeit für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Dies ist
eine zentrale Voraussetzung für junge Frauen und Männer
für die Teilhabe an unserer Gesellschaft.
Beide Regierungsfraktionen waren und sind sich dessen bewusst. Deshalb war und ist das Ziel der rot-grünen
Bundesregierung, das Recht auf Bildung möglichst für
alle Jugendlichen umzusetzen.
({0})
Wir haben dazu mehrere wesentliche Schritte getan.
Einer der zentralen ist und bleibt das Sofortprogramm
zum Abbau der Jugenderwerbslosigkeit. Das ist an dieser Stelle schon angesprochen worden. Mit dem Einsatz
von zum zweiten Mal 2 Milliarden DM hat Rot-Grün
deutlich gemacht, was uns die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit wert ist. Entsprechend erfreulich sind
die statistischen Zahlen. Das Plus auf dem Lehrstellenmarkt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
weitere Anstrengungen gerade in der beruflichen Bildung
nötig sind.
Die Bundesregierung ist hier in Vorleistung getreten.
Wir reden von alleine 27 800 Ausbildungsplätzen im
Jahre 1999, die auf JUMP zurückzuführen sind. Wir reden aber auch von der Vorreiterrolle des öffentlichen
Dienstes, denn die rot-grüne Bundesregierung hat ihr
Ausbildungsplatzangebot im Bereich der Bundesverwaltung 1999 um 12 Prozent erhöht.
({1})
Die Anstrengungen im Bündnis fürArbeit müssen am
besten im vergleichbaren Rahmen verstärkt werden. Das
sind unsere Leistungen als Bundesregierung. Ich frage die
Opposition: Wo sind Ihre Leistungen? Noch nicht einmal
der Zukunftsminister a. D., Herr Rüttgers, bequemt sich
ins Plenum, wenn es um seinen ehemaligen Zuständigkeitsbereich geht. Er scheint nach Indien gefahren zu sein oder
irgendwohin, wo er gerade eine Festplatte oder Ähnliches
sucht.
({2})
Wir alle wissen, dass Notprogramme allein kein Fundament für eine erfolgreiche berufliche Zukunft der jungen Menschen sein können. JUMP ist in die zweite Runde
gegangen, weil die Bundesregierung ihre Aufgaben ernst
nimmt. Die jungen Menschen haben ein Recht auf diese
Chance und wir müssen sie ihnen geben. Teil der Abmachung ist aber auch, dass die Wirtschaft ihre Verantwortung
übernimmt und im Rahmen des dualen Ausbildungssystems ausreichend betriebliche Ausbildungsstellen zur
Verfügung stellt.
({3})
Für die jungen Menschen, die vor der Tür stehen, reicht
es nicht, Versprechungen zu machen. Sie wollen greifbare
Ergebnisse. Das heißt in diesem Falle: Sie wollen eine
Lehrstelle, und zwar eine Lehrstelle in einem richtigen
Betrieb, in dem ihre Arbeit Sinn macht und in welchem sie
das Gefühl entwickeln können, ihren Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben. Gerade in den neuen Bundesländern sind inzwischen rund zwei Drittel der Lehrstellen
mit öffentlichen Mitteln gefördert.
Dies bedeutet aber auch andere Probleme, zum Beispiel bei den Mitbestimmungsmöglichkeiten junger Menschen. Junge Menschen in der außerbetrieblichen Ausbildung dürfen zurzeit keine Jugendausbildungsvertretung
gründen, da in den Betrieben kein Betriebsrat existiert.
Das wollen wir ändern und dafür werden sich Bündnis 90/Die Grünen durch die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes einsetzen.
({4})
Die vor einem Monat veröffentlichte Shell-Jugendstudie hat die Verbindung zwischen der Perspektivlosigkeit junger Menschen und ihren Möglichkeiten zur Teilhabe an Entscheidungen deutlich gemacht. Es geht eben
nicht nur um die Bildung einer eigenständigen Existenzsicherung. Es geht auch um die Selbst- und Mitbestimmung von jungen Menschen in Betrieben.
({5})
Um die Ausbildungssituation zu verbessern, müssen
wir aber auch die Beratungsstrukturen für Jugendliche
ausweiten. Gerade junge Frauen wählen aus der gesamten
Berufspalette von circa 360 Ausbildungsberufen immer
noch eher einen klassischen Frauenberuf. So ergreifen
über die Hälfte von ihnen nach wie vor einen der zehn
häufigsten Frauenberufe. Nur gut ein Drittel ihrer männMaritta Böttcher
lichen Kollegen machen eine Ausbildung in einem der
zehn häufigsten Männerberufe. Diese Zahlen zeigen, dass
wir hier nach wie vor Initiative ergreifen müssen.
({6})
Der zurzeit viel debattierte IT-Bereich muss sich diesen Herausforderungen ebenfalls stellen. Frau Ministerin
Bulmahn leistet hier eine sehr gute Arbeit, unter anderem
mit der in diesem Bereich wegweisenden Aktion „Frauen
ans Netz“.
({7})
Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht
1999 macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Ausbildungsplatzsituation noch lange nicht über den Berg sind
und aufpassen müssen, dass es hier nicht wieder zu einer
negativen Entwicklung kommt. Hier sind vor allen Dingen die Betriebe gefragt. Die Bundesregierung hat ihre
Hausaufgaben gemacht. Die Wirtschaft hat - vor allen
Dingen in einigen Bereichen - versprochen, ihre Hausaufgaben zu machen. Versprechen allein reichen jedoch
nicht aus. Der Staat darf nicht zum Ausfallbürgen für die
Wirtschaft hinsichtlich ihrer Ausbildungspflicht werden.
Deshalb muss die Wirtschaft ihre Anstrengungen in Sachen Ausbildung verstärken. Wir werden ihr dabei mit
Nachdruck helfen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU
Fraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine der größten gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist es auch Frau Ministerin hat in ihrer Rede großen Wert darauf
gelegt, das deutlich zu machen -, jedem Ausbildungswilligen und Ausbildungsfähigen nach der Beendigung der
Schulzeit eine Ausbildung und danach den Einstieg in das
Berufsleben zu ermöglichen.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte,
dem rasanten Strukturwandel in der Berufs- und Arbeitswelt und nicht zuletzt dem jetzt stattfindenden Verdrängungswettbewerb werden die Lebensperspektiven junger
Menschen zunehmend von Bildung und Ausbildung geprägt. Daran muss sich auch die berufliche Bildung messen lassen. So der Berufsbildungsbericht.
Lassen Sie mich zunächst mein Augenmerk auf die Gesamtentwicklung richten. Die Anzahl der unversorgten
Jugendlichen konnte in diesem Jahr gegenüber dem Jahre
1999 verringert werden. Diese vordergründig positive
Entwicklung ist dann ganz anders zu bewerten - dies
wurde schon von vielen Vorrednern deutlich gemacht -,
wenn sich herausstellt, dass dies fast ausschließlich auf
die Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung,
insbesondere auf das zeitlich begrenzte Sofortprogramm
JUMP zurückzuführen ist. Es gibt sogar Situationen, in
denen sich das JUMP-Programm als kontraproduktiv
erwiesen hat. So haben Ausbildungsbetriebe aufgrund
dieses Programms weniger betriebliche Ausbildungsplätze angeboten.
({0})
Auf diese Art und Weise sind tragfähige Strukturen zerstört worden. Das kann so nicht bleiben.
({1})
Bei der Betrachtung der Ausbildungsplatzbilanz hinsichtlich regionaler und berufsstruktureller Gewichtungen stellt man eine problematische Entwicklung fest. Die
schwierige Situation in den neuen Bundesländern hat
mein Kollege Dr. Jork bereits umfassend dargestellt.
({2})
Es gibt aber auch im Westen Defizite. So ist in NordrheinWestfalen in fast allen Sparten eine negative Entwicklung
hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Lehrstellenangebot und -nachfrage festzustellen. In Bayern und BadenWürttemberg dagegen werden teilweise freie Lehrstellenplätze nicht besetzt. Die Gründe dafür sind hinreichend
bekannt.
({3})
Dass wir in einigen Regionen eine positive Bilanz ziehen können, haben wir den regionalen Netzwerken und
den Ausbildungskonferenzen zu verdanken. Vor Ort
wurden mit großem Engagement und Einsatz aller Beteiligten die vielfältigen Aktivitäten gebündelt, und dadurch
wurde ein besseres Ergebnis erzielt. Dafür möchte ich all
denen, die sich an dieser Stelle engagiert haben, herzlich
danken.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist ein großes Problem,
dass immer noch durchschnittlich jeder fünfte Ausbildungsvertrag vorzeitig aufgelöst wird. Diese Zahl ist nahezu gleich bleibend und viel zu hoch. Dies muss uns alle
miteinander wachrütteln. Auch im Wirtschaftsministerium sollte darüber nachgedacht werden.
Seit Jahren ist die Liste der Top Ten unter den Wunschberufen bei Jugendlichen - mein Vorredner hat schon darauf hingewiesen - nahezu unverändert. Daher muss sich
die Berufsberatung viel stärker als bisher am veränderten Bedarf orientieren und die jungen Menschen motivieren, eine bedarfsgerechte Ausbildung anzustreben.
Positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass wir im Bereich der neuen und im Übrigen auch schon von Jürgen
Rüttgers eingeführten Bereiche IT- und Kommunikationsberufe Steigerungsraten in überdurchschnittlichen Prozentsätzen verzeichnen können. Den dort angebotenen
Stellen stehen allerdings zurzeit doppelt so hohe Zahlen
von Bewerbern, die in diesen modernen Informationstechnologien ausgebildet werden wollen, gegenüber. Da
besteht einiger Nachholbedarf.
({5})
Hier müssen wir alle miteinander schnell handeln. Im Besonderen müssen natürlich auch die jungen Unternehmer
in diesem Bereich aktiv werden.
Im Kommunikations- und IT-Bereich gibt es viele so
genannte Senkrechtstarter, die ihr Unternehmen schnell
und in kleinen Bereichen entwickelt haben. In diesen Bereichen, in denen die jungen Unternehmer keine Qualifikation zum Ausbilden haben, sollten wir verstärkt dafür
werben, dass sie sich an Ausbildungsverbünden beteiligen
und dass damit natürlich über die Integration in gängige
Wirtschafts- und Sozialstrukturen alle Möglichkeiten der
Ausbildung ausgeschöpft werden.
({6})
- Natürlich. Herr Tauss, das sind aber neue Wege, die wir
verstärkt gehen müssen.
({7})
Wir haben die Situation, dass sich sehr viele junge Unternehmer in der IT-Branche durchaus mehr an der Ausbildung beteiligen sollten,
({8})
und darauf möchte ich hinweisen.
({9})
Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Bereich der Zukunftstechnologien ein erschreckendes SüdNord-Gefälle. Darüber muss hier noch einmal ein Wort
gesagt werden. Dieses Gefälle zeigt sich bereits in den
Investitionen an den Schulen. Dort muss nämlich begonnen werden.
In Baden-Württemberg haben wir in den letzten Jahren
von 1996 bis 1999 pro Schule durchschnittlich 20 000
DM in die neuen Medien investiert.
({10})
Bereits Ende 1998 waren bei uns drei von vier Schulen am
Netz. Im gleichen Zeitraum haben in Ländern wie Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen diese Investitionen
gerade einmal 20 Prozent davon betragen.
({11})
- Man kann nachlesen, dass hier im Süden besondere
Investitionen getätigt worden sind.
Deshalb sitzen in denjenigen Ländern, in denen dieser
Bereich vernachlässigt wurde, heute noch mehr als die
Hälfte der Schulen im elektronischen Niemandsland anstatt am Netz. Das ist ein Trauerspiel.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem angesprochenen Verdrängungswettbewerb und aufgrund der
Situation, dass die Jugendlichen individuelle Fähigkeiten
und Begabungen mitbringen, gibt es natürlich Gewinner
der Modernisierung und demzufolge auch Verlierer der
Modernisierung. Gerade diese Modernisierungsverlierer sind unser Problem.
Wir begrüßen es, dass im Bündnis für Arbeit neue
Wege gegangen werden
({13})
und wir nun auch neue Maßnahmen in diesem Bereich erkennen.
({14})
Durch die Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitung
und Berufsausbildung unter Einbeziehung betrieblicher
Praktika, durch Qualifizierungsbausteine und durch die
Zertifizierung erreichter Teilqualifikationen können auch
diesen schwer vermittelbaren Jugendlichen mit kognitiven und sozialen Defiziten neue Wege eröffnet werden,
und vor allen Dingen können sie besser motiviert werden,
sich vor allem im Bereich des lebensbegleitenden Lernens zu engagieren. Frau Ministerin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auch darauf eingegangen sind.
({15})
Ich glaube, das ist eine der Grundkompetenzen, die wir
den jungen Menschen heute vermitteln müssen.
Meine Damen und Herren, das duale System der Berufsausbildung in Deutschland insgesamt ist flexibel, aber
der Berufsbildungsbericht weist natürlich mit Recht auf
einige Defizite hin. Wir müssen uns alle anstrengen, das
duale System in Deutschland konkurrenzfähig zu machen
und weiterzuentwickeln.
Herr Kollege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss. - Meine Damen und Herren, Ausbildung und
Qualifizierung sind im europäischen und globalen Kontext zu sehen. Fremdsprachenkompetenz, Bereitschaft zur
Mobilität und natürlich auch die Bereitschaft, sich in diesem Bereich des lebensbegleitenden Lernens zu engagieren, sind unverzichtbar.
Die Verbesserung der Zukunftschance der jungen Generation ist unsere gemeinsame Aufgabe. Unsere Jugend
braucht verlässliche Partner. Wir wollen uns daran beteiligen.
Vielen Dank.
({0})
Heinz Wiese ({1})
Ich gebe
dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion das
Wort.
Guten Morgen, Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für wichtig, kurz auf einige Punkte einzugehen, Frau Pieper, die Sie hier in den Raum gestellt
haben. Wenn man über die Ausbildungssituation in Ostdeutschland redet und gleichzeitig im Haushaltsausschuss
das JUMP-Programm finanzpolitisch ablehnt, dann frage
ich mich, welche Perspektive Sie den jungen Leuten in
den neuen Ländern geben wollen.
({0})
Wenn es so ist, dass 90 Prozent der Personengesellschaften im kleinen und mittelständischen Bereich weniger als 100 000 DM versteuerbares Einkommen haben,
dann ist es richtig, dass wir den Einkommensteuersatz
senken und den Grundfreibetrag erhöhen. Das ist unser
Politikansatz, und der ist richtig.
({1})
Über das Thema Abzocken würde ich nicht so laut
sprechen, denn viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in den 90er-Jahren vor dem Hintergrund der
Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
mitbekommen, was Abzockerei ist. Deshalb haben sie
sich 1998 anders entschieden. Das ist richtig so.
({2})
Jetzt möchte ich Ihnen etwas zur notwendigen Flexibilisierung in der beruflichen Ausbildung sagen. Auch das
hat unsere Ministerin sehr deutlich angesprochen. Zum 1.
August 2000 werden neue Ausbildungsordnungen beschlossen: Chemielaborant, Biologielaborant und Lacklaborant. Dort haben wir eine Flexibilisierung vorgenommen, wie wir sie immer diskutiert haben. Ich will Ihnen
das an den Bausteinen verdeutlichen: Der Beruf Chemielaborant wird 28 Bausteine haben, der Beruf Biologielaborant 21 Bausteine und der Beruf Lacklaborant 18 Bausteine. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Diesen
Weg werden wir weitergehen.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die Debatten der letzten Tage zu
Gemüte führt, dann muss man sagen, dass die Diskussion
um die Green Card interessante Aspekte mit sich bringt.
Die alte Bundesregierung und insbesondere ihr Zukunftsminister
({4})
haben doch Jahre geschlafen. Ich werde darauf zurückkommen und dies begründen.
Die neue Bundesregierung hat mit der IT-Offensive im
letzten Jahr die Zeichen der Zeit erkannt. Ich glaube, dass
die Diskussion um die Green Card ein Anstoß in den Köpfen der Menschen ist. Das ist gut so, meine Damen und
Herren.
({5})
Wir nehmen aber auch gern kritisch zur Kenntnis, dass die
Debatte um die Green Card zeigt, dass das Thema IT offensichtlich ein Problem im Bereich von Bildung und Forschung ist. Auch dazu werden wir uns verhalten.
Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht zu Gemüte
führen, so will ich meine Ausführungen auf einige wenige, nach meiner Auffassung wichtige Punkte begrenzen.
Wir halten die strategische Ausrichtung im Bündnis für
Arbeit auf den Ausbildungskonsens für absolut richtig,
nicht nur weil er erfolgreich ist, sondern - Sie können das
an den Zahlen von Nordrhein-Westfalen erkennen - weil
vor allen Dingen Ausbildungsplätze im betrieblichen
Bereich organisiert wurden.
({6})
Es ist immer wieder gefordert worden: Macht mehr Ausbildung in den Unternehmen. Das ist richtig so. Nordrhein-Westfalen hat die Ausbildungsquote im Bereich der
neu eingetragenen Ausbildungsplätze noch einmal um
5,3 Prozent erhöht.
({7})
Wir haben weniger vollzeitschulische Ausbildungsplätze
als Baden-Württemberg oder Bayern, weil wir in Nordrhein-Westfalen gesagt haben: Wir wollen in die Betriebe
gehen, denn dorthin müssen die jungen Leute, dort lernen
sie am meisten.
({8})
Herr Kollege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Lenke?
Ja.
Bitte
schön, Frau Lenke.
({0})
Von Ihnen nicht. - Ich möchte die
Frage stellen, ob Sie immer noch die Ausbildungsplatzabgabe in Ihrem Konzept haben. So wie Sie die Handwerker und den Mittelstand loben, müssten Sie von dem,
was Sie vorgeschlagen haben, jetzt Abstand nehmen. Wie
ist das mit der Ausbildungsplatzabgabe? Wie stehen die
Bildungspolitiker dazu?
Herzlichen Dank für Ihre Frage.
({0})
Ich will Ihre Frage sehr gern beantworten.
Wir sind derAuffassung, dass wir im Bereich der beruflichen Bildung eine strukturelle Erneuerung vorantreiben
müssen und dass deshalb die Forderung nach der Umlagefinanzierung, vor allem von der PDS gestellt, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den Kern des Problems trifft.
({1})
Wir glauben, dass wir die Probleme mit strukturellen Reformen wesentlich besser lösen können und dass wir dadurch das duale System auch zukunftssicher machen können.
({2})
- Moment, bleiben Sie ganz ruhig!
Weil wir in Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme,
schon 1994, meine Damen und Herren von der Opposition, im Rahmen eines Ausbildungskonsenses gemeinsam
für genügend Ausbildungsplätze gesorgt haben, führen
wir dort zurzeit auch keine Debatte über die Umlagefinanzierung. Ich muss trotzdem feststellen, dass die Verbesserung der Ausbildungsstellensituation außerhalb des
IHK-Bereichs vor allen Dingen durch die Bereitstellung
öffentlicher Mittel, unter anderem durch JUMP, zustande
gekommen ist. Ich fordere auch heute die Wirtschaft auf,
sich stärker für mehr Ausbildungsplätze einzusetzen.
Wenn die Wirtschaft das tut, dann müssen wir über eine
Umlagefinanzierung nicht mehr diskutieren.
({3})
Herr Kollege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
({0})
Sehr gerne.
Frau
Lenke, bitte.
Herr Kollege, Sie haben auf meine
Frage nur ausweichend geantwortet. Ich konnte Ihrer Antwort nur entnehmen, dass Sie derzeit in Nordrhein-Westfalen keine Ausbildungsplatzabgabe einführen wollen.
({0})
Sehen Sie das länderspezifisch? Meine Frage ist: Treten
Sie persönlich weiter für eine Ausbildungsplatzabgabe
ein oder nicht? Ihre Antwort auf meine letzte Frage hat
dazu wirklich nichts enthalten.
({1})
Verehrte Kollegin, ich habe nachweislich des Protokolls - für die SPD-Bundestagsfraktion und auch persönlich hier und heute - ausgehend
vom derzeitigen Zustand - den Einsatz der Umlagefinanzierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt, so wie
ich es auch in der Vergangenheit getan habe. Ich möchte
Ihnen das begründen, damit Sie es verstehen.
Wir haben im Rahmen der beruflichen Bildungspolitik
in der Region - das freut mich an diesem Ansatz besonders - ein Modell von unten nach oben entwickelt und
festgestellt, dass es besser ist, sich gemeinsam zusammenzusetzen, statt Spiegelfechtereien über ideologische
Grundsätze in der beruflichen Bildung zu führen.
({0})
Deshalb haben wir die Umlagefinanzierung abgelehnt.
Die Zahlen und die Arbeitsweise in Nordrhein-Westfalen
und in anderen Bundesländern geben uns Recht, den eingeschlagenen Weg fortzuführen. Das halte ich für richtig.
Ich antworte konkret auf Ihre Frage: Wir werden derzeit die Umlagefinanzierung nicht einführen.
Herr Kollege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion?
Sehr gerne.
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.
Kollege Brase,
Sie haben behauptet, dass gerade die PDS für die Umlagefinanzierung sei. Ist Ihnen bekannt, dass die Gewerkschaften seit den 70er-Jahren die Einführung einer Umlagefinanzierung fordern, dass führende Gewerkschaften
diese Forderung nach wie vor aufrechterhalten und dass
sowohl Ihre Partei in den Beschlüssen vom letzten Parteitag als auch die Jusos diese Forderung erheben?
({0})
Verehrte Kollegin, mir ist bekannt,
dass es auch innerhalb der Gewerkschaften unterschiedliche Positionen zur Ausbildungsplatzumlagefinanzierung
gibt. Es gibt nicht nur Gewerkschaften, die eine Umlagefinanzierung fordern; vielmehr haben bestimmte Gewerkschaften eine andere Position zur Umlagefinanzierung als
zum Beispiel die IG Metall. Mir ist bekannt, dass die Forderung nach Einführung einer Umlagefinanzierung auch
innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
erhoben wird. Aber das ändert nichts daran, dass wir derzeit einen anderen politischen Weg gehen. Ich halte diesen anderen politischen Weg bezüglich der Zurverfügungstellung von Ausbildungsplätzen für richtig. Deshalb
brauchen wir derzeit keine Umlagefinanzierung.
({0})
- Hören Sie doch genau zu. - Aber eines muss völlig klar
sein: Wenn das derzeitige duale System erhalten werden
soll, dann müssen Wirtschaft, Handwerk und die freien
Berufe genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen. Das wollen und werden wir erreichen.
({1})
Die Wirtschaft, vor allen Dingen die Industrie- und
Handelskammern - ich hatte das eben schon gesagt -, hat
in vielen Regionen und in vielen Bundesländern die im
Rahmen des Bündnisses für Arbeit von ihr gegebenen Zusagen eingehalten. Das Handwerk, die freien Berufe und
andere Berufsgruppen haben das nicht getan. Ich glaube,
dass wir das kritisch würdigen müssen. Dies kann kein
Dauerzustand sein. Darüber haben wir eben diskutiert.
Wir halten es für richtig, dass wir vor allem die strukturelle Erneuerung der beruflichen Bildung vorantreiben.
Ich verweise bewusst auf das Stichwort Green Card. Der
entscheidende Effekt der Green-Card-Diskussion besteht
meiner Meinung nach darin, dass wir uns noch einmal der
strukturellen Entwicklung und der Defizite bei der beruflichen Bildung erinnern.
Herr Kollege Brase, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage,
diesmal des Kollegen Niebel?
Sehr gerne.
Bitte
schön, Herr Niebel.
Herr Kollege, Sie haben für die
Vergangenheit und für die Gegenwart eine Ausbildungsplatzabgabe als nicht sinnvoll erachtet. Darin stimme ich
Ihnen voll und ganz zu. Jetzt sehe ich allerdings, dass Sie
nicht nur Landesjugendsekretär beim DGB gewesen sind,
sondern dass Sie auch Mitglied der ÖTV sind. Beide Organisationen haben doch die Ausbildungsplatzabgabe für
die Zukunft gefordert. Werden Sie jetzt die Gewerkschaft
wechseln müssen?
({0})
Herr Niebel, nun machen Sie sich
keine Gedanken über meine gewerkschaftliche Zukunft.
Machen Sie sich vor allen Dingen keine Gedanken darüber, dass ich meine gewerkschaftlichen Positionen
möglicherweise vergessen könnte.
Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Die Gewerkschaften
haben immer mit den Sozialpartnern, mit den Arbeitgebern, mit den Vertretern der berufsbildenden Schulen in
den berufsbildenden Ausschüssen zusammengearbeitet.
Dieses Geschäft mache ich schon seit Jahren; von daher
weiß ich, was dort zu tun und zu lassen ist. Sie können also
darauf setzen, dass ein Gewerkschaftswechsel nicht stattfinden wird. Ich fühle mich da sehr gut aufgehoben. Wissen Sie, was das Schönste ist? Auch die Menschen fühlen
sich durch mich sehr gut vertreten.
({0})
- Davon können Sie überzeugt sein.
Ich bitte,
jetzt fortzufahren.
({0})
Heute ist Freitag und wir sind mit einer sehr langen Tagesordnung belastet. Es wäre nicht gut, wenn wir heute
Nachmittag mit sehr wenigen Zuhörern hier sitzen würden.
Es ist richtig - das ist gesagt worden -: Wir brauchen mehr denn je zukunftsweisende Berufe. Die Schwerpunkte liegen auf der Hand und sind
auch im Berufsbildungsbericht aufgezeigt worden: Gesundheit, Umwelt, Kultur, Freizeit, Tourismus, Transporte, Verkehr und Logistik. Nicht zu vergessen: Insbesondere gehören der IT- und der Mediensektor dazu.
Nicht zuletzt wird die Biotechnologie zunehmend ein Zukunftsfeld. Auch auf diesem Gebiet müssen und werden
wir Ausbildungsberufe entwickeln. Es ist zudem richtig,
dass die Bundesregierung der Verbesserung der Früherkennung ein ganz neues Gewicht beigemessen hat. Sie
hat dieses wichtige Feld fest im Blick.
Ich möchte betonen: Strukturelle Erneuerung ist auch
angesprochen, wenn wir uns das Berufswahlverhalten
junger Frauen anschauen. Wenn Sie einmal die Untersuchung der Bund-Länder-Kommission und ihre Anregungen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass noch einiges zu tun ist.
Die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zu Computern und Internet sind zu verbessern. Die Aktualisierung der Richtlinien zur Koedukation in Schulen und die
Verankerung geschlechtsspezifischer Gesichtspunkte bei
der Berufsorientierung von Frauen, zum Beispiel im Medienbereich, sind an der Tagesordnung. Wir begrüßen es,
dass auch die Bund-Länder-Kommission den Ländern
dies vorgeschlagen hat. Nicht zuletzt möchte ich in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass die Bundesregierung die Programme „Frauen ans Netz“ und „Frau
und Beruf“ beschlossen hat.
Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber kurzfristigen
Modeentwicklungen ist eines unbestreitbar - wir sollten
das zur Kenntnis nehmen -: Der IT-Sektor und speziell
das Internet werden das Arbeitsleben und unser Leben
insgesamt tief greifend verändern und bestimmen.
({0})
Ich habe in den letzten Tagen von der Opposition mehrfach gehört, wir hätten gegenüber den USA einen Rückstand. Ich gebe Ihnen in bestimmten Punkten Recht: Wir
haben einen gewaltigen Rückstand aufzuholen.
({1})
Aber warum? Das so genannte H-1-B-Programm der
US-Regierung im Rahmen des Non-Immigrant-Programs
wurde als Reaktion auf den sich abzeichnenden Fachkräftemangel im IT-Bereich in den USA eingerichtet. Aber
wann ist denn das geschehen? Das H-1-B-Programm
wurde Anfang der 90er-Jahre eingerichtet. Wenn ich es
richtig sehe: Damals waren Sie an der Regierung.
Warum halten Sie uns jetzt die Leistungen der USA
vor, obwohl Sie damals nichts gemacht haben?
({2})
Warum haben Sie damals diese Entwicklung in den USA
nicht erkannt?
({3})
Haben Sie in der Regierung vielleicht geschlafen?
({4})
Offensichtlich haben Sie auch diesen Reformbedarf gerade im IT-Bereich, der schon damals erkennbar war,
nicht erkannt.
({5})
Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:
Wo war denn der zuständige Minister in den letzten Jahren? Es war doch Ihr Zukunftsminister, es war doch Herr
Rüttgers, der diese Trends nicht erkannt hat.
({6})
Ich will es deutlich und direkt sagen: Ich möchte nicht
näher auf die nach meiner Meinung schäbige und charakterlose Hofierung des Rechtspopulismus durch Herrn
Rüttgers eingehen. Er hat ja auch die Kritik der Kirchen
massiv provoziert. Diese Kampagne, die in NordrheinWestfalen gefahren wird, ist mit der katholischen Soziallehre oder mit der evangelischen Sozialethik, die Herr
Stoiber auf Ihrem Essener Parteitag so leidenschaftlich als
Kompass ausgegeben hat, nicht vereinbar. Nein, die Kirchen haben sich zu Recht gegen diese Kampagne gewandt.
({7})
Und dann erleben wir im Wahlkampf, dass dieser so
genannte Zukunftsminister auch mit Ihrer Unterstützung,
Herr Merz, behauptet, zuständig für diese Entwicklung
sei nicht die damalige Bundesregierung gewesen, das sei
vielmehr Job der Landesregierung NRW. Ich stelle nur
fest, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die H-1-B-Regelung in den USA ist in Washington beschlossen worden
und nicht in den einzelnen amerikanischen Bundesstaaten. Insofern war auch die damalige Bundesregierung verantwortlich.
({8})
Wenn man das betrachtet, muss man die Aussage treffen, dass die Technikfeinde von heute auf der rechten
Seite des Hauses sitzen.
Auch der Fall Schweden oder Finnland zeigt den
großen Nachholbedarf Deutschlands in diesem Bereich.
In Schweden haben circa 45 Prozent der privaten Haushalte Internetanschlüsse, in Deutschland nur 17 Prozent.
Die Schweden haben auf lange Sicht große Finanzmittel
in Bildung und Forschung gesteckt mit dem Resultat, dass
ihre Wirtschaft seit Jahren boomt und schwedische IT-Unternehmen weltweit mit an der Spitze stehen.
Die alte Bundesregierung hat dagegen den Bildungsund Forschungsetat permanent gekürzt. Ich will es noch
einmal deutlich sagen, weil mir mittlerweile nicht mehr
klar ist, wofür die Union in dieser Frage steht. Der
Ministerpräsident Müller aus dem Saarland möchte die
Schaffung von zwei Ausbildungsplätzen pro Einsatz eines
Green-Card-Mitarbeiters gesetzlich vorschreiben. Herr
Rüttgers ist generell gegen die Green Card, wie wir wissen. Herr Stoiber ist für die Green Card und für ein Einwanderungsgesetz. Es wäre schön, in den nächsten Tagen
zu erfahren, wofür die Union in dieser Frage eigentlich
steht.
({9})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die Reformen im Bereich der beruflichen Bildung anpacken. Das zeigt auch der Antrag, den
wir vorgelegt haben. Wir freuen uns auf fruchtbare Diskussionen im Ausschuss über diesen Antrag. Zeigen Sie
Mut zur Zukunft, unterstützen Sie uns, denn ich glaube,
das ist der richtige Weg, den wir zu gehen haben.
Ich möchte es noch einmal sagen: Die Entwicklung eines Ausbildungsplatzkonsenses, geboren aus politischen
Ansätzen und aus der Anerkennung der Realitäten in den
Regionen, weitergeführt von der NRW-Landesregierung,
hat vor allen Dingen zu einer großen Zahl betrieblicher
Ausbildungsplätze geführt. Diesen Weg sollten und werden wir weitergehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Abschließend hat die Kollegin Ilse Aigner von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Pieper hat schon angesprochen, dass es bemerkenswert ist, dass wir den Berufsbildungsbericht 1999 im Januar 2000 beraten und verabschiedet haben und schon
vier Monate später der nächste Berufsbildungsbericht auf
der Tagesordnung steht. Entweder ist die Regierung so
viel schneller geworden, was mich wundern würde, oder
es könnte eventuell damit zusammenhängen, dass am
Sonntag in Nordrhein-Westfalen Wahlen stattfinden. Die
zweite Variante scheint mir die wahrscheinlichere: Der
Bericht wird genutzt, um noch einmal kräftig Wahlkampf
zu machen.
({0})
Nichtsdestotrotz ist natürlich nach wie vor festzuhalten, dass es zu begrüßen ist, dass Jugendliche eine Chance
bekommen haben. Das ist keine Frage. Es stellt sich aber
immer noch die Grundsatzfrage: Handelt es sich um nachhaltige strukturelle Maßnahmen oder um Strohfeuer, die
irgendwann wieder erlöschen werden? Es handelt sich um
lediglich kurzfristige Maßnahmen. Der beste Beweis
dafür ist ja, dass in den neuen Bundesländern 70 Prozent
der neu geschaffenen betrieblichen Ausbildungsplätze
und bundesweit 40 Prozent der neu geschaffenen Plätze
subventioniert sind. Das allein zeigt, dass es sich nicht um
eine nachhaltige Entwicklung, sondern um ein Strohfeuer
handelt, das irgendwann wieder erlöschen wird. Sie selbst
sehen das in Ihrem Bericht, den ich mir genau durchgelesen habe, auch sehr kritisch. Deshalb muss man bei den
grundsätzlichen Fragen immer wieder ansetzen. Gerade
die Wirtschaftspolitik kann man nicht außen vor lassen,
({1})
besonders mit Blick auf die neuen Bundesländer, aber
auch im Hinblick auf die Steuerreform.
Sehr geehrter Herr Brase, Sie reden zwar immer über
die Senkung des Spitzensteuersatzes. In diesem Zusammenhang muss ich aber einen anderen Punkt in Ihrem
System ansprechen: Sie senken die Grenze, bei der der
Spitzensteuersatz erreicht wird, von 120 000 auf 98 000
DM ab. Damit verschweigen Sie geflissentlich, dass immer mehr Steuerpflichtige wesentlich schneller von einer
höheren Steuerprogression betroffen werden. Das ist jedoch gerade für den Mittelstand nach wie vor ein wesentliches Problem.
({2})
Ich kann Ihnen das gern vorrechnen, ich weiß aber nicht,
ob Sie das verstehen.
({3})
Die Frage, ob zusätzlich betriebliche Ausbildungsplätze neu geschaffen wurden, wird insbesondere in Bezug auf die neuen Bundesländer sehr kritisch gesehen.
Für diese kann das nicht bejaht werden. Auch das Bundesinstitut für Berufsbildung kommt zu dem Schluss, dass
im gleichen Zeitraum in etwa ebenso viele betriebliche
Ausbildungsplätze im Rahmen der regionalen und lokalen Projekte nach Art. 2 des Sofortprogramms geschaffen
wie abgebaut wurden.
Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Lohnkostenzuschüssen. Sie können sich durchaus gerne bei den Industrie- und Handelskammern und Handwerkskammern
danach erkundigen. Viele Betriebe warten erst einmal ab,
ob ihnen Lohnkostenzuschüsse angeboten werden. Erst
dann schaffen sie Ausbildungsplätze, die sie vielleicht so
oder so geschaffen hätten. Sie wären natürlich - das ist
menschlich nachvollziehbar - naiv, wenn sie diese Zuschüsse nicht in Anspruch nehmen würden. Aber gerade
das führt nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung; dafür
ist immer eine strukturelle Veränderung nötig.
Des Weiteren ist es schon bemerkenswert, wie sich die
Zahlen teilweise schlagartig zwischen Dezember 1999
und März 2000 verändert haben. Vergleicht man die Zahlen der Jugendlichen, die an dem Sofortprogramm teilnehmen, miteinander, stellt man einen Unterschied von
minus 28 000 zwischen Dezember 1999 und März 2000
fest. Die Zahl ist schlagartig heruntergegangen, man
könnte meinen, weil sich der Berichtszeitraum bis Dezember 1999 erstreckt. Dasselbe ist bezüglich der jugendlichen Arbeitslosen anzumerken. Hier wurden im
März 2000 453 000 registriert, im Dezember 1999 waren
es dagegen 40 000 weniger. Auch hier ist ein schlagartiger Sprung zu erkennen. Man kann vielleicht davon ausgehen, dass der Bericht dementsprechend verfasst wurde,
um alles etwas schöner darzustellen als es in der Realität
ist.
