Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben den im Gesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen im Namen des
ganzen Hauses alles Gute für Ihre Arbeit im Interesse der
Bundeswehr.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Vielen Dank.
({0})
Ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
4 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Deutschland im Aufbruch - Moderne Wirt-
schaftspolitik für neue Arbeitsplätze
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung
- Drucksache 14/2909 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram,
Wolfgang Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen
- Drucksache 14/2988 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifel sind
nicht mehr erlaubt: Es gibt in Deutschland einen kräftigen
Wirtschaftsaufschwung, und zwar einen Aufschwung, der
Präsident Wolfgang Thierse
alle Branchen erfasst hat, den Export gleichermaßen wie
den Binnenmarkt. Das weisen die Wachstumszahlen aus,
die wir zu erwarten haben. Alle Institute rechnen mit einem wirtschaftlichen Wachstum für dieses Jahr in Höhe
von 2,8 Prozent sowie mit einem ebenso hohen im nächsten Jahr. Die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfonds halten sogar ein darüber hinausreichendes Wachstum für möglich. Fazit: Wir haben in
diesem Land die Chance, die erste Dekade des neuen Jahrhunderts zu einer Dekade der wirtschaftlichen Vernunft
und des sozialen Ausgleichs zu machen. Wir werden diese
Chance nutzen.
({0})
Aber es sind nicht nur kühle Zahlen über wirtschaftliches Wachstum, die beeindrucken - übrigens nicht nur in
Deutschland, sondern auch international. Wir können
vielmehr mit großer Freude feststellen, dass das Wachstum, dass der Aufschwung inzwischen auch den Arbeitsmarkt erreicht hat. Das weisen die Zahlen ebenso klar aus.
Die Arbeitslosenzahlen sind im April dieses Jahres gegenüber dem April des Vorjahres um exakt 156 000
zurückgegangen. Wir sind unter der 4-Millionen-Grenze.
Wir haben alle Chancen - so die wirtschaftswissenschaftlichen Institute, so andere Institutionen, die sich mit diesen Fragen befassen -, am Ende dieser Legislaturperiode
weniger als 3,5 Millionen Arbeitslose zu haben. Ich halte
das für den zentralen Erfolg der deutschen Politik.
({1})
Der Opposition, die gelegentlich daran erinnert, dass
das mit der Politik in diesem Land nichts zu tun habe, sei
übrigens gesagt
({2})
- das ist sehr interessant -, dass während der ganzen 90erJahre, dass während der ganzen Zeit, in der Sie regierten,
die Zahl der Arbeitslosen deutlich über 4 Millionen lag
und während nicht unerheblicher Teile der 90er-Jahre sogar an die 5-Millionen-Grenze herankam.
({3})
Jetzt sind wir bei unter 4 Millionen. Wir werden diesen
Weg konsequent und entschlossen weitergehen.
({4})
Für mich besonders erfreulich ist der Rückgang der
Jugendarbeitslosigkeit. Wir hatten 1999 im Vergleich zu
1998 über das Jahr hinweg einen Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit um mehr als 9 Prozent. Wir haben für
April dieses Jahres, verglichen mit dem Monat März, einen Rückgang der Arbeitslosenquote bei Jugendlichen
um 1,8 Prozent. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit,
verglichen mit dem Rückgang der allgemeinen Arbeitslosigkeit, um mehr als das Doppelte verringern können. Das
ist ein zentraler Erfolg der Politik unserer Regierung, der
Politik der rot-grünen Koalition.
({5})
Ich erinnere mich noch ganz gut an die Debatte über
das Sofortprogramm der Bundesregierung hier in diesem
Hohen Hause, in der uns quasi vorgeworfen worden ist,
dass wir auch mit staatlichen Maßnahmen dafür sorgen
wollen und werden, dass die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland zurückgeht. Was für ein Vorwurf meine Damen und Herren! Wir haben es geschafft, den Jugendlichen endlich wieder eine Perspektive zu geben. Das ist
nicht nur Arbeitsmarktpolitik, das ist Gesellschaftspolitik
par excellence.
({6})
Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen; denn
wir wissen, dass in vielen wichtigen Bereichen, vor allen
Dingen im Osten unseres Landes, noch zu wenig betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Dies ist
übrigens nicht deshalb so, weil die meisten Unternehmen
dort in puncto Ausbildung Drückeberger wären, sondern
vor allen Dingen deshalb, weil es dort weniger Betriebe
gibt. Im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt gibt
es etwa im Mittelstand deutlich weniger Betriebe als bei
uns. Hierin liegt einer der zentralen Gründe, warum wir
bei der Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungsplätzen im Osten des Landes noch mehr Probleme haben
als im Westen des Landes; denn im Westen haben wir in
gemeinsamer Anstrengung des Bündnisses für Arbeit in
weiten Bereichen bereits eine ausgeglichene Situation
zwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und der
Nachfrage nach solchen.
({7})
Wir müssen deshalb insbesondere im Osten unseres
Landes, in den neuen Bundesländern, mit den bisher realisierten Programmen weitermachen, um den Jugendlichen auch dort so weit wie möglich eine Perspektive im
eigenen Land, in der eigenen Region zu geben. Das ist
Kern unserer Anstrengungen, und wir werden nicht nachlassen, auf diesem Weg fortzufahren.
Meine Damen und Herren, das, was ich eben über wirtschaftliches Wachstum und den Arbeitsmarkt gesagt habe,
vollzieht sich in einer fast inflationsfreien Situation.
({8})
Übrigens: All diejenigen, die seinerzeit befürchtet haben,
die dramatisch gestiegenen Rohölpreise und die
Schwäche des Außenwerts - ich betone: des Außenwerts - des Euro würden zu massiven Inflationsschüben
im Inneren der Bundesrepublik führen, haben sich
getäuscht.
({9})
Im April dieses Jahres war eine Inflationsrate von 1,5
Prozent - ich unterstreiche: 1,5 Prozent - zu verzeichnen,
während sie im März noch bei exakt 1,9 Prozent lag. Sie
sehen also: Die Befürchtungen, die übrigens gelegentlich
insbesondere von denen ausgesprochen worden sind, die
die Frage des Euro noch als eine Frage von Leben und Tod
in Europa bezeichnet haben, sind irreal.
({10})
Ich will dazu gleich ein paar Bemerkungen machen.
Die positiven Wachstumsraten und die Tatsache, dass wir
über Inflation im Euroland Gott sei Dank nicht zu reden
brauchen, macht die Kraft der europäischen Volkswirtschaften, jener Volkswirtschaften, die den Euro-Raum bilden, deutlich. Diese Kraft der Volkswirtschaften und die
Wachstumserwartungen, die wir nicht nur in Deutschland,
sondern die wir im Euroland insgesamt haben, machen die
Stärke der europäischen Währung aus. Deshalb ist es
keine Gesundbeterei, wenn man darauf hinweist, sondern
ökonomische Einsicht, und sie ist richtig. Es ist auch vernünftig, darauf hinzuweisen und keine Angstmacherei mit
diesem Tatbestand zu betreiben.
({11})
Im Übrigen - auch das gehört zu den ja doch verfügbaren Einsichtsmöglichkeiten - habe ich mir einmal die
Exportquote von Bayern geben lassen.
({12})
Das ist eine ganz interessante Zahl, weil man von einem
dort amtierenden Ministerpräsidenten ja gelegentlich
Sprüche hört, die so klingen, als hätten seine Partei und
sein früherer Parteivorsitzender mit der Einführung des
Euro nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun.
({13})
Das hat er ja auch nicht, oder? - Ich habe es immer anders
verstanden.
Die Exportquote in Bayern beträgt ungefähr 37 Prozent.
({14})
Es fehlt euch noch ein bisschen, um auf 38 Prozent zu
kommen. Sie ist übrigens fast exakt so hoch wie die in den
meisten anderen Bundesländern und fast genauso hoch
wie die von Niedersachsen.
({15})
Das hat natürlich mit dem Auto zu tun; das ist ja keine
Frage.
({16})
- Nein, nicht BMW meine ich jetzt, sondern Volkswagen,
Herr Glos.
({17})
Rund 30 Prozent aller deutschen Industriearbeitsplätze
hängen vom Export ab. Aber es ist die Auffassung all derjenigen, die wirklich Wirtschaft praktizieren, dass wir uns
trotz der Schwäche des Euro, und zwar ausschließlich in
der Parität zum Dollar, deswegen keine großen Sorgen
machen müssen, weil die Stärke der Währung unbezweifelbar da ist. Ferner brauchen wir angesichts der Sicherung der Arbeitsplätze im Export nicht unbedingt zu weinen, wenn es der deutschen Exportwirtschaft zulasten anderer besser geht. Denn wir hatten schon einmal andere
Zeiten: Als die DM-Dollar-Parität bei 1,35 DM und darunter lag, hatten wir Grund, über den Außenwert zu weinen, weil wir enorme Schwierigkeiten beim Export hatten. Mir kommt es darauf an, allen Menschen in diesem
Land zu sagen: Die Stärke einer Währung bemisst sich
nach der Kraft der dahinter stehenden Volkswirtschaften.
Der Außenwert dieser Währung wird sich dieser Kraft angleichen. Davon bin ich fest überzeugt. Bis dahin lasst uns
ein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Exportwirtschaft so gut geht, meine Damen und Herren!
({18})
Ich stelle mir gelegentlich vor, welche Reden in diesem
Haus gehalten würden, wenn die Machtverhältnisse umgekehrt wären. Mit Zahlen, die nur ein Zehntel der jetzigen betragen würden, würden Sie einen Tanz um das goldene Kalb aufführen; davon bin ich fest überzeugt.
({19})
Als die Wachstumserwartungen für 1998 und 1999
nicht so glanzvoll waren, wie wir sie gerne gehabt hätten,
hat die Opposition gesagt, dass das natürlich an der Regierung liegt. Jetzt habe ich eine Stellungnahme - ich
glaube, von Frau Merkel - gelesen, in der steht, jetzt, wo
die Wachstumsraten nach oben gehen, liegt es natürlich
nicht an der Regierung. Das überrascht mich.
({20})
Frau Merkel, das ist Politik nach dem Motto: Wenn in
Deutschland die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht.
Gibt es winters Eis und Schnee, war es die böse SPD.
({21})
So kann man es doch nicht machen.
Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir eine
Situation in Deutschland haben, die im Vergleich zu dem,
was wir im letzten Jahrzehnt der früheren Regierung erlebt haben, glanzvoll ist, hat etwas mit den Ansätzen zu
tun, die wir gemacht haben und die zum Teil bereits in das
Gesetzblatt Eingang gefunden haben. Das hat zum Beispiel mit der Steuerreform zu tun, die der Bundesfinanzminister auf den Weg gebracht hat und die zu großen Teilen bereits durchgesetzt ist und weiter durchgesetzt werden wird. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass wir uns
nicht auf einen fruchtlosen Streit eingelassen haben, welches der richtige Weg in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sei: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Diese Situation gäbe es, wenn wir nicht beides gemacht hätten, in
Deutschland nicht.
Wir haben mit den ersten Maßnahmen, mit dem Steuerentlastungsgesetz, angesichts damaliger konjunktureller
Schwäche auf dem Binnenmarkt massiv für zugeführte
Kaufkraft bei den durchschnittlich Verdienenden in diesem Land gesorgt. Es hat nicht nur soziale Gründe, dass
wir Entlastungen in großem Umfang gemacht haben.
Nein, es entsprang auch der ökonomischen Einsicht, dass
es sinnvoll ist, die Nachfrage zu mobilisieren, da konjunkturelle Erwartungen auf dem Binnenmarkt noch nicht
so realisiert werden konnten, wie wir es uns wünschten.
Deshalb ging es uns immer um wirtschaftliche Vernunft
und sozialen Ausgleich, wenn wir dafür gesorgt haben,
dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in
diesem Land von dem, was sie brutto verdienen, netto
mehr übrig haben. Das ist der Kern unserer Politik.
({22})
Das war auch der Grund, warum wir das Kindergeld
kräftig erhöht haben, während Sie nur herumgeredet haben. Wir haben das Kindergeld in mehreren Schritten um
50 DM pro Kind erhöht. Es sind die größten Sprünge, die
beim Kindergeld in der Geschichte der Bundesrepublik
gemacht worden sind. Das war wirtschaftlich vernünftig
und sozial gerecht.
({23})
Das wird jetzt weitergehen. Wir befassen uns nun mit
der Angebotsseite. Die Beschlüsse des Finanzausschusses
sind gefasst. In der nächsten Woche wird, soweit ich es
mitbekommen habe, die Mehrheit im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass das eichelsche Unternehmenssteuerkonzept Gesetz werden wird.
({24})
Es ist auch nötig, dass es Gesetz wird; denn damit
nehmen wir die von uns beabsichtigte Stärkung der Angebotsseite vor. Das soll den Unternehmen in Deutschland bessere Möglichkeiten geben. Sie sehen ja, dass das
greift. Wenn ich „bessere Möglichkeiten für Unternehmen“ sage, meine ich schlicht, dass wir jene Gewinne, die
in Deutschland gemacht werden und die bei uns in
Arbeitsplätze investiert werden, steuerlich besser stellen
wollen als jene Gewinne, die nach Luxemburg oder
Liechtenstein transferiert werden. Ich weiß gar nicht, was
daran falsch sein soll.
({25})
Das ist der Kern des eichelschen Konzepts. Das wird
durchgesetzt.
Wir werden mit dem Pfusch jährlicher Steuergesetze
aufhören, weil diese zu völliger Unkalkulierbarkeit bei
den Investoren, aber auch bei den Verbrauchern geführt
haben. Das ist der Grund, warum Hans Eichel eine Konzeption vorgelegt hat, die bis zum Jahr 2005 tragen wird.
Wir brauchen die Kalkulierbarkeit für Investoren.
({26})
Kern dessen, worum es uns geht, ist, eine im internationalen und auch im europäischen Wettbewerb vergleichbare Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Diese
wird durchgesetzt. Wir, das heißt, die staatliche Ebene,
werden uns mit einem Körperschaftsteuersatz von
25 Prozent begnügen. Wir räumen den Personengesellschaften - soweit sie es wollen - eine Optionsmöglichkeit
ein, ohne Körperschaften werden zu müssen.
All denjenigen, die fragen: Was macht Ihr denn bei der
Einkommensteuer?, möchte ich ein paar nüchterne Zahlen entgegenhalten, mit denen sich zum Beispiel beweisen lässt, dass durch eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes, die immer wieder gefordert wird, alle möglichen Gruppen entlastet werden, aber jedenfalls nicht die
hart arbeitenden Mittelständler in diesem Land.
({27})
Nach den Zahlen, die mir vorliegen, haben 78 Prozent derer, die über gewerbliche Einkommen verfügen, also die
klassischen Mittelständler, ein zu versteuerndes Einkommen - ich betone: ein zu versteuerndes Einkommen; Sie
müssen natürlich die Freibeträge einrechnen; ansonsten
ist es arg wenig - von unter 100 000 DM. Diesen Menschen, also 78 Prozent derer, auf die Sie sich immer berufen, helfen Sie doch nicht mit der Reduzierung des Spitzensteuersatzes. Die Einkommen dieser Menschen sind
doch gar nicht so hoch, dass sie auch nur in die Nähe des
Spitzensteuersatzes kommen.
({28})
Auf den Weg, den Hans Eichel beschritten hat - Eingangssteuersatz senken, bei der Progression etwas tun und
bei der Gewerbesteueranrechnung in doppelter Weise
hilfreich sein -, sind die meisten Mittelständler angewiesen. Sie machen dagegen Politik für vielleicht 5 Prozent
des Mittelstandes, aber nicht für mehr. Darüber müssen
Sie sich im Klaren sein.
({29})
Die Politik, die wir machen, für die der Bundesfinanzminister steht und für die er sich übrigens große Zustimmung
bei den Deutschen erworben hat, und zwar völlig zu
Recht, wird unbeirrt Schritt für Schritt fortgesetzt werden.
Ich kann an die Adresse der Mehrheit im Bundesrat, an
die unionsgeführten Länder, nur warnend sagen: Derjenige, der alle nasenlang ankündigt: „Wenn Ihr nicht deutlich mit dem Spitzensteuersatz runtergeht, dann werden
wir die eichelsche Steuerreform blockieren“, der blockiert
den Aufschwung, der blockiert den Abbau der Arbeitslosigkeit und der blockiert die Chancen für die jungen Leute
in unserem Land. Das werden wir Ihnen jeden Tag deutlich machen. Dann werden wir sehen, was passiert.
({30})
Das dritte Element, mit dem wir die Rahmenbedingungen verbessert haben, ist das Bündnis für Arbeit. Ich
habe die Häme, besonders Ihre, Herr Brüderle, noch im
Ohr, mit der Sie sich über dieses Bündnis geäußert haben.
Sie hatten wohl die Hoffnung, dass das Bündnis platzen
würde. Aber solche Hoffnungen sind Hoffnungen gegen
die Menschen in unserem Land. Das müssen Sie sich klarmachen. Sie mögen parteipolitisch motiviert sein. Aber
sie haben mit den Interessen der Menschen in diesem
Land nicht das Geringste zu tun.
({31})
Als wir dann, weil wir vernünftige Gesprächspartner
gefunden hatten, eine Tarifrunde in den wichtigsten Branchen dieses Landes, die den Aufschwung und den Abbau
der Arbeitslosigkeit unterstützt, zustande gebracht haben,
hätten Sie wenigstens einmal sagen können: Das haben
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter der Stabführung der Bundesregierung gut gemacht. Aber diese
Größe hatten Sie nicht.
({32})
Sie sollten sie sich erwerben, wenn Sie wieder etwas zu
sagen haben wollen.
Im Bündnis für Arbeit haben wir nicht nur einen Ausbildungskonsens hergestellt;
({33})
vielmehr haben wir durch Diskussionen dafür gesorgt,
dass von den gesellschaftlichen Kräften - es geht um Bereiche, in denen die Bundesregierung eben nicht autonom
handeln kann - jener Kurs, für den diese Bundesregierung
und diese Koalitionsmehrheit stehen, offensiv unterstützt
worden ist. Das ist eine Leistung, die man nicht klein
schreiben sollte; denn sie ist in diesem Land leider nicht
selbstverständlich; sie musste erarbeitet werden.
Wir werden im Bündnis für Arbeit in den nächsten Monaten an den Punkten Ausbildung und - vor allen Dingen - Weiterbildung weiterarbeiten. Hinzu kommt eine Gott sei Dank - wachsende Volkswirtschaft. Die Arbeit
daran wird diesmal hoffentlich mit Unterstützung des
ganzen Hauses getan. Aber die Frage, die wir noch nicht
beantwortet haben, lautet: Welche gesellschaftlichen
Gruppen profitieren von dieser wachsenden Volkswirtschaft? Wir müssen im Bündnis für Arbeit und später dann
auch hier nicht nur darüber reden, sondern auch Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass breite Schichten der arbeitenden Bevölkerung am Wachsen des Kapitalstocks
unserer Volkswirtschaft gerecht beteiligt werden. Das ist
unsere große Aufgabe.
({34})
Ich denke, damit ist der wirtschafts- und finanzpolitische Dreiklang unserer Politik deutlich geworden. Das
erste Element besteht in einer wachstums- und beschäftigungsorientierten Steuerpolitik und in einer ebensolchen
Abgabenpolitik. Ich möchte einmal daran erinnern, dass
beispielsweise die Beiträge zur Rentenversicherung nach
jahrelangem Anstieg gesunken sind, seit wir regieren. Das
ist für die Betriebe, zumal für die lohnintensiven, außerordentlich viel wert. Das sollte man einmal zur Kenntnis
nehmen.
({35})
Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass der Versuch der Konsensbildung über das Bündnis für Arbeit das zweite Element dieser Politik - richtig und wichtig ist.
Dasselbe gilt für das dritte Element dieser Politik - ich
nehme an, der Bundesfinanzminister wird sich in der Debatte noch dazu äußern -, nämlich die Konsolidierung
des Haushalts. Dies gilt angesichts der Tatsache, dass Sie
uns 1,5 Billionen DM Schulden hinterlassen haben, für
die wir jedes Jahr 82 Milliarden DM Zinsen zahlen müssen.
({36})
Diese Politik ist übrigens nicht nur im nationalen Maßstab außerordentlich wichtig; vielmehr trägt die eichelsche Konsolidierungspolitik dazu bei, dass die Europäische Zentralbank, die ja in eigener Verantwortung handelt, ein für uns so wichtiges, weil wachstumsfreundliches Zinsniveau aufrechterhalten kann. Ich gehe davon
aus, dass das auch in Zukunft gelingt. Aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist die Konsolidierungspolitik des Bundesfinanzministers. Deswegen
unterstreiche ich auch hier: All denjenigen, die bereits
jetzt darüber reden, dass man vielleicht zu erzielende Einnahmen - woraus auch immer - zur weiteren Absenkung
des Spitzensteuersatzes nutzen könnte, sage ich: Größeren Unsinn kann man wirtschaftspolitisch nun wirklich
nicht anrichten.
({37})
Diese Einnahmen gehören - ich erinnere an die Größenordnung unserer Schulden - in die Schuldentilgung.
Wenn das geschehen ist, kann man darüber reden - das
wäre eine vernünftige Diskussion -, ob diejenigen
Zinsaufwendungen, die dann nicht mehr nötig sind, für
zukunftsgerichtete Investitionen verfügbar gemacht werden können. Nur so herum geht es. Wir können nicht bereits verteilen, was wir noch gar nicht in der Tasche haben.
({38})
Ich mache deutlich: Der Weg, den wir gegangen sind,
ein Weg wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit, führt zu sichtbaren Erfolgen, was das wirtschaftliche Wachstum angeht, er führt zu sichtbaren Erfolgen,
was den Arbeitsmarkt angeht. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen, meine Damen und Herren, fest und
entschlossen. Sie können und Sie sollten ihn kritisch begleiten, aber auf keinen Fall sollten Sie ihn blockieren,
wenn Sie wirklich an Deutschlands Interessen und nicht
nur an Parteipolitik denken.
({39})
Ich erteile nun dem
Kollegen Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! In der Tagesordnung für die heutige
Sitzung des Deutschen Bundestages steht „Abgabe einer
Erklärung der Bundesregierung“. Streckenweise habe ich
gedacht, es sei eher eine Kasperade, die hier abgehalten
wird.
({0})
Der Titel dieser Regierungserklärung, meine Damen
und Herren, lautet: „Deutschland im Aufbruch - Moderne
Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Dieser Titel allein täuscht über die wahre Lage der Volkswirtschaft
und des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutschland hinweg. Deutschland ist nicht im Aufbruch, es gibt
auch keine moderne Wirtschaftspolitik und, Herr Bundeskanzler, wir sind von neuen Arbeitsplätzen in Deutschland
nun wirklich weit entfernt.
({1})
Sie berufen sich immer wieder und auch heute Morgen
auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit. Herr Bundeskanzler, der Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland - Sie wissen das - ist im Wesentlichen statistisch begründet. Er ist im Wesentlichen
eingetreten und er wird sich fortsetzen, selbst wenn Sie
sich mit Ihrer ganzen Regierung entschließen sollten, bis
zum Ende dieser Legislaturperiode in die Toscana zu reisen,
({2})
allein aus Gründen, die im Bevölkerungsaufbau, in der so
genannten demographischen Entwicklung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland liegen.
({3})
Es scheiden nämlich sehr viel mehr ältere Beschäftigte
aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere Beschäftigte in den
Arbeitsmarkt nachwachsen. Ihre ganze Hoffnung, Herr
Bundeskanzler, richtet sich darauf, dass ältere Arbeitslose
zu Rentnern werden, und nicht darauf, dass jüngere Arbeitslose zu Beschäftigten werden. Das ist die Wahrheit.
({4})
Sie haben ganz offensichtlich aus erkennbaren Gründen
darauf verzichtet, einen europäischen Vergleich über die
Entwicklung auf den Arbeitsmärkten anzustellen. Herr
Bundeskanzler, die Entwicklung des Arbeitsmarktes in der
Bundesrepublik Deutschland ist im Jahre 1999 praktisch
zum Stillstand gekommen. Es hat in Deutschland keine
neuen Beschäftigten, keine zusätzlichen Arbeitsplätze gegeben. Wir haben bei den Beschäftigten gerade einmal ein
Wachstum von 0,2 Prozent gehabt. Das sind im Jahresdurchschnitt etwa 30 000 zusätzliche Beschäftigte. Hätten
wir den europäischen Durchschnitt - nur den europäischen
Durchschnitt! - im Zuwachs von Beschäftigung erreicht, nicht bei der Statistik der Arbeitslosigkeit - der bei knapp
2 Prozent lag, dann hätte es in der Bundesrepublik
Deutschland rund 500 000 Beschäftigte mehr geben müssen. Davon ist dieses Land weiter entfernt denn je zuvor.
({5})
Sie haben nicht nur auf den europäischen Vergleich
verzichtet, sondern Sie haben mit ziemlich leichter Hand
auch die Lage in den neuen Bundesländern als ein
Randthema darzustellen versucht. In Wahrheit ist die
Lage in den neuen Bundesländern besonders trostlos,
Herr Bundeskanzler. Die Arbeitslosigkeit dort ist im Vergleich mit dem Vorjahr um über 50 000 gestiegen.
Es hat einen Abbau von Arbeitsplätzen, einen Rückgang der Beschäftigtenzahl um 50 000 gegeben. Die
wissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen für das
Jahr 2000, also für das laufende Jahr, einen weiteren
Rückgang der Beschäftigtenzahl in den neuen Bundesländern um noch einmal 75 000 voraus. Die Menschen in
den neuen Bundesländern müssen schon den Titel dieser
Regierungserklärung als blanken Zynismus empfinden,
meine Damen und Herren.
({6})
Herr Bundeskanzler, Sie haben auf einen weiteren europäischen Vergleich bewusst und aus guten Gründen verzichtet. Sie haben die Wachstumsraten in Deutschland
angesprochen. Es ist wahr: Das wirtschaftliche Wachstum
in der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr
und vermutlich auch im nächsten Jahr kräftig steigen.
Aber im Gegensatz zu früheren Jahren ist die Bundesrepublik Deutschland nicht die Lokomotive in der Europäischen Union, sondern sie ist im europäischen Vergleich
das Schlusslicht.
({7})
Es reicht eben nicht aus zu sagen, wie gut die Lage in
Deutschland ist, sondern es kommt immer darauf an, wie
gut sie im Vergleich zu den europäischen und außereuropäischen Wettbewerbern ist.
({8})
Ich sage Ihnen hier ganz konkret: Wir haben dieses wirtschaftliche Wachstum in Deutschland doch nicht wegen
dieser Bundesregierung und wegen ihrer Politik, sondern
wir haben es trotz dieser Bundesregierung.
({9})
Die Bundesrepublik Deutschland fällt beim wirtschaftlichen Wachstum im internationalen Vergleich weiter
zurück. Während die europäischen Länder im Durchschnitt ein wirtschaftliches Wachstum von zum Teil deutlich über 3 Prozent erreichen, bleibt die Bundesrepublik
Deutschland in diesem Jahr mit 2,7 Prozent erneut deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Herr Bundeskanzler, Deutschland und auch ganz Europa fallen
gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika bezüglich des wirtschaftlichen Wachstums auch im laufenden Jahr 2000 wiederum zurück. Es kommt also nicht auf
die absoluten Zahlen an, sondern im Wettbewerb kommt
es auf die relativen Zahlen im Vergleich zu anderen Industrienationen an. Es kommt darauf an, ob Deutschland mithält oder ob Deutschland zurückfällt.
Im Wachstum wie bei der Beschäftigung fällt Deutschland gegenüber dem europäischen Durchschnitt und
gegenüber der amerikanischen Volkswirtschaft weiter
zurück. Darin, Herr Bundeskanzler, liegt ein wesentlicher
Grund für die Außenwertschwäche des Euro. Amerika
wächst, Europa wächst nicht genug mit und Deutschland
ist mit Italien Schlusslicht in der Europäischen Union.
({10})
Nun will ich ausdrücklich unterstreichen und Ihnen in
dem zustimmen, was Sie zur gegenwärtigen Lage des
Euro gesagt haben. Der Euro ist nach innen hin weitgehend stabil. Erste erkennbare Inflationspotenziale sind
von der Europäischen Zentralbank mit einer, wie ich
meine, klugen Zinspolitik unter Kontrolle gebracht worden. Die eigentliche Sorge, die wir haben müssen, betrifft
den Außenwert des Euro. Dass Sie nun in Ihrer Rede, in
Ihrer so genannten Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler,
({11})
an die Adresse des früheren Bundesfinanzministers Kritik
richten, veranlasst mich doch, darauf hinzuweisen und zu
fragen: Wer hat denn bei der Einführung des Euro von
einer kränkelnden Frühgeburt gesprochen. Wir oder Sie,
Herr Bundeskanzler?
({12})
Wer hat denn die Voraussetzungen für die Einführung des
Euro kritisiert? Der Euro ist ein Erfolg, aber ob er im Verhältnis zum amerikanischen Dollar und zur amerikanischen Volkswirtschaft auch ein Erfolg bleibt, ob Europa
mithält oder weiter zurückfällt, das hängt entscheidend
von der Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen
Union ab und das wiederum hängt entscheidend von
der Wirtschaftspolitik innerhalb der Bundesrepublik
Deutschland als dem Land, das ein Drittel der Wirtschaftskraft des Euro-Gebietes stellt, ab.
({13})
Woran liegt es, dass das wirtschaftliche Wachstum in
der Bundesrepublik Deutschland nicht mit dem durchschnittlichen europäischen Wachstum und auch nicht mit
dem Wachstum vieler anderer europäischer Länder mithält? - Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Rede die Unterhaltungen auf der Regierungsbank störe.
({14})
Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen zugehört, als Sie
Ihre Regierungserklärung abgegeben haben. Dass von der
linken Seite des Hauses gestört wird, bin ich gewohnt und
stört mich persönlich nicht. Aber dass auf der Regierungsbank die Mitglieder der Bundesregierung so tun, als
ob die Debatte im Plenum nicht stattfindet, und dass Sie
sich ständig miteinander unterhalten, ist nicht in Ordnung.
({15})
Herr Bundeskanzler, Sie können noch so darüber lachen:
Wir haben Ihnen beim Vortragen Ihrer Argumente zugehört. Ich finde, es gehört zum Stil des Parlamentes, dass
auch die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank zuhören, wenn ein Redner der Opposition
spricht.
({16})
Woran liegt es, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland eine solche Wachstumsschwäche haben?
Das Wachstum in Deutschland wird überwiegend vom
Export getragen. Im Inland gibt es eine deutliche Schwäche
bei der Nachfrage. Diese Nachfrageschwäche im Inland,
Herr Bundeskanzler, hat im Wesentlichen damit zu tun,
dass in der Verantwortung dieser Bundesregierung im
Laufe des Jahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastung
auf einen neuen Höchststand gestiegen ist. Alle Behauptungen, die Sie in den letzten Tagen und Wochen aufgestellt haben, nämlich dass Sie im Jahre 1999 die Abgabenund Steuerbelastung in Deutschland gesenkt haben, sind
nachweislich falsch. Die Abgabenbelastung in der Bundesrepublik Deutschland hat im Jahre 1999 einen historischen Höchststand erreicht. Sie haben Steuereinnahmen
erzielt, die einen Höchststand der Steuerquote bewirken.
({17})
Im Vergleich zum Jahr 1998 haben Bund, Länder und
Gemeinden durch Ihre Steuerpolitik über 90 Milliarden DM mehr Steuern erhoben. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Behauptung aufstellen, dass die Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere der Rentenversicherungsbeitrag, gesunken seien, dann sagen Sie doch bitte
auch dazu, dass der Rentenversicherungsbeitrag nur deshalb gesunken ist, weil Sie ihn mithilfe der Ökosteuer heruntersubventioniert haben.
({18})
Es hat sich in Wahrheit nichts an der Steuer- und Abgabenbelastung geändert. Sie ist weiter gestiegen und nicht
gesunken.
Seit Sie an der Regierung sind, Herr Bundeskanzler,
verlieren Sie praktisch kein Wort darüber, wie Ihre Vorstellung hinsichtlich der langfristigen Entwicklung der
Staatsquote ist. Die Staatsquote bringt zum Ausdruck,
was der Staat durch Steuern und Abgaben von der erbrachten Wirtschaftsleistung dieses Landes für sich beansprucht. Die Staatsquote ist im Jahre 1999 nicht gesunken,
sondern sie ist wieder auf knapp 49 Prozent gestiegen,
und dies zu einem Zeitpunkt, wo der Herr Bundeswirtschaftsminister in einer Broschüre - sie darf sich nicht
mehr „Jahreswirtschaftsbericht“ nennen, weil er dafür
nicht mehr zuständig ist; sie nennt sich jetzt „Wirtschaftsbericht ́ 99“ - zum Ausdruck bringt, dass nach seiner AufFriedrich Merz
fassung die Staatsquote „auf 40 Prozent zurückgeführt
werden“ muss.
({19})
Wie wollen Sie es eigentlich bei steigender Steuer- und
Abgabenbelastung erreichen, die Staatsquote in der Bundesrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken?
Wenn Sie diese Politik der weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen fortsetzen, wird die Staatsquote nicht
sinken, Herr Bundeswirtschaftsminister, sondern sie
wird - entgegen dem, was Sie richtigerweise in Ihrem
Wirtschaftsbericht zum Ausdruck bringen - weiter steigen. Eine Staatsquote von knapp 50 Prozent lässt für eine
Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland
eben nicht genug Freiraum für Investitionen und für mehr
Beschäftigung. So werden Sie Ihr Ziel nicht erreichen,
Herr Bundeskanzler.
({20})
Dies sind nicht die Horrorszenarien einer verrückt gewordenen Opposition.
({21})
- Das ist wie beim pawlowschen Reflex: Ihnen braucht
man nur Stichworte zu sagen, dann reagieren Sie schon.
({22})
Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal das Szenario wiedergeben, das der so genannte Managerkreis
der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Tagen für den
Fall zu Papier gebracht hat, dass Ihre Steuerpolitik und
Ihre Politik bezüglich der sozialen Sicherungssysteme bis
zum Jahre 2030 fortgesetzt wird. Das ist ein Zeitraum, in
dem der Herr Bundesaußenminister nicht denkt, wie er
gerade zu erkennen gibt.
({23})
Aber das ist ein Zeitraum, der gerade einmal eine Generation umfasst. Ich spreche also über diejenigen, die heute
20 Jahre alt sind und im Jahre 2030 50 Jahre alt sein werden.
Meine Damen und Herren, in diesem Zeitraum, so sagt
der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung - nicht irgendwelche Turbokapitalisten, sondern diejenigen, die
Sie zur Beratung Ihrer Wirtschaftspolitik in eine der SPD
nahe stehende Stiftung berufen haben -, wird sich der
Rentenversicherungsbeitrag von heute 19,3 Prozent bei
ungebremster Entwicklung auf 28 Prozent erhöhen, der
Pflegeversicherungsbeitrag von 1,7 Prozent auf 3,5 Prozent mehr als verdoppeln, der Krankenversicherungsbeitrag von heute 13,6 Prozent im Durchschnitt auf 17,5 Prozent erhöhen. Alles in allem führt dies zu einer Steigerung
der Staatsquote von heute knapp 50 Prozent auf im Jahr
2030 sage und schreibe 65 Prozent. Das schrieb Ihnen der
Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen
Tagen ins Stammbuch unter der Voraussetzung, dass Sie
das fortsetzen, was Sie mit der höchsten Steuer- und Abgabenbelastung, die dieses Land je gekannt hat, im Jahre
1998 begonnen und im Jahre 1999 fortgesetzt haben.
({24})
Nun will ich mich nicht auf die Beschreibung und Kritik der Lage allein beschränken. Die Opposition wird völlig zu Recht - weniger von der Regierung, aber mehr von
der Bevölkerung - gefragt: Was ist denn zu tun? Ich will
mich auf drei Punkte konzentrieren.
Einen Punkt haben Sie selbst bereits angesprochen,
Herr Bundeskanzler, das ist die Steuerreform. Ich weiß
nicht, wie Sie darauf kommen, die Vermutung zu äußern,
dass die Opposition irgendetwas blockiert. Von Blockade
ist bei uns - ich nehme das für alle unionsgeführten
Bundesländer mit in Anspruch - bei niemandem Rede. Im
Gegenteil, ich habe mir in den letzten Tagen sogar schon
öffentlich den Vorwurf machen lassen müssen, ich sei Ihnen mit dem, was ich an der einen oder anderen Stelle gesagt habe, zu weit entgegengekommen.
({25})
Damit das aber klar ist: Herr Bundeskanzler, wir lassen
uns von niemandem in diesem Land, auch nicht von Ihnen, drohen und lassen uns von niemandem Warnungen
aussprechen, wenn wir andere politische Überzeugungen
haben und andere politische Antworten auf das geben,
was jetzt in der Steuerpolitik notwendig ist.
({26})
Wenn bis jetzt in Deutschland jemand blockiert und abgelehnt hat, in der Steuerpolitik zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen, dann sind es nicht nur die SPD-geführten Bundesländer vor vier Jahren gewesen, sondern
dann ist es auch diese Bundesregierung gewesen, die bis
zum heutigen Tag das Angebot der Opposition, im Gesetzgebungsverfahren des Deutschen Bundestages jetzt
zu Verbesserungen bei Ihrer Steuerpolitik zu kommen, abgelehnt hat. Sie haben jeden Dialog verweigert.
({27})
Aber ich mache Ihnen noch einmal das Angebot: Sie
haben darauf abgestellt, dass am Donnerstag der nächsten
Woche in zweiter und dritter Lesung entschieden werden
soll. Wir haben bis dahin noch eine Woche Zeit. Wir können uns in dieser einen Woche sehr nüchtern und sachlich - wir sind zu Kompromissen über Sätze, über Zeitpläne und über vieles andere bereit - darauf verständigen,
dass wir einen Grundsatz in der Steuerpolitik für die Zukunft aufrechterhalten, und das ist der Grundsatz der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller Einkunftsarten.
({28})
Wenn Sie diesen Grundsatz bereit sind zu akzeptieren,
Herr Bundeskanzler, akzeptieren wir auch Kompromisse
mit Ihnen, die Rücksicht auf die öffentlichen Haushalte
nehmen.
Ich will, weil Sie es angesprochen haben, es ausdrücklich an dieser Stelle noch einmal sagen: Auch wir denken
nicht im Traum daran, zur Finanzierung einer Steuerreform, die notwendig ist und für die es in den öffentlichen
Haushalten Spielräume gibt - es sind begrenzte Spielräume, aber sie gibt es -, Vorschläge zu machen, Einmaleinnahmen des Staates zur Finanzierung dauerhafter
Steuersenkungen heranzuziehen. Wir machen diesen Vorschlag ausdrücklich nicht. Ich mache mir zu Eigen, was
der frühere Kollege und heutige Finanzminister des Saarlandes, Peter Jacoby, gestern vorgeschlagen hat: Die
Einmaleinnahmen, die Sie, Herr Bundesfinanzminister,
erzielen werden und wollen - vielleicht geben Sie auch
Auskunft darüber, welche Potenziale Sie da erwarten,
übrigens Potenziale aus Privatisierungen, die Sie in der
Zeit, in der Sie hessischer Ministerpräsident waren, immer abgelehnt haben;
({29})
Sie haben immer abgelehnt, dass privatisiert wird und
dass in diesem Bereich auch Privatwirtschaft möglich
wird; aber Schwamm drüber, es geht nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft - , sollen dem Erblastentilgungsfonds zugeführt werden, damit auch die Schulden und die Zinslast der Länder gesenkt werden.
({30})
Ich sage Ihnen noch einmal: Das sind schöne Formulierungen, die Sie im Zusammenhang mit den 1,5 Billionen DM Schulden verwendet haben. Aber dabei unterschlagen Sie regelmäßig - das gehört natürlich zu Ihrer
politischen Strategie -, dass in diesen 1,5 Billionen DM
Schulden 500 Milliarden DM enthalten sind, die nicht die
Schulden von Helmut Kohl, sondern die Schulden von
Erich Honecker sind.
({31})
Aber wir machen ganz konkrete Vorschläge.
Es gibt Spielräume für eine Steuerreform, die auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist.
Diese Steuerreform muss den Mittelstand genauso entlasten wie die großen Unternehmen in der Bundesrepublik
Deutschland.
({32})
Was mir auffällt: Sie reden in der Steuerpolitik und
auch sonst viel von der so genannten „new economy“.
Spüren Sie eigentlich nicht, dass das, was Sie in der Steuerpolitik hinsichtlich der Entlastungswirkung vorschlagen, ganz überwiegend nicht auf die „new economy“,
sondern auf die „old economy“ abstellt?
({33})
Sie entlasten die großen Konzerngesellschaften, die überwiegend zur „old economy“ gehören, und Sie missachten
die wirtschaftlichen Interessen und die Leistungsfähigkeit
gerade derjenigen, die als junge Unternehmen, als Einzelkaufleute jetzt tätig werden wollen und die auch Arbeitsplätze schaffen.
({34})
Wir werden ja in der nächsten Woche noch Gelegenheit
haben, das hier ausführlich miteinander zu debattieren.
Ich hätte mir nur gewünscht, da Sie so ausführlich über
die Steuerpolitik gesprochen haben, Herr Bundeskanzler,
dass Sie hier wenigstens eine Klarstellung vorgenommen
hätten. Es ist in den letzten Wochen, wohl gegen die Planung der Bundesregierung, mehrfach öffentlich geworden, dass es sehr weit ausgereifte Pläne zur Erhöhung der
Erbschaftsteuer gibt. Warum, Herr Bundeskanzler, haben Sie Ihre Regierungserklärung nicht genutzt, um klarzustellen, dass es mit der Bundesregierung eine Erhöhung
der Erbschaftsteuer nicht gibt? Sie hätten doch die Gelegenheit dazu gehabt. Ich will Ihnen sagen, warum Sie es
nicht getan haben: Weil es einen Parteitagsbeschluss der
Sozialdemokraten vom Dezember des Jahres 1998 gibt
und Sie die Linken in Ihren eigenen Reihen beruhigen
müssen. Da Sie erkannt haben, dass Vermögensteuern und
Vermögensabgaben nicht mehr erhoben werden können,
haben Sie jetzt Pläne in der Schublade, die Erbschaftsteuer zu erhöhen.
Ich sage Ihnen: Wer Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze in Deutschland schaffen will, darf nicht mittelständische Betriebe mit noch höherer Erbschaftsteuer belasten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie das heute Morgen gesagt hätten.
({35})
Damit wir uns alle nicht täuschen: Selbst eine gut gelungene Steuerreform - ich hoffe, dass es dazu kommt wird die Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland
nicht so weit senken, wie es eigentlich notwendig wäre.
Deswegen stehen wir vor grundlegenden Reformen der
sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ich will das jetzt nicht im Detail ausführen. Aber ich will
zwei grundsätzliche Bemerkungen machen.
Erstens. Beide Reformen, die der Rentenversicherung
wie die der gesetzlichen Krankenversicherung, müssen
bis in das Jahr 2030 reichen. Sie werden uns, wenn es um
schwierige politische Entscheidungen geht, nur dann mit
in der Verantwortung finden, wenn Sie den Mut besitzen,
auch jetzt die Probleme mit zu lösen, die es ab dem Jahr
2015 im Hinblick auf die schon einmal beschriebene
demographische Entwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland geben wird. Wenn Sie kürzer springen wollen, wenn Sie kurzatmigere Politik machen wollen, dann
werden Sie die Unterstützung der Opposition im Deutschen Bundestag dafür nicht finden.
Zweitens. Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister und Frau Gesundheitsministerin, dass Sie
Vorschläge machen, wie die Rentenreform bis zum Jahr
2030 ausfallen soll, und dass Sie Vorschläge machen, wie
die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung bis
zum Jahr 2030 aussehen soll.
Frau Fischer, Sie haben im letzten Jahr unser Angebot,
gemeinsam diese Entscheidungen zu treffen, das wir im
Zuge des entsprechenden Vermittlungsverfahrens geFriedrich Merz
macht haben, abgelehnt. Sie hatten zu Beginn des Vermittlungsverfahrens einen bereits ausformulierten Gesetzentwurf in der Tasche, der der Zustimmung des Bundesrates nicht bedurfte. Damals sind Sie mit dem Kopf
durch die Wand marschiert. Jetzt ist der Karren in den
Dreck gefahren. Wir sind - damit das klar ist - nicht bereit, Ihnen dabei zu helfen, ihn wieder herauszuholen,
ohne dass Sie vorher Vorschläge machen, wie das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik Deutschland
langfristig aussehen soll.
({36})
Meine Damen und Herren, zum letzten Thema: Auch
hierzu haben Sie, Herr Bundeskanzler, praktisch nichts
gesagt. Das entscheidende Problem auf unserem Arbeitsmarkt und im Rahmen der Beschäftigungskrise in der
Bundesrepublik Deutschland ist die Lage der so genannten Langzeitarbeitslosen. Rund 40 Prozent der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland sind länger als
ein Jahr arbeitslos und haben keine abgeschlossene Berufsausbildung.
Welche Angebote machen Sie eigentlich den Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland für eine
langfristige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt?
Welche Anreize werden für jemanden, der gering qualifiziert ist, geschaffen, sich vielleicht auch für eine etwas
geringfügiger bezahlte Beschäftigung wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Die einzige Antwort, die die Bundesregierung bis zum
heutigen Tage darauf gegeben hat, ist die Sozialversicherungspflicht der so genannten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit dem Ergebnis, dass 100 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr
entstanden sind und 700 000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ersatzlos weggefallen sind. Das war
Ihre Antwort, die Sie bis jetzt gegeben haben. Aber Sie
brauchen für das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit
bessere Antworten.
Herr Bundesarbeitsminister, ich frage Sie: Wo sind Ihre
Vorschläge? Wir haben angeboten, mit Ihnen zusammen
diesen schwierigen Weg zu beschreiten. Wo sind Ihre Angebote zur Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe? Sie selbst haben diesen Vorschlag gemacht. Wir
haben ihn aufgegriffen und haben Ihnen gesagt: Wir sind
bereit, diesen sehr schwierigen Weg - auch auf der Ebene
der Kommunen - mitzugehen. Anderthalb Jahre sind Sie
an der Regierung. Sie haben keinen Vorschlag dazu gemacht, die Verzahnung dieser beiden großen und zum Teil
widersprüchlichen sozialen Sicherungssysteme auf den
Weg zu bringen.
Ich habe eine ganz konkrete Frage, die dieses Jahr entschieden werden muss: Herr Bundeskanzler, was geschieht mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz? Wird
es eine Anschlussregelung geben? Das Beschäftigungsförderungsgesetz läuft am 31. Dezember 2000 aus. Nach
übereinstimmender Überzeugung aller Beteiligten wurde
mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz und dessen
Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung dafür gesorgt, dass gerade in den Problembereichen der Langzeitarbeitslosen eine Vielzahl von Menschen wenigstens auf
Zeit wieder eine reguläre Beschäftigung finden konnte.
Warum geben Sie auf die Frage, ob das Beschäftigungsförderungsgesetz fortgesetzt werden soll oder nicht, keine
Antwort?
({37})
Die Bundesrepublik Deutschland ist von einer wirklich
modernen Wirtschaftspolitik und der Schaffung von
neuen, dauerhaften Arbeitsplätzen leider weiter entfernt
als fast alle anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wir
brauchen in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts
nicht nur wohlfeile Regierungserklärungen, sondern eine
wirkliche Agenda für die Modernisierung einer im Kern
gesunden und leistungsfähigen Volkswirtschaft.
Meine Vermutung ist, dass Sie, Herr Bundeskanzler,
den Zeitpunkt, zu dem Sie eine solche wirkliche Modernisierung unseres Arbeitsmarktes, unseres Steuersystems
und unseres sozialen Sicherungssystems so auf den Weg
bringen können, dass in Deutschland im vergleichbaren
Maßstab dauerhaft neue Arbeitsplätze entstehen, während
Ihrer Regierungstätigkeit schon jetzt verpasst haben.
({38})
Denn so grundlegende Reformen, bei denen viele Besitzstände in Frage gestellt werden müssen,
({39})
die Mut erfordern und es nötig machen, etwas gegen die
Widerstände in den eigenen Reihen durchzutragen, Herr
Bundeskanzler, haben Sie in Wahrheit bis heute nicht angepackt.
({40})
In Beliebigkeit und schönen Medienbildern - das gebe
ich zu - sind Sie uns überlegen.
({41})
Aber zu einer langfristigen Ausrichtung Ihrer Politik, die
über den nächsten Wahltermin hinausreicht, also nicht nur
Legislaturperioden erfasst, und im Sinne der Generationengerechtigkeit angelegt ist, fehlt Ihnen, Herr Bundeskanzler, der Mut.
({42})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion,
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir während Ihrer Rede, Herr Kollege Merz,
viele Stichworte aufzuschreiben, um die Alternativen
kennen zu lernen, die Sie als Opposition anlässlich der
Bewertung der wirtschaftlichen Lage unseres Landes vorschlagen. Sie sehen, dass ich ohne jeden Zettel ans Rednerpult gekommen bin. Das ist das Ergebnis Ihrer Rede.
Sie haben nämlich keine Alternativen.
({0})
Wir diskutieren über die wirtschaftliche Lage in unserem Land. Der Bundeskanzler hat, belegt mit vielen Zahlen, eine Analyse vorgelegt, die nach meiner Auffassung
die Realität in unserem Lande widerspiegelt. Sie als Führer der größten Oppositionsfraktion haben diese Analyse
bezweifelt. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege, dass
Ihre Kritik und Ihre Zweifel von fast niemandem in diesem Lande geteilt werden. Herr Henkel, der BDI insgesamt und auch andere bestätigen, dass wir auf dem richtigen Wege sind, dass der Aufschwung erfolgt, dass sich
unser Land in einer sehr guten Position befindet. Sie stehen mit Ihrer Kritik völlig allein da.
({1})
Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr
Jagoda, hat davon gesprochen, dass wir sieben goldenen
Jahren entgegenblicken. Ich wäre etwas vorsichtig mit
solchen Formulierungen; die Tendenz aber ist absolut
richtig. Ihre Reaktion darauf war, dass Sie Herrn Jagoda
kritisiert haben, er stünde dem Bundeskanzler zu nahe. Er
steht dem Bundeskanzler nicht nahe, sondern sagt nur das,
was er aufgrund seiner Kenntnisse als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit prognostiziert. Deshalb liegen Sie
mit Ihrer Bewertung der Arbeitslosenzahlen völlig falsch.
Ich gestehe auch den vielen Zuhörern und Zuschauern
insbesondere in den neuen Ländern gerne zu, dass wir
über die Entwicklung in den neuen Ländern noch nicht so
glücklich sind wie über die in den westlichen, alten Bundesländern. Aber ich will diesen Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben,
der richtige ist: Wir fördern die Schaffung von Ausbildungsplätzen in den neuen Ländern. Wir fördern Investitionen in den neuen Bereichen, im Maschinenbau, in
den neuen Technologien. Wir werden auch dort, wenn
auch etwas langsamer als im Westen, die Erfolge haben,
die wir uns für unser ganzes Land wünschen. Diese Zusage geben wir den Menschen in den neuen Ländern.
({2})
Wenn Sie gestatten, dass ein dienstälterer Fraktionsvorsitzender Ihnen einige Ratschläge gibt, wie man sich
im Plenum verhält: Sie haben etwas unsouverän auf die
Tatsache reagiert, dass der Bundeskanzler nicht jede Sekunde uneingeschränkt zugehört hat.
({3})
- In der Tat. Wenn der Inhalt es nicht erfordert, kann man
sich auch einmal anderen Dingen zuwenden.
({4})
Herr Kollege Merz, Sie haben sich auf einem Terrain
bewegt, das Ihnen aus Ihrer früheren Arbeit vertraut ist,
nämlich auf dem Feld der Steuerpolitik. Auch mir ist dieses Thema vertraut. Auch ich habe mich damit beschäftigt, bevor ich diese Funktion übernommen habe. Deshalb
will ich mit Ihnen gern in eine Debatte darüber eintreten,
wenngleich wir heute in einer Woche darüber noch intensiver diskutieren werden.
Sie haben zunächst die hohe Abgabenlast in unserem
Lande angeprangert und haben dann gesagt: Das war ja
noch nie so schlimm wie unter eurer Regierung. Das ist
nun nicht ganz korrekt, um es einmal vornehm und
zurückhaltend auszudrücken. Nehmen wir einmal unsere
Steuerreform, deren erste Stufe schon in diesem Jahr in
Kraft getreten ist. Aus der gesamten Palette der damit zusammenhängenden Maßnahmen möchte ich auch den
Zuhörern einige Zahlen nennen:
Als Sie - zu Recht - aus der Regierung abgewählt worden sind, betrug das steuerfreie Existenzminimum
12 500 DM. Wenn wir die letzte Stufe im Jahre 2005 abgeschlossen haben werden, wird das steuerfreie Existenzminimum 15 000 DM betragen. Dabei handelt es sich um
den Betrag, für den kein Mensch Steuern bezahlen muss.
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent; wenn wir im Jahre 2005 die
letzte Stufe der Steuerreform in Kraft gesetzt haben werden, wird er 15 Prozent betragen, über 10 Prozentpunkte
weniger - ein Erfolg, von dem jeder Steuerzahler profitieren wird, auch wir.
({5})
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Körperschaftsteuersatz 45 Prozent; wenn wir
({6})
unsere Steuerreform durchgesetzt haben werden, wird er
25 Prozent betragen - eine Erleichterung für die Unternehmen in Deutschland.
({7})
Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent; im Jahre 2005 wird er 45 Prozent betragen ({8})
nicht nur ein Erfolg für diejenigen, die oben sind, sondern
für alle Steuerzahler, weil sich das für alle positiv auswirken wird. Die Vorschläge von Eichel und der Bundesregierung sind genau der richtige Weg, auf dem man die
Steuerlast für alle Bürger in unserem Land deutlich mildern kann. Sie haben das noch nie geschafft, solange Sie
regiert haben.
({9})
Sie haben auch noch etwas zu dem Thema Vermittlungsverfahren oder zu dem Thema Bund/Länder gesagt.
Das war übrigens - wenn ich dann doch Ihnen gegenüber
ein bisschen fair sein will ({10})
der einzige Punkt, wo Sie etwas Konkretes vorgeschlagen
haben - im Gegensatz zu dem, wie wir es machen. Sie haben gesagt, die einmaligen Einnahmen, die sich aus der
Versteigerung der Lizenzen ergeben, sollen in den
Erblastentilgungsfonds gehen. Man kann über alles reden.
Wenn man es vorher nur klargestellt hat und Sie sagen:
„Das dürft ihr nicht für dauerhafte Steuersenkungen verwenden“, dann begrüße ich diesen Erkenntnisprozess in
Ihrer Fraktion. Man hat dazu ja auch andere Stimmen
gehört. Diese Klarstellung ist schon einmal sehr gut.
({11})
Es ist übrigens ein bisschen leichtfertig, wenn man in
Deutschland anfängt - begonnen hat das in der Opposition -, darüber zu reden, welches Geld man alles wofür
ausgeben könnte - Geld, das man noch gar nicht hat.
Diese Politik haben Kohl und Waigel lange Jahre gemacht. Das wollen wir nicht. Davor steht Hans Eichel.
Herr Kollege Merz, Sie spielen ja auch in Ihrer Partei
eine Rolle; die Parteivorsitzende der CDU ist leider nicht
mehr da. Wie ist denn ein Beschluss des CDU-Parteitages
zu bewerten, der nämlich zu der Frage der Einnahmen aus
der Versteigerung der Lizenzen beschlossen hat: Diese
Einnahmen sind für dauerhafte Infrastrukturmaßnahmen
im Bereich des Verkehrs usw. zu verwenden? Diesen Beschluss haben Sie jetzt sozusagen einkassiert;
({12})
das begrüße ich. Man kann in der Tat nicht so verfahren,
wie Sie das auf dem Parteitag vorgeschlagen haben.
Wir reden immer von der Staatsverschuldung; das
sind 1 500 Milliarden DM beim Bund allein. Ich habe nun
auch bei vielen Veranstaltungen gemerkt: Das ist eine
Größenordnung - 1 500 Milliarden, 1,5 Billionen -, unter
der sich die Menschen so recht nichts vorstellen können.
So viel Geld hat eigentlich noch nie jemand auf einem
Haufen gesehen. Ich will das deshalb anders formulieren:
Die Verschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, 82 Milliarden DM Zinsen dafür im Bundeshaushalt, bedeutet:
Jede Minute gibt der Bundesfinanzminister 156 000 DM
für Zinsen aus; alle drei Minuten entspricht das dem Gegenwert eines Einfamilienhauses. Das müssen wir herunterfahren; das müssen wir stoppen; das müssen wir ändern. Deshalb geht das Geld in die Verringerung der
Staatsverschuldung und nirgendwo anders hin.
({13})
Wir werden entscheiden müssen, was wir mit dem
Geld, das wir dann im Hinblick auf den Schuldendienst
einsparen, machen. Ich bin ganz entschieden der Meinung, die auch Hans Eichel geäußert hat, dass wir jetzt
überhaupt nicht darüber reden sollten, wo das dann verwendet werden wird. Wir kennen die Größenordnung ja
auch noch gar nicht. Die Versteigerung der Lizenzen hat
noch nicht stattgefunden. Deshalb rate ich zur Vorsicht.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Linie der Bundesregierung in diesem Punkte eindeutig zu.
Sie, Herr Merz, haben auch noch über Rente und über
Gesundheit gesprochen. Nun zum Thema Rente. Wir haben - das wissen Sie; Ihr Amtsvorgänger, Herr Kollege
Schäuble, war für Ihre Fraktion beteiligt, und
Michael Glos muss ja auch aus Proporzgründen immer
mit dabei sein, wenn so etwas stattfindet ({14})
die Einrichtung einer Arbeitsgruppe von Koalition und
Opposition verabredet. Die F.D.P. war auch mit dabei.
Nun hat man mir über die Arbeitsgruppensitzungen,
die unter Leitung des Arbeitsministers Walter Riester
stattgefunden haben, berichtet: Im Grunde war nur Stagnation zu verzeichnen. Sie - nicht wir - haben auf den
kommenden Sonntag, den 14. Mai, gestarrt und daraus die
große politische Linie abgeleitet: Wir dürfen uns überhaupt nicht auf irgendwelche Kompromisse einlassen, wir
müssen Rentenwahlkampf in Nordrhein-Westfalen machen.
Nur, das Ergebnis ist: Über Rente redet in NordrheinWestfalen inzwischen niemand, weil die Menschen erkannt haben, dass die Maßnahmen, die wir im letzten Jahr
durchgesetzt haben, die richtigen Maßnahmen gewesen
sind, um die Zukunft der kommenden Generationen zu sichern.
({15})
Daraus können Sie überhaupt keinen Speck mehr schneiden.
Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot, Herr Kollege Merz,
stellvertretend für die größte Regierungsfraktion. Nach
dem kommenden Sonntag, dem 14. Mai, wird sich
manches beruhigen. Sie werden die Wahl verloren haben.
Dann wird die Aufgeregtheit vorbei sein und wir kommen
auch hier in Berlin wieder zur inhaltlichen Arbeit zurück.
({16})
Herr Kollege Merz, wir werden dann unter der Leitung
von Walter Riester intensiv darüber reden: Schaffen wir
gemeinsam eine Lösung, die bis zum Jahr 2030 trägt - Erwerbsunfähigkeitsrente, Berufsunfähigkeitsrente, zusätzliche private Vorsorge, soziale Grundsicherung, Mindestrente, Alterssicherung der Frauen, Witwenrente usw.?
Darüber wollen wir reden. Das Angebot gilt nach wie vor,
weil es für unser Land politisch wichtig wäre, dass man
sich einigt, zumindest die andere große Volkspartei mit
dieser Koalition.
({17})
- Daran ist gar nichts neu. Nur, ich beklage, dass nichts
passiert ist, und zwar deshalb, weil Sie glaubten, damit
Wahlkampf machen zu können.
({18})
Lassen Sie uns doch nach dem 14. Mai vernünftig darüber reden. Wir halten das Angebot nach wie vor aufrecht.
Gleichzeitig sage ich aber klipp und klar: Wenn wir uns
in diesen nächsten Wochen nicht einigen können, dann
wird die Koalition ihre Mehrheit im Bundestag dazu benutzen, das Rentenreformrecht so durchzusetzen, wie
wir es für richtig halten. Diese Verantwortung haben wir.
({19})
Zum Thema Gesundheitsreform. Es ist wahr: Wir haben Vorstellungen für eine Neuordnung im Gesundheitsbereich vorgelegt, diese, wie man weiß, auch im Deutschen Bundestag durchgesetzt und sind damit in den Bundesrat gegangen. Das, was Andrea Fischer, was wir
vorgelegt haben, ist nur zum Teil verwirklicht worden,
weil Sie - entgegen Ihren Äußerungen - in einem Bereich,
in dem wir Ihre Zustimmung brauchten, blockiert haben.
Das heißt, Sie haben im Bereich der Gesundheitspolitik
Mitverantwortung dort, wo wir Schwierigkeiten haben.
Das ist so und das können Sie auch nicht wegreden.
({20})
Andrea Fischer hat angeboten, darüber ein Gespräch
zu führen. Das ist ja auch vernünftig. Die Antwort Ihrer
neuen Parteivorsitzenden war: „Machen wir nicht!“
({21})
Dann stellen Sie sich hier nicht hin und sagen, Sie würden
nie blockieren. Natürlich wollen Sie blockieren. Das war
doch die Antwort von Frau Merkel in diesem Zusammenhang.
({22})
Ich weiß ja nicht: Hat Frau Merkel nun etwas zu sagen
oder haben Sie etwas zu sagen?
({23})
Wenn Sie bereit sind, mit uns über die Korrektur der
Maßnahmen, die Sie uns nicht ermöglicht haben, zu reden, wird dies geschehen.
({24})
- Die Ministerin wird auf Sie zukommen. Wir kommen
auf Sie zu. Aber wenn Frau Merkel sagt „Ich rede gar
nicht mit Ihnen!“, dann behaupten Sie nicht, Sie würden
nicht blockieren. Natürlich blockieren Sie.
Zu einem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Es
geht auch am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen um die Frage: Wird die Politik der Bundesregierung,
die Politik der Koalition hier in Berlin von dem großen
und mächtigen Bundesland Nordrhein-Westfalen mitgetragen oder nicht? Ich appelliere deshalb von hier aus an
die Bürgerinnen und Bürger in diesem Bundesland,
({25})
nicht nur die landespolitischen Fragen zu berücksichtigen. Was meine Partei angeht, habe ich gar keine Sorge.
Jeder weiß, dass viele Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen Clement für viel geeigneter halten als seinen Gegenkandidaten von der CDU, übrigens zu Recht.
({26})
Ich appelliere auch deshalb, weil wir die Unterstützung
des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat bei vielen
Maßnahmen brauchen, wenn es um Steuerpolitik und
viele andere Dinge geht. Berücksichtigen Sie bitte auch
die Erfolge, die wir in der Bundespolitik erreicht haben.
Wir sind auf einem sehr guten Weg. Die Opposition hat
keine Alternative. Deshalb werden wir diesen Weg, so wie
er dargestellt worden ist, unbeirrt fortsetzen.
({27})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr
Bundeskanzler, wer würde sich nicht mit Ihnen darüber
freuen, dass wir jetzt 156 000 Arbeitslose weniger haben
als vor einem Jahr? Wir sind uns aber ebenso darin einig,
dass dies die Dramatik von 3,986 Millionen Arbeitslosen
und deren Angehörigen, also das Los von mehr als 10 Millionen Mitbürgern, nicht ändert.
Ich habe Zweifel, ob die Zahl, die Sie hier vortragen konnten, den anspruchsvollen Titel „Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“ schon rechtfertigt.
Im Hinblick auf das, was Sie angekündigt haben, hatte ich
größere Erwartungen und bin über das, was jetzt eintritt,
enttäuscht.