({4})
Des Weiteren stellt sich natürlich auch immer die Frage
der Nachvermittlung, also wie viele Ausbildungsplatzsuchende im Zeitraum zwischen September und Dezember nachvermittelt werden. Hier ist keine wesentliche Änderung zu erkennen. Es ist nach wie vor erfreulich, dass
in diesem Zeitraum circa 50 Prozent nachvermittelt werden konnten. Aber eine wesentliche Änderung zu den Jahren 1998 und 1999 ist hier nicht festzustellen. Schon 1997
wurden ungefähr 50 Prozent nachvermittelt.
({5})
- Ja, wunderbar, Herr Tauss. Sie sind ja bekannt für Ihre
freundlichen Zwischenrufe. Ob sie aber qualifiziert sind,
ist eine andere Frage.
({6})
Einen weiteren Punkt, der mir am Herzen liegt, möchte
ich noch ansprechen. Wenn wir sehen, dass in vielen Berufszweigen viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werden
können, stellen wir fest, dass das zum Teil regionale
Gründe hat, zum Teil aber auch daran liegt, dass manche
Ausbildungsberufe für Jugendliche erst einmal nicht so
interessant sind. Trotzdem vermisse ich intensive Maßnahmen, durch die die Jugendlichen davon überzeugt
werden könnten, dass es sinnvoller ist, eine Berufsausbildung aufzunehmen, die dann auch Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten einräumt, als irgendeinen subventionierten
außerbetrieblichen Ausbildungsweg einzuschlagen, der
keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bietet. Auch hier
vermisse ich konkrete Maßnahmen, durch die die Jugendlichen auf diese Möglichkeiten hingewiesen werden.
Ein nächster Punkt ist die Frage von Mobilitätshilfen.
Herr Kasparick hat ja eben freundlicherweise bestätigt,
dass viele Jugendliche aus den neuen Bundesländern in
den Süden Deutschlands kommen, um hier einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Das ist eine vernünftige Entwicklung, denn wenn Ausbildungsplätze frei sind, sollten sie
auch besetzt werden. Wir könnten in diesem Zusammenhang deshalb darüber diskutieren, ob dies in der einen
oder anderen Weise, zum Beispiel durch Mobilitätshilfen,
noch weiter unterstützt werden könnte.
Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die
Jugendlichen in den Süden gehen und nicht nach
Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Sie müssen
einräumen: Zumindest gehen sie nicht in einem entsprechenden Ausmaß dorthin.
({7})
Das könnte eventuell mit dem Schulwesen zu tun haben,
dessen Qualität sich an der Jugendarbeitslosigkei ablesen
lässt.
({8})
Es gibt eben ein deutliches Qualitätsgefälle zwischen den
südlichen und den nördlichen Bundesländern,
({9})
wenn Sie es noch genauer haben wollen: zwischen den
CDU- bzw. CSU-regierten und den SPD-regierten Ländern. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen den
Ländern in diesem Bereich.
({10})
Ich komme jetzt zu dem immer wieder vorgebrachten
Vorwurf, wir hätten hinsichtlich der Modernisierung
nichts getan. Eine grundsätzliche Anmerkung: Ich kann
mich noch sehr gut daran erinnern, dass die Gewerkschaften - diese sind bei der SPD bei weitem nicht unterrepräsentiert; ich glaube, von 298 Fraktionsmitgliedern
sind 250 in Gewerkschaften organisiert; es gibt viele mit
lupenreiner Gewerkschaftsvergangenheit, die von der
Schulbank in die Gewerkschaft gegangen sind und noch
nie in einem Betrieb gearbeitet haben ({11})
jahrelang die Flexibilisierung der Ausbildungsberufe verhindert haben, weil sie von einer sturen Ideologie ausgegangen sind. Es war nicht möglich, neue Berufe zu schaffen. Diese Haltung kann ich mindestens für die letzten
vier Jahre bestätigen.
({12})
Es ist Gott sei Dank ein Schritt in die richtige Richtung,
wenn hier eine Art Bausteinsystem, Modulsystem - wie
immer Sie dieses System bezeichnen wollen - jetzt langsam Einzug hält. Diejenigen, die schneller lernen, sollen
die Chance bekommen, zusätzliche Qualifikationen zu erreichen. Diejenigen, die nicht so schnell sind, sollen nicht
überfrachtet werden. Sie sollen aber eine Chance erhalten,
in den gewünschten Ausbildungsberuf hineinzukommen.
Wir sind noch nicht am Ende dieser Diskussion. Ich freue
mich auf weitere Diskussionen, damit wir in diesem Bereich weiterkommen.
Ich komme jetzt zu den Zahlen. Dabei berufe ich mich
auf einen Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung,
der aufschlüsselt, wann welche Ausbildungsordnungen
neu geschaffen bzw. reformiert wurden. In der Zeit zwischen 1996 und 1998 - weil immer der 1. August der
Stichtag ist, können Sie nicht abstreiten, dass dafür die
alte Bundesregierung verantwortlich ist - gab es 28 neu
geschaffene und 99 modernisierte Ausbildungsberufe.
Zum 1. August 1999 haben Sie vier neue Berufe geschaffen. Darunter befinden sich zwei, die lediglich erst 1999
anerkannt wurden, abere bereits existierten. 1999 gab es
26 modernisierte Berufe. Davon sind bei einem bereits
1997 die Grundlagen gelegt worden; 17 waren schon
lange vorher in Vorbereitung.
Die Bilanz, wer wann welche Ausbildungsordnungen
modernisiert hat, ist eindeutig zu ziehen. Dass in den letzten Jahren die Anstrengungen intensiviert wurden, dass
Sie manche Maßnahmen übernehmen und fortsetzen, ist
positiv; das ist keine Frage. Aber die großen Impulse insbesondere im IT-Bereich sind gewiss nicht von Ihnen gekommen. Die vier neuen Berufe, die Sie immer anführen
und für die jetzt viele neue Ausbildungsplätze geschaffen
wurden, sind nicht Ihr Verdienst. Sie sind von der alten
Bundesregierung - Gott sei Dank rechtzeitig - eingeführt
worden. Ansonsten hätten wir selbst diese Ausbildungsplätze jetzt nicht.
({13})
Zum Schluss möchte ich Sie noch einmal auffordern,
mit uns an einer strukturellen Weiterentwicklung der
Berufsausbildung weiterzuarbeiten, damit die Betriebe
nicht gezwungen werden - es ist egal, ob von Ihrer Seite,
DGB oder PDS -, Ausbildungsplatzabgaben oder Ähnliches zu leisten. Sie sollten sich vielmehr freiwillig bereit
erklären, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen.
Diese Erkenntnis ist bei den Betrieben vorhanden, weil sie
sehr wohl wissen, dass die Zahl der Fachkräfte zurückgehen wird. Die Zahl wird demographisch bedingt nur noch
bis zum Jahr 2006 steigen. Dann wird sie zurückgehen.
Die Bereitschaft der Betriebe ist also da. Aber sie können diese Arbeit nur leisten, wenn erstens die Wirtschaftspolitik stimmt
({14})
und wenn zweitens ihnen die Möglichkeit gegeben wird,
vernünftige Ausbildungsberufe, die sich an der Realität
orientieren, anzubieten. Dann werden sie dementsprechend handeln. Ich appelliere an Sie, mit uns gemeinsam
in diesem Bereich weiterzuarbeiten.
({15})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/3244 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 14/3331 soll an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c
auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Schorlemer,
Dr. Klaus W. Lippold ({0}), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Schadensersatzforderungen und -prozesse des
Bundes gegen das Bundesland Niedersachsen
im Zusammenhang mit Baustopps für das End-
lager Gorleben in den Jahren 1990 bis 1994
- Drucksachen 14/1375, 14/2639 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
({2})
- Drucksache 14/564 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
({4})
- Drucksache 14/1562 Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Großen Anfrage der CDU/CSU greifen wir ein Thema auf, das auch
in der Antwort der Bundesregierung zu einem Dokument
der politisch motivierten Rechtsverweigerung und des
Rechtsbruchs zulasten des Steuerzahlers durch eine rotgrüne Landesregierung wird.
({0})
- Ich trage nicht dick auf, Sie brauchen nur nachzulesen,
Frau Ganseforth. Die Zahlen stehen ja alle drin.
Ich denke, dass es ein Motiv gibt für diese Versuche der
damaligen niedersächsischen Umweltministerin - auch
unter politischer Rückendeckung des damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder -, nämlich zu verhindern, dass die Wahrheit über die Eignung des Salzstockes
Gorleben zutage gefördert wird.
Es ist ja nicht so, dass die Juristen in Niedersachsen das
nicht gesehen hätten, sondern in den Ministerien ist vor
einer solchen Politik der Rechtsverweigerung gewarnt
worden. In einem besonderen Fall ist es sogar so weit gekommen, dass ein Jurist, der diese seine Rechtsauffassung
dokumentiert hat, innerhalb weniger Stunden versetzt
wurde mit der Begründung, er sei krank und der Aufgabe
nicht mehr gewachsen. Er hatte nichts anderes getan, als
aufzuschreiben, was rechtens ist und dass ein Rechtsanspruch auf eine Teilerrichtungsgenehmigung bestand.
({1})
- Das ist keine Legende, sondern das ist die schlichte, einfache Wahrheit, und die tut weh. - Die Ideologie triumphierte über das Recht.
Die zentrale Frage übrigens, wie die Schadensersatzforderung in Höhe von circa 30 Millionen DM, die der
Bund gegenüber dem Land hat, nun eigentlich eingetrieben werden soll, beantwortet die Bundesregierung nicht.
Da gibt es nur einen Hinweis, man habe irgendwann im
Februar einmal miteinander gesprochen. Aber die
Bundesregierung hat heute Gelegenheit, in der Aussprache über die Große Anfrage darzustellen, wie sie sich die
Bezahlung der 30 Millionen DM vorstellt,
({2})
wobei alle Täter heute sozusagen Opfer sind, weil sie in
die Bundesregierung bzw. in die Mehrheit dieses Parlaments gewechselt sind.
({3})
Das, was in dieser Großen Anfrage dokumentiert ist, ist
ja nicht das Einzige, was man unter dem Gesichtspunkt
der Rechtsverweigerung zulasten des Steuerzahlers dokumentieren kann, sondern es gibt einen weiteren Fall, nämlich die Verweigerung der zweiten Teilerrichtungsgenehmigung für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben,
wo das Landgericht Hannover die Landesregierung zu einem Vergleich gezwungen hat. Hintergrund war, dass man
andernfalls den jetzigen Bundeskanzler und die damalige
niedersächsische Umweltministerin zu 15 Millionen DM
Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung verurteilt
hätte.
({4})
Daraus ist, wie Sie wissen, Frau Griefahn, ein Vertrag
des Landes Niedersachsen mit der GMS geworden, in
dem steht: Wir halten uns in Zukunft an Recht und Gesetz.
({5})
Ich finde es schon aberwitzig, dass eine Landesregierung
zur Vermeidung einer Amtspflichtverletzung ({6})
- Der jetzige Bundeskanzler, Herr Kollege Repnik.
({7})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- Wenn der Herr Kollege Repnik das so gerne hört, sage
ich es ihm noch einmal: Für diese Frage sind verantwortlich der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard
Schröder und die Umweltministerin Monika Griefahn.
({8})
Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass man
sagen könnte, Sie hätten nun etwa gelernt aus diesem Fall
oder Sie hätten begriffen, dass man das Recht nicht der
Ideologie unterordnen kann.
({9})
Nein, wir haben einen neueren Fall, eine Schadensersatzklage in Höhe von 66 Millionen DM des Betreibers
des Endlagers Konrad, weil dem Antragsteller die Erteilung der Genehmigung verweigert worden ist, obwohl das
Land Niedersachsen und das Bundesumweltministerium
in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und öffentlich bekundet haben, dass der Schacht Konrad genehmigungsfähig ist.
Ich denke, nachdem Sie schon etliche Male verklagt
und zu Schadensersatz verurteilt worden sind, weil Sie
das Recht gebrochen haben, ist es eine Ignoranz und ein
Vergehen wider die Verfassung, wenn Sie weiterhin darauf setzen, das Recht durch Verweigerung auszuhebeln.
({10})
Sie haben einen Amtseid zur Wahrung der Gesetze geleistet. Das Problem ist, dass man im Zusammenhang mit
der Kernenergie bei Ihnen sein Recht nur bekommt, wenn
man klagt.
In der Antwort der Bundesregierung wird alles das,
was ich hier sage, überhaupt nicht bestritten. Denn weswegen sind Sie verurteilt worden? - Weil Sie das Recht
gebeugt haben. Weswegen haben Sie das getan? - Weil
Sie die Wahrheit in Gorleben nicht zur Kenntnis nehmen
mögen. Das Dritte ist, dass Sie aus den Vorgängen zwischen 1994 und 1999 überhaupt nichts gelernt haben. Sie
machen in gleicher Weise weiter.
({11})
Ich finde es erstaunlich, dass Sie diese Millionen zulasten
des Steuerzahlers verpulvern.
({12})
Es ist vollkommen unnötig, dass Sie dieses Geld ausgeben. Beträge in einer Größenordnung von 30 Millionen DM
lassen sich auch nicht mehr unter Hinweis auf grundsätzliche Bedenken gegen die Eignung des Salzstockes Gorleben erklären. Auch andere Ihrer politischen Aussagen
sind da nicht hilfreich. Die Begründung liegt einzig und
allein in Ihrer ideologisch motivierten Politik.
Deswegen reichen mir sechs Minuten aus, um zu diesem Thema Stellung zu nehmen. Denn die zentralen Fragen der Politik, die hinter dieser Großen Anfrage stehen
und das Motiv gewesen sind, nämlich wie die Bundesregierung mit diesem Schadensersatzanspruch umgeht,
sind dargestellt. Und die entscheidende Frage, wie die
Bundesregierung dieses Geld von Niedersachsen eintreibt, wird die Bundesregierung jetzt sicherlich von diesem Pult aus beantworten.
Herzlichen Dank.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Das sammeln wir jetzt von
Ihnen ein, nämlich für die der Polizei entstandenen Kosten im Zusammenhang mit den Castor-Transporten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin der Fraktion der CDU/CSU sehr dankbar für
die Anfrage zu den Schadensersatzforderungen des Bundes gegenüber dem Land Niedersachsen, die in der Zeit
der Kohl-Regierung mit den Ministern Töpfer und Merkel
gestellt worden ist. Sie bezieht sich auf die vier Atomanlagen in Gorleben. Sie geben mir und damit der Landesregierung von Niedersachsen in der damaligen Zeit, aber
auch der jetzigen Bundesregierung die Möglichkeit, die
noch immer verbreiteten Unwahrheiten richtig zu stellen.
Das ist gut.
Es gibt nämlich im Gegensatz zu dem, was Herr Grill
gerade gesagt hat, bislang kein Urteil über die Höhe von
Zahlungen. Das heißt, die Zahlen, die immer im Raum
schweben, seien es nun 100 Millionen DM, 60 Millionen DM oder 30 Millionen DM, existieren nicht durch
einen Gerichtsbeschluss, Herr Grill. Ich bitte, das endlich
einmal zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt nur Urteile im
Sinne des Gesetzes, das ein Gesetz zur Förderung der
Atomenergie ist und deshalb bislang für jede Landesregierung eine Schwierigkeit dargestellt hat, überhaupt etwas zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Deswegen sind wir froh, dass wir endlich eine rot-grüne Bundesregierung haben und den Ausstieg auf den Weg
bringen können.
({0})
Worum geht es? Die Bevölkerung hat schon 1990 für
eine rot-grüne Regierung in Niedersachsen votiert, weil
sie den Ausstieg aus der Atomenergie wollte, und sie will
ihn noch immer. Sie erwartete von der Landesregierung
Maßnahmen. Der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen, Gerhard Schröder, hat dann auch nach all den
Bemühungen, die wir auf Landesebene unternommen haben, in drei Anläufen, nämlich 1994, 1995 und 1997, versucht, einen Konsens mit der damaligen Bundesregierung
über einen Ausstieg aus der Atomenergie und über eine
gerechte Lastenverteilung von Endlagerkapazitäten zu
finden. Gleichzeitig hat er versucht, den Einstieg in eine
neue Energiepolitik, bestehend aus Energieeinsparung,
Energieeffizienz und alternativen Energien wie Sonne,
Wind, Wasser und Biomasse, zu erreichen.
Das ist von der damaligen Umweltministerin Merkel
abgelehnt worden. Dieser Konsens ist nicht zustande gekommen. Wenn also von Atomaltlast gesprochen wird,
dann ist das Frau Merkel.
({1})
Niedersachsen hat, um diesen Punkt umzusetzen, bereits
1990 das Stromeinspeisungsgesetz des Bundes - eine sehr
lobenswerte Einrichtung - durch einen sehr ehrgeizigen
Ökofonds ergänzt. Durch diese gute Kombination von
Ökonomie und Ökologie haben wir in Niedersachsen
nicht nur den größten Anteil an Windenergie, sondern
auch die wichtigsten Exportfirmen und Jointventures für
Windenergieanlagen in aller Welt. Das ist eine konstruktive Arbeit. Denn deren Ziel ist: Man will nicht nur aus der
Atomenergie aussteigen, sondern auch eine andere Energiepolitik. Das ist genau das, wofür wir hier streiten.
({2})
Alle Anlagen in Gorleben haben wir von der CDU-Regierung unter Ernst Albrecht geerbt. In Gorleben haben
wir die größte Ansammlung von Endlagereinrichtungen
im Bundesgebiet, mit Verfahren, die 1990 bereits in einem
Status waren, der irreversibel erschien und auch offensichtlich ist. Ein Coup war es natürlich, dass zwischen der
Landtagswahl und der Einsetzung der neuen Landesregierung sehr viele Genehmigungen noch soeben auf den
Weg gebracht worden sind. Auch das ist einmal festzustellen. Das ist eigentlich nicht legitim. Sie werfen uns das
immer vor. Aber genau das hat die Regierung Albrecht getan, bevor die Schröder-Regierung in Niedersachsen antreten konnte und mit diesem Erbe konfrontiert wurde.
In Gorleben haben wir ein Endlager für hoch radioaktiven Müll, ein Erkundungsbergwerk. In Bezug auf die
dortige Pilotkonditionierungsanlage, die Herr Grill gerade erwähnt hat, ist festzustellen: Hier ist - Herr Grill,
das wissen Sie sehr gut -, nachdem dem Management
25 Verfehlungen im Hinblick auf den Betrieb und das Management nachgewiesen werden konnten und das Management ausgewechselt wurde, ein Vergleich geschlossen
worden, weil die Betriebsgenehmigungen bereits in einem so weiten Status waren, dass man sagte: Selbst nach
diesen Verfehlungen werden wir dagegen wahrscheinlich
nicht angehen können. Dass die Firma aber Verfehlungen
gemacht hat, Herr Grill, das werden Sie sicherlich nicht
außer Acht lassen können. Es ist angesichts einer so hoch
sensiblen Angelegenheit, wie es eine Atomanlage ist,
wichtig, dies einmal festzustellen.
({3})
Weiterhin haben wir in Gorleben ein Zwischenlager für
schwach radioaktiven Müll, ein Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente, das durch die Castor-Transporte
bekannt geworden ist, und - nicht zu vergessen; auch das
hat Herr Grill erwähnt - ein völlig überdimensioniertes
Endlager für schwach Wärme entwickelnden Müll, wie
sich verharmlosend die Abfälle aus nuklearen Einrichtungen wie AKWs, Wiederaufarbeitungsanlagen, Krankenhäusern etc. nennen, das im Schacht Konrad errichtet
werden soll. Wenn man sich die Dimensionen anschaut,
erkennt man, dass die dort geplante Menge an Abfall die
Menge, die wir für die Bundesrepublik Deutschland prognostizieren, um ein Vielfaches übersteigt. Wir haben immer wieder betont, dass das bedeutet, dass dies ein europäisches Lager wird. Frau Merkel hat damals immer
gesagt: Nein, dies ist kein europäisches, sondern ausschließlich ein nationales Lager. Daraufhin haben wir gesagt: Der Bedarf für eine solche Dimension ist nicht vorhanden; also ist es nicht genehmigungsfähig.
Das ist die Problematik, die hier besteht. Es wurde ein
viel zu hoher Bedarf geplant. Demnach ist diese Anlage
nicht genehmigungsfähig, wenn man von einem nationalen Lager spricht. Also sollte man auch ehrlich sein und
sagen: Frau Merkel, Sie wollten eigentlich ein europäisches Lager; einen diesbezüglichen Antrag haben Sie gestellt. Das ist aber bislang nicht aktenkundig. Deswegen
denke ich, wir werden hier einvernehmliche Lösungen
finden müssen.
Nun zum Erkundungsschacht in Gorleben. Die ersten Baustopps, die mit Prozessen überzogen worden sind,
sind folgendermaßen entstanden - ich will das einmal in
Erinnerung rufen -: Im Erkundungsschacht des Bergwerkes in Gorleben ist wenige Jahre zuvor ein Mensch umgekommen, weil die Stabilität des Schachtes nicht ausreichend war. Da ich als zu diesem Zeitpunkt zuständige Ministerin das Risiko eines weiteren Unfalles nicht eingehen
wollte, ließ das Ministerium unter Beteiligung des Ministerpräsidenten und des Kabinetts Sicherheitsgutachten anfertigen, die zweimal zu Verzögerungen beim Weiterbau
führten. Der Schutz von Menschenleben geht immer vor;
das dürfte doch die Meinung aller sein.
({4})
Was hätten Sie gesagt, wenn wieder etwas passiert wäre,
als es solche Vorfälle wie zum Beispiel Wassertropfen im
Schacht gab?
Auch die beiden weiteren Forderungen des Bundes waren zu dem Zeitpunkt politisch motiviert. Bei der damaligen Bundesregierung stand an - vergessen Sie das nicht;
da gab es bei den Sozialdemokraten ja Urwahlen -: Vielleicht wird Gerhard Schröder 1994 Kanzlerkandidat. Man
wollte - das muss man hier doch einmal ganz deutlich machen - Gerhard Schröder eins auswischen und da hat man
sich gesagt: Na, mit Atompolitik kann man ihm am besten
eins auswischen.
Tatsache ist: Gerhard Schröder und das niedersächsische Kabinett, dem auch ich angehörte, haben damals
mehrfach versucht, mit der Bundesregierung eine Einigung zu erzielen. Diese Versuche waren seitens des Bundes nicht gewollt. Es gab kein Interesse an der Lösung der
Sache. Das Vorgehen war politisch motiviert. Das - darauf wird der Umweltminister auch hinweisen - ändern
wir jetzt.
Tatsache ist, dass das Land Niedersachsen bis heute
keine Mark Schadensersatz bezahlen musste. Kein Gericht hat bis heute ein Urteil in diesem Sinne gefällt. Vielmehr kann man davon ausgehen: Da wir jetzt über die Perspektiven insgesamt reden - auch über den Ausstieg -,
wissen wir, wie viele weitere Endlagereinrichtungen wir
brauchen. Das Landgericht Hannover hat ja eine Einigung
in dieser Sache angemahnt.
Tatsache ist, dass die damalige Bundesregierung unter
Kohl mit den Ministern Töpfer und Merkel und einem
Herrn Grill eine Atompolitik betrieben hat, die, wenn das
niedersächsische Kabinett nicht in der Weise gehandelt
hätte, wie ich das eben beschrieben habe, dazu geführt
hätte, dass wir heute gar nicht in der Lage wären, überhaupt über den Atomausstieg verhandeln zu können. Das
wäre alles schon genehmigt, wir stünden nur da und könnten alles über uns ergehen lassen. Ich bin froh darüber,
dass wir jetzt überhaupt die Möglichkeit haben, diese
Ausstiegsdebatte zu führen.
Deshalb: In allen erwähnten Fällen habe ich im Sinne
der Umwelt und der Sicherheit der Menschen vor Ort gehandelt. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe als gewählte
Politiker. Wir müssen in die Zukunft denken, anstatt Entscheidungen zu treffen, die nicht rückholbar oder, wie es
Christine von Weizsäcker immer sagt, nicht „fehlerfreundlich“ sind. Das aber wäre gerade der Fall gewesen.
({5})
Insofern bin ich froh, dass wir heute in der Situation sind,
diese Einsparungen vornehmen zu können.
Noch ein letztes Wort, Herr Grill: Wo ist denn der
Schadensersatz für die Polizeikosten in Höhe von
100 Millionen DM im Zusammenhang mit den CastorTransporten, die Frau Merkel verursacht hat, weil die Castoren hinterher gestoppt werden mussten, da sie, so wie
ich das immer vermutet habe, leck waren? Davon hat das
Land Niedersachsen bislang noch nichts gesehen. Dieses
Geld kann man - auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen - sicherlich einmal gegenrechnen.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ja, ich bin gleich fertig.
Wir sind jetzt dabei, ein anständiges Konzept zu erarbeiten. Wir wollen die dezentrale Zwischenlagerung, um
dann ein Endlager zu finden, das eine Kapazität hat, die
wir wirklich brauchen, anstatt Überkapazität zu produzieren. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst und bringen den Ausstieg voran, aber eben auch den Einstieg in
die alternativen Energien. Dafür machen wir - das ist das
Entscheidende - sehr viel.
Danke schön.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Günter
Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! An erster Stelle geht es heute um einen volkswirtschaftlichen Schaden von 30 Millionen DM,
den die ehemalige niedersächsische Umweltministerin
Griefahn bewusst herbeigeführt hat durch Baustopps, die
einen eindeutigen politischen Hintergrund hatten: Ausstieg aus der Kernenergie um jeden Preis.
({0})
Dann geht es darum, dass der heutige Bundesumweltminister Jürgen Trittin die berechtigten Schadensersatzansprüche des Bundes nicht in der Weise geltend macht,
wie er das dem Steuerzahler schuldig ist.
({1})
Auch hier gilt: Ausstieg aus der Kernenergie um jeden
Preis.
Frau Griefahn, auch wenn Sie hier sagen, dass kein
Schaden entstanden sei, so hat das Gericht doch eindeutig
signalisiert: Vergleicht euch in einer Weise, die den Interessen des Bundes entgegenkommen! Diese Gespräche
werden von Herrn Trittin bewusst nicht geführt. Zu dem,
was Sie zu Ihren „berechtigten Maßnahmen und Anordnungen“ vorgetragen haben, weil jemand zu Schaden gekommen sei, muss ich sagen:
({2})
Leider kommen Menschen auch auf anderen Baustellen
zu Schaden. Das hat gar nichts mit dem Genehmigungsverfahren zu tun. Das alles wurde nur herangezogen, um
das politische Ziel erreichen zu können,
({3})
das da heißt: Raus aus der Kernenergie!
({4})
Und das Instrument der Endlagerung wird benutzt, um
weiter vorne im Prozess, nämlich beim Betrieb der
Atomkraftwerke, zum Erfolg zu kommen.
({5})
Aber das ist ja nur ein Ausschnitt aus einem skandalösen Szenario, das deutlich macht, wohin rot-grüne Politik
führen kann, und zwar nicht nur bei der Kernenergie. Ich
habe in den letzten Tagen und Wochen in NordrheinWestfalen mit vielen Menschen, vielen Bürgern und Mittelständlern, gesprochen. Was die einem sagen, kann nicht
aus der Luft gegriffen sein. Da werden zuhauf Klagen und
Beschwerden über Frau Höhn geäußert, weil sie verzöMonika Griefahn
gert, verschiebt und verhindert. Hintergrund ist nichts anderes, als grüne Ideologie durchzusetzen.
({6})
Behindert wird die Erteilung von Baugenehmigungen
und die Durchführung von Verkehrsprojekten. Behindert
werden gewerbliche Wünsche und andere Anliegen der
gewerblichen Wirtschaft und der Bürger. Und das geht zulasten der Arbeitsplätze. Wir müssen die Dinge beim Namen nennen: Diejenigen, die in Nordrhein-Westfalen
Arbeitsplätze erhalten und schaffen, sind in diesen Tagen
tief empört und über alle Maßen verunsichert.
({7})
Was in Nordrhein-Westfalen Frau Höhn ist, ist auf
Bundesebene Umweltminister Trittin. Durch den Ausstieg aus der Atomenergie soll ein Stück grüner Identität
gerettet werden. Dies muss auch sein. Denn da Herr
Fischer mit bedeutungsvollem Gesicht im grauen Anzug
nur noch politische Leerformeln dahersagt, Frau Fischer
sehr bemüht immer das Falsche tut, Frau Müller mit vielen Worten im Grunde nichts sagt und Herr Schlauch allenfalls noch daherklügelt, muss es ja einen geben, der die
grünen Prinzipien hochhält, und das ist der Umweltminister Trittin.
({8})
Man könnte ihm sogar folgen im Sinne eines demokratischen Respekts vor anderen Positionen, wenn diese
Positionen schlüssig vorgetragen würden.
({9})
Aber das geht nicht, weil Herr Trittin zu einem Bürger-,
zu einem Kinderschreck geworden ist.
({10})
Wenn die Kinder nicht ruhig sein wollen, dann sagen die
Leute: Seid ruhig, sonst kommt gleich Herr Trittin!
({11})
Das ist ja auch kein Wunder.
({12})
Da wird eine Ökosteuer aufgelegt, die nichts mit Öko,
sondern nur mit Abkassieren zu tun hat. Da wird an einem
Umweltgesetzbuch gearbeitet, das längst fertig sein
müsste.
({13})
Sie kommen aber nicht voran, weil dieser Mann einfach
EU-Richtlinien negiert. Und in Brüssel wird dann auf Geheiß des Bundeskanzlers die Altautoverordnung verhindert.
({14})
Neuerdings faselt er auch wieder vom Tempolimit und
von einer Flugverkehrsabgabe. Das alles macht der Kinderschreck Trittin.
({15})
Bei seinem Lieblingskind, dem Atomausstieg, provoziert er wegen der Wiederaufbereitung zunächst einen
Konflikt mit Großbritannien und Frankreich; das wissen
wir ja.
({16})
Bei der Gorleben-Angelegenheit geht überhaupt nichts
voran. Und in der Ukraine verzögert sich die Abschaltung
des Kraftwerks in Tschernobyl, weil unsinnigerweise ein
Kreditstopp veranlasst worden ist. Gleichzeitig aber werden Hermesbürgschaften für Kerntechnik in China übernommen.
({17})
Das ist Umweltpolitik à la Trittin. Er ist ein Kinderschreck, meine Damen und Herren.
({18})
Lassen Sie mich noch eines sagen: Nichts ist verlogener, als die Gespräche mit der Wirtschaft, in denen die
Stromindustrie zum Ausstieg aus der Atomenergie gebracht werden soll, als Konsensrunde zu bezeichnen. Die
Wirtschaft will diesen Ausstieg nicht. Die gegenwärtigen
Gespräche finden vor dem Hintergrund eines bewusst herbeigeführten Drucks im Zusammenhang mit den CastorBehältern statt.
({19})
Gleichzeitig wird die Karte gezogen und man will den
Ausstieg per Gesetz verordnen. Der gegenwärtige Streit
um die Restlaufzeiten ist im Grunde nichts anderes als
eine Verteidigungsposition der Unternehmen, um wenigstens den größten volkswirtschaftlichen Unsinn einer
Ressourcenverschwendung in Milliardenhöhe und die
dreisteste Form der Staatsintervention zu verhindern.
Niemand sieht derzeit die Notwendigkeit, in Deutschland Atomanlagen zu errichten. Wir sagen aber: Die Entscheidung, ob Kernkraft Bestandteil eines sinnvollen Energiemix sein kann, kann nicht allein die rot-grüne Regierung für alle Ewigkeit treffen.
({20})
Wir müssen - dies ist unsere Option; nicht mehr und
nicht weniger, Frau Griefahn - die Option offen halten,
dass die Kernenergie auch später Bestandteil eines
Energiemix sein kann. Das heißt auch, dass wir diese Option im administrativen und im technischen Sinne offen
halten müssen.
Ich füge hinzu - bitte hören Sie auch jetzt zu; denn
es ist ernst gemeint -: Jeder will so weit wie möglich
Einsparpotenziale nutzen. Wir wollen so viel wie möglich
in regenerative Energien investieren.
({21})
Aber wir können noch so viel sparen und noch so viel für
regenerative Energien tun:
({22})
Den Energiebedarf einer explodierenden Menschheit in
15 oder 30 Jahren damit decken zu wollen, das ist absoluter Unsinn. Das wissen auch Sie.
Herr Kollege Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss.
Noch mehr Holz, Kohle, Öl oder Gas einzusetzen geht
nicht.
Rot-Grün will mit ideologischen Argumenten an diese
Probleme heran. Ideologien haben die Menschen nur zu
oft ins Verderben geführt. Deshalb muss die rot-grüne Politik ein Ende haben, die den Bürger in zweifelhafter
Weise beglücken will. Es ist das Glück von Frau Höhn
und Herrn Trittin. Hören Sie auf zu verhindern und zu
blockieren! Wir brauchen wettbewerbsfähige Betriebe.
Nicht grüne Heilslehren sind angesagt, sondern eine moderne Infrastruktur und sichere Arbeitsplätze.
({0})
Für die
Bundesregierung hat jetzt Bundesminister Jürgen Trittin
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war neulich im „Tigerenten-Club“.
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Es waren viele
Kinder da. Wenn ich in Ihrem Bild bleiben soll, dann muss
ich sagen: Diese Kinder müssen ungeheuer mutig gewesen sein; sie haben sich nämlich gefreut, dass ich da war.
({0})
Offensichtlich sind Kinder mutiger als F.D.P.-Abgeordnete.
({1})
Sie, lieber Herr Rexrodt, haben ja gesagt, dass Sie erst
zum Schluss ernst zu nehmen gewesen seien. Erst nach
den ersten sieben Minuten Ihrer regulären Redezeit haben
Sie gesagt: Jetzt kommt etwas, was ernst zu nehmen ist.
Von dem, was Sie in den ersten sieben Minuten gesagt
haben, will ich nur einen Punkt aufgreifen. Sie sind ja einmal, in grauer Vorzeit, Bundeswirtschaftsminister gewesen.
({2})
Sie haben der Bundesregierung angehört. Wenn jemand,
der dieser Bundesregierung angehört hat - ich kenne die
Unterlagen über die Ressortabstimmungen; sie sind ja alle
bei uns in den Akten -,
({3})
sich hier hinstellt und sagt, diese Bundesregierung trete
europäisches Recht permanent dadurch mit Füßen, dass
die Richtlinien nicht umgesetzt würden, dann kann ich nur
sagen: Ich verbringe leider einen Großteil meiner Arbeitszeit damit,
({4})
die von Ihnen nicht umgesetzten Richtlinien, beispielsweise für eine integrierte Anlagenzulassung, für eine Umweltverträglichkeitsprüfung - also für all das, was zwingendes europäisches Recht ist -, umzusetzen, während
Sie in den Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts anderes getan haben, als im Hinblick auf das europäische
Recht die alte Lebensweisheit zu befolgen: legal, illegal entschuldigen Sie -, scheißegal.
({5})
Meine Damen und Herren, ich verstehe, ehrlich gesagt,
den Anlass dieser Anfrage nicht. Es ist falsch, dass es einen Schaden in der von Ihnen genannten Höhe gibt. Zwei
Urteile haben festgestellt, dem Grunde nach seien Ansprüche gegeben. Daneben gibt es die ausdrückliche
Empfehlung der Gerichte, sich zu vergleichen. Wir sind
da auf einem guten Weg. Es muss schon ein Mensch mit
schwerer querulatorischer Veranlagung sein,
({6})
wenn er von der Bundesregierung in dieser Situation erwartet, der Bundesumweltminister solle das Geld etwa im
Wege der Taschenpfändung bei Frau Griefahn beitreiben.
({7})
Das ist keine ernsthafte Art, mit diesem Problem umzugehen.
Ich glaube in der Tat, dass die Unterbrechung der Erkundung in Gorleben, die wir jetzt vorbereiten - Sie müssen diese Frage sachlich sehen -, nicht zu früh kommt,
sondern angesichts der massiven internationalen Zweifel
an einem Konzept der Trennung der Abfälle, an der Dimensionierung, an der Nichtrückholbarkeit und an der
Einlagerung in Salz eher zu spät kommt.
({8})
Das ist ein Punkt, über den wir gern streiten können.
Ich habe aber inzwischen den Eindruck, dass sich
CDU/CSU und F.D.P. davon verabschiedet haben, zu diesem Thema sachlich Stellung zu nehmen.
({9})
Denn es scheint mir so zu sein, als fürchteten Sie, dass es
in diesem Land wieder zu einem Konsens in der
Energiepolitik kommen könnte. Ich sage Ihnen: Voraussetzung für einen Konsens in der Energiepolitik der Bundesrepublik Deutschland ist die Lösung der Entsorgungsfragen.
({10})
Diese Lösung muss so sein, dass sie von weiten Teilen der
Bevölkerung akzeptiert wird.