({0})
Die Prognosen, von denen Sie, Herr Bundeskanzler,
sprachen, sagen nämlich auch, dass unser Wachstum nur
2,8 Prozent betragen wird, während sich das der
EU-Mitgliedstaaten im Schnitt auf 3,2 Prozent - wir sind
da hinten dran - und das der Vereinigten Staaten von Amerika auf 4,4 Prozent beläuft. Sie haben vorhin davon gesprochen, Ihr Ziel sei es, dazu beizutragen - und nicht zu
bewirken, denn das können Sie alleine nicht, das kann die
Politik überhaupt nicht -, dass die Arbeitslosenzahl auf
3,5 Millionen gesenkt werden soll. Das klingt schon bemerkenswert zurückhaltender als die Ankündigung zu
Beginn der Legislaturperiode, als manchmal Prognosen
bis hin zur Halbierung abgegeben wurden.
({1})
Genauso wurde im Bereich der Bildungsausgaben eine
Verdoppelung angekündigt, während jetzt nur graduelle
Veränderungen auf dem Wege sind. Vielleicht ist das ein
neuer Realismus.
Ich habe bei einigen der Beiträge, die ich gehört habe,
irgendwie das Gefühl gehabt, dass diese gar nicht an unser Gremium gerichtet waren, sondern sich nur auf den
Muttertag, den kommenden Sonntag, bezogen haben. Von
all denen, die hier geredet haben und noch reden werden,
bin ich der Einzige, der in direkter Funktion damit beschäftigt ist.
({2})
Deswegen nehme ich mir auch das Recht, dazu nichts zu
sagen.
({3})
- Nein, nicht zum Muttertag, sondern zum Wahltag, Herr
Merz.
Ich möchte gerne zu dem Thema, das auf der Tagesordnung steht, sprechen, nämlich wie wir durch eine vernünftige Politik dazu beitragen können, dass schneller als
bislang absehbar mehr Arbeitslose in Arbeit kommen. Wir
wissen doch - und dazu haben wir auch selbst beigetragen -, dass es in Wahrheit nicht nur 3,9 Millionen Arbeitslose sind, sondern dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die keinen bezahlten Job haben, bei
ehrlicher Rechnung unter Hinzunahme all derer, die in
ABM oder im Vorruhestand sind, eher die 5-MillionenGrenze überschreitet.
({4})
- Es hat doch gar keinen Zweck, bei einer Bestandsaufnahme so zu tun, als sei nur eine Seite des Hauses am Zustandekommen von Problemen beteiligt gewesen. Das
will ich ja gar nicht behaupten.
Ich finde, dass das Thema dieser Aussprache angesichts seiner Dimension mehr als eine parteipolitische
Profilierung in einem Wahlkampf verlangt. Betreiben wir
diese parteipolitische Profilierung in der Frage der Arbeitslosigkeit ohnehin nicht schon viel zu lange? Wissen
die Vernünftigen in unseren Parteien in Wahrheit nicht
längst, was eigentlich getan werden müsste, und ist der
Konsens in diesem Hause nicht eigentlich viel größer, als
wir in solchen Debatten einräumen wollen?
Wir wissen doch alle genau, dass Politik und Staat
Arbeitsplätze in Wahrheit nur im öffentlichen Dienst
schaffen können. Gleichzeitig wissen wir, dass genau der
kleiner werden muss, weil die öffentlichen Haushalte eingeschränkt und sogar öffentliche Leistungen privatisiert
werden müssen. Wieso hören wir dann nicht einfach auf,
so zu tun, als könne die Politik die Arbeitsplätze schaffen?
Wir können den Weg von alten und neuen Unternehmen hin zu neuen Jobs für deutlich mehr Erwerbstätigkeit frei machen. Wir alle wissen, dass wir die politischen,
staatlichen und halbstaatlichen Hindernisse, dass wir die
staatlichen und halbstaatlichen Privilegien für starke Lobbys wegräumen müssen, die alle zusammen schuld daran
sind, dass in Deutschland viel zu wenige neue Arbeitsplätze entstehen.
({5})
Wir alle wissen, dass wir den Weg für viele neue Jobs,
und zwar für sehr gut bezahlte, gut bezahlte und weniger
gut bezahlte Jobs, freiräumen müssen. Das amerikanische
„Ruhrgebiet“ hatte vor 15 Jahren Arbeitslosenquoten in
Höhe von 20 bis 25 Prozent. Heute liegt die Arbeitslosenquote in Ohio unter 4 Prozent und damit noch unter dem
US-Durchschnitt. Gut bezahlte Arbeitsplätze im Bereich
der Informationstechnik prägen heute diesen Teil des
amerikanischen mittleren Westens, nicht zuletzt dadurch,
dass dort deutsche Firmen jene Bedingungen vorfanden,
die wir ihnen hier vorenthalten. Damit exportieren wir
Arbeitsplätze, die wir hier dringend brauchen.
Warum das so ist, Herr Bundeskanzler, steht übrigens
im Schröder-Blair-Papier. Ich zitiere:
Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik.
Weiter heißt es:
Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer
höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne
Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben.
Einfacher gesagt heißt das doch: Unsere Langzeitarbeitslosigkeit ist zum größeren Teil politisch hausgemacht. Mich interessiert inzwischen der Streit darüber,
wer das eigentlich mehr oder weniger verschuldet hat,
nicht mehr sehr. Ich will auch nicht mit Ihnen darüber
streiten, ob der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mehr
auf Vorruhestand und andere statistische Kunstgriffe als
auf neue Arbeitsplätze zurückzuführen ist.
Ich finde, wir sollten stattdessen das Nötige tun. Wir
sollten die Hindernisse für das Entstehen vieler guter
neuer Jobs beseitigen. Ich möchte Ihnen in acht Punkten
darlegen, was aus Sicht der F.D.P. konkret zu tun ist. Herr
Kollege Struck, jetzt können Sie den Zettel nehmen und
mitschreiben, jetzt lohnt es sich.
({6})
Erstens. Wir müssen Teilzeitbeschäftigung leichter
machen: angefangen bei den 630-Mark-Jobs - hier ist ein
Fehler passiert, das werden Ihnen alle Beteiligten und Betoffenen immer wieder sagen - bis hin zu flexiblen Arbeitszeiten und Beschäftigungsverhältnissen. Es ist nicht
einzusehen, warum jemand nicht morgens die Zeitung
austragen, tagsüber seinem Hauptjob nachgehen und
abends - wenn er denn will - als Übungsleiter im Sportverein Jugendlichen den Spaß am Turnen oder am Fußball
vermitteln kann. Das muss die freie Entscheidung jedes
Einzelnen sein und bleiben. Hier soll die Politik ihre Behinderungsmaßnahmen einstellen.
({7})
Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen vernünftig hinkommen:
schnell, sicher und preisgünstig, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber eben auch mit dem Auto. Das heißt:
Wir müssen neue Straßen bauen, damit die Menschen
nicht länger Tausende von Stunden sinnlos im Stau stehen
und Milliarden Mark nutzlos verschwendet werden. Die
Autofahrer haben noch nie so viel an Steuern pro Liter
Sprit bezahlt und noch nie wurde davon so wenig für den
Ausbau der Verkehrswege ausgegeben.
Ich weiß von Ihnen, Herr Bundeskanzler, von dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und
von seinem Verkehrsminister, dass Sie das genauso sehen.
Aber Sie dürfen die Konsequenz nicht ziehen, weil Ihr
Koalitionspartner das als Betonpolitik diskreditiert. Deswegen verplempern Abertausende von Menschen so viel
Zeit im Stau. Deswegen wird die Umwelt so belastet.
({8})
Deswegen wollen manche Menschen auch keinen weiteren Weg zu ihrem Arbeitsplatz gehen, weil sie dabei zu
viel Zeit verlieren.
Drittens. Wir müssen den Irrsinn ständig steigender
Benzinpreise, die durch die Ökosteuer immer weiter in
die Höhe getrieben werden, stoppen.
({9})
Meine Damen und Herren, das hat auch mit diesem
Thema zu tun.
Wenn junge Menschen, Auszubildende, Lehrlinge, Studenten, wenn Menschen mit einem kleineren Einkommen, die in der Fläche wohnen, weite Wege mit dem Auto
zurücklegen müssen, dann ist das für sie ein massives
Mobilitätshemmnis, dann suchen sie Arbeitsplätze, die
etwas weiter entfernt sind, eben nicht mehr, nehmen sie
nicht mehr an, weil es zu teuer wird, weil es für sie nicht
lohnt.
Deswegen: Stellen Sie doch diesen Unsinn mit ständig
steigenden Ökosteuern ein. Das hindert die Mobilität, und
das beschädigt das Interesse an mehr Beschäftigung.
({10})
Wir brauchen intelligente neue Verkehrssysteme wie
den Transrapid, den Cargolifter, die Telematik, wir brauchen den Wettbewerb auf der Schiene.
({11})
Warum suchen wir hier nicht ein Modell, das genauso wie
in der Telekommunikation durch das Brechen des Monopols beim Telefon zur Jobmaschine geworden ist? Warum
machen wir nicht auch den Verkehr auf den Schienen zu
einer Jobmaschine - eine Gesellschaft, die das Schienennetz betreibt, aber konkurrierende Unternehmen, die
Transportleistungen für Personen und Güter anbieten?
({12})
Da entstehen Jobs und da entsteht Qualität. Da sinken die
Preise. Ich glaube, das wäre ein vernünftiger Beitrag.
Viertens. Wir brauchen Erleichterung von Unternehmensgründungen. Wer mit Gründern von jungen Unternehmen spricht, bekommt von ihnen immer das gleiche
Klagelied zu hören, und zwar ganz unabhängig davon, wo
sie parteipolitisch stehen. Wir müssen sie von den bürokratischen Staatslasten befreien, Vorschriften reduzieren
und Lohnnebenkosten senken. Auch das steht übrigens im
Schröder-Blair-Papier. Der erste Schritt wäre: Weg mit
dem Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit!
({13})
Auch Firmen wie Microsoft in den USA oder Pixelpark
in Berlin haben unter nach deutschen Normen irregulären
Bedingungen angefangen. Nach unseren Bedingungen
hätten sie gar nicht anfangen können. Die Internetgeneration mit Gründermentalität sollten wir durch Deregulierung und Entbürokratisierung zur Selbstständigkeit ermuntern, statt sie mit merkwürdigen Regelungen wie den
Scheinselbstständigkeitsbestimmungen zu hemmen.
Fünftens. Leistung muss sich stärker als nach dem bisher geltenden Besteuerungssystem lohnen. Darüber wird
heute und nächste Woche allemal hier gesprochen.
Der Blick in die private Haushaltskasse ist deswegen
für viele Beschäftigte so ärgerlich, weil sie bei steigenden
Einkommen trotzdem immer weniger übrig behalten. Da
meine ich nun, dass die Intonierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, vorgenommen haben, nicht in Ordnung war, als
Sie den Eindruck erweckten, dass es, wenn wir voneinander abweichende Vorstellungen haben - etwa bei der
Frage, wie wir Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften besteuern -, etwas mit Blockadehaltung auf unserer Seite zu tun habe.
Wenn beim Thema Steuerpolitik ein Name für das Wort
„Blockadepolitik“ steht, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, dann ist es der Ihres Freundes und Troikamitgliedes
Oskar Lafontaine.
({14})
Der hat nun wirklich in einer Weise blockiert, dass dieser
Begriff gerechtfertigt ist.
Wir sagen, dass das Konzept, wie es jetzt vorliegt und
nächste Woche gelesen werden wird, den Eigentümer, den
Unternehmer weiterhin zu stark diskreditiert. Sie vernachlässigen mit dieser Bestimmung die Mittelstandskultur der Personengesellschaften. Sie verrechnen bürokratisch die Gewerbesteuer, statt sie abzuschaffen. Das ist alles Komplikation statt Vereinfachung. Die Spreizung der
Steuersätze ist zu groß, die Dauer der Realisierung zu
lang.
Deswegen: Wenn wir im mittelständischen Bereich
Bewegung schaffen wollen, müsste hierüber Einvernehmen im Bundesrat erzielt werden können.
Sechstens. Wir müssen die Berufsausbildung von Jugendlichen fördern, indem wir Bürokratielasten von den
Betrieben nehmen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin
auf das Programm der Bundesregierung abgehoben und
unsere Kritik zurückgewiesen. Sie war nicht dagegen gerichtet, dass man in staatlichen oder halbstaatlichen AusJürgen W. Möllemann
bildungseinrichtungen für solche jungen Menschen, die in
Betrieben noch keinen Job finden, Ersatzlösungen schafft.
Sie war darauf gerichtet, dass Sie den Eindruck erweckt
haben, als könnten das Ersatzlösungen sein. Das sind alles zeitlich befristete Interimslösungen. Anschließend stehen dieselben jungen Leute wieder vor den Arbeitsämtern.
Was wir machen müssen, ist, den kleinen und mittleren
Betrieben die Luft zu geben, dass sie diese jungen Menschen einstellen und beschäftigen,
({15})
und das etwa durch den Punkt, den ich gerade angesprochen habe, durch eine bessere Steuerpolitik.
Ich möchte ein Bemerkung zu dem machen, was Herr
Merz und Herr Struck zum Thema Gesundheitspolitik
gesagt haben.
In dem Bereich des Gesundheitswesens arbeiten ungefähr
zweieinhalb Millionen Menschen. Diese Zahl könnte
deutlich gesteigert werden. Gesundheit und Fitness bekommen aus Sicht der Menschen rund um den Globus
eine immer größere Priorität. Die Bundesregierung macht
aber das genaue Gegenteil von dem, was fällig wäre:
Durch ein immer dichteres Netz von Reglementierungen
und insbesondere durch das unselige System der so genannten Budgetierung lähmen Sie die Entwicklung im
Gesundheitswesen. Sie treffen nicht nur die in Gesundheitsberufen Tätigen - Ärzte, Zahnärzte - und diejenigen,
die in den pflegenden Berufen tätig sind, die sich bei dieser staatlichen Zuteilung von Einkommen entwürdigend
behandelt fühlen, Sie beeinträchtigen auch die Möglichkeiten und Rechte der Patienten. In den vielen Jahren, die
ich dem Parlament angehöre, habe ich die unterschiedlichsten Gesundheitsminister und -ministerinnen kennen
gelernt. Aber eine Gesundheitsministerin wie Frau
Fischer, die es schafft, restlos alle gegen sich aufzubringen, habe ich in diesem Parlament noch nicht erlebt. Das,
was betrieben wird, ist Konfusion schier. Deswegen sollte
man das Reformkonzept, von dem bisher die Rede ist, einstampfen und ein vernünftiges Konzept vorlegen, das diesen Namen verdient.
({16})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht
sich auf die Bildungspolitik. Hier hat die Bundesregierung große Ankündigungen gemacht. Einige Schritte sind
getan worden. Ich glaube aber, wir kommen heute zu dem
Ergebnis - übrigens im Blick auf Bund und Länder -, dass
unser Bildungssystem in Bund und Ländern mit graduellen Unterschieden, aber doch prinzipiell, dem internationalen Wettbewerb derzeit nicht standhalten kann. Unser
Schulsystem und unser Hochschulsystem bekommen bei
allen nationalen und internationalen Vergleichsstudien
bemerkenswert schlechte Noten. Das ist gefährlich. Deswegen werden unsere Absolventen, die in zu langer Zeit
zu schlecht ausgebildet werden - sie benötigen ein Jahr
mehr bis zum Abitur als in allen anderen Ländern, sie studieren zwei Jahre länger und haben trotzdem schlechtere
Abschlüsse -, auf dem immer internationaler werdenden
Arbeitsmarkt in immer größere Schwierigkeiten kommen.
Es ist sicher richtig, wenn im Blick auf die zu erwartenden deutlichen Mehreinnahmen des Bundes aufgrund
der Privatisierung und der Rechtevergabe der wesentliche
Schwerpunkt bei der Schuldentilgung liegt. Aber, meine
Damen und Herren, mein fester Eindruck ist: Es bräuchte
eine gemeinschaftliche Anstrengung von Bund und Ländern, eine Kraftanstrengung, um Deutschland zurück an
die Spitze von Bildung, Wissenschaft und Forschung zu
bringen, sonst verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit.
({17})
Meine Damen und Herren, ich spreche heute zum letzten Mal als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Daher möchte ich mich von Ihnen verabschieden und Ihnen
für gute und böse Worte danken. Ich war gerne hier. Nun
gehe ich nach Düsseldorf in den Landtag und die Landesregierung.
({18})
- Die uneingeschränkte Freude über diese Absicht macht
mir den Abschied ein bisschen leichter. - Dass ich deswegen - und weil mich der Kollege Struck gebeten hat,
ihn dort nicht allein zu lassen ({19})
von dieser Stelle aus für den doppelten Einzug in Parlament und Regierung des grössten Bundeslandes um die
Stimmen der Wähler dieses Landes bitte, werden Sie mir
nach 28 Jahren Parlamentstätigkeit hoffentlich durchgehen lassen. Deswegen: Auf Wiedersehen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Wiedersehen im Bundesrat, meine
Damen und Herren von der Bundesregierung!
({20})
Nun erteile ich der
Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Merz und vor allen Dingen Sie, Herr Möllemann, man
sollte das Fell des Bären erst verteilen, wenn er erlegt ist.
Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Muttertag, also der
14. Mai, ausgehen wird. Ich glaube, dass er nicht in Ihrem
Sinne ausgehen wird.
Wenn man Sie über das eigentliche Thema der Debatte
reden hört, dann drängt sich mir der Eindruck auf: Sie ärgern sich, dass wir unser Land endlich aus dem Schlamassel herausholen, den Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit angerichtet haben.
({0})
Sie können augenscheinlich kaum ertragen, dass wir erfolgreich die Probleme lösen, an deren Lösung Sie jahrelang immer wieder gescheitert sind. Das muss man hier
festhalten.
Festhalten muss man auch: Die Wirtschaftsdaten sind
hervorragend. Der deutsche Außenhandel verzeichnet
zweistellige Zuwachsraten. Die fünf führenden deutschen
Wirtschaftsinstitute schreiben in ihrem Frühjahrsgutachten:
Seit Herbst hat die konjunkturelle Erholung auch den
Arbeitsmarkt erfasst. Die Zahl der Erwerbstätigen
hat sich seither deutlich erhöht und die Arbeitslosigkeit ist beträchtlich zurückgegangen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen
Sie doch endlich zur Kenntnis: Erstmals seit 1996 liegt die
Zahl der Arbeitslosen im April dieses Jahres unter
vier Millionen. Das sind knapp eine halbe Million Menschen weniger als im letzten April Ihrer Regierungszeit
1998.
({1})
Das bedeutet eine halbe Million weniger Menschen mit
der Sorge um ihre berufliche Zukunft, eine halbe Million
weniger Männer und Frauen mit der zweifelnden Frage,
wo denn wohl ihr Platz in der Gesellschaft sein solle. Das
bedeutet auch hunderttausende weniger Ehe- und Lebenspartner und Kinder, die unter der Belastung der Arbeitslosigkeit leiden müssen. So sieht die Wirklichkeit aus, und
zwar nach nur 19 Monaten, nachdem SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regierung gebildet haben. Nach
meiner Meinung sind diese Daten kein Grund zum Jammern. Für uns ist diese Entwicklung eine Herausforderung, den eingeschlagenen Kurs konsequent und Schritt
für Schritt fortzusetzen.
({2})
Natürlich kann man angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen keine Entwarnung geben. Das werde ich auch
nicht tun. Auch wir betrachten die Entwicklung des Arbeitsmarktes gerade in den fünf neuen Ländern mit
Sorge. Für uns heißt das, dass wir unsere Anstrengungen
in den ostdeutschen Bundesländern noch viel mehr verstärken müssen. Aber es ist einfach falsch, wenn Sie, Herr
Merz, behaupten, der wirtschaftliche Aufschwung gehe
am Osten vorbei. Sie wissen: Auch im Osten werden neue
Arbeitsplätze geschaffen. Nur, diese Entwicklung wird
noch immer von den notwendigen Anpassungen im öffentlichen Dienst und besonders von der Situation in der
Baubranche überlagert, sodass der dortige Arbeitsmarkt
insgesamt stagniert.
Herr Merz, es ist auch sachlich falsch, wenn Sie hier
mit einer Vielzahl von Rechenkunststücken beweisen
wollen, der Rückgang der Arbeitslosigkeit sei rein demographisch bedingt.
Erstens. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland
steigt, und zwar in den letzten Monaten kräftig und stetig. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartet für dieses Jahr
eine bundesweite Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen
um durchschnittlich 160 000. Sie können uns das vorrechnen, solange Sie wollen; denn fest steht: Das Entstehen zusätzlicher Arbeitsplätze hat wirklich nichts,
aber auch gar nichts mit der demographischen Entwicklung in diesem Land zu tun.
({3})
Zweitens. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, obwohl
aktuell durch die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik im
Endeffekt deutlich weniger Menschen im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Das zeigt: Der erste, nicht
staatlich gestützte Arbeitsmarkt, auf den es schließlich ankommt, boomt. Auch das hat mit der demographischen
Entwicklung so viel - oder besser gesagt: so wenig - zu
tun wie der Abgeordnete Kohl mit der Aufklärung des
Spendenskandals.
({4})
Drittens. Herr Merz - auch das Argument möchte ich
hier anführen -, nehmen Sie zur Kenntnis: Im Frühjahr
2000 sind trotz der demographischen Entwicklung kaum
weniger Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt als
vor einem Jahr, unter anderem deshalb, weil endlich auch
mehr Frauen erwerbstätig sind oder sein wollen. Auch
deshalb stimmt Ihre Rechnung hinten und vorne nicht.
Ich finde es lächerlich, wenn Sie den Menschen weismachen wollen, die hervorragenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten gebe es nicht wegen, sondern trotz der
Politik der Koalition. Sie, Herr Merz, sollten wirklich bei
der Wahrheit bleiben, genauso wie Ihr Vorredner,
Herr Möllemann. Die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung unter
Helmut Kohl hat zwar jahrelang darauf hingewiesen, die
Steuerlast, die Abgabenlast und die Lohnnebenkosten
seien zu hoch. Sie wollten die Arbeitslosigkeit senken.
Aber was haben Sie tatsächlich erreicht? Sie haben das
glatte Gegenteil von dem erreicht, was Sie wollten: Die
Abgabenlast wurde nicht gesenkt; vielmehr ist sie permanent gestiegen. Noch im April 1998 haben Sie zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöht, um den Rentenbeitrag
bei 20,3 Prozent zu stabilisieren. Sie haben sie nicht erhöht, um ihn zu senken, wie wir das jetzt aufgrund der
Mehreinnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerreform tun. Daran war bei Ihnen überhaupt nicht zu denken.
Außerdem haben Sie 1998 eine Rekordarbeitslosigkeit
von 4,3 Millionen und einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM hinterlassen. Das ist Ihre Bilanz.
Verschonen Sie uns deshalb mit Ihren Rezepten. Sie
heilen nicht und sie sind völlig kontraproduktiv. Wir haben seit dem Regierungsantritt Schritt für Schritt soziale
und ökologische Reformen entschlossen umgesetzt. Unsere Politik ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung und für den Abbau der Arbeitslosigkeit verantwortlich.
({5})
Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Sie haben mit Ihren
unsozialen Entscheidungen und mit Ihrer Kampfansage
gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damals
das erste Bündnis für Arbeit mutwillig zerstört. Wir dagegen haben die Voraussetzungen für einen neuen Anlauf
geschaffen. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch.
Als ersten Schritt haben wir das äußerst erfolgreiche JUMP-Programm aufgelegt, das bis heute für
250 000 junge Menschen Perspektiven bei Ausbildung
und Beschäftigung geschaffen hat. Das Resultat ist, dass
die Jugendarbeitslosigkeit um rund 10 Prozent zurückgegangen ist. Das ist erst einmal ein schöner Erfolg des
Bündnisses für Arbeit.
Zweitens. In diesem Frühjahr kommt ein wesentlicher
Erfolg hinzu: Die diesjährigen Tarifabschlüsse stärken
die wirtschaftliche Entwicklung massiv und sie stellen zusätzliche Beschäftigung in den Mittelpunkt. Auch das hat
sehr viel mit der Politik dieser Regierung zu tun; denn
Voraussetzungen waren zum Beispiel die ersten Schritte
der Steuerreform im vergangenen Jahr, die deutliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen und die
massive Entlastung gerade von Familien mit Kindern 600 DM mehr Kindergeld pro Kind und pro Jahr; das bedeutet für Familien mit zwei Kindern und einem Durchschnittsjahreseinkommen von 60 000 DM 3 000 DM mehr
in der Haushaltskasse. Hinzu kommt die Senkung der
Rentenbeiträge von 20,3 Prozent um einen Prozentpunkt
auf 19,3 Prozent durch die Einnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerreform.
Das heißt insgesamt, dass die Menschen nach jahrelangen Nettolohnverlusten unter der alten Regierung
heute netto endlich mehr in der Tasche haben. Dafür hat
diese Bundesregierung nicht nur gesorgt, weil es sozial
geboten war, sondern auch, um die Voraussetzungen für
die beschäftigungsorientierten Tarifabschlüsse in diesem
Jahr zu schaffen.
({6})
Genau das ist einer der entscheidenden Unterschiede
zu Ihren Steuervorschlägen, meine Damen und Herren
von der CDU; denn Sie wollten weder damals noch wollen Sie heute die Bezieher kleiner Einkommen entlasten,
wie wir es gemacht haben, sondern vor allen Dingen die
Besserverdienenden. Das finden die Menschen nicht gerecht und sie haben verdammt Recht damit.
Mit der großen Steuerreform, die wir in der nächsten
Woche in diesem Hause verabschieden werden, werden
wir diesen Kurs fortsetzen: schrittweise Erhöhung des
steuerfreien Existenzminimums bis 2005 auf 15 000 DM,
Senkung der Steuersätze, oben wie unten, auf 45 Prozent
bzw. 15 Prozent. Das entspricht in weiten Teilen auch dem
Steuerkonzept meiner Fraktion - das sage ich durchaus
mit Stolz -, das wir in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause vorgelegt haben. Dieses Konzept setzt diese
Regierung jetzt um.
({7})
Wir entlasten damit bis zum Ende des Jahres 2005 eine
Durchschnittsfamilie um rund 4 000 DM jährlich und wir
entlasten auch die Unternehmen, gerade die kleinen und
mittelständischen. Dazu möchte ich an dieser Stelle Folgendes sagen: Sie reisen durch das Land und erzählen, wir
würden den Mittelstand belasten. - Das ist einfach nicht
wahr; das ist schlichtweg vordergründiges Geschrei.
({8})
Im Gegensatz zu Ihnen ist der Mittelstand bei uns in
guten Händen.
({9})
- Moment. - Für die heutige Schieflage sind Sie verantwortlich. Sie haben dafür gesorgt, dass die Konzerne immer weniger Steuerlast getragen haben. Das ging auf die
Knochen der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wir haben das geändert. Allein mit dem ersten
Schritt im vergangenen Jahr haben wir für den Mittelstand
eine Entlastung von 6 Milliarden DM herbeigeführt. Wir
ziehen zusätzlich die eigentlich erst für 2002 geplante
nächste Stufe unserer Steuerreform um ein Jahr vor. Zusammen mit unserer Unternehmensteuerreform wird das
bis 2005 eine zusätzliche Entlastung für den Mittelstand
von jährlich rund 14 Milliarden DM schaffen. Das ist ein
Erfolg. Diese Entlastung des Mittelstands ist genau das
Gegenteil von dem, was Sie jahrelang gemacht haben.
({10})
Deshalb kann ich Sie nur auffordern: Wenn Sie schon
nicht auf uns hören, dann hören Sie wenigstens auf die
warnenden Worte aus der Wirtschaft! Geben Sie Ihre Boykottpläne im Bundesrat auf! Geben Sie den Weg frei; denn
die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist sozial gerecht und sie ist wirtschaftlich erfolgreich. Wenn
Sie diese Steuerreform blockieren, sind Sie die Bremser
gegen den weiteren Aufschwung, dann machen Sie Politik gegen die Arbeitslosen.
({11})
Die zweite, ganz wesentliche Ursache für die hervorragende wirtschaftliche Entwicklung ist unsere Politik einer konsequenten Haushaltskonsolidierung. Wir haben
mit dem Zukunftsprogramm 2000 endlich Schluss gemacht mit dem Wirtschaften auf Kosten zukünftiger
Generationen. Das ist eine Politik, die meine Fraktion
schon in der vergangenen Legislaturperiode immer
wieder gefordert hat. Wie oft hat Ihnen mein Kollege
Oswald Metzger Ihre unseriöse Finanzpolitik um die Ohren gehauen, wie oft hat er Sie aufgefordert, mit Ihren Taschenspielertricks oder mit der Goldfingeraktion - ich erinnere mich gut - endlich aufzuhören, leider ohne Erfolg.
1,5 Billionen DM Schulden hat Ihre Regierung den
Menschen in unserem Land hinterlassen. Das ist eine
15 mit elf Nullen. Das ist, glaube ich, eine Summe, die
sich kaum einer im Lande vorstellen kann. Das bedeutet
82 Milliarden DM Zinsen Jahr für Jahr, das heißt
1 000 DM pro Person pro Jahr, vom Kind bis zum Greis.
Das heißt, von jeder Steuermark, die die Menschen zahlen, geben wir allein 25 Pfennig für die Finanzierung der
Zinsen aus. Da ist noch kein Pfennig von der Schuld getilgt.
Ich weiß, Herr Merz, dass Sie das nicht hören wollen,
aber die Verantwortlichen in der CDU haben eben offensichtlich nicht nur schwarze Koffer über die Grenzen geschmuggelt, um schwarzes Geld in schwarzen Parteikassen zu deponieren, sie haben auch jedes Jahr immer neue
schwarze Löcher in Theo Waigels Haushalt produziert.
Deshalb haben wir Ihre Steuerexperimente damals abgelehnt, weil sie noch größere Haushaltslöcher gerissen hätten, weil Sie damals wie heute Steuerpolitik auf Pump machen wollten. Das haben wir beendet und diesen Kurs
werden wir auch fortsetzen.
({12})
Wir stehen für Generationengerechtigkeit. Wir haben
uns immer für eine nachhaltige Politik eingesetzt, gerade
auch meine Fraktion, und das eben nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in der Haushalts- und Finanzpolitik. Deshalb werden wir diesen Haushalt Schritt für
Schritt konsolidieren und die Verschuldung abbauen.
Das ist nicht zuletzt - das will ich auch noch einmal sagen - eine Frage sozialer Gerechtigkeit; denn horrende
Zinszahlungen bedeuten im Grunde systematische Umverteilung von unten nach oben.
Deshalb wundert es mich auch nicht, Herr Möllemann,
wenn Sie jetzt vorschlagen - heute haben Sie es nicht gemacht, aber wir sind uns ja des Öfteren in NordrheinWestfalen begegnet -,
({13})
das Geld, das wir möglicherweise aus der Versteigerung
der neuen Handy-Frequenzen bekommen, sofort wieder
zu verfrühstücken. Es wundert mich nicht, wie nachlässig
Sie mit dieser Frage umgehen, wie unverschämt fahrlässig Sie Geld ausgeben, das überhaupt noch nicht da ist.
({14})
Auf diese Tour haben Sie schließlich den Schuldenberg, den wir heute haben - 82 Milliarden DM Zinsen pro
Jahr -, mit verursacht; für ihn ist maßgeblich auch die
F.D.P. mitverantwortlich. Und Sie wollen jetzt weiter das
Geld verfrühstücken, statt es zum Sparen zu verwenden.
({15})
Ich sage Ihnen für meine Fraktion sehr deutlich: Wir
sind der Meinung, zusätzliche Einnahmen sollen und
müssen zur Tilgung der Schulden verwendet werden diesbezüglich hat der Finanzminister in uns verlässliche
Bündnispartner -, denn nur so werden wir Handlungsspielräume für wichtige Investitionen in Bildung, Ausbildung, Forschung und Wissenschaft und für die soziale und
ökologische Erneuerung zurückgewinnen.
({16})
Die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute haben diese Politik sehr positiv kommentiert. Sie begrüßen
gerade an dieser Stelle nachdrücklich den Kurs der rotgrünen Bundesregierung. Sämtliche Fachleute haben ihre
Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung deutlich
nach oben korrigiert. Das Bruttoinlandsprodukt wird in
diesem und im nächsten Jahr um 2,8 Prozent steigen, doppelt so stark wie noch im vergangenen Jahr. Die Arbeitslosigkeit wird weiter abgebaut und sinkt im kommenden
Jahr auf durchschnittlich 3,5 Millionen. Das sind rund
20 Prozent weniger als im letzten Jahr der Kohl-Regierung.
Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, da brauchen wir uns wirklich nicht zu verstecken, schon gar nicht
vor denen, die das letzte Regierungsschiff so grandios
versenkt haben. Deshalb, meine Damen und Herren,
freuen wir uns zunächst einmal über diesen Erfolg, der
auch etwas mit unserer Politik zu tun hat.
({17})
Ehe Sie sich hier weiter als Schlechtmacher und Miesmacher betätigen,
({18})
möchte ich Ihnen einen Kommentar von Roger de Weck
aus der „Zeit“ der vorletzten Woche vorhalten. Er kommentiert Ihre Politik folgendermaßen:
Die Schlechtmacher ... hassen es, wenn wir uns
freuen. Jedes Mittel ist ihnen recht, zum Beispiel der
schiefe Vergleich. Lieber reden sie von der Stärke des
Dollar als vom gewaltigen, emporschnellenden,
hoch gefährlichen Defizit in der Zahlungsbilanz der
Vereinigten Staaten. Viel lieber heben sie die EuroSchwäche hervor als die europäischen und deutschen
Erfolge im Export, um die Amerika froh wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Mann hat
Recht.
({19})
Die relative Schwäche des Euro ist nämlich keine Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung, weder in Europa noch in Deutschland.
({20})
Sie stärkt derzeit die Exportkraft des Euro-Raumes. Davon profitiert gerade die deutsche Wirtschaft ganz besonders.
Es gibt auch keine Besorgnis erregenden Inflationsraten. Und im Vergleich zu anderen europäischen Währungen ist der Euro stabil. Wenn man sich die Wirtschaftsdaten des gesamten Euro-Raumes ansieht, kann man mit ein
wenig Selbstbewusstsein nur zu dem Schluss kommen:
Der Euro ist derzeit unterbewertet. Er wird auch gegenKerstin Müller
über dem Dollar wieder stärker werden, und zwar dann,
wenn weltweit noch deutlicher wird, welche wirtschaftliche Kraft und auch welches Innovationspotenzial die
europäischen Gesellschaften in den kommenden Jahren
entwickeln werden.
Die ökologische Erneuerung unserer Gesellschaft ist
bei dieser Frage von entscheidender Bedeutung. Von ihrer
Umsetzung hängt der Schutz unserer Lebensgrundlagen
entscheidend ab, aber verbunden damit ist eben auch die
Entwicklung von neuen zukunftsfähigen Branchen und
Arbeitsplätzen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch
daran noch einmal erinnern: Bei der Entwicklung moderner, erneuerbarer Energien lag Deutschland vor anderthalb Jahren, vor der Übernahme der Regierung durch
uns, noch unter „ferner liefen“. Der letzte Hersteller von
Solaranlagen war gerade in die USA ausgewandert, weil
er hier keine Entwicklungspotenziale gesehen hat. Jetzt
sieht das anders aus. Das 100 000-Dächer-Programm der
rot-grünen Regierung ist ein absoluter Renner.
({21})
Die rot-grüne Regierung hat durch ihre Maßnahmen das Markteinführungsprogramm, das es noch zusätzlich
gibt, und das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, das seit dem 1. April dieses Jahres in Kraft
ist - nach nur 18 Monaten in Deutschland mit die weltweit
besten Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarer
Energien erreicht. Das ist ein wirklicher Beitrag zum
Klimaschutz. Dadurch werden auch neue zukunftsfähige
Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen.
({22})
Schon heute arbeiten in Deutschland fast genauso viele
Menschen im Bereich der erneuerbaren Energien wie in
der Atomindustrie. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
weist den Weg in die Zukunft und nicht der von der
Bayerischen Staatskanzlei angekündigte Veitstanz gegen
den Atomausstieg. Auf diese Weise wird kein einziger zukunftsfähiger Arbeitsplatz geschaffen werden.
({23})
Innovation und Zukunftsfähigkeit sind für Sie, meine
Damen und Herren von der CDU, Fremdwörter. Das haben Sie meines Erachtens gerade in den letzten Wochen
mit der unsäglichen Diskussion um die Green Card noch
einmal bewiesen. Diese dumpfe „Kinder statt Inder“Kampagne Ihres Spitzenkandidaten Rüttgers ist das Gegenteil von zukunftsweisender Modernisierung. Diese ist
einfach nur peinlich und verantwortungslos, weil Sie damit Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer machen. Wir jedenfalls werden so etwas nicht mitmachen. Ich glaube, dass auch die
Menschen diese Kampagne am 14. Mai zu „würdigen“
wissen.
({24})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft boomt, die
Arbeitslosigkeit geht kräftig zurück.
({25})
Die Aussichten sind ausgezeichnet. Wie titelte der „Stern“
in der vergangenen Woche? „Jetzt kommen die fetten
Jahre“.
({26})
Ich glaube aber, dass wir jetzt nicht in Selbstzufriedenheit versinken dürfen, sondern wir müssen diese Chance
für weitere dringend notwendige soziale und ökologische
Reformen nutzen. Gerade eine echte Reform unserer sozialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen
Altersvorsorge, wird für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung entscheidend sein. Wir wollen und müssen die
gesetzliche Rente dauerhaft sichern. Wir brauchen langfristig stabile Beiträge. Nur so werden wir das Vertrauen
besonders der jungen Generation in die gesetzliche Rentenversicherung zurückgewinnen. Gerade deshalb, meine
Damen und Herren von der Opposition, fordere ich Sie
auf, wenn am Sonntag die Wahl in Nordrhein-Westfalen
gelaufen ist, endlich Ihre parteipolitischen Interessen
zurückzustellen. Wir müssen jetzt die Chance des Rentengipfels nutzen, bei dem alle Fraktionen an einem Tisch
sitzen, für eine durchgreifende Strukturreform, die endlich wieder Generationengerechtigkeit schafft. Das sind
wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Dafür wird
sich meine Fraktion sehr stark einsetzen.
({27})
Die rot-grüne Koalition hat eine sehr gute Arbeit geleistet. Wir haben begonnen, unsere Gesellschaft sozial
und ökologisch zu erneuern. Die Erfolge sind offensichtlich. Wir werden diesen Kurs konsequent weiterverfolgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
Sie können diesen Weg mitgehen oder Sie können sich
weiterhin als Miesmacher betätigen. Ich rate Ihnen aber
eines: Versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten! Denn das
würden Ihnen die Menschen zu Recht sehr übel nehmen.
Danke schön.
({28})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Möllemann, ich habe im
Handbuch nachgeschlagen. Es stimmt wirklich: Sie sind
seit 28 Jahren im Bundestag. Auf der einen Seite bewundere ich das. Auf der anderen Seite frage ich mich aber, ob
man nach 28 Jahren ohne inneren Schaden aus dem Bundestag herauskommt.
({0})
Ich will Ihnen noch sagen: Sollten Sie wirklich ausscheiden - aus welchen Gründen auch immer -, wünsche
ich Ihnen persönlich alles Gute, politisch natürlich nicht.
Aber ich wünsche Ihnen immerhin Einsichten. Das ist ja
auch etwas. Ansonsten warten wir das Ergebnis getrost
ab.
({1})
Ich habe mich sehr gewundert, als Sie gesagt haben, Sie
würden sich hier zum 14. Mai nicht äußern. Das haben Sie
außer in Ihrer gesamten Rede überhaupt nicht getan.
({2})
Da sich alle anderen zum 14. Mai geäußert haben, will
ich zur Klarheit eines sagen: Wenn es dem Kollegen
Struck vor allem darum geht, dass sich im Bundesrat
nichts verändert, obwohl er doch sonst immer für Veränderungen ist, dann möchte ich aber, dass sich wenigstens
eines verändert: Die Landesregierung von NRW soll endlich von links und sozial unter Druck geraten. Das klappt
am besten, wenn es eine PDS-Fraktion im Landtag gibt.
({3})
- Die Chance besteht ja. Sie sollten nicht so lachen. Vielleicht wundern Sie sich noch. Wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten. - Damit habe ich dieses Thema abgearbeitet.
Mir ist aufgefallen, wie die Vokabeln bestehen bleiben.
Von der alten Bundesregierung kannte ich das Miesmacher-Vokabular gegen SPD, Grüne und andere hier im
Hause genauso, wie es jetzt gebraucht wird.
Ich wundere mich noch über einen anderen Punkt:
Wenn es einen Konjunkturaufschwung gibt, habe ich
noch keine Bundesregierung erlebt, die nicht sagt, dass
diese Konjunktur das Ergebnis ihrer hervorragenden Rahmenpolitik der letzten Monate und Jahre sei. Wenn es eine
Rezession gibt, habe ich ebenfalls noch keine Bundesregierung erlebt, die dann nicht erklärt, dass dies mit objektiven ökonomischen Prozessen zu tun habe, dass im Übrigen die tieferen Ursachen in Asien und in den USA und
nicht in Bonn oder Berlin lägen. Wenn man solche Erfolge
für sich in Anspruch nimmt, muss man auch bei der entgegengesetzten Entwicklung damit leben, dass die Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass man für die
schlechte Entwicklung genauso verantwortlich ist. Deshalb wäre es schon richtiger, man würde differenzieren.
({4})
Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion sagt, der Aufschwung sei nicht hausgemacht. In der „taz“ vom
28. April sagt die alternative Wirtschaftswissenschaftlerin
Beate Willms, dass weder am Aufschwung noch am möglichen Abbau der Arbeitslosigkeit Rot-Grün bisher einen
nennenswerten Anteil hat. Sie begründet diese Meinung.
(
Wer ist Frau Willms?)
- Das werde ich Ihnen erklären. Die „taz“ ist mehr eine
Zeitung der Grünen und weniger eine Zeitung von uns.
Zumindest die Grünen sollten auf diese Meinung hören.
Es gibt drei Faktoren. Der erste Faktor - den kann man
nicht wegdiskutieren -: Wir haben es tatsächlich mit einer
demographischen Verschiebung zu tun. Das heißt, geburtenstarke Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt, gehen in
Rente und geburtenschwache Jahrgänge kommen auf den
Arbeitsmarkt. Das hat zunächst einmal auf die Statistik
positive Auswirkungen.
Der zweite Faktor - es ist wahr, was Sie sagen -: Die
Konjunktur ist angekurbelt. Das hängt auch mit der
Schwäche des Euro zusammen, die eine positive Seite
hat. Das heißt, Exporte werden erleichtert, was der
Exportwirtschaft hilft. Ich finde es albern, diese Tatsache
zu leugnen.
Ich sage aber gleichzeitig, dass diese Entwicklung
mehrere Negativseiten hat. Die erste Negativseite ist, dass
die Unternehmen, die auf Importe aus dem Dollar-Bereich angewiesen sind, jetzt sehr viel mehr bezahlen müssen. In diesem Bereich sind Arbeitsplätze gefährdet.
Zweitens hat es psychologisch eine negative Auswirkung, weil nämlich das Vertrauen in den Euro abnimmt
bei den Bürgerinnen und Bürgern, auch im Ausland
außerhalb der Euro-Zone.
Nun sagen Sie ja selber: Der Euro wird auch im Außenverhältnis wieder an Stärke gewinnen; Kerstin Müller sagt
das auch. Bloß, dann müssen Sie dazusagen: Was wird
denn dann aus der Exportwirtschaft? Das, was Sie jetzt
positiv bewertet haben, passiert doch dann negativ. Dann
werden nämlich die Exporte wieder abnehmen.
({0})
Aber das Dramatischste - worauf Sie leider überhaupt
nicht eingegangen sind, Herr Bundeskanzler - ist der
Osten. Im Osten hat ja die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht
abgenommen, sie hat zugenommen. Sie hat auch in diesem Monat wieder um 8 000 zugenommen. Das heißt, die
ganze Wirkung bleibt derzeit auf die alten Bundesländer
beschränkt, es gibt keine Wirkung auf die neuen. Ich sehe
überhaupt kein Konzept der Bundesregierung, wie man
dort die Wirtschaft ankurbeln will.
Wir haben die Investitionspauschale für Kommunen
vorgeschlagen, damit die wieder in der Lage sind, eigene
Wirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen.
({1})
Dazu gehört aber auch die Stärkung der Kaufkraft in Ostdeutschland. Deshalb bitte ich Sie noch einmal: Legen Sie
einen Fahrplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter
auch im öffentlichen Dienst vor, wenigstens in welchen
Schritten und in welchen Fristen das erfolgen soll. Das ist
im zehnten Jahr der deutschen Einheit politisch notwendig, das ist moralisch notwendig,
({2})
aber es ist auch ökonomisch sinnvoll. Denn ohne Ankurbelung der Kaufkraft werden wir die Wirtschaft in den
neuen Bundesländern nicht ankurbeln. Da verstehe ich
Ihren Bundesinnenminister überhaupt nicht, der es nun
auf ein Schiedsverfahren und vielleicht sogar auf Streiks
ankommen lassen will, anstatt hier so schnell wie möglich
eine Verständigung herbeizuführen für den gesamten öffentlichen Dienst und speziell auch für den in den neuen
Bundesländern.
({3})
Lassen Sie mich noch etwas sagen zu der Frage, ob
denn das alles genügt. Sie selbst haben betont, entscheidend sei - und da sind Sie auf die Kaufkraft eingegangen -, dass die Einkommen netto im Vergleich zu brutto
wieder zugenommen hätten, gerade bei Löhnen und
Gehältern. Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ob das so
stimmt. Wenn aber diese Kaufkraftthese neben der Angebotsthese im ausgewogenen Verhältnis zueinander stimmig gemacht werden soll, dann müssen wir schon ein paar
Dinge ändern.
Es ist doch real so, dass durch den Ausfall der Nettolohnanpassung bei Renten, bei Arbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und damit indirekt auch bei Sozialhilfe die
Kaufkraft geschwächt wurde. Und Sie kriegen es nicht
weg. Diese Reformen gingen zulasten der sozial
Schwächsten in unserer Gesellschaft. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Unter der Kohl-Regierung
gab es immerhin jedes Jahr die Nettolohnanpassung,
wenn auch bei schwachen Nettolohnsteigerungen. Erstmalig unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung fällt sie jetzt zwei Jahre lang aus. Das trifft die
völlig Falschen.
Die haben auch nichts davon, dass Sie den Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer senken; denn die
zahlen gar keine Einkommensteuer. Außerdem müssen
sie die Ökosteuer bezahlen. Das heißt, sie machen netto
richtig Miese. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die etwas davon haben, dass der Eingangssteuersatz gesenkt wird, verlieren das fast alles wieder durch die Ökosteuer, die eben im Unterschied zur Meinung von Frau
Müller nicht einmal ökologisch ist, aber ganz bestimmt
nicht sozial.
({4})
Ich will mich damit heute auch gar nicht länger auseinander setzen. Fakt ist aber, Herr Bundeskanzler: Ich habe
alles bewundert, was Sie gesagt haben, was dagegen
spricht, den Spitzensteuersatz zu senken. Das Einzige,
was ich nicht verstehe, ist, weshalb Sie es dann machen
um 8 Prozent bis zum Jahre 2005. Wir, die Besserverdienenden, sind doch ausreichend mit begünstigt durch
die Senkung des Eingangssteuersatzes. Wir müssen doch
nicht noch einmal oben bei der Steuer nachgelassen bekommen. Dadurch sind wir nämlich letztlich die Einzigen, die netto richtig Plus machen. Es tut mir Leid, aber
das ist, wenn auch abgeschwächt, die Fortsetzung der
Umverteilung von unten nach oben.
({5})
Man hatte sich erhofft, dass diese Politik ab 1998 gestoppt
und in ihr Gegenteil verkehrt wird.
8 Prozent sind eine ganze Menge. Nun weiß ich natürlich, dass es viele gibt, die noch viel mehr wollen. Aber
diese 8 Prozent sind schon zu viel. Und wenn Sie sagen,
über 70 Prozent der Mittelständler bezahlen überhaupt
keinen Spitzensteuersatz, dann hätte es noch weniger
Grund gegeben, den Spitzensteuersatz zu senken. Hätten
Sie uns den doch einfach weiter zahlen lassen, kann ich
nur sagen. Leute, die noch mehr verdienen als wir, und
uns hätte es nicht hart getroffen, die soziale Schieflage
wäre nicht gewesen und der Staat hätte auch mehr Einnahmen für kulturellen, sozialen und ökologischen Ausgleich. Das lässt sich ja noch ändern. Wir hoffen sehr, dass
es passiert.
Ich will noch etwas sagen: Wenn wir denn Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir tatsächlich das
Spekulationskapital dämmen und es muss viel mehr investiert werden. Da passiert auch durch Ihre Steuerreform
letztlich nichts. Schon deshalb nicht, weil Sie bei einbehaltenen Gewinnen nicht danach unterscheiden, ob sie investiv eingesetzt werden oder ob sie für Spekulationszwecke genutzt werden.
({6})
In beiden Fällen werden sie gleichermaßen begünstigt
und damit kann die Wirkung diesbezüglich gar nicht
eintreten. Wir sind in einem internationalen Spielkasino.
Hier ist jede Form von Deregulierung falsch. Da ist schon
alles dereguliert. Es wird höchste Zeit, dass wir einmal
etwas regulieren, damit endlich wieder aktiv investiert
wird.
({7})
Dann lassen Sie mich noch zu einer Sache etwas sagen,
die ich überhaupt nicht verstanden habe. Im letzten Jahr
hat diese Bundesregierung gesagt, Gewerbetreibende
und Handwerker seien dadurch privilegiert, dass sie den
Verkaufserlös nicht voll versteuern müssten. Wenn sie
jetzt verkaufen, müssen sie die volle Steuer bezahlen. In
diesem Jahr sagen Sie, beim Verkauf einer Aktiengesellschaft - sprich: einer Bank, einer Versicherung, eines
Konzerns - wollen Sie beim Verkaufserlös auf jede Steuer
verzichten. Es ist doch völlig absurd, das Handwerk und
das Gewerbe mit der Steuer zu treffen und die Großen zu
schonen. Es geht auch nicht um Gleichstellung, Herr
Merz, sondern wir brauchen endlich einmal eine Situation, in der die Konzerne, Banken und Versicherungen
entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
ihren Beitrag zur Finanzierung des Allgemeinwohls in der
Bundesrepublik Deutschland leisten und nicht nur die
Handwerker und die Gewerbetreibenden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer.
({8})
Nun weiß ich: Auch der Bäcker kann sich entscheiden,
sich wie eine Aktiengesellschaft behandeln zu lassen. Aber
auch damit schicken Sie ihn ins Spielkasino, weil er nämlich nicht weiß, welche Auswirkungen das nach zwei oder
drei Jahren haben wird, und die Entscheidung soll ja endgültig sein. Wir wollen aber keine Spieler, sondern wir
wollen Handwerker und Gewerbetreibende, die Arbeitsplätze schaffen und die ausbilden. Deshalb brauchen wir
Steuersicherheit und nicht solche Vabanquespiele. Das
sage ich Ihnen ganz deutlich.
({9})
Die Entlastung der Aktiengesellschaften bei den Verkaufserlösen ist ein völlig falscher Trend, zumal von den
Großen gar keine neuen Arbeitsplätze mehr geschaffen
werden. Seit Jahren bauen sie nur noch Arbeitsplätze ab.
Stellen Sie sich einmal vor, die Fusion von Deutscher
Bank und Dresdner Bank hätte stattgefunden, Herr Bundesfinanzminister! 16 000 Arbeitsplätze sollten abgebaut
werden und die Steuer auf den Verkaufserlös wollten Sie
ihnen schenken. Das heißt, die Allgemeinheit hätte die
Arbeitslosigkeit finanziert, aber nicht die betroffenen Unternehmen, die dadurch nur Gewinne erzielt hätten.
({10})
Übrigens, Kollege Struck ist immer so stolz darauf, dass
er vom BDI-Chef Henkel usw. gelobt wird. Ich finde, das
sollte Sie nachdenklich machen; das Lob wird zu dick.
({11})
Früher waren Sie stolz auf das Lob von Gewerkschaften,
heute sind Sie eher stolz auf das Lob vom BDI und von
Henkel. Da hat sich in der deutschen Sozialdemokratie
einiges verschoben.
({12})
Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Dabei kommen wir um einige Fragen nicht umhin. Lassen Sie uns
doch Reformen machen, die den Abbau von Arbeitslosigkeit weniger von Zufällen und von internationalen Marktentwicklungen abhängig machen. Wir müssen ihn vielmehr
strukturell sichern.
Die erste entscheidende Frage ist: Was wird aus der
Arbeitszeit? Es ist doch so: Immer weniger Menschen
produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr und erbringen immer mehr Dienstleistungen. Das könnte zum
Vorteil für uns alle sein. Stattdessen haben wir die Situation, dass Millionen draußen stehen und tote Zeit haben,
während bei den anderen, die in Arbeit sind, der Stress, die
Überstunden und der Leistungsdruck wachsen. Lassen Sie
uns ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz machen, wenigstens so eines wie in Frankreich, damit wir die Arbeitslosigkeit endlich abbauen.
({13})
Zweitens bin ich davon überzeugt: Wir brauchen eine
neue Struktur bei den Lohnnebenkosten. Wir schlagen
seit Jahren eine Reform vor, nach der die Unternehmen
nicht mehr die zweite Hälfte, die 50 Prozent bezahlen sollen wie heute, sondern nach ihrer Wertschöpfung eine
Abgabe in die gesetzlichen Sicherungssysteme zahlen
sollen, jedes Vierteljahr, höchst flexibel. Steigt sie, mehr,
sinkt sie, weniger. Nie wieder wäre ein Unternehmen mit
Lohnnebenkosten überfordert, weil es immer von der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig wäre. Dadurch könnten die Unternehmen auch leichter einstellen,
weil sie wüssten, dass die Lohnnebenkosten keine starre
Größe sind, sondern sich entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entwickeln.
Auf der anderen Seite ist klar: Wenn ein Konzern 1 000
Leute entlässt und hinterher immer noch die gleiche Wertschöpfung hat, müsste er nach unserem Vorschlag immer
noch die gleiche Abgabe in die Sicherungssysteme zahlen. Na und? Er hat ja auch einen höheren Gewinn, weil
er tausendmal Lohn spart. Das überforderte doch den
Konzern gar nicht. Das würde dazu führen, dass Entlassungen nicht mehr belohnt und Einstellungen nicht mehr
bestraft würden. Das wäre eine strukturelle Reform. Die
Lohnnebenkosten um einen Prozentpunkt zu erhöhen
oder zu senken ist keine strukturelle Reform.
({14})
Lassen Sie uns auch ernsthaft über den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor nachdenken. Wenn jetzt
die Zahl der Wehrpflichtigen und damit der Zivildienstleistenden gesenkt wird, bleiben viele Aufgaben unerledigt. Das zu ändern wird nur über einen solchen Sektor
funktionieren. Das wäre erstens gut für die Gesellschaft
und zweitens eine Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit.
Außerdem müssen wir - das ist wahr - deutlich in Bildung investieren. Das gilt für alle Bundesländer, also
auch für NRW, über das heute schon so viel gesprochen
worden ist. Ich finde, dass die Einsparungen auf diesem
Gebiet nicht hinnehmbar sind. Sie verletzten die Chancengleichheit der Kinder. Wer heute benachteiligt geboren
wird, geht dann auch benachteiligt durchs ganze Leben.
Solche Kinder müssen doch wenigstens die Chance haben, die Benachteiligung wieder auszugleichen. Diese
Chance haben sie aber nur bei gleichem Zugang zu Kultur und Bildung. Dieser wird ihnen immer stärker verwehrt. Die Kinder werden zu früh getrennt, die Kindergärten werden mehr als Aufbewahrungsanstalten denn als
Vorschulbildungseinrichtung verstanden. Nur in einem
Bundesland wird das anders geregelt, nämlich in Bayern.
Die Praxis dort unterscheidet sich trotzdem nicht von der
in anderen Bundesländern. Aber immerhin, in dem entsprechenden Gesetz in Bayern wird dies anders geregelt.
Damit hängt auch zusammen, was alles man heute für
die Kinder im Rahmen der Schulausbildung hinzukaufen
muss. Das geht weiter: Ich nenne zum Beispiel die Diskussion über Studiengebühren. Das alles sind Diskussionen, bei denen es um eine soziale Ausgrenzung geht.
Natürlich gehört auch die Frage der Effektivität eines Studiums dazu. Wichtig sind auch die Fragen: Was wird in
den Bildungseinrichtungen angeboten? Was haben die
Angebote mit der neuen Zeit zu tun? Das alles sind Fragen, die uns in diesem Zusammenhang bewegen.
Wir tauschen hier zwar Meinungen aus, streiten uns
und werfen uns gegenseitig alles Mögliche vor, führen
aber keine wirkliche Bildungsreform durch. Vielmehr
müssen wir Experten aus anderen Ländern holen, was
eine Menge über die Bildungspolitik - übrigens auch über
die Politik des Zukunftsministers der letzten Regierung;
um das einmal ganz deutlich zu sagen - aussagt.
Zu dem Spruch „Kinder statt Inder“ ist zu sagen: Ein
neues Jahrhundert bzw. ein neues Jahrtausend beginnt.
Wir sollten einfach akzeptieren, dass es bestimmte Dinge
gibt, die Ausläufer des Mittelalters sind. Dazu gehören
alle Formen des Rassismus, alle Formen von Ausländerfeindlichkeit, alle Formen der Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechts oder wegen ihrer Staatsbürgerschaft bzw. Nationalität und alle Formen der Diskriminierung von Menschen wegen der Art, wie sie
lieben. Lassen Sie uns das doch bitte nicht ins nächste
Jahrhundert bzw. ins nächste Jahrtausend mitnehmen!
Damit muss jetzt Schluss sein. Das wäre dann ein zivilisatorischer Fortschritt.
({15})
Ich plädiere hier für Reformen, zu denen ich sagen
kann: Ja, sie stabilisieren den Abbau der Arbeitslosigkeit,
sie bewirken ihn nicht mehr zufällig. Wenn wir diese Reformen durchführten, müssten Sie, Herr Bundeskanzler,
nicht mehr zittern, welche Zahlen die Bundesanstalt für
Arbeit nennt, und dann können Sie sich plötzlich auf die
Rahmenbedingungen verlassen. Für eine solche Steuerreform, eine solche Abgabepolitik und eine solche Sozialpolitik würden wir eintreten.
Bisher ist das aber nicht zu erkennen. Deshalb sage ich:
Wir müssen an dem geplanten Steuergesetzeswerk noch
eine ganze Menge ändern. Es ist ungerecht. Es belastet
vor allen Dingen kleine und mittelständische Unternehmen und entlastet die großen. Die zu entlasten ist der
falsche Weg. Die schaffen keine Arbeitsplätze mehr. Lassen Sie uns endlich einen anderen Weg gehen!
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt - das war ein
bisschen verräterisch -: In den neuen Bundesländern
klappt die Ausbildung noch nicht so, weil es dort nicht so
viele Betriebe wie bei uns gibt, die ausbilden. Dieses „wie
bei uns“ sollten Sie nicht noch einmal sagen. Der Osten
gehört dazu.
({16})
Deshalb ist dieses „wie bei uns“ leicht verräterisch. Das
würde mir im Hinblick auf den Westen nicht mehr passieren. Insofern bin ich in den letzten elf Jahren im Kopf im
Hinblick auf die deutsche Einheit weitergekommen.
Ich füge hinzu: Wir brauchen einen Fahrplan für den
Aufbau Ost sowie für die Angleichung von Löhnen,
Gehältern und allen Sozialleistungen einschließlich der
Renten. Sonst wird es eine innere deutsche Einheit nicht
geben. Nur eine Gleichstellung, nur Chancengleichheit
garantiert auch die innere Einheit in der Bundesrepublik
Deutschland.
Danke schön.
({17})
Das Wort
hat jetzt Bundesfinanzminister Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein paar
Zahlen und darauf aufbauend falsche Argumentationslinien, wie sie sowohl Herr Kollege Merz als auch soeben
Herr Kollege Gysi verwendet haben, möchte ich hier kurz
korrigieren.
Herr Kollege Merz, der Abstand zwischen Deutschland
und den anderen Ländern wird nicht größer zulasten
Deutschlands, sondern ständig kleiner. Dass Deutschland
die zweitletzte Position beim Wirtschaftswachstum in Europa hatte und noch hat, das ist wahr, ist aber seit dem
Jahre 1995 der Fall. Seit 1995, also in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungszeit, war Deutschland immer an
zweitletzter Stelle beim Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union.
({0})
Seit Ihrer Regierungszeit entwickeln sich die Arbeitslosenzahlen folgendermaßen: Im Jahre 1995 kam es zu
einem Abbau von 37 000; diese Zahlen sind ja verfügbar.
1996 kam es zu einem Abbau um 277 000, 1997 um
287 000 und dann 1998 zu einem Wiederanstieg um
135 000. 1999 kam es zu einem Anstieg der Zahlen um
107 000 auf der Basis eines - nicht nur aus unserer, sondern auch aus allgemeiner Sicht - unglücklichen Verlaufes der Kurve - das wissen wir alle -: Es kam nämlich im
ersten Teil des Jahres zu einem Anstieg und im zweiten
Teil des Jahres zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Das Ergebnis insgesamt war jedoch ein Anstieg.
Herr Merz, seit Oktober vergangenen Jahres kommt es
zu einem Anstieg der Beschäftigtenzahlen um 155 000.
Das sind die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die Legende, die Sie die ganze Zeit zu verbreiten
versuchen, nämlich dass der Abbau der Arbeitslosigkeit
ausschließlich etwas mit dem demographischen Wandel
zu tun habe, also damit, dass viele Ältere ausscheiden und
wenige Junge nachkommen, ist falsch. Das ist nur die eine
Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist,
dass der Abbau zum anderen Teil auf einen neuen Anstieg
der Beschäftigung zurückzuführen ist.
({1})
Genau das ist der Sachverhalt, den Sie die ganze Zeit zu
verschleiern versuchen.
({2})
Sie haben die ganze Zeit beklagt, dass es keine Zahlen
gebe. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind nun
da. Benutzen Sie sie bitte auch, statt hier falsche Behauptungen zu verbreiten!
Deutschland marschiert nach vorne. Ich will mir nicht
alle Zahlen zu Eigen machen. Es gibt aber weltweit keine
besseren als die des Internationalen Währungsfonds. Danach wird bezüglich des Wachstums sowohl im Vergleich
der Euro-11-Gruppe als auch der 15 EU-Staaten der Abstand zugunsten Deutschlands immer kleiner. Bereits im
nächsten Jahr wird Deutschland von allen großen Ländern
Europas das höchste Wachstum verzeichnen können,
auch ein höheres als das in den Vereinigten Staaten. So die
Prognose des Internationalen Währungsfonds, der übrigens ausdrücklich auf unsere Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik hinweist und sagt: Die sind auf dem richtigen Weg. Sie können den jetzigen Chef, Herrn Köhler Sie kennen ihn noch aus gemeinsamer Zeit -, dazu befragen. Also, Herr Merz, verbreiten Sie nicht diese Unwahrheiten!
Nun komme ich auf die Steuerpolitik zu sprechen,
weil auch dazu immer eine falsche Behauptung aufgestellt wird. Wir brauchen uns nicht von Ihnen sagen zu lassen, wir bräuchten Mut. Wir brauchten Mut, um den Weg
aus der Schuldenfalle zu gehen. Dabei haben Sie uns im
vergangenen Herbst nicht unterstützt. Stattdessen haben
Sie uns Knüppel zwischen die Beine geworfen.