({11})
Über eine Energieform, die bei der Lösung ihrer Entsorgungsfragen darauf angewiesen ist, dass Zehntausende
von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten regelmäßig
Überstunden ableisten, mag man unter Klima- und allen
anderen möglichen Aspekten streiten - dazu haben Sie
und wir unterschiedliche Positionen -, aber eine solche
Energieform ist auf Dauer nicht demokratieverträglich.
Es gibt viele in Ihren Reihen, die das sehr genau wissen.
({12})
Aus diesem Grund sagen wir: Voraussetzung eines gesellschaftlichen Konsenses in der Energiepolitik ist, wieder Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung in der Frage der
Entsorgung zu erlangen. Akzeptanz erhält man nicht,
wenn man Rechtsstreite - wie hier gefordert - rechtsquerulatorisch zu Ende führt und sich in jeder Debatte über
den Atomausstieg, werter Kollege Grill, aufführt, als
wolle man sich um die Rolle des Zwerg Alberich bewerben, der auf dem Atommüllschatz im Salzstock Gorleben
sitzen möchte.
({13})
Im Ernst:
({14})
Ich glaube, dass wir in der Tat noch eine Reihe von Problemen zu lösen haben, zum Beispiel bei der Rücknahme
des von Ihrer Regierung gemeinschaftlich ins Ausland
verschobenen Atommülls. Dieser Verantwortung wird
sich diese Bundesregierung, die immer vor dem Verschieben des Atommülls ins Ausland gewarnt hat, stellen müssen. Voraussetzung ist schlicht und ergreifend, dass die
von Ihnen aus politischen und nicht aus sachlichen Gründen getroffene präjudizierende Entscheidung in Gorleben
rückgängig gemacht wird. Deswegen wollen wir dort unterbrechen.
Ein Letztes: Ich kann eine Haltung überhaupt nicht akzeptieren, die besagt: Wir wollen, dass die Atomkraftwerke möglichst lange laufen, möglichst bei uns in Süddeutschland; aber mit dem Atommüll möchten wir nichts
zu tun haben. Den wollen wir auf jeden Fall zum Beispiel
nach Ahaus in Nordrhein-Westfalen schicken. - Diese Politik - diktiert vom heiligen Sankt Florian - ist eine Politik, die von Ihnen gefordert, aber auf dem Rücken der in
Deutschland tätigen Polizeibeamtinnen und -beamten
ausgetragen wird.
({15})
Dazu sage ich Ihnen eines: Das ist eine Form von Missbrauch der Menschen in Ahaus in Nordrhein-Westfalen
zugunsten sehr bornierter Lokalinteressen in Süddeutschland. Es ist absolut zynisch, die Polizeibeamtinnen und
-beamten so zu missbrauchen. Dies wird es mit uns nicht
geben.
({16})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDSFraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Großen Anfrage
der CDU/CSU möchte ich bemerken, dass wir das Engagement der ehemaligen niedersächsischen Umweltministerin Monika Griefahn würdigen, weil ihre Eingriffe Gelegenheit schufen, den Bau des Endlagers Gorleben zu
stoppen. Die Bundesregierung scheint das ähnlich zu sehen und verspricht, Schritte in Richtung einer außergerichtlichen Einigung über die Forderungen des Bundes an
das Land Niedersachsen zu tun. Ich denke, das ist der richtige Weg.
Das ist aber auch schon alles, was der Bundesregierung
zugute gehalten werden kann. Die Botschaften, die diese
Bundesregierung und die Atomindustrie im Rahmen ihrer
Konsensgespräche an die Öffentlichkeit senden, sind
schlichtweg alarmierend. Die Arbeiten am Endlager Gorleben sind immer noch nicht gestoppt und für Schacht
Konrad schließt die Bundesregierung eine Genehmigung
als Endlager nicht mehr aus.
Nach der gewonnenen Bundestagswahl wurde Gorleben plötzlich auch von SPD und Grünen zum prüffähigen
Endlagerstandort erklärt. Zwar verspricht die Bundesregierung, an anderen Standorten ein ergebnisoffenes Prüfungsverfahren parallel durchzuführen; aber außer der
Einrichtung einer Arbeitsgruppe ist bisher leider nichts
passiert.
Alle bisherigen Regierungen haben die Risiken der
Atommüllentsorgung immer heruntergespielt und einen
ernsthaften politischen und naturwissenschaftlichen Diskurs über die Möglichkeiten einer sicheren Entsorgung
des radioaktiven Abfalls verhindert. Doch nicht erst seit
dem Gutachten des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen ist klar, dass kein absolut dichtes Endlager geschaffen werden kann.
Um die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Lagerung des schon angefallenen Atommülls muss nach wie
vor politisch gerungen werden. Bisher hat uns der Regierungswechsel aber weder der Entsorgung noch der
schnellstmöglichen Abschaltung der Atomanlagen einen
Schritt näher gebracht. So soll - den letzten Meldungen
nach zu urteilen - die Frist zur Abschaltung der Atomkraftwerke durch eine variabel handelbare Atomstrommenge bestimmt werden, die mit oder ohne Zustimmung
der Betreiber jedem Atomkraftwerk ein goldenes Ende
analog von etwa 30 Jahren Laufzeit garantieren soll.
Viele Ihrer Wähler, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen und der SPD, hatten realistischerweise
erwartet, dass die Bundesregierung einige Zeit benötigt,
um sich gut auf eine rechtlich abgesicherte Abwicklung
des Ausstiegs aus der Atomindustrie vorzubereiten. Heute
sind viele Menschen jedoch mehr als enttäuscht - das wissen Sie auch -, da die Bundesregierung aus dem gebotenen Schutz von Leben und Gesundheit bisher kein schnelles Ende der Nutzung der Atomkraft, sondern ein Atomkraftverstromungsgesetz abgeleitet hat. Dieses Ergebnis
Ihrer Regierungstätigkeit war zu erwarten, da Sie bisher
nur mit den Eignern verhandelt haben. Mit dem bekannten Auszug der Umweltverbände ist der Energiedialog
2000 erklärtermaßen gescheitert, da Sie sich in den Augen
der Verbände den Einwänden gegen Ihre Atompolitik
nicht zugänglich gezeigt haben.
Aus diesen Gründen ist ein schnelles Abschalten der
Atomkraftwerke eine Frage der Vernunft. Der längst überfällige wissenschaftliche Diskurs über die Möglichkeiten
einer maximal sicheren Verbringung des Atommülls muss
unverzüglich beginnen. Dabei sind sowohl die verschiedenen Formen der möglichen Endlagerung als auch die
dafür infrage kommenden geologischen Formationen ergebnisoffen zu prüfen.
Für die früheren Endlager Asse und Morsleben, die
zu keinem Zeitpunkt durch ein ordnungsgemäßes atomrechtliches Verfahren nach bundesdeutschem Recht genehmigt worden sind, müssen Stilllegungsverfahren eingeleitet werden. Alle Risiken dieser Atomlager sollen
prinzipiell unter Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit untersucht, offengelegt und minimiert werden. In
Gorleben darf die Pilotkonditionierungsanlage nicht in
Betrieb gehen. Weit über die betroffene Region hinaus
lehnen zahlreiche Menschen diese entschieden ab, weil
der Betrieb der Anlage mit erheblichen Risiken verbunden ist und darüber hinaus als Baustein und Signal für die
Durchsetzung eines Endlagers in Gorleben gesehen wird.
Wenn die Bundesregierung an ihrem Beschluss festhalten will, ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle zu
finden, dann kann dieser Standort nicht Gorleben, aber
auch nicht Schacht Konrad heißen. Schacht Konrad ist unstrittigerweise nicht zur Aufnahme hoch radioaktiver,
wärmeentwickelnder Abfälle geeignet. Wenn dies so ist,
dann muss die Bundesregierung den Genehmigungsantrag
für Schacht Konrad zurückziehen. Mehr als 290 000 Menschen haben Einwendungen gegen Schacht Konrad erhoben, darunter viele tausend Einwohner der Städte Braunschweig und Salzgitter. Auch Betriebsräte von VW
gehören zu den Einwendern.
Natürlich werden wir die Anträge der CDU/CSU hinsichtlich der Petition ablehnen. Zum Schluss noch: Herr
Minister Trittin hat ausgeführt, dass eine Energieform, die
Polizeieinsätze nach sich zieht, nicht demokratieverträglich sei. Wir werden ihn sicher daran erinnern, wenn nach
der Wahl in Nordrhein-Westfalen der erste Castor-Transport rollen wird.
Danke.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Arne Fuhrmann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Dass wir uns heute mit der Großen Anfrage der
CDU/CSU-Fraktion befassen, ist so etwas wie ein Unikum, weil diese Anfrage nur nach außen hin eine Seriosität vorgibt. In Wirklichkeit hat sie zum Ziel, auf sehr unseriöse Art und Weise die hier anwesende Kollegin
Griefahn, den Umweltminister Trittin und den Kanzler zu
desavouieren. Dabei ist in der Zwischenzeit wohl jedem
klar geworden, dass dies ziemlich schwierig ist und dass
man sich nicht lediglich mit einigen überflüssigen Fragen
beschäftigen darf.
({0})
- Wissen Sie, Herr Rexrodt, bevor man den Mund aufmacht, sollte man das Gehirn einschalten. Dann ist das,
was ankommt, ein bisschen intensiver und die Redner
können sich damit auseinandersetzen.
({1})
Wie wir mittlerweile gehört haben, gibt es bisher kein
rechtsverbindliches Urteil. Es gibt in der ganzen Angelegenheit im Augenblick lediglich ein Stillhalteabkommen,
damit es möglich ist, einen vernünftigen und für alle deutlich werdenden Konsens zwischen dem Land Niedersachsen und dem Bund zu erzielen. Dies aber ist nicht
Kern Ihrer Anfrage. Sie wollen im Prinzip lediglich darauf
hinweisen, dass die derzeit laufenden Konsensgespräche
nach Ihrer Meinung so überflüssig seien wie ein Kropf. Es
gelingt Ihnen hin und wieder, dies in Ihrer polemischen
Art und Weise deutlich zu machen. Aber es gelingt Ihnen
Gott sei Dank nicht, der Öffentlichkeit an irgendeiner
Stelle ein X für ein U vorzumachen.
Der Ausstieg aus der Kernenergie und damit auch die
Fragen einer zukünftigen Endlagerung haben unmittelbar
etwas mit dem zu tun, was sich derzeit auf politischer und
wirtschaftlicher und damit auf der Verhandlungsebene abspielt. Es wird versucht, einen Konsens herzustellen, der
von allen Beteiligten mitgetragen und gewürdigt werden
kann. Sie wissen das so gut wie ich. Frau Merkel und Herr
Stoiber haben sich ja vor einiger Zeit sehr intensiv darum
bemüht, an den Konsensgesprächen beteiligt zu werden.
Dies geschah in erster Linie, um sie zu hintertreiben.
Dann hat sie ihr eigener Mut eingeholt und sie haben gesagt: Nein, lieber nicht.
In diesem Zusammenhang kann man zitieren, was die
„Lüneburger Landeszeitung“, die bei Insidern - leider ist
Herr Grill jetzt nicht anwesend - weiß Gott nicht als linksradikales Blatt gilt, am 20. April 2000 geschrieben hat:
Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die
Strategen von CDU und CSU bei ihrem Engagement
für die Atomkraft mit gespaltener Zunge reden. Denn
die von der Bundesregierung und den Kraftwerksbetreibern bereits vereinbarten Zwischenlager an den
Kraftwerksstandorten wollen sich die Unionsregierungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen
mit aller Macht vom Halse halten. Das heißt: Für die
Entsorgungsfrage sollen weiterhin allein die sozialdemokratisch regierten Länder Niedersachsen und
Nordrhein-Westfalen zuständig sein. Eine solche Position nach dem Motto „Wasch mir das Fell, aber
mach mich nicht nass“ ist scheinheilig.
({2})
Wenn man davon ausgeht, dass diese politische Zweigleisigkeit hinlänglich bekannt ist, dann schockiert diejenigen, die sich mit dem Thema intensiv auseinander setzen, nur noch die Permanenz und die Penetranz, mit der
Sie diese Art von Politik kontinuierlich Jahr und Tag weiter fortführen.
Die Debatte um die Situation in Gorleben zwischen
1990 und 1994 hat im Grunde zwei Elemente. Das eine
Element ist: Sie hat die Menschen nicht nur in der Region,
sondern all diejenigen, die sich intensiv mit der Frage der
Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte auseinander
gesetzt haben, dazu gebracht, nicht mehr nach dem Motto
zu diskutieren: Hier haben wir eine stets vorhandene
Energiequelle. Vielmehr befasst sich die Diskussion seitdem mit den Fragen: Was tun wir uns an? Was tun wir den
nachfolgenden Generationen an? Was bedeutet eigentlich
eine Endlagerung? Was bedeutet der atomare Müll für die
Zukunft? Wir sind mit unseren Möglichkeiten, einen Konsens zu finden, heute wesentlich weiter, als Sie es sich damals, während Ihrer Regierungszeit, 1990, 1991, 1992,
1993, 1994 in Ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen
können.
({3})
Das zweite Element ist: Die Entscheidungen, die die
niedersächsische Landesregierung in diesen Jahren getroffen hat, haben in der Folgezeit deutlich gemacht, dass
sie Recht hatte. Ich erinnere an ein Zitat der damaligen
Umweltministerin Frau Merkel: „Beim Backen fällt irgendwann auch Backpulver daneben.“ Das sie dies im Zusammenhang mit der Undichtigkeit von Castorbehältern
gesagt hat, sprach gegen die Qualifikation der damaligen
Umweltministerin. Wenn ich mir überlege, was Herr Grill
eben alles von sich gegeben hat,
({4})
- Herr Grill, wenn der liebe Gott in der Lage wäre, selbst
Ihnen etwas mehr Intelligenz zu vermitteln, dann würden
Sie unter Umständen irgendwann lernen zuzuhören -,
({5})
dann erschüttert mich die Dreistigkeit, mit der Sie Rechtsfragen im Zusammenhang mit Gorleben diskutieren. Ich
komme aus Niedersachsen und habe mich in den letzten
Jahrzehnten gerade im Zusammenhang mit Rechtsfragen
sehr häufig auch mit Ihrer Person auseinander setzen müssen.
({6})
Das gehört aber sicher nicht in eine solche Debatte, so
wenig wie Ihre Zwischenrufe.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Fragen, die das
Gericht im Zusammenhang mit Geldforderungen des
Bundes an das Land Niedersachsen zu beantworten hat,
die eine Seite sind. Die andere Seite ist die Verantwortung, mit der das Land Niedersachsen in diesen Jahren
und auch heute noch mit dem Standort Gorleben und mit
den Sorgen und Nöten der Bevölkerung umgeht. Dass wir
nicht alles ganz falsch gemacht haben, hat das Wahlergebnis im Jahr 1998 gezeigt und speziell in Ihrem Wahlkreis, Herr Grill.
({7})
Sie haben damals die größte Ohrfeige bekommen, die
man politisch bekommen kann. Ich genieße das heute
noch, weil es mir klar macht, dass wir auf dem richtigen
Weg sind. Sicherheit für die Menschen hatte immer oberste Priorität für die Sozialdemokraten und die Grünen.
({8})
Dies wird auch die Prämisse unseres weiteren Handelns
sein. Das wird auch die Zukunft insofern bestimmen, als
wir unablässig und mit sehr viel Energie, wenn auch unter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten in den Konsensgesprächen, den Ausstieg aus der unseligen Energie,
nämlich der Kernenergie, erreichen werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({9})
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Axel Fischer
das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kollegin Griefahn, zu Ihrer Rede zwei Klarstellungen, die notwendig sind: Zum Ersten. Sie sind dem
Grunde nach zu Schadensersatzzahlungen verurteilt.
({0})
- Natürlich nicht Sie persönlich. - Die genaue Höhe dieser Zahlungen mag zwar strittig sein. Aber es wird auf jeden Fall ein zweistelliger Millionenbetrag sein. Das können Sie nicht von der Hand weisen. Sie können nicht so
tun, als sei das nichts Schlimmes. Das ist schon etwas Bedeutendes.
({1})
Zum Zweiten. In Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ist
ganz klar festgelegt, dass sich die vollziehende Gewalt an
Recht und Gesetz halten muss. Das gilt auch für Ihre Regierung, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie können sich
zwar darüber beschweren, was im Gesetz festgeschrieben
ist, und sagen: Das gefällt mir nicht. Aber Sie sind dafür
verantwortlich, dass die Gesetze eingehalten werden. Daran haben Sie sich zu halten. Das haben Sie nicht getan.
Das sollte man hier noch einmal klarstellen.
({2})
Lieber Herr Rexrodt, auch zu Ihnen noch ein Wort: Die
Sache in Niedersachsen geschah unter absoluter Mehrheit
der SPD. Das sollten wir nicht vergessen. Damit haben die
Grünen ausnahmsweise nichts zu tun. Deshalb sollten Sie
sich die Leute, denen Sie vor der Landtagswahl zuzwinkern, ein bisschen genauer anschauen.
({3})
Wie die bisherige Debatte gezeigt hat, besteht hier
keine Möglichkeit, eine ideologiefreie Diskussion über
die friedliche Nutzung der Kernenergie zu führen. Dies
liegt nicht zuletzt auch an dem teilweise diffusen
Informationsstand, auf dessen Basis nicht nur hier im
Haus, sondern vor allem auch in der Öffentlichkeit über
die verschiedenen Aspekte der Kernenergie diskutiert
wird.
Es war ja hautnah zu erleben, wie die Medien vor einigen Tagen den 14. Jahrestag des Reaktorunfalls von
Tschernobyl „abgefeiert“ haben: Von 30 000 bis zu
150 000 Opfern des Reaktorunfalls war in Zeitungen und
im Fernsehen die Rede. Das ist eine breite Spanne. In offiziellen Verlautbarungen wie zum Beispiel denen der
ideologisch unverdächtigen UN wird im Vergleich dazu
von nur 31 direkten Opfern des Reaktorunglücks ausgegangen. Ich sage das deshalb, um auch einmal in diesem
Hause auf die Diskrepanz zwischen dem Kenntnisstand
offizieller Quellen und dem der unabhängigen deutschen
Medien hinzuweisen. Es ist klar, dass angesichts solcher
Horrormeldungen der Massenmedien viele Bürger der
friedlichen Nutzung der Kernenergie kritisch gegenüberstehen.
({4})
Einige Bürger wenden sich sogar voll echter Besorgnis
an den Petitionsausschuss des Bundestages und fordern
die Stilllegung aller bestehenden deutschen Kernkraftwerke
({5})
wie auch die Verhinderung weiterer Forschungen über die
Nutzung radioaktiver Energiequellen oder das Verbot der
Inbetriebnahme neuer atomtechnischer Anlagen.
({6})
Die jetzige Bundesregierung vertritt einen ähnlichen
Standpunkt.
Monika Griefahn [SPD]: Dafür sind wir
gewählt worden!)
Aber das ist auch ein Zeichen dafür, wie wenig die Menschen über die Nutzung der Kernenergie informiert sind
und mit welchen Qualitätsproblemen der Konsument öffentlicher Berichterstattung in Deutschland zu kämpfen
hat.
({7})
Die heutige systematische Diffamierung eines modernen und eines der meistversprechenden Industrie- und
Forschungszweige der Welt kommt nicht von ungefähr;
vielmehr ist sie auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen
ideologischen Kampagne gegen die friedliche Nutzung
der Kernenergie.
({8})
Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich machen: Ich nenne als erstes Beispiel Atomtransporte. Sie
machen heute wieder Stimmung gegen Atomtransporte das wird auch über die Medien verbreitet - wegen angeblicher Gefährdungen des Begleitpersonals und der Bevölkerung durch solche Transporte.
({9})
Dabei stellt die Bundesregierung fest, lieber Herr
Fuhrmann, dass es bei keinem der bisherigen über 1 700
Transporten von bestrahlten Brennelementen zu einer
Freisetzung radioaktiver Stoffe oder einer Strahlenbelastung des Begleitpersonals oder der Bevölkerung gekommen ist.
({10})
Der hohe Sicherheitsstandard von Transportbehältern
und Zwischenlagern in Deutschland schließt eine unzulässige Freisetzung von Radioaktivität selbst nach
schwersten Unfällen aus. Eine Gefährdung für Gesundheit, Leben oder Umwelt kann daher nach Maßstäben der
praktischen Vernunft ausgeschlossen werden.
Ich nenne als zweites Beispiel die kerntechnische Forschung. Sie wollen die Forschung über die Nutzung radioaktiver Energiequellen abschaffen. Sie wollen die Beendigung der Nutzung von radioaktivem Material zur
Energieerzeugung und ein Verbot der Inbetriebnahme
neuer atomtechnischer Anlagen. Damit blockieren Sie,
lieber Herr Trittin, auch die Transmutationsforschung,
also die einzige sich derzeit abzeichnende Möglichkeit,
den hoch verstrahlten Atommüll so zu bearbeiten, dass der
verbleibende geringe Rest mit einer Halbwertszeit von
30 Jahren nicht nachfolgende Generationen belastet.
Wie wollen Sie denn den Atommüll beseitigen?
({11})
So wie es bislang aussieht, ausschließlich auf Kosten
zukünftiger Generationen - sollen die doch diese Probleme lösen! Sie sind sich anscheinend zu fein dafür. Es
ist Trittbrettfahrerverhalten, den preiswerten Strom aus
Kernkraftwerken über Jahrzehnte genossen zu haben und
weitere 30 Jahre davon profitieren zu wollen. Die mit der
Beseitigung der Abfälle einhergehenden Forschungs- und
Lagerkosten wollen Sie möglichst weit in die Zukunft
schieben. Das ist Ihr Stil. Von Nachhaltigkeit, das heißt
dauerhafter Tragfähigkeit, ist in Ihrer Politik schon vom
Ansatz her nichts zu finden. Es scheint Ihnen völlig egal
zu sein, dass wir Gorleben brauchen.
Auch an etwas anderes möchte ich an dieser Stelle erinnern, wenn Sie jetzt immer wieder über die Kernenergie
schimpfen: Man ist doch unter Ihrer Regierung mit wehenden Fahnen in die Atomenergie eingestiegen.
({12})
Ich nenne als drittes Beispiel die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Atom- und Kernphysik. Mit
Ihrer Forderung nach dem Ausstieg treffen Sie zum Beispiel die Krebsforschung und/oder die Fusionsforschung.
Die medizinische Forschung ist ohne die kern- und atomphysikalischen Forschungen nicht denkbar. Wir können
doch nicht ernsthaft die Beseitigung von Hirntumoren, die
Chemotherapien oder Ähnliches infrage stellen.
({13})
Wer will denn heute allen Ernstes darauf verzichten?
Menschen, die entsprechende Probleme haben, sind sehr
besorgt, wenn sie mitbekommen, was Sie vorhaben.
({14})
In der gesamten Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Kernenergie sollten deshalb ein fairer Umgang miteinander und eine ideologiefreie Diskussion
selbstverständlich werden. Dazu gehört auch, dass Fragen
beantwortet werden. Wie sieht es denn nun mit den
30 Millionen DM aus? Dazu würden wir gerne einmal
eine Antwort hören.
({15})
Ich hoffe, dass ein ideologiefreier Umgang mit diesem
Thema zum Wohle unserer Generation und kommender
Generationen zukünftig möglich wird.
({16})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wievielte
Große Anfrage zur Atomkraft ist das in dieser Legislaturperiode eigentlich? Die zweite, die dritte oder sogar die
vierte? Aus Oppositionszeiten weiß ich noch, wie viel Arbeit es bedeutet, Große Anfragen zu schreiben. Zu allen
anderen energiepolitischen Themen, die auf der Tagesordnung stehen, gab es keine einzige Große Anfrage;
({0})
nur zur Atomkraft haben Sie dieses Mittel benutzt.
Axel E. Fischer ({1})
Sie machen einen Veitstanz um die Atomkraft und fixieren Ihre Kraft im gesamten energiepolitischen Bereich
allein auf dieses Thema. Damit verabschieden Sie sich
von der energiepolitischen Debatte. Ich weiß nicht, ob Ihnen das überhaupt auffällt.
({2})
Ich war gestern mit einigen Kollegen auf einer Tagung
über die Kraft-Wärme-Kopplung. Das ist eine Technologie - 10 Prozent der Stromerzeugung kommt aus diesem Bereich -, die von dem Sofortausstieg aufgrund der
Liberalisierung, die Herr Rexrodt im letzten Jahr seiner
Amtszeit durchgeführt hat, bedroht ist. Wir sind immer
für den Wettbewerb gewesen. Dass Sie dieses Gesetzeswerk so dünn gestrickt haben - ohne Rücksicht auf Verluste und auf umweltfreundliche Technologien -, könnte
jetzt, wenn wir nicht handeln würden, zum entschädigungslosen Ausstieg aus 10 Prozent der Stromerzeugung
führen. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik, Herr Rexrodt.
({3})
Auf dieser Tagung waren Anlagenbauer und Anlagenbetreiber, Vertreter der Industrie mit hohem mittelständischen Anteil. Vertreten waren auch der energiepolitische
Sprecher der SPD, Herr Hirche und ich. Von der
CDU/CSU-Fraktion hatte keiner Zeit.
({4})
Sie mussten einen Mitarbeiter schicken. Dieser arme Mitarbeiter hat zwar gesagt: Ja, wir sind für die Kraft-WärmeKopplung; wir sehen auch die Probleme. Aber er hatte
nicht eine einzige Antwort auf die Fragen, wie diese umweltfreundliche Technologie vor dem entschädigungslosen Sofortausstieg, verursacht von Herrn Rexrodt und der
CDU, bewahrt werden kann.
({5})
Herr Rexrodt, wenn Sie die Grünen als Verweigerer bezeichnen, sage ich Ihnen Folgendes: Die Grünen sind für
erneuerbare Energien. Die Grünen sind für hocheffiziente
Nutzung der fossilen Energieträger, solange wir sie noch
brauchen. Die Grünen sind für Energieeinsparung. Die
Grünen sind für GuD-Kraftwerke. Die Grünen sind für
stärkere Wärmedämmung. Die Grünen sind für Niedrigenergiehäuser und für Nullenergiehäuser. Die Grünen
sind für Nullemissionsfabriken usw.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Ihre Energiepolitik, vor allen Dingen die Energiepolitik der CDU - denn Herr Hirche hat sich gestern in der Tat
sehr interessant in die Debatte eingeschaltet -, reduziert
sich im Augenblick lediglich auf die Verweigerung einer
gesellschaftlichen energiepolitischen Debatte.
Gestatten Sie jetzt
eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege
Rexrodt.
Frau Kollegin Hustedt,
ist Ihnen - erstens - bekannt, dass die Gesetze zur Liberalisierung des Strommarktes Ausnahmeregelungen
für den Fall vorsehen, dass Umweltaspekte, insbesondere
die Kraft-Wärme-Kopplung, eine Durchleitung von
Fremdstrom nicht geboten erscheinen lassen?
Wissen Sie zweitens, Frau Hustedt, dass KraftWärme-Kopplungsanlagen immer dann einen wirtschaftlichen Erfolg erzielen, wenn sie in Regionen etabliert sind, in denen ein echter Bedarf an Wärme und nicht
nur an Strom besteht,
({0})
aber nicht in solchen, in denen damit irgendwelchen Prestigegedanken von Stadtwerken oder wem auch immer
entsprochen werden sollte?
({1})
Ist Ihnen drittens bekannt, Frau Hustedt, dass das Gesetzeswerk zur Liberalisierung der Strommärkte bislang
zu einer durchschnittlichen Senkung der Strompreise
um mehr als 20 Prozent geführt hat, und zwar nicht nur in
der Industrie, sondern auch im Gewerbe und bei den Tarifkunden, und dass in den nächsten zwei Jahren eine
nochmalige Senkung der Strompreise um mindestens
15 Prozent zu erwarten ist?
Glauben Sie, Frau Hustedt, vor diesem Hintergrund
nicht - das ist meine Frage -, dass dieses Gesetzeswerk
mit umweltfreundlichen Aspekten und Ausnahmeregelungen insgesamt ein enormer Erfolg für die deutsche
Volkswirtschaft und die Verbraucher war?
({2})
Stehen bleiben, Herr Rexrodt! So ist nun einmal die Regel.
({0})
Zuerst zu Ihrer Frage, ob mir bekannt ist, dass bei der
Kraft-Wärme-Kopplung im Energiewirtschaftsgesetz ein
Recht zur Durchleitungsverweigerung - aus Gründen
des Schutzes - besteht. Das ist mir bekannt. Nur zeigt gerade das, wie dilettantisch Sie an diesem Gesetz gestrickt
haben.
({1})
Diese Regelung ist überhaupt nicht anwendbar, sie ist eine
reine Placebolösung, die keine einzige Kommune anwendet. Kein Bürgermeister kann sagen: Wir haben KraftWärme-Kopplungsanlagen; die Bürger überall um uns
herum dürfen den Strom frei wählen, nur in meiner Kommune verbiete ich das. - Das ist doch politisch überhaupt
nicht durchsetzbar und das wussten Sie auch.
({2})
Sie haben diese Regelung bewusst hineingeschrieben,
weil Sie keinen ernsthaften Schutz für die Kraft-WärmeKopplung wollten.
Zweitens. Sie haben behauptet - eigentlich sollten Sie
ja fragen, aber Sie haben behauptet -, es gebe kein Potenzial für Kraft-Wärme-Kopplung. Ich sage Ihnen Folgendes: Allein durch die Modernisierung der bestehenden
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen könnten wir mit dem
gleichen Wärmepotenzial doppelt so viel Strom produzieren, damit mehrere Atomkraftwerke CO2-frei abschalten
und gleichzeitig diesen Industriezweig erhalten. Wir
haben über das Wirtschaftsministerium mehrere Studien
in Auftrag gegeben. Das Wärmepotenzial der KraftWärme-Kopplung reicht mindestens für eine Verdopplung und noch weit darüber hinaus, weil es nämlich noch
große ungenutzte Potenziale dieser umweltfreundlichen
Technologie zur effektiven Nutzung fossiler Energieträger gibt, die bekanntlich endlich sind, insbesondere im
Bereich Industrie für die Prozesswärme und im Bereich
dezentraler Blockheizkraftwerke.
Das Potenzial ist vorhanden und diese Energie ist auch
wirtschaftlich. Warum aber ist sie im Augenblick sozusagen so in Schwierigkeiten? Das kann ich Ihnen auch sagen: Das hängt damit zusammen, dass wir hier aufgrund
Ihrer Art der Liberalisierung keinen echten, fairen Wettbewerb haben.
({3})
- Das verstehen Sie nicht, das weiß ich, denn Sie haben es
noch nie verstanden. Deshalb haben Sie es auch falsch gemacht.
Wir haben in Deutschland hohe Überkapazitäten an
Strom. Jetzt beginnt sozusagen im Wettbewerb das Abschleifen der Überkapazitäten. Das ist sehr gut so. Die
Frage ist nur, ob die Player dabei gleichberechtigt sind.
Das sind sie nicht. Auf der einen Seite haben wir die großen
Stromkonzerne, die jahrzehntelang überhöhte Preise genommen haben, auch von uns Bürgern, und ihre Kampfkassen auch aufgrund der von Ihnen geforderten Rückstellungen prall gefüllt haben. Auf der anderen Seite haben wir die Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen der
Industrie, die kein strategisches Interesse daran hat, Strom
zu erzeugen, und sofort ihre umweltverträglichen Anlagen abschaltet, wenn sie Dumpingstrom von den Stromkonzernen, der aus den Kampfkassen subventioniert wird,
angeboten bekommt.
({4})
Daneben gibt es außerdem die Stadtwerke, die ihre Gewinne während der Monopolzeiten für sinnvolle Zwecke
verwendet haben, beispielsweise für den ÖPNV oder
Freibäder.
Die von Ihnen durchgeführte Liberalisierung des
Marktes führt aber nun dazu, dass im Augenblick die umweltfreundlichste Technologie, die fossile, endliche Energieträger ersetzen kann, Schritt für Schritt vom Markt verschwindet. Wenn wir nicht eingreifen, wird diese als Ergebnis Ihrer Politik bald ganz vom Markt verschwunden
sein.
({5})
Sie hatten in Ihrer Frage noch nach einem weiteren
Teilaspekt gefragt, nämlich danach, ob ich wisse, dass die
Strompreise gesunken seien. Darauf antworte ich: Ich
weiß, dass die Strompreise gesunken sind: die von der Industrie verlangten um 20 Prozent, die von den Stadtwerken verlangten um 50 Prozent, die von den Bürgern verlangten um 5 bis 10 Prozent.
({6})
Das ist gut so. Deswegen waren auch wir immer dafür,
Wettbewerb im Energiebereich einzuführen, weil, wie
man sieht und wie vorhin schon gesagt wurde, die Monopole über Jahrzehnte überhöhte Preise genommen haben.
Diese Frage ist unter uns nie strittig gewesen.
Ich erinnere an Ihren Entwurf zum Energiewirtschaftsgesetz aus der letzten Legislaturperiode. In der Begründung ist - ich habe ihn nicht mit, ich kann ihn also nicht
wörtlich zitieren, aber ich weiß noch, was sinngemäß
drinsteht - ein Verweis auf das grüne Poolmodell enthalten, also auf unseren Vorschlag, wie die Liberalisierung
durchgeführt werden könnte. Sie haben in dieser Begründung eingestanden, dass dieses Poolmodell den intensivsten Wettbewerb bringen würde. So sieht der Sachverhalt
aus. Das heißt, wir sind immer für Wettbewerb gewesen,
aber haben zugleich gesagt, Wettbewerb muss mit Umweltschutz verbunden werden. Beides zusammen ist unser Ziel und muss umgesetzt werden.
({7})
Frau Kollegin, nachdem Sie jetzt gerade hemmungslos die Chance genutzt
haben, Ihre Redezeit auszuweiten, könnten Sie jetzt eine
zweite Chance dazu bekommen, wenn Sie eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Rexrodt zulassen.
({0})
Ich glaube, ich habe den Hinweis verstanden. Ich lasse sie
nicht zu.
({0})
- Herr Rexrodt, ich glaube nicht, dass ich feige bin. Ich
würde sie gerne zulassen, aber dann bekomme ich Ärger
mit dem Präsidium. Dennoch hat es eben Spaß gemacht.
Meine These ist: Ihre Politik, die einen Tanz um das
goldene Kalb Atomkraft darstellt, das schon lange nicht
mehr golden ist, sondern längst blechern ist
({1})
- „verrostet“, genau -, hindert Sie daran, aktuell in die
spannende Debatte über eine neue und moderne Energiepolitik einzusteigen.
({2})
Deshalb diskutieren wir heute wieder einmal über einen
Unteraspekt von Atomkraft, über Gorleben.
Was ist eigentlich die wahre Ursache für die Probleme
mit Gorleben? Die wahre Ursache ist doch, dass die Betreiber von Atomkraftwerken sowohl Gorleben als auch
die Wiederaufbereitung nur deswegen betrieben haben,
weil sie kein solides Entsorgungskonzept hatten. Sie
mussten nämlich nachweisen können, dass Gorleben ausreichend untersucht sei und die Wiederaufbereitung viel
teurer wäre und noch mehr Müll produziert hätte. Ansonsten hätten sie nämlich keinen Entsorgungsnachweis gehabt und dann hätte selbst eine CDU-Regierung die
Atomkraftwerke schließen müssen. Deshalb musste Gorleben ohne Rücksicht auf Verluste, ohne nach rechts und
links zu schauen und ohne ernst zu nehmende Kritik daran zuzulassen, weiterbetrieben werden.
Es ist zum Beispiel so, dass alle aktuellen Diskussionen über sichere Entsorgungskonzepte davon ausgehen,
dass die Rückholbarkeit gesichert sein muss. Menschen
sollten sich nicht anmaßen, darüber zu entscheiden, ob ein
Lager tatsächlich Zehntausende von Jahren sicher ist. Das
Lager muss deshalb das Kriterium der Rückholbarkeit für
den Fall erfüllen, dass wider Erwarten ein Problem auftaucht. Dieses Kriterium erfüllt zum Beispiel Gorleben
nicht.
({3})
Nur weil die laufende Untersuchung den Entsorgungsnachweis sichern konnte, brauchten solche Bedenken weder von der alten Bundesregierung noch von der Atomindustrie ernsthaft beachtet zu werden. Es ging ohne Rücksicht auf Menschenleben und ohne Rücksicht auf
Widerstände und Proteste vor Ort um eine Pro-Atom-Politik, die trotz ernst zu nehmender Kritik durchgesetzt
wurde.