({3})
Deswegen stelle ich Ihnen, Herr Merz, angesichts der
Verhandlungen, die uns bevorstehen und die wir führen
werden, eine Frage zuallererst: Sind Sie bereit, eine Steuerpolitik zu machen, die den Weg aus der Schuldenfalle
nicht beeinträchtigt? Wir werden nämlich keine Steuersenkung vornehmen, die uns wieder zu einer Erhöhung
der Neuverschuldung führt. Da ist für diese Bundesregierung die Grenze der Kompromissfähigkeit erreicht.
Damit wir uns richtig verstehen. Im Jahr 2006 soll der
Haushalt ausgeglichen sein. Das wäre das erste Mal seit
Jahrzehnten. Von diesem Weg weichen wir nicht ab. Entlang dieser Leitplanke werden die anderen Politiken gemacht. Darauf hätte ich von Ihnen sehr gerne eine Antwort.
({4})
Übrigens: Täten wir etwas anderes, würden wir von
ganz Europa gescholten. Denn wer den Euro hat, der muss
sich auch auf eine konzertierte Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa einlassen. Das heißt, wir werden die
Wachstumsgewinne für eine schnellere Konsolidierung
einsetzen. Das ist die gemeinsame Verabredung aller
15 Finanzminister des Ecofin-Rates.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Thema
Körperschaften und Personengesellschaften bzw. große
Unternehmen und Mittelständler zu sprechen kommen.
Es ist schon spannend, dass CDU/CSU und PDS hier in
dieselbe - übrigens falsche - Richtung argumentieren.
Die Wahrheit ist ganz einfach: Aufgrund unserer Steuerpolitik, des Steuerentlastungsgesetzes und der Steuerreform 2000, müssen die Kapitalgesellschaften sogar noch
eine Kleinigkeit draufzahlen. Das können sie auch; das
sage ich in aller Ruhe.
Sie haben ja im vorigen Frühjahr etwas gesagt, was Sie
heute nicht mehr wahrhaben wollen, nämlich dass das
Steuerentlastungsgesetz ein Gesetz zur Vertreibung der
Konzerne aus unserem Land sei. Das haben Sie hier gesagt, Herr Merz.
({5})
Richtig ist: Die Energieversorgungsunternehmen haben
draufzahlen müssen. Aber ich sage Ihnen: Wer 72 Milliarden DM auf der hohen Kante liegen hat, der kann auch
16,7 Milliarden DM an Steuern zahlen. Damit habe ich
kein Problem.
({6})
Auch die Versicherungswirtschaft hat mehr zahlen müssen. Aber auch sie kann das.
({7})
Richtig ist, dass jetzt alle Unternehmen entlastet werden. Dies läuft aber für die großen Gesellschaften, die
Körperschaften, im Ergebnis auf plus/minus Null hinaus.
Das heißt, die 20 Milliarden DM an Entlastung in der
Wirtschaft kommen ausschließlich bei den kleinen und
mittleren Unternehmen an. Daher ist es völlig falsch, zu
behaupten, sie würden schlechter behandelt als die Körperschaften.
Die Körperschaften zahlen definitiv 38 Prozent,
25 Prozent Körperschaftsteuer und im Schnitt 13 Prozent
Gewerbesteuer, egal ob der Gewinn niedrig oder hoch ist.
Und hier setzt in der öffentlichen Debatte die Falschmünzerei an, mit der immer darauf spekuliert wird, dass die
Menschen vom Steuerrecht nicht so recht Ahnung haben:
Die Personengesellschaften nämlich zahlen Einkommensteuer; das ist ein völlig anderes System. Darin gibt es im
unteren Bereich zunächst einmal einen schönen Freibetrag, den wir ständig heraufsetzen, im Jahr 2005 europaweit auf das höchste Niveau. Das ist zugunsten der Bezieher kleinerer Einkommen, also auch der kleinen Unternehmen. Ab der ersten Mark oberhalb des Freibetrages
sind Steuern in Höhe von 15 Prozent zu zahlen; einen
derart niedrigen Satz hat es in Deutschland noch nie gegeben. Und jede Mark ab 98 000 DM wird dann mit
45 Prozent versteuert.
Was heißt das? Das heißt, dass ein Einzelunternehmer - der Bundeskanzler hat die Zahlen vorhin schon genannt -, der einen zu versteuernden Gewinn - Freibeträge
werden hinterher berücksichtigt - von 100 000 DM hat für ihn gilt der Spitzensteuersatz von 45 Prozent in der
Tat -, eine Belastung seines Gewinns in Höhe von 27 Prozent hat. Ich wiederhole: Die Körperschaft zahlt 38 Prozent. Der Punkt, an dem eine Personengesellschaft und
ein Einzelunternehmer 38 Prozent zu zahlen haben, das
heißt, dass sie dort sind, wo sich die steuerliche Belastung
der Körperschaft immer befindet, wird bei einem unverheirateten Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden
Gewinn von 200 000 DM und bei einem verheirateten
Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden Gewinn
von 400 000 DM erreicht.
({8})
Oberhalb dieser Grenze, also dort, wo eine Personengesellschaft oder ein Einzelunternehmer mehr zahlen
müssten als eine Körperschaft, nämlich bei Unverheirateten oberhalb von 200 000 DM Gewinn und bei
Verheirateten oberhalb von 400 000 DM Gewinn, liegen
in ganz Deutschland noch - der Bundeskanzler hat die
Zahl schon genannt - 5 Prozent der Personengesellschaften.
({9})
Die Behauptung, die Sie hier aufstellen, dass nämlich Personengesellschaften schlechter als Kapitalgesellschaften
behandelt würden, ist zu 95 Prozent unwahr, und sie
könnte zu 5 Prozent wahr sein. Das ist eine schlechte
Trefferquote für einen Finanzpolitiker, Herr Merz.
({10})
Diese 5 Prozent müssen es aber auch nicht zahlen; sie
können optieren. Dann unterliegen sie demselben Satz,
nämlich 38 Prozent.
Es können übrigens auch die Freiberufler optieren und
haben dann auch maximal jene 38 Prozent, wenn sie in
solche Gewinnkategorien hineinkommen.
Folgendes ist klar: Wenn Sie um den Spitzensteuersatz noch weiter streiten wollen - bitte schön, das müssen
wir machen; irgendwo wird man sich treffen müssen -,
dann werden Sie auch sagen müssen, wie Sie es bezahlen
wollen.
({11})
Deswegen bin ich dafür, dass wir gemeinsam eine Diskussion führen, aber dort, wo sie verbindlich wird, Herr
Kollege Merz, nämlich zwischen Bundestag und Bundesrat, auch gemeinsam mit den Ländern, auch mit jenen
Ländern, die CDU-Finanzminister haben. Ich werde keine
Namen nennen. Ich sage Ihnen aber, dass CDU-Kollegen
schon bei mir gewesen sind, die gesagt haben, dass sie es
eigentlich nicht bezahlen können. Dann muss ich mir die
großsprecherischen Bemerkungen aus München und anderswo anhören,
({12})
die besagen, dass man eine Steuerreform machen wolle,
die einen zusätzlichen Einnahmeausfall von 70 Milliarden DM bewirken würde.
Deswegen sage ich Ihnen: Ich bin für jedes Gespräch
offen, aber verbindlich muss es sein. Sie sollten nicht einfach nur Ihre Wünsche äußern, sondern sollten auch sagen, wie Sie es bezahlen wollen, und ferner sagen, wie die
Länder es bezahlen wollen.
({13})
Herr Stoiber hat nicht im Traum daran gedacht, von
seinen vielen Privatisierungserlösen dem Bund auch nur
einen Pfennig abzugeben. Er hat nicht einmal daran gedacht, das in die Deckungsquotenberechnung aufzunehmen. Jetzt, wo ich bei meinem überschuldeten Bundeshaushalt endlich ein bisschen Geld in die Kasse kriege,
hält der sofort die Hand auf. Nein, meine Damen und Herren, so geht das wirklich nicht.
({14})
Ich will noch eine letzte Bemerkung über einen Sachverhalt machen, der die Handwerker freut und über den
Sie, Herr Rauen, die Handwerker informieren sollten.
({15})
Sie wissen wie ich, wie ungerecht es die Handwerkerschaft immer empfunden hat, dass sie höher besteuert
wird als die Freiberufler. Das ergibt sich daraus, dass die
Handwerkerschaft Gewerbesteuer zahlen muss und die
Freiberufler das nicht brauchen. Nun hat es viele Leute
gegeben, die gesagt haben: Die Freiberufler sollen ebenfalls zahlen. Das ist nicht meine Position. Vielmehr haben
wir mit dieser Ungerechtigkeit, dass der Handwerker
höher besteuert wird als der Freiberufler, mit unserer
Steuerreform endlich Schluss gemacht. Denn wir beseitigen die Gewerbesteuer als Kostenfaktor und damit ist der
Handwerker endlich dem Freiberufler gleichgestellt und
alle profitieren von der kräftigen Absenkung der Einkommensteuer. Von daher ergeben sich die 20 Milliarden DM
Entlastung für den Mittelstand. So etwas haben Sie noch
nie zuwege gebracht.
({16})
Als nächster Redner hat der Kollege Michael Glos das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema hat eigentlich gelautet: Regierungserklärung des Bundeskanzlers, „Deutschland im Aufbruch - Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Erstens haben wir keine
Regierungserklärung erlebt, sondern, wie Sie, Herr Bundeskanzler, vorhin selbst gesagt haben, eine spontan
gehaltene Rede.
({0})
Das ersetzt in Zukunft eine Erklärung der ganzen Bundesregierung.
Wir haben noch ein paar weitere Highlights erlebt. Mir
ist dabei der Titel eines Buches von Graham Greene eingefallen: „Stunde der Komödianten“. Das war die eigentliche Überschrift dessen, was heute hier geboten worden
ist.
({1})
Das, was Herr Eichel gerade geboten hat, war eine sehr
etatistische Betrachtung.
({2})
1987 - damals war Gerhard Stoltenberg Finanzminister;
viele hier erinnern sich; Sie, Herr Kollege Wieczorek, haben damals sehr sachkundig mitgewirkt - gab es eine
Steuerreform, bei der wir in der Relation sehr viel höhere
Volumina der Steuersenkungen bewegt haben, als das
heute der Fall ist. Das Ergebnis war Wachstum. Das Ergebnis war, dass unser Land im Zeitraum bis 1990 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze bekommen hat.
({3})
Die etatistische Betrachtung, die Sie hier anstellen,
zeigt, dass Sie von moderner Wirtschaftspolitik - im
Gegensatz zu Ihren Ankündigungen - überhaupt nichts
verstehen. Ich sage Ihnen voraus: Die von Ihnen vorgelegte Steuerreform ist im Grunde ein bürokratischer Wust,
der das Steuersystem verkomplizieren und weitere Arbeitnehmer, insbesondere die qualifizierten, aus dem
Land treiben wird.
({4})
Es gibt bei uns im Land nach wie vor keine Spur von
Wachstumsdynamik, im Gegensatz zu den USA, die im
ersten Quartal 2000 eine Wachstumsquote von - auf das
Jahr gerechnet - 5,4 Prozent hatten und die eine Arbeitslosenquote von unter 4 Prozent haben. Das bedeutet, die
Wachstumsbeschleunigung in Deutschland ist nicht selbst
erarbeitet worden. Vielmehr werden wir durch Einflüsse
von außen sozusagen mitgeschleift: den US-Boom, auf
den ich verwiesen habe, die Euro-Schwäche, über die Sie
etwas hätten sagen müssen, Herr Bundesfinanzminister ich komme noch dazu -, oder das Ende der internationalen
Finanzkrisen, das uns letztendlich ebenfalls begünstigt.
Es grenzt schon an Verhöhnung der Menschen, wenn
man so kleine Fortschritte - die sich zudem aus der demographischen Entwicklung heraus ergeben: Mehr Leute
scheiden aus dem Arbeitsleben aus als eintreten - als großen Erfolg feiert. Herr Lafontaine hat am Beginn der Legislaturperiode zu Recht gesagt: Wenn wir bis 2002 nicht
auf 3 Millionen Arbeitslose herunterkommen, dann ist
diese Bundesregierung gescheitert. Daran werden Sie sich
messen lassen müssen.
({5})
Durch den zu erwartenden Einnahmesegen aus der
Versteigerung von Funklizenzen und aus der Privatisierung von Post und Telekom werden Sie, Herr Minister
Eichel, sozusagen zum Hans im Glück. Sie ernten glücklich, was andere gesät haben
({6})
und was von Ihnen bekämpft worden ist. Es waren Theo
Waigel und Wolfgang Bötsch an führender Stelle, die damals die Postreform und die Privatisierungspolitik durchgesetzt haben. Zwei SPD-geführte Bundesländer haben
sich bis zuletzt verweigert: Das eine war das von Ihnen,
Herr Bundesfinanzminister, geführte Hessen und das andere war das vom Bundeskanzler geführte Niedersachsen.
Die beiden haben sich bis zuletzt verweigert.
({7})
Sie sollten einmal den Mut haben, das einzugestehen und
sich zu entschuldigen, auch bei den Wählerinnen und
Wählern, die damals bei den Monopolbetrieben gearbeitet
haben und von Ihnen genasführt worden sind.
({8})
Ich bekenne mich zur Privatisierung, zur Deregulierung
und zur Liberalisierung. Wir wissen, dass daran kein Weg
vorbeiführt.
Man macht eine Politik der PR-Gags. Ein weiterer
PR-Gag war die Green Card. Das sollte ein Symbol für
„Deutschland im Aufbruch“ sein. So wie die HolzmannNummer eine Beruhigungspille für die Gewerkschaften,
insbesondere für die Baugewerkschaft war, so soll jetzt
eine Beruhigungspille für die Informationstechnologiewirtschaft kommen. Dabei ist der Name Green Card völlig unzutreffend. In den USA ist damit eine dauerhafte
Arbeitserlaubnis verbunden, keine Beschränkung auf fünf
Jahre, wie sie die Bundesregierung plant.
Dass eine vorübergehende Anwerbung ausländischer
Spezialisten auch ohne größere Schwierigkeiten möglich
wäre, zeigt sich in Bayern, wo diese Dinge mit einer leistungsfähigeren Verwaltung reibungsloser funktionieren.
Wenn Herr Riester seine Arbeitsverwaltungen anweisen
würde, bei der Ausstellung von Bescheinigungen großzügiger und rascher zu entscheiden, könnte man sehr viel
bewirken. Stattdessen ist der Arbeitsminister auf diesem
Gebiet ein Arbeitsverweigerer. Er tut nämlich nichts.
({9})
Die Bundesregierung macht Fehler, um sie anschließend mit großem Buhei wieder zu beseitigen. Das ist so
ähnlich, wie wenn man auf das kurze Gedächtnis setzt und
zunächst einen Brand legt, dann mit großem Tatütata als
Feuerwehr ankommt und so tut, als hätte man das Feuer
gelöscht, obwohl es, nachdem die Feuerwehr weggefahren ist, weiterglimmt.
Ich will das gerne belegen: Mit dem verkündeten Ausstieg aus der Kernenergie geht Kompetenz in einem weiteren wichtigen Hochtechnologiesektor verloren. Mit
dem Verzicht auf den Bau der Transrapidstrecke Hamburg-Berlin wird die führende Stellung Deutschlands bei
der Magnetschwebebahntechnik unterminiert. Mit der
Plünderung des Verteidigungshaushaltes - das ist zu rasch
und zu schnell - gehen wichtige Arbeitsplätze und Forschungskapazitäten in der wehrtechnischen Industrie, die
eine Hochtechnologieindustrie ist, verloren. Mit der verhinderten Zulassung beispielsweise von Gen-Mais wird
die grüne Gentechnologie außer Landes getrieben. Die
Fachkompetenz, die dann letztendlich mit der Green Card
in etlichen Jahren wieder ins Land geholt werden muss,
wird jetzt aus diesem Land vertrieben.
({10})
Unser Land braucht deswegen keine PR-Gags, sondern
eine stetige Politik. Es braucht vor allen Dingen eine
umfassende Bildungsreform. Dazu hat Kollege
Möllemann vorhin Richtiges gesagt. Wir müssen die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland bei
uns im Land sichern. Wir müssen vor allem schauen, dass
sich der Studienstandort Deutschland wieder grundlegend
verbessert. Unsere Universitäten müssen wieder Anziehungspunkt für die besten Köpfe der Welt werden. Wenn
diese Menschen bei uns studiert haben und unsere Sprache beherrschen und unsere Lebensgewohnheiten kennen, sind das weiterhin auch die allerbesten Spezialisten
für die deutsche Wirtschaft. Diese Leute müssen wir im
Land behalten. So machen das in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht
in der Fabrikhalle und auch nicht in der Universität, sondern im Klassenzimmer. Deswegen hat Kollege Rüttgers
schon Recht, wenn er die Bildungspolitik in NordrheinWestfalen aufspießt. Wir brauchen ein Schulsystem, das
Leistung fordert und Leistung fördert, anstatt wie in den
SPD-regierten Ländern am leistungsfeindlichen Gesamtschulsystem festzuhalten.
({11})
- Ich weiß nicht, was Frau Laurien darüber gesagt hat,
Herr Kollege. Sie scheinen es sehr gut zu wissen, weil Sie
so laut rufen. Vielleicht sagen Sie es anschließend. Ich
weiß aber zum Beispiel, was man bei Tests bei der Bundeswehr festgestellt hat: Die Rekruten aus den unionsregierten Ländern schneiden in Rechtschreibung und Rechnen besser ab als die Wehrpflichtigen aus den SPD-regierten Ländern.
({12})
Da natürlich die Menschen in Bayern nicht von Hause aus
gescheiter sind
({13})
als die in Nordrhein-Westfalen, muss es doch am Schulsystem und an der Erziehung liegen, wenn wir diese Ergebnisse feststellen.
({14})
Die jungen Menschen sind nicht unterschiedlich begabt,
sie sind nur unterschiedlich gefordert und gefördert und
das liegt an der SPD-Bildungspolitik.
({15})
Es wurde schon mehrfach gesagt, dass Bundeskanzler
Schröder 1998 in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident
von Niedersachsen Studiengänge an der Universität Hildesheim aufgelöst hat. Es muss aber immer wieder gesagt
werden - insbesondere dann, wenn Wahlentscheidungen
anstehen -, dass die SPD-Politik gerade in der Bildung
immer sehr kurzfristig und kurzsichtig ist und dass man
versucht, die gemachten Sünden mit Werbegags wieder
wettzumachen. Statt in Zukunftstechnologien zu investieren, hat man zum Beispiel in Niedersachsen das Geld zum
Kauf eines Stahlwerks genommen, als ob das eine wichtige Sache für den Staat wäre. Aber dies hat damals dem
Wahlgewinn genutzt. Alles das, was dem Land längerfristig nutzt, lässt man außer Acht und kauft sich immer wieder mit billigen PR-Gags die Stimmen der Leute. Wer eine
solche Politik macht, der braucht sich nicht zu wundern,
wenn er später Green Cards für Eliten aus dem Ausland
braucht, von denen er glaubt, diese könne er so willkürlich wie andere Importwaren kaufen.
Allerdings - das ist interessant - ist die Bereitschaft der
Leute, nach Deutschland zu kommen, sehr gering. Es gibt
keine Invasion aus Indien.
({16})
- Herr Poß, passen Sie doch einmal auf.
({17})
Wenn Sie auf diese Art anfangen wollen, lasse ich bei Ihnen zwischendurch das Wort „Schul-“ weg und dann sind
wir bei persönlichen Dingen, die wir miteinander austragen, aber das will ich nicht. Lieber Herr Poß, ich wollte
mit Ihnen über die Währung reden.
Die Leute, die da kommen sollen, wollen gar nicht für
Euro, sondern in erster Linie für Dollar arbeiten. Das
muss doch auch einen Grund haben. Ich war sehr gespannt, was der Herr Finanzminister heute zu dieser
Währungsschwäche unserer Gemeinschaftswährung
Euro sagt. Es ist nicht so, dass wir als Euro-Gegner dastehen wollen.
({18})
Im Gegenteil, ich bin für den Euro eingetreten.
({19})
Es war mein Parteivorsitzender Theo Waigel, der die
Hauptarbeit des Durchsetzens und die Lasten getragen
hat. Wir hätten heute mit einer D-Mark, die von einer rotgrünen Regierung getragen worden wäre, noch mehr Verwerfungen. Aber wir als das wirtschaftlich stärkste Land
in Europa müssen dafür sorgen, dass das Wort „Stabilität“
wieder buchstabiert wird,
({20})
dass wir vor allen Dingen durch unser Wirtschaftswachstum wieder der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung
werden.
({21})
Es gibt den traurigen Negativrekord von 88 Cent gegenüber dem Dollar. Gestern hat sich der Kurs wieder ein
bisschen verbessert. Im Vergleich zur Einführung des
Euro vor 17 Monaten hat sich in der Spitze eine Abwertung von 25 Prozent ergeben. Diese Zahl macht uns natürlich Sorge. Die Auswirkungen spürt man noch nicht sofort, aber dies wird spätestens in einem Vierteljahr auf die
Importpreise durchschlagen. Es wird bei uns eine Inflationsspirale und dann eine Lohn-Preis-Spirale mit verheerenden Wirkungen in Gang setzen, wenn es nicht gelingt,
diese Talfahrt zu stoppen.
Gewonnen hat der Euro lediglich gegenüber der türkischen Lira. Dies ist die einzige Währung, gegenüber
der der Euro in den letzten 17 Monaten, seit Herr
Lafontaine und Sie Finanzminister sind, gewonnen hat.
Die türkische Lira ist anscheinend noch schwächer. Dieser Umstand empfiehlt die Türkei neben anderen ideologischen Gründen offensichtlich auch für einen raschen
EU-Beitritt.
Herr Eichel - ich nehme Sie jetzt stellvertretend, weil
der Herr Bundeskanzler nicht da ist -, berührt es Sie eigentlich gar nicht, wenn die Überschriften in uns nicht unbedingt nahe stehenden Zeitungen lauten: „Der Euro hat
seinen guten Ruf verloren“, „Der Euro wird langsam zum
Sozialfall!“ oder „Der Euro auf dem Weg zu einer Lachnummer“? Bei einer solchen Debatte wie der heutigen
geht man ganz einfach kalt darüber hinweg und kommt
stattdessen mit allen möglichen Kinkerlitzchen. Glauben
Sie wirklich, dass die anhaltenden Kursverluste die Dänen
dazu bewegen werden, bei der anschließenden Volksabstimmung dafür zu votieren, in die Euro-Zone einzutreten? Wie wollen Sie die Briten dazu bringen, sich auf den
Euro zuzubewegen, was für die europäische Integration
unverzichtbar ist, wenn Sie den Kurs einfach so schleifen
lassen?
Ich sage es noch einmal: Ich fordere keine künstlichen
Interventionen auf dem Devisenmarkt, sondern ich fordere, dass in Europa eine Politik betrieben wird - auch
eine Stabilitäts- und Wachstumspolitik -, die das Vertrauen der Märkte in die europäische Gemeinschaftswährung zurückgewinnt.
({22})
Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister, wobei
es mir noch lieber wäre, der Herr Bundeskanzler würde
die Frage beantworten: Ich sehe mit großer Sorge die Umfrageergebnisse hinsichtlich des Vertrauens in die europäische Gemeinschaftswährung. Sind Sie eigentlich nicht in
Sorge, dass die Menschen in Deutschland das Vertrauen
in den Euro verlieren, noch bevor sie ihn fühlbar greifen
können, also noch bevor sie die Scheine und Münzen erstmals in der Hand haben? Das kümmert Sie offensichtlich
überhaupt nicht. Das kümmert offensichtlich auch den
Bundeskanzler überhaupt nicht; er hat nämlich heute auch
kein Wort dazu gesagt.
({23})
Duisenberg hat dazu gesagt: Über kurz oder lang höhlt ein
Währungsverlust nach außen auch den Binnenwert einer
Währung aus. Damit hat der Mann leider Recht. Wir wollen, dass es in Deutschland weiterhin ehrliches Geld für
ehrliche Arbeit gibt. Diese unabdingbare Grundlage für
unser Gemeinwesen wird gefährdet, wenn man die Dinge
einfach treiben lässt und wegschaut.
({24})
Ich sage es noch einmal: Der Euro ist die richtige
Antwort auf die Herausforderungen und Probleme des
21. Jahrhunderts, aber nur ein stabiler Euro. Wir müssen
deutlich machen, dass wir nicht einen billigen Motor zur
Ankurbelung des Exports suchen, so wie es in den Reden
des Herrn Bundeskanzlers und bei Ihnen angeklungen ist,
sondern langfristig wollen, dass der Gegenwert für deutsche und europäische Arbeit im internationalen Maßstab
gerecht vergütet wird.
Die Terms of Trade haben sich in den letzten Monaten
ganz bedeutend verschlechtert. Das bedeutet zwar, dass
möglicherweise zum Beispiel Daimler-Benz oder Siemens - oder wer immer hier produziert - mehr Euro für
sein Produkt einnimmt, aber der Arbeitnehmer, der dort
arbeitet, bekommt, wenn ich den Dollar als Leitwährung
der Welt zugrunde lege und es dann herunterrechne, letztendlich 25 Prozent weniger konvertiblen Gegenwert für
seine Arbeit und seine Leistung.
({25})
Wenn das anhalten würde, dann bedeutete es letztendlich
im Klartext genau dies. Dass es nicht so weit kommt, können wir nur dadurch verhindern, dass bei uns endlich wieder Wachstums- und Stabilitätspolitik gemacht wird.
({26})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeutet: Wir haben die Verpflichtung zu einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, zu soliden Staatsfinanzen, zu einer
konsequenten Reformpolitik für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, für sichere Renten und für ein leistungsförderndes Steuersystem, nicht für etatistische Betrachtungsweisen.
Theo Waigel hatte zusammen mit Hans Tietmeyer das
Vertrauen der Märkte. Immerhin war ein Waigel-Euro
noch 1,18 Dollar wert; ein Eichel-Euro ist vorgestern an
den Devisenbörsen für 89 Cent verramscht worden.
({27})
Das war die Reaktion der Märkte und das Urteil der
Märkte ist unbestechlich. Wenn das die so genannte moderne Wirtschaftspolitik ist, von der Sie, Herr Bundeskanzler, reden, dann gute Nacht.
({28})
Dann können wir uns dafür nur ganz herzlich bedanken.
Wirtschaftliche Reformen wurden zurückgenommen,
der Stabilitätspakt wurde infrage gestellt, Reformen im
Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Rente und der
Krankenversicherung wurden entweder zurückgenommen oder verschleppt. Die notwendige Lockerung des
starren Tarifrechts ist ausgeblieben. In der Gesundheitspolitik werden die Menschen immer mehr verunsichert;
letztes Beispiel dafür war der Vorschlag einer Koppelung
der Arzthonorare an den Heilerfolg. Herr Bundeskanzler,
wenn man Ihr Gehalt an den Kurs des Euro koppeln
würde, dann würden Sie noch stärker als die Ärzte plötzlich merken, wie ernst solche Maßnahmen gemeint sein
könnten.
({29})
Fünf Ökosteuer-Stufen und eine Steuererhöhungsdebatte um Mehrwertsteuer und Erbschaftsteuer verunsichern die Märkte weiterhin.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Beschwichtigungen und Gesundbeten helfen nicht. Wir brauchen
endlich eine wirkliche Reformpolitik. Wir brauchen auch
den Verzicht auf weitere Steuererhöhungen und wir brauchen vor allem Signale dafür, dass wir uns der internationalen Entwicklung anschließen und sogar versuchen, wieder der Motor dieser Wachstumsentwicklung in Europa zu
werden, wie das die Bundesrepublik Deutschland in der
Vergangenheit gewesen ist.
Herr Kollege Glos, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wenn Sie diesen Weg beschreiten, werden wir Sie dabei nachhaltig unterstützen.
Herzlichen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat Kollege Dr. Norbert Wieczorek von
der SPD-Fraktion das Wort.
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen, Michael Glos, gut zugehört. Wir kennen uns aufgrund unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Bundestag
schon länger. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie dafür
plädieren, dass die deutschen Arbeiter in Dollar bezahlt
werden und dann ihr Brot mit Dollar kaufen. Habe ich das
richtig verstanden?
({0})
Weiter habe ich gehört, dass die Wechselkursschwankungen ganz entsetzlich seien und diese Regierung für alles verantwortlich ist. Ich erinnere mich daran,
als der Dollar vor ein paar Jahren bei 1,38 DM lag, waren
wir alle besorgt darüber, weil das die Struktur der Exporte
kaputtgemacht hat. Nach Ihrem Maßstab einer DMSchwäche gegenüber dem Dollar waren aber die Anfangsjahre der Regierung Kohl eine einzige Katastrophe.
In dieser Zeit stieg der Dollar nämlich auf über 3 DM. Mit
Verlaub: Ich würde erst einmal nachdenken, lieber
Michael, bevor man redet.
({1})
Damit bin ich bei dem Punkt, der uns heute eigentlich
beschäftigt, nämlich bei der Lage der Wirtschaft in unserer Republik. Ich frage Sie: Welche Ausgangslage hatten
wir vor eineinhalb Jahren? Länger sind wir noch nicht an
der Regierung. Ich darf daran erinnern, dass wir von dem
ach so stabilitätsorientierten Kollegen Waigel Schulden in
Höhe von 1,5 Billionen DM, 1 500 Milliarden DM, übernommen hatten. Wir hatten zerrüttete Staatsfinanzen mit
einer unsicheren Steuerbasis, ein nicht reformiertes Steuersystem. Wir hatten Reformstau in fast allen Bereichen,
weil die alte Koalition nicht mehr die Kraft hatte, irgendeine Reform zu machen. Wir hatten vor allen Dingen - das
ist entscheidend - einen Verlust an Vertrauen in die Politik und in die soziale und wirtschaftliche Zukunft.
Dann haben wir den Neuanfang begonnen. Von manchen ist gesagt worden, das sei pragmatisch gewesen.
Natürlich ist Politik praktisch, aber wir hatten dabei auch
Grundsätze. Der eine Grundsatz war ein wirtschaftspolitischer, in dem wir gesagt haben, dass Angebot und Nachfrage zusammengehören, was für jeden Ökonomen eine
Selbstverständlichkeit sein sollte, und dass Angebots- und
Nachfragepolitik deswegen aufeinander abgestimmt und
miteinander verzahnt werden müssen. Der zweite ist ein
gesellschaftlicher Leitsatz. Solidarität - mit Rechten und
Pflichten - und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen.
Ich habe mit Freude in den Schlussfolgerungen von Lissabon gelesen, Herr Finanzminister und Herr Bundeskanzler, dass alle einschließlich Herrn Aznar betont haben: Wir müssen soziale Ausgrenzung beseitigen und wir
müssen alle Menschen in die Gesellschaft integrieren.
Das ist ein ganz wichtiger Satz.
({2})
Wir stellen uns die Frage: Was ist geschehen? Zunächst
die Steuerreform 1999. Minister Eichel hat gerade etwas
dazu gesagt. Die Entlastungen waren bei den Arbeitnehmern. Bei den Privathaushalten waren es 29,4 Milliarden
DM, im Mittelstand waren es im vorigen Jahr übrigens
auch schon 6 Milliarden DM. Das war Nachfragepolitik
und es war Angebotspolitik zugleich: Nachfrage bei den
privaten Nachfragern - das war die Schwäche unserer
Konjunktur in den letzten Jahren der Regierung Kohl und Angebotspolitik bei den mittelständischen Unternehmen. Es war das Programm für jugendliche Arbeitslose,
JUMP-Programm genannt. Immerhin sind dadurch über
26 000 feste Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt entstanden. Herr Merz, vielleicht denken Sie erst einmal darüber nach, bevor man darüber redet und sagt, dass keine
neuen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen worden
sind. Das haben Sie vorhin gesagt.
Die zentrale Frage für mich war aber die Frage nach der
Haushaltskonsolidierung. Die hatte Herr Waigel nicht
hinbekommen. Herr Eichel hat das geschafft. Ich habe die
Zahlen genannt. Hierbei muss man eines sehen: Wer hat
Minister Eichel geglaubt - ich erinnere mich noch an die
Zweifel in diesem Hause im vorigen Jahr -, als er angekündigt hat, im Haushalt Kürzungen von 30 Milliarden
DM durchzusetzen? Was hat er geschafft? Gut 90 Prozent,
rund 28 Milliarden DM. Das ist eine Summe, von der Sie
bei Ihrer Haushaltspolitik eigentlich nur träumen konnten.
({3})
Ich möchte Herrn Merz einen Hinweis geben, weil er
von der Staatsquote gesprochen hat. Die Staatsquote betrug 1998 - unter Ihrer Regierung - 48,3 Prozent, im
Übergang 1999 48,5 Prozent und sie beträgt 2000
47,5 Prozent - das ist ein voller Prozentpunkt weniger -,
2001 46,5 Prozent, 2002 46 Prozent, 2003 45 Prozent. Ich
möchte gleich die Abgabenquote hinzufügen. Sie beträgt
2003 41 Prozent. Bei Ihnen lag sie am Schluss bei
42,3 Prozent. So sehen die tatsächlichen Zahlen aus.
({4})
Das hat wesentlich zur Vertrauensbildung beigetragen,
wie übrigens auch das Bündnis für Arbeit. Der Bundeskanzler hat das angesprochen. Ich darf daran erinnern,
dass Bündnisse fürArbeit in anderen Ländern - Holland,
Dänemark, Irland - erfolgreich sind. Es ist aber ein sehr
langfristiger Prozess, der vor allen Dingen darauf gebaut
ist, dass die verschiedenen Akteure - Staat, Gewerkschaften, Unternehmen - zueinander Vertrauen finden
und um ihre Interessen vertrauensvoll miteinander streiten konnten. Es war doch Bundeskanzler Kohl - er ist
nicht mehr anwesend; vorhin hat er auf einer der hinteren
Bänke gesessen; das ist offensichtlich sein neuer Platz -,
der 1996 nach den Wahlen in Baden-Württemberg,
Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz den Gewerkschaften im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, das er angeregt hatte, den Stuhl in rüdester Art vor die Tür gesetzt
hat. Deswegen ist es schwierig, wieder Vertrauen herzustellen. Aber dass es jetzt gelungen ist, zeigen genau die
Tarifabschlüsse dieses Jahres.
Lieber Michael Glos, es handelt sich um Zweijahrestarifabschlüsse. Folglich kann es nicht nach einem Vierteljahr eine Lohninflation geben. Wer das behauptet, der hat
gar nicht begriffen, welche moderne Wirtschaftspolitik
diese Regierung betrieben hat.
({5})
Es ist auch wichtig, dass die Tarifverträge nicht par ordre
du mufti, also durch Einfluss von oben, zustande gekommen sind; vielmehr haben die Tarifpartner gemeinsam
und freiwillig diese Verträge abgeschlossen. Das halte ich
für einen ganz wichtigen Punkt.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen, weil
das mit zum Bild Deutschlands, der EU und der Eurozone
im Ausland beiträgt. Wenn immer wieder von Abgeordneten aus den Reihen der Opposition - vorher waren es
Vertreter der Interessenverbände - behauptet wird, hier
sei ja alles verkrustet - das war richtig; unter Kohl war das
so -, dann muss ich feststellen: Gerade im Bereich der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern in
der Tarifpolitik lässt sich eine Flexibilisierung seit Anfang
der 90er-Jahre beobachten - ich nenne als Beispiele Arbeitszeitkonten und flexible Arbeitszeitmodelle -, die
dazu geführt hat, dass die Produktivität in wichtigen Industriebereichen, zum Beispiel in der Automobilindustrie - deswegen sind wir ja exportstark; deswegen müssen
wir einen stärkeren Euro überhaupt nicht fürchten -, zum
Teil um 10 Prozent gestiegen ist. Ich möchte nur an Ford
erinnern: Ford macht wahrscheinlich - das nehmen Sie
sonst gern als Beispiel für Flexibilisierung - sein Werk
Dagenham in Großbritannien zu und verlagert die Produktion nach Köln.
({6})
- Hier ist es ganz deutlich. An diesem Beispiel kann man
erkennen, wie unsere neue Politik gewirkt hat. Deswegen
empfehle ich, ein bisschen auf die internationale Reputation zu achten und nicht einfach etwas daherzureden.
Noch ein Wort zur F.D.P.: Es wird immer behauptet, es
gäbe nur flächendeckende Tarifverträge. Ich bin zufällig
Schlichter für den Bereich Rheinland-Pfalz und Saarland.
Ich werde als Schlichter sehr wahrscheinlich nie gefordert
sein, weil die IG Metall dort nicht streikt. Aber ich kann
Ihnen eines sagen: Wenn Sie sich die Tarifstatistik ansehen, dann werden Sie feststellen, dass die Tariflöhne - nur
davon rede ich - zwischen den Regionen um mehr als
20 Prozent differieren, ganz zu schweigen von der Lohndrift, die es bei größeren Unternehmen gibt. Ich empfehle,
die Differenziertheit unserer Tariflandschaft und auch die
Möglichkeiten der neuen Tarifverträge zur Kenntnis zu
nehmen, die auch zwischen den Unternehmen Lohndifferenzierungen zulassen, gerade im Hinblick auf die Zusatzleistungen. Ich erwähne das nur deshalb, weil Sie immer noch den Eindruck erwecken, hier habe es keine Anpassungen gegeben. Ein großer Irrtum!
Das Vertrauen, das jetzt gerade aufgrund der Konsolidierung des Haushalts wieder hergestellt worden ist - ich
glaube, das war der entscheidende Faktor -, hat natürlich
auch etwas bewirkt. Die Erfolge konnte man diese Woche
an den Arbeitslosenzahlen und an den anderen Arbeitsmarktzahlen ablesen. Man kann die Erfolge auch daran erkennen, dass die Investitionen kräftig gestiegen sind und
dass auch die private Nachfrage steigt. Auch das haben
Sie, Herr Merz, nicht richtig dargestellt:
({7})
- Das mag sein oder er möchte es nicht wahrhaben. - 1997
sind laut Angaben der Konjunkturforschungsinstitute die
Ausgaben der privaten Haushalte für den Konsum real
um 0,7 Prozent gestiegen. 1999 sind sie um 2,1 Prozent
gestiegen. Dieses Jahr wird ein Plus von 2,3 Prozent und
nächstes Jahr ein Plus von 2,8 Prozent erwartet. Das ist ja
wohl ein Zeichen dafür, dass Vertrauen zurückgekehrt ist.
Die realen Investitionen - das ist der zweite große
Faktor - sind 1997 um 3,7 Prozent gestiegen. 2000 wird
mit einem Plus von 6,7 Prozent gerechnet. Das ist fast eine
Verdoppelung. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie die
Realität der Republik gerade aufgrund der neuen Ansätze
der Wirtschaftspolitik aussieht.
Lassen Sie mich auch sagen, dass wir natürlich noch
nicht am Ende des Weges sind. Es muss noch viel getan
werden, gerade auch im Hinblick auf die Beschäftigung.
Deshalb gilt es, auch in diesem Jahr Zeichen zu setzen.
Nächste Woche wird die Steuerreform auf den Weg gebracht. Wir werden Ende Juni bzw. Anfang Juli - wenn ich
richtig informiert bin - die Haushaltseckdaten vorlegen.
Das sind ganz wichtige Punkte, und zwar nicht nur für unsere Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade auch für die
internationalen Finanzmärkte; denn damit können wir belegen, dass Reformen in Deutschland möglich sind.
Erst einmal eine Randbemerkung zur Euro-Diskussion: Es geht nicht, dass wir in diesem Land demokratische politische Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen für jede Frau und jeden Mann nach den Tageserwartungen bestimmter Wirtschaftszeitungen und - das
geht erst recht nicht - nach den Tageserwartungen der Devisenhändler treffen. Dass so etwas gefordert wird, kann
ich wirklich nicht nachvollziehen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Euro sagen. Ich habe
zu denen gehört, die ihn von Anfang an begleitet haben
und die sich für den Stabilitätspakt gemeinsam mit
Ihnen - einige von Waigels Vorstellungen waren nicht
umsetzbar; das haben wir ihm aber auch klar gesagt - eingesetzt haben. Ich bin froh - da möchte ich auf Herrn
Eichel eingehen -, dass der Ecofin am Montag festgestellt
hat, dass Einmaleinnahmen nicht in die allgemeine Haushaltsfinanzierung fließen. Das ist zwar richtig; aber ich
sehe gleichzeitig mit Vergnügen und mit Freude, dass die
Dr. Norbert Wieczoreck
Stabilitätsprogramme sehr viel ernster genommen werden; denn wir sind dabei, Wachstum und gleichzeitig
Preisstabilität zu erreichen. Das ist ganz wichtig.
Ich möchte noch eine wirtschaftspolitische Bemerkung
machen. Ich halte den Ansatz für gegeben, für die EuroZone eine solide Haushalts- und Fiskalpolitik zu machen. Dies war der eigentliche Grund für den Aufschwung
der 90er-Jahre in Amerika. Diese Politik erlaubte der Zentralbank eine relativ lockere Geldpolitik. Für die Erfolge
in den USA war diese Geldpolitik verantwortlich, nicht
die Arbeitsgesetzgebung. Die war vor zehn Jahren, als die
Amerikaner eine Arbeitslosenquote von 10 Prozent hatten, die gleiche wie heute. Es ist vor diesem Hintergrund
ganz wichtig, dass ein entsprechender Spielraum in der
Euro-Zone geöffnet wird. Deswegen muss der eingeschlagene Weg weitergegangen werden.
Zurück zum Euro. Ich halte Ihre Äußerungen, lieber
Michael Glos, für absolut fahrlässig; ich sage das in aller
Deutlichkeit. Im Maastricht-Vertrag haben wir gemeinsam vereinbart - damals wurde Europapolitik noch gemeinsam gemacht; daran habe ich bei Herrn Stoiber neuerdings große Zweifel; bei der CDU weiß man nicht, wie
sie sich entscheiden wird;
({8})
es wäre schlimm, wenn sich diese Tendenz fortsetzt -,
dass das einzige Ziel der Europäischen Zentralbank die
Preisstabilität ist. Preisstabilität beruht auf Binnenstabilität - und die ist ohne Zweifel gegeben und sie wird auch
weiterhin gegeben sein. Ich habe etwas darüber gesagt,
was gerade die Tarifvertragsparteien in der Bundesrepublik - dies gilt nicht nur für Deutschland - in diesem Jahr
dazu beigetragen haben.
Dass wir Wechselkursschwankungen haben - ich habe
es in meiner Eingangsbemerkung angesprochen -, ist etwas Selbstverständliches. Man stelle sich einmal vor, wir
hätten diese Wechselkursschwankungen wie jetzt beim
Euro gegenüber der DM. Früher war die DM Ersatzwährung für das gesamte Euro-Land; heute gibt es in
Europa eine gemeinsame Währung.
Ich bitte Sie sehr ernsthaft darum, keine Reden zu halten, in denen man behauptet, die Menschen würden alle
arm. Im Beispiel eben wurde darauf hingewiesen, jemand
bei Daimler bekomme soundso viel Euro und wenn er diesen Betrag in Dollar bekäme, würde er um 25 Prozent ärmer. Dies ist natürlich Unsinn. Im Gegenteil, er bekommt
etwas mehr und sein verfügbares Einkommen ist größer.
Er kann sich mehr kaufen; denn seine reale Kaufkraft ist
gestiegen, weil wir Preisstabilität, also innere Geldwertstabilität, haben.
(
Nur nicht in Florida!)
- In Florida natürlich nicht. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Florida das klassische Reiseziel der Arbeiter
ist; insofern habe ich damit kein Problem. Wer dahin fahren kann, dem macht das auch nichts mehr aus.
Ich habe eben darauf hingewiesen - an der Haushaltspolitik symbolhaft dargestellt -, wie wichtig für die Inlandsnachfrage und für den Aufschwung die Wiederherstellung des Vertrauens war. Wir müssen den ausländischen Investoren deutlich machen - ich unterschätze
nicht, was im Zusammenhang mit dem Euro passiert -,
dass es bei uns zu Reformen kommen wird. Dazu zählt
die Rentenreform, die wir gemeinsam zustande bringen
wollen. Keiner kann sagen, ob sie gelingen wird. Dazu
zählt auch die Steuerreform, die wir nächste Woche verabschieden wollen. Es ist ganz wichtig, dass wir unseren
Anteil nach den Regeln der Politik - ich sage es noch einmal: nicht nach den Regeln der Tageserwartungen der
Händler - leisten. Wir müssen das auch nach außen klarmachen.
({0})
- Langsam, langsam. Eure Steuerreform kenne ich noch.
Es ist auch wichtig, dass andere Länder ähnlich vorgehen. Ich sage ganz offen: Die Regierungskrise in Italien
hat sich auf den Euro ausgewirkt. Aber Herr Amato war
derjenige, der die ersten Reformen in Italien durchgeführt hat. Ich hoffe, dass er - nicht euer Freund
Berlusconi; wenn ich das so deutlich zu dieser Seite sagen
darf - die Zeit hat, seine Reformmaßnahmen umzusetzen
und dass ihm der Ecofin dabei hilft. Wenn es uns gelingt,
das nötige Vertrauen herzustellen, dann stellt sich eine Situation ein, in der sich bestehende Defizite korrigieren.
Eines wäre nämlich schlimm: wenn wir in eine Situation
kämen, in der das Gefüge noch mehr durcheinander
kommt. Die schlimme Gefahr, die auf uns allen lastet, ist
ja vor allen Dingen die eines Crashs in Amerika. Die Gefahr ist nicht der Euro-Kurs, sondern ein Crash in Amerika.
Deswegen ist es wichtig - diesbezüglich möchte ich
den Finanzminister ansprechen -, dass in Okinawa beim
G7-Gipfel eine bessere Kooperation erreicht wird. Die
gegenwärtige, nur auf die US-interne Sicht gerichtete Politik der amerikanischen Treasury, konkret: meines alten
Freundes Garry Summers, halte ich nicht für vertretbar.
Sie ist auf die Dauer schädlich. Wir müssen da zu besseren Regelungen kommen. Ich hoffe, dass das gelingt. Ich
weiß nicht, ob wir vor dem Gipfel in Okinawa noch eine
Debatte zu diesem Thema haben werden; deswegen
wollte ich das hier loswerden. Wenn wir nämlich nicht
stabilere Wechselkursverhältnisse bekommen, hilft das
weder Japan noch den USA noch Euro-Land. Daher müssen wir zu stabileren Wechselkursverhältnissen beitragen.
Herr Kollege Wieczorek, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss. Ich möchte noch einen Schlusssatz sagen, weil
ich am Anfang zwei Leitsätze vorgetragen habe.
Dr. Norbert Wieczoreck
So pragmatisch und praktisch manches auch ist, so ist
es für Nichtökonomen doch etwas schwer verständlich.
Die Leitlinie unserer Politik, der SPD-Wirtschaftspolitik die haben wir konkret in diesem Punkt gemacht, und wir
werden sie weiter machen -, ist, dass es einen sozialen
Konsens gibt, in dem sich jede Bürgerin, jeder Bürger,
jede Frau, jeder Mann, ob Jung oder Alt, wiederfinden
kann. Ziel unserer Politik ist, dass jeder in die Gesellschaft integriert ist und damit auch an der Gesellschaft
teilnehmen kann und nicht ausgegrenzt wird, damit wir
wieder eine soziale Gesellschaft haben, in der jeder nach
seinen Bedürfnissen leben kann und in die er sich selber
einbringen kann, aber auch einbringen soll. Ausgrenzung
ist zu überwinden, aber das erfordert ein Angebot und
auch den Willen, in die Gesellschaft hineinzugehen. Darauf ist unsere Politik ausgerichtet.
Das ist übrigens auch der eigentliche Kern der so genannten neuen Wirtschaftspolitik, wie sie von Gordon
Brown, Tony Blair und anderen gemacht wird. Das zur
Erinnerung an die Opposition.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir bleibt nur wenig Zeit, deshalb wenige Bemerkungen.
Zunächst fällt auf: Zur wirtschaftlichen Lage, zum
Konzept der Wirtschaftspolitik spricht der Bundeskanzler, nicht der Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich
dafür zuständig ist. Wir haben uns gefreut, ihn zeitweise
auf der Regierungsbank begrüßen zu können.
({0})
- Herr Staffelt, regen Sie sich nicht auf. Schön, dass Sie
abgenommen haben. Sie können ja später noch reden.
Zweitens. Herr Bundeskanzler, Sie haben es etwa so
dargestellt: Wenn man Kritik an dem übt, was Sie für richtig halten, bedeutet dies einen Schaden für Deutschland,
für die deutsche Wirtschaft. - Nein, Wettbewerb haben
wir in der sozialen Marktwirtschaft, Wettbewerb brauchen wir auch in der Politik, um miteinander um den richtigen Weg zu ringen. Deshalb ist die Kritik an falschen
Ansätzen notwendig, damit wir insgesamt erfolgreich
sind.
({1})
Die Wechselkurse des Euro sind das Ergebnis einer
täglichen Abstimmung an den Märkten und nicht auf finstere Machenschaften einiger Devisenhändler zurückzuführen. Sie sind das Ergebnis einer täglichen Abstimmung
der Welt über die Reformfähigkeit mit Zukunftseinschätzung von Euro-Land. Der größte Teil von Euro-Land ist
Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern.
Es ist so, dass Amerika diesbezüglich kräftiger dasteht,
mit mehr Dynamik. Im letzten Quartal war die Wachstumsrate dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland.
Die Arbeitslosigkeit lag unter 4 Prozent. Davon sind wir
weit entfernt. Deshalb muss die Devise in der Tat heißen,
nicht kurzfristig durch Deviseninterventionen, sondern und da würde ich mir wünschen, dass Herr Eichel aktiver
würde - durch koordinierte Wirtschaftspolitik und durch
Reformen die Erwartungen draußen in der Welt hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit von Euro-Land und Deutschland zu verändern.
({2})
Ich habe den Eindruck, Sie sind zu sehr mit dem
Shareholder-Value Ihrer Beteiligungen beschäftigt und zu
wenig damit, den Außenwert des Euro zu stabilisieren,
damit wir nicht von dieser Seite eine importierte Inflation
bekommen. Wenn sich die derzeitige Entwicklung fortsetzte - zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland haben kein Vertrauen in den Euro -, würde dies bei uns auch
nachhaltige Auswirkungen über die wirtschaftliche Lage
hinaus haben.
Kernpunkt ist, dass wir in Deutschland einen Verfall
des ordnungspolitischen Denkens haben. In der Steuerpolitik gibt es die Mittelstandslücke. Sie sperren die Gewinne in den Betrieben ein, statt sie in eine produktivere
Verwendung hinauszulassen,
({3})
weil Sie meinen, wenn das Geld in Unternehmerhand
käme, wäre dies eine schlechte Verwendung. Das sind alte
ideologische Reflexe, die Sie schnellstmöglich überwinden sollten. Mir fällt da in Analogie zu Brecht ein: Sie
sehen zu sehr die Großen im Rampenlicht, und die im
Dunklen, die Kleinen und Mittleren, die die Arbeitsplätze
schaffen, den Mittelstand, sehen Sie zu wenig. Für den
Mittelstand müssen die Weichen anders und besser gestellt werden.
({4})
Ich halte es für richtig, wenn Sie die Veräußerung von
Unternehmensbeteiligungen steuerlich freistellen. Am
Anfang haben Sie gesagt, das kostet nichts. Heute redet
man von 4 Milliarden DM Kosten, vielleicht sind es auch
8 Milliarden DM. Wahrscheinlich wollen Sie die Zahlen
nicht nennen, damit die Fundi-Grünen nicht unruhig werden oder die Traditionssozis Sie innerparteilich nicht beschimpfen. Sie müssen aber auch fair sein und dem
Handwerksmeister, der seinen Betrieb aufgibt und von der
Veräußerung seines Betriebes leben muss und leben will,
aber bisher den halben Steuersatz zu zahlen hat, analog
entgegenkommen. So, wie bisher geplant, können Sie es
nicht machen.
({5})
Herr Wieczorek, Sie tun bei Ihren Ausführungen zum
Arbeitsmarkt und zum Tarifvertragsrecht gerade so,
als ob es den Fall Viessmann nicht gegeben hätte. Dort haben 98 Prozent der Belegschaft einem Konzept zugeDr. Norbert Wieczoreck
stimmt, um ihre Arbeitsplätze in Nordhessen zu erhalten.
Im Betrieb andere Regelungen zu vereinbaren stellt doch
eine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips dar. Die Gewerkschaften haben dagegen geklagt. Wir müssen diese
Blockade aufbrechen. In Berichten der Bundesbank, der
OECD und vieler Wirtschaftsforschungsinstitute können
Sie nachlesen, dass einer der zentralen Hemmschuhe für
mehr Arbeit in Deutschland die Starrheit und Inflexibilität
auf unserem Arbeitsmarkt sind. Diese müssen wir aufbrechen. Dazu brauchen wir breite Korridore und ein anderes Denken
({6})
Es gibt hierzu erste Ansätze: Die IG Chemie hat entsprechende Vereinbarungen durchgesetzt. Sie müssen
diese aber auch in der Breite umsetzen. Da man hier nicht
vorankommt, ist unsere Vorstellung, dass letztlich auch
der Gesetzgeber handeln muss. Sonst gibt es einen Stau,
der von denjenigen verursacht wird, die drinstehen, und
der zulasten derjenigen geht, die draußen stehen, aber
auch etwas Hoffnung und Zuversicht haben wollen. So ist
keine Solidarität insbesondere mit den Langzeitarbeitslosen zu erreichen. Hier muss es Reformen und Veränderungen geben.
Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.
Letzter Satz, Herr Präsident. Wenn wir es nicht schaffen, in Deutschland überzeugende
Reformen auf den Weg zu bringen, wird der Euro weiter
schwächelnd dahindümpeln. Viele Fachleute sprechen davon, dass die Auffanglinie vielleicht bei einem Kurs von
0,80 Dollar liegt.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ditmar Staffelt
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ein bisschen kann ich mich
des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die Opposition allergrößte Schwierigkeiten, sich auf das Modell „Modernisierung und soziale Verantwortung“ einzustellen. Sie
diskutieren hier in einer Weise, als sei die Regierung in alten Denkkategorien verhaftet, als würde sie sich nicht den
Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft stellen. Sie tun so, als fördere die SPD als Regierungspartei
nicht sehr bewusst und mit vielerlei wichtigen Initiativen
gerade die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem
Lande. Sie gehen doch an den Realitäten vorbei, wenn Sie
uns das dauerhaft unterstellen und damit Propaganda machen, während die Wahrheit und die Faktenlage völlig anders aussehen.
({0})
Im Übrigen möchte ich Ihnen sagen, dass ich mit
großem Interesse am 28. April 2000 in der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift „Deutlich
mehr Aufträge im Mittelstand“ gelesen habe, dass die
Creditreform eine Umfrage unter Unternehmern in der
Bundesrepublik, in Ost und West, gemacht hat und zu folgendem Resultat gekommen ist: 38 Prozent beurteilen
ihre Auftragslage als gut oder sehr gut gegenüber
27,2 Prozent noch im vergangenen Jahr. Es ist so, dass
27,6 Prozent gegenüber 17,2 Prozent im letzten Jahr darauf verweisen, dass sich ihre Umsatzsituation deutlich
verbessert hat.
Es gibt - ich könnte diese Umfrageergebnisse noch auf
eine breitere Grundlage stellen - viele Hinweise darauf,
dass außerhalb dieses Parlamentes eine sehr viel optimistischere und sehr viel positivere Einschätzung der Politik
der Regierung vorhanden ist, als Sie sie den Menschen
hier vermitteln wollen. Darüber ärgere ich mich. Sie befinden sich inzwischen in einem Zustand der politischen
Beliebigkeit, nur um Opposition zu machen.
({1})
Das beste Beispiel dafür ist doch das Thema Holzmann,
das hier noch einmal angesprochen wurde. Ich erinnere
mich noch sehr gut - das war ja eine der ersten Debatten
hier in diesem Hause -: Sie konnten gar nicht eilfertig genug darauf verweisen, dass Frau Roth und Ihr Ministerpräsident Koch diejenigen waren, die vor Ort mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen hatten. Sie
hatten fast ein Problem damit, dass der Kanzler dabei war.
Wenig später, als eine Regelung erreicht worden ist, die
viele Arbeitsplätze, aber auch vielen Mittelständlern die
Existenz gerettet hat, haben Sie auf einmal einen Schwenk
gemacht, das Gegenteil behauptet und sich distanziert.
Wissen Sie: Eine solche Politik hat kurze Beine. Damit
werden Sie für sich keine Mehrheiten in dieser Republik
herbeiführen.
({2})
Dasselbe Affentheater - sind wir doch einmal ehrlich haben Sie mit der Green Card veranstaltet: Auf der einen
Seite vergießt Herr Rüttgers Krokodilstränen. Auf der anderen Seite hat er aber Sprüche drauf, bei denen man das
Gefühl hat, dass es sich um eine konservative Politik ganz
tief aus der Mottenkiste handelt. Sie, die Sie immer von
Experimenten und Ideen reden, sind noch nicht einmal bereit, einen solchen Versuch, ein solches Experiment
mitzutragen. Trotzdem reden Sie von Innovation und Erneuerung. Mit einer solchen Grundeinstellung zum politischen Handeln schlagen Sie sich doch selber aus dem
Felde.
({3})
Ich will noch eines sagen: Schauen Sie sich doch einmal die Mittelstandspolitik des Bundeswirtschaftsministeriums an! In unserem Katalog sind eine Fülle von Maßnahmen, um insbesondere die Selbstständigkeit in unserem Lande zu unterstützen. Teile dieses Katalogs sind die
Fortsetzung dessen, was Sie gemacht haben - ohne jede
Frage. Zu dieser Kontinuität bekennen wir uns. Andere
Teile haben wir neu austariert und haben neue Akzente gesetzt.
Aber es gibt doch keinen Zweifel daran - angefangen
bei den Förderinstrumenten der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis hin zu den Maßnahmen der Deutschen Ausgleichsbank -, dass hier hervorragende Arbeit zur Unterstützung des Mittelstandes und zur Unterstützung kleiner
und mittlerer Unternehmen geleistet wird. Daran zweifelt
doch in Wahrheit niemand, schon gar nicht diejenigen, die
davon betroffen sind, nämlich die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese Tatsache können Sie doch
nicht wegdiskutieren.
({4})
Ich füge noch eines hinzu: Schauen Sie sich an, was wir
in diesem Zusammenhang an den Universitäten und in der
Gesellschaft dafür getan haben, dass das Klima für Selbstständigkeit verbessert wird! Tun Sie doch nicht so, als
würden wir hier keine großartige Unterstützung leisten!
Sie haben eben über Bildungssysteme gesprochen.
Herr Glos, zu dieser Diskussion muss ich Ihnen sagen: So
einfach ist es ja nun nicht. Ich bin aus der Berliner Politik
in den Bundestag gekommen. Das Land Berlin hat - ich
vermute, andere Bundesländer auch - mehrfach im Bundesrat den Antrag gestellt, dass die Professoren endlich
aus der Liste der Beamten gestrichen werden. Jede Änderung des Bundesbeamtengesetzes ist an Ihnen gescheitert.
Sie haben damit mehr Flexibilität im Lehrkörper der Universitäten verhindert.
({5})
Erzählen Sie also nicht den Unsinn, als seien alle
Schwachpunkte im Bereich der Bildung auf sozialdemokratische Bildungspolitik zurückzuführen!
Wir bekennen uns dazu, dass es mehr Wettbewerb zwischen den Universitäten in unserem Lande geben muss.
Natürlich brauchen wir diesen Wettbewerb. Aber die entsprechende Diskussion müssen wir gemeinsam führen.
Schuldzuweisungen dieser sehr einfachen Art sind meiner
Ansicht nach überhaupt nicht dazu geeignet, um zu Lösungen in dieser sehr schwierigen Frage der Innovation in
der Bildungspolitik unseres Landes zu kommen.
({6})
Ich möchte darauf verweisen, dass ich die Bemühungen der Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsministeriums ausdrücklich unterstütze, einen Einstieg in den
Abbau von Bürokratie zu finden. Natürlich ist das ein
wichtiges Thema. Sie müssen aber auch in diesem Punkt
zugeben: Auf der einen Seite schreit das ganze Land nach
Entbürokratisierung; auf der anderen Seite schreien zum
Teil dieselben Menschen, dass wir Regelungsbedarf haben. Wir sind in dieser Frage in einer sehr schwierigen Situation. Deshalb muss im Einzelfall entschieden werden.
Eine gemeinsame Anstrengung zur Entbürokratisierung
lohnt sich aber in jedem Falle und wird Innovation und
Anschübe für die Wirtschaft zur Folge haben.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Punkten sagen,
die Sie hier ebenfalls mit einem sehr negativen Akzent
angesprochen haben: Wir haben doch nun in vielen
Regionen dieser Republik geradezu eine Vielzahl von
Neugründungen von kleinen Unternehmen der Hochtechnologie, ob das die Biotechnologie ist, ob das die Informations- und Kommunikationstechnologien sind. Das
kommt doch nicht von ungefähr. Das ist zwar eine Entwicklung, die natürlich auch etwas damit zu tun hat, dass
es solche Schübe in den USA gegeben hat, aber es muss
doch gleichwohl eine Gründeratmosphäre in diesem Land
geben. Es muss doch gleichwohl Rahmenbedingungen
geben, die es solchen Unternehmen ermöglichen, Fuß zu
fassen.
Und wenn Sie sich dann einmal die Entwicklung des
Neuen Marktes anschauen und dann feststellen, dass sich
aus Zwei-Mann- bzw. Drei-Mann-Buden, wenn ich das so
sagen darf, auf einmal millionen- und milliardenschwere
Unternehmen entwickelt haben, dann können Sie doch
nicht davon reden, dass diese Bundesregierung nicht in
der Lage wäre, Voraussetzungen für innovative kleine und
mittelständische Unternehmen in unserem Lande herbeizuführen.
({7})
Das ist doch Murks, was Sie hier erzählen.
({8})
- Ich habe jetzt keine Zeit. Bayern haben heute schon
genug gesprochen.
({9})
Ich will noch einen Hinweis auf die so genannte Old
Economy machen. Bei anderer Gelegenheit - das sollte
man vielleicht wenige Tage vor der Wahl in NordrheinWestfalen auch noch einmal sagen - haben Sie hier Debatten darüber geführt, wie es denn nun eigentlich mit der
Kohlesubvention und Ähnlichem mehr sei. Ich finde, dass
man an dieser Stelle auch noch einmal sagen kann: Wir
jedenfalls stehen zu den Vereinbarungen, die getroffen
worden sind. Da gibt es kein Wenn und kein Aber.
({10})
Damit wir nicht nur über diejenigen reden, die jetzt in
den ganz modernen wirtschaftlichen Bereichen zu Hause
sind: Wir vergessen auch diejenigen nicht, die morgens
um 6 Uhr noch am Fließband und anderswo in den Fabriken stehen und arbeiten. Auch die sind Teil unseres gesamtwirtschaftlichen Konzeptes für diese Republik,
meine Damen und Herren.
({11})
Ich resümiere: Ich bin der Überzeugung, Sie werden
sich einiges einfallen lassen müssen. Es reicht nicht, wenn
Sie eine Politik entwickeln, die darauf aus ist, einzelne
Körner aus unserem Konzept herauszupicken, und dann
glauben, damit würden Sie die positive Einschätzung, die
es ja in der Wirtschaft und bei den Verbänden zu diesem
Thema gibt, aushebeln können. Nein, ich sage Ihnen: Sie
werden erst wieder auf die Beine kommen, wenn Sie eigene Vorschläge und eigene Philosophien entwickeln und
wir dann darüber streiten können. Das würde dem Lande
übrigens auch gut tun. In der Verfassung, in der Sie sich
im Moment befinden, sind Sie jedenfalls weit außerhalb
des Mainstream. Und ich sage Ihnen eines: Sie werden das
bei den nächsten passenden Gelegenheiten und dann auch
bei Wahlen merken.