({4})
Die Bundesregierung wird jetzt versuchen, diesen unsoliden Entsorgungsnachweis auf eine solide Basis zu
stellen, indem wir mit den Stromkonzernen darüber sprechen, dass der atomare Müll nicht sinnlos durch die Gegend transportiert wird. Er soll vielmehr in den
Atomkraftwerken zwischengelagert werden.
({5})
In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, dass
sich Stoiber auf einmal in der Anti-Atom-Bewegung gegen diese Zwischenlager wiederfindet. Ich kann dazu nur
sagen: Willkommen im Kreis derjenigen, die auf die Verstopfungsstrategie setzen. Ich glaube aber nicht, dass es
moralisch lange durchgehalten werden kann, im Land
Bayern die meisten Atomkraftwerke zu betreiben und
gleichzeitig zu sagen, dass man mit dem Müll, der über
Zehntausende von Jahren strahlt, nichts zu tun haben will,
dass er in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen gelagert werden soll.
Dieses Spiel machen wir nicht mit. Wir werden mit den
Stromkonzernen ein solides Entsorgungskonzept erarbeiten, obwohl das wahrlich nicht unsere Aufgabe ist; denn
die Grünen - das muss ja wohl jeder einsehen - sind
diejenigen, die überhaupt keine Schuld daran tragen, dass
wir uns jetzt in dieser Misere befinden und nicht wissen,
wohin mit den vielen Tonnen von Atommüll.
Danke schön.
({6})
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt-Dieter Grill.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es war schon ganz interessant zu beobachten, dass diejenigen, die seitens der
Koalition und der Bundesregierung hier geredet haben,
zum eigentlichen Kern der Großen Anfrage und dem darin
angesprochenen Problem bis auf ein paar wenige Sätze
gar nichts gesagt haben - im Gegenteil.
({0})
Frau Griefahn, Sie haben sogar noch den Versuch gemacht, uns zu erklären, dass das, was von Ihnen veranstaltet wurde und was dokumentiert wurde, von Frau
Merkel verursacht worden sei. Sie haben es so dargestellt,
als seien Sie sozusagen in den Rechtsbruch getrieben worden. Was für eine geradezu abwegige Schilderung!
Frau Hustedt, Sie sind eigentlich intelligent genug, um
hier nicht das Argument vorzutragen - ich weise diesen
Vorwurf mit aller Schärfe zurück -, wir würden unsere
Politik ohne Rücksicht auf Menschenleben machen. Ich
fordere Sie auf, sich dafür zu entschuldigen.
({1})
Wenn Sie der alten Koalition Unfähigkeit vorwerfen,
dann müssen Sie den Menschen an den dezentralen Zwischenlagerstandorten, die Sie jetzt so preisen, einmal erklären, warum Sie für diesen Bau das Muster von Gorleben und Ahaus verwenden. Egal, ob Sie Fuhrmann,
Kubatschka oder wie auch immer heißen: Sie können
nicht behaupten, dass die CDU/CSU für alles verantwortlich ist, was im Zusammenhang mit Gorleben geschieht.
Darf ich Sie daran erinnern, dass etwa die SPD im niedersächsischen Landtag Ernst Albrecht in die Parade gefahren ist, indem sie gesagt hat: Du kannst dich nicht mit
den fünf niedersächsischen Kernkraftwerken schmücken;
vier davon haben wir genehmigt. - 80 Prozent der Kernkraftwerke in Deutschland sind zurzeit der SPD-Regierung entstanden.
({2})
Alles, was in Deutschland im Hinblick auf die Entsorgung
errichtet wurde, Frau Griefahn - ob in Gorleben oder
Ahaus -, ist die Folge einstimmiger Beschlüsse des Bundes und der Länder.
Sie haben als niedersächsische Umweltministerin im
August 1990 durch Ihren Staatssekretär Bull und durch
Ihren Ministerpräsidenten einem Beschluss - es war ein
einstimmiger Beschluss, mit Gerhard Schröder auf
Wunsch von Johannes Rau - zugestimmt, in dem steht:
Der Bund wird aufgefordert, schnellstmöglich ein Endlager für nicht Wärme entwickelnde Abfälle zu bauen nicht zu planen, sondern zu bauen.
Konrad ist doch nur „im Geschäft“, weil der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Stahl den Arbeitsplätzen in Konrad den Vorzug gegeben hat. Das ist doch
die Wahrheit! Sie haben weder ein moralisches noch sonstiges Recht, sich hier hinzustellen und Ihre politische
Agitation gegen die Kernenergie als Rechtfertigung für
den Rechtsbruch zu missbrauchen. Das stimmt doch
vorne und hinten nicht.
Im Übrigen kann ich, was die Frage einer modernen
Energiepolitik angeht, nur sagen: Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die bis zur letzten Sitzung der Steuerungsgruppe am Energiedialog der Bundesregierung nicht
teilgenommen hat. Wir haben am Tisch gesessen, Sie
nicht. Sie haben Ihren eigenen Minister im Stich gelassen.
Das alles trägt im Grunde genommen überhaupt nicht.
Der Bundesumweltminister hat hier - lieber Herr
Trittin, das ist Ihnen ja eigen - sozusagen das Verhalten
eines Brandstifters an den Tag gelegt, der anschließend
auch noch Feuerwehr spielen will. So wie Sie hier argumentiert haben, hält das einer Prüfung überhaupt nicht
stand.
({3})
Sie haben Atommüll ins Ausland verschoben. Darf ich
Sie daran erinnern, dass die Altverträge, die ersten völkerrechtlich verbindlichen Verträge unter der Regierung
Helmut Schmidt entstanden sind? Das ist doch das, wogegen Sie zu Felde gezogen sind. Sie haben die Leute auf
die Straße getrieben und beschweren sich hier über die
Polizeikosten.
({4})
Im Übrigen sind die 100 Millionen DM genauso falsch
wie die 50 Millionen, die der erste Transport gekostet haben soll. Im niedersächsischen Landeshaushalt steht, was
der erste Polizeieinsatz gekostet hat: nicht die öffentlich
diskutierten 40 Millionen DM, sondern 7 Millionen DM.
Um auf 100 Millionen DM zu kommen, müsste der eingesetzte Polizist - und so wird es veranschlagt und gerechnet - 120 DM pro Stunde verdienen. Gehen Sie mal
raus und sagen den Polizisten, für sie würden 120 DM pro
Stunde veranschlagt. Die würden sich bedanken; denn das
steht nun wirklich nicht mir ihren Gehältern in Einklang.
Darüber hinaus, Herr Kollege Fuhrmann, will ich Sie
darauf aufmerksam machen, dass Ihre Genossen in
Lüchow-Danneberg gerade umlernen. Die haben begriffen, dass sie jetzt eine andere Bundesregierung haben. Sie
haben nämlich in der letzten Kreistagssitzung gesagt, sie
könnten wohl nicht mehr so gegen die Transporte marschieren, weil das jetzt ihre Bundesregierung sei. Eine erstaunliche Erkenntnis!
({5})
Wenn Herr Trittin Kokillen aus Frankreich nach Gorleben
schickt, dann sind das Transporte, die anständig und sicher sind. Sie waren nur unanständig und unsicher,
({6})
solange Frau Merkel Bundesumweltministerin war. Das
ist die Logik Ihrer Argumente.
({7})
Frau Griefahn, Ihr Auftritt war wirklich peinlich, unglaublich:
({8})
Sie haben sich hier hingestellt und den Unfall im Schacht
als Anlass und Begründung für Ihre Rechtsbrüche genommen.
({9})
Sie waren zu der Zeit, als der Unfall passiert ist, gar
nicht im Amt. Der Unfall ist 1987 passiert. Die zwei
Jahre Stillstandszeit zur Überprüfung des Salzstockes
Gorleben haben Werner Remmers als Umweltminister von Niedersachsen - CDU - und Klaus Töpfer als
Bundesumweltminister - ebenfalls CDU - veranlasst.
Erst 1989 haben wir die Erkundung wieder aufgenommen.
({10})
Es ist unglaublich, dass Sie sich hier hinstellen und mit einem Toten aus einem Bergunfall, der mit Kerntechnik gar
nichts zu tun hat, Ihre Rechtsbrüche rechtfertigen. Das ist
der Punkt, über den wir reden.
({11})
Herr Kollege Grill,
Ihre Redezeit ist abgelaufen, aber Frau Griefahn möchte
Ihnen gern eine Frage stellen. Ich gebe Ihnen gern Gelegenheit, sie zu beantworten.
Es wird mir eine
Freude sein.
({0})
Herr Grill, in dem Moment,
in dem es Risse im Schacht gibt und dadurch die Standsicherheit zumindest gefährdet sein kann: Finden Sie es
nicht angemessen, das überprüfen zu lassen, damit nicht
ein weiterer Unfall passiert? Ist das nicht unabhängig
davon, ob ich im Amt war oder nicht? Ist das nicht meine
Fürsorgepflicht, Herr Grill?
({0})
Frau Ganseforth, die
Intelligenz der Zwischenrufe wächst nicht mit der Lautstärke.
({0})
- Ich habe mir in den letzten 20 Minuten von diesem Pult
aus einiges anhören müssen.
Frau Kollegin Griefahn, Sie haben Recht, man muss
das alles prüfen. Nur, als Sie im Amt waren, war das alles
geprüft. Das ist der Punkt. Das heißt, der Unfall von 1987
kann doch nicht die Rechtfertigung für den Rechtsbruch
1990, 1991, 1992 und 1993 sein. Das war auch damals
nicht die Begründung. Diese Begründung schieben Sie
erst heute nach.
({1})
Ich will Ihnen zum Schluss, weil Sie sich hier immer
hinstellen und sagen, wir hätten keinen Energiekonsens
gewollt, Folgendes sagen: Alle Versuche, mit Gerhard
Schröder einen Energiekonsens herzustellen, sind nicht
an der Union gescheitert sind, sondern an der Tatsache,
dass Gerhard Schröder 1993 und 1997 für das, was er mit
der Union, mit Frau Merkel und Herrn Töpfer, verhandelt
hat, in seiner eigenen Partei keine Mehrheit hatte.
({2})
Deswegen brauchen Sie bei uns auch nicht nachzufragen.
Wenn Sie einen ernsthaften Konsens wollen, laden Sie
uns dazu ein. Aber Sie möchten Ihre Energiepolitik lieber
alleine machen, so sieht es jedenfalls zurzeit aus.
({3})
Nunmehr hat der
Kollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf
die heutige Debatte mit einer Rede vorbereitet, die ich
jetzt leider nicht halten kann; denn man muss einigen
Fouls, die hier von der rechten Seite begangen wurden,
begegnen.
({0})
Herr Kollege Grill, durch Wiederholungen werden Ihre
Legenden nicht wahrer.
({1})
Sie versuchen permanent, Legenden zu bilden. Außerdem
betreiben Sie eine rückwärts gewandte Politik.
({2})
Ich gebe zu: Es ist geschichtliche Wahrheit, dass auch
die Regierung Schmidt auf Kernenergie gesetzt hat. Auch
die Sozialdemokratie in den 50er- und 60er-Jahren hat
auf Kernenergie gesetzt. Das ist angesichts dessen, was
uns die Wissenschaft damals versprochen hat, auch verständlich.
({3})
Die Wissenschaft hat uns damals eine Welt ohne Energieprobleme versprochen. Darauf ist die Politik hereingefallen.
Außerdem hat Herr Minister Trittin überhaupt nicht davon gesprochen, dass Atommüll ins Ausland verschoben
wird. Auch das ist wieder Legendenbildung. Aber Ihre
Legenden sind geplatzt wie Seifenblasen.
Herr Rexrodt, ich war sehr verwundert, dass Sie plötzlich über Kernenergie gesprochen haben. Genauso verwundert war ich, dass Ihre Fachpolitiker aus dem Ausschuss für Umwelt nicht da sind. Am Ende Ihrer Rede
wusste ich, warum sie nicht da sind. Sie hätten sich zu
Tode geschämt,
({4})
denn Sie haben überhaupt keine Ahnung von Kernenergie. Wenn Sie in der Schule in der sechsten Klasse zu diesem Thema diesen Vortrag gehalten hätten, hätte die Lehrerin gesagt: Setzen, Sechs! Sie haben nämlich völlig das
Thema verfehlt.
Außerdem möchte ich Ihnen in Erdkunde etwas weiterhelfen. Gorleben liegt in Niedersachsen und nicht in
Nordrhein-Westfalen oder China. Aber diese Probleme
haben Sie aufgegriffen.
({5})
- Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage; die Chance,
sie zu beantworten, hätte ich gerne.
Sie haben behauptet, der Salzstock Gorleben sei
250 Millionen Jahre stabil gewesen. - Es hat aber Zweifel an der Stabilität gegeben, weil Risse aufgetreten sind.
Deshalb ist diese Stabilität kritisch zu hinterfragen, deshalb hat man mit Erkundungen begonnen.
Jetzt noch zu Herrn Kollegen Fischer: Er hat von einer
viel versprechenden Technik gesprochen. Wenn Sie das in
den 50er- und 60er-Jahren gesagt hätten, hätten Sie dafür
Beifall bekommen. Auf diese Illusionen sind wir damals
hereingefallen, auch ich als Student. Und weil Sie immer
von „Ideologie“ sprechen: Harrisburg war keine Ideologie, Tschernobyl war keine Ideologie und auch Tokaimura
war keine Ideologie.
({6})
Ein hochtechnisches Land wie Japan rührt eine Atombombe in Stahleimern zusammen. Das beweist doch nur:
Selbst ein Land wie Japan kann mit einer solchen Technik
nicht umgehen.
({7})
- Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage!
Außerdem haben Sie anscheinend noch nicht mitbekommen, dass die deutsche Industrie aus dieser Technologie ausgestiegen ist. Seit den 80er-Jahren gibt es keine
Bestellungen von Kernkraftwerken in Deutschland mehr.
({8})
- Herr Kollege, Sie haben bis vor kurzem regiert. Also
hätten Sie es versaut. Leider haben Sie das nicht, denn Sie
versuchen, diese rückwärts gewandte Technik fortzuführen.
({9})
Außerdem ist doch, wie gesagt, die Industrie in
Deutschland längst ausgestiegen. Siemens arbeitet mit
französischen Unternehmen zusammen. Es gibt keinen
deutschen Hersteller mehr.
({10})
Sie kämpfen also für eine völlig falsche Sache. Die Kernenergie ist die Technik des letzten und nicht die des kommenden Jahrhunderts.
({11})
Ich bitte Sie um Folgendes: Gehen Sie einmal in die Bibliothek des Deutschen Bundestages und informieren Sie
sich in Fachbüchern über die verbleibenden Reserven an
Uran. Dann werden Sie mit Erstaunen feststellen, dass
die verbliebenen Mengen an Uran nicht länger zur Verfügung stehen, als dies vergleichsweise beim Erdöl und
beim Erdgas der Fall ist. Die Kernenergie ist eine Technik, die von einem begrenzten Rohstoff ausgeht. Deswegen haben wir auf zukünftige Technologien gesetzt.
Nun möchte ich aber doch ganz kurz auf die vorliegenden Petitionen eingehen. Ich halte es für richtig, dass
diese Petitionen der Bundesregierung als Material und
den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen werden. Ich
halte nicht alle Forderungen der Petition Hufnagel für
richtig. Einige sind aber bereits erfüllt worden. Ich
möchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Die Förderung
umweltfreundlicher regenerativer Energien wurde
durch die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht. Wir haben die entscheidenden Gesetze beschlossen, die besser wirken, als
wir uns das vorgestellt haben. Das ist ein Erfolg.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefreut hat mich die
Petition der Klasse 6 der Grund- und Hauptschule mit
Werkrealschule Waldburg.
({13})
- Auf dieses Niveau, Herr Rexrodt, habe ich Sie gestellt.
Mit Ihren Kenntnissen wären Sie in dieser Klasse durchgefallen. - Es freut mich, dass sich junge Menschen mit
ihrer Zukunft auseinander setzen. Dies ist in der Begründung des Petitionsausschusses sehr schön formuliert. Ich
möchte aus dieser Begründung zitieren:
Der Petitionsausschuss unterstützt das Anliegen. Er
freut sich, dass sich Jugendliche für eine sichere Zukunft einsetzen und sich mit ihren Forderungen an
das Parlament gewandt haben. Sie unterstützen damit
das Bemühen und den Wunsch vieler Menschen, in
einer intakten Umwelt zu leben und den eigenen
Nachkommen die Erde wohlbehalten zu überlassen.
Der Ausschuss wünscht sich und den Jugendlichen,
dass sie in ihrem Engagement nicht nachlassen.
({14})
Ich halte das für eine gute Begründung. Ich möchte die
jungen Menschen ermutigen, sich mit ihren Forderungen
an das Parlament zu wenden, damit wir uns mit ihnen auseinander setzen können. Noch einmal herzlichen Glückwunsch, dass diese Klasse so erfolgreich war.
Ein etwas bitterer Nachgeschmack ist dennoch vorhanden: Diesen jungen Menschen hinterlassen wir ein
sehr schweres Erbe. Denn sie müssen die Probleme der
Endablagerung lösen. Wir haben zwar eine Technik auf
den Weg gebracht, überlassen es aber der nächsten und
übernächsten Generation, die Probleme dieser Technik zu
lösen. Das ist eine sehr schwere Hypothek für die kommenden Generationen.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem Gutachten 2000 des Umweltrates zitieren:
Der Umweltrat hält insbesondere wegen der in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine
weitere Nutzung der Atomenergie für nicht vertretbar.
Das ist das Entscheidende: Dieses Problem ist nirgendwo
auf der Welt gelöst. Selbst die größten Atomfreaks in
Frankreich haben dafür keine Lösung.
({15})
Wir belasten zukünftige Generationen. Deswegen ist der
Ausstieg aus der Kernenergie notwendig und richtig.
Denn damit begrenzen wir dieses Problem.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({16})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, zunächst zur Sammelübersicht 31 auf
Drucksache 14/564. Dazu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3296? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 31 ist mit der gleichen
Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Sammelübersicht 69 auf Drucksache
14/1562. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU vor. Über ihn stimmen wir jetzt
ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3297? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis
90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Die Sammelübersicht 69 ist mit der gleichen Mehrheit
angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften
({0})
- Drucksache 14/2530 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 14/3194 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen gibt
es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der
Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea Fischer,
das Wort.
({3})
- Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die den weiteren Beratungen nicht beiwohnen möchten, bitten, den
Raum zu verlassen. - Ich bitte nunmehr um Ihre Aufmerksamkeit für die Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn
hier immer ein Kommen und Gehen ist, wenn das Thema
wechselt: Ein bisschen symptomatisch für das Thema ist
das schon. „Seuchenrechtsneuordnungsgesetz“ klingt in
der Tat so, dass man gerne stiften gehen möchte.
({0})
Das ist das Schicksal des Gesetzes, obwohl man, wie ich
finde, gar nicht hoch genug einschätzen kann, was wir
heute hier vorliegen haben und hoffentlich auch verabschieden werden. Ich glaube, dass das ein wirklich großer
Schritt ist.
Um es auch für diejenigen nachvollziehbar zu machen,
warum das wichtig ist, die nicht täglich mit diesen Fragen
befasst sind, führe ich den Fall des Mannes an, der letztes
Jahr aus Afrika mit einer sehr schweren Infektionskrankheit zurückkam. Manches von dem, was da geschehen ist, hat quasi die Regelungen vorweggenommen, die
in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Daran kann
man, so glaube ich, erkennen, wie wichtig es ist.
Es geht darum, den Schutz der Bevölkerung auf einem Gebiet, das für uns in den nächsten Jahren eher wichtiger werden wird, nämlich bei Infektionskrankheiten,
zu erhöhen sowie Vorbeugung zu betreiben und Vorsorge
dafür zu treffen.
({1})
Bei diesen spektakulären Fällen wird dann auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema gelenkt.
Aber man sollte es noch einmal sagen: Krankheitserreger
sind bei der Entstehung von sehr vielen Krankheiten
beteiligt. Wir gehen davon aus, dass etwa 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen und Behandlungen mit Infektionskrankheiten zusammenhängen. Damit ist das wirklich ein
bedeutsamer Faktor für die Gesundheitsversorgung und
den Umgang damit.
Viele Infektionskrankheiten werden wir nicht - was ein
alter Traum ist - endgültig ausrotten können; zumindest
können wir das zurzeit nicht. Aber wir können die Infektionen damit vermeiden. Das geht vor allen Dingen durch
Schutzimpfungen - wie gegen Masern, Diphtherie, Hepatitis B oder Kinderlähmung - sowie durch andere Formen von Vorsorge, durch Früherkennung, Aufklärung
über Ansteckungsgefahren und gezielte Maßnahmen der
Gesundheitsbehörden. Das alles steckt in dieser Gesetzesänderung drin.
Voraussetzung dafür, dass das möglich wird, ist eine
gezielte Krankheitsüberwachung. In den 70er-Jahren unterlag man der, wie wir heute wissen, Fehleinschätzung,
dass Infektionskrankheiten zurückgehen und Seuchen
überhaupt keine Rolle mehr spielen würden. Das hat dazu
geführt, dass man den Instrumenten, die zur Verfügung
stehen, um Vorbeugung zu betreiben und die Gefahren zu
bekämpfen, immer weniger Aufmerksamkeit widmete. Es
hat auch dazu geführt, dass man den öffentlichen Gesundheitsdienst vernachlässigt und ihn nicht weiterentwickelt hat. All diese Mängel wollen wir mit diesem Gesetz beseitigen.
Wir modernisieren sehr umfassend ein Seuchenrecht,
das weitestgehend aus den 50er- und 60er-Jahren stammt.
An dem Punkt sind sich, wenn ich recht informiert bin,
alle Parteien und auch Bund und Länder einig, bei allen
Unterschieden, die wir gegebenenfalls im Detail haben.
Ich will hier ausdrücklich sagen: Dieses Gesetz baut auf
langjährigen Vorarbeiten aus der letzten Legislaturperiode auf, wofür ich ausdrücklich meinem Vorgänger und
der ehemaligen Staatssekretärin Bergmann-Pohl danken
möchte.
({2})
Selbstverständlich möchte ich mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgesundheitsministeriums bedanken. Ich glaube, dazu haben wir allen
Grund; denn sie haben viele Jahre Arbeit investiert.
({3})
Lassen Sie mich die wesentlichen Ziele dieses Gesetzentwurfes zusammenfassen: Erstens. Wir wollen die Vorbeugung, die Prävention stärken. Dafür soll etwas ausgebaut werden, was einen fast so schwierigen Namen hat
wie der Gesetzentwurf selber, nämlich die Infektionsepidemiologie. Wir wollen also unseren Kenntnisstand darüber erweitern, wie groß das Problem ist, wen es betrifft
und wo die Gefahren liegen.
Zweitens wollen wir den öffentlichen Gesundheitsdienst so verändern - ich habe gerade gesagt, dass hier ein
Versäumnis der letzten Jahre vorliegt -, dass er seinen bedeutsamen Aufgaben besser nachkommen kann.
Voraussetzung dafür ist, das Meldesystem für übertragbare Krankheiten neu zu strukturieren und den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Wir wissen inzwischen, aufbauend auf den Erfahrungen mit der Krankheit
Aids, die im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet worden sind - das wird in dieser Debatte sicher noch eine
Rolle spielen -, wie bedeutsam es ist, dass wir neu auftretende übertragbare Krankheiten und Krankheitserreger
erfassen können.
Das Robert Koch-Institut spielt dabei eine wichtige
Rolle; denn dort sollen die Koordinierung der Datenaufbereitung und die Analyse erfolgen, natürlich in enger Abstimmung mit den Ländern. Es soll auch ein Knotenpunkt
bei der Beratung sein, wie diese Erkenntnisse umgesetzt
werden können.
Neben der Erweiterung unseres Wissens- und Kenntnisstandes kommt auch der Aufklärung über die Verhütung von Infektionsgefahren eine wichtige Rolle zu. Wir
haben den öffentlichen Gesundheitsdienst im Gesetzentwurf dazu verpflichtet, diese Aufgabe wahrzunehmen.
Bei den sexuell übertragbaren Krankheiten und der Tuberkulose soll den Gesundheitsämtern im Einzelfall sogar
die Behandlungsbefugnis eingeräumt werden. Auch in die
neuen Vorschriften zur Prävention von Geschlechtskrankheiten und zur Rolle der öffentlichen Gesundheitsdienste
haben sehr stark die Erfahrungen aus dem Umgang mit
Aids Eingang gefunden.
Es gibt auch veränderte Vorschriften, was die Infektionsverhütung in Krankenhäusern und die Überwachung
medizinischer und sonstiger Einrichtungen, bei denen die
Gefahr der Übertragung von Krankheitserregern besteht,
anbelangt.
Dass der öffentliche Gesundheitsdienst tatsächlich eine
so wichtige Rolle spielen kann, setzt voraus, dass er von
uns dafür besser instand gesetzt wird. Dazu gehört, dass
er von überflüssigen Aufgaben, die ihm in der Vergangenheit zugekommen sind, befreit werden muss, indem
man zum Beispiel überflüssige Routineuntersuchungen
wegfallen lässt. Er soll sich auf die wichtigen Aufgaben
konzentrieren können. Zudem setzen wir sehr stark auf
die Eigenverantwortung der Personen; denn wir verlangen von ihnen, dass sie auf die Aufklärung reagieren und
ihr Verhalten entsprechend ändern.
In den Beratungen des Bundestages zu diesem Gesetz
haben wir bereits die allermeisten Vorschläge des Bundesrates aufgegriffen. Es wurden auch viele Vorschläge
aus den Fraktionen, und zwar nicht nur aus den Regierungsfraktionen, übernommen. Für diese konstruktive
Beratung möchte ich mich ausdrücklich beim Ausschuss
für Gesundheit bedanken. Ich denke, dass wir in strittigen
Punkten gute Kompromisse erzielt haben,
({4})
so zum Beispiel bei der Frage der Beibehaltung der namentlichen Meldepflicht für Hepatitis-C-Infizierte. Hier
haben wir meines Erachtens einen Weg gefunden, der
ebenso den Interessen der Betroffenen wie der Notwendigkeit gerecht wird, über die Verbreitung dieser Infektionskrankheit zu informieren.
Vor dem Hintergrund der langen und ausgiebigen Beratung und der vielen Arbeit bitte ich alle Fraktionen um
Zustimmung. Ich appelliere auch an die Bundesländer, die
zügige Verabschiedung dieses Gesetzes zu unterstützen.
Ich glaube, es ist höchste Zeit für die Modernisierung des
Seuchenrechts. Wir haben hier eine hinreichend große gemeinsame Grundlage dafür, in diesem Bereich entscheidend voranzukommen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht bei
allen Beteiligten Einigkeit: Wir brauchen das neue Infektionsschutzgesetz mehr denn je. Nach Schätzungen des
Bundesgesundheitsministeriums sind - das haben wir
schon gehört - infektiös verursachte Krankheiten mit einem Anteil von 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen und
Behandlungen ein erheblicher Kostenfaktor in der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Deutschland. Diese Schätzungen werden auch ungefähr stimmen. Aber wenn man versucht, die tatsächlichen Kosten
in DM oder Euro herauszufinden, muss man plötzlich mit
Erstaunen feststellen, dass beispielsweise weder der
AOK-Bundesverband noch der VdAK, noch die KVen
oder die KBV ansatzweise über Zahlen zu den von den Infektionserkrankungen verursachten Kosten verfügen.
Übrigens nur nebenbei bemerkt: Das beweist, Budgets
können nur undifferenziert zu Rationierungen führen,
wenn keiner Kenntnis von differenzierten Kostenstrukturen hat.
({0})
Wir stehen vor ernsthaften epidemiologischen Problemen. Weltweit sind in den vergangenen 20 Jahren mehr
als 30 neue, oft tödlich verlaufende Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel Aids oder Ebola, bekannt geworden. Gerade durch die zunehmende Mobilität und Migration der Menschen müssen wir unser Augenmerk auf
diesen Problembereich richten.
Millionen Deutscher verbringen ihren wohlverdienten
Urlaub im Ausland. Allein 50 Millionen Auslandsreisen
zählte der Deutsche Reisebüro-Verband 1998. Für viele
dieser Auslandsreisen werden infektionsprophylaktische
Maßnahmen empfohlen, beispielsweise für Malaria. Seit
1996 hat es laut Robert Koch-Institut in Deutschland jedes Jahr etwa 1 000 eingeschleppte Malaria-Erkrankungen gegeben. 1998 wurden 20 Malaria-Todesfälle gemeldet. 57 Prozent der Erkrankten hatten nach Angaben des
Robert Koch-Instituts überhaupt keine Chemoprophylaxe
vorgenommen. Jeder 350. Tropenheimkehrer leidet nach
der Rückkehr an Hepatitis.
Dass es sich dabei nicht allein um ein epidemiologisches, sondern auch um ein wirtschaftliches Problem handelt, zeigt die Tatsache, dass 3 Prozent aller Fernreisenden
von ihrer Reise arbeitsunfähig zurückkehren. Der Anstieg
von Last-Minute-Fernreisen führt wegen unzureichender
präventiver Maßnahmen zu einer gefährlichen Art von
Mobilität. Aber es liegt auch an jedem Einzelnen. Viele
Erkrankungen und damit Kosten sind jedenfalls durch ein
gehöriges Maß an Eigenvorsorge und Prävention vermeidbar.
({1})
Aber auch die Öffnung Europas in Richtung osteuropäische Staaten, vor allem Russland, wird uns in Zukunft vor erhebliche Herausforderungen stellen. Dort treten vermehrt Fälle von multiresistenter Tuberkulose auf.
1990 lagen zum Beispiel die Tuberkulose-Neuerkrankungen in Russland bei 34 je 100 000 Einwohner; bis zum
Jahre 1997 sind sie auf über 82 je 100 000 Einwohner gestiegen. Nur zum Vergleich: Bei uns liegt die Zahl bei
9,6 je 100 000 Einwohner, bei den in Deutschland lebenden Ausländern jedoch bei 44. In Teilen Russlands erreicht die primäre Medikamentenresistenz nahezu 30 Prozent. Doch auch die Tatsache, dass viele bekannte Erreger
Resistenzen gegen bislang wirksame Mittel, vor allem
Antibiotika, zeigen, bereitet uns erhebliche Sorgen.
Das in den Grundzügen aus dem Jahr 1961 stammende
Bundes- Seuchengesetz sowie das auf eine Vielzahl von
weiteren Gesetzen und Verordnungen verteilte Seuchenrecht bieten keine zeitgemäße Handhabe mehr. Das liegt
vor allem auch daran, dass auf der bisherigen Basis keine
verlässlichen Daten erhoben werden können, die Rückschlüsse auf die Verteilung bestimmter Erkrankungen auf
Bevölkerungsgruppen oder bestimmte Personenkreise zulassen.
Epidemiologisch gesehen, ist Deutschland ein Entwicklungsland. Es ist schon peinlich, dass eine Masernepidemie in Mittelfranken statt von deutschen Behörden
zuerst von amerikanischen Wissenschaftlern in Atlanta
entdeckt wurde. Aufmerksam wurden die Amerikaner
durch die Erfassung von aus Deutschland zurückgekehrten amerikanischen Touristen.
Das zeigt: Nur auf einer soliden epidemiologischen
Basis mit funktionierenden Meldewegen kann eine verlässliche Prävention und eine effiziente Bekämpfung von
Infektionskrankheiten erfolgen. Das Robert Koch-Institut erhält deshalb durch das Gesetz eine Schlüsselfunktion. Es wird durch länderübergreifende Koordinierung
ein epidemiologisches Netz auf Bundesebene aufgebaut
und am europäischen Netzwerk beteiligt. Wie die konkreten Meldewege und auch der Rückfluss von Informationen, zum Beispiel durch Erarbeitung von Falldefinitionen, aussehen sollen, wird geregelt.
Mir ist ganz wichtig, dass von der Bundesregierung die
erforderlichen zusätzlichen Personal- und Finanzmittel
für die neuen Aufgaben des Robert Koch-Instituts bereitgestellt werden. Nur so kann eine wirksame Epidemiologie aufgebaut und kann auf bedenkliche Entwicklungen
reagiert werden.
Ein solches epidemiologisches Netz ist aber nur wirksam, wenn in den Ländern eine überschaubare und einheitliche Zuständigkeit besteht.
({2})
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme gefordert, die
Gesundheitsämter als Begriff zu eliminieren und durch
nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes
bestimmte Behörden zu ersetzen. Ich halte das für äußerst
problematisch.
({3})
Die bisherigen Gesundheitsämter haben sich vor allem
in Ihrer Struktur bewährt. Sie haben in der Vergangenheit
umfassende Aufgaben bei der Gefahrenabwehr für den
Einzelnen oder die Allgemeinheit wahrgenommen. In der
deutschen Bevölkerung ist der Begriff Gesundheitsamt
geläufig. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren,
dass mit einer Abschaffung des Begriffs eine Zergliederung und Einsparungen von personellen und sachlichen
Mitteln auf Landesebene einhergehen sollen. Deswegen
sollten die Gesundheitsämter nicht zerschlagen werden
und auch den politischen Einfluss durch die Länder sollte
es nicht geben.
Meine Damen und Herren, nach wissenschaftlichen
Untersuchungen erkranken hierzulande pro Jahr allein
500 000 Menschen an nosokomialen, also in Krankenhäusern oder durch medizinische Behandlung erworbenen Infektionen. Die Behandlungskosten werden auf
2,5 bis 3 Milliarden DM geschätzt. Ein Großteil dieser
Erkrankungs- und Todesfälle - man schätzt mindestens
175 000 - sind vermeidbar.
Deshalb ist eine Überwachung und statistische Erfassung von nosokomialen Infektionen sehr wichtig.
Wir sind uns aber mit den Experten einig, dass zusätzlich
zu den im Gesetz genannten Einrichtungen auch Pflegeeinrichtungen mit krankenhausähnlichem Charakter einbezogen werden müssen. Nur durch ein gezieltes Hygienemanagment mit entsprechenden Fachkräften und eine
gezielte Überwachung durch die Gesundheitsämter können diese Infektionsraten tatsächlich reduziert werden.
Die Regierungskoalition ist unseren diesbezüglichen Änderungsanträgen nicht gefolgt; ich bedauere das sehr.
Noch ein paar Worte zu den Ärzten: Die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen müssen praktisch realisierbar sein
und auf eine Akzeptanz der Risikogruppen und der damit
befassten Berufsgruppen treffen. Vor allem die Akzeptanz der Ärzte hinsichtlich Diagnostik und Meldung
führt zu verlässlichen epidemiologischen Zahlen, um bestimmte Gefahren frühzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Durch die Einführung der Laborpauschalen ist eine gegenläufige Entwicklung eingetreten. Untersuchungen auf
Diagnostik von Infektionskrankheiten sind um 50 Prozent
zurückgegangen, weil sie auf das Budget der Ärzte angerechnet wurden. Dies wurde jetzt zwar durch eine Reform
der Reform geändert, ob das aber den Zustand beseitigt,
müssen wir erst noch sehr genau beobachten.
Meine Damen und Herren, der Impfschutz hat bei der
Prävention nach wie vor seine Berechtigung. Ein Blick
auf die Kinderkrankheiten in unserem Land veranschaulicht die Notwendigkeit von Schutzimpfungen. In
Deutschland erkranken jährlich 50 000 Menschen an Masern. Als Ursache für diese hohe Inzidenz werden vor allem unbefriedigende Durchimpfungsraten angegeben.
Zwar sind mit einer halben Million Schulanfängern
88 Prozent eines Jahrgangs einmal gegen Masern geimpft,
bei der zweiten Impfung werden aber nur bis zu 15 Prozent eines Jahrgangs erreicht.
Impfungen dürfen nicht aus Kostengründen unterbleiben. Die Aufklärung eines Patienten über Schutzimpfungen ist zeitintensiv. Die ärztliche Vergütung für Impfleistungen ist im Bereich einiger kassenärztlicher Vereinigungen inzwischen auf 5,50 DM pro Impfung gesunken.
Wir können uns vorstellen, wohin das führt. Deshalb müssen die Kosten der Impfungen von den Krankenkassen erstattet werden, und zwar leistungsgerecht und außerhalb
des Budgets. Dies würde auch die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, fördern.
({4})
Die Regierungskoalition hat mit ihrer Ablehnung unseres Antrags, Impfungen außerhalb der Budgets zu vergüten, deutlich gemacht, dass sie das Gesetz nicht so ernst
nimmt, oder anders gesagt, die Beliebigkeit ihres Handelns wird deutlich nach dem Motto: „Was interessiert
mich eigentlich mein Gesetz von gestern?“ Um nicht
falsch verstanden zu werden: Impfungen für Auslandsreisen gehören auch weiterhin zur Eigenvorsorge und zum
Eigeninteresse der Bürger.
Die Ablehnung der Regierungskoalition, eindeutigere
Regelungen für bestimmte Risikogruppen in § 25 aufzunehmen, wie von uns vorgeschlagen, halte ich ebenfalls
für nicht sachgerecht.
Es gäbe zu diesem umfassenden Gesetz noch sehr viel
zu sagen, aber dazu ist die Redezeit zu kurz. Insgesamt
muss festgestellt werden, dass nur durch eine konsequente
Aufklärung und Prävention, durch rasches und koordiniertes Handeln bei Infektionsgeschehen und durch Bündeln aller Informationen ein wirksamer Infektionsschutz
gewährleistet werden kann. Ein Gesetz kann immer nur
einen Handlungsrahmen geben. Es ersetzt nicht das eigenverantwortliche Handeln sowohl im gewerblichen als
auch im privaten Bereich in der Form, dass die Regeln
hygienischen Verhaltens eingehalten oder verpflichtende
Kontrollen wahrgenommen werden.
Obwohl die Regierungskoalition einigen von uns eingebrachten Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist,
werden wir dem Gesetz zustimmen. Wir wollen die
Blockadepolitik der SPD nicht bei uns fortsetzen.
({5})
Ich möchte zum Abschluss noch einmal an alle Beteiligten appellieren: Nehmen Sie den Infektionsschutz und
die Meldeverpflichtung nicht auf die leichte Schulter,
denn das Gesetz kann nur so gut sein, wie die Akzeptanz
der Beteiligten ist und wie diese nach dessen Vorgaben
handeln.
Danke.
({6})
Für die SPD-Bundestagsfraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang
Wodarg.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es ist noch nicht lange her, da schien
es, als würden die Infektionskrankheiten in Zukunft
keine große Rolle mehr spielen. Als zum Beispiel die
Pocken ausgerottet waren und die Tuberkulose in
Deutschland nicht mehr zu den Volkskrankheiten gerechnet werden konnte, meinten sogar viele Fachleute, dass
die Seuchengefahr insgesamt für unser Land gebannt sei.
Diese optimistische Auffassung musste in den letzten
Jahren leider - für alle sichtbar - revidiert werden, nachdem der Aidserreger weltweit Millionen Menschen infiziert hatte und wir am Beispiel von BSE gelernt haben,
dass der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln und deren Grundstoffen ein erhebliches Risiko darstellt. Das
globale Bevölkerungswachstum und die Migration großer
Bevölkerungsgruppen - darauf hat meine Vorrednerin
schon hingewiesen, und hiermit sind nicht nur die Flüchtlingsströme, sondern auch die Touristenströme gemeint führen jedoch dazu, dass sich einerseits alte Krankheitserreger wie zum Beispiel der Tuberkuloseerreger auch in
den Industriestaaten wieder ausbreiten können, andererseits aber neben Aids zunehmend Fälle neuer, zum Teil
bisher unbekannter Infektionskrankheiten auftreten, bei
denen auch die moderne Medizin wenig Hilfe anbieten
kann.
Die ungezielte Anwendung von Antibiotika in der
Medizin - das wurde hier noch nicht angesprochen - und
die Anwendung von antibiotisch wirksamen Stoffen in der
Tiermast haben außerdem dazu geführt, dass Krankheitserreger zunehmend resistent gegen die zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Antibiotika werden. Viele Fälle von ungewollter Kinderlosigkeit, Magengeschwüren, Gebärmutterhalskrebs und anderen Krankheiten haben sich in
den letzten Jahren als erregerbedingt erwiesen. Es bietet
sich also ein völlig neues Bild der Infektionskrankheiten.
Das aus der Nachkriegszeit stammende Seuchenrecht
wurde deshalb in den letzten Jahren durch viele Einzelverordnungen auf nationaler und internationaler Ebene
immer wieder nachgebessert und ist dadurch ein Flickenteppich geworden, der kaum noch überschaubar ist. Das
alte Bundes-Seuchengesetz wird seiner Funktion zur Verhütung und Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten
nicht mehr gerecht.
Hinzu kommt - das ist besonders bedrückend -, dass
wir trotz modernster Medizin und modernster Datentechnik für viele Infektionskrankheiten auch in Deutschland
nicht wissen, wie hoch die daraus resultierenden Risiken
eigentlich sind. Epidemiologische Daten sind jedoch die
Voraussetzung für wirksame und effiziente Präventionsmaßnahmen und auch für die Planung einer angemessenen Krankenversorgung. Strukturdefizite im Meldesystem und im Risikomanagement hat zum Beispiel schon
der 3. Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch
Blut und Blutprodukte“ des 12. Deutschen Bundestages
warnend herausgestellt. Er forderte damals, dass Risikosignale schneller erkannt und unverzüglich Maßnahmen
zum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden.
({0})
Das neue Infektionsschutzgesetz, welches bereits seit
mehreren Jahren, also auch schon unter der vorherigen
Regierung - wir haben das gehört und gewürdigt -, in intensiver Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
vorbereitet und formuliert wurde, soll heute endlich vom
Deutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedet
werden.
({1})
Die Mitglieder des Gesundheitsausschusses - ich
glaube, dabei kann ich alle einschließen - würdigen deshalb heute gemeinsam die intensive und fachlich hoch
qualifizierte Vorarbeit all derjenigen, die diese komplexe
Materie zu einem modernen Infektionsschutzgesetz zusammengefasst haben, und danken für die geleistete Arbeit.
({2})
Das vorliegende Gesetz trägt neuesten Erkenntnissen
und Entwicklungen Rechnung. Es ist ein Gesetz aus einem Guss geworden. Es bietet vorbildliche Voraussetzungen für eine wirksame Prävention, für eine frühzeitige
Erkennung und für eine effektive Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Das Gesetz macht die Infektionsepidemiologie zur Grundlage des Infektionsschutzes und nutzt
dabei deutsche positive Erfahrungen ebenso wie internationale Vorbilder.
Zum Beispiel ist eine zentrale Einrichtung wie das
amerikanische Center for Disease Control für die Zusammenfassung der Daten und für den Überblick über die infektionsepidemiologische Lage erforderlich. Es kann mit
seinen hoch qualifizierten Fachleuten gezielten Einzelfragen nachgehen oder als Infektionsfeuerwehr den örtlich
zuständigen Institutionen zu Hilfe kommen.
Ein solches Zentralinstitut wäre jedoch hilflos ohne das
flächendeckende Netz von fachlich gut besetzten Gesundheitsämtern. Die Gesundheitsämter in allen Kreisen
der Republik haben in der Vergangenheit den Infektionsschutz erfolgreich sichergestellt. Auch das muss man
heute anerkennend würdigen. Sie sind auch heute noch
die Basis für Prävention und Gesundheitsschutz in
Deutschland. Ihre Ortskenntnis, ihr multidisziplinärer
Ansatz mit infektionsepidemiologisch ausgebildeten
Amtsärzten, guten Kontakten zu Krankenhäusern und
niedergelassenen Ärzten, mit erfahrenen Gesundheitsingenieuren, die zum Beispiel über die Trinkwasserhygiene
oder die Klimaanlagen wachen, und mit fachlich qualifizierten Gesundheitsaufsehern, die in ihren Bereichen sehr
genau wissen, wo konkrete Gefahren drohen können dies alles ist eine nicht zu ersetzende Basis, die wir auch
für den zukünftigen modernen Infektionsschutz nutzen
und erhalten wollen.
Ich wollte heute eigentlich in Schwäbisch-Gmünd sein.
Dort findet nämlich zurzeit der Bundeskongress des Öffentlichen Gesundheitsdienstes statt, der sich am heutigen
Freitag von 16.00 bis 17.20 Uhr mit dem Thema „Schutz
vor Infektionen - eine Schwerpunktaufgabe des ÖGD“
beschäftigen wird. Ich habe das Programm vorliegen,
grüße die sich auf dem Kongress befindlichen Kollegen
und freue mich, dass wir heute die gesetzgeberische
Grundlage für die zukünftige Arbeit der Gesundheitsämter in Deutschland schaffen können. Deshalb ein Gruß
von hier an die Amtsärzte und das Personal der Gesundheitsämter, das sich zurzeit in Schwäbisch-Gmünd mit
demselben Thema befasst!
({3})
Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages und die befragten Fachleute waren sich einig, dass die
Gesundheitsämter unverzichtbare und dezentrale Kompetenzzentren für den Infektionsschutz der Bevölkerung
bleiben müssen. Das Robert Koch-Institut als eine dem
Center for Disease Control in Amerika entsprechende
zentrale Einrichtung soll die Kontaktstelle für die internationale Zusammenarbeit im Infektionsschutz werden.
Über seine Funktion ist hier schon einiges gesagt worden.
Durch die Schaffung dieses Zentrums und durch das neue
Infektionsschutzgesetz hat Deutschland gleichzeitig seinen Beitrag zur Schaffung eines Netzes für die epidemiologische Überwachung und Kontrolle übertragbarer
Krankheiten in der Europäischen Gemeinschaft geleistet
und wichtige Grundlagen für die systematische Erforschung der Zusammenhänge zwischen einer sich rasch
wandelnden Umwelt und dem Auftreten neuer Infektionsrisiken geschaffen.
Dass dieses wichtige Gesetz heute endlich verabschiedet wird, ist das Verdienst der neuen Bundesregierung.
({4})
Von der Sache her ist es bedauerlich, dass nicht bereits die
vorige Bundesregierung es für nötig befunden hat, dieses
Gesetz aus ihren Aktenschränken heraus ins Parlament zu
bringen. Das hätte schon längst geschehen können. Wir
hatten schon längst damit gerechnet, nachdem Herr
Minister Seehofer es versprochen hatte.
Als jemand, der viele Jahre mit dem alten Bundes-Seuchengesetz und den dazugehörigen Einzelregelungen leben musste,
({5})
- ja, das stimmt - weiß ich, wie sehnsüchtig viele meiner
ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis auf
das neue Infektionsschutzgesetz gewartet haben. Natürlich gibt es auch Vertreter des öffentlichen Gesundheitsdienstes - sie haben sich auch lautstark bemerkbar gemacht -, die vieles lieber so gelassen hätten, wie sie
es gewohnt waren. Tausende von fragwürdigen Routineuntersuchungen bei Lehrern, Erziehern, Küchenpersonal
und Prostituierten täuschten aber eine falsche Sicherheit
vor. Sie sind aus infektionsepidemiologischer Sicht nicht
mehr zu rechtfertigen. Jede Untersuchung, die gemacht
wird, aber nicht notwendig ist, ist bei denjenigen, die untersucht werden, ein Akt der Körperverletzung, wenn es
sich zum Beispiel um eine Blutentnahme oder eine Röntgenaufnahme handelt. Wir sind froh, dass dies ein Ende hat.
Einzelne Amtsärzte werden vielleicht den Wegfall dieser Basisauslastung ihres Amtes bedauern. Aber auch sie
werden feststellen können, dass ihnen durch das vorliegende Gesetz sowohl fachlich als auch organisatorisch
eine beträchtliche Hilfestellung geleistet wird. Den neuen
Infektionsrisiken, den Erfordernissen des modernen Infektionsschutzes wird auch die Arbeit der Gesundheitsämter in Zukunft besser gerecht werden können.
({6})
Das neue Infektionsschutzgesetz ist ein umfangreiches
und fachlich komplexes Gesetzeswerk, welches durch
langjährige Vorarbeit und breite Beteiligung aller Fachkreise gereift ist. Es stellt für die Gesundheit und die
Sicherheit der Bevölkerung eine wesentliche Verbesserung dar. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Bundesrat - ich schließe mich den Wünschen meiner Vorrednerin
an - ebenfalls dazu beiträgt, dass die letzte Hürde für die
Arbeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes, des Gesundheitsschutzes, möglichst schnell passiert wird, damit wir
der Bevölkerung sagen können, dass sie sich vor Infektionskrankheiten zu Recht sicher fühlen kann.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich gebe für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Detlef Parr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Infektionsschutz ist in den letzten Jahrzehnten aus dem Gesichtsfeld der öffentlichen Diskussion
geraten. Die großen Seuchen galten als ausgerottet oder
man wähnte sie unter Kontrolle. Zu Unrecht, wie es sich
gerade in letzter Zeit gezeigt hat. Ohnehin bezog sich
diese vermeintliche Sicherheit nur auf den westeuropäischen Raum. Welche neuen Gefahren in einer Welt der
kurzen Wege lauern, ist uns allen jüngst durch einige sehr
tragische Fälle vor Augen geführt worden. Frau Ministerin hat darauf hingewiesen.
Eine breite öffentliche Diskussion um einen verbesserten Seuchenschutz tut deshalb Not. Die Anhörung hat gezeigt, dass in einem Bereich besondere Sorglosigkeit herrscht: Das ist der Bereich des Impfens. Für viele Menschen hat das Impfen nicht mehr die Bedeutung, die es
haben sollte. Die Eigenverantwortung wird in diesem Bereich nicht hinreichend übernommen. Das ist eine sehr bedauerliche Entwicklung. Zu der großen Mobilität der
Menschen kommt hinzu, dass viele Erreger heute besonders aggressiv sind und ihre Gestalt rasch verändern. Herkömmliche Therapieformen schlagen dann nicht mehr an.
Leichtsinn in der Bevölkerung und gerade auch bei den
Weltenbummlern trifft also mit einem erhöhten Gefährdungspotenzial besonders ungut zusammen. Außerdem
konnte man in manchen Fällen den Eindruck gewinnen,
dass in Deutschland nicht schnell und nicht zielgerichtet
genug mit Verdachtsfällen umgegangen wird. Offenbar
gibt es hier Strukturdefizite. Tatsächlich muss die Zusammenarbeit in der Bundesrepublik und auf europäischer und internationaler Ebene verbessert werden, müssen Früherkennungsmaßnahmen mit der Bereitstellung
des Expertenwissens und adäquaten Behandlungsmöglichkeiten gekoppelt werden.
Das Gesetz ist in weiten Bereichen für uns akzeptabel.
Ich muss aber ein bisschen Wasser in den Wein schütten.
Sie zwingen uns dennoch zur Ablehnung. Als Hauptgrund
nenne ich die namentliche Nennung von Hepatitiserkrankungen. Meine Damen und Herren, Aidserkrankte
werden aus guten Gründen nicht namentlich erfasst.
Warum dann eine namentliche Meldung bei Hepatitis?
Der Nutzen einer solchen Meldung steht nach Auffassung
der F.D.P. in keinem Verhältnis zu den möglichen erheblichen Nachteilen für die Betroffenen.
({0})
Das kann uns keiner sagen. Es ist nicht auszuschließen,
dass sie zusätzlich zur Krankheit eine gesellschaftliche
Stigmatisierung erleiden müssen. Da hilft auch eine Löschung der Daten nach drei Jahren nicht, denn wer zum
Beispiel einmal am Arbeitsplatz ins Gerede gekommen
ist, wird dieses Stigma niemals wieder los. Einmal diskriminiert, immer diskriminiert.
({1})
Und das alles, wo doch überhaupt keine besonderen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung möglich sind. Ein
solch weitreichender Eingriff in die Intimsphäre ist aus
unserer Sicht nicht zu rechtfertigen.
Demgegenüber sehen wir bei der immer größeren Zahl
von Individualreisen in gefährdete Gebiete zumindest
verstärkten Aufklärungsbedarf. Das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon angesprochen. Viele
Menschen reisen viel zu sorglos und ohne eine angemessene Vorbereitung in die Welt. Hierauf sollten wir ein besonderes Augenmerk richten. Ich bin gespannt, wie die
Reisebüros mit der ihnen auferlegten Aufklärungspflicht
zurechtkommen.
Die Verbesserung der sachgerechten Behandlung von
Infektionskrankheiten impliziert selbstverständlich auch
die Modifizierung der Aus- und Weiterbildung in diesem Fachgebiet. Der Infektologie sollte an den Hochschulen und bei der Ausbildung in medizinischen Fachberufen wieder mehr Platz eingeräumt werden.
Üblicherweise sind es nämlich nicht die Spezialisten, sondern die Hausärzte, die als Erste mit seltenen Krankheitsbildern konfrontiert werden. Gerade deshalb ist es enorm
wichtig, dass die Hausärzte schnell den richtigen Verdacht
schöpfen und schnell die richtigen diagnostischen und
therapeutischen Maßnahmen einleiten können.
Zu guter Letzt sollte die Materie flächendeckend Eingang in die Lehrpläne der Schulen finden. Dort können
wir die Grundlage für das Wissen um Infektionen und um
den Schutz vor Infektionen schaffen. Ein solches Wissen
muss wieder zum Allgemeingut in unserer Gesellschaft
werden.
Zwei kurze Zusatzbemerkungen: Frau Fischer hat gesagt, dass sie den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken möchte. Warum nehmen Sie dann die Pflichtuntersuchungen für Prostituierte aus dem Gesetz heraus? Warum
nehmen Sie die Pflichtuntersuchung für Verkäuferinnen
und Verkäufer im Lebensmittelbereich aus dem Gesetz
heraus? Wir halten die Lebensmittelsicherheit aus guten
Gründen besonders hoch. Hier begehen Sie aus unserer
Sicht einen Fehler. Deshalb können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die Verhütung und die Bekämpfung der Infektionskrankheiten zu verbessern ist das Ziel des Gesetzentwurfes. Das ist zu begrüßen. Flüchtlingsströme,
Kriege, ein zunehmender Reiseverkehr, wachsende Antibiotikaresistenzen und viele weitere Faktoren haben neue
Risiken geschaffen. Alte, schon unter Kontrolle geglaubte
Probleme sind wieder akut geworden. Neue Krankheiten
wie Aids und BSE zeigen die Gefahren auf, die von Infektionskrankheiten ausgehen.
Auf der anderen Seite sind in der Vergangenheit ernsthafte Defizite im Kampf gegen die ansteckenden Krankheiten entstanden. Ich nenne als Beispiele nur den nachlässigen Umgang mit der Meldepflicht, eine zurückbleibende Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens
und den unzulänglichen Impfstatus der Bevölkerung.
Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass in
dem vorliegenden Gesetzentwurf notwendige und zweckmäßige Antworten auf viele dieser angestauten Probleme
gegeben werden. Dazu zählen ein modernisiertes Meldesystem, die bessere Vernetzung der Institutionen des Infektionsschutzes oder die Schaffung einer kompetenten
Zentrale, des Robert Koch-Instituts. Es ist auch konsequent, die Personal- und Sachmittel des Robert Koch-Instituts aufzustocken, damit es seiner künftigen Aufgabe
als Leitinstitution gerecht werden kann.
Durch die Beratungen im Ausschuss ist es gelungen,
das Gesetz in wichtigen Punkten zu verbessern. Zu begrüßen ist, dass die wichtige Rolle, welche die Gesundheitsämter auf dem Gebiet des Infektionsschutzes auszufüllen haben, nicht verwässert, sondern insgesamt deutlicher herausgehoben wurde. Wünschenswert wäre
allerdings, wenn von der Beratung dieses Gesetzes im
Deutschen Bundestag auch Signale in Richtung personeller und finanzieller Stärkung der Gesundheitsämter ausgehen würden.
({0})
Wichtig ist, dass der Ausschuss die Regelungen für den
Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Alten- und Pflegeheimen weiter verschärft hat. Dazu gehört
der von uns eingebrachte und mehrheitlich angenommene
Vorschlag, Hygienepläne als innerbetriebliche Instrumente des Infektionsschutzes verbindlich in das Gesetz
aufzunehmen.
Allerdings bleibt nach unserer Meinung fraglich, ob
die für den Impfschutz vorgesehenen Bestimmungen
ausreichen, um die seit längerem beklagten Defizite zu
beseitigen. Diese Defizite sind auch schon von meinen
Vorrednern angedeutet worden. Fortschritte auf diesem
Gebiet verlangen vor allem eine verbesserte Organisation.
Der Übergang von Impfempfehlungen zu verbindlicheren
Impfprogrammen, die politisch gemeinsam getragen und
von der Öffentlichkeit akzeptiert werden, könnte dafür ein
entscheidender Anstoß sein. Wir bedauern, dass dieser
Vorschlag keine Mehrheit gefunden hat.
Abschließend ist festzustellen, dass dieses Gesetz viele
Verbesserungen für die Bekämpfung von Infektionskrankheiten bringt. Wir stimmen ihm deshalb zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften auf den
Drucksachen 14/2530 und 14/3194. Ich weise darauf hin,
dass 33 Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Erklärung zur Abstimmung nach
§ 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben. Diese Erklärung wird zu Protokoll genommen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist ebenso wie in der zweiten Beratung mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3194 die
Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Entschließung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten
Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksachen 14/2292, 14/2355 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 14/3320 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann -Mauz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem
Kollegen Horst Schmidbauer für die SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute
die 10. AMG-Novelle verabschieden, dann ist kein Jubeltag; denn mit diesem Gesetz schultern wir eine Altlast der
Regierung Kohl. Es ist kein Jubeltag, weil es sich um ein
Reparaturgesetz handelt, mit dem 14 000 Altarzneimittel
einer gemeinschaftskonformen Nachzulassung zugeführt
werden müssen.
({0})
Es handelt sich um Altarzneimittel, die in ihrem Leben
noch nie eine Prüfung durchlaufen haben.
Dennoch haben wir Grund zur Freude, weil wir eine
Reparatur erfolgreich abschließen konnten. Wir haben Grund
zur Freude, weil damit eine Altlast fachgerecht entsorgt
werden kann. Sie kann so fachgerecht entsorgt werden,
dass sich die Europäische Kommission nicht mehr
genötigt sieht, das Vertragsverletzungsverfahren gegen
die Bundesrepublik Deutschland fortzuführen. Außerdem haben wir Grund zur Freude, weil es uns mit der
10. AMG-Novelle gelungen ist, im Dreieck der Anforderungen von Brüssel, von den Herstellern und von den Verbrauchern so etwas wie einen Königsweg zu finden.
({1})
Dies war dringend geboten; denn mit dem Erlass der Europäischen Kommission vom 21. Oktober 1998 sind die
14 000 deutschen Altpräparate auf dem europäischen
Markt „illegal“. Handlungspflicht war also da.
Mit diesem erfolgreichen Reparaturansatz dürfen wir
nicht einfach über die Ursachen und den Auslöser für das
Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische
Kommission hinwegtäuschen. Die Europäische Kommission sah sich genötigt, dieses Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten,
um die Harmonisierung des deutschen Arzneimittelgesetzes mit dem europäischen Arzneimittelrecht zu erzwingen. Das ist schon beschämend; denn Deutschland ist
der einzige Mitgliedstaat, der seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen auf dem Arzneimittelsektor nicht
nachgekommen ist.
Von der Europäischen Kommission wissen wir: Es
muss ein stringentes und plausibles Gesamtpaket für die
Angleichung unseres Arzneimittelrechts an das Arzneimittelrecht der Gemeinschaft vorgelegt werden. Das
Nachzulassungsverfahren muss so schnell wie möglich
abgeschlossen werden; sonst würde die Europäische
Kommission das Vertragsverletzungsverfahren fortsetzen. In diesem Fall müsste die Bundesrepublik damit
rechnen, Tag für Tag eine Million Erzwingungsgeld zu bezahlen. Deshalb ist der Versuch der Opposition zu durchsichtig. Sie ignorieren diese Millionen- oder Milliardenbedrohungen aus Brüssel in unverantwortlicher Weise.
Damit wollen Sie - nur so ist Ihr Verhalten verständlich von der Unverantwortlichkeit der alten Regierung ablenken.
({2})
Denn unbestritten steht fest, dass die alte Bundesregierung gegen die Handlungspflicht, die in der Richtlinie
65/65 EWG festgelegt ist, grob fahrlässig verstoßen hat.
Letzter Stichtag aus dieser Richtlinie war der 30. April
1990. Den Sachverhalt aber kennt man schon seit 23 Jahren. Bis zu ihrer Abwahl hat die alte Regierung diese Altlast also in bewährter Weise schlichtweg ausgesessen.
Heute stellen wir fest, dass die alte Regierung unter
Seehofer mit der 2004er Regelung Europa regelrecht provoziert hatte Mit dieser Regelung hat Herr Seehofer bei
Rücknahme des Nachzulassungsantrages durch den Hersteller eine Abverkaufsfrist für die Arzneimittel bis 2004
gewährt.
({3})
Die Folgen - das sehen wir - haben in Brüssel nicht auf
sich warten lassen: Die Europäische Kommission zwingt
nun die Bundesrepublik, diese seehofersche 2004er Regelung abzuschaffen. Aus diesem Grund können Sie sich
Ihre Ratschläge sparen. Ihre Vorschläge geben keine Garantie dafür, die millionen- oder milliardenschwere Bedrohung aus Brüssel abzuwenden.
Ich bin sicher, dass wir im Hinblick auf den Wettbewerbsverstoß in Europa durch die Interessenabwägung
zwischen den Erfordernissen der betroffenen Pharmafirmen und dem erforderlichen Verbraucherschutz die richtige Lösung gefunden haben, um Brüssel von unserem
Handeln überzeugen zu können. Durch diese Überzeugung können wir erreichen, dass das eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Union gegen
die Bundesrepublik eingestellt wird.
Ob der Weg der 10. AMG-Novelle allerdings trägt,
wird nicht allein von der Kommission und auch nicht allein von der Generaldirektion abhängig sein, sondern
auch von den Herstellern in Europa und in Deutschland.
Warum sage ich dies? Wir wissen heute, dass es nicht vorrangig die Kommission war, die in dieser Frage aktiv
wurde; es waren vielmehr Wettbewerbsfirmen aus Europa, aber auch Wettbewerbsfirmen aus Deutschland, die
bei der Kommission vorstellig geworden sind und diese
Aktivität erzwungen haben. Deshalb müssen wir im Gesetzgebungsverfahren sehr sorgfältig und in Stufen abwägen und ausloten, wie weit wir Wünschen und Interessen
der betroffenen Firmen entsprechen können, ohne dass
wir in die Gefahr kommen, dass das Vertragsverletzungsverfahren fortgesetzt wird.
Die Prioritätenabfolge unseres Handelns in der Koalition ist also der der Opposition genau entgegengesetzt. An
erster Stelle steht das Ziel, Millionen- oder Milliardenschaden von der Bundesrepublik abzuwenden. Damit
aber keine Missverständnisse auftreten und keine Legenden entstehen: Auch wir treten für die Pluralität des
Arzneimittelangebotes ein, allerdings in dem Rahmen,
den das Gemeinschaftsrecht abgesteckt hat. Deshalb haben wir zum Beispiel die Richtlinie 92/73 EWG für
homöopathische Arzneimittel in die 10. AMG-Novelle
eingearbeitet.
Längerfristig können wir den Anhängern der besonderen Therapierichtungen allerdings die Perspektive vermitteln, dass die Präparate, die wegen des fehlenden
Nachweises ihrer therapeutischen Wirksamkeit ihre Verkehrsfähigkeit verlieren, als „Gesundheitspflegemittel“
wieder zur Verfügung stehen.
({4})
Das setzt aber voraus, dass auf der Ebene der Europäischen Union ein Markt für Gesundheitspflegemittel entsteht. Für nationale Alleingänge gibt es - das haben wir in
Brüssel feststellen können - keinen Raum. Deshalb unsere Bitte an Sie, Frau Ministerin, bei der Entwicklung einer Richtlinie für Gesundheitspflegemittel, an die man in
Brüssel große Erwartungen hat, aktiv mitzuwirken, damit
wir hier ein Stück vorankommen.
Die Europäische Kommission hat - wie wir im Gesundheitsausschuss feststellen konnten - bereits eine Projektgruppe eingerichtet, die das Ob und das Wie eines solchen Marktes vorklären soll. In Brüssel konnte ich feststellen, dass man an einer Zu- und Mitarbeit gerade aus
Deutschland aufgrund der hohen Erfahrungswerte höchstes Interesse hat. Deswegen unterstützen wir die Schaffung eines europäischen Gesundheitspflegemittelmarktes.
Unabhängig davon haben wir eine ganze Reihe von
Anregungen von Sachverständigen, von Pharmafirmen
und von Verbänden aufgegriffen und entsprechende Änderungsanträge eingebracht: die Frist auf ein Jahr verlängert, innerhalb deren Arzneimittelhersteller Mängel ihrer
Nachzulassungsanträge beseitigen müssen; die Möglichkeit, dass Mängel der Nachzulassungsunterlagen vorrangig durch Auflagen beseitigt werden, um schneller voranzukommen; die Nachzulassung auf der Grundlage von
Arzneimittelzulassungen in anderen europäischen Mitgliedstaaten verfahrensmäßig zu erleichtern; eine Übergangsregelung für homöopathische Arzneimittel; eine
Übergangsregelung für Kombinationsarzneimittel.
Nicht vergessen wollen wir, die 10. AMG-Novelle
auch einen entscheidenden Beitrag für die Verbesserung
der Qualität der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung
leistet.
({5})
Horst Schmidbauer ({6})
Interessant ist in diesem Zusammenhang - das wird deutlich,
wenn man sich die Synopse zu diesem Gesetz ansieht -, dass
Transparenz und Verbraucherschutz für die Opposition
Fremdworte geblieben sind.
Wir haben uns zwar entschieden, den Begriff „Altarzneimittel“ herauszunehmen, weil er in dieser Form
ohne Erklärung diskriminierend wirken könnte. Aber wir
mussten feststellen, dass wir selbst für den jetzt nicht auf
der Verpackung, sondern lediglich auf dem Beipackzettel
befindlichen Hinweis „Dieses Arzneimittel ist nach den
gesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die behördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlossen.“ keine Zustimmung vonseiten der Opposition im Interesse von Transparenz und Verbraucherschutz erwarten
können.
Zum Schluss möchte ich noch eines deutlich machen:
Ich richte meine Bitte vor allem an das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte und seine Verantwortlichen in Berlin bzw. Bonn. Dieses Institut ist verpflichtet, seiner Aufgabenstellung besser gerecht zu werden. Es ist nicht einsichtig, dass das BfArM trotz der jetzigen Personalausstattung, die von 200 Stellen im Jahre
1980 auf 900 Stellen 1995 gesteigert wurde und noch um
70 weitere Stellen gesteigert werden soll, immer noch
keine optimalen Zeiten für die Nachzulassung erreicht
hat. Es soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass man bei
neuen innovativen Produkten dem Ziel schon sehr nahe
gekommen ist. Aber es ist bei dieser Personalausstattung
einfach nicht hinnehmbar, dass das gleiche Ziel nicht auch
bei der Nachzulassung erreicht wird.
Sie sehen also, Reparatur alleine beseitigt nicht alle
Altlasten. Es gibt noch viel zu tun.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Schmidbauer, dass Sie heute Grund zur Freude haben,
freut natürlich auch uns. Wie lange diese Freude allerdings anhalten wird, ist eine andere Frage. Wenn sie so
kurzweilig ist wie bei den letzten gesundheitspolitischen
Reformgesetzen, die Sie hier im Hause eingebracht haben, kann sie ja nicht so wahnsinnig lange währen. Im
Mittelpunkt unseres politischen Handelns steht nicht die
Europäische Kommission, sondern der Mensch in der
Bundesrepublik Deutschland,
({0})
sei er Patient oder Beschäftigter im Bereich der pharmazeutischen Industrie.
Wer über die 10. AMG-Novelle reden will, darf nicht
über die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung
schweigen. Was hier an Stabilität, Vertrauen und sozialer
Gerechtigkeit kaputt gemacht worden ist, haben selbst
Leute mit den dunkelsten Visionen nicht für möglich gehalten. Auch wir haben Ihnen ja einiges zugetraut, aber
beim besten Willen nicht so ein rücksichtsloses kaltes Politikverständnis. Wo bleiben soziale Gerechtigkeit und Innovation - wir erinnern uns? Dank Ihrer patienten- und
mittelstandsfeindlichen Marktbereinigungskonzeptionen
stehen wir heute vor einer nachhaltig unsoliden Gesundheitspolitik. Das fängt bei Ihren mittlerweile sprichwörtlichen Fehlern an, geht über koalitionsinterne Streitereien
und endet bei permanenten Nachbesserungen.
Die Gesundheitsreform 2000 ist schon nach wenigen
Monaten wieder reformbedürftig. Die Kollektivhaftung
für Budgetüberschreitungen stehe auf tönernen Füßen
und sei ein untaugliches Steuerungsinstrument, so heißt es
in einem internen Arbeitspapier der SPD-Arbeitsgruppe
Gesundheit.
({1})
Die Pflegekasse wird durch Ihren ungenierten Griff in die
Rücklagen selbst zum Pflegefall. Jetzt legen Sie uns in
Form der 10. Novelle zum Arzneimittelgesetz eine Gesetzesvorlage vor, die es wahrlich in sich hat.
Ein erster Durchbruch schien bei der 10. AMG-Novelle geschafft. Nach mehrwöchigen Beratungen des Gesundheitsausschusses, nach Anhörung der Sachverständigen und nachdem wir von CDU/CSU konstruktive eigene
Anträge zu Ihrem Entwurf eingebracht haben, sind Sie
nach mehreren langwierigen, schwierigen Anläufen zumindest teilweise auf Unionskurs umgeschwenkt. Sie haben einige unserer Positionen übernommen, aber den Königsweg, von dem Sie, Herr Schmidbauer vorher gesprochen haben, haben Sie nicht erreicht.
Sie sind auf halbem Wege stecken geblieben. So sind es
nur oberflächliche Schönheitsreparaturen, die Sie hier
eingebracht haben. Substanziell bringt das meist nichts.
Aber immerhin konnten wir ein paar schlimme Brocken
verhindern.
Seit einigen Wochen liegen die Fakten auf dem Tisch.
Schon längst hätte die 10.AMG-Novelle abschließend beraten werden können. Doch dann gab es bei Rot-Grün erneuten Beratungsbedarf.
({2})
Unsere Argumente zeigten Wirkung; man merkt es auch
jetzt. Die Verwirrung auf Ihrer Seite wurde größer.
Dabei ist das Ganze - beruhigen Sie sich wieder! - gar
nicht so schwierig.
({3})
Es geht um die Beschleunigung bei der Nachzulassung
von Arzneimitteln. In der Zielsetzung stimmen wir ja mit
Ihnen überein. Allein der Weg, den Sie hier beschreiten
wollen, ist bei bestem Willen nicht gangbar.
({4})
Denn Sie gehen ganz bewusst - ich sage das sehr
deutlich - über die Beanstandungen der Europäischen
Horst Schmidbauer ({5})
Kommission hinaus. Wir haben entsprechende Stellungnahmen bei unserem gemeinsamen Besuch in Brüssel
gehört.
({6})
Hier sollen zahlreiche Arzneimittel vom Markt verschwinden. Da kann ich nur sagen: Die Moorhühner
schießen zurück und gefährden jetzt in letzter Konsequenz und in dramatischer Weise eine ganze Reihe von
mittelständischen Unternehmen, von Arbeitsplätzen, und
sie gefährden nicht zuletzt die Therapievielfalt in unserem
Land.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier klipp und klar zu
sagen: Wenn Sie die 10. AMG-Novelle heute so, wie sie
jetzt auf dem Tisch liegt, nach Ihren verqueren Vorstellungen beschließen, dann gibt es morgen mindestens ein
Dutzend Unternehmen, die große wirtschaftliche Schwierigkeiten haben. Sie betreiben hier eine knallharte Marktbereinigung durch die Hintertür. Sie tun zwar immer anders, aber in Wirklichkeit wollen Sie die alternativen Arzneimittel nicht.
({7})
Weil Sie nicht an den entsprechenden Beratungen im
Gesundheitsausschuss teilnehmen, will ich Ihnen das hier
ganz konkret an drei Punkten aufzeigen:
Der erste Punkt. Derzeit dürfen zur Abhilfe von Mängeln im Nachzulassungsverfahren Änderungen der arzneilich wirksamen Bestandteile vorgenommen werden.
Diese Änderungsmöglichkeiten wollen Sie jetzt abschaffen. Wenn also das BfArM bei einem Arzneimittel hinsichtlich der Zusammensetzung etwas bemängelt und der
Hersteller daran nichts mehr ändern darf, dann wird die
Zulassung automatisch versagt. Das Arzneimittel verschwindet vom Markt.
Von einer solchen Streichung besonders betroffen sind
vor allem Kombinationspräparate. Versetzen Sie sich
doch einmal in die Lage eines Unternehmers, der seit Jahren ein bewährtes Produkt hat, das er nachzulassen will
und muss! Beim BfArM konnte sein Antrag bislang nicht
bearbeitet werden. Von sich aus kann er keine Änderungen vornehmen, weil nach wie vor unklar ist, welche Kriterien für die Kombination gelten. Eine Änderung der Zusammensetzung im Vorgriff eines Mängelbescheides ist
ihm damit nahezu unmöglich. Die Änderung im Nachhinein soll jetzt verboten werden. Was hat dieses mit
Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung zu tun?