Schönen Dank.
({12})
Als nächster Redner hat nun das Wort der Kollege Karl-Josef
Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
führen heute eine Debatte über die Wirtschaftspolitik, die
vor allen Dingen unter der Überschrift „Politik für mehr
Beschäftigung“ steht. Auch der Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion „Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung“ steht im
Zusammenhang mit dieser Debatte. Da wir jetzt eine
leichte konjunkturelle Verbesserung haben, ist es ja unstreitig, dass wir auch eine leichte Entspannung auf dem
Arbeitsmarkt haben. Es ist unstreitig, dass ein großer Teil
dieser Entspannung, die wir auch in den nächsten Jahren
zu erwarten haben, auch und vor allem damit zu tun hat,
dass jedes Jahr in Deutschland 150 000 bis 200 000 Menschen mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden als aus
der Ausbildung der jungen Generation für den Arbeitsmarkt nachwachsen.
In dieser Situation einer leichten konjunkturellen Entwicklung brauchen wir auch politische Konzepte, wie wir
die Beschäftigung vor allen Dingen älterer Arbeitnehmer
in diesem Land wieder fördern können.
({0})
Wir haben unter unseren Arbeitslosen 900 000 Menschen
über 55 Jahre. Ein großes Unternehmen wie die Deutsche
Bank hat noch ganze 500 Beschäftigte über 50 Jahre. Wir
hatten in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft eine
Entwicklung, bei der die ältere Generation aus dem Arbeitsmarkt herausgebombt worden ist.
({1})
- Wer hat denn die Debatte in Deutschland über die Rente
mit 60 geführt und damit jede Motivation kaputtgemacht,
sich auch noch für die Fortbildung eines 55-Jährigen einzusetzen?
({2})
Das waren doch Sie mit Ihren Hilfstruppen aus IG Metall,
DGB usw.!
Wir haben seit anderthalb Jahren einen Bundesarbeitsminister Walter Riester.
({3})
Wir haben ein Bundesarbeitsministerium, das dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung seit Oktober 1999
keinen einzigen politischen Antrag mehr zugeleitet hat.
({4})
Das ist die Wahrheit! Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung kann seit Oktober 1999 keinen politischen
Antrag mehr aus dem Arbeitsministerium beraten, außer
einem einzigen, der im Bündnis für Arbeit besprochen
worden ist: Weiterentwicklung der Altersteilzeit. Das ist
im Übrigen eine Erfindung von uns. Dabei macht mir im
Moment ganz große Sorge, dass die Altersteilzeit immer
mehr verblockt und dazu benutzt wird, dass die Erwerbstätigen ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das hat
mit Altersteilzeit, wie wir sie uns einmal vorgestellt haben, - Beschäftigungspotenziale ausschöpfen, Erfahrungen älterer Arbeitnehmer nutzen und Teilhabe Älterer am
Arbeitsmarkt ermöglichen -, immer weniger, um nicht zu
sagen: gar nichts mehr zu tun.
({5})
Wenn Sie, diese SPD und dieses Arbeitsministerium,
die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht nutzen, um
jetzt eine breite gesellschaftliche Diskussion anzustoßen, wie wir für Problemgruppen Teilhabe am
Arbeitsmarkt und am Arbeitsleben ermöglichen können,
ist das ein Beweis, dass Sie keine sozialpolitische Konzeption haben - und im Übrigen auch keine Liebe und
Zuwendung für die Problemgruppen und die betroffenen
Menschen in diesem Bereich. Ansonsten kann ich es mir
nicht erklären, dass im Bundesarbeitsministerium ein
Winterschlaf herrscht, der weit ins Frühjahr hineinreicht.
({6})
Die CDU/CSU diskutiert in dieser Frage, immer wieder auch gestützt auf Anträge im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung, ein Bündel von Maßnahmen. Jeder, der
sich jahrelang mit Sozialpolitik beschäftigt hat, weiß
doch, dass es in diesen Fragen nicht die Lösung gibt, sondern dass wir ganz viele unterschiedliche Instrumente in
die Hand nehmen müssen, um für die betroffenen Menschen etwas zu tun.
Der Vorschlag, den wir in unserem Antrag unterbreitet
haben, nämlich ältere Arbeitnehmer stärker fortzubilden,
damit sie an der Weiterentwicklung ihrer beruflichen
Möglichkeiten arbeiten können, sie freizustellen für Fortbildung, finanziert über die Bundesanstalt für Arbeit, und
ihre Arbeitsplätze so lange mit älteren Arbeitslosen zu besetzen, ist einer dieser konkreten Vorschläge. Ich bin einmal gespannt, wie Sie im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung mit diesem Antrag umgehen. Wahrscheinlich werden Sie fünf Minuten mit uns darüber diskutieren
und dann die Abstimmungsmaschinerie in Gang setzen.
Aber etwas Hoffnung habe ich, weil die sozialpolitische
Sprecherin der Grünen am 5. Mai im „Handelsblatt“ erklärt hat, dass sie genau diesen Vorschlag, den wir machen, für den richtigen hält.
({7})
Ich bin einmal gespannt, ob die Grünen das halten.
({8})
Ich frage die Bundesregierung: Wie ist Ihre Haltung
zum Beschäftigungsförderungsgesetz? Es läuft Ende dieses Jahres aus. Meine Fraktion hat dem Deutschen Bundestag in dieser Woche hierzu einen Antrag zugeleitet.
Reden Sie nicht erst lange darüber, sondern stimmen Sie
ihm zu, denn die befristete Beschäftigung hat sich nach
allen Statistiken, zumindest nach denen, die ich kenne, bewährt. Sie haben sie bekämpft wie der Teufel das Weihwasser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als
wir diese Initiative, für 24 Monate befristet einstellen zu
können, eingebracht haben. Da haben Sie von „Heuern
und Feuern“ gesprochen. Tatsache ist, dass über 50 Prozent der befristeten Arbeitsverhältnisse in unbefristete
umgewandelt werden.
Ich kann mich noch an die Diskussion im Deutschen
Bundestag erinnern, als wir für einen kleinen Bereich des
produzierenden Gewerbes, bei dem es gar nicht anders
geht - Textilindustrie, Reifenindustrie -, die Maschinenlaufzeiten auf den Sonntag ausdehnen wollten. Da haben
Sie uns hier im Deutschen Bundestag in Ihren politischen
Reden als „Sonntagsschänder“ bezeichnet. Seien Sie froh,
dass wir diese Entscheidungen getroffen haben.
Ich frage Sie: Wo bleiben Sie in der sozialpolitischen
Diskussion mit einer Antwort auf die Frage, wie wir Menschen mit Behinderungen stärker in den Arbeitsmarkt
integrieren können? Wo bleiben Sie jetzt, da die Konjunktur ein Stück weit anspringt, mit Antworten?
({9})
Herr Kollege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiermann?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Laumann, ist Ihnen nicht bewusst, dass beim Umbau der
Montanstrukturen die Unternehmen insbesondere zum
Instrumentarium des Freisetzens von Belegschaften gegriffen haben und über Sozialplanleistungen ein Großteil
der Belegschaften abgebaut worden ist? Das heißt im
Klartext, dass auf der einen Seite die Statistiken, also die
hohen Arbeitslosenzahlen in den Arbeitsämtern, im Wesentlichen dadurch geprägt worden sind, dass ältere Arbeitnehmer aufgrund des Umbaus im Montanbereich
ihren Arbeitsplatz verlassen mussten, und dass auf der anderen Seite immerhin der Vorteil zu verzeichnen war, dass
diese älteren Kolleginnen und Kollegen, die nicht freiwillig gingen, einen Erhalt der Arbeitsplätze der jüngeren
Kolleginnen und Kollegen vor Ort ermöglichten. Ich bitte
Sie, dies in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen.
Herr Kollege,
natürlich nehme ich das zur Kenntnis. Nur, für die Zukunft sind uns solche Lösungsmöglichkeiten, wie wir sie
in der Vergangenheit in der Montanindustrie praktiziert
haben, nämlich die Beschäftigten immer früher in Rente
zu schicken - beim Bergbau ist dies mittlerweile mit
50 Jahren möglich -, verschlossen, weil wir dies der jüngeren Generation finanziell schlicht und ergreifend nicht
mehr zumuten können.
({0})
Deshalb führen wir hier keine Debatte, wie sie in der Vergangenheit üblich war. Wir müssen vielmehr eine Debatte
von morgen führen angesichts dessen, dass wir wissen,
dass das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre angehoben werden muss.
({1})
Wir müssen natürlich auch sehen, wie wir ein Angebot
hinbekommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt verbleiben können und dort eine berufliche Perspektiven haben. Über diese Frage müssen wir gemeinsam eine gesellschaftliche Debatte in Gang setzen.
({2})
Ich sage es noch einmal: Ich halte es für einen Skandal,
dass eine Großbank in Deutschland nur noch 500 Arbeitnehmer, die über 50 Jahre alt sind, beschäftigt und dass
wir diese Entwicklung nicht stärker zum Thema machen.
Wir von der Union werden uns, weil wir uns an den
Menschen orientieren und weil wir wollen, dass alle Menschen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt haben, mit den Problemgruppen, mit denjenigen Menschen, die es auf dem
Arbeitsmarkt besonders schwer haben, beschäftigen und
Ihnen zur Lösung dieser Probleme Vorschläge machen.
Ich habe aber die Bitte: Lehnen Sie nicht jeden Vorschlag, den wir vor allen Dingen im Bereich der Sozialpolitik einbringen, deswegen ab, weil auf dem Briefkopf
„CDU/CSU“ steht.
({3})
Tun Sie es insbesondere nicht so lange, wie Sie dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung keine einzige politische Initiative zuleiten.
Schönen Dank.
({4})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine
Kaspereit von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu den eigenartigen ArKarl-Josef Laumann
gumenten des Kollegen Laumann wird sicher meine Kollegin Schmidt einiges zu sagen haben.
({0})
Ich hingegen möchte einige Aspekten in Bezug auf Ostdeutschland ansprechen; denn zu Deutschland im Aufbruch gehört natürlich auch Ostdeutschland.
Es wird immer wieder behauptet - von Herrn Gysi
heute eigenartigerweise nicht; denn Herr Gysi konzentriert sich eher auf den Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen -, dass die Reformpolitik der Bundesregierung, insbesondere die der Haushaltskonsolidierung und der Steuerpolitik, zulasten der neuen Länder gehe. Ich sehe das
entschieden anders. Mit dem reformpolitischen Befreiungsschlag der rot-grünen Bundesregierung wird auch
der Weg für eine Beschleunigung des wirtschaftlichen
Aufbaus in den neuen Bundesländern frei gemacht.
Gerade in Ostdeutschland leiden wir immer noch an
der bleiernen Lethargie der späten Kohl-Jahre. Mitte der
90er-Jahre ist das Wachstum in den neuen Bundesländern
regelrecht zusammengebrochen. Es halbierte sich von
9,6 Prozent 1994 auf 4,4 Prozent im Jahre 1995. 1998 lag
das Wirtschaftswachstum dann nur noch bei 2 Prozent.
Die Folge: Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaft
langsamer als die westdeutsche. Der Aufholprozess ist
seither zum Stillstand gekommen. Wir alle beklagen die
unbefriedigende Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Diese unbefriedigende Lage ergibt sich vor allem
dann, wenn man nur die rein statistischen Daten betrachtet.
Ich rate zu einer differenzierteren Betrachtungsweise.
({1})
Im verarbeitenden Gewerbe und insbesondere bei den
Dienstleistungen gibt es zwischenzeitlich beachtliche
Wachstumsraten und vor allen Dingen - dies erscheint mir
sehr wichtig - Beschäftigungsanstiege. Dramatisch ist allerdings nach wie vor die Situation auf dem Bausektor.
Hier leiden wir in den neuen Ländern noch immer unter
den Fehlern, die zu Beginn der 90er-Jahre gemacht wurden. Mit milliardenschweren Subventionen wurde ein
völlig überhöhter Bausektor aufgepäppelt, der dann beim
Ausbleiben des Subventionssegens prompt in die Knie
ging. Mitte der 90er-Jahre gingen die Bauaufträge und die
Bauproduktion kontinuierlich zurück - mit den bekannten
deutlichen Bremsspuren auf dem Arbeitsmarkt. Ich muss
der Ehrlichkeit halber hinzufügen: Die Krise ist nicht ausgestanden.
Die Wirtschaftsstruktur der neuen Länder ist noch immer von einem zu kleinen Anteil an verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungsunternehmen geprägt, während
das Baugewerbe und auch der öffentliche Sektor einen zu
großen Anteil an der ostdeutschen Bruttowertschöpfung
haben. So wird das erfreuliche Wachstum im industriellen
Bereich von den Pleiten im Baugewerbe und im Handel
per saldo überdeckt. Das Ergebnis ist die angespannte
Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in Ostdeutschland müssen ein besonders starkes Interesse daran
haben, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates
zurückzugewinnen;
({2})
denn die Schuldenfalle, in die uns die Kohl-Regierung geführt hat, belastet gerade den wirtschaftlichen Aufbau in
Ostdeutschland. Wenn immer mehr Steuermittel für die
jährlichen Zins- und Tilgungszahlungen der öffentlichen
Hände aufgebracht werden müssen, dann wird es immer
schwerer, die Mittel für die dringend erforderlichen Infrastrukturinvestitionen in den neuen Ländern bereitzustellen.
Führende Wirtschaftsforschungsinstitute haben kürzlich ausgerechnet, dass selbst im Jahr 2005 noch mit einer
Infrastrukturlücke in einer Größenordnung von circa
300 Milliarden DM zu rechnen ist. Dabei sind die
Infrastrukturinvestitionen des Bundes noch nicht einmal
berücksichtigt. Ich frage mich, wie solche gewaltigen
Summen aufgebracht werden können, wenn weiterhin
mehr als ein Fünftel der Steuereinnahmen des Bundes in
den Schuldendienst gesteckt werden muss. Deshalb sage
ich: Die Konsolidierungspolitik von Hans Eichel ist gerade aus ostdeutscher Sicht richtig und war längst überfällig.
({3})
Wenn die in unserem Entschließungsantrag formulierten
Eckpunkte der Rahmen für die Fortsetzung erfolgreicher
Politik sind, wird sich die Umsetzung in besonders positiver Weise auf Ostdeutschland auswirken.
Es ist unbestritten: Teilungsbedingte Sonderbedarfe
bestehen nicht nur im Bereich der Infrastruktur, sondern
auch bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktfördermaßnahmen. Die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern sind
mehr als doppelt so hoch wie die in den alten, wobei sich
die Schere zwischen Ost und West wieder öffnet. Die Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern ist erheblich
schwieriger als in den alten Ländern; der Bundeskanzler
hat darauf hingewiesen. Manche dieser Sondertatbestände erfordern auch Sonderprogramme.
({4})
Ich meine aber auch, dass überall dort, wo es schwerwiegende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt bzw. Defizite
auf dem Ausbildungsmarkt gibt, gleiche Förderprogramme und Fördertatbestände greifen müssen, ganz
gleich, ob sie nun in Oberhausen oder in Sangerhausen zur
Anwendung kommen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Ausrüstungslücke der
ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaft
wird auf 40 Prozent geschätzt, was einem Investitionsvolumen von circa 260 Milliarden DM entspräche. Es ist
völlig klar, dass diese Lücke mit der herkömmlichen regionalen und strukturellen Wirtschaftsförderpolitik nicht
zu schließen ist. Es ist im Übrigen auch nicht sinnvoll,
wenn der Staat versucht, den Strukturwandel in der
Wirtschaft leiten und lenken zu wollen. Das geht aller Erfahrung nach schief, wie ich bereits am Beispiel der ostdeutschen Bauwirtschaft ausgeführt habe. Der notwendige wirtschaftliche Strukturwandel einer Gesellschaft
ist keine staatliche Veranstaltung, zumindest nicht primär.
Entscheidend sind hier die Unternehmen gefordert. Deshalb ist es in Zeiten eines beschleunigten Strukturwandels
völlig richtig, die Investitionsbedingungen der Unternehmen durch günstigere steuerliche Rahmenbedingungen zu
verbessern.
({6})
Nirgendwo in Deutschland ist der Investitionsbedarf so
hoch wie in den neuen Ländern. Deshalb werden insbesondere Unternehmen in Ostdeutschland von Eichels
Steuerreform profitieren. Die Hunderttausende von kleinen und kleinsten Personengesellschaften in Ostdeutschland werden von der Senkung der Einkommensteuertarife
oder der pauschalen Anrechnung der Gewerbesteuer auf
die Einkommensteuerschuld stärker profitieren als die in
Westdeutschland.
Die Unternehmensteuerreform wird, so hoffe ich, die
Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland
weiter erhöhen. Ich verspreche mir deshalb auch davon
neuen Schwung bei den Unternehmensgründungen, die
wir in den neuen Ländern so dringend brauchen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der systematische
Abbau des Reformstaus, der in der 16-jährigen Ära Kohl
in der Bundesrepublik entstanden war, ist nicht nur für
Westdeutschland, für die westdeutsche Wirtschaft und
Gesellschaft, bitter nötig. Wie Mehltau haben sich die
späten Kohl-Jahre auch auf die Entwicklung in Ostdeutschland gelegt.
Frau Kollegin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Hinsken.
({0})
Frau Kollegin Kaspereit,
können Sie mir sagen, was die Bundesregierung in den 19
Monaten, seitdem sie in Amt und Würden ist, getan hat,
um Existenzgründungen insbesondere in den neuen Bundesländern, aber auch allgemein in der gesamten Bundesrepublik zu erleichtern, und pflichten Sie mir bei, wenn
ich feststelle, dass gerade der Mittelstand, auf den Sie ja
jetzt indirekt ein Loblied singen - bereits Herr Staffelt hat
versucht, das in den höchsten Tönen herauszustellen -,
von der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht
profitiert? Ich kann Ihnen sagen, dass ich in der Lage bin,
sofort 24 Positionen zu nennen, die alle zur Verschlechterung der Situation des Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben.
Herr Hinsken, warum stellen Sie mir die Frage, wenn Sie selber sie schon vermeintlich beantworten?
({0})
Ich bin der Meinung, dass für den Mittelstand in Ostdeutschland, allein schon aufgrund der psychologischen
Effekte der Ankündigung dieser Steuerreform, eine
Menge passiert ist - jedenfalls mehr als in Ihrer Zeit.
({1})
Sie wissen: Ein wenig Stetigkeit und Verlässlichkeit ist
sehr wichtig, auch in der Wirtschaft. Als eines der letzten
OECD-Länder hat die Bundesrepublik nach dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung die Grundlagen
für ein dauerhaftes und dynamisches Wachstum geschaffen. Mehr Wachstum in Europa verhilft auch in den neuen
Ländern zu mehr Beschäftigung und es hilft, den Strukturwandel zu beschleunigen. Die Erfolge dieser Politik
sind allenthalben sichtbar. Die Wirtschaft in Deutschland
und Europa wächst so stark wie seit einem Jahrzehnt nicht
mehr. Die Beschäftigungslage verbessert sich stetig; die
Zahl der Arbeitslosen nimmt kontinuierlich ab. Dass sich
die Erfolge dieser Politik in den neuen Ländern zunächst
weniger spektakulär und mit einiger Zeitverzögerung auswirken, ist nach wie vor der besonderen historischen Lage
Ostdeutschlands geschuldet. Niemand konnte und kann
erwarten, dass das Erbe von 40 Jahren Kommunismus in
Deutschland über Nacht verschwindet, auch nicht nach
zehn Jahren.
Der Aufbau Ost ist eine Generationenfrage, für die man
auch heute noch langen Atem braucht.
({2})
Wenn dies den Menschen früher und deutlicher gesagt
worden wäre, Herr Hinsken, würden manche unnötigen
Polemiken unterbleiben und es wären weniger Hoffnungen enttäuscht worden.
Die Aufgaben für die neuen Länder sind klar zu umreißen: Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe und in Dienstleistungsunternehmen für die Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die Voraussetzungen dafür
sind gut - inzwischen in beiden Teilen Deutschlands.
Wir haben eine gut ausgerüstete Infrastruktur für die
Aufgaben der Zukunft geschaffen und wir werden die
noch bestehenden Lücken in den neuen Ländern in den
nächsten Jahren schließen.
({3})
Wir haben - das darf vielleicht in diesem Haus auch einmal gesagt werden - exzellent ausgebildete Arbeitnehmer, im Osten mehr als im Westen. Die Defizite im Ausbildungsbereich werden, solange dies notwendig ist, auch
mit staatlichen Hilfen vermindert.
Wir setzen jetzt längst fällige Strukturreformen durch sei es in den Steuer- und Transfersystemen, sei es auf dem
Arbeitsmarkt oder den sonstigen Faktor- und Gütermärkten -, die die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes
Deutschland verbessern. Diese neue Grundausrichtung
deutscher Politik sichert Deutschlands wirtschaftliche Zukunft, auch die Ostdeutschlands.
({4})
Es wäre grundlegend falsch, wegen der - im Wesentlichen teilungsbedingten - Sonderlasten Ostdeutschlands
auf Sonderwege zu setzen, wie das die PDS tut. Ich halte
nichts davon, die neuen Länder unter eine noch so gut gemeinte Käseglocke zu stellen. Das bringt uns nicht weiter.
Die neuen Länder sind Teil des einheitlichen europäischen Binnenmarktes, in dessen Spielregeln sie eingebunden sind. Kommunen und Länder sind gefordert, attraktive Investitionsbedingungen für ansiedlungswillige
Unternehmen zu schaffen. Der Bund kann dabei helfen; er
kann es aber nicht an ihrer Stelle tun.
({5})
Ich habe den Eindruck, dass dies in den neuen Ländern
zwischenzeitlich häufig besser verstanden wird als in den
alten Ländern.
Ich bin davon überzeugt, dass die Reformen, die diese
Bundesregierung begonnen hat, gerade auch in den neuen
Ländern zu positiven Ergebnissen führen werden, so
schmerzlich die Anpassungsprobleme aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels zurzeit auch sind. Wir müssen den Menschen in den neuen Ländern sagen, dass diese
Anpassungsprobleme lösbar sind, dass dies aber Zeit erfordert und deshalb Geduld.
Frau Kollegin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
Bitte.
Frau Luft,
bitte schön.
Danke schön, Frau Kollegin
Kaspereit. - Ich bin ja mit Ihnen völlig einverstanden,
dass man die Hoffnung nie aufgeben darf. Aber mit dem
Prinzip Hoffnung alleine - darin stimmen wir sicherlich
überein - wird es nicht gehen. Es gibt im Moment sogar
die Tendenz, dass die Investoren, die sich für Ostdeutschland interessieren, angesichts der Euro-Schwäche wieder
zögerlich werden. Das ist ein Punkt, den wir ins Auge fassen müssen. Es gibt nach wie vor die Tendenz zur Abwanderung - die hat ja mit der Einführung der D-Mark in
den neuen Bundesländern nicht aufgehört, sondern hält
leider immer noch an -, sodass wir Gefahr laufen, in den
neuen Bundesländern eine Art Altenheim zu werden. Ja,
der Altersdurchschnitt nimmt erheblich zu.
Vieles von dem, was in den neuen Bundesländern nach
1990 geschehen ist, war ja politisch motiviert. Ökonomen
haben da nicht viel mitreden dürfen. Ich möchte Sie fragen:
Sind Sie mit mir einer Meinung, dass man auch jetzt vieles
politisch auf den Weg bringen muss, um es ins Lot zu bringen? Wäre es nicht günstig gewesen, wenn sich die Bundesregierung stärker für den Bau des Großraumflugzeuges
in Laage bei Rostock engagiert hätte? Das wäre für diese
arg gebeutelte Region eine echte Hilfe gewesen, mit Ausstrahlung weit ins Land hinein. Wäre es nicht günstig,
Frau Kollegin Luft, die Fragen sollen kurz und präzise gestellt werden. Keine Argumentation bitte!
- für arbeitsintensive Dienstleistungen - auch wir im Osten wollen ja eine Dienstleistungsgesellschaft werden - Steuererleichterungen herbeizuführen, wenigstens in der Anfangsphase? Wäre es nicht
günstig, Existenzgründerinnen und Existenzgründer anfangs steuerlich besser zu stellen? Das alles sind Fragen,
die politisch noch zu überdenken sind.
Sie haben eine Menge an
Fragen gestellt, auf die ich - das wissen Sie - im Einzelnen hier nicht eingehen kann; dazu möchte ich das Plenum nicht missbrauchen. Aber eines muss man feststellen: Die Investitionsentscheidung trifft das Unternehmen,
und zwar nicht alleine nach politischen Gesichtspunkten.
Da spielen eine Menge Dinge eine Rolle: zunächst einmal
der Markt und qualifiziertes Personal, am Ende auch eine
gewisse Förderpolitik. Darüber könnte man lange streiten. Wir müssen uns für die neuen Bundesländer engagieren - gar keine Frage -, auch politisch. Ich weiß, dass wir
das tun; ich weiß, dass der Bundeskanzler das tut. Auch in
den vergangenen Jahren hat es ein derartiges Engagement
gegeben.
Was den A3XX angeht, so sollten wir darüber im zuständigen Ausschuss sprechen. Das heißt, da sind die
Würfel ja schon gefallen. Sie wissen genau, dass es etwas
anders ist, als Sie es hier darstellen.
Ich möchte zum Schluss meiner Rede kommen. Ich
hatte angesprochen, dass wir den Menschen sagen müssen, dass die Anpassungsprobleme lösbar sind. Wir werden unser Bestes dazu tun, um die Lösungen, die nötig
sind und oft auch Zeit erfordern - manchem ist die Zeit
wohl schon zu lang -, anzugehen. Wir brauchen Geduld.
Wir müssen den Menschen aber vor allen Dingen Mut machen, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Der Staat ist nicht der umfassende Daseinsvorsorger.
Je überzeugender uns dies gelingt, umso schneller werden
wir die wirtschaftliche Einheit und damit ein Stück der inneren Einheit Deutschlands vollenden können.
Danke.
({0})
Das Wort
hat nun der Kollege Bernd Protzner von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sie müssen noch einmal einen
bayerischen Redner ertragen.
({0})
- Ja, auch einen fränkischen.
Nach vier Stunden Debatte haben wir zwei Ergebnisse.
Das erste: Wir sind uns darin einig, dass eine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden muss. Das
zweite: Wir sind uns nicht einig in der Beurteilung, ob die
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland schon
zufrieden stellend ist.
Dass sich der Herr Bundeskanzler heute sehr kräftig
auf die eigenen Schultern geklopft hat, halte ich für ungerechtfertigt. Wenn er und Sie von SPD und Grünen allein
die Arbeitslosenzahlen in den Mittelpunkt stellen, dann ist
das eine falsche Betrachtungsweise. Wichtiger ist die Beschäftigtenzahl, da nicht jeder, der aus der Arbeitslosenstatistik ausscheidet, auch einen Arbeitsplatz erhält. Stilllegung von Arbeitskraft ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu lange Tradition gewesen. Das ist der
Weg von gestern.
Was wir brauchen, ist Beschäftigungsaufbau, sind neue
und zusätzliche Arbeitsplätze. Eine soziale Marktwirtschaft braucht aktiv Tätige. Denn nur diese erwirtschaften
Kaufkraft und zahlen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung. Insofern ist eine Senkung der Arbeitslosenzahlen ohne gleichzeitigen Anstieg der Beschäftigtenzahlen
keine dauerhafte Lösung des Arbeitsmarktproblems. Wir
helfen den Menschen doch nicht dadurch, dass sie aus der
Statistik herausfallen, sondern nur dadurch, dass sie einen
Arbeitsplatz finden. Dies gilt sowohl für Junge als auch
für Ältere.
({1})
Ich darf hier auf Friedrich Merz zurückkommen: Es ist
falsch, nur die Arbeitslosenstatistik zu zitieren, wie es
Bundesfinanzminister Eichel in seiner Replik versucht
hat. Wir hatten zwar im Dezember 150 000 Arbeitslose
weniger, aber gleichzeitig auch 20 000 Arbeitsplätze weniger als 1998. Ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen bedeutet nicht zugleich eine Zunahme der Beschäftigtenzahlen, sondern kann auch mit dem Rückgang der Beschäftigtenzahlen einhergehen.
({2})
Ich halte es für eine Schande in der Bundesrepublik
Deutschland, dass wir zwar am Dienstag dieser Woche die
neuesten Arbeitslosenstatistiken bekommen haben, aber
nicht die neuesten Beschäftigtenstatistiken. Diese liegen
erst für Februar vor.
({3})
Es muss doch im Zeitalter des Internets möglich sein - die
Bundesregierung hat ja angeblich eine große Internetofensive gestartet -, die Arbeitslosenstatistiken und die
Beschäftigtenzahlen am gleichen Tag zu präsentieren, damit wir objektive Diskussionsgrundlagen haben.
({4})
Die Unternehmen bei uns müssen zum Monatsende bei
Ämtern und Behörden Millionen von Zahlen abliefern.
Da kann es doch nicht schwierig sein, mit einem guten
Computerprogramm diese paar Zahlen zu ermitteln. Hätte
man nicht so viele IT-Spezialisten ins Ausland vertrieben,
bräuchte man auch keine Inder, um ein solches Softwareprogramm zu schreiben.
Eine zweite Bemerkung: Ich darf Sie, Frau Hendricks,
bitten, Ihrem Finanzminister weiterzugeben, dass er aus
den Berichten des IMF unzulänglich zitiert hat. Er hat
gesagt, man könne die Beschäftigtenzahlen hintanstellen;
wichtig für die Bundesrepublik Deutschland sei die
Wachstumszahl. Die Wachstumszahlen würden vom IMF
bestätigt. Dabei verschweigt er, dass auch der IMF in seinen Berichten immer darauf hinweist, dass es bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland keinen engen Zusammenhang zwischen Konjunkturzuwachs und Beschäftigtenzahlen gibt.
In Großbritannien ergibt 1,6 Prozent Wirtschaftswachstum eine Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze um
1 Prozent. In der Bundesrepublik brauchen wir derzeit ein
Wirtschaftswachstum von 2,7 bis 3 Prozent - manche sagen sogar von 5 Prozent -, um eine einprozentige Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze zu erreichen. Hier liegen wir hinter anderen Staaten zurück.
({5})
Eine Modernisierung der Wirtschaftspolitik bedeutet,
dass wir, lieber Herr Kollege, einen engeren Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzzuwachs wieder herstellen müssen. Dazu reichen Ihre Maßnahmen nicht aus; sie sind vielmehr kontraproduktiv.
({6})
Wir müssen den Unternehmen ein Umfeld schaffen,
damit sie bei einem Umsatzanstieg nicht sagen: Wir versuchen erst einmal, mit den vorhandenen Mitarbeitern
auszukommen. Die Unternehmer müssen vielmehr sagen:
Wir wollen neue Mitarbeiter einstellen, wenn der Umsatz
steigt. Das ist soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen. Wenn wir das nicht erreichen, ist dies nicht im Sinne
der sozialen Marktwirtschaft. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts - sagen Sie das Herrn Eichel - erfolgt
nicht als Selbstzweck, sondern es müssen dadurch mehr
Arbeitsplätze entstehen.
({7})
Meine Damen und Herren, hierzu nenne ich auch Zahlen: In der Bundesrepublik haben wir derzeit ein Potenzial
von etwa 40 Millionen Erwerbstätigen. Wir haben - Herr
Poß, Sie kennen sich mit Zahlen ja immer so gut aus - derzeit etwa 34 Millionen Arbeitsplätze. Diese große Lücke
ist durch eine moderne Wirtschaftspolitik zu schließen.
({8})
- Herr Poß, ich komme gleich auf Ihr Geschäftsfeld
zurück.
Jetzt mache ich eine letzte Bemerkung zu Herrn Eichel:
Wir können uns nicht ausruhen, wenn die Auslandsnachfrage und die Auslandskonjunktur gut laufen.
({9})
Wenn ich mir die Statistik für die ersten drei Monate dieses Jahres ansehe, stelle ich fest, dass erstmals wieder das
Wachstum bei der Auslandsnachfrage und das Wachstum
der Binnenkonjunktur auseinander klaffen. Die Binnenkonjunktur ist in den ersten drei Monaten eingebrochen,
und zwar bis tief in die Automobilbranche hinein, jedenfalls was den Absatz in Deutschland betrifft. Das ist für
mich kein Zufall. Die Menschen bei uns wollen etwas
leisten, Herr Poß. Die Menschen wollen vom dritten in
den vierten Gang schalten; im vierten Gang braucht man
jedoch mehr Sprit als im dritten Gang. Aber Sie haben ja
den Spritpreis erhöht und andere Belastungen wie die
Ökosteuer geschaffen.
Ich finde es schon dreist, was Herr Eichel heute früh
gesagt hat: Im letzten Jahr sind Steuern in Höhe von
90 Milliarden DM mehr eingenommen worden. Er aber
will nicht einmal unsere Steuervorschläge mit einer
Rückvergütung an die Bürger in Höhe von 50 bis 55 Milliarden DM verwirklichen. Das zeigt, dass er auf Staat
statt auf Freiraum und Eigeninitiative setzt. Das ist der
falsche Weg. Dieser wird nicht zielführend sein. Wir brauchen mehr Dynamik, mehr Freiraum. Deutschland hat
eine bessere Politik verdient.
({10})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Schmidt von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Protzner, zu Ihrer Rede muss ich Ihnen sagen: Wahrscheinlich haben Sie
vergessen, was in der Vergangenheit war. Ich habe heute
niemanden gehört, der gesagt hat: Wir sind mit dem, was
passiert ist, zufrieden und jetzt machen wir Schluss. Vielmehr haben wir und auch die Mitglieder der Bundesregierung gesagt: Mit der Politik der Bundesregierung, den
Haushalt zu konsolidieren, damit wir mehr Geld für Investitionen, für Steuerentlastungen in einem Umfang von
76 Milliarden DM, für Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Förderung der Familien
bekommen, damit sie in diesem Lande wieder konsumieren können, sind wir auf dem richtigen Weg.
({0})
Hier war davon die Rede, die Reformen dauerten so
lange. Dazu muss ich Ihnen sagen: Hätten Sie die notwendigen Reformen wie die Gesundheits-, die Rentenund Arbeitslosenförderungsreform während Ihrer Regierungszeit gemacht, könnten wir heute darauf aufbauen
und dann müssten Sie nicht über einen Reformstau reden.
Wir aber fangen an. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren; ob mit Ihnen oder ohne Sie.
({1})
Genauso werden wir eine Steuerreform umsetzen, die den
Menschen wieder mehr Geld in die Taschen gibt, die ihnen netto wieder mehr von dem lässt, was sie brutto verdienen.
({2})
- Da können Sie so viel schreien, wie Sie wollen. Die jungen Familien kommen zu uns und sagen: Danke schön,
ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie das
Kindergeld erhöht haben.
({3})
Wir bedanken uns bei Ihnen dafür, dass Sie es demnächst
möglich machen, dass sich Väter und Mütter den Erziehungsurlaub teilen können. Wir bedanken uns dafür, dass
Sie uns einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geben wollen. Das ist Politik für die Menschen in diesem Land und nicht
das, was Sie hier vorführen.
({4})
Nun kommen wir zu einigen Zahlen zur Beschäftigung, die Sie genannt haben. Ich bin in Nordrhein-Westfalen zur Schule gegangen. Heute habe ich gehört, die in
Nordrhein-Westfalen seien alle dumm geblieben und die
in Bayern seien alle schlau. Ich habe in Nordrhein-Westfalen eines gelernt: Ich kann Zahlen lesen. Deshalb kann
ich auch die Zahlen lesen, die die Bundesanstalt für Arbeit
herausgegeben hat.
Wir haben seit einem Jahr kontinuierlich sinkende Arbeitslosenzahlen; aber sie sind nicht, wie Ihre Kollegen
sagen, allein demographisch bedingt. Vielleicht nenne ich
Ihnen einmal ein paar Zahlen aus den letzten Jahren und
aus diesem Jahr. Wir hatten im Dezember 1999 im Vergleich zum Dezember 1998 36 000 Beschäftigte mehr. Im
Januar 2000 gab es, verglichen mit dem Januar 1999,
55 000 Beschäftigte mehr. Wir haben jetzt - das zeigen die
aktuellen Zahlen - 73 000 Beschäftigte mehr.
Wir haben natürlich einen Rückgang der Zahl der Arbeitslosen, weil mehr Ältere aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Aber machen Sie doch einmal eines, denken Sie
doch einmal daran: Diese 73 000 Beschäftigten mehr bedeuten 73 000 Familien, die wieder eine Perspektive bekommen haben,
({5})
die wissen, dass sie für ihre eigene Existenz wieder
arbeiten können. Allein in Nordrhein-Westfalen haben
wir 53 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen, also die
Beschäftigtenzahlen um 53 000 erhöht. Man sollte bei der
Beurteilung dessen, was erreicht wurde, objektiv bleiben.
Ich bin damit nicht zufrieden. Ich wäre auch nicht damit zufrieden, wenn Ende nächsten Jahres die Zahl der Arbeitslosen dreieinhalb Millionen betrüge. Ich bin erst
dann zufrieden, wenn in diesem Land jede Frau und jeder
Mann die Mittel für die eigene Existenz durch eigene Arbeit verdienen kann und damit wieder frei ist, über ihr
oder sein Leben selbst zu entscheiden, wenn sie oder er
nicht darauf angewiesen ist, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe zu bekommen.
({6})
Ich sage Ihnen etwas anderes, Kollege Laumann. Wir
haben in Ostdeutschland die aktive Arbeitsmarktpolitik
verstetigt. Wir haben durch das Vorschaltgesetz versucht,
die vorhandenen Mittel zu konzentrieren. Wir haben trotz
Sparprogramm und Haushaltkonsolidierungsprogramm
mehr als 6 Milliarden DM zusätzlich in den Haushalt der
Bundesanstalt für Arbeit gegeben.
Wir haben gesagt, wir brauchen dieses Geld, um es auf
die Problemgruppen, die es in diesem Lande gibt, zu konzentrieren. Das sind junge Menschen, das sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das sind vor allen Dingen auch die Frauen gewesen, die nach der Familienarbeit wieder einen Weg zurück in den Arbeitsmarkt
suchten.
({7})
Da erinnere ich mich an eines: Als wir im letzten Jahr
als eine der ersten Maßnahmen das Programm „100 000
Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ hier aufgelegt haben, hat Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender gesagt, das sei eine Beschäftigungstherapie für junge Leute,
und wir veräppelten die. Was ist daraus geworden?
Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?
Nein.
Keine
Zwischenfragen.
Mehr als 220 000
junge Menschen haben in einem Jahr an diesem Programm teilgenommen. Es ist uns zum ersten Mal trotz
noch steigender Zahlen von Schulabgängerinnen und
Schulabgängern gelungen, wirklich eine Entspannung auf
dem Lehrstellenmarkt zu erreichen.
Nun kann man darüber diskutieren, ob die Wirtschaft
ihre Verpflichtung so erfüllt, wie sie sie denn wahrnehmen
sollte. Ich sage, da haben sie noch einiges zu tun. Aber eines ist doch klar: Ich bin als Politikerin in den Deutschen
Bundestag gewählt worden, und daher muss ich mir immer die Frage stellen, was ich tue, wenn die Wirtschaft das
nicht macht. Sehe ich zu, wie immer mehr junge Menschen nach der Schule überhaupt keine Perspektive erhalten, wie das zu Ihren Zeiten der Fall war,
({0})
oder sage ich, als Staat begleiten wir dies? Da, wo das
noch nicht möglich ist, ist es mir lieber, ein Jugendlicher
ist in einer überbetrieblichen Ausbildung, als dass er
überhaupt keine Ausbildung erhält und damit auf der
Straße liegt und überhaupt keine Chancen mehr hat.
({1})
Als ich mir angehört habe, was hier über Bildung gesagt wurde, da fiel mir wirklich manchmal der Draht aus
der Mütze. Sie hatten einen Zukunftsminister, der Jahr für
Jahr die Ausgaben für Bildung und Forschung gekürzt hat.
Wir machen eine Politik, die darauf hinausläuft, die Mittel dafür zu erhöhen und sie wirklich in neue Berufe zu investieren, um dafür zu sorgen, dass junge Menschen wieder eine Chance bekommen.
Gestern las ich, dass meine Kollegin Böhmer gesagt
hat, wir brauchten eine Bildungsinitiative, damit hier etwas geschieht. Schon im Dezember 1998 hat die Bundesbildungsministerin mit dem Bundeskanzler und der gesamten Bundesregierung ein Programm „Innovation und
Arbeitsplätze im 21. Jahrhundert“ aufgelegt, das mit der
Initiative „Frauen ans Netz“ und der Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ kombiniert ist.
Hier ist eine ganze Menge passiert. Wenn ich Sie reden
höre, glaube ich, dass Sie gar nicht mehr in die Hochschulen und Schulen gehen, um zu sehen, was bei den jungen Menschen los ist. In den Hochschulen sind heute aufgrund der Initiative der Bundesbildungsministerin Programme aufgelegt worden, wie Doing, wie Being, wie
Going und anderes mehr. Diese Programme haben wir
schon lange in den Schubladen liegen, weil wir seit Jahren wissen, dass wir nicht genügend Nachwuchskräfte im
Bereich der Ingenieurwissenschaften haben. Unter der alten Bundesregierung haben wir immer wieder Anträge
gestellt, damit wir die Möglichkeit bekommen, in die
Schulen zu gehen, um mehr junge Menschen für diesen
Beruf anzuwerben und um uns dabei auf junge Frauen
zu konzentrieren, die das Qualifikationspotenzial und
die Qualifikationsreserve von morgen sind. Die sagen:
Danke. Unter dieser Bundesregierung ist es jetzt möglich. Wir können die Projekte jetzt starten, dass wir
mehr Frauen in den Ingenieurwissenschaften ausbilden
und mehr Ausbildungsplätze schaffen. Die Bundesbildungsministerin hat im Bündnis für Arbeit dafür gesorgt,
dass die Zahl der Ausbildungsplätze im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bis zum
Jahre 2003 auf 60 000 erhöht wird. Das, meine Damen
und Herren, ist eine aktive Politik für mehr Arbeitsplätze.
({2})
Das ist etwas anderes, als entweder auf Tauchstation zu
gehen oder immer alles abzulehnen und schlecht zu machen.
Ulla Schmidt ({3})
Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Protzner?
Ich möchte nur nicht,
dass der Kollege Laumann beleidigt ist.
({0})
- Also gut.
Bitte
schön, Herr Protzner.
Sie haben die Initiativen der Bundesregierung angesprochen. Bei den ITBerufen gibt es eine ganz interessante Initiative der Bundesregierung, vertreten durch das Wirtschaftsministerium. Dieses hat mir jedenfalls Auskunft gegeben. Ein
großer deutscher Verband kam auf die Bundesregierung
zu, um den Ausbildungsberuf des IT-Assistenten zu
schaffen. Hierbei wurde von 10 000 bis 20 000 Ausbildungsplätzen gesprochen. Die Bundesregierung hat dies
dem Verband erfolgreich ausgeredet, wie mir das Bundeswirtschaftsministerium mitgeteilt hat. Halten Sie es
für den richtigen Weg, den Verbänden den Vorschlag,
neue Berufe im IT-Bereich zu schaffen, auszureden?
Ich weiß nicht, welcher Verband es war und welche Berufe gemeint sind. Wie
ich diese Bundesregierung kenne, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie auch nur eine Initiative für mehr Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze verhindern würde.
({0})
Den konkreten Fall können wir vielleicht später besprechen, auch mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Vielleicht gab es hier einen anderen Haken.
Ich kenne Initiativen, die gemacht wurden. Zum Beispiel hat die Firma Ford in Köln Stipendien vergeben, damit junge Frauen in Ingenieurberufen ausgebildet werden.
In meiner Stadt, einer Hochschulstadt, gibt es eine Initiative der Wirtschaft, die besagt, wir wollen mehr Studienplätze in diesem Bereich haben, wir wollen mehr ausbilden und wir wollen uns als Industrie daran beteiligen, dass
mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das ist der
Weg, den wir in Zukunft beschreiten müssen. Auch die Industrie hat hier einiges aufzuholen. Die Bundesregierung
aber ist dabei, alle Rahmenbedingungen zu schaffen, damit in diesem Bereich keine Behinderungen mehr stattfinden, sondern mehr Ausbildung betrieben wird.
({1})
Mir kommt es dabei darauf an, dass die Frauen nicht zu
kurz kommen. Von dieser Stelle kann ich an alle Frauen
und jungen Mädchen nur appellieren: Wenn ihr irgendwo
auch nur das Gefühl habt, dass diese Technologien für
euch interessant sind, so macht euch schlau, versucht damit umzugehen, versucht, diese Technologien zu beherrschen! Denn das sind die Zukunftsberufe und die Berufe,
wo endlich aufgrund des großen Qualifikationsbedarfs
wahr gemacht werden kann, dass Frauen ebenso an der
obersten Stelle stehen, wie es die Männer über Jahrhunderte in diesem Land getan haben. Damit treiben wir die
Gleichstellung in diesem Land voran.
({2})
Deshalb begrüße ich alle Maßnahmen der Bundesregierung. Ich begrüße aber auch die Maßnahmen des Landes Nordrhein-Westfalen, wo jede Schule an das Internet
angeschlossen werden soll. Es muss eine Ausbildung für
Lehrerinnen und Lehrer geben, damit wir endlich ausgebildete Menschen in den Schulen haben, die anderen Lehrern, aber auch den Mädchen und Jungen beibringen können, was sie für morgen brauchen. Der Einstieg in diese
Informations- und Kommunikationstechnologien ist für
die heutige Jugend eine Frage der Chancengleichheit von
morgen. Wer sie nicht beherrscht, ist genauso schlimm
dran, als hätte unsereiner weder rechnen noch lesen noch
schreiben gelernt. Das muss jeder im Kopf behalten.
({3})
Deshalb hat die Bundesregierung mit dem Programm
„Frau und Beruf“ Schritte eingeleitet, dass auch wirklich
mehr Frauen Chancen in den neuen Berufen haben.
Wir haben mit dem Elternurlaubsgesetz einen ersten
Schritt gemacht, denn wir sind der Meinung: Die Frage
nach der Beschäftigung von Frauen kann nur dann beantwortet werden, wenn auch die Männer einen Teil der Familienarbeit übernehmen und diese Arbeit zwischen den
Ehepartnern gerecht aufgeteilt wird.
Die Berufsfähigkeit von jungen Frauen ist nicht nur
aus ökonomischen Gründen wichtig, weil die Wirtschaft
auf dieses Qualifikationspotenzial angewiesen ist; vielmehr werden die Qualifikation von Frauen und die Chancen der Frauen, im Beruf zu bleiben und nicht ganz aus
ihm aussteigen zu müssen, für die Familie der Zukunft
und für die soziale Sicherheit der Familien eine ganz eminente Bedeutung haben; denn wir alle wissen: Eine lebenslange Erwerbsbiografie ist auch für Männer nicht
mehr das Normale, wie es in der Vergangenheit der Fall
war. Die Familie der Zukunft wird darauf angewiesen
sein, dass einmal die Frau und einmal der Mann alleine für
den Unterhalt der ganzen Familie aufkommen muss, weil
der andere lebensbegleitend lernen muss oder weil er sich
in einem neuen Beruf orientieren muss. Das ist Zukunft;
das ist Politik für mehr Beschäftigung! Ich wünsche mir,
dass Sie davon in Bayern berichten, weil die dortige Förderung von Frauen noch ein bisschen schlecht ist.
({4})
Angesichts dessen, was heute angesprochen worden
ist, kann man eines feststellen: Wir brauchen mehr flexiblere Arbeitszeitmodelle. Aber wir müssen auch das Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung mehr als bisher
ausbauen. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen appellieren: Heute jammern sie, weil wir den Anspruch
junger Eltern auf Teilzeitarbeit umsetzen wollen. Die Unternehmen haben auch gejammert, als sie feststellten, dass
sie es versäumt hatten, genügend Menschen für die Berufe
in den Informations- und Kommunikationstechnologien
auszubilden. Dieses Versäumnis müssen wir gerade aufarbeiten.
Wenn die Unternehmen in diesem Bereich über ausreichend qualifiziertes Personal verfügen, dann werden ein
ausreichendes Angebot an Kinderbetreuung und familienfreundliche Arbeitszeiten einer der Standortfaktoren der
Zukunft sein. Von diesen Faktoren wird abhängen, ob sich
die Wirtschaft entwickeln kann und ob Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die tatsächlich die Gründung von Unternehmen begünstigen. Die Steuerlast dieser neuen Unternehmen wird sinken, weil wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht haben. Auch die
Beitragslast dieser Unternehmen wird sinken, weil wir
eine Rentenreform durchgeführt haben, weil die Arbeitslosigkeit abnimmt und deswegen die Kosten für die Arbeitslosigkeit sinken werden. Diese Unternehmen werden
gleichzeitig über gut bis bestens qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfügen, weil diese Bundesregierung gesagt hat: Bei uns soll niemand Geld für
Nichtstun bekommen; wir investieren das Geld, über das
wir verfügen, lieber in die Ausbildung der Menschen und
damit in deren Zukunft. Ich glaube, hier sind wir in
Deutschland auf dem richtigen Weg.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen14/2909 und 14/2988 in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann,
Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei
- Drucksache 14/1662 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({1})
- Drucksache 14/2745 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckardt Barthel ({2})
Wolfgang Zeitlmann
Marieluise Beck ({3})
Dr. Max Stadler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Kollege Hartmut Koschyk.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Gesetzes über das
Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei, den wir jetzt diskutieren, steht in einem ganz engen
Zusammenhang mit der Regelung der zukünftigen Zuwanderung nach Deutschland. Der hierfür in der
Bundesregierung zuständige Bundesinnenminister Otto
Schily sagt - wir stimmen ihm zu -: Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten. Wir
fragen allerdings: Warum tut diese Bundesregierung dann
nichts, um die Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen?
Vergeblich wartet dieses Land auf Maßnahmen oder
Aktivitäten der Bundesregierung; stattdessen schießt der
Bundeskanzler bei der CeBIT in Hannover aus der Hüfte
und kündigt eine so genannte Green Card für IT-Spezialisten an. Nach einem langen Hin und Her innerhalb der
Bundesregierung liegen jetzt Vorschläge vor, die unweigerlich zu einer Erhöhung der Zuwanderung auf dem Verordnungswege führen werden. Natürlich stellt sich die
Frage, ob der Bundestag dadurch bewusst umgangen
werden soll.
Notwendig wäre ein Gesetz zur Steuerung künftiger
Zuwanderung nach Deutschland; denn bevor über 20 000
IT-Spezialisten nach Deutschland geholt werden, muss
zunächst die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland
eingedämmt werden. Zu dieser Frage äußert sich der Bundeskanzler allerdings überhaupt nicht. Dies rief den innenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion,
den Kollegen Wiefelspütz, auf den Plan, der in der „Welt“
von dieser Woche sowohl den Bundeskanzler als auch den
SPD-Generalsekretär aufforderte, sich endlich zu diesem
Thema zu äußern. Der Kollege Cem Özdemir von den
Grünen wurde sogar noch deutlicher und sagte:
Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich der Kanzler
endlich in die Debatte einschalten würde.
({0})
Auf der anderen Seite erklärt der Kollege Wiefelspütz
gegenüber der „Berliner Zeitung“, ein Einwanderungsgesetz sei kein Projekt für diese Legislaturperiode. Im Klartext: Es besteht nicht die Absicht, die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen. Cem Özdemir
von den Grünen wiederum begrüßte,
({1})
dass der Bundeskanzler mit der Green-Card-Debatte eine
Diskussion über die weitere Zuwanderung nach Deutschland und über ein Einwanderungsgesetz in Gang gesetzt
habe und er forderte den Bundeskanzler auf,
({2})
Ulla Schmidt ({3})
sich endlich an der Debatte zu beteiligen.
Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung für dieses
Wirrwarr in der rot-grünen Koalition, was das Thema Zuwanderung anbelangt. Der Bundeskanzler selbst hat kein
Konzept. Teile der Bundestagsfraktionen von Rot und
Grün wollen eine Erhöhung der Zuwanderung nach
Deutschland. Der zuständige Innenminister Schily spitzt
in der Zuwanderungsfrage den Mund, ohne aber zu pfeifen.
Die Position von CDU und CSU ist dagegen eindeutig.
Das Einfallstor für ungeregelte Zuwanderung nach
Deutschland ist und bleibt das Grundrecht auf Asyl.
Wenn über Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung
gesprochen wird, dann muss auch das Grundrecht auf
Asyl auf den Prüfstand. Doch schon eine Diskussion darüber wird von der Regierungskoalition in Bausch und
Bogen abgelehnt.
Stattdessen werden immer weitere Forderungen erhoben: Erleichterungen des Familiennachzugs, Erleichterungen bei Ermessenseinbürgerungen, Ausweitung von
Altfallregelungen für abgelehnte Asylbewerber, Ausweitung auf nicht staatliche Verfolgung. All dies weckt Hoffnung und schafft weiteren Anreiz für Zuwanderung nach
Deutschland. Durch die von der rot-grünen Bundesregierung verantwortete Politik wird die Zunahme illegaler
Einreise nach Deutschland geradezu gefördert. Schleuserbanden machen sich dies zunutze. Dem gilt es vorzubeugen.
Aus diesem Grund hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur
Einrichtung einer Warndatei einen ersten wichtigen
Schritt vorgeschlagen. Wir wollen, dass der Kreis der Nutzer des Ausländerzentralregisters um die Träger der Sozialhilfe und die für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständigen Behörden erweitert wird,
weil sie bestimmte Informationen aus dem Ausländerzentralregister benötigen, um zum Beispiel gerade den
Missbräuchen bei Leistungen für Asylbewerber zu begegnen.
Die Informationsmöglichkeiten des Auswärtigen Amtes und der deutschen Auslandsvertretungen müssen verbessert werden, um Visaerschleichungen wirksamer verhindern zu können. Auch die Polizei benötigt bei allgemeinen Personenkontrollen bessere Informationen aus
dem Ausländerzentralregister, um schnell feststellen zu
können, ob sich Personen illegal in Deutschland aufhalten.
Lassen Sie mich zu den Sozialämtern kommen. Sie
müssen diejenigen Daten erhalten, die sie brauchen, um
im Einzelfall die Anspruchsberechtigung eines Antragstellers zu überprüfen und gegebenenfalls die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhindern.Sozialbetrüger, die bei mehreren Sozialämtern einen
Antrag auf Leistungsgewährung stellen, können dadurch
schneller ausfindig gemacht werden.
Von besonderer Bedeutung ist auch die Information, ob
für einen Ausländer eine Verpflichtungserklärung eines
Dritten hinsichtlich der Sicherstellung des Lebensunterhalts und der Übernahme der Ausreisekosten abgegeben
würde. Oft genug, liebe Kolleginnen und Kollegen,
kommt es nämlich vor, dass jemand nahezu professionell
im Massenverfahren Einladungen ausspricht, Verpflichtungserklärungen abgibt, tatsächlich aber überhaupt
nicht leistungsfähig ist. Hier können Wiederholungsfälle
vermieden werden.
Für uns besonders wichtig ist die Erweiterung bzw. die
Verbesserung der Zugriffsmöglichkeiten der Polizeibehörden auf das Ausländerzentralregister;
({4})
denn die Erfahrungen nach dem Wegfall der Grenzkontrollen haben gezeigt, dass sich die diesbezüglichen Anforderungen gewandelt haben. Davor können Sie in der
rot-grünen Bundesregierung die Augen nicht verschließen.
Denn die Anforderungen werden sich noch weiter wandeln, wenn im Zuge der EU-Osterweiterung Grenzkontrollen zunehmend auch an den deutschen Ostgrenzen
wegfallen.
({5})
Deswegen ist der einheitliche Zugriff aller Dienststellen
des Bundesgrenzschutzes und der Polizeien der Länder
unbedingt notwendig.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Zusammenhang mit Demonstrationen ausländischer Gruppierungen in Deutschland bringt der Zugriff auf das Ausländerzentralregister für die Polizeibehörden erhebliche Beschleunigungseffekte. Es können unmittelbar greifbare
Erkenntnisse über den ausländerrechtlichen Status einer
zu überprüfenden Person für die Bewertung des polizeilichen Sachverhalts und für die Identitätsfeststellung insbesondere beim Nichtmitführen von Ausweisunterlagen
erlangt werden. Dadurch kann die Dauer der Eingriffsmaßnahme verkürzt werden. Das kommt nicht zuletzt gerade auch den von einer solchen Maßnahme betroffenen
Personen zugute.
Lassen Sie mich etwas zu den Zahlen der illegalen Zuwanderung nach Deutschland sagen. Die Zahlen sind
immens: allein 37 789 unerlaubte Einreisen im Jahre
1999. Stark angestiegen sind die Feststellungen unerlaubt
Eingereister im Inland. Im zurückliegenden Jahr griff der
Bundesgrenzschutz 2 749 Personen auf. Über 11 000 ausländische Staatsangehörige wurden 1999 durch Schleuser
nach Deutschland gebracht. Allein an den deutschen
Grenzen wurden im vergangenen Jahr 3 410 Schleuser
festgenommen. Das war eine Steigerung gegenüber dem
Vorjahr um 8 Prozent.
Schleuser, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
das ist organisierte Kriminalität.
({7})
Sie nutzen inzwischen modernste Kommunikationsmittel, beschaffen und fälschen Dokumente, besorgen Unterkünfte für Zwischenaufenthalte und betreiben für ihr
Schleuserwesen eine Werbung im großen Stil.
({8})
- Ja, es gibt auch Länder in Deutschland mit „Schleußer“Unwesen, Herr Marschewski, da haben Sie völlig Recht.
Aber lassen Sie mich zum Kern der Debatte zurückkommen. Wie die Praxis im Schleuserwesen Richtung
Deutschland zeigt, geht der Trend ganz klar hin zu Großgruppenschleusungen.
Lassen Sie mich angesichts dieser Situation auf einen
Vorschlag einer grünen Europakollegin verweisen, nämlich der grünen Europaabgeordneten Ilka Schröder. Es
verschlägt einem schon die Sprache, liebe Kolleginnen
und Kollegen, wenn diese Kollegin im Europäischen Parlament - ich darf das hier deutlich machen - in ihrem parlamentarischen Informationsdienst die finanzielle Unterstützung von Fluchthelfern aus der EU-Kasse für notwendig erklärt. Frau Europakollegin Schröder erklärte
wörtlich, viele Verfolgte könnten einzig durch die Hilfe
von Schleusern in die Festung Europa kommen. Die
Tätigkeit von Schleuserbanden bezeichnet sie als humanitäre Maßnahme.
({9})
Die Gebühren für das Schleuserwesen seien für die Betroffenen zu hoch, und deshalb müssten sie durch die Europäische Union subventioniert werden. Ich frage Sie: In
welcher Welt leben wir eigentlich, dass sich eine deutsche
Europaabgeordnete der Grünen zu einer Komplizin von
Schleppern und Schleusern macht?
({10})
Die Zuwanderungsproblematik wird für die Sicherheit
unseres Landes immer drängender. Allein der Bundesgrenzschutz hat 1998 über 60 000 Mal die Einreise zum
Beispiel wegen unzureichender Grenzübertrittsdokumente nicht gestattet. Über 30 000 Zurückschiebungen
und fast 40 000 Abschiebungen erfolgten 1998 durch den
Bundesgrenzschutz. Diese Zahlen machen doch deutlich,
dass in bestimmten Fällen eine Überprüfung mit der von
uns heute hier geforderten Gesetzesänderung erheblich
erleichtert werden kann,
({11})
denn bei all diesen Zahlen darf man nicht übersehen, dass
die Dunkelziffer ja noch wesentlich höher ist.
In diesem Zusammenhang ein letztes Wort zur Visapolitik: Das Auswärtige Amt hat seine Visumspraxis
geändert. Visa für Deutschland werden künftig nach
neuen gelockerten Regeln erteilt. Ist das wieder ein Alleingang der rot-grünen Bundesregierung oder wurde sich
hier - so müssen wir die Bundesregierung fragen - mit unseren EU-Partnern abgestimmt? Vielleicht könnte uns das
die Bundesregierung einmal verdeutlichen.
({12})
Tatsache ist, dass diese Anweisung des Auswärtigen
Amts sämtliche Bemühungen um die Abwehr illegaler
und krimineller Einwanderung unterläuft. Eine verstärkte
Kontrolle an den Außengrenzen unter gleichzeitiger
Erleichterung der Visaerteilung ist doch völlig kontraproduktiv. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang zum
Beispiel das neue Kriterium, ein Visum zu erteilen, wenn
sich in der Abwägung der tatsächlichen Umstände, die für
oder gegen die Erteilung eines Visums sprechen, Pro und
Kontra die Waage halten. Die Weisung von Außenminister Fischer bedeutet für geschickt agierende Kriminelle
eine Einladung, das Schleuserwesen nach Deutschland zu
verstärken. Das ist der falsche Weg. Deshalb schlagen wir
heute diese Gesetzesänderung vor.
Durch eine zentrale Speicherung und Bereitstellung
der Daten aller Personen und Organisationen, die im Zusammenhang mit den bereits genannten Missbräuchen wo
auch immer in Erscheinung getreten sind, werden alle
Stellen, die über Visaanträge zu entscheiden haben, in die
Lage versetzt, eine effizientere Prüfung vorzunehmen.
Wir wissen, dass Sie unsere Gesetzesänderung vor
allem aufgrund von angeblichen Verstößen gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen ablehnen. Auch dagegen
ließe sich eine Vielzahl von Argumenten anführen, da
durch die von uns heute vorgeschlagene Gesetzesänderung der datenrechtliche Schutz, der bislang durch den
entsprechenden Umgang, das Abfragen und Zur-Verfügung-Stellen von Daten des Ausländerzentralregisters gewährleistet wird, in keiner Weise negativ berührt wird.
Herr Kollege
Koschyk, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Deshalb appelliere
ich an die Mehrheitsfraktionen hier im Hause: Versagen
Sie sich nicht dieser dringend notwendigen Gesetzesänderung, damit endlich illegale Zuwanderung nach
Deutschland effektiver durch die entsprechenden Einrichtungen unseres Landes bekämpft werden kann!
Herzlichen Dank.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Eckhardt Barthel.
Meine Damen und
Herren! Herr Koschyk, ein Satz vorweg: Angstmache ersetzt keine Politik.
({0})
Wenn Sie Ihre Darstellungen und das Horrorszenario, das
Sie hier aufgezeigt haben, als sachlich empfinden,
({1})
dann würde auch gelten, dass jedes Gruselkabinett so
harmlos wie ein Freizeitpark ist. Ich kann wirklich nur davor warnen, mit solchen Angstszenarien
({2})
an ein ernstes Problem - Missbrauch ist in der Tat ein ernstes Problem, an das wir heran müssen - heranzugehen. In
dieser Form halte ich das wirklich für unverantwortlich.
({3})
Am Anfang habe ich mich, Herr Koschyk, gefragt, ob
Sie zu Ihrem Antrag reden oder ob Sie wieder die gesamte
Palette des Ausländer- und Asylbereiches auf die Tagesordnung setzen. Sie haben über Zuwanderung, IT-Spezialisten, Abschaffung von Asylrecht, über Visaproblematik,
Altfallregelungen und anderes gesprochen.
({4})
Sie haben dann auch noch Widersprüche in der rot-grünen
Regierung zu konstruieren versucht.
Ich möchte Ihnen einmal an einem Beispiel ein paar
Dinge zu den Widersprüchen sagen, die bei Ihnen zu einem Thema bestehen, das Sie für mich überraschend hier
angesprochen haben. Es betrifft die IT- bzw. GreenCard-Frage. Sie werfen uns vor, dass sich der Bundeskanzler und seine Leute nicht äußerten. Sie äußern sich,
das gebe ich zu, aber der eine sagt hü und der andere hott.