Überhaupt nichts! Es ist praxisfern, rechtlich höchst bedenklich und wirtschaftlich absolut katastrophal.
({8})
Mit dieser Streichung machen Sie, Frau Fischer, eine
ganze Palette alternativer Medizinpräparate kaputt. Die
SPD will die Schulmedizin; das wissen wir. Aber warum
gerade die Grünen - nach der Positivliste zum zweiten
Mal - gegen die Alternativmedizin vorgehen, müssen Sie
Ihren Wählerinnen und Wählern schon einmal erklären.
({9})
Die Naturheilpräparate - phytotherapeutische, homöopatische, anthroposophische Arzneimittel - sind keine
medizinischen Second-Hand-Arzneien, Frau Ministerin.
Es sind zum Teil seit Jahrzehnten bewährte Produkte.
({10})
Bereits mit der Positivliste werden Sie eine ganze
Reihe von Arzneimitteln aus dem Sortiment nehmen. Man
kann diese Präparate dann zwar noch bekommen, aber
nicht auf Krankenschein, sondern nur gegen Bares. Das
hat mit sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen wenig zu tun.
Doch jetzt schlagen Sie erst richtig zu. Mit der
10. AMG-Novelle wollen Sie Hunderte von Produkten
praktisch verbieten. Das heißt, diese Präparate verschwinden völlig vom Markt; sie sind damit weg. Wissen
Sie überhaupt, was Sie tun? Ich frage Sie: Warum wollen
Sie ohne Not - nur so nebenbei - Änderungsmöglichkeiten streichen, anstatt die Kooperation zwischen den
Herstellerfirmen und den staatlichen Behörden zu verbessern? Warum können wir hier nicht von den USA lernen?
Dort arbeiten Hersteller und FDA bereits im Vorgriff eines möglichen Mängelbescheides konstruktiv zusammen.
So muss es erst gar nicht zu formalen Bescheiden kommen.
Wie wir wissen, fliegt die Ministerin demnächst in die
USA zur FDA. Wenn Sie schon nicht uns glauben, dann
lassen Sie sich wenigsten dort einmal erklären, wie man
besser vorgehen kann.
({11})
Der zweite Punkt: Um das Nachzulassungsverfahren
zu beschleunigen, wollten Sie die Frist zur Mängelbeseitigung von 18 auf - man höre und staune - sechs Monate
verkürzen. Dies haben wir noch halbwegs umbiegen können. Ihre Fristenregelung war am Anfang viel zu kurz, da
waren wir uns mit den Sachverständigen einig. Innerhalb
von sechs Monaten wäre nämlich eine Mängelbeseitigung
praktisch ausgeschlossen.
Nehmen Sie zum Beispiel Bioäquivalenzstudien oder
klinische Studien. Wenn dort Mängel auftreten in der Zulassungspraxis, die sich aufgrund der Interpretation der
Studienergebnisse der Behörde ergeben, dann wären
sechs Monate einfach zu wenig, um die Mängel zu beheben. Sie können solche Studien unter keinen Umständen
in sechs Monaten qualifiziert durchführen.
Auch hat es nicht der Hersteller zu verantworten, wenn
von der Zulassungsbehörde noch kein Mängelbescheid
ergangen ist. Eine Frist von sechs Monaten wäre keine
Novellierung, sondern - ich muss es Ihnen an dieser Stelle
nochmals sagen - kalte Marktbereinigung durch die Hintertür.
Wir forderten in unserem Antrag von Anfang an eine
Frist von zwölf Monaten. Das ist ausgewogen. Die Frist
beschleunigt das Verfahren, aber sie überfordert die Hersteller nicht. Es kann nicht sein, dass Rot-Grün bei jedem
gesundheitspolitischen Schritt an den Interessen der Patienten vorbeigeht und gegen den Mittelstand auftritt. Das
haben wir im Ausschuss immer wieder deutlich gemacht
und wir haben auch da die besseren Argumente auf unserer Seite.
Gott sei Dank übernehmen Sie jetzt unsere Position der
Zwölfmonatsfrist. Aber leider war der Hintergrund wohl
eher eine Laune von Kanzler Schröder, der irgendwo von
dem Unsinn in Ihren Reihen gehört haben muss und offenbar gesagt hat: Dann lassen wir doch eben mal sechse
zwölf sein. Aber das befriedigt uns überhaupt nicht, denn
hier regiert Laune und nicht Einsicht.
({12})
- Ich argumentiere hier Punkt für Punkt im Blick auf Ihr
Gesetz.
Aber auch bei zwölf Monaten muss aus unserer Sicht
ein Nachreichen von Unterlagen im Rechtsmittelverfahren noch zulässig sein. Ihre Novelle sieht vor, dass zum
Beispiel im Klageverfahren keine neuen Unterlagen mehr
vorgelegt werden dürfen.
Wir haben hier nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken, auch von der Sache her bringt das nichts. Sie werden
es noch erleben und ich sage es Ihnen heute schon voraus:
Wenn Sie die Präklusion einführen, um die Verfahren zu
beschleunigen, erreichen Sie das glatte Gegenteil. Aufgrund Ihrer Präklusion wird es zu vollständig neuen Zulassungsverfahren kommen. Durch diese Verzögerung
entstehen nicht nur ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden bei den Unternehmen und auch eine Mehrbelastung
beim BfArM, sondern es werden den Patienten möglicherweise wichtige Arzneimittel zunächst vorenthalten.
Sie gefährden die naturärztliche Versorgung in Deutschland. Das ist rot-grüne Politik von heute.
Der dritte Punkt, den Sie auch angesprochen haben,
Herr Kollege Schmidbauer: Sie wollen die besondere
Kennzeichnung der bisher nicht zugelassenen Arzneimittel in der Packungsbeilage. Ich will auf den irrsinnigen
materiellen Aufwand gar nicht eingehen. Den will ich gar
nicht ansprechen, das ist mir nicht so wichtig. Ursprünglich sollte ja in der Packungsbeilage „Altarzneimittel“
stehen. Sie haben das Wort ja heute immer wieder verbannt. Das war völlig inakzeptabel und ist - Gott sei
Dank - jetzt vom Tisch.
Aber auch die Formulierung, die Sie hier vorher zitiert
haben, ist in der Substanz ein fragwürdiger Hinweis.
Diese Information hat für die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen praktischen Nutzen. Ich möchte heute
nicht die Zuhörer fragen, welchen praktischen Nutzen sie
aus der Zitierung dieses Satzes gezogen haben.
({13})
- Nein, im Gegenteil, Sie stigmatisieren lediglich Arzneimittel, die noch im Nachzulassungsverfahren und damit
lediglich vorläufig zugelassen sind.
({14})
Wir brauchen weniger noch kompliziertere Gesetze als
vielmehr eine zügige, effiziente, fachlich qualifizierte Bearbeitung der Anträge beim BfArM. Diesem Gesetz können wir, auch nach Ihren wenigen Schönheitskorrekturen,
so jedenfalls in keinem Fall zustimmen. Dieses Gesetz gefährdet eine Vielzahl mittelständischer Betriebe und damit auch Arbeitsplätze, schränkt die Therapievielfalt in
Deutschland ein und nimmt kranken Menschen schonende, kostengünstige und alternative Behandlungsmöglichkeiten.
Wir haben die Chance, dass der Bundesrat, der diesem
Gesetz noch zustimmen muss, Einspruch erhebt. Ich bin
mir sicher, er wird das mit kritisch-konstruktiven Vorschlägen tun.
({15})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Monika
Knoche.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Zunächst einmal möchte ich auf Sie eingehen, Frau Kollegin Widmann-Mauz. Ich glaube, es ist völlig unstrittig,
dass man für eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung, für Innovation und Kontinuität, aber auch für die
Möglichkeit, in der Arzneimittelversorgung die pluralistische Grundposition zu stärken, einen Mittelstand
braucht, der zu all dem beiträgt, und dass das immer im
Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesundheitsverständnisses stehen muss. Aber ich habe sehr stark den
Eindruck gewonnen, Sie nehmen die Mittelstandspolitik
zum Ausgangspunkt für Gesundheitspolitik. So kann es
nicht sein.
({0})
Zu dem Arzneimittelgesetz, dessen 10. Novelle
wir hier diskutieren, möchte ich sagen, Frau WidmannMauz - wir kennen ja die Debatte -: Im Grunde genommen sagen Sie nichts anderes aus, als dass alles so
bleiben soll, wie es ist,
({1})
in dem Wissen, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist,
weil es ganz einfach nicht europarechtskonform ist. Ich
halte es für ein sehr eigenwilliges Politikverständnis, sich
daran nicht halten zu wollen und die jetzige Regierung
deswegen zu kritisieren.
({2})
Im Übrigen ist Ihre Kritik ein bisschen ältlich oder
nicht ganz en vogue.
({3})
Denn Sie befassen sich nicht wirklich mit dem neuen Gehalt dieser Novelle. Sie nehmen das eigentlich nicht gerne
zur Kenntnis, denn dann bleibt nicht viel von der Kritik,
die Sie hier vorgebracht haben, übrig.
Warum? Bei der Fülle von Arzneien, die im Nachzulassungsversagen
({4})
- im Nachzulassungsverfahren stecken, rufen Sie nach einer raschen abschließenden Regelung und nach einem
Verfahren. Dazu kommt es jetzt. Die Nachzulassung bekommt Regeln, die die Herstellerfirmen erfüllen können
und die vor allem geeignet sind, die Firmen untereinander
gleichzustellen. Auch das gehört zu einer gerechten Mittelstandspolitik.
Die Europäische Kommission gibt bestimmte Standards vor, verbindliche Regeln also, an die sich die Regierung in der Vorzeit mit Nonchalance nicht gehalten hat.
Wir setzen nun Gemeinschaftsrecht um. Verständlicherweise gilt unser spezielles Augenmerk den besonderen
Therapierichtungen. Diese werden meines Erachtens in
dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetz nicht diskriminiert. Schon gar nicht trifft der Vorwurf zu, Herstellergruppen würden marktbereinigend eliminiert. Das ist
Unsinn.
Sinn aber macht, dass die Unsitte aufhört, dass man so
tut, als könnte für die besonderen Therapierichtungen und
ihre Präparate allgemeines europäisches Recht nicht gelten, weil sie dieses nicht erfüllen könnten. Das ist falsch.
Die Kommission hat ausdrücklich beanstandet, dass die
geforderte Verpflichtung zur Vorlage der Unterlagen zur
Unbedenklichkeit und Wirksamkeit sowie der entsprechenden Sachverständigengutachten nicht eingehalten
wird und dass die so genannte 2004-Regelung erlischt.
Nach der jetzt vorgeschlagenen Regelung kann das
Verfahren auf Antrag wieder aufgegriffen werden. Insgesamt steht nunmehr fest: Die Nachzulassungsverfahren
werden in einem überschaubaren Zeitraum zum Abschluss gebracht. Eine Straffung und Beschleunigung hier
ist richtig. Eine Sechsmonatsfrist für die Vorlage der Unterlagen zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ist ausreichend. Ich weiß auch wirklich nicht, was man gegen
das Kriterium Unbedenklichkeit und Wirksamkeit einzuwenden hat.
Die Praxis einiger pharmazeutischer Unternehmen, ein
Arzneimittel erst nach der Entscheidung einer Behörde
zulassungsreif zu machen, soll nicht mehr möglich sein.
Wer die Sache kennt, weiß, dass dieses Interesse im Kern
dahinter steht.
Was bleibt also eigentlich von Ihrer Kritik? Die Zeit für
die Beseitigung der Mängel ist ausreichend. Wir haben
sie auf zwölf Monate begrenzt. Damit ist den Einwendungen Rechnung getragen worden. Es gibt natürlich immer wieder den Versuch, Frau Widmann-Mauz, etwas Polemik hineinzubringen. Aber wir haben, weil Sie - zu
Recht - das Interesse der besonderen Therapierichtungen
hervorgehoben haben, das Beratungsverfahren ausdrücklich so gestaltet, dass alle Anträge und Änderungsanträge
von Ihnen ausreichend beraten und diskutiert werden können. Jetzt haben Sie sich hier hingestellt und uns das zum
Vorwurf machen wollen.
Sie müssen sich schon entscheiden, auf welche Art und
Weise und mit welchem Ziel Sie die Regierung kritisieren
wollen. An diesem Gesetz bleibt nicht viel zu kritteln. Da
ist die Rolle der Opposition schwierig; das gebe ich gerne
zu.
({5})
Aber nichtsdestotrotz ist der vorliegende Gesetzentwurf
sehr gut gelungen.
({6})
Ein Argument noch: Wenn künftig die bereits in anderen EU-Staaten geleistete Bewertungsarbeit für die Nachzulassung weitestgehend genutzt werden kann, dann sind
wir in diesem Bereich, so meine ich, im europäischen
Haus angekommen. Auch hier weiß ich nicht, was es daran zu kritisieren gibt.
Verbraucherinformationen zu verharmlosen - Herr
Schmidbauer hat es schon angesprochen - ist nach Ihrem
Verständnis vielleicht möglich, nach meinem Verständnis
als Grüne nicht. Diese machen auch vor alternativen
Verfahren nicht Halt. In diesem Zusammenhang sollten
die Information der Verbraucherinnen und Verbraucher
sowie Qualitätskriterien eine Norm sein, die man nicht
umgeht.
({7})
Noch eine Überlegung: Wie können wir durch die Novelle erreichen, langfristig auch im Pharmabereich ein
pluralistisches Therapieverständnis zu sichern? Dies
betrifft die Vergleichbarkeit der Kriterien. Die Monographien sind nämlich geblieben. Auch an dieser Stelle also
greift Ihre Kritik nicht so recht.
Wichtig ist, dass durch die angepasste Novellierung
des AMG - auch betreffend die Bedingungen der besonderen Therapierichtungen - europaweit klare und gefestigte Marktchancen vergrößert werden. Ich sehe nicht ein,
warum, langfristig gesehen, ein Produkt, das in Deutschland besonders ausgeprägt be- und genutzt und der Bereicherung sowie der Therapievielfalt im interkulturellen
Bereich dienen könnte, dadurch eine europaweite
Marktbenachteiligung behalten würde, dass wir es nicht
den gleichen qualitativen Anforderungen unterstellen.
Erst dadurch, dass wir dies tun, haben die Produkte der besonderen Therapierichtungen eine realistische Chance,
sich auf dem europäischen Markt auszudehnen.
Danke.
({8})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Detlef Parr.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Volksmund weiß: Reisen bildet. Wenn
der Kanzler reist, sowieso. Wenn er zu Pharmaunternehmen reist, führt der Bildungszuwachs gelegentlich auch
zu Änderungen von Gesetzentwürfen der Regierung. Das
ist zwar ungewöhnlich, aber dies ist auch gut.
Wir begrüßen die Streichung einer besonders negativen Verschärfung der Nachzulassungsvorschriften, die
die F.D.P. bereits frühzeitig gefordert hatte. Nun haben die
Unternehmer wenigstens eine angemessene Frist, um
Mängel zu beseitigen. Andernfalls hätte es besonders für
viele kleine und mittelständische Betriebe, die zwar wenig Personal, aber viele gute Ideen haben, das Aus bedeuten können. Mit ihnen wären mit Sicherheit viele Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen hier vom Markt
verschwunden.
({0})
In diesem Punkt konnte also Schlimmes verhindert
werden, in anderen leider nicht. Dort blieb der wahre
Geist des vorgesehenen Gesetzes erhalten: Es soll in
Wahrheit vor allem der Marktbereinigung dienen, zumindest aber drastisch verminderte Marktchancen bescheren.
({1})
Warum sonst, meine Damen und Herren von der Koalition, wollen Sie Restriktionen beschließen, die weit
über das hinausgehen, was die EU gefordert hat? Warum
sonst wollen Sie bewährten Arzneimitteln, die seit vielen
Jahren auf dem Markt sind, den Stempel der Unseriosität
aufdrücken? Warum sonst wollen Sie den Firmen die
Konsequenzen einer unangemessen langen Bearbeitungszeit beim Bundesinstitut anlasten? Das alles macht keinen
Sinn, wenn man sich die Forderungen der EU anschaut.
Es macht aber sehr wohl Sinn, wenn man sich die dirigistische und in diesem Bereich wirtschaftsfeindliche
Grundhaltung der Bundesregierung ins Gedächtnis ruft.
Bei aller berechtigten Kritik an der immer noch großen
Zahl der nicht nach AMG zugelassenen Arzneimittel: Die
Schuld dafür darf nach Meinung der F.D.P. nicht einseitig
den Firmen angelastet werden.
({2})
Sie haben das Recht auf eine faire Chance. Auch unter den
neuen Rahmenbedingungen muss der Marktzugang möglich sein. Wenn sich während der langen Liegezeit der Anträge beim Bundesamt, die nicht selten mehrere Jahre beträgt, neue Erkenntnisse ergeben, muss die Möglichkeit
eingeräumt werden, darauf zu reagieren. So viel Flexibilität ist wohl nicht zu viel verlangt. Sie ist ein Gebot des
fairen Umgangs mit den Unternehmen.
Arzneimittelvielfalt darf uns kein Graus sein. Manchmal hat man ja diesen Eindruck. Arzneimittelvielfalt ist
vielmehr ein Guthaben für die Gesundheit unserer Bürger.
Sie muss gepflegt werden und darf nicht auf kaltem Wege
beschnitten werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf wird aus unserer Sicht
leider genau das bewirken. Ich fürchte, dass gerade die besonderen Therapierichtungen, auch wenn ich eingangs die
Verlängerung der Mängelbeseitigungsfrist gelobt habe,
stark betroffen sein werden. Der Ausweg über die Anerkennung als Gesundheitspflegemittel ist ein Holzweg,
Herr Kollege Schmidbauer.
({3})
Ich frage Sie: Was ist sinnvoll daran, wenn ein Medikament nur deshalb keine Zulassung erhält, weil die Herstellerfirma personell nicht in der Lage ist, in kurzer Zeit
womöglich für mehrere Präparate gleichzeitig die geforderten Nachweise beizubringen?
({4})
- Ich rede jetzt nicht von den großen Firmen, die die dafür
notwendigen Ressourcen vorhalten.
({5})
- Ich rede von den kleinen, oft auch sehr innovativen Betrieben, die wir fördern sollten, anstatt ihnen das Leben
unnötig schwer zu machen.
Es wird die Damen und Herren von der Koalition vielleicht überraschen, aber es gilt, auch dort die Arbeitsplätze zu erhalten und vielleicht sogar welche zu schaffen.
Gesundheitspolitik, Frau Knoche, ist eben auch Wirtschaftspolitik.
({6})
Wir sollten uns darüber eigentlich einig sein. Meine Damen und Herren der SPD, wenn ich daran denke, wie Sie
den Bundestagswahlkampf geführt haben, wenn ich an Ihr
Plakat „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ denke, dann muss ich
feststellen: Das Ergebnis Ihrer Gesundheitspolitik ist Arbeitsverdichtung auf Kosten der Ärzte und Patienten, Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen - in zunehmendem
Maße - und ein staatlich gedrosselter Gesundheitsmarkt.
Das, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit.
({7})
Ich gebe nunmehr
das Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Erst unter dem Druck eines Vertragsverletzungsverfahrens seitens der EU-Kommission und einer
drohenden Klage vor dem Europäischen Gerichtshof haben Regierung und Koalition einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem es erneut um die Nachzulassung von Arzneimitteln geht. - Ich werde die Frage nicht stellen, ob wir
diese Debatte zu der 10. Novelle auch ohne diesen Druck
geführt hätten.
({0})
Nichtsdestotrotz ist grundsätzlich zu begrüßen, dass
nunmehr auch für das Nachzulassungsverfahren die
Verpflichtung der Hersteller festgeschrieben wird, von
vornherein die notwendigen pharmakologischen und
klinischen Prüfungsunterlagen sowie entsprechende
Sachverständigengutachten einzureichen.
Auch die mit der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetz
noch einmal großzügig bis 2004 verlängerte Abverkaufsfrist für noch nicht geprüfte Medikamente wird aufgehoben. Allerdings wird jenen Unternehmen, die endgültig auf eine Nachzulassung verzichten - man sollte
einmal die Frage stellen, warum sie darauf verzichten -, immer noch ein weiterer Abverkauf von zwei Jahren eingeräumt. Das zeigt, dass der Gesetzgeber bemüht
war, nicht nur den Forderungen der EU-Kommission
Rechnung zu tragen, sondern auch den heimischen Herstellern deutliche Zugeständnisse zu machen.
Während die Pharmaindustrie zunächst dennoch erhebliche Bedenken vorbrachte, spricht sie jetzt von
überwiegend sachgerechten Regelungen und davon, dass
man sie insgesamt mittragen könne. Die Ursachen für diesen Sinneswandel sind nicht schwer zu finden. Zu Beginn
des Gesetzgebungsverfahrens ging die Bundesregierung
noch zwingend davon aus, dass zur Straffung der Zulassungen kürzere Fristen für die Einreichung der Unterlagen und für die Beseitigung von Mängeln erforderlich
sind. Die Zeitspannen sollten deshalb auf sechs Monate
verkürzt werden. Auch die massiven Proteste der Industrie schienen die Regierung zunächst nicht zu beeindrucken.
In der Sitzung des Gesundheitsausschusses, in der der
Gesetzentwurf eigentlich abschließend beraten werden
sollte, präsentierten die Koalitionsparteien aber plötzlich
einen weiteren Änderungsantrag. Damit wurde die
Mängelbeseitigungsfrist auf zwölf Monate angehoben.
Zugleich wurde die zuständige Bundesbehörde verpflichtet, in Zukunft anstelle von Mängelbescheiden vorrangig
mit Auflagen verbundene Zulassungen zu erteilen. Natürlich entsprechen beide Veränderungen vor allem den Interessen der Industrie.
Fazit: Auf dem Arzneimittelsektor herrschen die gewohnten Kräfteverhältnisse. Im Zweifel setzt sich die
Pharmaindustrie durch - wenn nötig, mit Hilfe des Bundeskanzlers, wie auch in diesem Fall zu hören ist. Es zeigt
sich, dass der Regierungswechsel selbst in diesem Detail
keinen Politikwechsel gebracht hat. Für die im Interesse
der Menschen gebotene Handlungsfähigkeit des Staates
in Sachen Arzneimittelsicherheit ist dies allerdings kein
gutes Omen.
Notwendig ist ein zügiger Abschluss der Nachzulassungsverfahren. Geringere Anforderungen an die behördliche Prüfung der Arzneimittel sind dabei nicht gerechtfertigt.
Lieber Kollege Parr, es ist ja richtig: Die Gesundheitspolitik in diesem Land ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Aber unserer
Meinung nach muss der Gesundheitsschutz Vorrang vor
den Herstellerinteressen haben.
Aus den hier genannten Gründen - der Gesetzentwurf
beinhaltet zwar Fortschritte gegenüber dem alten Zustand, aber wir haben auch Kritik anzubringen - werden
wir uns bei der Abstimmung enthalten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Arzneimittelgesetzes, Drucksachen 14/2292 und
14/3320. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit, also mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS, angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3320, die Unterrichtung durch
die Bundesregierung auf Drucksache 14/2355 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela
Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der
Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums
- Drucksache 14/3005 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch für
diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus
ist einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für den
Antragsteller der Kollegin Maritta Böttcher von der PDS
das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Damen und Herren! Die Bundesregierung entpuppt sich
zunehmend als eine Regierung der leeren Versprechen.
Auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitik
ist die Koalition gerade dabei, gleich drei ambitionierte
Reformprojekte gegen die Wand zu fahren und damit eine
Jahrhundertchance zur Erneuerung unserer Hochschulen
zu verspielen.
Anfang des Jahres musste sich die Bundesbildungsministerin dem Druck eines Kanzlermachtwortes beugen
und das Scheitern der versprochenen Strukturreform der
Ausbildungsförderung eingestehen. Auch bei der Reform
der aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Personalstruktur der Hochschulen ist die Regierung drauf und
dran, nach der Devise zu verfahren: Reparaturreförmchen
statt Strukturreform.
Schließlich zeichnet sich auch in der Studiengebührenfrage ein Bruch der rot-grünen Wahlversprechen ab. In Ihrer Koalitionsvereinbarung haben Sie noch unmissverständlich angekündigt:
Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einvernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln und
dabei die Erhebung von Studiengebühren ausschließen sowie die verfasste Studierendenschaft absichern.
Inzwischen ist beinahe die Hälfte der Legislaturperiode verstrichen, aber es ist keine Gesetzesinitiative der
Bundesregierung in Sicht. Ich erinnere daran, dass Sie
noch vor zwei Jahren Ihre Zustimmung zur Novellierung
des HRG verweigerten, weil der vom Rüttgers-Ministerium vorgelegte Gesetzentwurf kein Studiengebührenverbot enthielt. Damals, vor der Bundestagswahl, drohten Sie
zu Recht mit einer Verfassungsklage, weil der Bundesrat
übergangen worden ist. Heute, nach der Wahl, sehen Sie
der schrittweisen Einführung von Studiengebühren in den
Ländern tatenlos zu. Das ist schon enttäuschend.
Die Studentinnen und Studenten sind mit ihrer Geduld
übrigens am Ende. Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren hat bekanntermaßen 123 000 Unterschriften
für ein gebührenfreies Studium ohne Wenn und Aber gesammelt. Doch die Bundesregierung stellt sich weiter
taub, sodass die Studierenden ihren Forderungen im Juni
dieses Jahres mit bundesweiten Demonstrationen und Aktionen Nachdruck verleihen wollen.
({0})
- Hören Sie doch einmal zu, Herr Tauss.
Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums unterstützt die
PDS-Fraktion im Bundestag den außerparlamenta-rischen Protest und fordert die Regierungskoalition auf, ihr
1998 gegebenes Wahlversprechen endlich einzulösen.
({1})
Für die Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums gibt es gute Gründe. Es ist geradezu grotesk: Zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Industrieländern bereits mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs
eine Hochschulausbildung absolviert, wird in Deutschland, das gerade einmal eine Studentenquote von 30 Prozent aufweisen kann, über eine Verteuerung und Privatisierung des Studiums nachgedacht. Es kann doch nicht
sein, dass wir als Antwort auf die in der Green Card-Debatte offen gelegte deutsche Bildungsmisere Studiengebühren einführen und die Nachfrage nach einer qualifizierten Hochschulausbildung drosseln. Studiengebühren
sind sozial ungerecht und stellen die Chancengleichheit in
Bildung und Wissenschaft grundsätzlich in Frage.
({2})
Das neueste Argument der Studiengebührenbefürworter, ohne Gebühren würde die Krankenschwester dem
Arztsohn das Studium finanzieren, ist übrigens zynisch
und falsch; zynisch, weil es den erschwerten Hochschulzugang einkommensschwacher Schichten zum Anlass für weitere soziale Zugangsbarrieren nimmt, falsch,
weil eine kürzlich vom DSW vorgelegte Studie den Nachweis erbracht hat, dass Akademikerinnen und Akademiker nach ihrem Studium an den Staat weit mehr zurückzahlen, als ihre Ausbildung gekostet hat.
Zu einer gesetzlichen Sicherung der Gebührenfreiheit
des Hochschulstudiums gibt es keine Alternative. Der
Versuch von Frau Ministerin Bulmahn, Studiengebühren
über einen Staatsvertrag mit den Ländern zu verhindern,
ist gescheitert. Die Kultusminister diskutieren heute über
ein Studienkontenmodell, das nichts anderes als einen
modern verpackten Vorstoß zur Einführung von Studiengebühren darstellt. Studiengebühren gefährden die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet substanziell. Zweifel an der verfassungsrechtlichen
Zulässigkeit eines Studiengebührenverbots halte ich daher für absolut unbegründet.
Um eine unterschiedliche Entwicklung der Hochschulsysteme der Länder in der zentralen Frage des Hochschulzugangs zu verhindern, brauchen wir eine verbindliche Regelung im Hochschulrahmengesetz. Ich mache
auch nachdrücklich auf den internationalen Pakt über die
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte aufmerksam, mit dem sich die Bundesrepublik völkerrechtlich dem Ziel der Unentgeltlichkeit des Hochschulunterrichts verschrieben hat.
Mit den Worten „Bei mir rennen Sie offene Türen ein“
hat die Ministerin Bulmahn die Unterschriften gegen Studiengebühren entgegengenommen.
({3})
Frau Ministerin, meine Damen und Herren, erlauben Sie,
dass sich die PDS heute als Türöffnerin betätigt. Das seit
Jahren chronisch unterfinanzierte Hochschulsystem steht
vor einer Fülle von Problemen. Studiengebühren lösen
kein einziges Problem, aber sie erzeugen neue.
({4})
Lassen Sie uns daher mit den Studentinnen und Studenten die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und
damit eine zentrale sozialstaatliche Errungenschaft in diesem Land verteidigen.
({5})
- Ja, notfalls mit Ihnen gemeinsam, Herr Hilsberg.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Stephan Hilsberg.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beliebt
uns heute wieder einmal mit einem Gesetzentwurf zur
bundesweiten Verhinderung von Studiengebühren die
Ehre zu geben, damit wir in diesem Hohen Hause erneut
über Studiengebühren diskutieren. Das ist nicht neu, das
haben wir immer wieder einmal getan. Wir haben auf unterschiedlichem Niveau diskutiert, aber auf einer so platten Grundlage, wie der PDS-Gesetzentwurf sie darstellt,
haben wir es noch nie getan.
({0})
Bevor ich hier zu unserer grundsätzlichen Haltung zu
Studiengebühren komme, die übrigens bekannt ist und an
der sich überhaupt nichts ändert
({1})
- ich gehe davon aus, dass wir hier einen weitestgehenden
Konsens mit den Grünen und der CDU haben -, muss ich
einen Einwand machen. Sie sind in einer Landesregierung
beteiligt und haben zu der Zeit, als Sie noch SED hießen,
große Regierungserfahrung gesammelt. Man kann Ihnen
vielleicht verzeihen, dass Sie nicht wissen, wie Regierungsgeschäfte in der Bildungspolitik in der Bundesrepublik laufen, es ist aber klar: Die Bildungspolitik gehört zu
den kompliziertesten Geschäften, die es überhaupt gibt.
Das von Ihnen verlangte Verbot von Studiengebühren
ist ohne die Länder überhaupt nicht zu machen.
({2})
Deshalb brauchen Sie den Konsens in dieser Sache.
({3})
Sie haben schon darauf hingewiesen, dass ein solches
Studiengebührenverbot nicht rechtskonfliktfrei ist. Sie
können das nicht einfach veranlassen. Wir könnten das
natürlich einfach beschließen, aber wer garantiert Ihnen
dann, dass das nicht anschließend beklagt wird? Genau
das ist doch die Situation.
({4})
Wenn Sie uns wirklich unterstützen wollten, indem Sie
sagen: „Macht das doch“, dann hätten Sie das machen sollen, als wir noch die entsprechenden Mehrheiten im Bundesrat hatten, da wäre es vielleicht noch machbar gewesen. Aber selbst damals wäre es ausgesprochen schwierig
gewesen. Jetzt ist das nichts anderes als warme Luft.
({5})
Wir sind aus grundsätzlichen Erwägungen nach wie
vor gegen Studiengebühren. Ich will das in aller Deutlichkeit betonen.
({6})
Es ist das falsche Signal. Wir brauchen mehr Studenten
aus den sozial einfachen Schichten, aus den Schichten, die
nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wir dürfen die
Hemmschwelle, die vor der Aufnahme eines Studiums
liegt, nicht anheben. Genau das würde aber passieren,
wenn man Studiengebühren einführte.
({7})
Das war schon immer die Position der SPD.
Nebenbei bemerkt: Ich wünsche wirklich gute Verrichtung bei dem Versuch, mindestens 1 Million Studenten
zusätzlich Studiengebühren aufzudrücken. Ich kann mir
vorstellen, was das an Aufschrei und Protest geben wird.
Den Versuch möchte ich lieber nicht unternehmen. Ich
möchte das auch aus rein machiavellistischen Überlegungen erst gar nicht erwägen.
Manchmal fragt man sich allerdings, ob einige Länder
an dieser Stelle wirklich wissen, worauf sie sich einlassen,
wenn sie die Einführung von Studiengebühren fordern.
Aber sie sind nicht die Einzigen.
({8})
Es ist nicht ganz einfach, unsere Position aufrechtzuerhalten, wenn beispielsweise die Hochschulrektorenkonferenz die Einführung von Studiengebühren, wie jüngst geschehen, verlangt.
({9})
- Sie sprechen das Wort „Niedersachsen“ aus, Frau
Pieper.
({10})
- Herr Rachel, wir können auch noch auf Herrn von
Trotha zu sprechen kommen.
({11})
Wir haben gegenwärtig unterschiedlichste Entwicklungen. Ich will nicht verhehlen: In jeder Partei gibt es
Leute, die den großen Auftritt lieben. Auch einer meiner
Vorgänger beispielsweise beliebte das zu tun.
({12})
Nun wollen wir die Debatte mit dem richtigen Ernst betrachten.
({13})
Es gibt bei denjenigen, die die Einführung von Studiengebühren immer wieder gefordert haben, entsprechende
Argumente. Es lohnt sich, sich mit diesen Argumenten
auseinander zu setzen. Aber selbst wenn wir das tun, kommen wir immer wieder zu der gleichen Auffassung, dass
Studiengebühren das Falsche sind.
({14})
Man sollte sich auch nicht von spekulativen „dpa“Meldungen in Panik versetzen lassen.
({15})
- Herr Rachel, man sollte auch nicht auf spekulative
„dpa“-Meldungen mit ebenso spekulativen „dpa“-Meldungen reagieren. Damit haben Sie überhaupt noch keine
Politik gemacht. Was Sie brauchen, ist der Konsens mit
den Ländern. Das ist in der Tat völlig richtig.
Was Sie brauchen, sind Länder, die sich darüber im
Klaren sind, welcher Dominoeffekt in dem Moment einsetzen würde, in dem ein einziges Land Studiengebühren
einführte. Schon deshalb müssen die Länder selber ein
großes Interesse daran haben, zu einer Verwaltungsvereinfachung hinsichtlich der entsprechenden Studiengebühren zu kommen. Sie sind jetzt auch dabei und das ist
der richtige Weg. Dabei wurden auch Signale zur Verhinderung von Studiengebühren gesetzt. Diese müssen von
den Ländern ausgehen, denn sie sind die wirklich Betroffenen. Ohne die Länder werden Sie das in keiner Weise
hinbekommen.
Es gibt noch ein paar Fragen, über die man sich nebenbei unterhalten kann: Es wird ideologisch debattiert,
und Verwaltungsgebühren werden beispielsweise mit
Studiengebühren gleichgesetzt. Sie von der PDS tun das
übrigens auch.
Das würde ich nicht machen. Lesen Sie sich Ihren Gesetzentwurf durch.
({16})
Darin steht, dass davon gleichzeitig das Verbot von Verwaltungsgebühren betroffen sei. Man soll nicht Äpfel mit
Birnen gleichsetzen. Dies sind schon zwei unterschiedliche Sachen.
Ich will mich einmal in die Diskussion über die Studiengebühren beispielsweise mit dem CHE einmischen. Es
gibt dieses schöne Gutachten vom Deutschen Studentenwerk, das klar die Haltung widerlegt, in unserem Land
würden die armen Leute das Studium der Reichen finanzieren. Dies ist einfach nicht wahr. Wenn Sie sich die
Steuerbilanz ansehen, stellen Sie fest, dass diejenigen, die
die Universität abgeschlossen haben, infolge des progressiven Steuersatzes sehr viel mehr in die Steuerkasse zahlen als die armen Leute. Deswegen ist die in dem Gegengutachten enthaltene Antwort des CHE darauf schlicht
eine Frechheit, weil so getan wird, als würde sozusagen
die Rendite verglichen werden. Dabei sind die Bürger die
entsprechenden materiellen Produkte, deren Rendite für
die Bilanzierung entscheidend ist.
({17})
- Herr Präsident, möchten Sie eine Frage zulassen?
({18})
Ich war gerade abgelenkt, weil ich mit Freude gesehen habe, wie viele Kollegen ihre Reden zu den nächsten Tagesordnungspunkten
zu Protokoll geben.
Frau Pieper, der Kollege Hilsberg gestattet eine Zwischenfrage. Bitte, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Hilsberg, es reizt mich jetzt doch, eine Frage
an Sie zu richten. Ich sehe, wie sehr sich der Kollege
Tauss darüber freut, dass ich Ihnen eine Frage stellen
möchte.
Herr Kollege Hilsberg, da Sie die Studie des Deutschen
Studentenwerkes zur Hochschulfinanzierung und zu den
Studiengebühren genannt haben, möchte ich Sie fragen,
ob Ihnen die Aussage Ihres Wissenschaftsministers aus
Niedersachsen, Herrn Oppermann, bekannt ist, die lautet:
Die Verkäuferinnen und Facharbeiter bezahlen mit ihren
Steuern das Medizinstudium des Arztsohns.
Diese Aussage ist mir
bekannt. Darauf antworte ich mit dem Satz, den ich vorhin
schon gesagt habe: Es gibt in jeder Partei Leute, die den
großen Auftritt lieben; aber nicht jeder große Auftritt ist
richtig und in sich logisch. Diese Aussage von Herrn
Oppermann ist schlicht falsch und widerspricht den Tatsachen. So ist es nämlich nicht.
({0})
Dies wird man in aller Freundlichkeit einmal sagen können und dies sagen wir uns auch untereinander.
Wir haben unterschiedliche Meinungen. Daran kann
man feststellen, wie drängend das Problem inzwischen
diskutiert wird. Die jetzige Arbeitsgruppe, die eingesetzt
wurde, um die Einführung von Studiengebühren bis zum
Erreichen eines ersten berufsqualifizierenden Abschlusses zu verhindern, ist vermutlich die letzte Chance, um die
Einführung von Studiengebühren in dieser Republik
wirklich zu verhindern. Dies jedoch ist ein bildungspolitisches Gebot.
({1})
Ganz anders ist die Situation bei den privaten Hochschulen in unserem Lande, von denen ich mir mehr wünsche. Etwas ganz anderes ist es auch mit den Studenten,
die bereit sind, Studiengebühren zu zahlen, manchmal bis
zu einer Höhe von 3 000 bis 4 000 DM pro Semester.
Wenn diese das gerne möchten, sollen sie es machen.
Wenn wir Angebote haben, mit denen diese gut leben können, ist das nicht schlecht. Wenn wir mehr privates Kapital bekommen, um in dieser Republik entsprechende Studiengänge anbieten und damit das Studienangebot bereichern zu können, ist auch das nicht schlecht und belebt
das Geschäft. Aber natürlich kommt dadurch das gesamte
Hochschulsystem unter gewaltigen Reformdruck. Darauf
reagieren wir auch.
Beispielsweise setzen wir mit der Dienstrechtsreform
die Hochschulen in den Stand, sich selber mehr profilieren, ein besseres Angebot erarbeiten zu können, um an der
Spitze exzellenter Universitäten in dieser Republik stehen
sowie bei dem Ranking ganz vorne mitspielen zu können,
damit bei uns eine wichtige Voraussetzung erfüllt bleibt,
nämlich dass es nicht am Geldbeutel der Eltern liegen
darf, ob jemand ein gutes Studium absolviert oder nicht.
Dies muss in diesem Haus Konsens bleiben und dies war
es bisher auch immer.
({2})
Gegen Wettbewerb ist überhaupt nichts einzuwenden.
Wir brauchen den Wettbewerb. Wettbewerb schadet nicht,
sondern nützt und muss von uns so organisiert werden,
dass wir unseren Studenten auch in den nächsten Jahren
ein studiengebührenfreies Studium garantieren können.
Ich hoffe, dass Sie alle mit uns darin einig sind, dass wir
diesen Weg weitergehen, und Sie uns dabei unterstützen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Rachel.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mal wieder
fordert die PDS-Fraktion ein bundesweites Verbot von
Studiengebühren im Hochschulrahmengesetz. Unsere
Haltung als Unionsfraktion ist klar: Über die Einführung
von Studiengebühren müssen nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes die Bundesländer entscheiden.
Die Länder sind für die Grundfinanzierung der Hochschulen zuständig. Sie finanzieren die Hochschulen aus
ihren Länderhaushalten. Das Grundgesetz lässt eine
Mischfinanzierung nur beim Hochschulbau und der
gemeinsamen Forschungsförderung zu. Der Bundesgesetzgeber hat also nicht das Recht, per Gesetz festzulegen, ob Studiengebühren erhoben werden oder nicht.
Entsprechend dieser Rechtsauffassung der CDU/CSU
haben wir schon im März 1998 den Antrag des SPD-dominierten Bundesrats abgelehnt, ein Verbot von Studiengebühren in das Hochschulrahmengesetz aufzunehmen.
({0})
Wie schaut es nun aus? Vollmundig hatte die SPD im
Bundestagswahlkampf das klare Versprechen gegeben,
in einem Bundesgesetz Studiengebühren auf Dauer zu
verbieten. Was ist aus diesem hochschulpolitischen Versprechen von SPD und Grünen geworden? Schauen Sie
sich einmal eine „dpa“-Meldung von heute an, - ich zitiere -:
Als erstes SPD-geführtes Bundesland plant Niedersachsen die Einführung von Studiengebühren ab dem
13. Semester.
Ich finde, es ist ein Unding, wie Sie die Öffentlichkeit
täuschen, obwohl Sie in Wirklichkeit die Einführung von
Studiengebühren vorbereitet haben.
({1})
Die Studiengebühren sollen nach der Deutschen
Presse-Agentur in Niedersachsen nach den Vorstellungen des dortigen Wissenschaftsministers Oppermann bereits ab dem Jahre 2001 erhoben werden; nach dieser Meldung wolle Oppermann mit Rücksicht auf die nordrheinwestfälischen Landtagswahlen am kommenden Sonntag
seine Absicht erst nächste Woche veröffentlichen. Das
heißt, Sie verschweigen Ihre politischen Vorhaben vor
dem Wahltermin. Das ist eine Sauerei!
({2})
- Herr Tauss, das ist glatter Wahlbetrug. Sie haben im
Bundestagswahlkampf versprochen, ein Verbot von Studiengebühren im Hochschulrahmengesetz bundesweit
einzuführen. In Wirklichkeit machen Sie in Niedersachsen genau das Gegenteil. Sie haben den Bundestagswahlkampf perfide geführt. Die SPD hat sich die Zustimmung
der Studierenden wissentlich durch Wahlbetrug erkauft.
({3})
Die Wählerinnen und Wähler sind getäuscht worden.
Noch in der Koalitionsvereinbarung haben SPD und
Grüne vertraglich zugesichert - ich zitiere aus der Koalitionsvereinbarung -:
Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einvernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln
und dabei die Erhebung von Studiengebühren ausschließen ...
In Wirklichkeit wird in Niedersachsen ab Montag die
Einführung von Studiengebühren vorbereitet. Was Sie
sich in Ihrer Regierungsverantwortung in Niedersachsen
leisten, ist ein gigantischer Wahlbetrug.
({4})
Man muss sich vor Augen führen, dass die Bundesbildungsministerin, die wir heute hier vermissen - noch
nicht einmal ein Vertreter des Ministeriums scheint heute
das Wort ergreifen zu wollen, um diese Blamage vor dem
Parlament zu entschuldigen -,
({5})
Landesvorsitzende in Niedersachsen und damit in dem
Land ist, in dem gerade Studiengebühren ab dem 13. Semester eingeführt werden. Man kann nur sagen: Wissenschaftsminister Oppermann fährt Schlitten mit Frau
Bulmahn und macht sie damit zur Witzfigur. Das ist leider auch in unserem Sinne nicht erfreulich.
({6})
Wie war denn Ihr eigener Anspruch? Frau Bulmahn hat
in der Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt ich zitiere -:
Wir werden im Zusammenhang mit der Novellierung
des Hochschulrahmengesetzes darauf bestehen, dass
ein Verzicht auf die Einführung von Studiengebühren
festgeschrieben wird.
Die Realität Ihres Regierungshandelns ist genau das
Gegenteil. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vertraglich besiegelt, dass Sie Studiengebühren ausschließen
wollen. Das Gegenteil davon findet statt. Sie führen die
Studierenden an der Nase herum und das empfinden wir
als Wählertäuschung. Auch die Studierenden werden das
so empfinden.
Sie haben die Studierenden im Bundestagswahlkampf
1998 getäuscht.
({7})
Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vertraglich mit
Stempel und Unterschriften von Joschka Fischer und
Gerhard Schröder ein Verbot von Studiengebühren versprochen. In Wirklichkeit führen Sie sie in Niedersachsen
ein. Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Rot-Grün himmelweit auseinander.
({8})
Die Situation an den Hochschulen in Deutschland hat
sich in den eineinhalb Jahren Ihrer Regierungszeit nicht
verbessert. Ihre groß angekündigte BAföG-Reform mit
Sockelmodell ist am Veto des Kanzlers gescheitert. Anstatt nun im bestehenden BAföG-System grundlegende
Verbesserungen für die Studierenden noch in diesem Jahr
in Kraft zu setzen, wollen Sie die anstehende BAföG-Reform auf Mitte 2001 verschieben. Die Studenten spüren,
dass sie bei Ihnen leer ausgehen. Das kritisieren wir.
({9})
Die Diskussion über die Studiengebühren zeigt, woran
Ihre Bildungspolitik krankt. Eine sektorale Diskussion
hilft uns nämlich nicht weiter. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert Bundesbildungsministerin Bulmahn
auf, endlich ein umfassendes Konzept der Bundesregierung zu einer Reform der gesamten Bildungsfinanzierung vorzulegen.
({10})
Die Grünen, Herr Tauss, haben sich jedenfalls von der
SPD-Position zu den Studiengebühren verabschiedet.
Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 18. April berichtete,
haben die Grünen einen Kurswechsel vorgenommen. Ich
verstehe, dass Sie dabei blass werden. So fordert der bildungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen,
Matthias Berninger, Studiengebühren für jene Langzeitstudenten, die ihr Guthaben an Lehrveranstaltungen in
der Regelstudienzeit bereits verbraucht haben. Damit haben sich die Grünen auf das Gebührenmodell in BadenWürttemberg und des rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministers Zöllner zubewegt. Aber, wie verträgt
sich das mit dem Wahlversprechen von Bündnis 90/Die
Grünen zur Bundestagswahl im Jahre 1998, meine Damen
und Herren? Wie verträgt sich das mit der Zusage im Koalitionsvertrag, ein Verbot von Studiengebühren in einem
Bundesgesetz durchzusetzen?
({11})
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier himmelweit
auseinander.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten sind das Parlament und die Öffentlichkeit in einer derartigen Art und
Weise nicht nur in Reden, in Bundestagswahlprogrammen und in Koalitionsvereinbarungen so getäuscht worden wie in diesem Falle. Rot-Grün hat die Studenten im
Bundestagswahlkampf 1998 belogen. Dafür werden Sie
in Nordrhein-Westfalen auch von den Studenten und deren Eltern die Quittung bekommen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Matthias
Berninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man in
dieser Woche CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen
hat reden hören, dann weiß man, an welcher Stelle
Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Das werden Sie am nächsten Sonntag zu spüren bekommen.
Nun zum Thema Studiengebühren. Herr Kollege
Rachel, wir alle sind über folgende Zahlen besorgt - ich
glaube, dass das die Fraktionen im Bundestag eint -: Von
100 Kinder aus eher wohlhabenden Familien machen 84
Abitur. 72 von diesen 100 Kindern besuchen nach dem
Abitur die Universität. Von 100 Kindern aus einkommensschwachen Familien machen 30 Abitur. Davon gehen ganze sieben Kinder an die Universität. Würde man
ab dem ersten Semester Studiengebühren einführen, hätte
das die Konsequenz, dass man die sieben Kinder durch
null ersetzen könnte. Deswegen kämpft diese Koalition
dafür, dass es eine bundeseinheitliche Regelung gibt, die
die Erhebung von Studiengebühren ausschließt, damit
diese Menschen studieren können.
({0})
Daran gibt es nichts zu deuteln.
Die entscheidende Frage haben Sie selbst angesprochen, Herr Rachel. Sie haben den Koalitionsvertrag richtig zitiert. Es muss im Einvernehmen mit den Ländern
eine Regelung geben. Die ganze Diskussion, die wir heute
führen, hätte es nicht gegeben, wenn die CDU - der Herr
Rüttgers, der Herr Rachel - im März 1998 unserem Ansinnen zugestimmt hätte und wir im Rahmen der HRGReform eine einheitliche Regelung von Bund und Ländern erreicht hätten.
({1})
Sie sind stolz darauf, dass diese Einigkeit nicht erzielt
wurde. Das finde ich absurd.
({2})
- Der Kollege möchte mir eine Zwischenfrage stellen.
Stehen Sie einfach auf. - Nein, okay.
({3})
Der entscheidende Punkt ist, dass die CDU stolz darauf
ist, einheitliche Regelungen nicht durchgesetzt zu haben,
mit der Konsequenz, dass wir heute in dieser Situation
sind.
Ich bin aus zwei Gründen über einen gewissen Landespolitiker in Hannover, der meint, Studiengebühren
einführen zu müssen, ärgerlich: Der eine Grund ist, dass
Niedersachsen ein Land ist, aus dem die Leute weglaufen,
in dem sie nicht studieren. Viele Niedersachsen studieren
in Hamburg, Bremen oder Berlin. Gleichzeitig spielt er
sich als der bedeutendste Bildungspolitiker in Deutschland auf. Der andere Grund ist - das ärgert mich mindestens genauso -, dass Herr Oppermann, genauso wie
einige CDU-Politiker, eine Einigung von Bund und
Ländern, die den jungen Menschen in Deutschland
Planungssicherheit gibt, durch seine Manöver gefährdet.
Dem müssen Bund und Länder einen Riegel vorschieben.
Ich bin zuversichtlich, dass das auch gelingen kann. Das
kann aber nur dann gelingen, wenn man bereit ist, Kompromisse zu schließen. Diese Kompromisse können nicht
so aussehen, wie sich das die Bildungspolitiker in BadenWürttemberg vorgestellt haben, und zwar nach dem
Motto: Ich lege irgendeine Semesterzahl fest, und wer
länger als diese Semesterzahl studiert, zahlt Gebühren.
Warum geht das nicht? Es geht deshalb nicht, weil die
Lebenswirklichkeit der Studierenden nicht einheitlich ist.
Es gibt Leute, die ein Teilzeitstudium machen. Es gibt
Leute, die während ihres Studiums Kinder erziehen. Es
gibt Leute, die zur Finanzierung ihres Studiums gezwungen sind zu jobben. Diese Vielfalt der Lebenswirklichkeit
von Studierenden an den Hochschulen muss man berücksichtigen, wenn man einen Konsens zwischen den Ländern sowie zwischen dem Bund und den Ländern herstellen möchte.
Ich halte den Vorschlag von Herrn Zöllner in der Tat für
sehr nachdenkenswert, nach dem jeder Mensch eine bestimmte Zahl an Bildungsgutscheinen, also ein Bildungskonto, erhalten soll, das er für ein Studium nutzen kann.
Dieses Bildungskonto kann er für sein Erststudium verwenden oder er kann - wenn er schneller als die vorgegebene Regelstudienzeit studiert - den auf dem Bildungskonto verbliebenen Rest nutzen, um - wir haben ja gestern über Weiterbildung geredet - ein zweites Mal an die
Hochschule zu gehen.
Wir sagen: Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung.
Dieses Recht wird mit Bildungskonten auch verwirklicht,
und zwar in jedem Bundesland. Das Ziel einiger Bundesländer, mit der Erhebung von Studiengebühren Studierwillige zur Aufnahme eines Studiums in einem anderen
Bundesland zu bewegen, trägt dagegen nicht zur Verwirklichung dieses Rechts bei. In Deutschland soll einheitlich gelten: Jeder junge Mensch hat für eine gewisse
Zeit ein Recht auf Bildung. Diese Zeit muss ausreichen,
um ein Studium abzuschließen. Sie muss ausreichen, um
ein Studienfach zu wechseln. Sie muss ausreichen, um einen Bachelor- und einen Master-Abschluss zu machen.
Sie muss auch ausreichen, um das Studium mit einer Berufstätigkeit zu kombinieren, sei es, weil man ein Teilzeitstudium macht, sei es, weil man zur Finanzierung des
Studiums darauf angewiesen ist zu jobben. Hier einen
Konsens zwischen CDU-regierten, PDS-mitregierten,
rot-grün- und rot-regierten Ländern zu finden ist aus meiner Sicht die Herausforderung, vor der wir stehen.
Vor diesem Hintergrund finde ich es selbstgefällig,
wenn Sie, lieber Kollege Rachel, hier so tun, als sei die
Lösung des Problems nur Sache der Bildungsministerin
Bulmahn. Sie möchte genau wie wir die Gebührenfreiheit
sicherstellen, und zwar in dem Rahmen, den ich gerade
beschrieben habe. Darauf kommt es an; das wollen wir erreichen. Wir wollen auf Dauer Planungssicherheit für die
jungen Menschen schaffen.
({4})
Darüber hinaus werden wir im Rahmen der Reform der
Personalstruktur an den Hochschulen ohnehin die Änderung des Hochschulrahmengesetzes in Angriff nehmen.
Dabei werden wir uns mit weiteren Fragen zu beschäftigen haben, etwa mit der Frage der Zuständigkeiten für die
Bildungsfinanzierung. Sie wollen uns tatsächlich weismachen, dass erst die CDU/CSU uns darüber die Diskussion aufgezwungen habe, obwohl Sie in diesem Bereich
über Jahre hinweg nichts getan haben. Das ist schlicht
lächerlich. Die Fragen, ob wir lieber Köpfe finanzieren
wollen oder ob wir die Mittel lieber in die Erhaltung der
Hochschulgebäude investieren wollen, ob wir die heutige
Mischfinanzierung des Hochschulbaus überhaupt erhalten wollen oder ob wir ein neues System einführen wollen, werden im Rahmen der Neuregelung des föderalen
Finanzausgleiches zwischen Bund und Ländern zur Sprache kommen.
Ich bin dafür, dass man Köpfe finanziert und dass man
den Ländern und den Hochschulen, die viele Studierende
ausbilden, auch mehr Geld als denjenigen gibt, die das
nicht tun. Wer viel ausbildet, der muss belohnt werden.
Diese Belohnung muss sich an der Zahl der ausgebildeten
Studierenden orientieren.
Wenn es uns gelingt, den Rechtsanspruch auf Bildung
sicherzustellen und die Bildungsfinanzierung umzustellen, dann bin ich sehr optimistisch, dass sich die Studiensituation in Deutschland verbessert. Aber Ihren kleinkarierten und parteipolitisch motivierten Streit, den Sie hier
anzetteln, können Sie sich für die Zukunft sparen.
({5})
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht die Kollegin Cornelia Pieper.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage gleich in
der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der PDS: Wir
lehnen es ab, Gebührenfreiheit in einem Paragraphen des
Hochschulrahmengesetzes festzuschreiben und somit uneingeschränkt zu gewährleisten.
({0})
Es kommt noch hinzu, dass die Gebührenfreiheit auch
für die Langzeitstudierenden gelten soll. Dazu sage ich
ganz deutlich: Das entspricht überhaupt nicht unserem
Ideal von dem jungen Menschen in dieser Gesellschaft.
Die jungen Menschen in unserer Gesellschaft streben
nicht als erstes Ziel ein Langzeitstudium an, um dann nach einer Tätigkeit als Fahrradbeauftragter - in den Genuss einer Staatspension zu kommen. Wer glaubt, dass
junge Menschen das wollen, der ist ein bisschen weltfremd. Wir wollen jedenfalls nicht die Langzeitstudierenden durch Studiengebührenfreiheit fördern.
Ich kann auch nicht feststellen, dass die Studiengebührenfreiheit zur Steigerung der Attraktivität des Hochschulstandortes Deutschland beigetragen hätte. Das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen. Von daher brauchen
wir in der Diskussion ganz neue Ansätze.
Ich fand gut, dass Herr Berninger hier ein Modell vorgetragen hat, das die F.D.P. schon vor drei Jahren beschlossen hat, nämlich über Bildungsgutscheine - so
heißt bei uns das, was bei Ihnen Bildungskonten genannt
wird - in die Köpfe zu investieren. Man gibt den jungen
Menschen Gutscheine für einen Rechtsanspruch auf ein
Studium. Mit den entsprechenden Wertpapieren darf man
bestimmte Veranstaltungen an Hochschulen besuchen.
Das soll bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss
gelten. Daraus ergibt sich unsere klare Antwort auf die
Frage der Studiengebühren: Natürlich steht die F.D.P.
weiterhin für Chancengleichheit aller jungen Menschen
beim Start ins Berufsleben;
({1})
deswegen wollen wir keine Studiengebühren für den ersten Teil der akademischen Ausbildung, also für den Teil
bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss.
Wenn Sie Chancengleichheit tatsächlich wollen, dann
lassen Sie mich mit Blick auf die Regierungsbank, Herr
Catenhusen, sagen: Wenn Sie das Studium nicht vom
Geldbeutel der Eltern abhängig machen wollen, dann
stimmen Sie doch unserer BAföG-Reform, dem Dreikörbemodell, zu. Danach soll jedem Studierenden in
Deutschland ein Ausbildungsgeld in Höhe von 500 DM
ausgezahlt werden. Mit dieser Maßnahme kann man etwas für die Chancengleichheit insbesondere von jungen
Menschen aus einkommensschwachen Elternhäusern tun.
({2})
Ich will daran erinnern - auch Herr Hilsberg hat es gesagt -, dass es in Deutschland insgesamt 75 Privathochschulen mit circa 40 000 Studierenden gibt. Wenn man
sich die Qualität der Privathochschulen anschaut, dann
kann man feststellen, dass sie wie ein Magnet auf die jungen Menschen wirken. Es ist nicht so, dass diese Hochschulen Probleme damit haben, Studierende zu bekommen - ganz im Gegenteil. Ich selber war an den Privatuniversitäten in Witten-Herdecke und in Leipzig, der ältesten Handelshochschule. Ich habe feststellen dürfen,
dass sich die Studienbewerber um die Studienplätze
reißen. In Leipzig kommen auf einen Studienplatz 20 Bewerber, obwohl das Studium dort nicht gerade billig ist.
Wir sollten den Hochschulen in Deutschland kein allzu
enges Korsett aufzwingen. Unser Kredo war immer: mehr
Autonomie und Wettbewerb der Hochschulen. Dabei wollen wir bleiben. Von daher sage ich ganz klar: Wir wollen
kein Verbot über ein Bundesgesetz. Das wäre rechtlich sowieso nicht machbar; Herr Rachel hat das hervorragend
ausgeführt.
Ich will daran erinnern, dass wir in europäischen Dimensionen leben. Demnächst wird die EU-Osterweiterung stattfinden und Polen, Tschechien und Ungarn werden der EU beitreten. Ich hatte in dieser Woche ein Gespräch mit dem Marketingbeauftragten der privaten
Fachhochschule für Verwaltung und Finanzen in Breslau.
Er hat mir erzählt, wie es dort funktioniert: Die polnischen
Studenten zahlen monatlich eine Studiengebühr von
200 DM bis 400 DM. An dieser Hochschule studieren
8 000 Studenten. Das Durchschnittsgehalt in Polen beträgt 800 DM.
({3})
Das Aufkommen der Studenten halte ich für eine
enorme Leistung. Damit will ich nur deutlich machen,
dass der Wettbewerb zwischen den Hochschulen nicht nur
in Deutschland, sondern auch international stattfindet.
Wir sollten alles daransetzen, den Hochschulstandort
Deutschland zu stärken.
Kurz gesagt, für mich ist wichtig, wie lange und bis zu
welchem Abschluss die staatliche Finanzierung des Studiums gewährleistet werden soll. Wir haben die Diskussion über die künftige Studienstruktur noch nicht abgeschlossen. Das Koalitionsversprechen, die Erhebung von
Studiengebühren auszuschließen, wird auch von Frau
Bulmahn Schritt für Schritt umgedeutet. Von der Formulierung, Studiengebühren im ersten Studium werde man
ausschließen, ist man inzwischen zur Formulierung gekommen, Ziel sei es, Studiengebühren bis zu einem berufsqualifizierenden Abschluss auszuschließen. Hierin
sehen wir eine gewisse Annäherung der Positionen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Modellprojekt zum Heil- und GewürzpflanzenAnbau in Ostwestfalen-Lippe
- Drucksache 14/3107 Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Gudrun Kopp.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Modellprojekt „Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in
Ostwestfalen-Lippe“ ist ein Modellprojekt, das ich schon
seit über einem Jahr intensiv und akribisch verfolge und
umzusetzen versuche. Ich wünsche mir dafür sehr viel
mehr Aufmerksamkeit,
({0})
auch aus den Reihen dieses Gremiums.
Bundeslandwirtschaftsminister Funke hat - das richte
ich an die Adresse der SPD-Abgeordneten - diesem Vorschlag zur Innovation der direkten Vernetzung von Landwirtschaft und Wirtschaft sein Plazet gegeben. Er wird
dies fördern. Das begrüße ich ausdrücklich, denn dies ist
gleichzusetzen mit der Förderung einer Existenzgründung, mit einer Innovationsförderung und mit einer Anschubfinanzierung, die notwendig und sinnvoll ist. Für
die F.D.P.-Fraktion danke ich dem Landwirtschaftsminister ganz herzlich dafür.
({1})
Wofür der Heil- und Gewürzpflanzenanbau - eine
Säule der Landwirtschaft - genutzt werden kann, möchte
ich Ihnen kurz darlegen: Dieser Pflanzenanbau soll zur
Herstellung von homöopathischen Arzneimitteln, von
Biokosmetika, von Extrakten bzw. Naturheilmitteln sowie von alternativen Dämmstoffen für die Bauwirtschaft
dienen. Nun wissen wir, dass circa 90 Prozent aller auf
dem deutschen Markt benötigten Heil- und Gewürzpflanzen aus dem Ausland importiert werden, beispielsweise
aus Südamerika, aus Indien und aus Osteuropa.
({2})
Diese Abnahme erfolgt zu Weltmarktpreisen. Es stellt sich
natürlich die Frage, wie wir uns dem in Deutschland mit
den 10 Prozent, die hier angepflanzt werden - dieses Modellprojekt soll ja ein positives Beispiel auch für andere
Regionen geben -, stellen können. Womit haben wir eine
Chance? - Nur mit Topqualität am heimischen Standort;
denn die importierten Rohstoffe - das wissen wir alle sind häufig verschmutzt bzw. sogar belastet.
Die Anschubfinanzierung soll in erster Linie eine fachliche Betreuung dieses Projektes vom ersten Tag an gewährleisten - Professionalität ist gefragt - sowie eine Investition in Maschinen bzw. Anlagen, um dieses Projekt
auf die Schiene zu bringen und die Projektphase möglichst erfolgreich zu beenden. Am Projekt in der Region
arbeiten auch Hochschulen mit, die bei diesem speziellen
Projekt im Augenblick mit der Erzeugergemeinschaft, die
noch zu gründen ist, und mit den Vertragspartnern auf der
anderen Seite nach neuen Wegen der Extraktgewinnung
suchen. Also auch technologisch soll es Fortschritte geben.
Ich bin heute hier die Einzige, die zu diesem Tagesordnungspunkt redet. Das mag zeigen, wie wenig wichtig die
Fraktionen dieses Thema nehmen. Gleichwohl wünsche
ich mir die Unterstützung von Ihnen allen. Ich wünsche
mir auch, dass Sie sich diesem Thema ein wenig positiver
nähern und auch den innovativen Aspekt entsprechend
würdigen. Ich sage es noch einmal: Hier geht die Landwirtschaft neue Wege, wobei sie sich marktwirtschaftlichen Gegebenheiten stellt. Damit kann sie sich - das ist
unser Anliegen - ein Stück weit von der bisherigen EUSubventionspraxis entfernen und Eigenständigkeit gewinnen. Das ist etwas, was man nicht hoch genug anrechnen kann. Ich bitte Sie also herzlich um Unterstützung
dieses Antrages der F.D.P.-Fraktion.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegen
Meinolf Michels, Marianne Klappert, Kersten Naumann,
Helmut Heiderich, Steffi Lemke und der Parlamentari-
sche Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten Dr. Gerald Thalheim geben
ihre Reden zu Protokoll.*) Ich kann deshalb die Aussprache schließen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3107 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit
einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt
3 auf:
20. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen
- Drucksache 14/3096 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita
Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche
Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in
Europa zügig abbauen
- Drucksache 14/3298 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsident Rudolf Seiters
*) Anlage 3
Die Kollegen Albert Deß, Gustav Herzog, Marita
Sehn, Kersten Naumann und Ulrike Höfken geben ihre
Reden zu Protokoll. **)
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe
damit die Aussprache, die nicht stattgefunden hat.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf
Drucksache 14/3298 soll an dieselben Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuss für Gesundheit überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu Veröffentlichungen, wonach Bundesfinanzminister Eichel
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer im nächsten
Jahr plant
Diese Aktuelle Stunde ist von der Fraktion der PDS beantragt worden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche informierte das „Handelsblatt“ die interessierte Öffentlichkeit
über die Pläne des Bundesfinanzministers zur Reform der
Rentenbesteuerung. Besonderes Interesse fand dabei
natürlich die Frage der Finanzierung. Man scheint im Finanzministerium bereits fündig geworden zu sein; die Lösung lautet: Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dies wurde
natürlich umgehend dementiert, da der Zeitpunkt der Veröffentlichung für Rot-Grün unmittelbar vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen extrem ungünstig
war. Als Oppositionspolitikerin musste ich in den letzten
Jahren jedoch wiederholt die Erfahrung machen, dass
über politische Vorhaben und ihre konkrete Umsetzung
zuerst, gut und detailliert aus der Zeitung, unter anderem
aus dem „Handelsblatt“, Kenntnis zu beziehen war.
Ausgangspunkt der heutigen Aktuellen Stunde ist eine
rot-grüne Politik, die in trauriger Kontinuität zu der von
Schwarz-Gelb steht. Bereits vor 20 Jahren, im Jahre 1980,
forderten die Verfassungsrichter den Gesetzgeber auf, für
eine gleichmäßige Besteuerung aller Alterseinkünfte zu
sorgen. Aber nicht eine einzige Regierung hat sich seitdem an die grundsätzliche Lösung dieses Problems gewagt. Über die Besteuerung der Alterseinkünfte zu reden
heißt nämlich, darüber zu sprechen, ob es innerhalb der
Bevölkerung zwischen Männern und Frauen, zwischen
verschiedenen Berufsgruppen, zwischen Arbeitnehmern
und Arbeitnehmerinnen und Beamten sowie Unternehmern überhaupt annähernd gleiche Chancen zur Erlangung von Alterseinkünften gibt.
Die PDS hat heute diese Aktuelle Stunde nach bitterer
Erfahrung in der letzten Legislaturperiode beantragt. Zur
Erinnerung: Die letzte Mehrwertsteuererhöhung 1997
wurde in einer großen Koalition von Rot-Schwarz durchgesetzt. Sie war politisch in der Bevölkerung nur durchzudrücken, indem man sie an die Rentendiskussion koppelte. Nun steht zu befürchten, dass Sie trotz aller Dementis vonseiten der SPD und aller Kritik vonseiten der
CDU/CSU bei Ihren Rentenkonsensgesprächen, von denen Sie ja die PDS ausschließen, genau in diese Richtung
marschieren werden.
({0})
Auch beim Thema Reform der Rentenbesteuerung
geht es wieder um die Frage der sozialen Gerechtigkeit.
Der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, die vor
allem eine starke Entlastung von gut verdienenden Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen beinhalten wird, ist
notwendig. Dagegen ist auch überhaupt nichts zu sagen.
Skandalös ist aber die beabsichtigte Finanzierung durch
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, denn damit werden
vor allem Menschen mit geringem Einkommen wie Sozialhilfeberechtigte, Studenten und Studentinnen, Arbeitslose, Rentner und Rentnerinnen besonders belastet.
Das sind die Gruppen in der Bevölkerung, die fast ihr gesamtes Einkommen für ihren Konsum ausgeben müssen.
Das haben wir bisher im Bundestag nicht mitgetragen und
das wird die Partei der Demokratischen Sozialistinnen
und Sozialisten auch zukünftig nicht mittragen.
({1})
Ebenso wenig tragen wir die Überlegungen von Bündnis 90/Die Grünen mit, eine erhöhte Ökosteuer als Finanzierungsquelle anzuzapfen; denn dies ist genauso unsozial. Nebenbei bemerkt: Auf diese Art und Weise verabschieden Sie sich von Ihrer eigenen Logik, nämlich Arbeit
zu verbilligen und Umwelt zu verteuern. Die PDS hat
diese Logik von Anfang an vehement kritisiert, da sie weder politisch noch ökonomisch stichhaltig ist. Noch unlogischer ist es aber, nun zu überlegen, die Ökosteuer für die
Entlastung einer ausgewählten Gruppe von Erwerbstätigen zu erhöhen.
Es ist nicht gerecht, über die Erhöhung der indirekten
Besteuerung nachzudenken, wenn Sie gleichzeitig in der
nächsten Woche eine Unternehmensteuerreform verabschieden werden, mit der Sie wieder massive Steuergeschenke insbesondere an große Unternehmen verteilen,
({2})
ohne sicherzustellen, dass durch diese enormen Steuer-
entlastungen tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen werden,
und ohne zu wissen, wie die mit der Steuerreform ver-
bundenen Einnahmeausfälle gegenfinanziert werden sol-
len. Das blinde Vertrauen auf Selbstfinanzierungseffekte
haben Sie noch in der Opposition an der damaligen Re-
gierung immer harsch kritisiert.
Die notwendige Diskussion über die Besteuerung der
Altersvorsorge kann nur im Rahmen einer tatsächlichen
Rentenreform umfassend stattfinden. Die unterschiedli-
chen Voraussetzungen zur Erlangung einer Altersvorsorge
haben auch im Steuerrecht ständig zu Verzerrungen ge-
führt; Ungerechtigkeiten wurden noch verschärft.
Vizepräsident Rudolf Seiters
**) Anlage 4
Ein Beispiel sind die Freibeträge von Vorsorgeaufwendungen! Während ein Arbeitnehmer diese mit seinen
Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung bereits aufzehrt, stehen einem Beamten die gesamten Freibeträge zur Verfügung, um steuerlich entlastet seine zusätzliche private Vorsorge zu treffen. Hier wird ganz deutlich: Eine Steuerreform allein reicht nicht aus, um
umfassend soziale Gerechtigkeit herzustellen. Genauso
wichtig wie die angemahnte Gleichbesteuerung aller Alterseinkünfte ist die Chancengleichheit zu ihrer Erlangung.
Es ist immer noch so, dass ein nicht unerheblicher Teil
der Menschen in der Bundesrepublik keine eigenen Rentenansprüche erwirbt. Zur Frage der Steuerfreistellung
der Altersvorsorge werden wir noch über viele Probleme
diskutieren müssen, um wenigstens etwas mehr soziale
Gerechtigkeit herzustellen. Eine Hauptaufgabe für die
PDS wird es sein, für eine allgemeine Rentenversicherungspflicht und eine menschenwürdige Grundsicherung
im Alter für alle Menschen zu kämpfen.
({3})
Mit uns ist keine Finanzierung der Reform der Rentenbesteuerung über eine Mehrwertsteuererhöhung durchzusetzen. Wir raten Ihnen vielmehr: Holen Sie das benötigte
Geld da, wo es vorhanden ist! Verzichten Sie bei den sehr
hoch Vermögenden nicht auf diese Einnahmequelle!
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich gebe das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister
der Finanzen, Dr. Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wende mich an Sie, Frau Kollegin
Höll, und an die Fraktion der PDS, aber auch vorsorglich
im Hinblick auf die zu erwartende Debatte an die übrigen
Oppositionsfraktionen und erkläre hier für die Bundesregierung: Es gibt keine Pläne der Bundesregierung zur Erhöhung der Mehrwertsteuer.
({0})
Es gibt auch im Bundesfinanzministerium keine Gespräche über solche eventuellen Pläne. Es gibt auch keine
Vorlagen von Beamten an die Leitung des Hauses, die solche Vorschläge beinhalten würden.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns bald
ins Wochenende fahren zu lassen.
({1})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Otto Bernhardt.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn doch die Welt
nur so einfach wäre, Frau Staatssekretärin!
Ich will zunächst einmal feststellen, dass zwar nach
außen die Unterschiede zwischen den großen Volksparteien immer weniger sichtbar werden, dass aber doch gravierende Unterschiede bestehen. Gerade bei dem Thema,
um das es in dieser Aktuellen Stunde geht, kann man das
dahin gehend verdeutlichen: Wir von den Unionsparteien
wollen weniger Staat als die Sozialdemokraten. Das heißt
in der Konsequenz: Wir sind die Partei der Steuersenker,
und Sie sind die Partei der Steuererhöher.
({0})
- Mich überrascht nicht, dass Sie dies energisch zurückweisen. Nur: Die Fakten - und ich werde Ihnen ein paar
Zahlen nennen - unterstreichen, dass die, die lachen, die
Zahlen nicht kennen.