Das ist Ihre Position. Ihren Freund Rüttgers und Nordrhein-Westfalen darf man ja heute beispielsweise einmal
erwähnen.
({5})
- Das ist zur Sache. Es ist doch ein parlamentarischer
Brauch, dass man auf den Vorredner eingeht. - Ihr Kollege Rüttgers aus NRW redet von „Kinder statt Inder“ und
Ihr Schatzmeister spricht davon, dass er zu denen gehört,
die Herrn Schröder gedrängt haben, die Green Card einzuführen. Das ist die Logik und die Homogenität innerhalb der CDU/CSU!
Ich will aber versuchen, zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zu sprechen. Wie wir alle wissen, ist es der zweite
Aufguss desselben Inhalts, vielleicht ist der Umfang ein
bisschen dünner geworden. Ich möchte den Kollegen
Stadler von der F.D.P., der heute leider nicht anwesend ist,
wofür er sicher einen guten Grund hat
({6})
- richtig -, zitieren. Er hat zu diesem Gesetzentwurf der
CDU/CSU gesagt, dass es sich um ein „Antragsrecycling“
handelt. Ich finde, das ist ein schöner Begriff. Was man
einmal nicht durchbekommen hat, versucht man ein zweites Mal - möglicherweise bei anderen Mehrheitsverhältnissen - durchzubekommen. Aber die Mehrheitsverhältnisse, die Sie brauchen, sind für Sie zurzeit noch schwieriger zu erreichen - Gott sei Dank.
Die F.D.P. hat damals Ihren Gesetzentwurf wohlbegründet abgelehnt. Sie hat es auch in den beratenden Ausschüssen getan. Sie wissen also, was Sie heute erwartet.
Da nehme ich nichts vorweg. Die Begründung, die die
F.D.P. für die Ablehnung Ihres Gesetzentwurfes hatte, als
sie noch Ihr Koalitionspartner war, ist nicht falsch. Das
muss ich sagen, auch wenn die Begründung von der F.D.P.
kommt.
({7})
Sie können auch nicht erwarten, dass die neue Koalition
diesem Gesetzentwurf plötzlich zustimmt.
Natürlich kann man ein Gesetz nach fünfjähriger Laufzeit überprüfen. Man kann schauen, ob Veränderungen
notwendig sind. Kein vernünftiger Mensch kann angesichts des Missbrauchs in diesem Bereich sagen - das ist
doch keine Frage -, dass wir nichts zu tun brauchen. Was
mich aber an Ihrer Strategie so ärgert, ist: Sie geben das
Ziel Missbrauchsbekämpfung vor. Dann schlagen Sie ein
Instrument vor, das aber nicht geeignet ist, das Ziel zu erreichen, und das außerdem noch viele negative Folgewirkungen haben wird. Daher lehnen wir den Gesetzentwurf
ab. Sie behaupten dann aber, wir hätten das Ziel Missbrauchsbekämpfung nicht. Das ist eine Schlussfolgerung,
die ich politisch für nicht seriös halte.
Was Sie hier vorlegen, entspricht angesichts der negativen Wirkungen weder den Notwendigkeiten der Missbrauchsbekämpfung noch berücksichtigt es die daraus
folgenden Einschränkungen anderer Rechtsgüter. Es gibt
schlicht keine Begründung und Rechtfertigung für solche
massiven Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung der in Deutschland lebenden Ausländer.
Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an dem
wir uns häufig zu orientieren versuchen, hat der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf absolut nichts mehr zu tun.
Ich möchte einen Slogan von Ihnen mit einem neuen Inhalt versehen. Das Motto Ihres vorgelegten Gesetzentwurfs ist „Datenflut statt Datenschutz“.
({8})
Was ich besonders dramatisch finde, ist, dass sich dieser Gesetzentwurf auf einen sehr sensiblen Bereich bezieht, nämlich auf den Bereich der Minderheitenpolitik.
Sie wissen, dass viele Menschen nicht deutscher Herkunft
in diesem Lande glauben, dass sie von einem großen Teil
der Gesellschaft als Bedrohung angesehen werden. Diese
Einschätzung ist zwar nur subjektiv, aber sie ist vorhanden. Wir müssen erreichen, dass dieses Gefühl nicht
Raum greift. Wir müssen den Betroffenen deutlich machen, dass wir nicht in diese Richtung tätig werden wollen. Wenn diese Atmosphäre in der Gesellschaft vorhanden ist, Herr Koschyk, können selbst die besten integrationspolitischen Instrumente nicht mehr greifen. Ich setze
einmal voraus, dass auch Sie nicht wollen, dass positive
Eckhardt Barthel ({9})
Integrationsinstrumente verpuffen. Wir brauchen die Integration.
({10})
Die Ablehnung Ihrer globalen Erfassungs-, Speicherungs- und Zugriffsinitiative heißt allerdings nun nicht,
dass man sich nicht Einzelpunkte des AZR-Gesetzes ansieht.
({11})
- Das haben wir am Anfang gesagt und sagen es auch
jetzt. Natürlich muss man sich diese Punkte einmal ansehen.
({12})
Wir werden es bloß ein bisschen anders machen. Wir
werden nach Kriterien vorgehen. Wir werden erstens fragen, wo eine Notwendigkeit besteht.
Das Zweite ist die Wirksamkeit der angedachten Änderung. Wirkt das überhaupt oder ist es nur plakativ? Das
Dritte ist: Wir werden nach der Verhältnismäßigkeit der
einzusetzenden Instrumente fragen: Viertens werden wir
auch fragen. Was sind mögliche negative Folgewirkungen? Das ist ein seriöses Vorgehen, das werden wir tun.
Das, was Sie hier gemacht haben, ist allerdings in der Tat
eine Ablehnung aller datenschutzrechtlichen Vorstellungen, die man haben kann.
Ein Anschauen des AZR ist zum Beispiel nötig bei der
Weiterübermittlung von Daten zur Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Dubliner Übereinkommen. Dafür
muss eine einwandfreie Rechtsgrundlage gegeben werden. Und die Änderungen sind auch zur Umsetzung der
EU-Datenschutzrichtlinie nötig, die Sie übrigens in Ihrem
Antrag überhaupt nicht drin haben.
Aber es kann doch nicht sein, so wie Sie es vorhaben,
dass zum Beispiel sämtliche Personen gespeichert werden, zu deren Gunsten eine Verpflichtungserklärung nach
§ 84 Abs. 1 Ausländergesetz abgegeben wurde, ohne zu
wissen, ob diese ein Visum überhaupt erhalten haben oder
nicht. Was ist das für eine Prävention? Die geht nun wirklich in der Tat zulasten der Betroffenen.
Ebenso benötigen wir keine Rechtsgrundlage für die
Abgabe von Daten aus dem AZR an die Staatsangehörigkeitsdatei, weil wir ja noch gar nicht wissen und entschieden haben, ob die Staatsangehörigkeitsdatei überhaupt fortgeführt werden soll.
Der Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages liegt
natürlich in dem Gesetzentwurf für eine Warndatei. Es
kann doch wohl nicht sein, dass zum Beispiel Daten von
Personen gespeichert werden, die als Gastgeber eine Verpflichtungserklärung nach § 84 Ausländergesetz abgeben
und alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllen,
aber dann praktisch verantwortlich dafür gemacht werden, dass der einreisewillige Ausländer zum Beispiel gefälschte Dokumente vorgelegt hat. Wie Sie wissen, ist gerade dieses ganz scharf vom Datenschutzbeauftragten kritisiert worden. Er hat Ihnen damals mehrere Punkte
vorgelegt, die Sie allerdings nicht eingearbeitet haben. Es
gehört schon eine ziemliche Chuzpe dazu, dass Sie sagen,
datenschutzrechtliche Probleme gebe es in Ihrem Antrag
nicht. Das ist toll.
Meine Damen und Herren, wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab, weil für eine so weit gehende Erfassung, Speicherung und Abrufung von Daten keine Notwendigkeit
besteht und die Folgewirkung Ihres Vorhabens für das
Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten in
diesem Lande überaus schädlich wäre.
Ich bedanke mich.
({13})
Für die Fraktion der
F.D.P. spricht jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten wird das
von der CDU/CSU vorgelegte Gesetz ablehnen. Wir haben das in der alten Koalition getan - es ist Ihnen seinerzeit nicht gelungen, ein solches Gesetz so zu
beschließen -, wir werden das selbstverständlich in dieser
Legislaturperiode als Oppositionspartei genauso handhaben, aus zwei einfachen Gründen.
Der erste Grund ist: Ihr Gesetz bekämpft nicht wirksam
Schleuserkriminalität. Der zweite Grund ist: Ihr Gesetz
belastet aber eindeutig Unternehmen, die auf zunehmende
Internationalität angewiesen sind.
({0})
Es ist ein Gesetzentwurf, der an den Interessen einer globalisierten Wirtschaft und einer gut funktionierenden Gesellschaft maßlos vorbeigeht. Das haben wir Ihnen in der
alten Koalition gesagt, das werden wir Ihnen auch in dieser Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag sagen.
Jeder hier wird doch der Meinung sein, dass Schleuserkriminalität und auch Kriminalität, wenn es um Sozialhilfemissbrauch geht, bekämpft werden muss. Ich
kenne keinen Kollegen hier im Hause, der eine andere
Meinung vertreten würde. Das, was Sie aber vorschlagen,
ist erstens drastisch untauglich und zweitens eklatant
schädlich für diejenigen, die in Deutschland auf ein Stück
Internationalität angewiesen sind, wenn sie überhaupt international wettbewerbsfähig bleiben wollen.
(Beifall bei der F.D.P. - Erwin Marschewski
[Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das geht doch
an der Sache vorbei! - Albert Deß [CDU/CSU]:
Bei 4 Millionen Arbeitslosen!
Einer Ihrer großen Fehler in diesem Gesetzentwurf
steht im § 2 des Gesetzes über die Warndatei, die Sie
vorschlagen. Dort können wir den Anlass der Speicherung nachlesen. Das bedeutet im Klartext, dass in diese
Eckhardt Barthel ({1})
Warndatei auch völlig unbescholtene Unternehmen künftig aufgenommen werden müssten, nur weil derjenige, der
zum Beispiel aus dem Ausland als Spezialist eingeladen
wurde, später vielleicht wegen veränderter politischer
Umstände im Heimatland hier einen Asylantrag stellt.
Das ist ein Abschreckungsinstrument für die gesamte international agierende Wirtschaft, was Sie hier vorschlagen.
({2})
Das, was Sie Warndatei nennen, ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Warnung an die Wirtschaft.
Sie warnen herzlich wenig die Schleuser. Sie glauben
doch nicht, dass Sie irgendeinen kriminellen Schleuser
oder irgendeine kriminelle Schleuserbande dadurch abschrecken können, dass sie plötzlich in der Warndatei
sind. Der Schleuser wird sowieso steckbrieflich gesucht.
Auch wenn Sie sein Bild auf jeder Häuserwand plakatieren, wird ihn das herzlich wenig interessieren. Das sind
Leute, die im organisierten kriminellen Milieu agieren; da
haben Sie völlig Recht. Es interessiert sie herzlich wenig,
ob sie auch noch in eine Warndatei aufgenommen werden.
Aber diejenigen, die darauf angewiesen sind, dass
Fachkräfte nach Deutschland kommen, um zum Beispiel
in der Computertechnologie international wettbewerbsfähig zu bleiben, werden abgeschreckt, weil ihnen im
Klartext gesagt wird: Du bleibst verantwortlich für den
Spezialisten, den du eingeladen hast, selbst wenn du lange
Zeit später mit ihm überhaupt nichts mehr zu tun hast und
wenn du sein Handeln nicht mehr beeinflussen kannst.
Sie haben einen außergewöhnlich schlechten Vorschlag gemacht. Er war in der alten Legislaturperiode
schlecht und seine Umsetzung ist deswegen damals vom
Bundesjustizministerium und vom Bundesdatenschutzbeauftragten verhindert worden. Sie wird auch hier, soweit
ich das sehe, von allen Fraktionen, mit Ausnahme der
CDU/CSU-Fraktion, verhindert werden und das ist gut so.
Sie sind mit diesem Entwurf ziemlich alleine.
Ich sage Ihnen auch: Dieser Vorschlag zeigt das gleiche Denken wie bei Ihrer Propaganda „Kinder statt Inder“.
({3})
Sie müssen endlich in der modernisierten, globalisierten
Welt ankommen. Sie können mit solchen wirtschaftsfeindlichen Gesetzesinitiativen keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken.
({4})
Ändern Sie diesbezüglich nach der Landtagswahl bitte
Ihre Politik. Denn ich befürchte, dass Sie sich sonst in dieser Frage immer mehr von der Wirtschaft entfernen.
Wir sind übrigens - das wissen auch die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD und von den Grünen, also den
beiden Regierungsparteien -, wenn es um die Frage der
Green Card geht, mit den Ausführungen überhaupt nicht
einverstanden. Wir halten das für zu bürokratisch. Wir teilen die Kritik an dem, was bisher vorgelegt worden ist.
Wir werden im Parlament insbesondere noch darüber zu
reden haben, ob eine solche Green Card, wie Sie sie nennen, mit der Befristung überhaupt wettbewerbsfähig sein
kann. Denken Sie beispielsweise an die Versuche der Anwerbung von Computerspezialisten aus Kalifornien. Die
Kalifornier lachen sich ins Fäustchen, dass wir solche hohen bürokratischen Hürden aufbauen und solche Restriktionen schaffen. Wir müssen endlich begreifen, dass wir
die Zuwanderung nach Deutschland besser steuern und
auch begrenzen müssen, dass wir sie aber auch an den eigenen nationalen Interessen ausrichten müssen.
({5})
Ein nationales Interesse unserer Gesellschaft heißt: Die
Intelligenz, die es auf der Welt gibt, muss in Deutschland
arbeiten können, weil sonst die Arbeitsplätze im Silicon
Valley oder in Bangalore entstehen, aber nicht in Deutschland.
({6})
Das hat überhaupt nichts mit Ideologie oder Rechts und
Links zu tun. Hier geht es nur um die Frage: modern oder
unmodern? Es geht nur noch um die Frage: Begreifen wir,
welche Chancen wir international haben, oder begreifen
wir das nicht? Ich muss Ihnen offen sagen: Ich bin bei der
Logik Ihrer bisherigen Kampagne fest davon überzeugt,
dass sie am kommenden Sonntag scheitern wird. Dann haben Sie meiner Meinung nach einen guten Anlass, sich
von dem falschen Gleis Ihrer Innenpolitik fortzubewegen
und sich auf das richtige, vernünftige Gleis in dieser Frage
zu begeben.
({7})
Die Diskussion, die wir in Ihrem Gesetzentwurf nachlesen können, ist rückwärts gewandt. Deswegen ist das
auch ein rein recycelter Gesetzentwurf. Darin steht überhaupt nichts Neues. Neu ist nur, dass das bisschen Datenschutz, das früher enthalten war, jetzt auch noch herausgestrichen worden ist. Das eignet sich meiner Meinung
nach überhaupt nicht für eine moderne Gesellschaft.
Ich möchte aber auch den anderen Kolleginnen und
Kollegen etwas sagen. Denn ich lese nach unserer letzten
Debatte über das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz,
das die F.D.P. hier im Deutschen Bundestag eingebracht
hat - in der Debatte hat es von allen Seiten geheißen: das
brauchen wir alles gar nicht -, zunehmend und freue mich
darüber, dass es auch bei Rednerinnen und Rednern der
SPD und der Sozialdemokraten
({8})
- Entschuldigung, Sie haben völlig Recht, wobei das eine
schöne Frage ist: ob alle in der SPD soziale Demokraten
sind; daran habe ich Zweifel -, der SPD und der
CDU/CSU bei diesem Thema entsprechende Bewegungen gibt.Das muss auch so sein.
Mir ist es lieber, wir kommen in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis als irgendwann einmal. Ich sage
Ihnen voraus: Wir müssen die gesamte Migrationspolitik
in Deutschland grundsätzlich neu definieren. Wir müssen
sie auf neue, feste Füße stellen. Das liegt im Interesse der
Gesellschaft und der Modernisierung unserer Wirtschaft.
Wenn wir das jetzt nicht tun und weitere Jahre abwarten,
dann ist, international gesehen, der Zug abgefahren. Denn
in der globalisierten Wirtschaft werden jetzt die Claims
abgesteckt und die Chancen verteilt.
Deswegen sollten wir gemeinsam zu einem entsprechenden Ergebnis kommen. Wir als F.D.P. werden jedenfalls weiterhin diesbezüglich Vorschläge machen. Den
vorliegenden Gesetzentwurf werden wir ablehnen, weil er
ebenso wirtschaftsfeindlich wie untauglich im Hinblick
auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität im
Schleuserwesen ist.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise
Beck.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist in der Tat so, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der jetzt in zweiter und dritter Lesung erneut
zur Debatte steht, ein Licht auf die Gedankenwelt, in der
sich die Union bewegt, wirft. Immer dann, wenn es um
Ausländer geht, kommt bei Ihnen der Abwehrreflex. Die
gesamte Debatte über die Migration wird von Ihnen nur
unter dem Gesichtspunkt der Abwehr und der Gefahr geführt. Sie denken nur darüber nach, wie man Dämme
bauen, wie man die Fluten zurücktreiben kann.
Sie merken gar nicht, wie sich inzwischen die äußeren
Verhältnisse mit großer Geschwindigkeit zu verändern
beginnen. Sie sitzen immer noch in Ihrem Bau und versuchen die Mauern möglichst noch höher zu ziehen. Sie haben immer noch nicht gemerkt, dass wir gesellschaftlich
an einem Punkt angekommen sind, an dem wir aus eigenem Interesse gut beraten sind, die Mauern niederzureißen, weil unsere Gesellschaft Migration bzw. Zuwanderung benötigt und weil es nicht mehr darum geht,
Zuwanderung nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr
zu sehen.
({0})
Diesen gesellschaftlichen Wandel scheinen Sie in der
CDU und in der CSU offensichtlich nicht nachvollziehen
zu können. Das ist fast dramatisch, weil in der Tat immer
deutlicher wird, was schon seit langer Zeit in
wissenschaftlichen Nischen der Gesellschaft dokumentiert wird, nämlich dass eine demographische und ökonomische Entwicklung beginnt, in der die Gesellschaft immer stärker aus der Balance zu geraten droht. Das Verhältnis zwischen Alt und Jung fängt an, sich in einer rapiden Weise zuungunsten der Jungen zu verschieben. Statt
jetzt noch mehr Ängste in der Gesellschaft im Hinblick
auf die anderen, die da kommen und die immer als Bedrohung dargestellt werden, zu schüren, sind wir gut beraten, uns auch geistig darauf vorzubereiten, dass eine Situation entstehen wird, in der wir darum werben müssen,
dass andere zu uns kommen, weil wir sonst nicht in der
Lage sind, unsere Gesellschaft in einem ausgewogenen
Verhältnis bestehen zu lassen.
Das ist die Debatte, die Sie mit Ihrem Abwehr- und
Angstdiskurs, den Sie immer wieder einbringen, zuschütten und vermauern. Das ist auch das Gefährliche daran.
Sonst könnte man Sie ja als altbacken zur Seite schieben
und sagen: Das ist eben die Union; wir stellen sie an den
Rand; denn wir können sie für eine moderne Gesellschaft
nicht gebrauchen. Aber natürlich ist es gefährlich, wenn
Sie diese Angstmacherei und diese Abwehrhaltung, die,
so glaube ich, etwas sehr Natürliches ist - es ist in Gesellschaften etwas Altbekanntes, dass es eine Abwehr gegen das Fremde gibt -, immer weiter schüren.
Zu Ihnen von der F.D.P., Herr Kollege Westerwelle,
möchte ich Folgendes sagen: Vielleicht wäre es ja doch an
der Zeit, dass Sie endlich einmal den Titel Ihres in diesem
Zusammenhang genannten Gesetzentwurfes, der „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ lautet, ändern. Denn
genau dieser Titel dokumentiert den Gedankenansatz,
dass es um nichts anderes als darum gehen muss, Zuwanderung zu begrenzen. Wir kommen bereits zu einer nächsten Etappe. Es geht um die Gestaltung von Zuwanderung
und nicht allein, wie Sie es sich damals - wohl auch aus
Angst vor gesellschaftlichen Reaktionen - ausgedacht haben, um Begrenzung.
({1})
Frau Kollegin Beck,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? - Bitte.
Ich habe nur eine
kurze Frage. Ich will es so formulieren: Wenn die Regierungsfraktionen unserem Gesetzentwurf zustimmen, können sie sich den Titel aussuchen.
({0})
Es geht um die Denkweise, Herr Westerwelle.
Aufgrund des Titels „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“
sind Sie einfach ertappt worden. Ich finde, das sollten Sie
offen zugeben.
({0})
Ich komme noch kurz auf die zweite und dritte Lesung
zum AZR zu sprechen. Der Gesetzentwurf stammt aus
dem Hause Kanther; das ist hier schon gesagt worden. Er
wurde damals von dem Koalitionspartner F.D.P. scharf
kritisiert. Das Justizministerium war nicht bereit, da mitzuziehen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat damals
wie heute seine Bedenken geäußert. Auch meine Amtsvorgängerin - das möchte ich sehr deutlich sagen - hat
starke Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf angemeldet, weil gerade dieser Grundsatzverdacht gegen Ausländer in diesem Land unter ausländerpolitischen Gesichtspunkten nicht akzeptiert werden kann.
Gesetze werden nicht gemacht, weil sie einmal entworfen worden sind. Es geht um das Rechtsstaatsprinzip
und die daraus abgeleiteten Voraussetzungen für ein Gesetzgebungsverfahren. Sie benennen immer bestimmte
Voraussetzungen, ohne sie jemals zu belegen.
Stets wird der Begriff des Sozialmissbrauchs angeführt. Er ist für Schlagzeilen wunderbar tauglich; denn er
appelliert an die Gefühle der Bevölkerung. Man hat doch
immer schon gewusst, dass sich der Ausländer zu Unrecht
der Sozialhilfe bedient. Sie belegen nicht, dass diesem Sozialmissbrauch mit den von Ihnen vorgelegten Vorschlägen wirklich begegnet werden könnte. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf untauglich.
Wir haben nach wie vor ein sehr gutes und wertvolles
Grundrecht, nämlich das auf informationelle Selbstbestimmung. Angesichts der unglaublichen Explosion der
Möglichkeiten der Datenerfassung haben wir als Parlament streng darauf zu achten, dass dieses Grundrecht
nicht dadurch, dass neue Datensammlungen eingerichtet,
neue Dateien angelegt und Verknüpfungen von Dateien
hergestellt werden, verletzt wird. Deswegen halten wir
daran fest, uns mit neuen Gesetzesvorschlägen in diesem
Bereich so lange außerordentlich zurückhaltend zu verhalten, wie in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Es ist abzuwarten, was das Bundesverfassungsgericht zu den hierzu vorhandenen Gesetzen sagt.
Unserer Einschätzung nach ist zumindest die von Ihnen jetzt vorgeschlagene Einrichtung einer Warndatei
mit dem Grundsatz, dass Daten nicht auf Vorrat gesammelt werden dürfen, dass sie anonymisiert sein müssen, in
keinster Weise vereinbar. Es kann nicht angehen, dass wir
über Menschen eine Datei anlegen auf den Verdacht hin,
dass sie mit einem anderen unter einer Decke gesteckt haben könnten,
({1})
ohne das in irgendeiner Weise zu belegen. Deswegen kann
die Warndatei so, wie Sie sie jetzt vorschlagen, von uns
auf keinen Fall akzeptiert werden.
Im Grunde genommen geht es um die Grundhaltung,
wie wir mit Gästen, mit Menschen, die unser Land besuchen, umgehen, auch mit Menschen, die zuwandern - aus
ökonomischen Gründen, aber auch aufgrund der
menschlichen Verbindungen. Mobilität zieht natürlich
weitere Mobilität nach sich, das Hin- und Herwandern
von Menschen, das Sich-Besuchen. Wir sind an dem
Punkt, dass im Ausland immer kritischer wahrgenommen
wird, dass die Abwehrhaltung in Deutschland nach wie
vor unser großes Markenzeichen ist.
Deswegen bin ich sehr froh, dass das Auswärtige Amt
jetzt im Bereich der Visumserteilung gehandelt hat. Es
steht einem modernen, offenen Land nämlich nicht gut zu
Gesicht, wenn in den Botschaften und Konsulaten fast
nicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen werden,
wenn Geschäftsleute abgewiesen werden, wenn der Besuch von Menschen in Deutschland verweigert wird,
({2})
weil der Verdachtsmoment als schwerwiegender angesehen wird als die Idee der Mobilität, die eben zu einem modernen Land gehört. Dieser Schritt des Auswärtigen Amtes ist gut gewesen. Ich weiß, dass er auch im Ausland positiv bewertet wird.
Es ist mitnichten so, dass alle Menschen deswegen
nach Deutschland kommen, weil sie denken, es sei das
weltoffenste Land. Gerade die Green-Card-Debatte
zeigt, auf welch schmalem Grat wir uns bewegen. Die
Postkarten-Debatte ist in Indien und anderen Ländern wir haben es hier schließlich mit dem Internet zu tun - angekommen, und zwar an demselben Tag, an dem sie begonnen wurde, an dem die Slogans in die Welt gesetzt
wurden.
Die jungen Akademiker sitzen nicht auf gepackten
Koffern; sie warten mitnichten darauf, dass sie nach
Deutschland kommen dürfen. Vielmehr gibt es dort Auseinandersetzungen und Gespräche, in denen man sich
fragt: Wollen wir überhaupt in ein Land gehen, das diese
Signale aussendet, dass wir nämlich gar nicht gewollt
sind? Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die es gar
nicht nötig haben, nach Deutschland zu gehen. Das müssen wir verstehen, statt uns mit altbackenen Abwehrhaltungen diesen Modernisierungsentwicklungen entgegenzustellen.
Schönen Dank.
({3})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Kollege Koschyk, das gesellschaftliche
Zerrbild, das Sie heute in Sachen Zuwanderung, Asylrecht, Familiennachzug, Visabestimmungen usw. gemalt
haben - ich will das gar nicht alles aufzählen -, macht es
einem wirklich schwer, sich damit sachlich oder überhaupt nur ernsthaft auseinander zu setzen.
({0})
- Ich sage Ihnen gleich etwas zu den Zahlen.
Sie wissen ganz genau, dass wir immer wieder - schon
bei der ersten Lesung Ihres Antrages - Debatten führen
über die Verhältnismäßigkeit von Kriminalitätsbekämpfung, darüber, mit welchen falschen Fakten Sie hier immer wieder hervortreten, mit welchen Fakten Sie versuchen, Menschen ausländischer Herkunft mit Ihrer Politik
Marieluise Beck ({1})
zu diskreditieren. Das lehnen wir ganz entschieden ab. So
kann man mit diesen Dingen nicht umgehen. Ich will einmal ganz davon absehen, dass Sie im Moment diese Debatte instrumentalisieren - wahrscheinlich für den Wahlkampf oder wie auch immer -, denn die Punkte, die Sie
angesprochen haben, haben größtenteils mit Ihrem Anliegen wenig zu tun.
Ich komme zu den Zahlen, die Sie hier genannt haben;
ich habe das übrigens auch schon in der ersten Lesung gesagt. In den Jahren 1996 bis 1998 hat es in der Tat laut
BKA 14 400 Fälle von Schleuserkriminalität gegeben.
Ich sage Ihnen noch einmal: Es hat beispielsweise im selben Zeitraum 15 500 Fälle von Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen gegeben, 18 500 Fälle von Wirtschaftskriminalität im Anlage- und Finanzierungsbereich. Die Zahl allein dieser
Straftaten liegt doppelt so hoch wie die Zahl bei der
Schleuserkriminalität. Das gilt ebenso für den Sozialhilfebetrug, den ich in der Tat nicht bagatellisieren will.
({2})
Es geht hier um die Frage: Welcher gesellschaftliche
Schaden wird hier eigentlich angerichtet? Welche Priorität wird von der CDU/CSU-Fraktion für welche Kriminalitätsbekämpfung verlangt?
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen: Das Statistische
Jahrbuch weist 5,4 Milliarden DM Schaden im Bereich
der Wirtschaftskriminalität aus. Sozialhilfeerschleichung
wird laut BKA nicht einmal in der Statistik ausgewiesen.
Das soll nicht heißen, dass wir das bagatellisieren wollen.
Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis; lesen Sie
die Statistiken wirklich einmal genau! Es kann einfach
nicht sein, dass man - meine Kollegin Beck hat es schon
gesagt - versucht, mit Angstmacherei eine Politik zu betreiben, die darauf hinausläuft, Ausländerfeindlichkeit
und Rassismus in unserer Gesellschaft zu schüren.
Herr Koschyk, Sie haben davon gesprochen, dass die
datenschutzrechtlichen Bestimmungen der entscheidende
Grund gewesen sind, dass im Ausschuss eine Ablehnung
des Antrages für heute empfohlen wurde. Das gilt für das
Ausländerzentralregister, das wir damals schon abgelehnt
haben, aber auch für Ihre Warndatei; hier sind schon von
meinen Kollegen diverse Punkte genannt worden, warum
wir sie zurückweisen müssen.
Ich finde es ignorant und es ist mir juristisch völlig unklar, wie eine Fraktion wie die Ihre nicht einmal abwarten
kann, bis es ein Verfassungsgerichtsurteil gibt. Bürger
initiativen und Menschenrechtsorganisationen sind vor
das Verfassungsgericht gezogen, weil sie das Ausländerregister infrage stellen, mit dem ja schon enorm viele
Fakten über Menschen ausländischer Herkunft gesammelt werden. Mit Ihrer Warndatei soll ja noch eins oben
drauf gesetzt werden.
Ihr Kollege Marschewski hat vorgestern ein Interview
gegeben, in dem er sich zu illegalen Einreisen und Schleuserkriminalität geäußert hat. Er hat davon gesprochen,
dass dies die innere Sicherheit in Deutschland schwer bedrohe. Außerdem hat er in diesem Interview gesagt, dass
die entsprechenden Zahlen beträchtlich gestiegen sind.
Ich frage Sie, Herr Marschewski: Woher nehmen Sie
diese Behauptungen? Nennen Sie das ehrliche Politik,
dass Sie nicht einmal bei den Fakten bleiben? Warum sagen Sie zum Beispiel nicht, dass die Zahl illegal Eingereister um 6 Prozent zurückgegangen ist, dass es sich bei
der Schleuserkriminalität nicht ausschließlich um Menschen ausländischer Herkunft handelt, sondern dass etwa
10 Prozent deutsche Staatsbürger dabei sind? Warum analysieren Sie, wenn Sie diesen Tatbestand auseinander nehmen, nicht, worum es tatsächlich geht? Und warum setzen
Sie Illegale immer mit Kriminellen gleich? Selbst die
Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es uns, Menschen, die illegal in unser Land einreisen, als Kriminelle
abzustempeln. Ich meine, auch Sie sollten sich daran halten. Denn auch die Regierung Kohl hat damals die Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert.
Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf, diese
Politik für Ihre Parteibelange zu missbrauchen! Denn dies
geht auf Kosten von Ausländerinnen und Ausländern. Ich
meine, das kann kein Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung sein. Es ist allenfalls ein Beitrag zur Ausländerbekämpfung. Das wissen Sie auch ganz genau.
Zum Schluss meines Beitrages möchte ich noch ein
Wort an die Regierungsfraktionen, an SPD und Grüne,
richten.
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen leider zum Schluss kommen.
Das ist sowieso mein letzter
Satz. - Ich war ziemlich entsetzt darüber, dass sich die
Bundesregierung zu der Entscheidung im Europaparlament betreffend Eurodac - ich habe es schon im Ausschuss gesagt - positiv geäußert hat. Ich wünsche mir,
dass wir nicht nur dieser Warndatei, sondern auch den
Verschärfungen, die auf europäischer Ebene angedacht
sind - sie sind noch nicht durchgesetzt, aber angedacht -, geschlossen entgegentreten. Ich hoffe, dass die
anderen Fraktionen in diesem Hause auch dagegen vorgehen werden.
Danke.
({0})
Herr Kollege Erwin
Marschewski, Sie haben das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Gesetzentwurf
vorgelegt, mit dem sie Schlepper und Schleuser bekämpfen will. Das sind Leute, die andere Menschen ausbeuten.
Das sind Leute, die ausländische Menschen unter falschen
Versprechungen nach Deutschland locken, die ihnen einen Transport anbieten, der oftmals ihre Gesundheit beeinträchtigt, sogar ihr Leben gefährdet. Gegen diese Leute
wollen wir vorgehen - mehr nicht.
Das hat, Herr Kollege Westerwelle, überhaupt nichts
mit einer Green-Card zu tun. Es hat auch nichts mit einer
Zuwanderungssteuerung zu tun. Auch wir sind für ein
Zuwanderungssteuerungsgesetz. Wir werden Ihnen in
nächster Zeit einen entsprechenden Entwurf unterbreiten.
Das ist der Gegenstand der Debatte - nicht das, was Sie
gesagt haben. Eines ist mir in dieser Debatte deutlich geworden: Die Union ist und bleibt offensichtlich der einzige Garant der inneren Sicherheit in Deutschland. Das
hat diese Debatte klar und eindeutig gezeigt.
({0})
Oder glauben Sie, innere Sicherheit werde garantiert von
Dr. Hirsch, Frau Leutheusser oder ihrem Nachfolger
Westerwelle? Von denen doch nicht!
Auch der heute nicht anwesende Bundesinnenminister
kann innere Sicherheit nicht garantieren. Herr Staatssekretär, gerade in Ihrem Ministerium klaffen doch zwischen dem, was versprochen wird, und dem, was herauskommt - die Versprechen werden eben nicht gehalten -,
Welten. Sie haben uns gesagt, Sie wollten einen Gesetzentwurf vorlegen, um die Schleuserkriminalität zu bekämpfen. Ich bin gespannt, wann Sie dies tun werden. Sie
haben gesagt, Sie wollten darüber vorurteilsfrei im Ausschuss diskutieren. Heute ist kein Gesetzentwurf da. Die
Diskussion im Ausschuss bestand mehr oder weniger aus
einem Abwürgen der Argumente. Nichts ist geschehen.
Kein Versprechen wird von Ihnen erfüllt, obwohl wir Tausende von Geschleusten im Jahr haben - Kollege
Koschyk hat es zu Recht gesagt - und die Zahlen im Steigen begriffen sind. Schauen Sie in die heute vom Bundesinnenminister veröffentlichte polizeiliche Kriminalstatistik. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist erheblich höher.
Im Bereich der Innenpolitik geht Ihre Leistungsfähigkeit gegen Null. Es wird überhaupt nichts gemacht. Das
liegt doch sicherlich daran, dass zwischen Rot und Grün
erheblich unterschiedliche Vorstellungen gerade im Bereich der Innenpolitik, des Ausländer- und des Strafrechts
vorhanden sind. Das werden Sie ja bestätigen. Hätten wir
damals so lange gewartet, bis das Bundesverfassungsgericht in einer Nebenfrage entschieden hätte, hätten wir
weder das Asylrecht noch das Verbrechensbekämpfungsgesetz in Kraft setzen können.
({1})
So lange können wir nicht warten und so lange wollen wir
nicht warten.
Der Bundesinnenminister - heute nicht anwesend wird auch von seiner Koalition im Stich gelassen. Was ist
aus der Aussage von Herrn Schily, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten, geworden? Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist aus dem Vorschlag
geworden - ich gehe davon aus, dass er ernst gemeint
war -, er wolle das subjektive Asylrecht einschränken? Er
hat uns in diesem Punkt an seiner Seite. Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist - jetzt ganz
aktuell - aus seinem Vorschlag, er wolle die Green Card
auf drei Jahre begrenzen, geworden? Sie haben den Bundesinnenminister bei all seinen Vorstellungen im Regen
stehen lassen.
Das bedeutet, dass gerade im Bereich der Innenpolitik
diese Bundesregierung unter mangelnder Handlungsfähigkeit leidet.
({2})
Das ist insbesondere im Bereich des Asyl- und des Ausländerrechts und der Verbrechensbekämpfung der Fall:
Kein einziges Gesetz haben Sie in den 18 Monaten Ihrer
Regierungszeit fertig gebracht. Kein einziges Gesetz!
Große Worte, wenig Taten: Das ist die Leistung des Bundesinnenministers, die so genannte Leistung im Bereich
der deutschen Innenpolitik.
Herr Kollege Westerwelle, mit dieser Art Laisser-faire,
die Sie als Liberaler haben zutage treten lassen, werden
Sie weder Schleusertum noch Menschenhandel noch Sozialleistungsbetrug bekämpfen. Wir haben Praktiker
gehört - Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie bei einem Teil der Koalitionsgespräche vor zwei, drei Jahren
dabei waren - und sind Punkt für Punkt die Praktikervorschläge durchgegangen und haben sie ins Gesetz geschrieben.
Erstens. Was ist dagegen zu sagen, dass wir nicht nur
die Antragstellung, sondern auch die Visaablehnung sowie die Gründe der Ablehnung im Gesetz speichern wollen? Es ist doch absurd, nur über die Antragstellung zu berichten. Wir wollen die Ablehnung und die Gründe dafür
speichern. Was ist dagegen zu sagen?
Zweitens. Wir wollen, dass auch die Polizeibehörden,
die die Kontrollen vor Ort ausführen, Zugriff auf das Ausländerzentralregister haben. Was ist dagegen zu sagen?
Drittens. Wenn jemand ein Versprechen gibt, für einen
Dritten einzustehen, und das Versprechen wird nicht erfüllt: Warum soll das nicht in der Kartei bis zur Erfüllung
des Versprechens vermerkt werden, warum muss der
Steuerzahler in diesem Lande für dieses oft falsche Versprechen einstehen? Es gibt nicht nur gute Menschen auf
der Welt; das ist nicht nur meine Erkenntnis. Natürlich
wollen wir unser Land offen halten, aber wir wollen Einsatz zeigen gegen Schleuser und Schlepper: Es ist ein Verbrechen, wie die Geschleusten ausgebeutet werden. Dagegen vorzugehen ist unsere Politik.
({3})
Deswegen bitte ich die Bundesregierung, wirklich
ernst zu machen und ein Gesetz vorzulegen. Ich frage Sie,
Herr Staatssekretär - ich wundere mich, dass Sie gar nicht
das Wort ergreifen -: Wann werden Sie konkret mit einem
Gesetzentwurf kommen? Ansonsten verantworten Sie,
dass das menschenverachtende Geschäft dieser Leute
weiter ausgeweitet wird. Ansonsten haben Sie zu verantworten, dass Menschen mit unhaltbaren Versprechungen
nach Deutschland gelockt werden und dort aufs Übelste
ausgebeutet und missbraucht werden.
Ich fordere Sie auf, endlich etwas gegen diese Zustände zu unternehmen. Reden Sie nicht nur! Das gilt
insbesondere für Ihren Minister. Handeln Sie endlich,
Herr Minister!
Erwin Marschewski ({4})
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
das Wort.
Herr Kollege, Sie
haben mich zweimal persönlich angesprochen und darauf
möchte ich eingehen. Sie erwecken den Eindruck, dass
das, was Sie hier vortragen, von der Expertenkommission
und von Fachleuten unter der alten Regierung in der letzten Legislaturperiode bestätigt worden sei. Das ist nicht
richtig. Die alte Regierung hat dieses Gesetz nicht im
Deutschen Bundestag eingebracht, und zwar aus Vernunftgründen. Sie möchten jetzt etwas einbringen, was
die alte Regierung nicht eingebracht hat. Das ist aus unserer Sicht eine etwas schwierige Angelegenheit. Sie erwecken auch den Eindruck, als wollten wir Schleuserkriminalität nicht bekämpfen. Schleuserkriminalität bekämpfen will vermutlich jeder hier in diesem Hause und
wir ganz besonders.
Ich halte aber die Idee, dass die Aufnahme dieser Kriminellen in eine weitere Datei bei der Kriminalitätsbekämpfung helfen könnte, für reichlich realitätsfern.
Deswegen ist dies keine Frage von innerer Liberalität versus Kriminalitätsbekämpfung. Ihr Gesetz dient nicht der
Kriminalitätsbekämpfung. Es dient lediglich der Abschreckung ansonsten Unbescholtener, zum Beispiel unbescholtener Unternehmen. Das ist der Grund, warum wir
das Gesetz damals abgelehnt haben, warum es die alte Regierung nicht eingebracht hat und warum wir es heute
nicht einbringen werden.
Im Übrigen kann ich Ihnen nur sagen: Ich kann Ihren
Ausführungen nicht zustimmen. Dass Sie ein blaues
Hemd und eine gelbe Krawatte tragen, versöhnt mich aber
wieder.
Zur Erwiderung, Herr
Kollege Marschewski, bitte.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Westerwelle. Zunächst
einmal möchte ich sagen: Ich bin Ihnen gegenüber immer
versöhnlich eingestellt, das ist keine Frage. Aber Sie müssen auch einmal Sachargumenten Folge leisten:
Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode
eine Expertenanhörung durchgeführt. Die Experten haben
uns gesagt: Verbessert das Ausländerzentralregister und
schafft eine Warndatei, um wirklich etwas zu verhindern.
Ich nenne einen praktischen Fall, den Sie eigentlich kennen müssten, aber offensichtlich nicht kennen: Wenn jemand im Ausland beim Konsulat A einen Visumantrag
stellt und dieser Antrag abgelehnt wird, weil jemand betrügerisch gehandelt hat, weiß das Konsulat B zunächst
einmal nicht, dass und warum dort eine Ablehnung erfolgt
ist. Das wollen wir ändern, indem wir im AZR und in der
Warndatei zentrale Vermerke einbringen. Ein weiteres
Beispiel: Wenn ein Polizeibeamter vor Ort feststellen will,
ob jemand als Schleuser oder Schlepper tätig ist, soll er
das zentral geregelt im AZR kontrollieren dürfen. Das ist
der Sinn dieser Übung.
Ich habe den Eindruck, dass Sie den Gesetzentwurf
nicht in seinen Einzelheiten kennen, weil Sie daran nicht
mitgearbeitet haben. Letzteres hat der Kollege Stadler getan. Sie haben heute nur den Redebeitrag übernommen.
Zweitens. Herr Kollege, ich wende mich dagegen, dass
die F.D.P. immer noch im alten hirschschen bzw. leutheusserschen Geiste sagt: Uns ist Datenschutz lieber als Täterschutz. Das ist nicht unsere Politik, Herr Kollege
Westerwelle.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz
Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Sprache ist verräterisch. Dazu, dass beispielsweise der Kollege Koschyk sagt, dass der Erlass des
Auswärtigen Amtes irgendwelche Visaregelungen
lockern wolle, sage ich ganz einfach: Er kennt diesen Erlass nicht.
({0})
Dass beispielsweise zukünftig keine Ablehnung eines
zustimmungspflichtigen Visums ohne Rücksprache mit
der Innenbehörde erfolgen darf, ist - so denke ich - aus
der Praxis begründbar. Jemand, der eine Ablehnung eines
zustimmungspflichtigen Visums ausspricht, muss zumindest bereit sein, diese auch zu begründen. Dies aber halte
ich nicht für eine Lockerung, sondern das ist in der Sache
geboten.
Dies gilt auch für die Einführung einer Begründung bei
Ablehnung eines Visums zum Familiennachzug. Ich frage
mich: Wo ist da eine Lockerung, wenn nun eine entsprechende Begründung der Entscheidung gegeben werden
muss? Ich halte dies im Übrigen für selbstverständlich
und denke, dass man darüber nicht streiten muss.
({1})
Zweiter Punkt. Lieber Herr Koschyk und Herr
Marschewski, Ihr Bundesinnenminister hätte froh sein
können, glaube ich, wenn es ihm beispielsweise gelungen
wäre, in Europa im Zuge des Konfliktes im Kosovo und
bei der Überwindung der Flüchtlingsschicksale eine Lastenteilung herbeizuführen, wie das Bundesinnenminister
Schily gelungen ist. Ich denke, das ist eine hervorragende
Leistung, und Sie sollten das auch einmal würdigen.
({2})
- Das hat beispielsweise damit zu tun, dass an- und aufgegriffen worden ist, was getan bzw. nicht getan worden
ist.
Erwin Marschewski ({3})
Sprache ist auch dabei, wie Sie mit diesem Thema umgehen, verräterisch. Ich glaube, es ist selbstverständlich,
dass Schleusertum bekämpft werden soll. Aber es ist
schon ein bisschen merkwürdig, dass Sie es uns nachteilig auslegen, wenn die Bundesregierung, der Bundesgrenzschutz gewisse Aufgriffzahlen nachweisen kann.
Nein, umgekehrt: Sie hätten den Bundesgrenzschutz einmal dafür loben müssen, dass er das Schleusertum wirksam bekämpft hat.
Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir
nicht akzeptieren können, dass mit menschlichem Schicksal Geschäfte gemacht werden. Darüber brauchen wir keinen Streit zu führen.
({4})
Sie sollten auch mit Ihren Sprüchen, die darauf abzielen, Angst zu schüren, aufhören; denn sie verkennen die
Fakten und bringen uns auch nicht weiter.
({5})
Der von der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf zur
Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister
und zur Einrichtung einer Warndatei weist nach Dafürhalten der Bundesregierung sowohl ungeeignete als auch
unverhältnismäßige Instrumente auf. Ich denke, das zeigt
sich auch an Folgendem: Lieber Herr Marschewski, Sie
versuchen ja denjenigen, die nicht in der Materie stehen,
glaubhaft zu machen, was Sie alles unternommen hätten.
Sie waren doch überhaupt gar nicht in der Lage, in Ihrer
eigenen Regierungszeit nur eine der von Ihnen genannten
Veränderungen herbeizuführen,
({6})
und zu einem großen Teil mit gutem Grund, weil Sie
schon damals keine Mehrheiten dafür hatten. Das müsste
Sie doch eigentlich nachdenklich stimmen.
Natürlich muss man auch sehen, dass die von Ihnen
vorgeschlagenen Regelungen aus datenschutzrechtlicher
Sicht unverhältnismäßig und bedenklich sind. Sie verstoßen nach meinem Dafürhalten gegen das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf informationelle
Selbstbestimmung. Die Bundesregierung folgt daher ganz
eindeutig dem Votum der Ausschüsse und lehnt diesen
Gesetzentwurf ab.
Entschieden lehnen wir auch insbesondere das vorgeschlagene Gesetz über die Einrichtung einer so genannten
Warndatei ab. Die Einrichtung dieser Datei ist nach unserem Dafürhalten nicht erforderlich. Es steht außer
Frage, dass alles getan werden muss, um im Interesse der
Bekämpfung der illegalen Einreise Visaerschleichungen
zu verhindern. Dazu ist es auch wichtig, dass Visa erteilende Stellen Informationen über ver- oder gefälschte Dokumente oder Erkenntnisse über international organisierte
Schleuserorganisationen austauschen. Der Aufbau eines
zentralen Registers in der von Ihnen vorgeschlagenen
Größenordnung ist für diese Zwecke nicht notwendig und
auch nicht geeignet.
Datenschutzrechtlich bedenklich ist insbesondere die
große Anzahl der Anlässe, die zu einer Datenspeicherung
in der von Ihnen vorgeschlagenen Warndatei führen soll.
So beabsichtigt die CDU/CSU zum Beispiel auch, Daten
über Personen zu speichern - da sollten Sie vielleicht einmal zuhören, Herr Marschewski -,
({7})
die Verpflichtungserklärungen nach § 84 Ausländergesetz
abgegeben haben, ohne zu wissen, dass die dadurch begünstigten Personen im Visaverfahren ge- oder verfälschte Dokumente vorgelegt oder nach ihrer Einreise einen Asylantrag gestellt haben. Ich kann nicht nachvollziehen, warum ein gutgläubig handelnder Personenkreis
für das Verhalten eines eingeladenen Ausländers verantwortlich gemacht und mit dem Makel der Aufnahme seiner Daten in diese Datei versehen werden soll.
Der große Kreis der zugriffsberechtigten Stellen, darunter Polizeivollzugs- und Verfassungsschutzbehörden,
ist ebenfalls datenschutzrechtlich mehr als fragwürdig.
Aber auch, meine Damen und Herren, die Vorschläge
zur Änderung des AZR-Gesetzes verstoßen gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht und können von
der Bundesregierung nicht mitgetragen werden. So sieht
der Entwurf zum Beispiel die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Übermittlung von Daten aus dem Ausländerzentralregister an die Staatsangehörigkeitsdatei
vor, obwohl bis zum heutigen Tag für die Staatsangehörigkeitsdatei keine Rechtsgrundlage geschaffen
wurde und der Gesetzgeber noch nicht entschieden hat, ob
diese Datei überhaupt fortgeführt werden darf.
({8})
Die Ablehnung bedeutet aber nicht - das sage ich auch
ganz deutlich -, dass sich die Bundesregierung gegen jegliche Änderung des AZR-Gesetzes ausspricht. So gibt es
für uns zwei Punkte, die wir gerne diskutieren. Dies betrifft die Zugriffsmöglichkeiten von Polizei und Sozialbehörden.
({9})
Allerdings sollten wir uns vor übereilten und pauschalen
gesetzlichen Änderungen hüten und zunächst einmal auf
die Erfahrungen der Praxis zurückgreifen. Meine Damen
und Herren, wenn Sie beispielsweise die Ergebnisse, Ihre
Gespräche aus der so genannten Praxis, wiedergeben, so
findet man einen eindeutigen Dissens. Es ist in der Tat zuerst die Frage zu stellen, ob eine solche Maßnahme notwendig ist oder nicht. Wir werden dies in der Praxis genau beobachten und nur in den Fällen, in denen tatsächlich festgestellt wird, dass die vorhandenen Instrumente
zur Bekämpfung der illegalen Einreise und des Sozialleistungsmissbrauchs nicht ausreichen, eventuelle Möglichkeiten der Änderungen in Betracht ziehen.
Ich denke, das ist eine gute und eine richtige Vorgehensweise. Wir sind zum Gespräch und zum Dialog bereit. Aber Schnellschüsse, die nicht begründbar sind,
werden wir nicht machen. Im Übrigen ist unsere Ablehnung bekannt.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes
über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung ei-
ner Warndatei auf Drucksache 14/1662. Der Innenaus-
schuss empfiehlt auf Drucksache 14/2745, den Gesetz-
entwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/1662 abstimmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 f auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den
Übereinkommen vom 19. Dezember 1996
über den Beitritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und des
Königreichs Schweden zum Schengener
Durchführungsübereinkommen und zu
dem Übereinkommen vom 18. Mai 1999
über die Assoziierung der Republik Island
und des Königreichs Norwegen
- Drucksache 14/3247 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Investitionszulagengesetzes
- Drucksache 14/3273 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi
Knake-Werner und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ({2})
- Drucksache 14/3044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaMaria Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser,
Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Ressourcenverbrauch der Bundesrepublik
Deutschland statistisch besser abbilden
- Drucksache 14/2654 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr.
Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Übergangsregelungen bei der Einführung
des Kapitalgesellschaften- und Co-Richtlinie-Gesetzes
- Drucksache 14/3078 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zur
Erhöhung der Nutzungsentgelte
- Drucksache 14/3121 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3078 soll zusätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d auf. Es
handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August
1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen StaaParl. StaatssekretärFritz Rudolf Körper
ten über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/2422 ({7})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8})
- Drucksache 14/3129 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/3129, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei
Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November
1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/2423 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({10})
- Drucksache 14/3130 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/3130, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf
ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({12}), Dietrich
Austermann, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty free
- Drucksachen 14/1206, 14/2103 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({13})
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1206 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gunnar Uldall, Kurt-Dieter Grill, Wolfgang
Börnsen ({15}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Vorlage des Berichts zum Stromeinspeisungsgesetz
- Drucksachen 14/2239, 14/2837 Berichterstattung:
Abgeordneter Kurt-Dieter Grill
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2239 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum
Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse
- Drucksache 14/3338 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Erhöhung
der Sicherheit im Internet vor dem Hintergrund
der Erfahrungen mit dem „I love you“-Virus
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Ute Vogt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Themas der
Aktuellen Stunde haben wir wieder einmal mehr Grund,
froh zu sein, dass es eine neue Bundesregierung gibt;
({0})
denn wir haben einen Innenminister
({1})
Vizepräsidentin Petra Bläss
- wenn Sie ihn lieben, umso schöner -, der auch in Bezug
auf die Informationstechnik auf der Höhe der Zeit ist, und
das, obwohl er selbst nicht zu der Generation gehört, von
der man sagen könnte, sie sei mit Computern groß geworden. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat sich
der heutige Innenminister direkt nach seiner Amtsübernahme dem Thema der Informationstechnik angenommen
und hat das, was im Bundestag lange vorbereitet wurde
und Ihnen auch schon aufgrund der Arbeit der EnqueteKommission in der letzten Legislaturperiode hätte bekannt sein können, angepackt und in die Praxis umgesetzt.
Wir haben einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, der
sich sehen lassen kann. Die heutige Aktuelle Stunde soll
auch dazu dienen, diesen Katalog der Öffentlichkeit aus
aktuellem Anlass in Erinnerung zu rufen und auf ihn
aufmerksam zu machen.
Wir haben das Paket mit Sofortmaßnahmen für ein
sicheres Internet verabschiedet, das den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern, die das Internet benutzen, nicht nur
die Anwendung des Internets erleichtert, sondern auch
Schutz vor schädlichen Programmen durch Virenscanner,
durch Einstellungen in Webbrowsern und SoftwareFirewalls ermöglichen wird.
Es gibt für Netzvermittler die Möglichkeit, dass bei
den Servicebetreibern ein Notfallplan entwickelt und etabliert wird. Wir können Maßnahmen ergreifen, die verhindern, dass gefälschte Adressen ankommen können.
Zum Beispiel ist die Technik für Paketfilter vorhanden;
sie müssen lediglich entsprechend eingesetzt werden.
Diejenigen, die ihre Seiten selbst ins Netz stellen, können
ihre Dateien täglich auf Viren und Angriffsprogramme hin
überprüfen.
Wir halten es für dringend notwendig, dass wir uns in
dieser Frage gemeinsam an die Öffentlichkeit wenden.
Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, dann werden Sie feststellen, dass gerade im Mittelstand mit dem
Thema „Sicherheit im Netz“ häufig sehr sorglos umgegangen wird und dass viele schon jetzt mögliche Sicherheitsanwendungen nicht genutzt werden, sodass es unsere
Aufgabe auch ist, auf diesem Gebiet Sensibilisierung herzustellen - etwas, was Sie in Ihrer Regierungszeit versäumt haben.
An diese Aufgabe müssen wir alle zusammen herangehen. Es hilft nicht, wenn nur die Bundesregierung und nur
die Abgeordneten der Regierungskoalition dafür werben;
vielmehr brauchen wir den Einsatz des gesamten Parlaments. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen, damit auch
private Anwender um die Gefahren wissen, in die sie sich
begeben, wenn sie sich im Internet bewegen und wenn sie
Angriffen wie den zuletzt durchgeführten begegnen wollen.
Wir haben erlebt, dass es vermutlich ein Einzelner geschafft hat, innerhalb von nur 72 Stunden einen Schaden
von über 10 Milliarden US-Dollar anzurichten. Von der
Aktion eines Einzelnen sind etwa 45 Millionen Computer
betroffen; deshalb ist es notwendig, dass wir dieses
Thema sehr viel ernster nehmen, als Sie es in der Vergangenheit getan haben. Wie gesagt, wir haben von Anfang
an alles dafür getan. Der Maßnahmenkatalog musste
überhaupt erst entwickelt werden, weil Ihr Innenminister
leider das ignoriert hat, was zum Teil auch Sie in der Enquete-Kommission vertreten haben. Ihm fehlte möglicherweise der Bezug zu dem Medium; das muss man verstehen.
Ich bin dafür - ich hoffe, dass auch Sie das zum Ausdruck bringen -, dass wir dieses Thema nicht klein reden.
Wir sollten die vorhandenen Anstrengungen, Erfolge und
Hilfestellungen nicht zerreden; stattdessen sollten auch
Sie in dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, die Bevölkerung zu sensibilisieren und aufzuklären. Sie sollten vor
allem die Größe haben, die Leistungen der Bundesregierung anzuerkennen. Hören Sie auf, an diesem Bereich
herumzumäkeln!
({2})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Sylvia Bonitz.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ob „Melissa“ im
letzten Jahr, die Hackerangriffe auf Internetportale wie
„Yahoo“, „Amazon“ und „Ebay“ im Februar oder jetzt das
Computervirus „I love you“ - ihnen allen ist eines gemein: Sie stehen für die Verwundbarkeit des Internets als
Masseninformations- und Kommunikationssystem. Im
Zeitalter von E-Mail, Online-Banking und E-Commerce
ist die vernetzte Welt anfällig für derartige Attacken. Es ist
zu erwarten, dass kriminelle Zeitgenossen ausreichend
Fantasie für immer neue und gefährlichere Viren besitzen
werden, die naturgemäß an nationalen Grenzen nicht Halt
machen.
Umso wichtiger sind ein möglichst internationaler
Rahmen und gemeinsame Standards zur globalen Gefahrenabwehr. Auch die Bundesregierung muss ihren Beitrag
zur Verbesserung der Sicherheit in den neuen Medien leisten. Sie hat ihre Hausaufgaben jedoch bislang nicht gemacht. Dabei wird das Ausmaß der Schäden durch CyberKriminalität in Form von Hackerangriffen, Wirtschaftsspionage und -sabotage und durch Lücken in der
IT-Sicherheit in der System- und Prozesssteuerung von
Experten inzwischen auf dreistellige Milliardenbeträge
geschätzt.
Wer den Erfolg des Internets als zukunftsorientiertes
Medium sichern will, der steht in der Pflicht, über seine
Risiken aufzuklären, Sicherheitslücken, so weit machbar,
zu schließen und ein öffentliches Bewusstsein für diese
Problematik zu schaffen. Denn jedem muss klar sein: Eine
hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben.
Cyber-Kriminelle nutzen als Sprungbrett für ihre
Attacken nicht nur Großrechner der Industrie oder Universitätsrechner, sondern auch Tausende von Firmenrechnern, die inzwischen den Mittelstand ans Internet anbinden. Selbst ein PC daheim ist ausreichend, um die hoch
technisierte Welt lahm zu legen. Schließlich bietet der Cyberspace nicht nur die Anleitung zu Bombenbau und KinUte Vogt ({0})
derpornos, sondern selbst das Werkzeug, um die Sicherheitsbarrieren des Internets zu überwinden.
Anstatt das vorhandene Expertenwissen zügig an einer
Stelle zu bündeln, befassen sich unterschiedlichste Arbeitsgruppen mit diesem sensiblen Thema. Aufgedeckte
Sicherheitslücken gelangen hierdurch nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit. Dabei ist inzwischen bekannt,
dass sich Internetattacken im Auftrag von kriminellen Organisationen oder gar feindlichen Staaten gegen die gesamte zivile Infrastruktur der Republik richten könnten,
wie etwa die Energieversorgung, das Gesundheitswesen,
das Verkehrswesen oder auch die Polizei.
Nichts hat bislang die Bundesregierung veranlasst, dieses Wissen von sich aus an die Öffentlichkeit zu bringen
oder gar die Alarmglocken zu läuten. Stattdessen gibt Innenminister Schily pausenlos Verbalplacebos in Form von
Pressemittteilungen heraus, in denen seine Ideen zur Verbesserung der Sicherheit im Internet gemeldet werden.
Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt ein Cyberspace.
({1})
Die Realität in Deutschland sieht nämlich anders aus.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein süddeutsches Systemhaus stellte fest, dass der eigene Internetrechner als
Sprungstelle für Angriffe auf andere Web-Angebote genutzt wurde. Die Firma wandte sich an das BKA und an
das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik. Doch man fühlte sich dort nicht zuständig. Am
Ende wurde das Unternehmen an die lokalen Polizeidienststellen verwiesen. Was das angesichts veralteter
Ausstattung der Polizei und nur weniger Internetexperten
dort bedeutet, kann sich jeder ausmalen.
In den USA schenkt man diesem Thema in der Politik
eine weitaus größere Aufmerksamkeit als bei uns. Präsident Clinton beispielsweise hat sich nach den Internetattacken vom Februar persönlich mit Experten beraten
und zu diesem Gespräch sogar einen der bekanntesten
Hacker ins Weiße Haus eingeladen. Wir in Deutschland
können uns schon glücklich schätzen, wenn sich Gerhard
Schröder, der sich in der Öffentlichkeit gern als „OnlineKanzler“ präsentiert, immerhin jetzt beibringen lässt, wie
das Internet überhaupt funktioniert.
Randbemerkung: Wusste er das eigentlich schon, bevor er die Green-Card-Offensive gestartet hat?
Herr Schily hält das BKA mit seinen Experten nach eigenem Bekunden für „bestens geeignet für diese Aufgabe“. Jedenfalls steht es so in der „Welt“. Dagegen bezeichnet der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten, Eike Bleibtreu, den Kampf im Internet als längst
verloren. Bleibtreu schätzt, dass es im gesamten Bundesgebiet noch nicht einmal 50 Internetfahnder gibt. Hinzu
kommt, dass in einer Spezialbehörde wie dem BSI von
den rund 360 Beschäftigten nicht einmal ein Dutzend für
das Internet zuständig ist.
Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität: Bereits vor einem Jahr kündigte das
Innenministerium eine spezielle Internetsuchmaschine
an, die es der Polizei erleichtern sollte, strafrechtlich relevante Inhalte festzustellen, Beweismittel, Absender und
Adressaten zu ermitteln. Fakt ist: Bis heute ist in dieser
Hinsicht nichts realisiert.
Auch die gebildete Taskforce „Sicheres Internet“ bleibt
weit hinter den Erwartungen zurück. Die von ihr erarbeiteten „15 goldenen Regeln“ werden selbst vom Chaos
Computer Club als „Beschwichtigung der Öffentlichkeit“
eingestuft.
Ich komme zum Schluss und frage die Bundesregierung: Was konkret unternehmen Sie, um Lösungen zur
Verbesserung der Sicherheitsstandards im internationalen
Kontext zu erreichen?
({2})
Haben Sie für das G8-Treffen in der kommenden Woche
einen konkreten Maßnahmenkatalog zur Globalisierung
der Gefahrenabwehr vorbereitet?
Frau Kollegin, ich
muss Sie an die Redezeit erinnern. Wir haben eine Aktuelle Stunde.
Ja, ich komme zum
Schluss.
Haben Sie, Herr Minister Schily, wenn Sie sich für eine
internationale Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen
aussprechen, dem Kanzler ein konkretes Aufgabenpaket
geschnürt, das er auf dem G8-Gipfel abarbeiten und erörtern soll?
Wir alle sind gefordert, auch und gerade als Politiker
das öffentliche Bewusstsein in Fragen der Informationsund Infrastruktursicherheit zu fördern.
Frau Kollegin, ich
muss Sie nochmals daran erinnern: Wir haben eine Aktuelle Stunde.
Das ist mein letzter Satz.
Wenn wir nicht mit vereinten Kräften und gebündeltem
Expertenwissen endlich einen Zahn zulegen, ist es mit den
Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit im Internet
wie mit den Erfolgen der Regierung Schröder: Sie bleiben
virtuelle Realität.
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Grietje
Bettin.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich freue mich, dass ich hier heute zum ersten Mal reden
darf,
({0})
und das zu einem Thema, das gerade in meiner Generation in jeder Wohngemeinschaft, auf jeder Studentenbude
und in fast jedem Jugendzimmer zu einem Stück Alltagskultur geworden ist. Ich spreche über den Umgang mit
dem Internet.
({1})
- Das mag sein.
Unweigerlich verknüpft mit dem Thema Internet ist
natürlich die Frage der Sicherheit und hier insbesondere
die Virenproblematik, über die wir in den letzten Tagen
viel gehört und gelesen haben. Die Attacke des „I love
you“-Virus hat uns deutlich vor Augen gehalten, wie wenig eigentlich unsere Daten im Netz geschützt sind und
wie angreifbar wir in unseren ganz persönlichen
Intimbereichen geworden sind.
Was ist eigentlich ein Virus? Kleine Programme, die
meist mit bösen Absichten per E-Mail verbreitet werden
und deren Aktivierung in der Regel an bestimmte Ereignisse geknüpft oder wie hier bei diesem Virus auf unser
Liebesbedürfnis ausgerichtet sind, sind die Schattenseiten
dieser Alltagskultur. Jeden Monat kommen 150 bis 250
neue Viren auf den Markt. Die meisten sind harmlos, aber
5 Prozent der Viren sind wirklich so genannte Killerviren.
Was machen die Viren? Sie können Festplatten formatieren, den Bios-Chip überschreiben oder die Systemleistung bremsen. Auch können sie einzelne Anwendungen
oder Dateien löschen oder sich mittels eines E-Mail-Programms selbstständig verbreiten.
Die Fragen, die wir uns heute hier stellen, lauten: Was
können wir national und auch international gegen diese
Gefährdung tun? Wie können wir unsere Daten vor einem
Virenangriff schützen? Was können wir den Bürgerinnen
und Bürgern empfehlen, um ihre eigenen Daten vor Eingriffen zu schützen? Das betrifft den gesamten Datenbereich.
Eine Möglichkeit ist natürlich, den Rechner gar nicht
erst anzuschalten bzw. das Disketten- oder CD-RomLaufwerk auszubauen. Letzteres wird übrigens bereits in
größeren Netzwerken praktiziert. Einen relativ wirksamen Schutz bieten auch so genannte Virenscanner, die
ständig im Hintergrund laufen. Dabei müssen wir aber in
Kauf nehmen, dass unsere Rechner etwas langsamer arbeiten. Gefordert ist aber insbesondere die Initiative aller
Nutzerinnen und Nutzer. Wir müssen in einem stärkeren
Maße kritische Distanz zu allem halten, was aus dem Netz
kommt. Jeder sollte sich als sein eigener Datenschützer,
seine eigene Datenschützerin begreifen. Wir müssen uns
auch daran gewöhnen, alle Mails zu checken und Verdächtiges auch ungelesen zu löschen.
({2})
In den letzten Tagen wurde viel von der Einrichtung
von so genannten Firewalls gesprochen. Was bringen
diese Firewalls? Firewalls sollen ein Netzwerk vor Angriffen von außen schützen. Als Firewall bezeichnet man
einen Rechner bzw. eine Anordnung von Rechnern, die
zwischen zwei Netzwerke geschaltet sind. Diese Rechner
werden speziell unter Sicherheitsaspekten konfiguriert
und geben nur erwünschte Verbindungen frei. Hier läuft
alles nach der Strategie: Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten.
Ganz besonders wichtig ist auch, das de facto Microsoft-Monopol endlich aufzubrechen.
({3})
Durch die ausschließliche Verwendung eines Computerprogramms wurde eine kaum kontrollierbare Abhängigkeit geschaffen. Bisher hat sich Microsoft geweigert, Betriebsgeheimnisse der oft schwer durchschaubaren Programme preiszugeben, was sehr häufig auch die
Aufklärung behindert hat. Aus dem Bereich der Ökologie
wissen wir: Monokulturen können großen Schaden anrichten.
({4})
Das gilt leider auch für den Computersektor. Auch hier ist
Konkurrenz gefragt. Sie sollte gefördert werden, um
Buntheit und Programmvielfalt sicherzustellen. Letztendlich kann nur so verhindert werden, dass ein Virus eine so
große Masse von Systemen befällt und lahm legt.
Ich teile die Auffassung von Minister Schily, der fordert, dass alle zivil- und strafrechtlichen Möglichkeiten
geprüft werden sollten, um die Verursacher der jüngsten
Attacke zur Verantwortung zu ziehen. Dies macht aber
internationale Abstimmung erforderlich. Um Straftaten
aufklären zu können, ist es außerdem erforderlich, dass
die Ausbildung der Strafverfolger verbessert wird. Oft
hängen diese den Hackern in Bezug auf das technische
Wissen weit hinterher.
Ich habe mit großem Interesse die Anregung der CDUOpposition aufgenommen, einen eigenen Bundesbeauftragten für das Internet zu bestimmen.
({5})
Ich frage mich aber, ob es nicht effektiver wäre, dies in die
Arbeitsbereiche des Datenschutzbeauftragten zu integrieren.
({6})
Darüber sollten wir weiter im Gespräch bleiben.
Wir sollten den „I love you“-Virus als Alarmsignal,
aber auch als Chance begreifen, um schnell und pragmatisch zu handeln. Hierbei muss uns klar sein, dass mit nationaler Politik wenig zu bewegen ist. Es wird nicht das
Patentrezept gegen Virenattacken geben. Wir alle müssen
uns insbesondere im Bereich des Internet von der klassischen Vorstellung vom Staat als letzter und allmächtiger
Instanz lösen. Eher wird man verschiedene Strategien auf
verschiedenen Ebenen gleichzeitig verfolgen müssen, um
wirklich sinnvollen Datenschutz zu betreiben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Kollegin Bettin,
dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich
möchte Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu recht herzlich beglückwünschen. Ich hoffe - ich
denke, auch hier spreche ich im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen -, dass Sie Ihre zweite Rede ohne Krücken
halten können.
({0})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege HansJoachim Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wohl nie zuvor in der Kulturgeschichte hat es einen Liebesbrief gegeben, der weltweit solche Schmerzen und auch ökonomische Schäden angerichtet hat wie diese „I love you“
-Mails, ein Warnschuss, wenn auch mit mehr als 10 Milliarden Dollar Schaden ein überaus teurer, aus dem wir
dringend und umgehend Konsequenzen ziehen müssen.
In diesem Punkt sind wir uns alle einig.
Wir müssen erkennen, dass solche kriminellen, ja geradezu kriegerischen Attacken von überall auf der Welt
ausgeführt werden können. Eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung hat zu Recht eine „grundsätzlich neue Situation der Unsicherheit“ analysiert, weil es im Internet „kein
geschütztes Staatsgebiet mehr gibt, das an seinen Grenzen
erfolgreich zu verteidigen wäre“. Ob allerdings, Frau Kollegin Vogt, die Bundesregierung angesichts dieser zutreffenden Analyse ihre Hausaufgaben umfassend und vor
allem rechtzeitig gemacht hat, scheint mir nicht so ganz
sicher zu sein.
({0})
Bezeichnend ist es, dass zu dem Zeitpunkt, als Bundesinnenminister Schily seine Taskforce zusammenrief,
um über Gegenmaßnahmen zu beraten - das war am
4. Mai dieses Jahres um 17 Uhr; deswegen kann es nur die
neue Regierung sein, lieber Herr Tauss -,
({1})
ein junges Privatunternehmen, nämlich Datango aus Berlin, bereits einen „Webride“ gegen diesen Virus zur Verfügung stellen konnte. Dieses Beispiel macht deutlich,
dass gegen diese Form der Bedrohung ein Schutz allein
vom Staat nicht zu erwarten ist. Es ist vielmehr drängender und wichtiger denn je, auf eine Public Private Partnership zu setzen. In diesem Bereich gilt das Wort zu
Recht.
Künftig muss das Bundesinnenministerium aber auch
kompetente Warnungen von Praktikern ernster nehmen.
Ebenso wie der Virus „Melissa“ aus dem März 1999, so
ist auch der „I love you“-Virus eine Folge - in diesem
Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig - der
Microsoft-Monostruktur. Beide Viren betrafen nur Rechner mit Microsoft-Betriebssystemen und nutzten die fehlende Transparenz der MS-Quellcodes gnadenlos aus.
Auf diese Gefahr hatten zahlreiche Experten wie auch
die 57. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder rechtzeitig hingewiesen, die bereits
Monate vor diesem Angriff mahnten, „nur solche Produkte einzusetzen, welche auch eine Transparenz der Verfahrensabläufe gewährleisten“.
({2})
Diese ausdrückliche Warnung war ursprünglich vom Bundesinnenministerium in seinem KBSt-Brief Nr. 2/2000 im
Netz veröffentlicht. Dem Vernehmen nach soll aber Frau
Staatssekretärin Zypries veranlasst haben, dass diese berechtigte Warnung alsbald vom Server genommen wurde.
({3})
Wenn Herr Innenminister Schily eine Verschärfung der
deutschen Strafvorschriften gegen solche Hacker fordert,
wird dies bei potenziellen Tätern in Manila oder Taschkent mit Sicherheit schlotternde Knie hervorrufen. Auch
in diesem Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig:
Die Eigenart des globalen Netzes macht es unabdingbar,
dass Verteidigungsstrategien supranational entwickelt
werden müssen. Der „I love you“-Virus hat im Übrigen
auch die dringende Notwendigkeit einer weltweiten Internetkonvention und einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit drastisch vor Augen geführt.
Die Erhöhung der Netzsicherheit ist nicht etwa ein exotisches Außenseiterthema, sondern wird zu einer Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft.
Wenn deshalb der „I love you“-Virus zum Startschuss für
eine solche weltweite Internetkonvention wird, so hat er
uns ungewollt einen Liebesdienst erwiesen. Um im Bild
zu bleiben: Genauso wie bei der Aktion „Safer sex“ brauchen wir eine Aktion „Safer surf“, an der sich nicht nur die
Regierungen und die Wirtschaft zu beteiligen haben, sondern in wachsendem Maße auch die Nutzer.
({4})
Denn es ist wahr: Wir brauchen technische Lösungen,
aber wir brauchen auch einen Bewusstseinswandel.
Ich werbe dafür - da bin ich mir auch einig mit meinen
Vorrednern -, dass diese Probleme natürlich auch eine Beteiligung und eine Vorsicht der Nutzer erfordern. Man
muss diese Briefe oder Mails nicht öffnen. Deswegen eine
Aktion „Safer surf“ über alle Parteigrenzen hinweg, über
nationale Grenzen hinweg. Das ist das Gebot der Stunde.
Wir sind bereit, hieran mitzuwirken.
Vielen Dank.
({5})
- Die Inder auch.
Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als das Internet noch eine
Spielwiese war für ein paar abgedrehte Freaks, auch „Cyber Punks“ genannt, kümmerte sich eigentlich kaum jemand um die Sicherheit der Daten im Netz.
({0})
- Kaum jemand, Kollege Tauss. - Ob Datenmaterial authentisch und Anwendungen angriffssicher waren, das
interessierte zumindest hier im Hause - natürlich bis auf
den Kollegen Tauss - kaum jemanden. Erst seitdem das
Internet nicht mehr nur als freier Kommunikationsraum genutzt wird, sondern vor allem als elektronischer
Markt, also erst seit es ein großes kommerzielles und
wirtschaftliches Interesse gibt, sorgen sich Fachleute natürlich auch um die Sicherheit im Netz.
Es ist kein Zufall, dass die Experten auf diesem Gebiet
vor allem im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind.
({1})
Es war auch das Wirtschaftsministerium, das sich schon
zu CDU-Zeiten, aber auch danach für die uneingeschränkte Verschlüsselung von Daten stark gemacht hat.
Ich unterstelle: nicht unbedingt aus demokratischem Interesse an einer privaten Kommunikation, sondern natürlich
aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen.
({2})
Der sichere Datenfluss im Internet ist schließlich die Voraussetzung für die Abwicklung elektronischer Geldgeschäfte und insofern treffen sich natürlich hier berechtigte
Interessen der Wirtschaft mit den Interessen der Bürgerinnen und Bürger.
Ähnlich verhält es sich mit Hacker-Angriffen, ServerAttacken und E-Mail-Viren. Derartige Störungen beeinträchtigen sowohl den Geschäftsverkehr als auch die
Kommunikation und den Informationsaustausch. Es ist
daher meines Erachtens richtig, wenn Maßnahmen ergriffen werden, das Netz gegen solche Angriffe resistent zu
machen. Es geht dabei aber vor allem um technische Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet. Es täte der deutschen Wirtschaft - wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen - recht gut, diese technischen Weiterentwicklungen
mit zu verfolgen.
({3})
Die Verfolgung der Täter ist eine andere Sache. Solange es Schwachpunkte und Angriffpunkte bei der Sicherheit im Internet geben wird, wird immer wieder irgendjemand irgendwo auf dieser großen Welt versuchen,
diese Sicherheitslücken auch auszunutzen, sie aufzudecken. Manchmal muss man diesen Menschen nahezu
dankbar sein, weil sie genau diese Schwachpunkte im
Netz aufdecken. Ich darf daran erinnern, dass die einstmals bösen Buben des hier schon angesprochenen Chaos
Computer Club heute unter anderen zu den Beratern der
Bundesregierung gehören. Auch die Bundesregierung
setzt sich also damit auseinander.
Im Moment haben alle Angst vor Virenangriffen per
E-Mail. Wer häufig im Internet ist, weiß natürlich, dass es
um ein Vielfaches mehr an Virenwarnungen gibt, als es
tatsächlich Viren im Netz gibt. Der „I love you“-Virus ist
dabei natürlich eine ziemlich gefährliche und auch absolute Ausnahme, die uns in den letzten Tagen sehr erschüttert hat. Klar ist auch: Ob falsche oder echte Virenwarnung, davor muss man sich schützen. Ich hoffe, dass die
Expertinnen und Experten beim BSI gute Ideen für effektive Schutzmaßnahmen entwickeln. Diese Aufgabe
kommt natürlich auch der Industrie zu.
Virenangriffe sind ein ernst zu nehmendes Problem.
Dennoch möchte ich noch zwei oder drei andere Faktoren
ansprechen, die das Vertrauen der Menschen in die Internettechnologie meines Erachtens auch - zu Recht - beeinträchtigen, zum Beispiel die Datenrückverfolgung, die
jetzt eingesetzt wird, um den Virusverschickern auf die
Schliche zu kommen.
Für die Sicherheitsbehörden ist diese Rückverfolgung der
Datenspur natürlich hilfreich. Für den normalen Anwender kommen Fragen hinsichtlich der Anonymität im Netz
auf. Es existiert eine permanente Verunsicherung. Darüber hinaus sind die Verschlüsselungsprogramme heute oft
etwas für Spezialisten. Es gibt in der Gesellschaft ein extrem starkes Gefälle zwischen den Menschen, die an
ihrem Rechner ohne jedes vernünftige Virenschutzprogramm arbeiten, und denjenigen Sicherheitseliten, die immer den aktuellsten Schutz aufbieten können. Auch gegen
dieses Gefälle muss man etwas tun.
Ein anderer Aspekt. Ich habe mich in der letzten Zeit
sehr intensiv mit dem Internet im Zusammenhang mit
Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder auch Seniorinnen und Senioren beschäftigt. Wenn Sie sich die
Qualifizierungsangebote auf diesem Gebiet, die so langsam in Tritt kommen, ansehen, stellen Sie fest, dass vielfach vermittelt wird, wie man das Internet einsetzen kann,
wie man es nutzen kann, welche Chancen es bietet. Aber
eine solche Bildung vermittelt zurzeit nichts über die Risiken. Darüber wird häufig nicht gesprochen. Ich denke,
dass das keine wirkliche Vermittlung von Kompetenz im
Umgang mit dem Internet ist, sondern dass es da um
gesellschaftliche Gruppen geht, die als potenzielle Konsumentinnen und Konsumenten infrage kommen. Ich
glaube, dass man hier, wie es schon angesprochen worden
ist, auch viel häufiger über die Risiken sprechen muss,
statt dass nur über die Chancen und die Möglichkeiten der
Verwendung gesprochen wird.
Obwohl ich wirklich von den Partizipationsmöglichkeiten begeistert bin, die das Internet mit sich bringt,
lehne ich zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel VeranstaltunHans-Joachim Otto ({4})
gen wie Wahlen im Internet ab. Denn diese suggerieren
eine Datensicherheit, die noch nicht vorhanden ist. Das
geht in die falsche Richtung. Man sollte über die Datenunsicherheit reden. Deswegen geht es meines Erachtens nicht darum, ein größtmögliches Sicherheitsgefühl
zu vermitteln, sondern es geht darum, den Nutzerinnen
und Nutzern wirklich Sicherheit im Netz zu bieten.
({5})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Marquardt, es
ist immer mein Schicksal, in solchen Debatten nach Ihnen
zu sprechen.
({0})
- Das ist ein erfreuliches Schicksal. - Insofern erlaube ich
mir auch jetzt, zu sagen, was uns in diesem Punkt unterscheidet. Natürlich gibt es Risiken; das ist gar keine
Frage. Natürlich ist tatsächliche Sicherheit besser als irgendein Gefühl von Sicherheit. Nur, wer ständig vor allem über Risiken redet, baut gerade bei denjenigen eine
Hemmschwelle auf, diese Techniken zu nutzen, von denen Sie gesprochen haben, beispielsweise auch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Lassen Sie mich etwas zu dem Problem sagen. Die
Zahlen sind genannt. Laut „Tagesspiegel“ - dem wir jetzt
einfach einmal vertrauen - wurde durch das „I love you“Virus und viele andere Viren, die sich anders nennen, ein
Schaden von bis zu 10 Milliarden US-Dollar angerichtet.
Die Frage, die wir heute zu diskutieren haben, ist: Welche
tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten haben wir als Politiker? Da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Otto, vollkommen Recht - das liegt nicht an meinem neoliberalen Outfit heute, blau-gelb,
({1})
sondern das wussten wir auch vorher schon -, dass das nur
in Kooperation mit der Wirtschaft geht - wie denn sonst? -,
natürlich auch mit der Wissenschaft und mit privater Initiative; Chaos Computer Club ist genannt worden.
Ich möchte aber drei Punkte bei den Handlungsmöglichkeiten in den Vordergrund stellen. Das Wichtigste ist,
dass wir uns über Prävention unterhalten. Das ist der technische Kampf, den wir gegen die Viren aufzunehmen
haben. Viren werden nie ganz auszuschließen sein. Eine
Firewall - das werden wir als Bundestagsabgeordnete bei
dem System, das wir verwenden, erleben - schafft allerdings nicht immer besonders viele Handlungsmöglichkeiten. Die Reden beispielsweise, die wir hier im Parlament
halten, kann sich jeder draußen im Lande, der die entsprechende Software hat, auf seinem Rechner anschauen.
Wir können das als Abgeordnete nicht, weil wir uns diese
Software nicht auf den Rechner laden können. Das ist die
Kehrseite dieser Medaille. Aber da wird die technische
Entwicklung auf dem Markt Lösungen präsentieren, die
uns diesen Kampf erleichtern werden.
Erst in zweiter Linie - das ist auch notwendig - ist über
Strafverfolgung, über Sanktionen und gegebenenfalls
auch über die Verschärfung von Sanktionen zu sprechen.
Es geht nicht - es ist gut, dass wir diese Einschätzung
heute alle teilen - um so etwas wie einen elektronischen
Klingelstreich, sondern es geht tatsächlich um so etwas
wie elektronische Briefbomben, die wirtschaftlichen
Schaden anrichten, die vor allen Dingen in kleinen und
mittelständischen Unternehmen, welche 60 Prozent der
Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze in
Deutschland stellen, nachhaltigen Schaden anrichten.
Deshalb geht es neben Prävention und neben Strafverfolgung auch um die Frage der Versicherung, also der
Nachsorge in dem Bereich. Ich bin froh und dankbar, dass
die Versicherungswirtschaft mittlerweile auch hier Angebote parat hält. Ich appelliere an dieser Stelle aber auch an
die Wirtschaft, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen faire Konditionen auszuhandeln und die jetzige Situation nicht in der Form zu nutzen, angesichts des
bestehenden Problemes Leute über den Tisch zu ziehen.
Ich will das keinem unterstellen; aber ich halte das für einen wichtigen Punkt.
({2})
Meine Damen und Herren, über die Pluralität, über das
Marktgeschehen von Betriebssystemen ist an dieser Stelle
auch schon gesprochen worden. Ich unterstreiche das Gesagte. Es gibt bestimmte Systeme, zum Beispiel Linux
oder Macintosh, die diese Virusprobleme nicht hatten.
Aber 90 Prozent der Rechner auf der Welt laufen auf
Microsoft- bzw. auf Windows-Basis. Das ist ganz einfach
so. Es ist nicht nur ordnungspolitisch bedenklich, welches
Maß an Konzentration es in diesem Bereich gibt - die
amerikanische Regierung hat das deutlich gemacht, sie
muss natürlich gegebenenfalls mit Mitteln des Kartellrechts diese Dinge regeln -, sondern es ist auch aufgrund
der Angreifbarkeit des Systems, was Viren betrifft, bedenklich.
Nun können wir eines nicht tun, nämlich als Politiker
zu versuchen, Unternehmen zu zwingen, bestimme Betriebssysteme für ihre Arbeit heranzuziehen und andere
nicht. Natürlich gibt es Ansprüche im Hinblick auf Konvergenz und Kompatibilität, die man politisch nicht verordnen kann, die sich vielmehr technisch ergeben. Trotzdem müssen wir auf die bestehende Gefahr hinweisen und
in letzter Konsequenz ordnungspolitisch intervenieren,
wenn sich ein Marktversagen, das technisch bedrohlich
ist, in diesem Bereich durch eine Monopolbildung abzeichnet.
Zum Schluss: Zum Internet gehört die Offenheit,
gehört die Möglichkeit, die individuellen Freiheiten weiter auszubauen. Wir haben uns in diesem Hause - zumindest verbal und zunehmend auch in Regelungsform darauf verständigt, diesem Ganzen einen sicheren Ordnungsrahmen zu geben. Die Bundesregierung handelt.
Der Bundesinnenminister hat schon letztes Jahr eine entsprechende Initiative ergriffen. Frau Kollegin Bonitz, ich
gestatte mir den Hinweis darauf: Das Spielchen in
Aktuellen Stunden - „Ihr habt noch nicht“ und unsere
Antwort darauf: „Ihr früher aber erst recht nicht“ - mag
ich eigentlich nicht. Aber wenn Sie damit beginnen, muss
ich es fortführen und sagen: Was haben Sie denn früher in
dieser Angelegenheit getan? Da gab es nur Absichtserklärungen. Jetzt müssen wir ein konkretes Problem lösen.
Helfen Sie uns lieber, anstatt in die Vergangenheit zu
schauen.
Wie gesagt, die Bundesregierung handelt. Die SPDBundestagsfraktion bzw. die Koalitionspartner unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen. Ich denke,
nur so gelingt es, dieser Geißel im System Abhilfe zu
schaffen. Wir setzen auf Kooperation. Ich bin froh, dass
sich in diesem Hause trotz mancher Spielereien zumindest in dieser Frage so etwas wie ein Konsens abzeichnet.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Computervirus „I love you“ hat verheerende Schäden angerichtet.
Jetzt geht es zum einen um die Begrenzung dieser Schäden. Zum anderen aber geht es um die Frage: Wie können
solche Schäden künftig vermieden werden? Vor allem
geht es um die Frage: Welches Ausmaß an Gefährdung besteht für die Allgemeinheit? Es geht ja nicht nur darum,
dass Einzelpersonen und Unternehmen geschädigt worden sind, sondern dass für die gesamte Volkswirtschaft
und letztlich für den Staat eine Bedrohung besteht.
Seit der Debatte um das Jahr-2000-Computerproblem
weiß doch jedes Kind, wie sehr wir in all unseren Alltagsdingen vom Computer und vom Netz abhängen und
welche außergewöhnliche Bedeutung der Sicherheit von
Informations- und Kommunikationsanlagen zukommt.
Wenn jetzt Einzeltäter mit einem Computervirus enorme
Schäden anrichten können, dann ist zu fragen, um wieviel
größer die Gefährdung ist, wenn sich organisierte Verbrecherbanden oder gar verbrecherische Regime dieses
Themas annehmen.
Da muss man schon die Frage stellen: Was tut eigentlich die Bundesregierung, um dieser umfassenden Bedrohung zu begegnen?
({0})
Wo ist der strategische Ansatz? In ihrem Aktionsprogramm zur Informationsgesellschaft, das 140 Seiten umfasst, widmet sie dem Thema Sicherheit knapp vier.
({1})
Der Bundesinnenminister hat den Bericht der Arbeitsgruppe KRITIS, die meiner Erinnerung nach noch vom
früheren Bundesinnenminister Kanther eingerichtet worden ist, zum Thema kritische Infrastrukturen entgegengenommen. Mehr nicht! Was denkt eigentlich der Bundesverteidigungsminister in dieser Frage, die sehr viel mit
äußerer Sicherheit zu tun hat? Er schweigt.
({2})
Hat er noch nicht gehört, dass sich in den USA Heerscharen von Wissenschaftlern mit dem Thema Informationskrieg befassen? Und wo ist insgesamt eine angemessene
Sicherheitsforschung? Wo ist eine grundlegende strukturierte Bedrohungs- und Sicherheitsanalyse mit einer Prioritätenliste?
({3})
Als es in den 60er- und 70er-Jahren darum ging, das
große Risiko, das mit der Nutzung der Kernenergie verbunden ist, in den Griff zu bekommen und zu minimieren,
wurden in Deutschland drei große Forschungseinrichtungen mit Tausenden von Wissenschaftlern gegründet. Wo
gibt es Vergleichbares angesichts der großen Herausforderung in der Informationstechnik? Statt sich dieses Themas anzunehmen, beschäftigt sich die Bundesforschungsministerin mit der Zerschlagung der einzigen Organisation, die in der Lage wäre, sich eines solchen Themas
anzunehmen, nämlich der GMD.
({4})
Sie sollte mehr darüber nachdenken, wie ein strategischer
Ansatz gefunden werden kann, den Gefahren für Computer und Netz, die letztlich den Lebensnerv unserer Gesellschaft bedrohen, zu begegnen.
Und wo bleiben die wirksamen Maßnahmen der Regierung, um endlich zu einer Offenlegung der Quellcodes
der Software zu kommen? Der „I love you“-Virus hätte
sich möglicherweise auch bei einer freien Software verbreitet. Aber die Maßnahmen, dem zu begegnen, wären
wirksamer gewesen.
({5})
Es ist ja kein Zufall, dass sich dieser Virus in dem geheim
gehaltenen Outlook so verbreitet hat. Wo bleiben die Aktivitäten der Bundesregierung, um beispielsweise dem offenen Betriebssystem Linux zum Durchbruch zu verhelfen?
({6})
Es gibt noch etwas Unglaubliches. Da beschäftigen
sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon
zwei Tage lang mit dem Weg Europas in die Informationsgesellschaft und mit allgemeinen Sicherheitsfragen.
Der Herr Bundeskanzler hat darüber am 6. April im Plenum berichtet.
({7})
Aber das Thema „Sicherheit von Computern und Netzen“
kommt in der Schlusserklärung der EU und in der Rede
des Bundeskanzlers nicht einmal in einem Nebensatz vor.
Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.
({8})
Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, dem
Thema „Schutz von Computern und Netzen vor Angriffen
von innen und außen“ endlich die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken und umgehend zu handeln: Als Erstes muss ein verantwortlicher Minister benannt werden,
der eine umfassende Zuständigkeit hat, damit dieses
Thema nicht im Gerangel der Ressorts zerrieben wird.
Dann muss die systematische Forschung und die generelle Offenlegung der Software folgen. Und schließlich
muss die Sicherheit von Computern und Netzen zu einem
europäischen Thema ersten Ranges gemacht werden.
({9})
Ich gebe dem Kollegen Matthias Berninger für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher hatte,
so finde ich, diese Debatte einen sehr guten Zug; denn wir
hatten eine sehr breite Einigkeit darüber, dass es sich sowohl bei diesem Virus als auch bei anderen Viren, die die
Sicherheit im Netz gefährden, um ein Problem handelt,
für das wir alle gemeinsam nach Lösungen suchen müssen und bei dem wir schlecht in Schuldzuweisungen verfallen können. Der Kollege Mayer ist da einen etwas anderen Weg gegangen. Das bedaure ich ein bisschen, zumal
er sich nach der Erledigung seiner Hausaufgaben fragen
lassen muss.
Ich halte das, was Sie zum Thema Monopolbildung
und Quellcodes und über Microsoft gesagt haben, für sehr
löblich. Nun muss man wissen, dass das Thema Microsoft
insbesondere von der Bayerischen Staatskanzlei besonders nett behandelt wird. Es gibt nämlich keinen Ministerpräsidenten, der so am Monopolisten hängt wie Ministerpräsident Stoiber.
({0})
Das ist ein Problem, über das man hier auch einmal offen
reden muss.
({1})
Wir reden auch von der Neuordnung der Forschungslandschaft. Sie haben gesagt, dass die GMD zerschlagen
werden soll. Damit betreiben Sie natürlich Panikmache;
denn darum geht es gar nicht. Es geht darum, im Bereich
der neuen Medien effiziente Forschungsstrukturen zu
schaffen. Durch die Zusammenlegung von FraunhoferGesellschaft und GMD erhalten wir die größte Forschungseinrichtung im Bereich der Informationstechnologie in ganz Europa.
({2})
Ich halte das für einen guten Weg. Inhaltlich ist das auch
von Ihrer Fraktion bisher nicht kritisiert worden.
Herr Kollege Mayer, damit wir uns wieder vertragen:
Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen, nämlich
die Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU in
Lissabon, wo mit dem Thema „E-Europe“ ein wichtiger
Schritt nach vorne erreicht worden ist. Die Staats- und Regierungschefs haben nämlich erklärt, dass ihnen dies sehr
wichtig ist. Dabei war vor allen Dingen von E-Commerce
und Zugang die Rede;
({3})
die Sicherheit spielte für alle Beteiligten nicht die entscheidende Rolle.
({4})
Der Kollege Otto hat es angesprochen: Der „I love
you“-Virus kann eine heilsame Funktion haben, nämlich
insoweit, als man nicht in Euphorie verfällt, sondern das
Thema Sicherheit ganz weit nach vorn schiebt und nicht
nur krude über Inhalte redet. Wenn bisher über Sicherheit
geredet wurde, wurde vor allem darüber geredet, welche
Inhalte im Netz verbreitet werden; es wurde weniger über
diese Form der systematischen Gefährdung gesprochen.
({5})
Ich denke, das wird sich ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher halten sich
solche Gefährdungen noch in einem einigermaßen erträglichen Rahmen. Die Zahl, die für den Schaden genannt
wurde, 10 Milliarden DM, hängt natürlich auch damit zusammen, dass in den wirtschaftlichen Schaden sehr viele
das Wachstum bremsende Effekte eingerechnet werden.
Ich bin froh darüber, dass die Schäden bisher nicht das
Ausmaß zum Beispiel von Naturkatastrophen haben, bei
denen die Leute ihre Häuser und Ähnliches verlieren. Das
kann zumindest ein wenig beruhigen. Insofern sollte man
die Schadenssummen auch relativieren.
Nur, wir sind auf dem Weg dorthin, dass die Medien
miteinander verschmelzen. UMTS ist ein wichtiges Stichwort. Alle reden davon, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch bald sehr viel Geld einnehmen kann.
({6})
UMTS steht auch dafür, dass die Medien, verschiedene
Anwendungen, etwa Internet und Handy - wahrscheinlich wird sogar bald der Kühlschrank versuchen, mit mir
zu sprechen -, miteinander verschmelzen werden. In dem
Moment, in dem das passiert, werden die Anfälligkeit und
das Risiko erst richtig groß. Das unterstreicht eines: Die
Dr. Martin Mayer ({7})
Politik hat mehrere Aufgaben. Die Politik hat die Aufgabe, den Zugang zu sichern.
({8})
Hier tut die Bundesregierung sehr viel; auch die Telekom
und andere Unternehmen sind bereit, hier etwas zu tun.
Ich bin der Meinung, dass man nicht auf einen Monopolisten setzen darf, sondern auch den anderen eine Chance
geben sollte.
Wir entwickeln Programme und Lernsoftware, damit
die Menschen lernen, mit dieser Technologie umzugehen.
Dort stecken wir auch sehr viel Geld hinein. Das heißt,
beim Thema Zugang sind wir aktiv.
Der zweite Punkt ist die Sicherheit. Der Innenminister
kann ebenso wenig wie irgendein anderes Kabinettsmitglied sagen: „Ich kann allein für die Sicherheit sorgen“,
sondern das ist ein globales Problem. Die Europäer müssen sich gemeinsam hinsetzen
({9})
und dürfen nicht den Amerikanern allein die Form der Sicherheitsphilosophie und der Standardsetzung überlassen.
Denn anhand der Frage, welche Wege wir bei der Sicherheit gehen, entscheidet sich auch, wie das Internet von
morgen aussehen wird. Ich erwarte hier, dass die Europäer
mehr machen. In Lissabon ist in dieser Frage zu wenig geschehen; das muss man einfach auch einmal sagen.
({10})
Das kann man aber nicht einer Regierung vorwerfen.
({11})
Ein dritter Punkt betrifft die Vielfalt. Sie alle haben
eine Einladung zu einer Tagung bekommen, auf der dann
wieder der Monopolist in diesem Fall mit den Beamten
gemeinsam über das Thema Neue Medien diskutiert,
während die anderen Anbieter in den Hintergrund geraten.
Ich wünsche mir, dass gerade die öffentliche Hand mit
gutem Beispiel vorangeht. Wir haben andere Möglichkeiten; wir können auf andere Produkte setzen. Das sollten
wir tun. Die Bundesregierung sollte auf europäischer
Ebene darauf drängen, dass Microsoft aus den gleichen
Gründen wie in den Vereinigten Staaten kartellrechtlich
behandelt wird. Das ist dringend nötig, wenn man für
Vielfalt sorgen will.
Bei all diesen Themen können wir, denke ich, im Konsens vorankommen; wir wissen, dass da etwas passieren
muss.
Zu guter Letzt: Es gibt keine totale Sicherheit im Internet. Der Staat kann unheimlich viel tun und er sollte
auch etwas tun. Aber diejenigen, die die E-Mails aufmachen, tragen die Hauptverantwortung. Es hat jemand, aus
meiner Sicht zu Recht, gesagt: Wenn man eine E-Mail
aufmacht, die unbekannt ist, dann ist das genauso, als
würde man ein dreckiges Bonbon von der Straße aufheben und weiter lutschen. Nur, das Tückische ist eben, dass
oft der Absender nicht unbekannt ist, sondern sich mit
dem Absender irgendein bekannter Name verbindet. Die
Menschen selber müssen die Verantwortung übernehmen.
Hier gilt es, Aufklärung voranzutreiben, aber hier gilt es
vor allem, die Unternehmen zu verpflichten, dass sie in
ihren Programmen entsprechende Warnroutinen einbauen. Auch hier, denke ich, muss einiges getan werden.
Insgesamt glaube ich wie der Kollege Otto, dass der
„I love you“-Virus letzten Endes heilsam sein kann und
das Immunsystem des Internet am Ende durch die Gegenmaßnahmen gestärkt wird, wenn sie schnell und konzertiert auf allen Ebenen ergriffen werden.
Vielen Dank.
({12})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße sehr, dass wir
heute die Gelegenheit haben, über ein sehr ernsthaftes
Problem zu reden. Ich habe mich gerade noch einmal mit
unserem Oberexperten, Herrn Tauss, verständigt, ob denn
die durch das neuerliche Virus entstandene Schadenssumme von 10 Milliarden DM realistisch ist. Ich denke,
darüber sollte man auch gar nicht streiten. Vielmehr muss
man erkennen, dass es sich um eine ganz ernsthafte Herausforderung handelt.
Ich hoffe, wir begreifen alle diese Zeichen an der
Wand. Das Internet ist eine Innovation, deren Stellenwert
wir in seiner ganzen Tragweite eigentlich nicht wirklich
ermessen können. Vergleiche hinken immer; aber es ist sicherlich so wichtig wie vor 500 Jahren die Einführung der
Buchdruckerkunst - eine völlig neue Kulturtechnik, die
uns alle ergreift und menschlich verändert, ein riesiger
Beitrag zur Ökonomie, ein Geschäft mit Folgen, die wir
alle noch gar nicht richtig abschätzen können.
Es gibt große Chancen, aber auch Risiken. Wir reden
heute weniger über die Chancen als vielmehr über die Risiken. Die sind sehr ernst. Ich denke, wir sollten diesen
„I love you“-Virus als letzte Mahnung begreifen, dass wir
nicht tatenlos zusehen dürfen, was sich neben den Chancen an Risiken entwickelt.
Wir werden heute auch den einen oder anderen Beitrag
zu Computerkriminalität, zu Internetkriminalität hören.
Ich will das überhaupt nicht gering schätzen, was hier an
Straftaten begangen worden ist, und bin natürlich entschieden dafür, dass wir Lücken - insbesondere im internationalen Strafrecht - schließen. Ich glaube, auf nationaler Ebene ist das im Wesentlichen alles in Ordnung; da haben wir keinen Nachholbedarf.
Aber ich muss Ihnen ganz freimütig sagen: Es interessiert mich nicht so sehr - ich bitte, das nicht misszuverstehen -, in Manila oder sonst wo auf der Welt jemanden
als Hacker zu entlarven und ihn zu bestrafen, auch nicht
bei einer Schadenssumme von 10 Milliarden DM. Mich
interessiert, dass Sicherheit im Netz geschaffen wird,
({0})
dass der Verbraucher nachhaltig geschützt ist. Da will ich
Ihnen deutlich sagen: Die Bundesregierung verdient Unterstützung dabei, diesen Weg konsequent weiter zu beschreiten.
({1})
Herr Otto, hören Sie mir bitte zu!
({2})
Es geht doch letzten Endes darum, dass nicht der Staat
diese Sicherheit zu schaffen hat,
({3})
sondern das eine Bringschuld der Wirtschaft ist. Sie muss
das Netz sicher machen.
({4})
- Sicherlich, Herr Mayer, nicht ganz alleine. Insofern gibt
es die politische Verantwortung. Aber die Bundesregierung ist dieser Herausforderung nicht nur gewachsen,
sondern kommt ihr auch nach.
Trotzdem: Der Akzent liegt auf der Wirtschaft. Diejenigen, die mit dem Internet große Geschäfte machen - das
sollen sie ja auch tun -, sollen bitte auch die Technik, die
sie anwenden und einbringen, sicher machen.
({5})
Wer ein Auto in Verkehr bringt, muss es sicher machen.
Das richtet sich nicht an die Justizministerin und den Innenminister, sondern an den Produzenten.
({6})
Ich will auch überhaupt niemanden vorführen. Ich möchte,
Herr Otto, dass dort Geschäfte gemacht werden. - Ich rede
gerade mit Ihnen, Herr Otto.
({7})
- Ich kommuniziere mit Ihnen und anderen.
Es geht darum zu sehen: Wer muss wo Verantwortung
wahrnehmen? Ich sage: Es gibt eine Bringschuld der
Wirtschaft. Das ist keine Frage von neuen oder schärferen
Gesetzen. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung weiter den Weg verfolgt, sich mit der Wirtschaft zusammenzusetzen. Nach Möglichkeit sollte dies freiwillig geschehen; wenn es nicht geht, national wie international auch
per Gesetz. Aber ich hoffe, es geht im Rahmen von Vereinbarungen.
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das sehr
kühn klingen mag - Vergleiche hinken immer; ich bitte
also um Nachsicht, wenn sich das nicht gleich auf Anhieb
erschließt -: Wir haben vor Jahren besonders große Probleme mit dem Autodiebstahl gehabt. Was haben wir gemacht? Aus der Opposition heraus haben wir unter anderem Wegfahrsperren veranlasst
({8})
- die Koalition hat das mit aufgegriffen - und die Industrie hat das trotz einiger Probleme umgesetzt. So sind
technologische Entwicklungen ermöglicht worden. Wenn
ich heute mit meinem Auto losfahren will, tippe ich vier
Zahlen ein und dann - aber auch erst dann - geht es los.
Anhand dieses simplen Beispiels müssen wir uns doch
einmal überlegen, wie auch im Bereich der Computertechnik, der Internetwirtschaft die Systeme sicher werden
können. Die Wirtschaft muss ein sicheres Betriebssystem
anbieten. Es wird niemals 150-prozentige Sicherheit geben. Aber es gibt eine 98-prozentige Sicherheit. Das muss
die Wirtschaft leisten, insbesondere diejenigen - wir wissen alle worum es geht -, die einen großen Marktanteil haben. Diese müssen in Zukunft wesentlich stärker auf Sicherheitsstandards achten. Es geht nicht in erster Linie um
Fragen von Strafbarkeit, sondern es wird in Zukunft darum gehen, dass ganze Teilbereiche unseres gesellschaftlichen Lebens durch solche Attacken auf Rechner möglicherweise lahm gelegt werden können.
Herr Kollege
Wiefelspütz, ich muss Sie an die Zeit erinnern.
Ich komme sofort zum
Ende. - Es geht darum, die Wirtschaft aufzufordern durchaus mit einer gewissen Führung der Politik -, die
Sicherheit des internationalen Datennetzes zu gewährleisten. Das ist eine Bringschuld der Wirtschaft. Diese
einzufordern werden wir nicht müde werden. Das sind
leistbare Dinge, übrigens auch im Interesse der Wirtschaft
und durchaus mit der Möglichkeit verbunden, weitere
Technologien zu entwickeln. Das ist eine Riesenchance
im Interesse aller Verbraucher und aller Bürger.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht der Kollege Elmar Müller.
Meine sehr
verehrten Damen und Herren! In meinem Alter bekommt
man nicht mehr viele Liebesbriefe.
({0})
Ich bin auch nicht sicher, was ich gemacht hätte, wenn ich
eine E-Mail mit dieser Überschrift erhalten hätte.
({1})
Wir unterhalten uns heute über Viren im Internet. Wir tun
aber gut daran, hier die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, die wir durch das Internet erreichen können, zu
betrachten. Es geht dort nicht nur um Viren.
Wir haben Gelegenheit gehabt, uns über Hackertätigkeiten zu unterhalten. Wir sehen und erleben die Möglichkeiten, Systeme, vor allem im Zusammenhang mit der
Spionage, auch im sozialen Bereich zu verändern. Man
stelle sich vor, was passieren würde, wenn Hacker ein Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland manipulieren würden. Dies wäre möglich und kann nicht ausgeschlossen werden. Man stelle sich vor, was passieren
würde, wenn Verkehrssysteme manipuliert würden, wodurch der Deutsche nicht mehr die Möglichkeit hätte, auf
kontrollierte und geordnete Ampelfunktionen zurückzugreifen. All diese Dinge müssen betrachtet werden. Keiner hat die Möglichkeit, Schuldzuweisungen zu verteilen.
Das ist eine Entwicklung, bei der wir in der Tat alle gefordert sind, vor allem die Regierung.
({2})
Frau Vogt hat vorhin gesagt, von der alten Regierung
seien diese Fragen vernachlässigt worden. Ich erlebe jedoch, dass die Ministerien gerade jetzt besonders aktiv
werden. Der Wirtschaftsminister lädt am Montag aus diesem Anlass Verbände und Wissenschaft ein und auch der
Innenminister ist in dieser Sache tätig. Wenn das Problem
im Oktober 1998 schon erkannt worden wäre, hätte man
die Diskussion damals geführt. Aber es benötigt diesen
konkreten Anlass. Sicherlich kann man nicht behaupten,
dass die Probleme durch die Mikroelektronik und die globale Vernetzung geringer geworden wären. Sie weiten
sich vielmehr im Grunde genommen jeden Tag aus und
keiner ist vor diesen Angriffen gefeit.
Die klassischen Verteidigungsmethoden der Aufklärung und Frühwarnung funktionieren in diesem System nicht. Der Vorwurf, den ich der Regierung mache das ist etwas, was die damals zuständigen Postpolitiker,
auf Ihrer Seite der Kollege Bury, 1998 erkannt und sich
auch gegenseitig versprochen haben -, besteht darin, dass
sie damals gesagt hat: Es muss gelingen, die Verantwortlichkeiten in diesem Bereich zusammenzuführen,
egal, welche Regierung nach dem September 1998 tätig
ist. Es hat sich aber leider nichts geändert. Es gibt Zuständigkeiten im Innen-, Wirtschafts-, Verkehrs- und
Wissenschaftsministerium. Es ist eine wichtige Aufgabe,
die Dinge mehr zusammenzuführen und zu bündeln sowie
die Verantwortlichkeiten nicht durch dezentrale Zuständigkeiten, sondern durch eine gebündelte Zuständigkeit
zu ordnen. Die Gefahren werden, wie wir gesehen haben,
immer größer.
Die Aufgaben müssen also gebündelt werden.
Welcher politischer Handlungsbedarf besteht nun? Der
Kollege Mayer und meine Kollegin Bonitz haben schon
einiges genannt. Die politischen Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden. Man mag über Microsoft schimpfen, wie man will, aber am Ende muss schon als eines der
Ziele genannt werden, dass wir gewisse Standards erhalten. Dazu haben wir auch auf europäischer Ebene durchaus Möglichkeiten. Die ECI in Nizza ist eine dieser
Einrichtungen, in denen staatliche und wirtschaftliche
Organisationen seit vielen Jahren erfolgreich bei der Standardisierung zusammenarbeiten. Das zeigt, dass Standardisierung auch in diesem Bereich möglich ist.
Der Aufbau so genannter redundanter und robuster
Teilstrukturen, die auch bestimme Bereiche des Staates,
der staatlichen Vorsorge und der staatlichen Organisation
schützen, muss möglich sein. Es muss möglich sein, dass
bestimmte Dinge auch im Notfall - es ist nicht ausgeschlossen, dass ein solcher in größerem Umfang eintritt und anschließend funktionieren und funktionsfähig bleiben. So muss zum Beispiel die Integration der gesetzlichen Daten- und Informationssicherheit in den Schutz der
öffentlichen Energie- , Rohstoff- und Güterversorgung,
des Transports und Verkehrs sowie des Katastrophenschutzes geregelt sein. Diese Teilbereiche müssen notfalls
auch durch Zweitsysteme gesichert werden.
Wir brauchen ein internationales Regelungsregime.
Das wurde bereits angesprochen. Dies ist notwendig.
Dazu zählen sicherlich auch die Treffen der europäischen
Regierungschefs. Aber daran sollten alle beteiligt sein,
und zwar jeder in seinem Bereich. Am Schluss - das muss
auch noch einmal festgehalten werden; Herr Kollege
Wilhelm, Sie haben es vorhin genannt - ist dann auch jeder Einzelne verantwortlich. Darauf muss man in diesem
Zusammenhang auch hinweisen.
({3})
- Er muss in die Lage versetzt werden. Aber er muss auch
seine eigene Verantwortung hinsichtlich der Anreize im
Internet erkennen. Er muss sich in seinem eigenen Interesse in der Nutzung des Internet üben und notfalls selbst
zum Beispiel die Gefahren beim Öffnen einer E-Mail erkennen und diese abwehren.
Ich bedanke mich herzlich.
({4})
Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den 60er-Jahren hat
es einmal folgenden Satz gegeben: „Trau keinem über
30!“ Manche werden sich an diesen Satz noch erinnern.
({0})
- Ja, da hinten erkenne ich einen.
Das Internet ist jetzt 30 Jahre alt. Am Anfang war es
sehr stark Pentagon-orientiert, und dann konzentrierte es
sich auf die Hardware. Danach kam die Phase der Software. Dann kamen die Betriebssysteme, und jetzt kommen wir in eine neue Phase, die sich mit Inhalten, mit
„content“, beschäftigt. Das Internet hat sich sehr stark
verbreitet. Es ist zu einer der wichtigsten Infrastrukturen
der digitalen Ökonomie geworden. Natürlich gibt es dabei auch kritische Infrastrukturen. Es gibt Achillesfersen.
Es gibt Bereiche, die empfindlich sind. Es gibt in einer
solchen globalen Weltwirtschaft, in einer solchen globaElmar Müller ({1})
len Infrastruktur vor allen Dingen auch den Bedarf - das
ist ganz klar zu erkennen -, dass die Regeln gelten, die wir
uns in einem rechtsstaatlichen historischen Prozess selber
erarbeitet haben.
Bis in die 80er-Jahre hinein gab es eine ganze Reihe
von Freaks - hier denke ich etwa an John Perry Barlow
oder andere -, die die These vertreten haben: Der Cyberspace ist ein neues Hoheitsgebiet; darin hat der Staat
nichts zu suchen. Diese These ist natürlich grundfalsch.
Das ist völlig klar. Bei der Verbreitung und dem Einsatz
des Internets muss online das Gleiche gelten wie offline.
Deswegen sind wir dabei, auf vielen Sektoren entsprechende Gesetzesanpassungen vorzunehmen, Novellierungen zu machen und auch neue Rahmen zu finden.
Wenn wir mit dem Netz einen globalen Infrastrukturrahmen haben, braucht man dazu auch einen entsprechenden
Ordnungsrahmen.
Das ist übrigens der Punkt, bei dem wir - Herr Mayer
weiß das sehr genau aus der Arbeit der Enquete-Kommission - erheblich vorangekommen sind. Das muss man klar
sagen. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in den
letzten Jahren erinnern. Damals hieß der Innenminister
Kanther. Wir hatten einen heftigen Streit, weil Herr
Kanther auf gar keinen Fall eine Verschlüsselung erlauben
wollte und gesagt hat: Wenn Verschlüsselung, dann nur
mit der Hinterlegung des Schlüssels, denn sonst können
das auch die Kriminellen nutzen.
({2})
Ich meine, es gab da eine sehr interessante Diskussion,
eine sehr interessante Front. Ich habe auch damals immer
gesagt: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass irgendein
Krimineller bei Ihnen, Herr Kanther, einen Schlüssel hinterlegt.
({3})
- Das hat er nicht verstanden. Das waren irgendwie alte
Antworten.
({4})
Nun, das war die Zeit, als wir noch nicht wussten, dass
er sehr viel mit Liechtenstein zu tun hatte. Es war aber offensichtlich so, dass die Frage nicht verstanden wurde.
Man gab alte Antworten auf neue Herausforderungen, auf
neue Probleme, und das dürfen wir nicht tun, wobei diejenigen, die Fachkundigen, die heute hier geredet haben,
das natürlich genau wissen. Deshalb müssen wir neue
Antworten finden.
Es gibt folgende neue Antworten:
Erstens. Wir brauchen konkrete Schritte der Umsetzung auch im Ordnungsrahmen. Ich teile übrigens die
Auffassung von Herrn Wiefelspütz. Es ist zunächst die
Wirtschaft gefordert. Übrigens, Herr Wiefelspütz, die
Wirtschaft hat ein elementares Interesse daran, denn sie
möchte ja, dass das verbreitet wird. Deshalb ist auch im
Moment in Redmond, da, wo Microsoft zu Hause ist, die
Nervosität eindeutig am größten.
({5})
- Ja, zu Recht, denn die wissen ganz genau, worum es
geht. Jetzt werden sie ein neues Angebot machen. Es gibt
schon ein neues Windows-Konzept, ME, an dem sie arbeiten.
Daran sieht man aber nur, dass das richtig ist: Die Wirtschaft ist gefordert, den Konsumenten, den Verbrauchern,
denjenigen, die diese Systeme nutzen, auch handhabbare
und vernünftige Systeme anzubieten. Das ist eine ganz
klare Forderung.
({6})
Zweitens. Es ist auch ganz klar, dass natürlich zu dieser Form von Gesellschaft, die wir Informations- oder
Wissensgesellschaft nennen, auch ein aufgeklärter Bürger, ein informierter, ein medienkompetenter Bürger
gehört, der mit diesen Systemen umgehen kann. Das ist
ganz wichtig.
Wer glaubt, dass Informationsgesellschaft schon automatisch mit informierter Gesellschaft gleichzusetzen ist,
der irrt sich. Wir brauchen schon Medienkompetenz; wir
brauchen - übrigens noch darüber hinausgehend - auch
so etwas wie eine umfassende Bildung, um mit solchen
Medien umgehen zu können, denn wir leiden ja nicht unter dem schwierigen Problem des Zugangs zu Informationen. Das war früher einmal ein Problem; heute leiden wir
darunter, dass es einen Überfluss an Informationen gibt,
weshalb wir die Informationen einordnen und bewerten
müssen.
Drittens. Es ist klar, wir brauchen einen Ordnungsrahmen, der den Staat handlungsfähig macht.
Wir haben übrigens in unserer Regierungszeit, unmittelbar nach deren Beginn, in einem schwierigen Diskussionsprozess für Europa eine digitale Signaturrichtlinie
zustande gebracht, eine wichtige Voraussetzung für den
Erfolg des Internet. Das war nicht einfach, weil die Südländer andere Ordnungsvorstellungen haben als die Skandinavier, die sehr angelsächsisch orientiert und auch sehr
viel weiter waren. Wir haben einen Kompromiss für eine
digitale Signatur in Europa insgesamt gefunden.
Wir haben einen sehr schnellen Prozess mit dem Bundesinnenminister organisiert, um Eckpunkte für Kryptographie zu verabschieden. Wenige Monate nach dem Regierungsantritt ist das ins Kabinett eingebracht worden.
({7})
Damit ist klar geworden, dass wir nicht den Weg der Amerikaner - und, wie ich eben geschildert habe, des alten Innenministers - gehen, sondern wir wollten Spielregeln haben, wir wollten Kryptographie zulassen, und das hat die
Bundesregierung unmittelbar danach gemacht.
({8})
- Ja, es gab diese Eckpunkte noch nicht, Herr Otto.
({9})
- Nein, nein, das war genau der kontroverse Punkt. Herr
Otto, das war der Punkt, den ich eben geschildert habe.
Es gab in der alten Koalition so unterschiedliche Auffassungen, dass man sich gelähmt und nicht gehandelt hat.
Es gab Wirtschaftspolitiker, die unsere Auffassung teilten.
Die gab es, aber sie haben sich nicht durchsetzen können.
Wir haben uns jetzt durchgesetzt, wir haben jetzt konkrete
Entscheidungen getroffen.
({10})
- Kohl hat immer gehandelt, höre ich jetzt gerade. Wissen
Sie, ich denke jetzt immer an Frau Merkel. Sie hat ja ein
schweres Amt übernommen, und mir kommt das so vor,
({11})
als wenn Frau Merkel - sie ist jetzt neue Vorsitzende -,
die jetzt auch pausenlos Love-Letters aus der CDU bekommt und von allen angestrahlt wird,
({12})
damit gleichzeitig wie durch diesen „I love you“-Virus erstickt wird. Ich weiß gar nicht, wie sie da herauskommen
will. Das wird eine interessante Frage sein,
({13})
wie die neue Vorsitzende damit umgehen will.
Es gibt also den dritten Punkt, liebe Kolleginnen und
Kollegen, und das ist der Ordnungsrahmen, den wir natürlich auch brauchen.
({14})
- Es ist ein „I love you“-Virus in der CDU ausgebrochen,
und jeder, der das aufmacht, erstickt dann daran.
Wir haben da natürlich auch konkrete Schritte unternommen. Wir haben übrigens - Herr Mayer weiß das
noch - in der Enquete-Kommission auch über die Frage
der Internetkompetenz der Strafverfolgungsbehörden geredet. Auch hier gibt es in den Ländern - das sage ich ganz
klar dazu -, aber auch beim Bund große Anstrengungen,
überhaupt einmal die Internetkompetenz herzustellen.
Denn wie sollen die Strafverfolgungsbehörden überhaupt
auf diesem Sektor agieren, wenn sie selber mit dem Medium gar nicht arbeiten? Da gibt es große Anstrengungen,
auch des Bundesinnenministeriums, etwa in Bezug auf
das BKA. Dort gibt es wichtige Fortschritte. Wenn wir all
das machen und die Richtlinie zur Datensicherheit und die
E-Commerce-Richtlinie entsprechend umsetzen, kommen wir ganz wesentlich voran.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Es wird immer gesagt: Das ist ein
so wichtiges Feld, dafür brauchen wir einen zentralen
Minister, einen Internet-Minister.
({15})
Wer so etwas fordert, versteht von der Sache nichts. Das
Internet ist das dezentralste Medium, das es jemals gegeben hat. Darauf kann man nicht mit einem zentralen
Minister antworten. Wir brauchen in allen Ressorts Fachkompetenz, Spezialisten. Wir brauchen in allen Ressorts
Kenner und müssen dann die Zusammenarbeit der Ressorts organisieren. Nach meiner Meinung ist es eine völlig falsche Antwort, für ein dezentrales Medium eine neue
Zentrale schaffen zu wollen.
({16})
- Die ist klar geregelt. Deshalb gibt es auch klare Entscheidungen.
Wir haben jetzt den Bedarf, in einer sich global entwickelnden Weltwirtschaft, die auf der Plattform der globalen Infrastruktur des Internets arbeiten wird, globale
Standards, globale Konventionen zu schaffen. Ich halte es
für absurd, zu meinen, wir könnten allein etwas tun und
anzunehmen, damit sei es dann gerichtet. Nein, wir brauchen die Partnerschaft der Wirtschaft. Deshalb machen
wir Innovationspartnerschaften wie die Initiative D 21.
Wir machen das Global Business Dialog Concept mit der
Wirtschaft zusammen. Wir brauchen Medienkompetenz
bei den Bürgern. Wir brauchen eine aufgeklärte Gesellschaft und einen handlungsfähigen, modernen Staat, der
versucht, auf internationaler Ebene zu vernünftigen Konventionen zu kommen. Dann kann man damit fertig werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Norbert, wenn ich dir in einem Brief „I love you“
schreiben würde, dann gäbe das einen gesellschaftlichen
Skandal.
({1})
Ich will heute versuchen, mit konventionellen Mitteln
auf virtuelle Fragen zu reagieren. Leider ist es so, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, dass neue Medien die kriminelle Energie anreizen und herausfordern. Der „I love
you“-Virus ist nicht der erste Virus dieser Art. Jeder hat in
irgendeiner Art und Weise schon mit Viren in seinem
Computer zu tun gehabt. Dies hat ganz offensichtlich
auch die Opposition wach werden lassen, wie ich den Diskussionen entnehmen konnte. Wir sehen also, dass die
heutige Aktuelle Stunde ihre Berechtigung hat. Wir haben
als erste Regierung reagiert und etwas getan, während die
Vorgängerregierung bisher nichts getan hat,
({2})
denn sonst hätte man sicher bessere Mittel zur Gegenwehr
finden können. Wir sind die Ersten, die etwas unternehmen.
Die bestehenden Gesetze reichen eigentlich schon aus,
zumindest was das Inland angeht, um Hacker, die Viren in
Umlauf bringen
({3})
- das, was ich gleich sagen will, hat übrigens schon Kaiser Wilhelm gemacht -, kräftig zur Kasse bitten zu können. Nach § 823 BGB können zivilrechtliche Forderungen geltend gemacht werden. Wir haben über die §§ 303,
303 a und 303 b StGB die Möglichkeit, strafrechtlich zu
reagieren.
Angesichts der negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen müssen wir natürlich auch im Vorfeld etwas
unternehmen. Wir haben europaweit eine Arbeitsgruppe,
die so genannte Cybercrime-Arbeitsgruppe, die im Entwurf einer Konvention vorsieht, die Strafbarkeit des unbefugten Zugangs zu Computersystemen zu verschärfen.
Im deutschen Recht haben wir insoweit lediglich den
§ 202 a StGB, mit dem das strafbare Sichverschaffen von
Daten geahndet wird. Der Schutzbereich dieser Norm
wird also möglicherweise auszuweiten sein. Ich denke,
dass wir das in Angriff nehmen werden. Eine Erweiterung
des Schutzbereiches des § 303 b StGB, der die so genannte Computersabotage betrifft, auf den Schutz privater Computersysteme müssen wir überlegen.
Es gibt eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Europäischen Rates über den rechtlichen Schutz
von Zugangskontrolldiensten vom 20. November 1998,
mit der die gewerbliche Verbreitung von so genannten
Cracking-Werkzeugen verhindert werden soll. Damit
werden nicht nur die Hacker als Endtäter, sondern auch
diejenigen, die aus kommerziellen Gründen derartigen
Tätern das Werkzeug, also die Programme oder die Hardware, liefern, unter die Strafdrohung des Gesetzes gestellt. Nun nutzt allerdings die beste Strafvorschrift wenig, wenn der Täter nicht gefasst werden kann.
({4})
Das ist ungefähr genauso wie bei der Graffiti-Bekämpfung.
({5})
- Es ist doch gut; wir wissen doch, wo er ist.
Deswegen haben die Innenminister und die Justizminister der G8-Staaten auf der Moskauer Konferenz 1999
eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Maßnahmen
zur besseren Lokalisierung und Identifizierung von
Straftätern im Internet beauftragt. Darauf hat auch unsere
Bundesregierung maßgeblich hingewirkt. Der Bundesinnenminister wird nachher in seinen Ausführungen noch
deutliche Hinweise auf den Ansatz der Bundesregierung
in diesem Bereich geben.
Lassen Sie mich zum Abschluss meiner fünfminütigen
Rede noch ein paar Worte zu denjenigen verlieren, die
sich durch das Verursachen von Schäden durch Virenprogramme produzieren. Für einen rechtschaffenen Menschen ist die geistige Haltung derer, die Schäden durch einen Computervirus hervorrufen, schwer nachvollziehbar.
So lässt der Name des „I love you“-Virus auf Schizophrenie der Täter schließen, auf eine Verwirrung, auf die Unfähigkeit, sich konstruktiv im Leben zu verhalten, und auf
die Negierung einer produktiven und positiven Teilnahme
am Wirtschaftsleben. Diese kriminelle Energie - genau
das ist der Punkt - könnte man auch anders einsetzen,
nämlich positiv gestaltend.
({6})
- Dass Sie von Liebesbriefen nichts verstehen, habe ich
gemerkt, als Sie eben geredet haben. Das möchte ich nur
am Rande anmerken.
Es ist für mich erschreckend, dass die Menschen, die
solche Computerschäden verursachen, auf alles, was positiv und gut ist, mit Hass reagieren. Wir alle wissen, dass
es sich hier um reine, blinde Zerstörungswut handelt. Ich
möchte ein solches Verhalten zwar politisch nicht überbewerten, aber der Unterschied zu denjenigen, die mit
Springerstiefeln und Naziparolen durch die Gegend ziehen, ist nicht sehr groß. Es gab einmal eine Zeit, in der in
Deutschland Bücher verbrannt wurden. Nach meiner
Meinung ist auch der Unterschied zwischen einer Bücherverbrennung und der Zerstörung von geistigem Eigentum
durch Computerviren nicht sehr groß. Deswegen müssen
wir ein solches Verhalten mit aller Macht verurteilen und
es mit aller Macht zurückweisen.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Norbert Geis.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Internet ist seiner
Art nach ein loser, nie ganz kontrollierbarer Verbund von
Rechnern und seinem Wesen nach auf Offenheit und Freiheit angelegt. Das macht das Internet auch anfällig für solche Attacken und Schädigungen, wie wir sie in den letzten
Monaten erlebt haben. Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir solche Schädigungen verhindern können. Diese Frage - da gebe ich Ihnen Recht betrifft sicherlich zunächst die Wirtschaft, insbesondere
die Techniker. Hier muss geforscht werden und hier müssen Wege gefunden werden, mit denen die Hilflosigkeit
und die Schutzlosigkeit des Internets in irgendeiner Weise
verringert werden können. Es gibt ja schon Software, die
Schutz bietet, die es ermöglicht, dass solche Angriffe, wie
wir sie jetzt erlebt haben, zum großen Teil abgeblockt
werden.
Es müssen aber auch auf nationaler und internationaler
Ebene Regelungen vereinbart werden, mit denen sich
dann, wenn die Technik so weit ist, die technischen Möglichkeiten des Schutzes umsetzen lassen. Hier sind die
Bundesregierung und - zweifellos - auch das Parlament
gefordert. Wir müssen auch auf nationaler Ebene Regelungen erlassen und dürfen nicht achtlos beiseite stehen.
Schließlich müssen die Computernutzer selber im
präventiven Bereich besser als in der Vergangenheit informiert werden. Dies sollte wiederum durch die Hersteller, durch die Wirtschaft, durch den Staat und auch durch
die Schulen geschehen. Es muss möglich sein, dass sich
diejenigen Teile der Bevölkerung, die mit einem solchen
Kommunikationsmittel umgehen, besser schützen können. „I love you“ hätte nicht diesen riesigen Erfolg gehabt, wenn es keine Nutzer gegeben hätte, die diese Information in ihrer Arglosigkeit aufgeschlüsselt hätten.