({1})
Meine Damen und Herren, es kommt nicht darauf an,
wie der eine oder andere Steuersatz ist. Entscheidend ist
die Staatsquote insgesamt. Das wird Ihnen jeder Nationalökonom sagen, auch wenn es nicht jeder begreift.
({2})
- Einen Weltrekord haben Sie aufgestellt.
Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen:
({3})
In den 70er-Jahren war die Staatsquote in Deutschland
immer unter 40 Prozent. Unter sozialdemokratischen Regierungen - die Staatssekretärin wird die Zahlen bestätigen, weil sie aus ihrem Hause kommen - hatte sich die
Staatsquote in Deutschland auf über 50 Prozent erhöht, als
wir 1982 die Verantwortung übernahmen. Dann ist es unionsgeführten Regierungen gelungen - hier ist insbesondere der Name Gerhard Stoltenberg zu nennen -, die
Staatsquote auf 46 Prozent zurückzufahren.
({4})
Im Rahmen der Wiedervereinigung ist die Staatsquote
dann allerdings wieder auf etwa 50 Prozent gestiegen,
({5})
aber seit 1996 rückläufig. Im letzten Jahr der Regierung
Kohl betrug die Staatsquote - nach den Veröffentlichungen des Finanzministeriums - 48,3 Prozent.
({6})
Und siehe da: Im ersten Jahr der Regierung Schröder ist
sie wieder auf 49 Prozent gestiegen.
({7})
Sie sind die Steuererhöhungspartei.
({8})
Ich nenne Ihnen auch gerne die anderen Zahlen.
({9})
Nehmen wir die Zusammenfassung der Steuer- und Abgabenquote. Die Zahlen sehen ähnlich aus. Deshalb kritisiert - schauen Sie einmal ins „Handelsblatt“ - der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,
Hans-Olaf Henkel, heute zu Recht, dass im letzten Jahr
erstmalig seit längerer Zeit die Steuer- und Abgabenquote
wieder gestiegen ist. Das sind die Fakten.
Vor dem Hintergrund der diskutierten Mehrwertsteuererhöhung geht es nun um - die Kollegin Dr. Höll hat darauf hingewiesen - das sich abzeichnende Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Alles spricht dafür, dass das Urteil wohl in die Richtung geht, dass die Alterseinkünfte
gleichmäßig zu versteuern sind. Im Gegenzug wird es sicher dazu führen, dass die Beiträge, die wir aufbringen,
steuerfrei sind. Nun wissen wir noch nicht,
({10})
wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wir
wissen auch noch nicht - das ist ein ganz wichtiger Punkt
für die Größenordnung -, wie die Übergangsfristen aussehen werden. Nur wenn es zu ganz kurzen Übergangsfristen kommt, könnte es zu Steuerausfällen in einer
Größenordnung von 40 Milliarden DM führen.
Es kann natürlich nicht überraschen - auch wenn Sie es
dementieren -, dass man, wenn solche Größenordnungen
im Raum stehen, natürlich auf die Mehrwertsteuer und
vielleicht auf die Ökosteuer guckt, weil das Steuern sind,
die zunächst einmal den Vorteil haben: Sie bringen wirklich viel Geld; 1 Prozent Mehrwertsteuer, 16 Milliarden DM. Aber bei beiden Steuern, bei Ökosteuer und
Mehrwertsteuer, besteht natürlich - wie Sie richtig gesagt
haben, Frau Kollegin Dr. Höll - das Problem: Sie treffen
jeden, unabhängig von der Leistungsfähigkeit.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich als Mitglied einer Steuersenkungspartei:
(Lachen bei der SPD - Jörg Tauss [SPD]: Er
wiederholt sich!
Wir werden diese Entwicklung um die Gegenfinanzierung der Veränderungen in der Rentenbesteuerung sehr
genau beobachten.
({11})
Wir werden weder einer direkten noch einer indirekten
Steuererhöhung zustimmen. Denn Steuererhöhungen
schaden der Konjunktur und damit den Arbeitsplätzen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Kristin
Heyne.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Also führen wir
hier zu später wochenendlicher Stunde noch ein kleines
Schattengefecht.
Frau Höll, wenn Sie in die Presse geguckt haben, dann
konnten Sie natürlich auch da schon sehen - wie es die
Staatssekretärin gesagt hat -: Es ist weder eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer geplant noch eine Erhöhung der Ökosteuer. Wir haben ganz klar gesagt: Was wir in dieser Legislaturperiode über die Ökosteuer einnehmen, werden
wir über die Lohnnebenkosten vollständig wieder ausgeben. Das tun wir auch und das wissen Sie.
Der Zweck der Debatte ist, Verunsicherung zu schüren.
Ich finde, dass es besonders der PDS als Partei, die soziale
Verantwortung suggeriert, relativ schlecht ansteht, gerade
bei den Menschen mit geringem Einkommen Unsicherheit zu schüren. Dafür sollte Ihnen eine Aktuelle
Stunde eigentlich zu schade sein.
({0})
Worum es geht und worüber wir wirklich in einen
Wettbewerb eintreten sollten, ist die Reform der Rentenversicherung, der Altersvorsorge. Hier besteht großer Bedarf, dass wir auf lange Sicht Strukturen schaffen, die gerecht sind, sowohl für die Älteren als auch für die Jungen.
Da wird es notwendig sein, dass wir nicht nur den Pflichtversicherungsbereich haben, sondern auch den Bereich
betrieblicher Altersvorsorge und privater Vorsorge stärken. Das wird möglich sein, gerade deswegen, weil wir
deutlich entlasten, nicht zuletzt mit der Steuerreform, die
wir in der nächsten Woche hier beschließen werden. Damit - das wissen Sie genau, Frau Höll - werden die Familien, die kleinen und mittleren Unternehmen in großem
Maße entlastet. Auch der Kollege von der CDU/CSU
weiß das natürlich.
Wenn wir Anreize für die private Vorsorge schaffen
wollen, müssen wir uns auch mit dem Thema Besteuerung
der Renten beschäftigen. Es macht Sinn, hier zu Veränderungen zu kommen, damit es Geld für die private Vorsorge gibt.
Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, der dafür
spricht, die Besteuerung von Alterseinkünften zu ändern.
Denn gerade wenn jemand ins Erwerbsleben eintritt,
braucht er viel Geld. Da lässt man sich nieder, gründet
möglicherweise sogar eine Firma, gründet vielleicht eine
Familie. Zu diesem Zeitpunkt ist es gut, wenn die Altersvorsorge steuerfrei gestellt ist. Später, wenn man ein gutes
Alterseinkommen erreicht hat und von den familiären
und beruflichen Belastungen befreit ist, kann eine Steuer
gezahlt werden. Deswegen ist eine solche Umstellung
sinnvoll. Ich freue mich, wenn wir da einer Meinung sind
und in den Rentengesprächen vielleicht zu einer Einigung
kommen können.
Sie haben zu Recht gesagt, wenn man das von heute
auf morgen machen würde, würde das etwa 40 Milliarden DM kosten, weil für die heute Erwerbstätigen die
Steuer wegfiele. Aber die, die heute eine Rente erhalten das muss man ganz deutlich sagen -, werden auch nicht
plötzlich besteuert. Sie haben ihr Einkommen schon versteuert, als sie eingezahlt haben. Das hieße, es würde eine
sehr große Diskrepanz bei den Steuereinnahmen entstehen. Deswegen werden wir die Steuerfreibeträge allmählich ansteigen lassen. Es wird bei der Besteuerung der
Renten einen ganz langsamen, der tatsächlich gezahlten
Steuer entsprechenden Übergang geben. Es ist wichtig,
das hier noch einmal zu sagen.
Ich will aber auch ganz klar sagen: Es ist uns gelungen,
in die Konsolidierung des Haushalts einzusteigen. Wir
setzen das bei dem neuen Haushalt fort. Es ist uns gelungen, die Belastung vor allem der kleinen und mittleren
Einkommen zu senken. Deswegen sind wir der Meinung,
dass wir den allmählichen Übergang zur Rentenbesteuerung finanziell leisten können und dass wir dafür keine
zusätzlichen Steuereinnahmen benötigen. Wir haben bei
unserer jetzigen Steuerreform den Grundsatz, alles aus
dem Bestehenden zu finanzieren. Wir haben ganz klar gesagt, dass es keine Verbrauchssteuererhöhung zur Senkung der anderen Steuern geben wird. Dabei werden wir
bleiben. Das gilt für die gesamte Legislaturperiode. Darauf können Sie sich verlassen.
({1})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Otto Solms.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es
sehr erfreulich, dass nun auch im Finanzministerium die
Erkenntnis gewachsen ist, dass man eine Rentenreform
nicht ohne eine enge Verzahnung mit der Steuerpolitik
durchführen kann. Es ist völlig unausweichlich - das wissen alle, die sich mit dieser Frage befassen -, dass wir zu
mehr privater Altersvorsorge kommen, und deshalb klar,
dass wir bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbstständigen finanziellen Spielraum schaffen müssen, damit
sie diese zusätzlichen Anstrengungen für die Altersvorsorge leisten können.
Deswegen müssen wir im Steuersystem darauf Rücksicht nehmen. Da gibt es, glaube ich, auch kaum andere
Meinungen in diesem Hause. Alle Betroffenen wissen: Es
wird zu einem System der nachgelagerten Besteuerung
kommen müssen.
Nun konnten die Rentengespräche nicht weitergeführt
werden, ohne dass die Finanzpolitiker daran beteiligt werden. Deshalb hat die F.D.P. gefordert, dass der Bundesfinanzminister bei diesen Gesprächen zugezogen wird, persönlich oder vertreten durch Frau Dr. Hendricks oder wen
auch immer. Das hat jetzt zum Nachdenken auf der Regierungsseite geführt. Ich nehme Frau Dr. Hendricks ohne
weiteres ab, dass es auf Ihrer Seite keine konkreten Vorstellungen zur Verbrauchssteuererhöhung gibt. Aber man
weiß natürlich, dass das nachgelagerte Besteuerungssystem zunächst einmal zu Steuerausfällen führen muss.
Das ist unzweifelhaft. Dabei kommt es auf die einzelnen
Gestaltungen an.
Wer sich in diesem Zusammenhang weiter hervorgewagt hat, das waren die Grünen, und zwar die Steuerexpertin Scheel, die am 5. Mai dieses Jahres im „Handelsblatt“ gesagt hat, es gebe zwar keine konkreten Pläne und
Absprachen, aber wenn es darum gehe, die Steuerausfälle
auszugleichen, die mit der nachgelagerten Besteuerung
entstünden, dann wolle man eher bei der Ökosteuer als bei
der Mehrwertsteuer ansetzen. Es geht also gar nicht mehr
um das Ob, sondern nur noch um die Steuerart, die erhöht
werden soll.
({0})
Natürlich hat der Fraktionsvorsitzende Schlauch diese
Äußerung unverzüglich dementiert.
({1})
- Nein, eine Ente war das nicht. Das war überlegt. Wir alle
denken ja über diese Probleme nach.
Einem Interview mit Ihrem Kollegen Metzger in der
„Zeit“ vom 11. Mai dieses Jahres - dies war eine Woche
später - können Sie entnehmen, dass dieser das bestätigt.
Er sagt - auch das will ich Ihnen nicht vorenthalten -:
Ich gehe von einem Modell aus, in dem der
Vorsorgefreibetrag in drei oder vier Stufen angehoben wird.
- Also dadurch, dass die steuerfreie Möglichkeit zum Aufbau einer Altersversorgung geschaffen wird.
In den ersten ein, zwei Stufen könnte man auf eine
Verbrauchsteuererhöhung verzichten. Zu einem späteren Zeitpunkt ... lässt sich eine Erhöhung der Verbrauchsteuern der Bevölkerung vermitteln ...
Schön und gut.
({2})
Was entnehme ich dem? Diesem Gedanken wird gerade bei den Grünen weiter nachgegangen. Ich kann in
diesem Zusammenhang nur sagen: Das ist bzw. wäre
({3})
- Sie haben ja einen wesentlichen Beitrag an der Regierungspolitik; ich denke, dass Sie den auch einbringen werden - eine völlig widersinnige Politik. Ich will einmal darauf hinweisen, warum das so widersinnig wäre: Wenn
Sie gerade den kleinen Einkommensbeziehern durch
Steuererleichterungen einen finanziellen Spielraum verschaffen, um eine zusätzliche private Altersvorsorge aufzubauen, dann können Sie jenen diesen finanziellen Spielraum nicht gleichzeitig durch Verbrauchssteuererhöhungen wieder wegnehmen.
({4})
Das macht wirklich keinen Sinn. Deswegen bitte ich darum, über diese Fragen ernsthaft weiterzudiskutieren.
Frau Dr. Hendricks, wir brauchen übrigens nicht auf
das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zu warten. Wir wissen doch, worauf es im Prinzip hinauslaufen muss.
({5})
Das Verfassungsgericht hat ja leider mittlerweile mitgeteilt, dass dieses Urteil in diesem Jahr nicht mehr zu erwarten sein wird. Wir können also darauf nicht warten.
Wir müssen die anstehende Entscheidung im Zusammenhang mit jener über die Zukunft der Rentenversicherung fällen, weil das zwingend zusammengehört. Nur so
entsteht ein Gesamtbild. Das wird nicht einfach; das weiß
ich wohl. Wir sind bereit, uns genauso konstruktiv wie die
anderen Mitglieder dieses Hauses an diesen Diskussionen
zu beteiligen. Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, zu einer vernünftigen Reform der Rentenversicherung unter Einbeziehung der Reform des Steuersystems zu kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen:
Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Nach Ihrer klaren Aussage, die Sie hier soeben getroffen haben, verzichte ich
natürlich darauf.
Es ist aber, wenn man sich den Zeitungswald anschaut
und beispielsweise im „Focus“ unter der Überschrift
„Furcht vor dem M-Wort“ liest, dass auf den Gängen des
Ministeriums unter den dortigen Fachleuten eine Mehrwertsteuererhöhung stetes Thema sei im Zusammenhang
mit der Neuregelung der Renten, eine Überlegung wert,
warum die Öffentlichkeit so dazu geneigt ist, dieses
Thema aufzunehmen. Dies ist deshalb der Fall, weil sie
die Erfahrung gemacht hat, dass es für die Regierungspolitik von SPD und Grünen typisch ist, dass dann, wenn irgendeine neue Aufgabe auftaucht, darüber nachgedacht
wird: Wo können wir mehr Steuern einnehmen, um das zu
bewältigen? Das ist ein Kernproblem Ihrer Politik.
({0})
Wir sollten nicht, wie Sie das tun, die Wirtschaft und
das Sozialprodukt unserer Volkswirtschaft als einen konstanten Kuchen betrachten. Sie sind immer nur am Umverteilen.
({1})
Sie meinen, man müsse die Stücke kleiner schneiden, damit jeder eines bekommt. Stattdessen müssen wir darangehen, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt,
dass dieser Kuchen wächst und dass mehr verteilt werden
kann.
({2})
Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel.
Wenn Sie bei der Steuerreform, die wir in der nächsten
Woche in zweiter und dritter Lesung beraten werden, Mut
haben für ein wirklich durchgreifendes Reformwerk, für
ein Herangehen an die Einkommensteuersätze in dem
Sinne, wie wir es Ihnen vorgeschlagen haben,
({3})
wenn Sie das Steuersystem wirklich einfacher und gerechter machen und die Sätze deutlich senken, dann schaffen Sie die besten Voraussetzungen dafür, dass wir die uns
gestellte Aufgabe, die Rentenbesteuerung möglichst gemeinsam zu regeln, bewältigen können. Aber es geht nicht
so, wie Sie es vorhaben: mit einer Reform, die eben nicht
breit entlastet, sondern die auf die Körperschaften fokussiert und nur mühsam versucht, auch die vielen anderen
Unternehmer - 85 Prozent sind Personenunternehmen -,
die von der strangulierenden Steuerlast betroffen sind, zu
entlasten.
Ich freue mich, dass es - leider erst nach Abschluss der
Debatte im Finanzausschuss - einige Anzeichen dafür
gab, noch einmal neu nachzudenken. Ich ermuntere Sie
ausdrücklich dazu, das zu tun. Sie müssen durch den Bundesrat. Wenn wir hier herangehen, können wir in Deutschland wieder wirkliches Wachstum generieren und von der
Position des Schlusslichts, die wir in Europa hinsichtlich
der Dynamik der Wirtschaft einnehmen, endlich wieder
nach vorne kommen.
({4})
Herr Metzger hat immerhin schon angedeutet, was Sie
sich konzeptionell vorstellen. Dass bei einem solchen
Thema Spekulationen ins Kraut schießen, solange Sie
nicht klar sagen, wohin Sie wollen, ist doch völlig klar.
Herr Metzger hat ein paar Hinweise gegeben; Frau Heyne
hat das eben noch einmal aufgegriffen. Sie haben es sich
nach der Bundestagswahl furchtbar einfach gemacht. Wir
haben für den Bereich der Renten - wenn auch nicht speziell zu dem Problem der nachgelagerten Besteuerung,
sondern generell - eine Reform beschlossen, die Sie ausgesetzt haben.
({5})
Seitdem warten wir darauf, dass von Ihnen in diesem Bereich irgendetwas Konzeptionelles kommt, aber bis jetzt
ist da Fehlanzeige.
({6})
Legen Sie endlich ein Konzept aus einem Guss vor!
Dann brauchen wir nicht mehr über Spekulationen zu
reden, dann können wir über Konzepte reden, dann
können wir in den parlamentarischen Streit darüber eintreten und dann wird sich das beste System durchsetzen.
({7})
Nur so bekommen wir die Rentenproblematik langfristig in den Griff. Ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihre
Hausaufgaben! Sie können damit Diskussionen dieser Art
ganz schnell beenden und vor allen Dingen Ihrer Pflicht,
eine Politik zum Vorteil dieses Landes zu machen, gerecht
werden.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Luft.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Volksmund weiß - es ist
eben schon zitiert worden -: kein Rauch ohne Feuer!
Liebe Frau Kollegin Hendricks, alle Dementis klingen
dann auch ziemlich hilflos, zumal der grüne haushaltsund finanzpolitische Sprecher, der in der Diskussion hier
schon einige Male erwähnt worden ist, die Katze kürzlich
aus dem Sack gelassen hat. Er hat - ich verweise hier auf
ein anderes Zitat - am 5. Mai in der „Berliner Zeitung“ gesagt: Wenn die Koalition eine höhere Mehrwertsteuer
noch vor der Bundestagswahl beschließen würde, hätte
sie doch nicht alle Tassen im Schrank.
Damit ist, denke ich, alles gesagt.
({0})
Das, liebe Kollegin Heyne, verunsichert die Menschen.
Denn die zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl
sind ja rasch herum. Offenbar soll es doch so sein: Nach
der Bundestagswahl kann dieses Thema aufgegriffen werden, vor der Bundestagswahl auf keinen Fall.
({1})
Damit gibt es offenbar genau das umgekehrte Vorgehen im Vergleich zur Vermögensteuer. Dazu haben Sie vor
der Bundestagswahl 1998 gesagt, Sie wollten nicht nur
die Prüfung hinsichtlich der Wiedererhebung der Vermögensteuer in Angriff nehmen, sondern das nach Möglichkeit auch durchsetzen. Nach der Wahl war diesbezüglich
Fehlanzeige. Hier wird es offenbar anders herum kommen. Wir werden Sie von der Koalition daran immer wieder erinnern.
({2})
Es ist schon eigenartig, es verwirrt die Öffentlichkeit
und spricht, so finde ich, auch nicht für eine stringente
Konzeption, wenn die Koalition bei den Themen Rente
und Steuern sozusagen jeden Monat einen neuen Ballon
steigen lässt.
({3})
Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Deckung der Steuerausfälle nach Umsetzung des zu erwartenden Urteils
des Bundesverfassungsgerichts zur nachgelagerten Besteuerung der gesetzlichen Renten würde übrigens nahezu
alles konterkarieren, wofür sich die Koalition, im Besonderen die Regierung, dieser Tage auf die Schultern geklopft hat, nämlich dafür, das größte Steuerentlastungsvolumen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland für abhängig Beschäftigte und Unternehmen auf den
Weg gebracht zu haben.
({4})
Mit der Mehrwertsteuer werden Sie es so machen wie mit
der Ökosteuer:
({5})
Mit der einen Hand werden Sie geben und mit der anderen wieder nehmen.
({6})
Herr Kollege Bernhardt, Sie haben sozusagen eine witzige Bemerkung in diese Debatte eingestreut, indem Sie
gesagt haben, die CDU sei die Steuersenkungspartei.
({7})
Ja, die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die Reduzierung des Soli und die Aussetzung der Vermögensteuer gehen wirklich auf Ihr Konto. Aber Sie haben
auch - leider gemeinsam mit der SPD - eine Erhöhung
der Mehrwertsteuer um 2 Prozent auf den Weg gebracht.
Somit haben Sie diesen Sack aufgebunden. Das darf hier
nicht unerwähnt bleiben.
({8})
Wenn Sie in der Koalition schon über Renten und Steuern in einem Zusammenhang diskutieren, dann sollten
Sie, um keine Verwirrung zu schaffen, den heute 50- und
55-jährigen Männern und Frauen insbesondere in den
neuen Ländern, die hoch qualifiziert sind, die abgewickelt
wurden, denen gekündigt wurde, die sich von Weiterbildung zu ABM hangeln, die keine Aussicht auf einen regulären Job haben, der eine private Altersvorsorge ermöglicht, die nichts haben außer der Aussicht auf eine
Rente, die von Sozialhilfe abhängig macht, auch sagen,
wovon sie im Alter leben sollen.
Mit Verlaub: Diese große Personengruppe interessiert
das Thema der künftigen Rentenbesteuerung wenig; sie
hat auch vom zugesagten Bestandsschutz nichts. Sie sieht
nur einer weiteren Belastung ihres Konsums durch die in
Erwägung gezogene Mehrwertsteuererhöhung entgegen.
Das ist die Verwirrung, die eintritt, Frau Kollegin Heyne.
Sie ist nicht durch die PDS verursacht worden,
({9})
sondern sie ist aus einem Feuer entstanden, das offenbar
hinter den Kulissen schwelt.
({10})
Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass
nach Ablösung der nationalen Währungen durch den Euro
die unterschiedlichen Steuersysteme der Länder stärker
ins Visier geraten und dass Deutschland im Vergleich zu
anderen Ländern noch Spielräume bei der Gestaltung der
Mehrwertsteuer hat. Ich vermute, dass das Ihr Konzept ist.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Mehrwertsteuererhöhung
angehen wollen, dann machen Sie dies nicht partiell, sondern im Komplex. Dann sagen Sie den Menschen bitte
schon heute, dass Sie nicht an eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes denken, mit dem die Produkte des Alltags belegt sind. Das nämlich würde insbesondere die einkommensschwachen Menschen belasten.
({11})
Dann sagen Sie, dass Sie künftig arbeitsintensive Dienstleistungen, insbesondere Reparaturleistungen, mehrwertsteuerlich begünstigen wollen. Jeder Punkt Mehrwertsteuererhöhung würde nur die Schwarzarbeit befördern,
und davon haben wir heute schon genug. Man muss vieles im Zusammenhang sehen. Zudem könnte man über einen dritten Steuersatz für außergewöhnliche Konsumgüter - ich könnte auch sagen: Luxussteuer; so liest man es
in der Literatur - nachdenken.
Ich glaube, dass es hier, wenn es eine strukturelle Reform geben soll, noch viel zu debattieren gibt. Jeder partielle Schritt steht außerhalb eines Konzeptes. Sie müssen
endlich nachweisen, dass Sie ein stringentes, ein komplexes Konzept haben.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Diethard Schütze.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Luft,
das mit der Luxussteuer sollten wir am besten ganz
schnell vergessen.
({0})
Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte scheint eines klar zu sein: Je heftiger eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von der Regierungskoalition dementiert wird Frau Staatssekretärin hat dazu sehr grundsätzliche
Ausführungen gemacht -, umso wahrscheinlicher ist,
dass sie kommen wird. Tun Sie doch nicht so, als ob es
nicht längst derartige Planspiele im Bundesfinanzministerium gäbe!
Auch das Dementi des Herrn Eichel vom 4. Mai liest
sich ausgesprochen halbherzig, wenn es dort heißt, dass es
derzeit - ich betone: derzeit - keine solchen Pläne gebe.
({1})
Die Frage ist also: Wann und in welcher Höhe wird die
Mehrwertsteuererhöhung kommen? Wird es eine Erhöhung um einen Punkt oder um zwei Punkte geben?
Meine Damen und Herren, um die Beantwortung einer
Frage haben sich die Redner der Koalition heute herumgemogelt.
({2})
Die Frage lautet: Wie sollen die Einnahmeausfälle von
bis zu 40 Milliarden DM ausgeglichen werden, wenn die
Altersvorsorgeaufwendungen generell von der Steuer
freizustellen sind? Denn - das scheint ja hier Konsens zu
sein; davon können wir alle mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit ausgehen - das Bundesverfassungsgericht wird infolge seiner bisherigen Entscheidungen in
absehbarer Zeit, Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres, feststellen, dass alle Alterseinkünfte voll zu besteuern
sind.
({3})
Das bedeutet, dass Rentenbeitragszahlungen steuerfrei
zu stellen sind. Wie, Frau Staatssekretärin, wollen Sie
denn diese 40 Milliarden DM aufbringen? Von Ihnen haben wir dazu heute keine Antwort gehört. Ich sage Ihnen:
Keine Antwort ist auch eine Antwort.
({4})
Meine Damen und Herren, die Antwort wird heißen:
Die Mehrwertsteuererhöhung kommt. Herr Kollege
Metzger ist bereits mehrfach zitiert worden. Er hat dies
zwischenzeitlich mehr oder weniger deutlich eingeräumt.
Eine Mehrwertsteuererhöhung ist ja an sich auch die einfachste Lösung - so zumindest für die Allianz der Bequemen, auch rot-grüne Bundesregierung genannt, die wieder einmal getagt hat. Die Bezeichnung „Allianz der Bequemen“ ist
({5})
keine Bezeichnung, die von mir oder von einem Kollegen
aus der Opposition erfunden worden ist. Nein, es war besagter Herr Metzger, der haushaltspolitische Sprecher der
Grünen höchstselbst, der seine eigene Regierungskoalition so titulierte. Dies geschah vor gut einem Jahr. Das
Thema war die Mehrwertsteuererhöhung, und zwar damals im Zusammenhang mit der vom Verfassungsgericht
geforderten Entlastung der Familien.
Meine Damen und Herren, verkaufen Sie doch die
Menschen nicht für dumm. Sie ziehen zwar durch die
Lande und erzählen immer etwas von Steuerentlastung.
Was ist seither geschehen?
({6})
Der Mittelstand wird massiv benachteiligt.
({7})
Die notwendige breite Entlastung der Steuerzahler bleibt
aus. Was den Bürgern als Nettoentlastung verkauft wird,
zieht Rot-Grün ihnen auf der anderen Seite aus der Tasche.
({8})
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben mit der Besteuerung der 630-Mark-Jobs
und der Einführung der so genannten Ökosteuer gerade
den Schwachen in unserem Land den Boden unter den
Füßen weggezogen.
({9})
Dazu fällt Herrn Eichel lediglich ein, der Öffentlichkeit
mitzuteilen, dass er es allmählich leid sei - so Eichel wörtlich -, dass die Leute den Hals nicht voll kriegen können.
Ich sage: Das ist blanker Zynismus.
({10})
Die Ökosteuer steigt. Das Thema Erbschaftsteuer ist
noch nicht ausgestanden.
({11})
Wir wollen einmal sehen, wie es nach dem kommenden
Sonntag weitergehen wird. Die Mehrwertsteuererhöhung
wird kommen.
({12})
Das ist die Wahrheit. So wird sich zum Ende dieser Legislaturperiode die dem Bürger vom Staat auferlegte Last
nicht vermindert haben. Sie wird - wie das „Handelsblatt“
in einem Artikel vom 5. Mai dieses Jahres zutreffend feststellt - eher größer sein.
Einige von Ihnen haben es schon getan. Auch ich
möchte jedoch auch noch einmal auf die fatalen Folgen
einer Mehrwertsteuererhöhung hinweisen.
({13})
Sie würde in erster Linie diejenigen treffen, die schon im
letzten Jahr überproportional unter Rot-Grün zu leiden
hatten. Das sind die Einkommenschwachen, kinderreiche
Familien, Arbeitslose, Studenten und Rentner. Ökosteuer
und Mehrwertsteuer belasten gerade diese Schichten der
Bevölkerung. Sie zahlen die Zeche für die verfehlte Politik der Bundesregierung.
({14})
Bereits eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt hätte katastrophale Folgen für den Arbeitsmarkt. Gerade im Handwerk und im Einzelhandel, den
Stiefkindern dieser Koalition, bedeutet dies nicht nur Umsatzeinbußen, sondern auch den Verlust von bis zu
100 000 Arbeitsplätzen. Eine höhere Mehrwertsteuer ist
gleichbedeutend mit mehr Schwarzarbeit. Die Vergangenheit hat gezeigt: Jede Mehrwertsteuererhöhung fördert
die Schattenwirtschaft und zerstört reguläre Arbeitsplätze.
({15})
Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit diesen Plänen! Mit uns jedenfalls wird dies nicht zu machen sein.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen
und Herren! Ich sage dies hier einmal ganz deutlich, und
zwar vor allen Dingen für die SPD-Fraktion: Wir wollen
keine Erhöhung der Mehrwertsteuer und wir planen auch
keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Frau Luft, wir planen auch keine partielle Erhöhung der Mehrwertsteuer.
({0})
Das Gegenteil ist der Fall: Wir senken die Steuersätze für
die mittelständischen Unternehmen in unserem Land
({1})
sowie für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
({2})
Unsere Steuerreform 2000 sieht vor, die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent zu senken, den großen Personenunternehmen die Möglichkeit zu eröffnen, die Gewerbesteuer in pauschalierter Form auf ihre Einkommensteuer
anzurechnen - dies entspricht einer Entlastung bei der
Einkommensteuer für die großen Unternehmen, die Personengesellschaften sind, in Höhe von ungefähr 12 Prozent -, den Grundfreibetrag in der ersten Stufe ab 2001 auf
14 000 DM anzuheben, sie sieht ferner die Senkung des
Eingangssteuersatzes auf 19,9 Prozent und die Senkung
des Spitzensteuersatzes auf 48,5 Prozent vor. Ich sage das
jetzt so ausführlich, damit das auch die Damen und Herren von der CDU begreifen.
({3})
Diethard Schütze ({4})
Unsere Steuerreform hat eine zweite Stufe. Sie tritt im
Jahre 2003 in Kraft.
({5})
Wir senken den Eingangssteuersatz auf 17 Prozent und
den Spitzensteuersatz auf 47 Prozent.
Wir machen eine Steuerreform, die im Jahre 2005 das
Ergebnis haben wird, dass der Spitzensteuersatz 45 Prozent und der Eingangssteuersatz nur noch 15 Prozent betragen werden. Der Grundfreibetrag, von dem vor allen
Dingen die kleineren Einkommen profitieren, wird auf
15 000 DM angehoben werden.
({6})
Ich denke, diese Zahlen machen deutlich, dass wir planen, unsere Politik fortzusetzen, die den Mittelstand und
die Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen entlastet,
({7})
das Wachstum unterstützt und die Beschäftigung fördert.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb. Er ist der letzte Redner in der Debatte.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass der Bundesfinanzminister und sein
Haus allzu schnell geneigt sind, Pressemeldungen
unangenehmen Inhalts oder jedenfalls solche, die nach
ihrem Dafürhalten zur Unzeit erscheinen, als Rauschen
im Blätterwald abzutun. Nun wissen wir alle, dass die
„Wirtschaftswoche“ nicht zu den reißerischen Blättern in
unserem Land gehört, sondern eine seriöse Wirtschaftszeitung ist, bei der man nicht alles sofort in den Bereich
der Fantasie verweisen sollte.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie sagten, es
gebe keine Pläne und es werde nicht über eine Steuererhöhung gesprochen. Das wäre nicht die erste Entscheidung der Regierung, die den Eindruck hinterlässt, sie sei
nicht besonders besprochen oder gar geplant worden.
({0})
Meine Damen und Herren, man darf uns auch nicht für
so naiv halten, als wüssten wir nicht, dass der Bundesfinanzminister vor einer kniffligen Aufgabe steht. Die Konsequenzen einer nachgelagerten Besteuerung haben natürlich auch eine unschöne Kehrseite, und in Anbetracht der
anstehenden Wahlen spricht man natürlich ungern über
solche Kehrseiten.
({1})
- Herr Tauss, bemühen Sie sich doch einmal, sich von
Ihrem fast psychopathisch anmutenden Zwang, mich pausenlos zu unterbrechen, zu befreien.
({2})
Selbstverständlich ist zu erwarten, dass den Bürgern
zumindest reiner Wein eingeschenkt wird. Es geht doch
gar nicht um die Konsequenzen der Mehrwertsteuer; dazu
ist aus berufenem Munde schon alles gesagt worden. Ich
bin auch kein Steuerfachmann,
({3})
eines aber weiß ich: Ich komme aus Kassel und dort hieß
der Oberbürgermeister jahrelang Eichel;
({4})
dort habe ich lange genug gelitten. Anschließend war er
Ministerpräsident in Hessen und jetzt ist er Bundesfinanzminister. Was von der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu halten ist, will ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen.
Das erste Beispiel: In der Wahlnacht nach der Hessenwahl - das war übrigens das einzige Mal, dass ich für
Herrn Eichel Hochachtung empfunden habe - hat er in
Beifall heischender Art und Weise gesagt: Jetzt werde ich
als Auslaufmodell natürlich nicht mehr die Steuerreform
bei den Bundesratsverhandlungen blockieren; das mag
mein Nachfolger Koch machen. - Drei Tage später ist er
von seinem Vorgänger im Amt, Herrn Lafontaine - er war
eine Weile Vorsitzender der SPD -, „eingenordet“ worden
und hat natürlich - wie Sie alle wissen - zugestimmt und
spielt sich heute als Obermeister eines Reparaturbetriebs
auf, in dem der Schaden reguliert werden soll, den sein
Vorgänger Lafontaine hinterlassen hat.
({5})
Das zweite Beispiel: Vor vielleicht zwei Stunden war
eben jener frühere Ministerpräsident und jetzige Finanzminister in meinem Heimatort Kassel zum Spatenstich eines Bauabschnitts der A 44 und ließ sich dort für ein Projekt feiern, das er und die Grünen 10 Jahre lang mit Zähnen und Klauen zu verhindern versuchten.
({6})
In der Presse, im „Spiegel“, im „stern“ und in der
„Wirtschaftswoche“, lesen wir, dass es Pläne zur Mehrwertsteuererhöhung gibt. Der Finanzminister bedauert
lediglich, dass diese Pläne vor der Nordrhein-WestfalenWahl bekannt werden; dies ist also ein wahltaktisches Dementi. Dazu kann ich nur sagen: Das ist typisch.
({7})
Eines kann ich Ihnen sagen: Wir von der Union werden
uns nicht jedes Mal in die politische Mitverantwortung für
unpopuläre und unvermeidliche Maßnahmen nehmen lassen, während Sie selber sich für politische Segnungen öffentlich feiern und huldigen lassen. So geht es nicht. Das
ist hier genau so beabsichtigt.
({8})
Deswegen wäre es schön, wenn Sie vor einer Wahl auch
einmal das sagen würden, was Sie hinterher machen wollen. Dass das keine große Freude macht, ist klar.
({9})
- Mir macht alles große Freude, das sehen Sie doch. Ich
bin eine Frohnatur, vor allen Dingen zu dieser Zeit.
({10})
Ich freue mich auch, meine Damen und Herren. Auf der
Regierungsbank ist ja nur noch die Frau Parlamentarische
Staatssekretärin da.
({11})
- Nein, das nehme ich nicht zurück.
Es ist jetzt kurz vor halb vier. Ich bin der letzte Redner
für heute und ich habe noch einmal gesagt, was ich von
Ihren Dementis halte. Ich weiß auch, warum so wenige
von der SPD gesprochen haben. Ich würde gerne mit allen eine Wette eingehen und sehen, wie diese hinterher
eingelöst wird.
({12})
- Herr Tauss, ich weiß nicht, womit man Ihnen eine
Freude machen kann.
Ich muss darauf
achten: Es wird hier nicht öffentlich gewettet.
({0})
Es sollte auch nur eine
symbolische Handlung sein. Ich kann nur sagen: Gegenüber der Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft
unseres Bundesfinanzministers - wie bei Herrn Eichel so
häufig - ist das Chamäleon geradezu ein farbloses Lebewesen.
Vielen Dank.
({0})
Damit sind wir
am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Mai 2000, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.