Dieses Verhalten ist nach meiner Auffassung auf einen
Mangel an Unterrichtung zurückzuführen. Wir müssen
dafür sorgen, dass entsprechende Unterrichtungen der
Computernutzer erfolgen.
Ich teile die Bedenken derjenigen, die sagen, dass das
Strafrecht auf diesem Gebiet wenig wirksam ist. Bei uns
gibt es allerdings im strafrechtlichen Bereich seit dem
Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität aus dem Jahre 1986 entsprechende Regelungen. Von
der alten Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist
sehr wohl und sehr frühzeitig erkannt worden, dass ein
Kriminalitätsfeld entsteht, das entsprechend normiert
werden muss. Bei uns sind die Computerstraftaten durch
die §§ 202 a, 303 a und 303 b StGB tatbestandsmäßig erfasst.
({0})
Auch § 316 e StGB kommt hier als einschlägige Strafrechtsnorm in Betracht, lieber Herr Hartenbach, wenn
durch die Beschädigung von Daten die Funktionsfähigkeit der Polizei oder der Feuerwehr beeinträchtigt wird.
Der Versender dieses berühmten Briefes hat sich in
Deutschland dadurch strafbar gemacht, dass er Schaden
verursacht hat. Der Erfolg ist in Deutschland wie in vielen anderen Ländern eingetreten. Der Täter kann in
Deutschland nach §§ 303 a und 303 b StGB bestraft werden. Er müsste mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen.
Ich meine, wir müssen uns angesichts der großen Bedrohung eines Teils unserer Freiheit - es geht um die
Möglichkeit, über die Kontinente hinweg in Kontakt zu
treten und zu kommunizieren - und angesichts des Schadens, der durch die Attacken über das Internet verursacht
werden kann, Gedanken darüber machen, ob wir den
Strafrahmen nicht höher ansetzen als diejenigen, die diese
gesetzliche Regelung 1986 getroffen haben.
Ein weiterer Mangel unseres Strafrechts scheint mir
darin zu liegen, dass ein deutscher Täter, der eine solche
Tat im Ausland begeht, dann nicht nach deutschem Recht
bestraft werden kann, wenn Tat und Taterfolg keinen Bezug zum deutschen Inland haben. Diese Taten unterfallen
nicht dem Weltrechtsprinzip. § 5 StGB gilt also insoweit
nicht. Deshalb ist durch eine entsprechende Gesetzesänderung sicherzustellen, dass ein Deutscher in Deutschland
bestraft wird, auch wenn er seine Tat im Ausland begangen hat und kein Bezug zu Deutschland besteht.
Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob nicht
schon das bloße „Knacken“ von Computersystemen unter
Umständen strafbar sein soll. Das sollte auch dann gelten,
wenn kein Datenzugriff oder keine Datenzerstörung erfolgt. Dasselbe gilt für das Einbringen eines Virus in ein
solches System, auch wenn dadurch kein Schaden angerichtet wird.
Es gibt also auch bei uns Anlass, über Verbesserungen
nachzudenken. Ich stimme all denen zu, die sagen, dass
wir internationale Regelungen treffen müssen. Die Bundesregierung ist hier zweifellos gefordert. Ich hoffe sehr,
dass wir zu solchen Regelungen gelangen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Vogt hat
gütigerweise auf mein fortgeschrittenes Lebensalter hingewiesen. Ich kann die Kollegin Vogt beruhigen: Auch im
fortgeschrittenen Lebensalter gehe ich mit diesen modernen Kommunikations- und Informationsmedien um. Das
tue ich, um nicht jegliche Autorität bei meinen Nachkommen zu verlieren.
Ich glaube schon, dass wir die Debatte nicht so führen
sollten - das sage ich gerade an die Adresse des Kollegen
Dr. Mayer -, dass wir jetzt die großen Perspektiven und
Chancen, die mit diesen Medien verbunden sind, zerreden. Das darf nicht geschehen!
({0})
Das, was an Informationsvermittlung, an Informationsgewinnung und an Steuerungsmöglichkeiten über
diese Medien für die Menschheit möglich geworden ist,
eröffnet ungeahnte Dimensionen. Darauf sollten wir immer wieder hinweisen. Ich habe allerdings in meiner Verantwortung als Innenminister auch immer darauf hingewiesen, und zwar von Anfang an, Herr Kollege Dr. Mayer,
dass wir nicht euphorisch werden sollten und dass wir den
Sicherheitsaspekt immer sehr ernst nehmen müssen.
Wir haben das als Bundesregierung auch unter Beweis
gestellt. Sie wissen, es gab einige apokalyptische Voraussagen, was das Jahr-2000-Problem angeht. Die gegenwärtige Bundesregierung hat das gut bewältigt. Allerdings muss ich Ihnen sagen: Die Vorbereitungen der alten
Bundesregierung - ich will das zurückhaltend ausdrücken - waren etwas dürftig.
({1})
Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nun alle Fragen
miteinander vermischen. Frau Bonitz, bei Ihnen habe ich
beim besten Willen nicht erkennen können, dass Sie irgendwie eine Übersicht gewonnen hätten. Wir können natürlich diese Debatte erweitern und darüber sprechen, was
wir gegen die Übermittlung krimineller Inhalte über das
Internet tun. Diesbezüglich gibt es einige Ansätze. Das ist
eine schwierige Frage, weil man sich dabei in einen gewissen Gegensatz zum Schutz der Privatsphäre und der
Geschäftsgeheimnisse begibt. Ich erinnere - Herr Mosdorf
hat das auch angesprochen - an Kryptographien und Ähnliches.
Aber ich will das nicht vertiefen, zumal Sie da auch bei
der falschen Adresse waren. Zwar kümmert sich das Bundeskriminalamt um diese Dinge, aber das dürfen Sie nicht
mit der Tätigkeit des Bundesamtes für Sicherheit in der
Informationstechnik vermengen.
Ich glaube, wir sollten diese Aktuelle Stunde nutzen,
um uns über die Frage zu unterhalten, die mit den Sicherheitsaspekten im engeren Sinne zu tun hat: Welche Angriffsflächen ergeben sich aus einem so tief vernetzten
System, wie wir es haben?
({2})
Das ist die eigentliche Frage, mit der wir uns heute zu beschäftigen haben. Dabei darf man die Dinge nicht durcheinander bringen.
Wir haben unterschiedliche Angriffsflächen. Es gibt
den Versuch, den man gemeinhin mit den Hackern in Verbindung bringt, sich unbefugt Zugang zu Daten zu verschaffen. Das ist die eine Angriffsfläche.
Wir haben eine andere Angriffsfläche, die man durchaus auch mit Computersabotage in Verbindung bringen
kann, dass man also eine bestimmte Website überlädt und
damit Denial of Service herbeiführt. Das war das, was uns
im Februar beschäftigt hat. Übrigens war das der Anlass
für die Taskforce, die ich eingesetzt habe. Es war richtig,
eine solche Taskforce einzusetzen und nicht erst lange zu
warten, ob irgendwelche Ressortabgrenzungen stattfinden. Sie wissen, wie mühsam es ist, Ressortzuständigkeiten zu überwinden. Nein, wir haben sofort gehandelt. Wir
haben die dafür notwendigen Maßnahmen ergriffen, die
richtigen Personen zusammengebracht und selbstverständlich auch - das sage ich Ihnen, Herr Otto - die Privatwirtschaft einbezogen. Da haben Sie völlig Recht: Das
kann der Staat nicht allein, das kann die Privatwirtschaft
nicht allein. Das ist ein typischer Fall des Zusammenwirkens des Staates und der privaten Industrie.
Jetzt haben wir es mit einem Angriff zu tun, der sicherlich Dimensionen hat, die außergewöhnlich sind. Ich
teile die Auffassung aller, die hier zum Ausdruck gebracht
haben, dass das Strafrecht bei der Abwehr solcher Angriffe an allerletzter Stelle steht. Strafrechtsdrohungen haben zwar auch präventiven Charakter, aber in diesem Fall
wahrscheinlich nur in sehr geringerem Maße. Mich in die
Psyche des Philippinos hineinzuversetzen, um festzustellen, warum er nun mit der Gesellschaft entzweit ist - oder
was da sonst war - das soll mich heute nicht beschäftigen.
Trotzdem müssen wir die strafrechtliche Seite angehen.
Der Europarat ist damit beschäftigt. Ich will das nicht vertiefen.
Der entscheidende Punkt ist die technische Prävention,
({3})
und zwar die softwaretechnische Prävention; auf sie
kommt es an.
({4})
Ich will das jetzt nicht alles wiederholen.
Interessant ist, dass es bemerkenswerte Parallelen zur
Natur gibt. Wir sprechen vom Virus. Wir haben von der
Monokultur gehört. Herr Otto hat völlig zu Recht darüber
gesprochen. Ich gebe Herrn Otto vollständig Recht: Es ist
auch meine Auffassung - Herr Heil hat ebenfalls darüber
gesprochen -, dass Monokulturen für Viren besonders anfällig sind. Das ist übrigens in der Natur genauso. Die
Wälder sind am ehesten dort zugrunde gegangen, wo sie
Monokulturen waren. Mischwälder sind weniger anfällig
für Krankheiten. Das gilt übrigens auch für die Zusammensetzung der Gesellschaft. Das spricht für unser Staatsbürgerschaftsrecht.
({5})
Aber das nur am Rande. Ich denke, wir müssen in der Tat
dafür sorgen, dass die Systeme so ausdifferenziert sind,
dass die Krankheitsanfälligkeit, die Schadensanfälligkeit
zumindest herabgesetzt wird.
Nun haben wir es mit einem Sachverhalt zu tun, auf
den wir im Moment noch keine Antwort haben. Diesbezüglich hat aber auch die alte Bundesregierung - wir sollten uns da nichts einreden, lieber Kollege Dr. Mayer nichts zustande gebracht. Es geht darum, dass wir nicht im
Vorhinein wissen, wie neue Viren beschaffen sind. Das ist
wie in der Medizin: Es treten immer wieder neue Viren
auf. Deshalb kommt es zunächst einmal darauf an, mit
diesem Sachverhalt klarzukommen.
({6})
- Lassen Sie das doch! Ich habe Ihnen ja auch zugehört.
Beinahe hätte ich Sie jetzt als „Herr Virus“ angesprochen.
Das wäre aber nicht gerecht, Herr Dr. Mayer.
Es lag auch hier der Sachverhalt vor, dass der Virus
nicht bekannt war.
({7})
Wir konnten ihn auch mit den Virenschutzprogrammen
nicht sofort identifizieren. Es gab auch keine Vorwarnzeit das ist ein Unterschied zu anderen Sachverhalten, bei denen es rechtzeitig eine Warnung gab -, weil der Virus
zunächst in Deutschland aufgetreten ist.
Ich möchte in diesem Zusammenhang der Arbeit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik
Anerkennung zollen. Das ist übrigens eine Einrichtung,
auf die wir stolz sein können, denn nicht alle Länder haben so etwas.
({8})
Ich bin stolz darauf, dass ich deren Mittel gegen bestehende Haushaltszwänge erhöht habe.
Wir haben also sofort, kurz nach dem Auftreten dieses
Virus, warnen können. Es hätten sich viele Schäden vermeiden lassen können, wenn diese Warnungen ernst genommen worden wären. Wir haben den Virus in kurzer
Zeit identifizieren und analysieren können. Bereits am
folgenden Tage haben wir eine Virusabwehr in die Scanner integriert. Das ist, wie ich glaube, eine gute Leistung.
(Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]:
Sie waren nicht die Ersten!
Die Ausfälle in der Bundesverwaltung waren relativ gering.
Nun komme ich auf Ihre Anfrage zu sprechen, Herr
Dr. Mayer: Im internen Bereich, also im eigentlichen Sicherheitsbereich, sind keine Schäden aufgetreten. Dennoch ist Ihr Hinweis auf kritische Informationsstrukturen
richtig. Die Arbeitsgruppe „Kritis“ arbeitet, wie Sie wissen, ja schon seit längerer Zeit daran. Sie haben mit Recht
gesagt, dass nicht ich, sondern die alte Bundesregierung
das in Gang gesetzt hat. Ich habe deren Bericht entgegengenommen. Es stimmt, dass noch einiges nachzuarbeiten
ist und man daran arbeiten muss, aber dabei kommt es auf
viele Aspekte an. Es geht zum Beispiel nicht nur um die
Frage von Monostrukturen, sondern auch um die Frage
der Staffelung von Systemen. Einer der Kollegen - ich
glaube, es war der Kollege Müller - hat davon gesprochen, dass es auch auf Redundanz ankommt. Wir wissen aus Problemstellungen in der Energieversorgung, dass
dann, wenn Redundanz nicht gewährleistet ist, auch keine
Staffelung möglich ist und ein Dominoeffekt eintreten
kann: Ein kleiner Eingriff in ein komplexes System breitet sich dann mit Blitzgeschwindigkeit aus und führt zu
gewaltigen Schäden im System. Wir müssen die Dinge
auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie ein solcher
Dominoeffekt abgewehrt werden kann.
Wir benötigen auch eine enge Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft im Rahmen der so genannten Computer Emergency Response Teams. Diese CERTs müssen auch untereinander korrespondieren; man darf nicht in Betriebsegoismus verbleiben, indem man andere nicht abgucken lassen will. In diesem Bereich muss es
Kooperation geben.
Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir den Blick nur
auf eine Seite richten. Wir müssen alle Aspekte in Betracht ziehen und alle - das sind die Endanwender und die
Administratoren wie auch die Softwarehersteller und die
Inhaltsanbieter - in die Verantwortung einbeziehen. Nur
so kommen wir zu einer vernünftigen Lösung. Daran arbeitet die Bundesregierung mit Hochdruck. Insoweit war
es richtig, diese Taskforce einzusetzen. Sie macht gute Arbeit und hat im Februar dieses Jahres bereits Empfehlungen herausgegeben. Sie wird das wieder tun. Da mich der
Präsident mahnt, die Redezeit einzuhalten, kann ich sie
jetzt nicht im Einzelnen vortragen.
Ich glaube, dass die Bundesregierung gerade bezüglich
der Sicherheit in der Informationstechnik auf eine hervorragende Arbeitsbilanz zurückblicken kann. Diese Bilanz
wird sie in Zukunft sicherlich noch weiter verschönern.
Vielen Dank.
({9})
Das letzte Wort in
dieser Aktuellen Stunde hat nunmehr für die SPD-Fraktion der Kollege Jörg Tauss.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich teile Ihnen jetzt mit, was ich zu sagen habe, lieber Kollege Otto. Zunächst einmal freuen wir uns, dass
sich nach der Beschäftigung mit dem Jahr-2000-Problem
der Deutsche Bundestag erneut mit Fragen der Datensicherheit bzw. - fachmännischer ausgedrückt - mit Fragen
der IT-Sicherheit beschäftigt. Wenn diese Debatte ein positives Signal aussendet, dann auch deshalb, weil die Bedeutung der Themen Datenschutz und Datensicherheit in
den Medien - in der Politik ohnehin - und im Bewusstsein der einzelnen Nutzer angekommen ist.
Die Situation war vor zwei, drei Jahren, als wir in der
Enquete-Kommission zusammensaßen, völlig anders.
Wir haben damals - lesen Sie einmal im Bericht nach, den
wir damals in der Enquete-Kommission verabschiedet haben - auf diese Probleme in ihrer gesamten Breite hingewiesen. Es haben sich leider nicht allzu viele dafür interessiert. Ein Journalist hat mir gesagt, das Thema sei nicht
„sexy“ genug. Vielleicht bedurfte es des Virus mit dem
schönen Namen „I love you“, dass dieses Thema „sexy“
geworden ist.
Der „I love you“-Virus versetzte das globale Datennetz
innerhalb von 72 Stunden in Angst und Schrecken. Es gab
Meldungen über Schäden in Höhe von 10 Milliarden DM.
Egal, wie hoch die Schäden sein mögen: Computer wurden lahmgelegt.
Was mich bedenklich stimmt - das ist auch in der Debatte zum Ausdruck gekommen -, ist, wie leicht es offenbar war, die Sicherheitsvorkehrungen zu überlisten. Das
gilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt - es ist ja
nach der Motivation des Täters gefragt worden -, dass es
sich um einen jungen philippinischen Studenten handelt wie dies der „Spiegel“ gestern berichtete -, dessen Hausarbeit abgelehnt worden war. Die Hausarbeit war exakt
der „I love you“-Letter. Frustration rechtfertigt diese Reaktion des Studenten selbstverständlich nicht. Lieber Kollege Geis, aus Bayern kam fast schon reflexartig - Sie
kommen zwar nicht aus Bayern Bundesminister Otto Schily
({0})
- Entschuldigung, aber dann passt mein Text jetzt genau der Ruf nach schärferen Gesetzen.
({1})
- Sie haben ja schon einige Paragraphen genannt, Herr
Kollege Geis. Auch § 202 a des Strafgesetzbuches können
wir in diesem Zusammenhang erwähnen. Wir haben
schon Systeme, die gegen unberechtigten Zugang gesichert sind. Aber ich glaube, wir sollten im rechtlichen Bereich eine sehr sachliche Debatte miteinander führen.
Ich warne nur vor Hysterie. Hysterie war schon immer
ein schlechter Ratgeber gewesen. Wir sollten zunächst einmal evaluieren, was eigentlich passiert ist. Dann werden
wir feststellen, dass der Sicherheit in der Informationstechnik eine Schlüsselrolle zukommt. Das ist heute
schon - völlig berechtigt - mehrfach gesagt worden.
Eines fällt auf: Behörden und Verwaltungseinrichtungen, darunter die Bundesverwaltung, waren das Ziel dieser Attacke. Der Bundesinnenminister hat zwar darauf
hingewiesen, dass die Schäden erfreulicherweise gering
waren. Trotzdem ist die Situation ärgerlich. Es fällt außerdem auf: Nur die Nutzer einer bestimmten Software - auf
diesen Punkt wurde schon hingewiesen - waren Ziel dieses Angriffs. Diese Software hat es dem Virus aufgrund
mangelnder standardmäßiger Sicherheitseinstellungen
absolut einfach gemacht. Es stellt sich aber das Problem,
dass diese Software als Quasistandard für den Nutzer
kaum zu umgehen ist. Er bekommt mit dem Kauf seines
Computers dieses Betriebssystem mitgeliefert. Damit
sind wir bei dem Problem der Monokultur, um das Wort
„Monopolstruktur“ zu vermeiden.
Der Virus macht Folgendes deutlich: Man kann und
muss sich - das gilt für jeglichen Nutzer der neuen IuKTechnologien - gegen derartige Angriffe selbst schützen.
Wäre das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial bei
allen Nutzern vorhanden gewesen und wären die Sicherheitseinstellungen, die es ja pikanterweise gibt, die aber
standardmäßig zum Teil ausgeschaltet waren, auf der
höchsten Stufe eingeschaltet gewesen, dann hätten die
Schäden nicht eintreten können.
Man kann nicht oft genug davor warnen, unbekannte
Mails mit angehängten Daten einfach ungeprüft zu öffnen.
Ich habe diese Mail nicht geöffnet, nicht nur wegen - ein
Kollege hat es schon angesprochen - meines hohen Alters, sondern weil man misstrauisch sein muss, wenn im
Bereich des Bundestages eine Mail mit dem Titel
„I love you“ ankommt. Ich zumindest war misstrauisch.
Meinem Computer ist also nichts passiert.
Ich denke, es würde sich lohnen, wenn wir uns mit dem
Bericht der Enquete-Kommission beschäftigen. Die
Kommission stellte fest, dass im Bereich der Software die
Betriebssysteme eine Sonderstellung einnehmen. Es ist
nicht zu verantworten, dass in nahezu allen Bereichen Betriebssysteme existieren, deren Quelltext nicht veröffentlicht wurde.
({2})
Es muss die Forderung an Microsoft sein, seine Politik
an dieser Stelle zu ändern. Da sind wir uns, Kollege
Otto, einig.
({3})
Ihr großer Vorkämpfer in Sachen Datensicherheit, Herr
Rexrodt, wollte noch zur Bekämpfung von Kriminalität
Einbruchstellen schaffen. Ich nenne als Stichwort Telekommunikationsüberwachungsverordnung. Wir haben
diese Initiative gestoppt und ein Gutachten erstellen lassen. Ich glaube, wir sind uns jetzt in diesem Punkt einiger,
als ich es damals mit dem Kollegen Rexrodt war.
Es gibt übrigens auch weitere Probleme. Es gibt die
Fragen: Können Geheimdienste eindringen? Können Polizeidienststellen eindringen? Wo sie eindringen können,
können natürlich auch Hacker und Cracker eindringen,
also auch diejenigen, die bösartig sind.
Weil das rote Licht schon leuchtet, will ich nur noch sagen: Wir müssen uns auch in der Forschung mit dem Bereich IT-Sicherheit nochmals ganz vehement beschäftigen. Herr Marschewski und Herr Zeitlmann haben hier
völlig falsche Signale gegeben mit dem Verbot kryptographischer Verfahren. Das hat sich schon durch den
Regierungswechsel erledigt.
Kollege Mayer, dass Sie uns die Zerschlagung der GMD
vorwerfen, ist Unfug. Sie wissen das. Nachher debattieren
wir darüber an dieser Stelle auch noch einmal. Nein, das Gegenteil wird gemacht. Wir haben beim Fraunhofer-Institut
beispielsweise hervorragende Datensicherheitsexperten.
Herr Kollege, auch
das letzte Wort geht irgendwann zu Ende.
Ich bin bereits am Ende, Herr Präsident. Lassen Sie mich den Satz kurz zu Ende führen. Die GMD, Herr Mayer, wird nicht zerschlagen. Das
Fraunhofer-Institut beschäftigt sich mit IT-Sicherheit, mit
elektronischer Sicherheit. Wir haben das Kompetenzzentrum „Cast“ in Darmstadt. Schauen Sie es sich doch einmal an. Wir machen hier nichts kaputt, sondern ganz im
Gegenteil: Wir bündeln die Kompetenzen und aus dieser
Bündelung der Kompetenzen wird ein Mehr an Datensicherheit in diesem Lande herauskommen. Das ist die Linie, die diese Bundesregierung verfolgt, auch im Forschungsbereich, und das ist die richtige.
Ich danke Ihnen.
({0})
Die Aktuelle Stunde
ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ({0})
- Drucksache 14/2667 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 14/3284 Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Hansgeorg Hauser ({3})
Margareta Wolf ({4})
Carl-Ludwig Thiele
Es liegen sieben Änderungsanträge der Fraktion der
PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst
der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesfinanzminister, Dr. Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der schillernden internationalen
Welt der Hacker und Cracker kommen wir jetzt zum
bodenständigen nationalen Berufsrecht der Steuerberater.
Vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierung
muss allerdings auch dieses Berufsrecht ab und an neu
überdacht werden.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung
von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater findet ein langer und zum Teil kontroverser Diskussionsprozess ein vorläufiges Ende. Im Mittelpunkt dieses
Diskussionsprozesses stand die Verteilung der Befugnisse
zur Steuerberatung, wobei Lohnsteuerhilfevereine und
Buchhalter eine Ausweitung ihrer Befugnisse vehement
forderten und die Steuerberater dies ebenso vehement ablehnten.
Gestatten Sie mir, dass ich, bevor ich näher darauf eingehe, auf andere, im Ergebnis vielleicht ebenso wichtige
und vielleicht sogar zukunftsweisendere Änderungen im
Steuerberatungsrecht hinweise.
Das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz enthält zahlreiche materielle Regelungen, mit denen das Ziel verfolgt
wird, das Steuerberatungsgesetz und die dazu ergangenen
Verordnungen zu modernisieren und zu straffen. Nennen
möchte ich zunächst die Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf die Steuerberaterkammern. Hierzu gehören die
Bestellung zum Steuerberater, die Anerkennung von Steuerberatungsgesellschaften, deren Widerruf und deren
Rücknahme. Die Übertragung der Aufgaben erfolgt im
Konsens mit dem Berufsstand und entspricht vergleichbaren Aufgabenverlagerungen bei Rechtsanwälten und
Wirtschaftsprüfern.
Gleichzeitig wird den Steuerberaterkammern die Befugnis gegeben, die Gebühren für die Erfüllung der ihnen
übertragenen Aufgaben nach dem Grundsatz der Kostendeckung jeweils in einer Gebührenordnung festzulegen.
Da die Gebührenordnungen jeweils der Genehmigung der
zuständigen Aufsichtsbehörde bedürfen, ist sichergestellt,
dass die Gebühren sich strikt an ebendiesem Prinzip orientieren.
Eine weitere wichtige Neuerung stellt die Schaffung
der Möglichkeit der Beteiligung einer Steuerberatungsgesellschaft an einer anderen so genannten mehrstöckigen
Steuerberatungsgesellschaft dar. Dies entspricht einer
Regelung bei den Wirtschaftsprüfern und wird langfristig
vielleicht den Markt stärker verändern als andere, heute
mehr in der politischen Diskussion stehende Fragen des
Berufsrechts. Mit der Einführung der Möglichkeit so
genannter mehrstöckiger Steuerberatungsgesellschaften
wurde im Übrigen einer Anregung des Berufsstandes entsprochen.
Präzisiert werden die Regelungen zur Berufsausübung.
Erstmals wird ein Überdenkungsverfahren bei Einwendungen gegen die Bewertung von Leistungen in der Steuerberaterprüfung geregelt.
Wichtig ist die Anpassung des nationalen Steuerberatungsrechts an das europäische Recht. Der Kreis derjenigen, die befugtermaßen geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leisten dürfen, wird um Dienstleister in Steuersachen
im Anwendungsbereich des Art. 50 des EG-Vertrages, also
grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, erweitert. In Fällen, in denen tatsächlich keine grenzüberschreitende Dienstleistung erbracht wird, sondern ein deutscher Staatsbürger Steuerberatung für Deutsche im deutschen Steuerrecht mit Zielrichtung auf deutsche Behörden
erbringt, ändert sich gegenüber heutigem Recht durch
die Neuregelung nichts. Wer bisher zu derartigen Hilfeleistungen nicht befugt war, wird dies auch zukünftig
nicht sein.
Im Übrigen können im Interesse des Verbraucherschutzes zukünftig auch Personen zurückgewiesen werden, die erlaubterweise grenzüberschreitende Steuerberatung betreiben, jedoch fachlich nicht dazu fähig sind. In
die Abgabenordnung wurde dazu mit Billigung der EUKommission ein neuer Zurückweisungstatbestand eingefügt, der im Interesse der Verbraucher an die fachliche
Fähigkeit anknüpft.
Die im Steuerberatungsgesetz und in der Verordnung
zur Durchführung der Vorschriften für Steuerberater,
Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften enthaltenen DM-Beträge werden ab 2002 im Verhältnis 2:1 auf Euro umgestellt.
Lassen Sie mich nun noch kurz auf die eingangs angesprochenen kontroversen Themen eingehen, die Frage der
Beratungsbefugnisse von Lohnsteuerhilfevereinen und
Buchhaltern bzw. Bilanzbuchhaltern. Das Ergebnis des
Diskussionsprozesses sehe ich insgesamt als positiv an.
Die Koalitionsfraktionen werden deshalb im Zusammenhang mit der Abstimmung über das vorliegende Gesetz
dem Bundestag einen Entschließungsantrag vorlegen, in
dem die Bundesregierung gebeten wird, unter anderem zu
prüfen, ob und wie das berufliche Tätigkeitsfeld von
geprüften Bilanzbuchhaltern erweitert werden kann,
Vizepräsident Rudolf Seiters
allerdings - das möchte ich hier ausdrücklich betonen unter Berücksichtigung der Belange des Verbraucherschutzes und eines fairen Wettbewerbs.
Natürlich geht es bei der Frage der Beratungsbefugnisse im Bereich der Steuerberatung um Marktanteile und
Einkunftsmöglichkeiten. Wer sich weigert, über eine Liberalisierung in diesem Bereich ernsthaft nachzudenken,
kann sich nur dem Vorwurf aussetzen, in einem Teilbereich des Dienstleistungssektors den Status quo zementieren zu wollen. Die Bundesregierung kann sich jedoch
nicht an Partikularinteressen orientieren, sondern muss
prüfen, was im Allgemeininteresse liegt.
Der Entschließungsantrag macht deutlich, dass auch
sensible Bereiche wie das Berufsrecht, hier der Steuerberater, nicht grundsätzlich vor Veränderungen geschützt
sind und genauso auf den Prüfstand der Zukunftstauglichkeit gehören wie andere gesellschaftliche Bereiche
auch. Es muss möglich sein, über Reformen auch in diesem Bereich ernsthaft weiter nachzudenken. Deshalb begrüßt die Bundesregierung den vorgelegten Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen.
Nun zu den Lohnsteuerhilfevereinen. Die Neuregelung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine
sieht unter anderem vor, dass die Beratungsbefugnis des
Lohnsteuerhilfevereins nicht entfällt, wenn das Mitglied
neben seinen Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit
Einnahmen aus anderen Einkunftsarten hat, solange diese Einnahmen insgesamt den Betrag von 18 000 bzw. 36 000 DM
bei zusammen Veranlagten nicht übersteigen. Ich möchte
betonen, dass es sich bei den Einnahmen um reine Bruttobeträge handelt, bei denen es grundsätzlich nicht zu Saldierungen kommt. Generell hält die Bundesregierung die
Neuregelung für notwendig, weil das bisher geltende Gesetz insoweit sprachlich unklar gefasst ist. Dies hat zu Unterschieden in der Rechtsanwendung in den verschiedenen Bundesländern geführt, was im Interesse aller Betroffenen nicht hinnehmbar ist. Der heutige Umfang der
Beratungsbefugnis wird bei der Neufassung maßvoll erweitert und deutlich klarer definiert.
({0})
- Frau Hasselfeldt, wir haben das doch alles schon beraten. Sie verstehen das sicher auch im Schnelldurchgang.
Ich glaube, dass sich die gegen die Neuregelung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Kompetenz der
Lohnsteuerhilfevereine in der Praxis als unbegründet erweisen, was die Finanzverwaltung allerdings genau beobachten wird. Personen, bei denen komplizierte steuerliche
Sachverhalte zu würdigen sind, gehören meines Wissens
nicht zu den typischen Mitgliedern eines Lohnsteuerhilfevereins. Dies dürfte sich auch in Zukunft nicht ändern.
Deshalb meine ich, dass alle Betroffenen in der Praxis mit
der gefundenen Regelung leben können.
Zu den Buchhaltern und Bilanzbuchhaltern. Die Frage
einer Erweiterung der Beratungsbefugnisse für die genannten Personen wird seit langem auf fachlicher und politischer Ebene kontrovers diskutiert. Nach Auffassung
der Bundesregierung bedarf die Frage einer Befugniserweiterung für die genannten Personen einer näheren
und intensiveren Prüfung, als sie im Rahmen des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zu leisten war. Gerade
im Interesse der Verbraucher, die Anspruch auf eine fachkundige Beratung haben, muss gewährleistet sein, dass
Berater, auch wenn sie nur in einem relativ kleinen Ausschnitt des Steuerrechts beraten, nachgewiesenermaßen
kompetent sind und der Verbraucher auch bei eventueller
Falschberatung den Schaden nicht zu tragen hat. Ich bin
zuversichtlich, dass eine befriedigende Lösung vielleicht
noch in dieser Legislaturperiode gefunden werden kann.
Insgesamt hat die im Rahmen des 7. Steuerberatungsänderungsgesetzes geführte Diskussion deutlich gemacht,
dass bei allen Unterschieden in der Detailbewertung ein
breiter Konsens besteht, dass auch in Zukunft eine sachkundige steuerliche Beratung unverzichtbar ist und der
Gesetzgeber national, aber auch international Vorkehrungen treffen muss, um diese sicherzustellen.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Seifert?
Ja, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie sprechen von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und
Steuerberater, die diese nachweisen müssen. Können Sie
mir dann bitte erklären, wieso in einem Gesetz, das von
Ihnen vorgelegt wurde, die Möglichkeit eingeräumt, nein
regelrecht der Auftrag gegeben wird, dass der Beruf des
Steuerberaters „infolge eines körperlichen Gebrechens,
wegen Schwäche der geistigen Kräfte oder wegen einer
Sucht“ zu versagen ist. Wohlgemerkt, nachdem alle Prüfungen bestanden sind? Ist das nicht eine Diskriminierung, die auf einem Menschenbild beruht, das in keiner
Weise dem, was Ihre Regierung immer wieder betont,
nämlich einen Paradigmenwechsel herzustellen, entspricht? Können Sie mir bitte erklären, warum Sie diesen
Satz nicht einfach ersatzlos streichen?
Herr Kollege Seifert, ich
glaube, das von Ihnen vorgetragene Bedenken beruht auf
einem falschen Verständnis. Die von Ihnen angegriffene
Regelung besagt, wie Sie soeben zitiert haben, dass die
Bestellung zum Steuerberater zu versagen ist, wenn der
Bewerber „infolge eines körperlichen Gebrechens, wegen
Schwäche seiner geistigen Kräfte oder wegen einer Sucht
nicht nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuerberaters ordnungsgemäß auszuüben“.
Bei dieser Regelung handelt es sich keinesfalls um eine
willkürliche Benachteiligung behinderter Menschen. Das
Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Vorschrift ist eine
Schutzvorschrift gleichermaßen für den betroffenen
angehenden Steuerberater und für die Mandanten. Der
Steuerberater muss gerade im Interesse seiner Mandanten
in der Lage sein, seinen Beruf unabhängig, eigenverantwortlich, gewissenhaft und verschwiegen auszuüben.
Eine fehlerhafte steuerliche Beratung birgt immer die Gefahr von Regressansprüchen des Mandanten in sich.
Durch die vorgesehene gesetzliche Regelung soll der genannte Personenkreis vor solchen Ansprüchen geschützt
werden. Das ist der Hintergrund. Es geht überhaupt nicht
darum, behinderte Menschen von einer Berufsausübung
auszuschließen. Wie Sie richtig gesagt haben, ist die Zulassung zur Prüfung und der Abschluss der Prüfung
selbstverständlich möglich. Das ist übrigens neu. Das war
früher nicht der Fall. Früher gab es nicht einmal die Zulassung zur Prüfung. Damit erzielen wir im Vergleich zum
bisherigen Rechtszustand für behinderte Menschen eine
Verbesserung. Denn sie können als angestellte Steuerberater tätig sein. Somit unterliegen sie nicht persönlich dem
Regress. Vielmehr müsste letztlich ihr Arbeitgeber, der
Inhaber des Steuerberaterbüros, die Verantwortung für einen Regress übernehmen.
Dies ist eine Verbesserung im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand. Denn im bisherigen Rechtszustand
war bereits der Ausschluss von der Prüfung möglich. Jetzt
ist ausschließlich - ich weiß, dass Sie das wahrscheinlich
nicht beruhigt - die Zulassung als Steuerberater in selbstständiger Form nicht möglich. In Zukunft ist also eine Berufsausübung möglich, was früher nicht der Fall war.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Frage?
Bitte.
Frau Staatssekretärin, den Fortschritt im Vergleich zu dem Verbot, sogar an der Prüfung
teilzunehmen, erkenne ich an. Aber bei allem Verständnis
ist festzustellen: Jeder Mensch in diesem Land hat das
Recht, seine Fähigkeit oder Unfähigkeit zu beweisen. Nur
wenn er behindert ist, kann die Steuerberaterkammer sagen: Nein, wir schützen dich vor dir selbst. Können Sie
das mit dem Gleichheitsgrundsatz und mit dem von Ihnen
selbst formulierten Paradigmenwechsel in Übereinstimmung bringen? Wollen Sie nicht auch den Menschen, die
behindert sind, nicht mehr und nicht weniger als allen anderen die Chance einräumen, sich selber zu blamieren?
Denn es ist nicht bewiesen, dass sie unfähiger sind als andere. Nur die Steuerberaterkammer unterstellt, dass sie
unfähiger sind.
Herr Kollege, die entsprechende Behinderung muss natürlich festgestellt worden
sein. Es muss zudem eine dauerhafte und nicht nur eine
vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegen. Natürlich
ist das auch gerichtlich zu überprüfen. Es ist doch selbstverständlich, dass dies Gegenstand von gerichtlichen
Auseinandersetzungen sein kann und die Steuerberaterkammer nicht einfach so entscheiden kann, ob jemand zu
krank ist und diese Tätigkeit in selbstständiger Form nicht
ausüben darf. Natürlich sind davon nicht Menschen mit
körperlichen Gebrechen betroffen, die im Übrigen in
ihren geistigen Fähigkeiten überhaupt nicht beeinträchtigt
sind.
Aber es ist doch ein Fall denkbar, dass jemand zum
Beispiel ins Koma fällt und den Antrag auf Zulassung
zum Steuerberater schon gestellt hat. Dieser Antrag kann
schlechterdings nicht genehmigt werden. Solche Fälle
sind zwar sicherlich sehr selten, aber denkbar.
Es geht in der Tat darum, den Betroffenen vor allfälligen Regressansprüchen zu schützen. Ich wiederhole: Im
Vergleich zum bisherigen Rechtszustand würde ein solcher Mensch nicht an der Berufsausübung insgesamt gehindert, weil er als angestellter Steuerberater tätig sein
könnte. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zur bisherigen
Rechtslage. Ich weiß nicht, ob es dazu im Sinne der Freiheit der Berufsausübung schon einmal verfassungsrechtliche Streitverfahren gegeben hat und ob es dazu schon
einmal eine höchstrichterliche Entscheidung gegeben hat.
Denn es hat sicherlich auch schon früher die Versagung
der Zulassung zur Prüfung aufgrund der genannten Gesichtspunkte gegeben, die wir jetzt nicht mehr für die Versagung der Zulassung zur Prüfung, sondern nur noch für
die Versagung der Bestellung zum Steuerberater in selbstständiger Form vorsehen.
Ich kann Ihre Bedenken verstehen, Herr Seifert; aber
ich glaube, dass Sie von einer falschen Voraussetzung
ausgehen. Es geht nämlich ganz gewiss nicht um einen
diskriminierenden Tatbestand, sondern um den Schutz sowohl der Betroffenen als auch natürlich der Verbraucher.
({0})
Fahren Sie bitte fort,
Frau Kollegin.
Ich möchte nur noch kurz
an das anknüpfen, was ich eben gesagt habe. Die Globalisierung geht natürlich am Dienstleistungssektor nicht
vorbei. Sie bringt auch für das Berufsrecht neue Herausforderungen mit sich, da es noch weitgehend durch unterschiedliche nationale Regelungen geprägt ist. Es ist ein
wichtiges Anliegen der Bundesregierung und, wie ich
glaube, aller Fraktionen in diesem Hause, dass durch den
internationalen Anpassungsdruck keine Qualitätsnivellierung nach unten auf Kosten der Verbraucher, aber auch
der Wirtschaft eintritt.
Abschließend möchte ich das Hohe Haus für die Bundesregierung bitten, dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zuzustimmen und die Anträge der PDS
abzulehnen, die offenbar - das wurde nicht nur gerade
durch die Zwischenfragen des Kollegen Seifert deutlich,
sondern auch an anderen Stellen - von einem falschen
Verständnis des Regelungsinhaltes ausgehen. Diese Anträge sind im Finanzausschuss ausführlich beraten worden.
Im Übrigen freue ich mich, dass im Finanzausschuss
auch die CDU/CSU und die F.D.P. diesem Gesetzentwurf
zugestimmt haben. Ich glaube, dass dies gerade bei berufsrechtlichen Weiterentwicklungen von einem hohen
Wert ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das
heute zu verabschiedende Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ist für den
Berufsstand sicherlich sehr wichtig. Es sind eine Reihe
von berufsrechtlichen Veränderungen enthalten. Für den
einzelnen Steuerberater aber wird es sicherlich nicht solche Auswirkungen haben wie andere Gesetze, die sich
zurzeit in der Beratung befinden. Hier denke ich insbesondere an die Steuergesetze, aufgrund derer - durch die
Änderungen einiger Vorschriften, die Sie vornehmen wollen; ich nenne als Stichwort nur die Option - die Steuerberater eigentlich eine Zusatzprüfung machen müssten.
Es müssten die hellseherischen Fähigkeiten geprüft werden; denn ohne diese können sie künftig ihren Beruf nicht
mehr ausüben.
({0})
Meine Damen und Herren, das Änderungsgesetz enthält im Wesentlichen fünf Schwerpunkte: Erstens geht es
um die Erweiterung des Kreises derjenigen, die befugtermaßen geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen leisten dürfen, zweitens um die Ausdehnung der Beratungstätigkeit
der Lohnsteuerhilfevereine. Dann gibt es Neuregelungen
bezüglich der Werbung. Zudem wurden Rechtsgrundlagen für die Datenverarbeitung und die Datennutzung
geändert. Schließlich wurde die Übertragung hoheitlicher
Aufgaben auf die Steuerberaterkammern neu gefasst.
Zum ersten Punkt. Ich möchte nur wenig zur Erweiterung des Kreises der befugt Beratenden sagen; denn dies
wurde uns mehr oder weniger durch die europäische
Rechtsprechung vorgeschrieben. Ich möchte vielmehr unsere Position begründen, warum wir Buchführungshelfern und Bilanzbuchhaltern keine weiteren Befugnisse
zugestehen wollen. Sowohl vom Verband der Buchführungshelfer als auch vom Bundesverband der Bilanzbuchhalter wird die Forderung erhoben, den Mitgliedern
auch das Recht zur Einrichtung der Buchführung und zur
Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmel-dungen einzuräumen. Dass darüber hinausgehende Forderungen existieren, war im Vorfeld der Beratungen klar geworden, auch
wenn sie jetzt wieder zurückgezogen wurden. Wir sehen
aber, dass dies die nächste Scheibe der Salamitaktik der
genannten Verbände gewesen wäre.
Unserer Meinung nach bleiben die Einrichtung der
Buchhaltung und die Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen eine Vorbehaltsaufgabe der steuerberatenden
Berufe. Diese Auffassung wird nicht nur durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, auch
wenn diese schon älteren Datums ist. Sie wird auch von
der gesamten Fachwelt einhellig unterstützt, und zwar
nicht nur von den betroffenen Berufen, sondern auch von
den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Klimatagung,
zu der beispielsweise der Bund Deutscher Finanzrichter
und auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft gehören.
Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen
festgestellt, dass sowohl die Einrichtung der Buchführung
als auch die Erstellung von Abschlüssen dem steuerberatenden Beruf vorbehalten bleiben müssen, weil nur dieser
Personenkreis durch seine fachliche Kompetenz und
seine persönliche Integrität den Schutz gesetzesunkundiger Steuerpflichtiger vor einer Falschberatung, die Aufrechterhaltung der Steuermoral, die Sicherung des Steueraufkommens und den Schutz der einheimischen Wirtschaft vor den Folgen einer nicht ordnungsgemäßen
Beratung gewährleistet. So hat das Verfassungsgericht
sein Urteil begründet. Es wird klar zwischen dem Verbuchen laufender Vorgänge, der laufenden Lohnabrechnung
und der Anfertigung der Lohnsteueranmeldung unterschieden. Das ist das eine Arbeitsfeld.
Das andere ist das Einrichten der Buchführung. Das
würde - auch das sagt das Verfassungsgericht - fachspezifische Kenntnisse des Handels- wie auch des Steuerrechts erfordern. Vor allem ist es wegen der erheblichen
Auswirkungen für die Steuerpflichtigen und auf den Finanzhaushalt des Staates mit Verantwortung verbunden.
Bei der Aufstellung des Kontenplans wird grundsätzlich darüber entschieden, über welche Konten die Verbuchung der laufenden Geschäftsvorfälle erfolgt und - in
der Konsequenz daraus - welche Positionen des Jahresabschlusses damit ermittelt werden. Die Wahl der Konten
entscheidet auch über die Qualität und Aussagekraft der
unterjährlichen Erfolgsrechnung als Mittel der Unternehmensführung. Das ist ein sehr wichtiges Instrument für
eine Unternehmung. Die Auffassung, dass es heutzutage
sowieso keinen Entscheidungsspielraum gebe, weil durch
die EDV bereits alles vorgegeben sei, beweist, dass eine
fachkompetente Festlegung für überflüssig gehalten wird.
Nach meiner Auffassung zeigt dies, dass die Tragweite
der Entscheidung nicht richtig eingeschätzt wird. Auch
die EDV-gestützte Buchhaltung kann einem Anwender
die normative Wertung nicht abnehmen, die vor Einrichtung der Buchführung anzustellen ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen. Es ist ein absoluter Irrglaube,
zu meinen, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen wären nur
ein Abfallprodukt der Buchhaltung. Die UmsatzsteuerVoranmeldung ist eine vollwertige Steuererklärung.
({1})
Sie ist zu unterscheiden von der jährlichen Steuererklärung. Es sind aber bei ihr alle rechtlichen und tatsächlichen Erfordernisse einer Steuererklärung gegeben.
Das heißt, sie ist richtig, vollständig und termingerecht
zu erstellen - und das mit allen Konsequenzen. Das
heißt, gegebenenfalls ergeben sich Säumniszuschläge, es
kann zu Steuerverkürzungen kommen und es können
entsprechende Folgen der Strafbarkeit entstehen. Dieser
Auffassung hat sich auch der BGH angeschlossen, der erst
im letzten Jahr, am 22. April 1999, der Auffassung, die
Umsatzsteuer-Voranmeldung sei lediglich ein Abfallprodukt aus der erfassten Buchhaltung, eine klare Absage erteilt hat. Vielmehr, so der BGH, gehe es bei der Umsatzsteuer-Voranmeldung um eine echte Steuererklärung, deren Anfertigung und Abgabe sich nicht darin erschöpfe,
dass der Steuerberater seinen Stempel und seine Unterschrift auf den durch Ausdruck sozusagen ausgefüllten
Vordruck setze. Vielmehr verlangt die Erstellung der Umsatzsteuer-Voranmeldung fundierte umsatzsteuerliche
Kenntnisse, die durch sich häufig ändernde finanzgerichtliche Rechtsprechungen, durch die Steuergesetzgebung
sowie die Einflüsse durch das europäische Steuerrecht
ständig komplizierter werden.
Die Forderung, dass die Hilfeleistung bei der Fertigung
einer Umsatzsteuer-Voranmeldung weiterhin den Steuerberatern vorbehalten bleiben muss, wird auch von der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft unterstützt. Es liege
im Interesse einer funktionsfähigen Steuerverwaltung,
dass die Umsatzsteuer-Voranmeldung von qualifizierten
Steuerberatern erstellt werde und dabei für die Steuerverwaltung keine zusätzliche Mehrarbeit mehr entstehe.
Zu glauben, dass Steuervoranmeldungen ja jederzeit
durch die Jahressteuererklärung berichtigt werden könnten, ist nur für sehr beschränkte Fälle zutreffend. Tatsächlich ergibt sich aus der Rechtsnatur jeder einzelnen
Umsatzsteuer-Voranmeldung als eigener Steuererklärung,
dass bei gravierenden Änderungen jede einzelne Umsatzsteuer-Voranmeldung geändert werden muss.
Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Bilanzbuchhaltern und Steuerberatern auch darin besteht, dass erstere
ihre Tätigkeit gewerblich ausüben, also nicht eigenverantwortlich freiberuflich, wie es im Gesetz definiert ist.
So besteht natürlich die Möglichkeit, damit alle möglichen anderen Tätigkeiten zu verbinden, beispielsweise
die Vermittlung von entsprechenden Verträgen zur Kapitalanlage. Zudem gibt es für die Bilanzbuchhalter keine
Verpflichtung, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen oder einen solchen Bestand nachzuweisen.
Jedem Steuerberater wird sofort die Zulassung entzogen,
wenn er keine Haftpflichtversicherung mehr nachweisen
kann. Das ist hier nicht der Fall.
Da auch jedwede Kontrolle und Berufsaufsicht fehlt,
sind erhebliche Vorbehalte gegen das Ergebnis der Arbeit
aus staatlicher Sicht anzumelden. Allerdings muss auch
deutlich gesagt werden, dass Personen, die in der Lage
sind, die mit der Buchhaltung verbundenen steuerrechtlichen Fragen zu erkennen und zu beantworten, auch die
Fähigkeiten haben müssten, die Prüfung zum Steuerberater zu bestehen und die Zulassung zu erlangen. Ich meine,
bevor ständig neue Forderungen erhoben werden, sollte
sich dieser Personenkreis auf die vollständige Ausbildung
zum Steuerberater konzentrieren. Das ist auch zumutbar.
Auch die deutliche Ausweitung der Beratungsbefugnis
von Lohnsteuerhilfevereinen haben wir mit großer Skepsis gesehen und im Ergebnis abgelehnt. Anders als bisher
sollte die Steuerberatungsbefugnis bei Lohnsteuerhilfevereinen zum Beispiel auch Einnahmen aus Kapitalvermögen umfassen, die weit über dem Sparerfreibetrag liegen.
Ich darf auf die Skepsis der Finanzverwaltung hinweisen, die über die Klimatagung - Sie wissen, die Klimatagung hat nichts mit dem Wetter zu tun, aber sehr
wohl etwas mit der Atmosphäre, nämlich zwischen den
Berufsständen auf der einen Seite sowie der Finanzverwaltung und der Rechtsprechung auf der anderen Seite zum Ausdruck gebracht hat, dass durch die Änderung des
Steuerberatungsgesetzes auf keinen Fall mehr Arbeit für
die Steuerverwaltung entstehen darf. Die Klimatagung
weist auf die Schwierigkeit der Erstellung der Steuererklärung hin, in der zu prüfen ist, ob und wie die unterschiedlichen Kapitaleinkünfte in der Steuererklärung zu
erfassen sind und ob sie ungeprüft aus den Bankbescheinigungen übernommen werden können. Die richtige Einordnung und Zuordnung - beispielsweise bei Vorliegen
von inländischen oder ausländischen Aktiendividenden setzt profundes Wissen im Körperschaftsteuerrecht voraus.
Ebenso verhält es sich bei der Besteuerung aus Fondsanteilen. Man könnte hier noch eine ganze Reihe von Beispielen aufführen.
Die Steuerverwaltung sei darauf angewiesen, dass ein
Großteil der Steuererklärungen mehr oder weniger ungeprüft übernommen werden könne, weil sonst die Arbeitsflut nicht zu bewältigen sei. Deshalb kam man zu dem
Schluss, eine Ausweitung sei nicht zu befürworten, weil
nach der allgemeinen Erfahrung bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Lohnsteuerhilfe Spezialkenntnisse
außerhalb des klassischen Lohnsteuerbereiches nicht
durchgängig gegeben seien.
Wir sprechen den Lohnsteuerhilfevereinen keinesfalls
die Befähigung zu einer guten Beratung ihrer Mitglieder
ab - das haben wir in Gesprächen mit den Verbänden auch
immer wieder zum Ausdruck gebracht -, aber wir sind der
Meinung, dass dieser Beratungsbereich begrenzt bleiben
und eben nicht auf diese Art ausgedehnt werden sollte.
Denn durch die Beträge, die im Raum stehen, entsteht automatisch ein größerer Kreis von Betroffenen, die durch
die Lohnsteuerhilfevereine beraten werden können.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Ausweitung ab und
hat deshalb im Finanzausschuss gegen diesen Punkt gestimmt. Wir erkennen allerdings, dass durch die Zugrundelegung des Begriffes „Einnahmen“ die Grenzen trotz
allem relativ strikt sind, eben weil Werbungskosten und
Betriebsausgaben nicht mit den Einnahmen saldiert werden dürfen, es also nur um einen Bruttobetrag geht. Damit
ist die Ausweitung der Beratungsbefugnisse stärker begrenzt, als es beispielsweise der Fall wäre, wenn Verlustverrechnungen zulässig wären. Dann könnte es um höhere
Summen gehen. Das ist nicht der Fall. Das haben wir auch
gesehen und im Übrigen in der Diskussion abgeklärt.
Trotzdem sind wir der Meinung, dass durch die Festlegung der erhöhten Beträge von 18 000 DM eine Ausweitung erfolgt, die wir nicht mittragen wollen.
Ein weiteres Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Übertragung von hoheitlichen Aufgaben - zum Beispiel Bestellung zum Steuerberater, Anerkennung von Steuerberatungsgesellschaften, Widerruf und Rücknahme - auf die
Hansgeorg Hauser ({2})
Steuerberaterkammern. Hier war ursprünglich vorgesehen, dass die Aufwendungen für diese Arbeiten durch
staatlich festgelegte Pauschalgebühren abgegolten werden. Im Laufe der Beratungen ist auf unseren Antrag hin
erreicht worden, dass die Gebühren durch die Kammern
selbst festgesetzt werden dürfen. Es ist meines Erachtens
nur recht und billig, dass die Steuerberaterkammern wie
im Übrigen auch die Rechtsanwaltskammern und - so ist
es zumindest vorgesehen - auch die Wirtschaftsprüferkammern die Höhe der Gebühren selbst bestimmen können.
Selbstverständlich gibt es für die Festsetzung der Gebühren entsprechende Grundsätze. So müssen sie den
Grundsatz der Kostendeckung berücksichtigen, das heißt,
die bestehenden Aufwendungen dürfen durch das Gebührenaufkommen nicht dauerhaft überstiegen werden.
Es muss der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt bleiben,
dass Leistung und Gebühr in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Des Weiteren muss der Grundsatz der speziellen Entgeltlichkeit gelten, der besagt, dass
in die Gebührenbemessung keine sachfremden Maßstäbe
eingehen dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich die
Kammern ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Aufgaben - wie auch bisher immer - zuverlässig ausüben
werden.
Insgesamt stimmen wir dem Gesetz zu, auch wenn wir
uns in der Sache, wie bereits ausgeführt, gegen die Ausweitung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine ausgesprochen haben. Den Entschließungsantrag
lehnen wir allerdings ab, da hier nach unserer Meinung
durch weitere Prüfungen bei den Buchführungshelfern
und Bilanzbuchhaltern nur falsche Hoffnungen erweckt
würden, die der Gesetzgeber auf keinen Fall erfüllen
sollte.
({3})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
Christine Scheel.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen wollen, wird das Steuerberatungsgesetz und die damit verbundenen Verordnungen modernisieren. Das war auch der Ansatzpunkt, dem
wir uns als Regierungsfraktion gestellt haben. Es haben
sich viele Sachverhalte in der praktischen Entwicklung
verändert, sodass eine Modernisierung jetzt ansteht.
Diese Diskussion ist natürlich auch eine Gelegenheit,
über die Abgrenzung der Tätigkeiten der unterschiedlichen Berufsgruppen sowie der Dienstleister, die in diesem
Kontext verankert sind, neu nachzudenken und die damit
verbundenen Anforderungen, die aufgrund der Entwicklung des Steuerrechts und der Rechtsprechung insgesamt
gegeben sind, in die Diskussion einzubeziehen.
Herr Hauser hat auch - ich finde, zu Recht - das Beispiel der Umsatzsteuer-Voranmeldung genannt und ausgeführt, welche Schwierigkeiten darin liegen. Wir haben
im Finanzausschuss eine Anhörung durchgeführt und sehr
intensive Debatten zu diesem Thema mit allen Erwägungen, die hier eine Rolle spielen, geführt.
Es ist vollkommen klar, dass wir uns hier in einem
Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung der Gewerbe- und Berufsfreiheit einerseits und dem Schutz der
Verbraucher und Verbraucherinnen andererseits bewegen.
Die Koalitionsfraktionen haben - anders als jetzt von
Ihnen, Herr Hauser, für die CDU/CSU-Fraktion dargestellt - die Befugnisse der Lohnsteuerhilfevereine zur
Hilfeleistung in Steuersachen erweitern wollen. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht, der wohl
heute verabschiedet wird. Hier wird eine sinnvolle Regelung getroffen. Wir haben letztendlich auch einen
Prüfauftrag vergeben, inwieweit die Beratungsbefugnisse
der selbstständigen Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhalterinnen erweitert werden können.
Nach einer sehr sorgfältigen Prüfung haben wir die
Grenzen, bis zu denen die Lohnsteuerhilfevereine ihre
Mitglieder beraten können, über die in der ersten Fassung
vorgesehene 12 000- bzw. 4 000-Mark-Grenze hinaus weiter angehoben.
Frau Kollegin
Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?
Ja,
bitte.
Frau Kollegin Scheel, da auch
Sie von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und Steuerberater sprechen, möchte ich meine Frage, die ich auch
schon an die Staatssekretärin gerichtet habe, an Sie in einer etwas abgewandelten Form wiederholen. Immerhin
haben sich die Grünen und die Bündnis-90-Leute bisher
immer für selbst bestimmte Lebensverhältnisse von behinderten Menschen eingesetzt: Können Sie allen Ernstes
zustimmen, dass dieser Diskriminierungstatbestand wenn auch in abgeschwächter Form -, jetzt von Ihnen
vorgelegt, neu beschlossen wird? Oder können Sie sich
nicht wenigstens in diesem einen Punkt dazu durchringen,
unserem Änderungsantrag zuzustimmen, diesen Satz ersatzlos zu streichen, damit wir keine neuen Diskriminierungstatbestände nur aufgrund von Behinderungen herstellen?
Wir haben das sehr intensiv geprüft und sind zu dem Ergebnis gekommen, das jetzt als Gesetzentwurf vorliegt.
Ich muss Ihnen sagen: Es war auch aus unserer Sicht nicht
möglich, darüber hinauszugehen. Mehr kann man an dieser Stelle nicht dazu sagen.
Wir wollen den Lohnsteuerhilfevereinen künftig die
Möglichkeit geben, ihren Mitgliedern Hilfe in Steuersachen
zu leisten, wenn deren Einnahmen aus anderen Einkunftsarten als aus nicht selbstständiger Tätigkeit 18 000 DM bzw.
36 000 DM nicht überschreiten. Diese Erweiterung ist im
Hinblick auf die aktuelle Einkommenssituation und auch
Hansgeorg Hauser ({0})
die weiter steigenden Einkommen notwendig. Damit haben wir eine Regelung getroffen, die den Lohnsteuerhilfevereinen für längere Zeit eine sichere Existenzgrundlage gibt. Das ist ein sehr guter und wichtiger Schritt, der
hier gegangen worden ist.
Entgegen der Auffassung der Opposition, Herr Hauser,
ist es für uns ganz klar, dass die Tendenz, Leistungen aus
den Unternehmen auszulagern, zu einem erhöhten Beratungsbedarf auch in den weniger qualifizierten Bereichen
der Steuerberatung führt, und dass gleichzeitig viele
selbstständige qualifizierte Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhalterinnen diese Dienstleistungen anbieten könnten,
sie aber zum Teil nicht ausführen dürfen. Dies muss man
bei der Bewertung der Gesamtsituation berücksichtigen.
Wir wollen die Befugnisse von Steuerberatern und
Steuerberaterinnen sowie von den selbstständigen Bilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen den heutigen
Realitäten entsprechend neu abgrenzen. Das heißt, die engen Grenzen müssen so erweitert werden, dass zwischen
beiden Berufsgruppen ein fairer Wettbewerb möglich ist.
Sie müssen so exakt sein, dass sie für die Verbraucher
transparent sind und vor allem auch deren Schutz gewährleisten. Daher haben wir vonseiten der Koalitionsfraktionen diesen Entschließungsantrag vorgelegt, der
den Willen zum Nachdenken und darüber hinaus zum
Handeln dokumentiert, die Befugnisse der selbstständigen Bilanzbuchhalter zu erweitern. Jetzt ist ein ganz klarer zeitlicher Rahmen für eine Prüfung, welche Anforderungen an Qualifikation, Versicherungsschutz und Berufsaufsicht gestellt werden müssen, geschaffen. Damit haben
wir zumindest ein Signal gegeben.
Ein ganz entscheidender Bestandteil des Gesetzentwurfes ist auch eine praxistaugliche Neuregelung der
Vorschriften zur Werbung. Gerade den zahlreichen Abmahnverfahren wird hier durch eine ganz klare Definition
der Berufsbezeichnungen und der Möglichkeit, mit diesen
Bezeichnungen zu werben, die rechtliche Grundlage entzogen. Fairer Wettbewerb ist heute keine Frage mehr, die
allein aus einem nationalen Blickwinkel betrachtet werden kann. Daher ist es so, dass Personen aus dem EU-Ausland, die dort befugt sind, geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen zu leisten, dies auch in der Bundesrepublik
Deutschland tun.
Wegen der unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen in anderen Staaten der Europäischen Union wurde
von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass die inländischen Berater und Beraterinnen diskriminiert werden. Daher haben wir die Bundesregierung gebeten, die tatsächliche Entwicklung der grenzüberschreitenden Beratungstätigkeiten nicht nur zu beobachten, sondern auch zu
analysieren und uns darüber zu berichten. Gegebenenfalls
muss dann über die Verteilung der Befugnisse unter dem
Aspekt der Gleichstellung unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten der europäischen Situation auch neu entschieden werden.
Auch die weiteren Neuregelungen - Rechtsgrundlagen
für die EDV-Nutzung, Übertragung hoheitlicher Aufgaben an die Steuerberaterkammer - modernisieren die Voraussetzungen für die Zulassung und die Berufsausübung
in den steuerberatenden Berufen und sind angesichts der
veränderten Anforderungen an eine funktionierende
Dienstleistungsgesellschaft dringend erforderlich.
Somit ist es gut, wenn diesem Gesetzentwurf zugestimmt wird. Ich freue mich, dass von der Opposition signalisiert wurde, dass sie auch hier im Plenum - im Finanzausschuss hat sie dies ja schon getan - diesem Gesetzentwurf in der letzten Lesung zustimmen wird.
({1})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht Kollege Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin
hat den Gesetzentwurf im Transrapidtempo eingebracht.
Daran kann man sehen, was ein Transrapid manchmal
auch wert sein kann.
Wir verabschieden heute wieder einmal ein Gesetz zur
Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Vieles ist bereits
gesagt worden. Ich will die nach unserer Auffassung
wichtigsten Bestandteile vortragen:
Erstens die Anpassung an Art. 50 des EG-Vertrages durch
Zulassung der niedergelassenen europäischen Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaters, zweitens verschiedene Änderungen im Prüfungs- und Zulassungswesen,
auf die im Einzelnen schon hingewiesen wurde, und drittens die Übertragung hoheitlicher Aufgaben wie die Bestellung zum Steuerberater auf die Steuerberaterkammern ich denke, letzteres ist eine wichtige Entscheidung.
Die Umsetzung von EG-Recht zeigt aber auch an dieser Stelle erneut, dass immer mehr Bereiche unserer
Rechtsordnung von der Europäischen Union beeinflusst
werden. Heute kommen wir bei der Harmonisierung des
Rechts der EU-Mitgliedstaaten auch wieder einen Schritt
weiter. Künftig werden im europäischen Ausland zugelassene Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaters
zugelassen. Der Dienstleistungsfreiheit bei grenzüberschreitender Hilfeleistung in Steuersachen wird Rechnung getragen.
Wir verteidigen heute aber auch etwas, was es in dieser Form nur in Deutschland gibt: das umfassend geregelte Recht der freien Berufe. Um nicht missverstanden
zu werden: Ich bin ein Befürworter dieses bewährten Bestandteils unseres Rechtssystems. Freiberufler wie die
Steuerberater tragen aber auch ein hohes Maß an persönlicher Verantwortung. Ihre berufliche Leistung verlangt
besonderen Sachverstand und hohe berufliche Qualifikation. Es ist deswegen mehr als gerechtfertigt, an die Zulassung zum Steuerberaterberuf besondere Anforderungen zu stellen, die zugegebenermaßen bei weitem nicht
von allen Bewerbern erfüllt werden.
Betrachtet man aber die Komplexität des trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse der Koalition immer schwieriger und komplizierter werdenden Steuerrechts, können
die Voraussetzungen für die Zulassung zum steuerberatenden Beruf nicht abgeschwächt werden.
Das klingt für viele andere Berufsgruppen, die im Steuerwesen tätig sind, natürlich nicht befriedigend. Das wurde
auch bei dem Expertengespräch im Finanzausschuss
deutlich. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Zugangsvoraussetzungen zum Steuerberaterberuf nicht aufgeweicht werden dürfen.
({0})
Im Übrigen steht allen im Bereich Steuern Tätigen frei,
die Steuerberaterprüfung zu absolvieren.
In diesem Zusammenhang kann man über die Zulassungsbedingungen zur Steuerberaterprüfung reden.
Ohne Frage haben Buchführungshelfer, Bilanzbuchhalter
und andere im Steuerwesen Tätige eine qualifizierte Ausbildung mit einer anspruchsvollen Abschlussprüfung absolviert. Mit der Weiterentwicklung des Steuerrechts und
damit auch der Ausbildungsinhalte wird von Zeit zu Zeit
zu überprüfen sein, ob sich Prüfungsbestandteile mit der
Steuerberaterprüfung überschneiden oder in welchem
Umfang Ausbildungszeiten als berufspraktische Zeit gelten können.
In einigen Bereichen sind im heute vorliegenden Gesetzentwurf Verbesserungen vorgenommen worden. Darauf ist hingewiesen worden. Zudem gibt es in allen
angesprochenen Berufsgruppen eine dynamische Entwicklung, die es erforderlich macht, von Zeit zu Zeit zu
überprüfen, ob es Erleichterungen beim Zugang zum
Steuerberaterberuf geben kann. Grundsätzlich muss es
aber klare Grenzen zwischen dem steuerberatenden Beruf
und anderen Tätigkeiten im Steuerwesen geben. So ist auch das ist gesagt worden - jede Umsatzsteuer-Voranmeldung eine Steuererklärung, die den steuerberatenden
Berufen vorbehalten ist und auch bleiben sollte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,
wir sind bisher mit dem Steuerberatungsgesetz gut gefahren. Ich denke dabei insbesondere an die Bürger, die in
Steuersachen Hilfe in Anspruch nehmen. Die meisten
müssen das, weil unser Steuerrecht von normalen Steuerpflichtigen nicht mehr verstanden wird. Sie müssen sich
auch darauf verlassen können, sachlich kompetent und
umfassend beraten zu werden.
Eine Schlussbemerkung zur Kompliziertheit des
Steuerrechts. Die Qualität der Beratungsleistung steht
und fällt auch mit der Praktikabilität der Gesetze und
sonstigen Vorschriften. Hier stoßen wir mehr und mehr an
Grenzen. Dazu trägt die gestern im Finanzausschuss
verabschiedete Unternehmensteuerreform ein gutes Stück
bei, denn sie hat unser ohnehin schon kompliziertes Steuerrecht in für uns unerträglicher Weise verkompliziert.
({1})
Meine Damen und Herren, die F.D.P. stimmt der Novelle des Steuerberatungsgesetzes zu. Ich sage allerdings:
Wir werden wegen der weiteren Verkomplizierung des
Steuerrechtes der Unternehmensteuerreform nicht zustimmen.
Danke schön.
({2})
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Heidemarie Ehlert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Bundesregierung, das
Steuerberatungsgesetz zu modernisieren und zu straffen,
ist zu begrüßen. Leider ist unsere Steuergesetzgebung
schon mehr als kompliziert und die übergroße Mehrheit
der Bürger muss auf die Hilfeleistungen von steuerberatenden Berufsgruppen zurückgreifen. Aber bei allen positiven Veränderungen, denen ich durchaus zustimme, sind
unserer Meinung nach einige wichtige Fragen nicht ausreichend geklärt. Dazu haben wir entsprechende Änderungsanträge eingereicht. Leider kann ich nicht alle erläutern.
Völlig unverständlich ist, warum der Regierungsentwurf nicht auf die berechtigten Forderungen der Bilanzbuchhalter eingegangen ist, ihre Befugnisse nun endlich
neu zu regeln. Bereits 1994, als das 6. Änderungsgesetz
zum Steuerberatungsgesetz eingebracht wurde, haben Sie
sich, verehrte Kollegin Westrich, im Namen der SPDFraktion dafür engagiert, ob und in welchem Rahmen die
Befugnisse der geprüften Bilanzbuchhalter erweitert
werden können. Ich stimme mit Ihrer damaligen Auffassung völlig überein, dass es sich bei einem Teil der erforderlichen Tätigkeiten im Steuerberatungsbereich um
Routinetätigkeiten handelt. Die Erstellung der laufenden
Umsatzsteuer-Voranmeldung ist, wie Sie bereits 1994
feststellten, fast automatisch ein Abfallprodukt der laufenden Buchführung. Aber sie durfte nach der geltenden
Rechtslage gemäß § 5 des Steuerberatungsgesetzes von
Bilanzbuchhaltern unter Zwangsgeldandrohung nicht
durchgeführt werden. Ähnlich ist es bei der Einrichtung
der Buchführung.
Der nun von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf
berücksichtigt nach dem Motto „Was kümmert mich mein
Geschwätz von gestern!“ ihre eigenen Forderungen von
1994 nicht. Was soll der Vorschlag, die Arbeitsaufgaben
der Bilanzbuchhalter bis 2001 noch einmal zu prüfen? Für
eine solche Prüfung waren sechs Jahre Zeit, zumal die
SPD-Fraktion bereits 1994 die Stellungnahme des DIHT
aufgegriffen hatte, dass die geprüften Bilanzbuchhalter
hinreichend qualifiziert seien, die beiden zusätzlichen
Tätigkeiten sachgerecht auszuführen. Neue Erkenntnisse
dürften also in den kommenden Monaten nicht gewonnen
werden. Wohl aber werden Hoffnungen enttäuscht und
wird ein zusätzlicher Arbeitsaufwand für die mit der Prüfung beauftragten Behörden künstlich geschaffen. Die
Lobby der Steuerberater hat wieder einmal erfolgreich
ihre Pfründe verteidigt.
({0})
Ohne Nationalismus predigen zu wollen, wird den heimischen Bilanzbuchhaltern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das vorenthalten, was EU-Ausländern
im gleichen Atemzug gestattet wird, nämlich in Deutschland Hilfeleistungen in Steuersachen einschließlich der
Einrichtung der Buchführung und der Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen anzubieten. Der Umfang des
zulässigen Angebots richtet sich dabei nach dem Umfang
der Berechtigungen im Niederlassungsland. Den in Österreich niedergelassenen Bilanzbuchhaltern ist eben das
erlaubt, was den deutschen nicht erlaubt wird. Das ist
meines Erachtens ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.
({1})
Einen weiteren Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz stellt Art. 1 Nr. 35 c Abs. 3 des Regierungsentwurfs
dar, in dem es um die Änderung des § 40 des Steuerberatungsgesetzes geht. Er muss ersatzlos gestrichen werden.
Dieser Absatz gibt den Steuerberaterkammern das Recht,
die Bestellung zum Steuerberater zu versagen, wenn der
Bewerber
... infolge eines körperlichen Gebrechens … nicht
nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuerberaters ordnungsgemäß auszuüben;
Dieser Passus widerspricht dem Benachteiligungsverbot
des Art. 3 des Grundgesetzes. Auch Menschen mit körperlichen Behinderungen sind durchaus in der Lage, den
Beruf des Steuerberaters auszuüben.
({2})
Ich möchte noch ein letztes Problem ansprechen. Dem
Petitionsausschuss liegen eine Reihe von Petitionen von
Bürgern aus den alten und den neuen Bundesländern vor,
die im Zuge der deutschen Einheit vorläufig zu Steuerberatern bestellt worden sind und denen die endgültige Bestellung zum Steuerberater versagt wird, obwohl sie die
entsprechenden Prüfungen abgelegt haben. Dafür gibt es
sehr unterschiedliche Gründe. Teilweise ist nach dem Parteibuch oder nach entsprechenden Beziehungen entschieden worden. Die Beweise kann ich Ihnen, Herr Hauser,
vorlegen. Sie liegen in meinem Büro. Diese Klientel sollte
von uns vertreten werden. Deshalb fordern wir in einem
Änderungsantrag, dass diese Personen noch einmal die
Möglichkeit erhalten, ihren Fall überprüfen zu lassen.
Ich bitte sie sehr herzlich, unseren Änderungsanträgen
zuzustimmen.
({3})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Lydia Westrich.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Gerade nach der Debatte von
heute Morgen freue ich mich, dass wir jetzt einen Gesetzentwurf verabschieden, der von allen Fraktionen - bis auf
die der PDS - getragen wird. Das Steuerberatungsgesetz
steht in guter Tradition, Herr Hauser. Wir haben uns bei
der Erarbeitung dieses Gesetzes schon öfter zusammengerauft. Das bedeutet gleichzeitig, dass es trotz des
trockenen Stoffes ein sehr „lebendiges“ Gesetz ist, das
vielfach geändert wurde.
Heute verabschieden wir das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz. Das beweist die Dynamik, die in der Entwicklung dieses Berufsrechts zu verzeichnen ist. Unsere
fleißige Steuergesetzgebung der letzten Jahre trägt natürlich zu den Veränderungsnotwendigkeiten bei. Aber auch
die Entwicklungen im europäischen Raum machen das
zeit- und praxisnahe Reagieren notwendig.
Die Bundesrepublik ist eines der wenigen Länder in
Europa, das überhaupt ein Gesetz über den steuerberatenden Beruf hat. Die Angehörigen steuerberatender Berufe
dürfen durch diese traditionelle Besonderheit natürlich
nicht behindert werden. Wir wollen ihre Leistungs- und
Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken.
Fast 60 000 Personen kümmern sich in Deutschland als
Angehörige steuerberatender Berufe um die fachgerechte
Unterstützung der Steuerpflichtigen bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten und bei der Gestaltung ihrer
steuerlichen Verhältnisse, was uns manchmal nicht ganz
so lieb ist. Sie übernehmen damit im Rahmen der Volkswirtschaft eine bedeutsame Funktion. Außerdem sind sie
laut Bundesverfassungsgericht ein Organ der Steuerrechtspflege.
Der Aufgabenbereich hat sich weit über die Hilfeleistung in Steuersachen hinaus entwickelt. Steuerberater
sind für ihre Auftraggeber im Normalfall nicht nur für einen Einzelfall tätig; in der Regel beraten und vertreten sie
die Steuerpflichtigen über längere Zeiträume. Daraus ergibt sich von selbst, dass sie sich zu allgemeinen Beratern
ihrer Auftraggeber in wirtschaftlichen Fragen entwickeln,
zumal eine sachgerechte Hilfe in Steuersachen oft ohne
betriebswirtschaftliche Beratung gar nicht durchzuführen
ist.
({0})
Dem sensiblen Vertrauensverhältnis zwischen den Angehörigen der steuerberatenden Berufe und den Steuerpflichtigen, die eine umfassende und qualifizierte rechtliche Beratung erwarten dürfen, hat die Politik durch das
Steuerberatungsgesetz bereits 1961 Rechnung getragen.
Beim 7. Änderungsgesetz passen wir das nationale
Steuerberatungsgesetz an das europäische Recht an. Wir
modernisieren und straffen die Regelungen und machen
sie durch Präzisierungen in einigen Bereichen leichter
handhabbar. Ich muss jetzt nicht nochmals alle Maßnahmen dieses Gesetzes erwähnen. Das hat die Frau Staatssekretärin schon sehr ausführlich getan. Wir haben
wichtige Forderungen der Steuerberater aufgenommen,
einschließlich der Ermächtigung für eine Gebührenordnung, und wir sind in weiten Teilen im Konsens mit den
Betroffenen.
Im Gegensatz zu Herrn Hauser will ich aber auch
meine große Freude ausdrücken, dass es den Koalitionsfraktionen gelungen ist, die Beratungsbefugnisse der
Lohnsteuerhilfevereine gravierend zu verbessern.
({1})
Der Wille der Koalitionsfraktionen, Arbeitnehmern eine
qualifizierte und günstige Steuerberatung zu erhalten,
drückt sich in der Erweiterung der Beratungsbefugnisse
bei Einnahmen aus anderen Einkunftsarten, sprich:
Einnahmen aus Kapitalvermögen, auf Beträge von
18 000 DM bzw. 36 000 DM bei Verheirateten aus.
Damit berücksichtigen wir natürlich auch das veränderte Verhalten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihre Zukunftsvorsorge nicht mehr allein über
das Sparbuch abwickeln. Trotzdem sollen sie bei der Abgabe des Lohnsteuerjahresausgleiches oder der Einkommensteuererklärung auf die „Selbsthilfeeinrichtungen der
Arbeitnehmer“, also auf Lohnsteuerhilfevereine, im Steuerberatungsbereich nicht verzichten müssen. Dem dient
die Erhöhung dieser Beiträge.
({2})
Erstmals in der Geschichte des Steuerberatungsgesetzes haben wir die Anhörung mit den Fachleuten auch auf
die Berufsstände der selbstständigen Buchhalter ausgedehnt. Hier stehen die langjährigen Forderungen der
selbstständigen Angehörigen buchführender Berufe im
Raum, die ihre Befugnis auf die Einrichtung der Buchführung, vorbereitende Abschlussarbeiten und das Erstellen der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ausdehnen wollen. Die Bilanzbuchhalter erhalten dabei auch massive
Unterstützung vom DIHT, der im Rahmen der Dienstleistungsfreiheiten des europäischen Wettbewerbs diese Ausweitung für unabdingbar hält.
({3})
Diese Argumente, Herr Hauser, sind nicht ganz von der
Hand zu weisen. Die Abgrenzungsstrategien der Steuerberaterkammern in den früheren Jahren, die sich auch in
einer Vielzahl von Prozessen gegen selbstständige Bilanzbuchhalter und Buchhalter ausgedrückt haben, sind meiner Ansicht nach den Erfordernissen der heutigen Zeit
nicht mehr angemessen. Auch die Ausdehnung von
Dienstleistungsmöglichkeiten und die Erwartung der
Steuerpflichtigen, bei der Erfüllung ihrer Steuerpflichten
optimal beraten zu werden, müssen gegeneinander abgewogen werden.
Wir haben im 7. Änderungsgesetz bereits einige wichtige Forderungen dieser Verbände erfüllt, auch mit Ihrer
Zustimmung: Wir haben eine einheitliche Berufsbezeichnung eingeführt, wir haben die Werbemöglichkeiten
rechtssicher gegen Prozesse gemacht und wir haben die
Zugangsbedingungen zur Steuerberaterprüfung wesentlich erleichtert.
In einem Entschließungsantrag fordert der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages mehrheitlich das Bundesfinanzministerium zusätzlich auf, bis Ende nächsten
Jahres zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen und in
welchem Umfang das Tätigkeitsfeld der geprüften Bilanzbuchhalter erweitert werden kann.
Wir werden auch genau beobachten, wie sich die
grenzüberschreitende Steuerberatung aus anderen Staaten
der Europäischen Gemeinschaft, vor allem aus Österreich
und den Benelux-Staaten entwickeln wird. Wir wollen allen einen fairen Wettbewerb gewährleisten.
({4})
Der Zugang zu einem dem Steuerberater ähnlichen Beruf setzt in anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft teilweise eine wesentlich geringere fachliche Qualifikation voraus als unsere detaillierte Gesetzgebung. Ob
dadurch gravierende Wettbewerbsnachteile für die Angehörigen buchführender Berufe entstehen, wird deshalb
in den nächsten eineinhalb Jahren penibel registriert.
Nötigenfalls müssen wir dann - ich bin überzeugt, das
machen wir gemeinsam - die Verteilung der Befugnisse
zur Steuerberatung neu überdenken.
Das für die Koalitionsfraktionen wichtigste Kriterium
wird auch dabei der Verbraucherschutz sein. Die Risiken für mögliche Befugniserweiterungen dürfen den
Steuerpflichtigen nicht aufgelastet werden. Da vor allem
kleinere Unternehmen und Handwerksbetriebe auf die
Dienste der selbstständigen Bilanzbuchhalter, Buchhalter
und Buchführungshelfer zurückgreifen, stehen wir als
Gesetzgeber auch in der Pflicht, die Sicherheit einer ordnungsgemäßen Beratung in unserer komplizierten Steuergesetzgebung, insbesondere auch im Umsatzsteuerrecht,
einigermaßen zu gewährleisten. Das bedeutet: obligatorische Haftpflichtversicherung, Berufsaufsicht, besser ans
Steuerrecht angelehnte Ausbildungsinhalte und anderes
mehr. Gerade in diesem Bereich gibt es bei den selbstständigen Buchhaltern und Buchführungshelfern noch erhebliche Defizite.
Die Überprüfungszeit, wie sie der Entschließungsantrag vorsieht, wird auch den Verbänden Zeit geben, eventuell vorhandene Defizite aufzuarbeiten. Es ist ratsam,
diese Zeit zu nutzen, zusammen mit den Steuerberaterkammern, den Finanzbehörden, dem DIHT Kriterien zu
entwickeln, die eine Brücke bilden zwischen den Ansprüchen, die eine moderne Dienstleistungsgesellschaft
im europäischen Raum stellt, und dem notwendigen Abbau von Hemmnissen sowie dem Vertrauensschutz für die
Steuerpflichtigen bei der schwierigen Steuergesetzgebung im gesamten europäischen Raum.
Ich fordere auch die Opposition auf, sich an diesen Gesprächen zu beteiligen. Ich bin überzeugt davon, dass wir
mit reinen Abschottungsmechanismen wie bisher nicht
weiterkommen.
({5})
Auch wenn das Steuerberatungsgesetz sicherlich ein
lebendiges Gesetz bleiben wird, das heißt immer den jeweiligen Verhältnissen angepasst werden muss, haben wir
mit diesem 7. Änderungsgesetz die Basis für eine weitere
gute Entwicklung der steuerberatenden Berufe im europäischen Wettbewerb gelegt.
Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeit
mit dem Finanzministerium, den verschiedenen Verbänden und der Bundessteuerberaterkammer und hoffe, dass
wir überall weiter im Gespräch bleiben - gemeinsam im
Dienste der Steuerpflichtigen.
Vielen Dank.
({6})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun
zu den Abstimmungen. Nach den Abstimmungen wird es
eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Seifert
geben.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit
der Steuerberater in der Ausschussfassung. Das sind die
Drucksachen 14/2667 und 14/3284. Dazu liegen sieben
Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir
zunächst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3311? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3312? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3313? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit demselben Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3314? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3315? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser
Änderungsantrag ist ebenfalls mit demselben Stimmenverhältnis abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3316? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS mit
den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3317? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch
dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festgestellten
Stimmverhältnis abgelehnt worden.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung,
Drucksache 14/3284 Nr. 1. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
der dritten Lesung mit den Stimmen des Hauses bei
Enthaltung der PDS angenommen worden.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3284 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Jetzt kommen wir zur persönlichen Erklärung zur Abstimmung des Abgeordneten Dr. Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
den Tribünen und draußen! Wir haben hier gerade über ein
Steuerberatergesetz abgestimmt. Ich habe mich am Ende
enthalten, weil Sie all unseren Änderungsanträgen Ihre
Zustimmung verweigert haben. Ich will mich auf einen
einzigen Änderungsantrag beziehen. Normalerweise
spreche ich in diesem Hause, wenn es um Behinderten-,
Menschenrechts- oder Bürgerrechtsfragen geht. Hier
wurde ein Gesetz verabschiedet, das in einem Punkte, für
den die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten kämpft,
dass es keine -
Herr Abgeordneter, einen Moment! Ich muss jetzt doch auf die Regeln
achten. Sie können nur zu Ihrem eigenen Abstimmungsverhalten Stellung nehmen. Sie können nicht das
Abstimmungsverhalten anderer Abgeordneter kommentieren oder kritisieren. Bei diesem Instrument der Geschäftsordnung, das Sie benutzt haben, besteht dazu nicht
die Möglichkeit.
Vielen Dank, Frau Präsidentin,
dass Sie mich darauf hinweisen. - Ich wollte Ihnen nur
mitteilen, dass die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten
darum kämpft, dass solche Diskriminierungstatbestände
nicht mehr in Gesetze aufgenommen bzw. getilgt werden.
Am 5. Mai - das ist noch keine Woche her -, am europaweiten Aktionstag, haben Menschen mit Behinderung
europaweit und gerade auch hier in Berlin genau darum
gekämpft, dass solche Sätze nicht mehr in Gesetze kommen. Ich fühle mich als Teil dieser Behindertenbewegung
und muss Ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass wiederum ein solches Gesetz verabschiedet wurde. Ich bitte
Sie, in sich zu gehen. Vielleicht bekommen wir wenigstens in diesem Punkte so schnell wie möglich eine erneute
Änderung hin, die solche Diskriminierungen unmöglich
macht.
Es kann nicht sein, dass sich jeder Mensch blamieren
darf, auch beruflich, so wie er will, aber Menschen mit
Behinderungen, die in gleicher Weise freiberuflich wie
viele andere tätig werden wollen, vor sich selbst geschützt
werden sollen. Wo gibt es denn so etwas?
({0})
Ich bitte Sie, in sich zu gehen.
Frau Präsidentin, ich habe vielleicht das Geschäftsordnungsinstrument nicht ganz so angewandt, wie es richtig
wäre. Daher schöpfe ich meine Redezeit nicht aus.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte Sie
alle in diesem Hause: Lassen Sie uns eine achte Änderung
zugunsten von Menschen mit Behinderungen und ohne
diskriminierende Formulierungen in Angriff nehmen!
Danke schön.
({1})
Ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert
Hauser ({0}), Norbert Röttgen, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sicherung der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenforschung in der Informations- und Kommunikationstechnik
- Drucksache 14/3097 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Hauser.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die interdisziplinäre
Grundlagenforschung ist für die Informations- und Kommunikationstechnologie von fundamentaler Bedeutung.
Sie ist es nämlich, die die Grundlage für die anwendungsbezogene Forschung nachfolgender Jahre bildet.
Herr Catenhusen, es schien, als hätten Sie die Bedeutung der Grundlagenforschung nicht nur erkannt, sondern
wollten ihr zusätzlichen Auftrieb verleihen, als Sie uns am
29. September des vergangenen Jahres wie aus heiterem
Himmel die Pläne der Bundesregierung über die Fusion
von GMD und FhG gütigst zur Kenntnis gaben. In einer
Pressemitteilung vom selben Tag hieß es vielversprechend - ich zitiere -:
Zugleich wird in der neuen Organisation mehr Raum
für Vorlaufforschung geschaffen und für die Inangriffnahme neuer Themen, die erst mittel- und langfristig Vermarktbarkeit versprechen.
Was ist aus diesen hehren Zielen geworden? Die
Grundlagenforschung ist Ihnen im wahrsten Sinne des
Wortes abhanden gekommen. Sie haben seit September
Ihre forschungspolitischen Fusionsziele aufgegeben. So
sollte interdisziplinäre Grundlagenforschung auch nach
der Fusion in der FhG fortgeführt werden. Gerade hierin
sollte der forschungspolitische Mehrwert der neuen FhG
liegen. Sie, Herr Catenhusen, haben das Wort Grundlagenforschung aus den Fusionsplänen gestrichen. So sollte
die Fusion mit einer Neugliederung der FhG einhergehen.
Vorgesehen war die Aufgliederung der FhG in Fachbereiche, so auch in einen für I und K. Davon ist heute keine
Rede mehr.
Es ist daher kein Wunder, dass Sie mit Ihren Fusionsplänen mittlerweile auf ungeteilte Ablehnung stoßen. Erst
vorgestern haben sich die Institutsleiter der GMD geschlossen gegen eine Fusion ausgesprochen. Bei den Mitarbeitern der GMD herrschen Bitternis und Verärgerung.
Statt sie an dem Fusionsprozess zu beteiligen, werden ihnen seitens des BMBF Maulkörbe verpasst. Es macht sich
das Gefühl breit, es gehe nicht mehr um das Wohl der
GMD oder der FhG, sondern ausschließlich darum, die
einmal propagierte Fusion um des vermeintlichen politischen Erfolges der Forschungsministerin willen
durchzusetzen. Dies ist Arroganz der Macht, die hier zutage tritt.
({0})
Selbst die FhG, die nach allen Einschätzungen nach der
Fusion auf der Gewinnerseite stünde, hat starke Vorbehalte. Die FhG hat deutlich gemacht, dass die Fusion nach
Fasson der Bundesregierung nicht zum Ziel führen kann.
So war einem Papier, das den FhG-Senatsbeschluss vom
11. April 2000 vorbereiten sollte, Folgendes zu entnehmen - ich zitiere -:
Ein Kernproblem liegt nach wie vor in den bisher
nicht überbrückbaren Unterschieden der Förderung
von FhG und GMD und damit im unterschiedlichen
Zwang zur Fokussierung der Forschung auf kurzund mittelfristige Umsetzbarkeit.
Die FHG fordert deshalb von der Bundesregierung
Antworten - Zitat -:
Noch heute fehlt es an erschöpfenden und konsistenten Erklärungen des BMBF zu den mit der Fusion
verfolgten forschungspolitischen Zielen und den damit verbundenen Förderbedingungen für die FhGund GMD-Institute in der erweiterten FhG.
({1})
Unter dem Label „Fusion unter Gleichen“ wurden
die Geschäftsführungen beider Gesellschaften
- hören Sie gut zu, Herr Hilsberg allein gelassen bei der gemeinsamen Richtungsfindung unter dem Diktat der so unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in FhG und
GMD.
Was muss Ihnen eigentlich noch ins Stammbuch geschrieben werden, damit Sie endlich aufwachen?
({2})
Auch von Externen, die von der Fusion nicht betroffen sind, erhalten Sie schlechte Noten. Professor
Wilfried Bauer von der TU München schrieb an Frau
Bulmahn:
Ich verstehe nicht, wie Sie ohne eingehende Beratung durch kompetente Wissenschaftler und Fachleute aus der Industrie solch eine delikate Angelegenheit im Stile einer Firmenfusion durchziehen zu
können glaubten.
Oder Professor Bernd Neumann von der Universität
Hamburg betonte gegenüber der Forschungsministerin Zitat -,
dass Ihre Maßnahme die Grundlagenforschung der
GMD und damit in Deutschland substanziell
schwächen wird.
Noch deutlicher wurde Professor Siegfried Stiehl,
ebenfalls Universität Hamburg, der etwas drastisch meint,
dass durch die Fusion
eine politische Guillotine einen der besten Köpfe der
IuK-Grundlagenforschung in der Bundesrepublik
vom wissenschaftlichen Körper der nationalen Informatik trennt.
Das sind deutliche Worte, die der Koalition zu denken
geben sollten. Meine Damen und Herren, mit solchen Noten könnte keiner von Ihnen mehr irgendein Examen bestehen.
({3})
Selbst die Sitzländer der GMD - Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen - haben deutlich gemacht, -
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
({0})
- Sie brauchen die Frage ja nicht zu stellen.
Herr Kollege Hauser, ist
Ihnen eigentlich entgangen, dass die entscheidenden Beschlüsse der beiden Gremien für die Fusion nahezu einstimmig erfolgt sind und dass von allen Fachleuten, die in
diesen Gremien versammelt sind, keinerlei Kritik an dem
bisherigen Fusionsprozess laut geworden ist?
({0})
Herr Hilsberg,
hören Sie doch bitte zu! Ich habe Ihnen die Kritik der FhG,
die ja eigentlich - ich führte das aus - der Gewinner dieser ganzen Aktion sein sollte, ausdrücklich und umfassend zitiert. Hier wurde deutlich, dass zwar eine Fusion
unter den Parametern, wie sie ursprünglich einmal angedacht waren - Stärkung der Grundlagenforschung in der
FhG, diese Stärke der GMD in die FhG mit hinüber nehmen, dadurch die Synergieeffekte aus beiden stärken -,
möglich und sinnvoll sei. Aber von diesen Parametern haben Sie sich entfernt.
({0})
Ich werde gleich noch einmal dazu kommen, dass die Fusion von der Erfüllung dieser Parameter abhängig gemacht werden muss. Nur wenn das gewährleistet ist, kann
es eine Fusion dieser beiden Einrichtungen geben. Und
unter dieser Bedingung, Herr Hilsberg, haben zum Beispiel der Aufsichtsrat in der GMD und auch der Senat in
der FhG zugestimmt, weil man davon ausging, dass dies
auch Bedingungen für eine Fusion seien.
Meine Damen und Herren, ich wies schon darauf hin,
dass auch die Sitzländer - Berlin, Hessen und NordrheinWestfalen - deutlich gemacht haben, dass in diesem Sinne
die Parameter eine Conditio sine qua non für eine Fusion
sind.
Ministerialdirigent Helmut Matonett vom Ministerium
für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen schreibt in einem Brief vom 30. März 2000 an den Landrat des RheinSieg-Kreises:
Nur wenn gewährleistet ist, dass diese Eckpunkte,
die nach Geist und Inhalt Grundlage für die Zusammenführung sein sollen, auch tatsächlich umgesetzt
werden, wird die Landesregierung einer Fusion von
FhG und GMD zustimmen.
Meine Damen und Herren, Hauptproblem im Fusionsprozess ist der entstandene Eindruck, dass die Bundesregierung bereit ist, die interdisziplinäre Grundlagenforschung im IuK-Bereich auf dem Fusionsaltar zu opfern.
({1})
Heute müssen Sie die Antwort darauf geben, wohin der
Weg der Informations- und Kommunikationstechnologie in
Deutschland führen soll. Entweder auf der einen Seite Grundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungsorientierte Forschung als harmonischer Dreiklang oder auf
der anderen Seite, wie es im Bericht der Evaluierungskommission für die FhG aus November 1998 heißt, anwendungsorientierte Vertragsforschung, ausgerichtet an der „Kundenzufriedenheit“.
Eine solche, auf kurzfristige Erfolge abzielende Forschung hat durchaus ihren Sinn. Sie kann aber nur einen
Teil der Forschungslandschaft darstellen.
({2})
Verbesserungen da, wo wir bereits top sind, Vorrang für
Anwender für das kurzfristig Benötigte, aber eben keine
Antworten auf lange Sicht.
Das ist Feuerwerksforschung: brillant, leuchtend und
beeindruckend für den Moment, aber eben ohne Antworten und dunkel im Blick auf die Zukunft.
Wir haben Sie mehrfach auf die gegenläufige Entwicklung in den USA hingewiesen, die Sie nicht zur
Kenntnis nehmen wollten. Die USA beabsichtigen, bis
2004 zusätzlich 1,378 Milliarden US-Dollar im Wesentlichen in die interdisziplinäre Grundlagenforschung zu investieren,
({3})
ausgerichtet nicht an kurzfristigen Zielen, sondern an
Zeiträumen von Dekaden. Nur wenn wir übersehen, was
übermorgen gefragt ist, wenn es uns gelingt, die Anforderungen, die unsere Gesellschaft in Zukunft zu bewältigen
hat, zu erkennen, um uns dann umgehend auf die Suche
nach Antworten zu begeben, eröffnen wir uns die Möglichkeiten, die Schwelle zu neuen Märkten als Erste zu
überschreiten. Die USA haben das begriffen und versteNorbert Hauser ({4})
hen die Grundlagenforschung als strategische Forschung
für neue Märkte.
Wir verlangen deshalb für die Fusion von FhG und
GMD deutliche Zeichen, dass die von Ihnen zugesagte Erhaltung und Förderung der Grundlagenforschung Voraussetzung und Bedingung für eine Fusion dieser beiden Forschungseinrichtungen sind.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem Weg in
die Informations- und Wissensgesellschaft hat die
Vorgängerregierung ein schlüssiges Gesamtkonzept nie
zustande gebracht. Nur wenige technologische Neuerungen im Bereich Internet sind „made in Germany“.
Hinsichtlich Computerausstattung und Internetanbindung
rangierten deutsche Bildungseinrichtungen bei Regierungsübernahme im internationalen Vergleich höchstens
im Mittelfeld. Didaktisch hochwertige Bildungssoftware
war bei Regierungsübernahme nur wenig verfügbar, ganz
zu schweigen von dem Thema Aus- und Weiterbildung im
IT-Bereich, wo offenkundig nicht rechtzeitig auf erkennbare neue Anforderungen reagiert wurde, mit der
Folge, dass wir in Deutschland heute hier eine Wachstumsbremse haben.
({0})
Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ erstmals ein
Gesamtkonzept vorgelegt, in dem wir Ziele formulieren,
Aktionen bündeln und in Kooperation und gegenseitiger
Abstimmung von Wirtschaft und Politik die für den Aufbruch in die Informationsgesellschaft notwendigen Weichenstellungen für eine zukunftsgerichtete Forschungsund Bildungspolitik vorgenommen haben. Zentrale Maßnahmen sind dabei etwa die gemeinsame Initiative im Bereich Initiative D 21 mit der Wirtschaft und auch mit den
Ländern zur verstärkten Computerausstattung und Netzanbindung aller Bildungseinrichtungen. Es geht etwa um
das neue Förderprogramm „Neue Medien in der Bildung“, bei denen die Entwicklung und Erprobung didaktisch hochwertiger Bildungssoftware Schwerpunkt ist,
wofür alleine in den nächsten Jahren 400 Millionen DM
zur Verfügung gestellt werden. Es geht etwa um Programme zur Erschließung neuer Anwendungsfelder durch
Nutzung moderner I-und-K-Technologien, zum Beispiel
im Bereich virtuelle Realität, intelligente Internettechnologien. Es geht auch um die Sicherung und den Ausbau
der Spitzenposition in der informationstechnischen Technologieentwicklung, etwa durch unser neues Förderprogramm UMTS plus, und um neue Anstrengungen zur
Fortentwicklung der wissenschaftlichen Infrastruktur,
zum Beispiel die Umstellung des deutschen Forschungsnetzes hin zu einem Höchstleistungsnetz mit
Übertragungsraten im Gigabytebereich.
Zu einem in sich konsistenten zukunftsorientierten Gesamtprogramm gehört auch die Frage, wie wir die Struktur
der außeruniversitären Forschung auf dem Gebiet der Kommunikations- und Informationstechniken zukunftsorientiert
weiterentwickeln. In Übereinstimmung mit dem Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft und dem Direktor der
GMD haben wir deshalb einen Prozess begonnen, der zum
Ziel hat, durch Zusammenführung der Institute der GMD
mit den Informations- und Kommunikationsforschungsinstituten der Fraunhofer-Gesellschaft die Stärken beider Einrichtungen zu bündeln. Jeder kann in diese neue Struktur
seine besondere Stärke einbringen. Denn - das gilt es festzuhalten - gerade im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik kommt es zu einer immer stärkeren
Rückkoppelung zwischen anwendungs- und produktorientierter Forschung und Entwicklung und strategisch
orientierter längerfristiger Grundlagenforschung.
Gerade in diesem Bereich sind die Innovationszyklen extrem kurz und damit verschwimmen die klassischen
Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter
Forschung und Vorbereitung auf Produktentwicklungen.
Meine Damen und Herren, ich meine, wer für
Deutschland, wie Sie es heute tun, ausschließlich die
Stärkung der Grundlagenforschung im klassischen Sinne
reklamiert, missversteht die Innovationsdynamik auf diesem Gebiet und den Abbau bisher gültiger Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung
und produktorientierter Forschung. Er missversteht auch
grundlegende Studien wie etwa den amerikanischen
PITAC-Report.
({1})
Denn dieser Report empfiehlt durchaus verstärkte Aktivitäten in strategisch ausgerichteten Forschungsfeldern.
Er verknüpft sie aber immer mit sehr konkreten Anwendungsfeldern. Das ist der strategische Fehler und der
Denkfehler, den Sie, Herr Hauser, und andere machen, indem Sie versuchen, diesen Gesamtkomplex künstlich auseinander zu dividieren und künstliche Trennungen im Gefüge und in der Struktur der außeruniversitären Forschung
in Deutschland einzufordern.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hauser?
Aber
gerne.
Herr Kollege
Catenhusen, ist Ihnen entgangen, dass ich soeben
vorgetragen habe, dass unser Verständnis von Grundlagenforschung aus dem harmonischen Dreiklang von
Grundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungsorientierter Forschung besteht, und dass damit
durchaus deutlich wird, dass wir diese drei Aspekte nicht
Norbert Hauser ({0})
auseinander ziehen wollen, sondern dass wir gerade das,
was Sie jetzt im Begriff sind zu tun, nämlich sich nur noch
auf die anwendungsorientierte Forschung zu stützen, für
falsch halten?
Wenn
Sie das so sehen, Herr Kollege Hauser, nehme ich das
zwar zur Kenntnis, weise Sie aber darauf hin, dass es einen erkennbaren Widerspruch zwischen der strategischen
Grundeinschätzung, die Sie in Ihrer Rede haben anklingen lassen - ich akzeptiere diese auch; darin besteht offenkundig Übereinstimmung zwischen uns; das ist ja auch
wichtig -, und den Organisationskonsequenzen, die Sie
aufgrund Ihrer Position ziehen, gibt.
Denn gerade bei der Fusion von GMD und FhG werden nach unserer Überzeugung alle Beteiligten gewinnen
können.
({0})
- Sie müssen mir schon überlassen, ob ich Ihre Frage mit
zwei oder mit 20 Sätzen beantworte, Herr Kollege Hauser.
- In diesem Sinne sage ich Ihnen: Jawohl, ich konstatiere
diesen Widerspruch und denke, dass Sie an dieser Stelle
für sich selber klären müssen, was für Sie wichtiger ist:
Wollen Sie grundsätzlich den Synergieeffekt, der sich aus
dem Prozess einer stärkeren Verknüpfung und Vernetzung
von stärker auf Grundlagenforschung orientierten Instituten, die sehr viel mehr marktorientiert sind, sich aber in
der Synergie mit den Instituten der GMD stärker auf Fragen der strategischen Forschung öffnen können, und von
auf strategische Forschung orientierten Instituten ergibt?
Oder wollen Sie in Ihren praktischen Umsetzungsforderungen Strukturen konservieren, die das Zusammenführen und das, wie Sie sagen, stärkere Aufeinanderbeziehen eher verhindern oder abblocken?
Das ist die strategische Frage, die Ihnen gestellt wird
und auf die wir eine andere Antwort geben. Denn nach unserer Überzeugung können bei der Fusion von GMD und
FhG im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik alle Beteiligten gewinnen, und zwar die Institute
der GMD an Marktorientierung und an stärkerer Orientierung an Auftragsforschung, wie es den Strukturen der
Fraunhofer-Gesellschaft entspricht. Auch die FraunhoferGesellschaft - das Umdenken fällt beiden Organisationen
offenkundig nicht ganz leicht - kann von der längerfristig orientierten Forschung auf der Basis strategischer
Gesichtspunkte, wie sie in der bisherigen GMD vorgeherrscht hat, profitieren.
Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass wir die
Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft, die sich sehr
stark auf die industrielle Auftragsforschung und auf die
Auftragsforschung für öffentliche Projekte konzentriert
hat, auch in zukünftig bedeutsamen Technologiefeldern
stärken müssen. Die Kommission, die die Fraunhofer-Gesellschaft evaluiert hat, hat ausdrücklich empfohlen, die
Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft für die Produkte
von morgen und übermorgen durch eine Verstärkung der
Vorlaufforschung voranzubringen.
Ich denke, konkret dies setzen wir um. Deshalb gilt: In
dieser gemeinsamen Struktur sollte die vergrößerte
Fraunhofer-Gesellschaft insgesamt mehr Anreize für Ausgründungen schaffen, wie sie zum Beispiel in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in den letzten Jahren durchaus in beachtlicher Weise realisiert worden sind.
Dies werden wir erreichen durch einen eigenen Fonds
für die längerfristig angelegte Forschung auf strategischen, zukunftsträchtigen Gebieten - dazu könnte man
auch „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ sagen -, und durch eine Verbesserung des Anreizsystems innerhalb der erweiterten Fraunhofer-Gesellschaft für Ausgründungen und für die Einwerbung von EU-Mitteln.
Mein Eindruck ist, dass, wenn wir die Diskussion zu
grundsätzlichen Fragen führen, viel mehr Gemeinsamkeit in der Zielsetzung auf beiden Seiten des Hauses besteht, als es vielleicht in einer hitzigen Debatte wenige
Tage vor einer Landtagswahl den Anschein haben kann.
Offenkundig fällt uns das aktive Mitwirken an solchen
strukturellen Reformen, das offene Einlassen auf einen
gemeinsamen Entwicklungsprozess, den wir nicht im
Detail vorgeben wollen, nicht immer ganz leicht. Das ist
auch kein Wunder nach 16 Jahren Reformstau in
Deutschland. Wo gibt es die Kultur, strukturelle Reformen im Wissenschaftsbereich gemeinsam anzugehen?
Wo sind in den letzten 16 Jahren Lernprozesse erfolgt, die
Strukturen zukunftsorientiert weiterzuentwickeln?
({1})
Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass die Reformbereitschaft in diesem Bereich nicht im ersten Anlauf mit
Jubel begleitet wird, sondern zum Teil mit Besorgnis, weil
man geneigt ist, mit der Überzeugung in den Prozess zu
gehen: Besser, es bleibt so, wie es ist; ich weiß ja nicht,
wie die Zukunft wird.
Meine Damen und Herren, wir wissen - das hat die
schwierige Diskussion der letzten Monate gezeigt -, dass
es in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, einer Großforschungseinrichtung des Bundes, und
der Fraunhofer-Gesellschaft unterschiedliche Unternehmensphilosophien und -kulturen gibt. Das macht den begonnenen Integrationsprozess zu einem spannenden und
nicht spannungsfreien Unterfangen.
Ich kann verstehen, dass Sie als Abgeordnete es als Ihre
Aufgabe erachten, uns auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. Es ist auch richtig, dass Abgeordnete, die in diesen
Regionen Verantwortung tragen, uns mit den kritischen
Nachfragen der Beschäftigten konfrontieren. Aber in der
ersten Aprilhälfte hat es Beschlüsse seitens des Aufsichtsrats der GMD und des Senats der Fraunhofer-Gesellschaft gegeben - darauf hat der Kollege Hilsberg bereits hingewiesen -, durch die eine gewisse Klärung der
Perspektive erreicht wurde:
Norbert Hauser ({2})
Erstens. Die Umsetzung der Fusion wird zum 1. Januar 2002 erfolgen. Das heißt, wir haben mehr Zeit für ein
sorgfältiges Austarieren der neuen Struktur gewonnen.
Zweitens. Nach diesen Beschlüssen sind die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Leiter der Institute der
GMD und der IuK-Institute der Fraunhofer-Gesellschaft
am Zuge. Sie können mit den Vorständen beider Seiten
und gemeinsam mit einem erfahrenen Moderator die Synergieeffekte der Zusammenführung definieren sowie die
Struktur und die Schwerpunkte ihrer Arbeit unter dem
künftigen gemeinsamen Dach der Fraunhofer-Gesellschaft ausarbeiten. Wir erhoffen uns davon eine nachhaltige Profilierung und Stärkung der Forschungslandschaft auf dem Gebiet der Informations- und
Kommunikationstechniken.
Eines aber will ich hinzufügen: Man sollte nicht den
Eindruck erwecken, als spiele sich die außeruniversitäre
oder gar die wissenschaftliche, strategisch orientierte
Forschung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken weitgehend in der GMD ab, als gebe es
außer der GMD keine außeruniversitäre Forschung
mehr. Wir haben eine Vielzahl weiterer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in vielen Bundesländern,
die hoch qualifizierte Arbeit auch im Bereich strategisch
und anwendungsorientierter Grundlagenforschung leisten. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das
Heinrich-Hertz-Institut, das Max-Planck-Institut in
Saarbrücken und das Deutsche Zentrum für Künstliche
Intelligenz in Kaiserslautern. Ich könnte diese Liste um
20 Institute - um Institute auch in den neuen Bundesländern - mit hervorragenden Leistungen erweitern.
Auch die GMD muss wissen, dass sie nur ein Teil des
Systems ist. Sie haben daher in Ihrem Antrag zu Recht darauf hingewiesen, dass wir eine breite Forschungslandschaft haben, dass wir hier also einen Baustein
fortschrittsorientiert weiterentwickeln. Wir nehmen die
Motivation Ihres Antrags sehr ernst, uns darauf hinzuweisen und auch uns zu ermuntern und zu drängen, dass wir
den Instituten der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft
den notwendigen Spielraum zur Mitgestaltung dieses Fusionsprozesses lassen. Diesem Drängen wird durch die
Beschlüsse des Senats der FhG und dem Beschluss des
Aufsichtsrats der GMD nachgekommen. Allerdings werden sie schon in den nächsten Wochen zu beraten haben,
wie ernst sie die allgemeine Begrüßung der Zielsetzung
der geplanten Strukturreform nehmen.
Wir sind zuversichtlich, dass alle Beteiligten dieses
Jahr für eine konstruktive Ausgestaltung der neuen Strukturen nutzen. Ich sage deutlich: Natürlich bedeutet dies
auch, dass wir die Ergebnisse, durch die die Strukturen im
Vergleich zum bisherigen Planungsstand weiterentwickelt wurden, ernst nehmen. Denn wir wollen eine effiziente, eine leistungsfähige Struktur, die uns auch auf
dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik stärker macht. Ich denke, dass wir alle Grund haben,
hier ein aktives Mitarbeiten an der zukunftsorientierten
Weiterentwicklung der Strukturen zu ermuntern.
Dazu wird sicherlich auch die Arbeitsplatzgarantie,
die für alle Beschäftigten der GMD gilt, beitragen. Denn
trotz aller Besorgnisse und Proteste kann hier von einem
sehr sicheren Fundament aus die Strukturreform betrieben
werden. Das muss man den Beschäftigten manchmal auch
sehr deutlich sagen: Es geht nicht um ihren Arbeitsplatz;
es geht nicht um ihre soziale Existenz, sondern es geht um
die Frage, wie die zukunftsorientierten Erwartungen an
ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem auch von den
Wissenschaftlern selbst in eine Weiterentwicklung der
Strukturen umgesetzt werden. Ich werbe nach wie vor
dafür, dass auch die Wissenschaftler selbst an diesem
strukturreformerischen Prozess mitwirken.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, es
klang am Anfang alles gut; die Argumentation schien logisch und schlüssig. Dem Anschein nach war die Aktion
gut vorbereitet und so löste die Nachricht aus der Bundespressekonferenz vom 29. September 1999 unter dem Titel „Fraunhofer-Gesellschaft und GMD streben Fusion
an“ erst einmal keine größeren Unmutsbekundungen aus.
Warum auch? Frau Ministerin Bulmahn informierte die
Öffentlichkeit darüber, sie habe sich mit den Vorsitzenden
der Vorstände und der Aufsichtsgremien über die Fusion
geeinigt.
Kurz darauf - man beachte im Übrigen auch die Reihenfolge der Informationen - wurden über die Absichtserklärung die Mitglieder des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung informiert.
Auch hier wurde der Eindruck erweckt, alles sei sehr modern und zukunftsorientiert. Die größte Forschungsorganisation auf dem Gebiet der IuK-Technik Europas werde
entstehen, Raum für Vorlaufforschung werde für die neue
Fraunhofer-Gesellschaft/GMD geschaffen; von Synergien war die Rede und davon, dass man mit einem überkritischen Potenzial den Wirtschaftsstandort Deutschland
stärken und das Ausland das Fürchten lehren wolle.
Jedoch verfehlen schnelle Schüsse oft ihr Ziel, Herr
Staatssekretär, und so hat diese Bundesregierung wieder
einmal den schnellen Erfolg vorgezogen - eigentlich verwunderlich, denn Nachhaltigkeit sollte ja die Politik dieser Regierungskoalition bestimmen.
({0})
Das Ergebnis einer laufenden Systemevaluation der
Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, das der Wissenschaftsrat übrigens im
November dieses Jahres vorlegen wird, wurde nicht abgewartet und nach neuen zukunftsträchtigeren Modellen
einer Zusammenarbeit zwischen GMD und den Instituten
der Fraunhofer-Gesellschaft wurde erst gar nicht gesucht.
Was modern und zukunftsträchtig aussah, entpuppte sich
also schnell als Dinosaurier der Forschungsgeschichte.
Meine Damen und Herren, heute kommt es in der Wissenschaft längst nicht mehr darauf an, große verwaltungsintensive Forschungsorganisationen zu schaffen
oder bestehende immer weiter anwachsen zu lassen. Gerade in der Forschung sind entgegen den Entwicklungen
in der Wirtschaft - das zeigt ja gerade der rasche Wandel
in den vielen aus der GMD ausgegründeten jungen IuKTechnik-Unternehmen - kleine, kreative Strukturen gefragt. Nicht die Größe einer Forschungsorganisation ist
der Maßstab, sondern die Leistungsfähigkeit der Forschungsinstitute selbst.
Die GMD-Institute zählen mit den von ihnen bearbeiteten Themen zur Weltspitze, so zum Beispiel mit dem
„biological computering“. Das eigentliche Problem ist in
der unterschiedlichen wirtschaftlichen Organisation
von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft zu sehen; das
wurde hier ja auch schon gesagt. Kleine Institute bei der
GMD sind mit ihren Wissenschaftlerteams visionär tätig;
Träger der Forschungsleistungen der Fraunhofer-Gesellschaft sind Institute, die zwar unselbstständig sind, die
aber als selbstständige Profitcenter agieren. In der GMD
findet zu 70 Prozent anwendungsorientierte Forschung,
zu 30 Prozent Grundlagenforschung statt. In diesem Teil
ist das Zusammengehen nicht kompatibel. Die reine Zusammenlegung von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft,
ohne Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen, birgt
unseres Erachtens in Wirklichkeit eine Schwächung der
Forschungsleistungen der einzelnen Institute in sich und
läuft auf die Schwächung der Informations- und Kommunikationsbranche in Deutschland hinaus.
Die Stärke der GMD liegt in ihren Wissenschaftlern,
also in der Innovationskraft der Institute. In der heutigen
Zeit muss man über ganz andere Strategien nachdenken.
Kooperationsvereinbarungen und virtuelle Fusionen der
Institute sind bereits heute gangbare Wege. So ist es vorstellbar, dass die unterschiedlichsten Organisationsstrukturen zielführend miteinander kooperieren.
Die GMD kann auch künftig allein funktionieren.
So könnte künftig die GMD einen eigenständigen Beitrag zur
Erhöhung der Attraktivität des Studienstandortes Deutschland in der Doktorenausbildung und der Postdoktorandenphase leisten. Die GMD könnte durch die Fondsidee als Zukunftsmodell getragen werden. Dabei wären zwei Fonds zu
bilden, der eine für die so genannten neuen Märkte, der andere für Projekte der Grundlagenforschung.
Der Auftrag an die Vorstände und Aufsichtsgremien
von Fraunhofer-Gesellschaft und GMD sowie an die eingesetzten Moderatoren sollte von der Bundesregierung
neu überdacht werden, damit bis zum genannten Zeitpunkt - der Zeitraum hat sich ja nun erweitert, wie Herr
Catenhusen vorgetragen hat - eine tatsächliche Kooperation zwischen GMD und Fraunhofer-Gesellschaft entstehen kann.
Unseres Erachtens ist ein Kooperationsmodell zu entwickeln, das an die jeweiligen Stärken der Institute der
GMD und der Institute der Fraunhofer-Gesellschaft anknüpft und zu gemeinsamen Projekten und Strategien
führt. Denn nur eine partnerschaftliche Vereinigung
schafft die Grundlage für den Erfolg. Das eigentliche
Problem, das der unterschiedlichen wirtschaftlichen
Organisation von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft, ist
auch so zu lösen. In der GMD sind, wie gesagt, kleine Institute mit ihren kleinen Wissenschaftlerteams sehr visionär tätig. Sie betreiben sozusagen Forschung in einem
Randgebiet zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung. Sie heute zu Eigenmittelerwirtschaftung nach
dem FhG-Modell zu bewegen würde viele Forschungsräume beschränken. Ich behaupte, es würde den Wissenschaftsstandort Deutschland gefährden.
({1})
- Ich weiß, Herr Tauss, Sie können leider nicht mit Kritik
leben. Die rot-grüne Bundesregierung hat riesige Schwierigkeiten, die Kritik der Opposition zu ertragen.
({2})
Aber Sie haben nun einmal Verantwortung übernommen;
da müssen Sie sich die besseren Ideen anhören, auch wenn
sie aus der Opposition kommen.
({3})
- Die habe ich Ihnen doch gerade vorgetragen. Fakt ist,
dass mit der Fusion, die Sie vorhaben, die Rolle der
Grundlagenforschung künftig geschwächt wird. Deswegen denke ich, dass der CDU/CSU-Antrag - das sage ich
auch namens meiner Fraktion - die richtigen Feststellungen getroffen hat.
Frau Kollegin,
die Redezeit ist jetzt doch schon erheblich überschritten.
Ich bedanke mich für den
Hinweis, Frau Präsidentin. - Wir unterstützen natürlich
den Antrag der Union.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans-Josef Fell.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen von der Union, Ihr Anliegen, die außeruniversitäre Forschung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu sichern und zu stärken, ist sicher berechtigt. Wir teilen Ihre Meinung.
Nur, dies in einen Antrag zu packen, ist vordergründig und
sehr schnell nachzuvollziehen: Sie haben unter den Mitgliedern der GMD eine Stimmung aufgegriffen und daraus einen Antrag gemacht, um in Nordrhein-Westfalen
richtig Wahlkampf zu machen. Dies ist der eigentliche
Hintergrund dieses Antrages.
({0})
Deswegen ist er auch nicht zu unterstützen.
({1})
- Nein, Sie haben nicht die richtigen Inhalte aufgegriffen;
denn im Ziel sind wir überhaupt nicht voneinander entfernt und wir arbeiten daran, genau diese Grundlagenforschung voranzutreiben.
Worum geht es? Im letzten Herbst wurde verkündet,
die GMD und die FhG würden fusionieren. Die Unterstützung des Ministeriums lag nahe, da sich die Beteiligten weitreichende Synergieeffekte erwarteten. Dennoch
war die Aufgabe von Ministerin Bulmahn von Anfang an
nicht leicht und die Ministerin war nicht zu beneiden.
Denn es zeichneten sich schnell zwei große Herausforderungen ab.
Die erste ist ganz klar: Die Fusion muss erfolgreich
sein. Beide Partner müssen gemeinsam mehr Erfolg haben, das heißt, sie müssen in der Summe mehr Erfolg haben als die beiden vorherigen Einzelkämpfer.
({2})
Dieser Erfolg ist nicht selbstverständlich. Aus der Wirtschaft wissen wir, dass mehr als die Hälfte der beabsichtigten Fusionen nicht stattfindet.
Zweitens. Beide Partner haben zum Teil sehr unterschiedliche Strukturen und Aufgabenfelder.
({3})
- Nein, das ist überhaupt kein Abwatschen, Herr
Kampeter. Ich will das klarstellen. Es ist nur eine Darstellung der vorhandenen Probleme, die wir mit Sicherheit lösen können;
({4})
denn die Grundlagenforschung ist ein Bestandteil der
GMD, die der Anwendungsorientierung der FhG momentan noch ein Stück weit fremd ist.
Ich will einige herausragende Beispiele der GMD zur
Grundlagenforschung nennen: Die GMD arbeitet an
Geruchscomputern, die es dem Nutzer ermöglichen, Informationen auch mit dem Geruchsorgan wahrzunehmen.
Das ist ein sehr interessantes Forschungsgebiet. Die GMD
arbeitet an Robotern, die Fußball spielen. Das ist keine
reine Spielerei, wie man vielleicht denken könnte. Nein,
es handelt sich vielmehr um einen sehr intelligenten Ansatz, autonome Systeme zusammenarbeiten zu lassen.
Dies ist heute noch Grundlagenforschung, kann in einigen
Jahren aber zu geradezu revolutionären Umwälzungen
führen, zum Beispiel in der Produktion.
Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit an Bionik-Computern. DNA-PCs können die Rechenleistungen von Computern eines Tages möglicherweise beträchtlich steigern.
Das alles sind herausragende Ergebnisse der GMD-Forschung.
Auch außerhalb des direkten Forschungsbereichs
nimmt die GMD wichtige Funktionen wahr. So arbeitet
sie in internationalen Organisationen mit, die die künftigen Standards für Internet und Multimedia definieren.
So stellt sie das deutsche Büro des World-Wide-WebKonsortiums sowie das deutsche Büro und den Vorsitz der
Internet-Society.
Als Großforschungseinrichtung nimmt sie darüber hinaus wichtige Aufgaben in der Ausbildung wahr. Diese
Funktion kann aber nur dann ausgefüllt werden, wenn
eine institutionelle Förderung vorhanden ist, die über das
hinausgeht, was anwendungsorientierten Einrichtungen
zur Verfügung steht. In diesen Punkten sind wir völlig einer Meinung.
Die FhG dagegen hat ihre Stärken in der industrienahen Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, desto schneller wird die Umsetzung in Produkte und die
Schaffung von Arbeitsplätzen geleistet, und das ist gut so.
Dies schafft Spielraum für die Finanzen des Staates. Der
Staat sollte sich daher vor allem dort engagieren, wo der
Markt wichtige Funktionen nicht erfüllen kann, wie in der
Vorlaufforschung.
Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie häufig
ein Interesse, das groß genug ist, um selbst finanziell aktiv zu werden. Die Vorlaufforschung hingegen ist häufig
noch zu weit vom Markt entfernt, als dass es sich für
Unternehmen lohnen würde, hier selbst aktiv zu werden.
Wenn sich die Förderpolitik vermehrt in Richtung Marktnähe verschieben würde - eine solche Politik haben Sie
von der Union viele Jahre lang betrieben -, hieße das, vor
allem die Ideen der Vergangenheit umzusetzen. Damit
laufen wir Gefahr, dass den anwendungsorientierten Forschern in einigen Jahren die Ideen ausgehen. Die staatlichen Akzente, auch in der Informationstechnologie, müssen daher wieder stärker in Richtung Vorlaufforschung
verlagert werden.
({5})
Bündnis 90/Die Grünen würden es daher begrüßen,
wenn die Vorlaufforschung durch die Fusion mit der FhG
gestärkt und in der GMD auf hohem Niveau erhalten
bliebe.
({6})
Dies entspricht im Wesentlichen dem Grundsatz Ihres
Antrags und wird durch die Fusion auch tatsächlich ausgeführt. Leider ist die Stimmung - so müssen wir feststellen - nach der anfänglichen Fusionseuphorie etwas
umgeschlagen. Die Fusion wurde sogar zeitweise von einigen Beteiligten in Frage gestellt. Die Aufgabe der Ministerin Bulmahn wurde daher nicht einfacher.
Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es insbesondere,
dass jetzt der zeitliche Druck auf die Fusion etwas gemindert wurde; denn erst der 1. Februar 2002 wird nun als
Fusionszeitpunkt angestrebt.
({7})
Wir begrüßen auch, dass ein Moderator eingeschaltet
wurde, um die Kommunikation zwischen den Beteiligen
zu verbessern.
Ich möchte den Akteuren einiges empfehlen: Die GMD
sollte noch einmal allen Mut zusammenfassen und die Fusion offensiv angehen. Sie soll ihre Stärken in den
Vordergrund stellen, und die bislang vorhandenen
Schwächen soll sie als Chance sehen, gemeinsam mit der
Fraunhofer-Gesellschaft auch hier Stärken zu entwickeln.
Dort, wo Verkrustungen entstanden sind, sollten diese in
der Fusion aufgelöst oder als Ballast abgeworfen werden.
Eine Ehe macht nur dann Sinn, wenn beide Partner aufeinander zugehen. Wenn ein Partner vor der Hochzeit mitteilt, dass sich nur der andere anpassen solle, führt dies automatisch zu Missstimmungen. Kommt es dennoch zur
Hochzeit, sollte die genannte Einstellung entweder korrigiert werden oder die Ehe wird mit Krisen belastet sein.
Möglicherweise kommt es sonst zu weniger Start ups, als
von den Eltern erhofft wurde, oder es kommt zu Fluktuationen.
Auf Frau Bulmahn kommt nun die Aufgabe zu, die beiden Partner mit einer sehr glücklichen Hand zusammenzuführen. Sollte sich allerdings trotz aller Anstrengungen
herausstellen, dass eine Fusion nicht fruchtet, wünsche
ich der Ministerin den Mut, daraus die Konsequenzen zu
ziehen und über neue Strukturen nachzudenken.
({8})
Die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P.
möchte ich daran erinnern, dass sie 16 Jahre lang Zeit hatten, die Forschungsstruktur in der Informationstechnologie zu organisieren. Wer heute „Kinder statt Inder“
schreit, wie dies ein ehemaliger Zukunftsminister tat,
muss sich fragen lassen, wie es dazu kam, dass die Amerikaner und Japaner in den letzten Jahren den Ton angaben. Sie müssen sich auch fragen lassen, wie es nach Jahren des Aussitzens dazu kommt, dass heute Zehntausende
von Informationstechnologiefachleuten fehlen.
({9})
Unsere Anstrengungen, die Fusion von GMD und FhG
voranzutreiben, sind aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen sehr sinnvoll. Wir sind hoffnungsvoll, dass diese Fusion zum Vorteil der Grundlagenforschung ist und ihrer
Stärkung dient.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Bundesregierung
wurde im Rahmen neuer Schwerpunktsetzungen in Wissenschaft und Forschung zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt, dass die außeruniversitäre Forschung,
speziell in den 16 Forschungszentren der Hermann von
Helmholtz-Gemeinschaft, neu geordnet werden muss.
Durch Programmsteuerung und Projektfinanzierung soll
erreicht werden, dass Grundlagen- und Anwendungsforschung enger zusammenrücken, um in kürzester Zeit technologische Spitzenleistungen zu erzielen.
Dieser Umstrukturierungsprozess wurde mit einer Zusammenführung der FhG und der GMD eingeleitet.
Die Regierung feiert diese Fusion als Erfolg bei der
Schaffung der größten IuK-Organisation in Europa. Nur
frage ich: Ist das wirklich das Entscheidende?
Bei einer forcierten Verschmelzung beider Forschungseinrichtungen ist eine Schwächung der Grundlagenforschung zu befürchten. Ich möchte dafür noch einmal einige Argumente anführen: Die GMD kann die
anwendungsorientierten Erfolgskriterien der FhG - immerhin gibt es dort eine institutionelle Finanzierung in
Höhe von 60 Prozent und eine Finanzierung in Höhe von
40 Prozent aus Wirtschaftserlösen - nicht erfüllen. Durch
eine Unterordnung der GMD unter die FhG-Kriterien
würden speziell die Grundlagenforschung und die visionäre Forschung weitgehend eingeschränkt. Die GMD
als Deutschlands weltweit bekannteste Forschungsinstitution für die klassischen Ingenieurwissenschaften würde
von der Bildfläche verschwinden, ohne dass die FhG ihr
Profil sichtbar ändert.
Die erhofften Synergieeffekte bleiben aus. Sie beschränken sich aufgrund unterschiedlicher Aufgaben beider Einrichtungen auf den Abbau des Verwaltungsapparates der GMD. Teile der hoch qualifizierten Erwerbstätigen
würden im Zuge der Auflösung der GMD in Erfolg versprechendere Einrichtungen und Firmen abwandern und
eben nicht von der gemeinsamen Einrichtungen übernommen werden oder zeitweise eingeschränkte Entgelte
erhalten. Wie sich ihre Arbeitsbedingungen entwickeln,
steht also in den Sternen. Das können Sie alle in den Briefen, die auch Sie erhalten haben, nachlesen.
Obwohl zunächst beide Gesellschaften einem solchen
Fusionsprozess aufgeschlossen gegenüberstanden - darüber ist hier heute schon viel gesprochen worden -, kristallisierte sich Anfang April dieses Jahres heraus, dass
diese Fusion eine sehr einseitige Angelegenheit ist. Zum
jetzigen Zeitpunkt wird die Fusion als gescheitert betrachtet.
Deshalb fordert die PDS die Bundesregierung auf, die
Fusion auszusetzen und damit den Forderungen der Geschäftsführung, der Institutsleitung und des Wissenschaftlich-Technischen Rates der GMD nachzukommen,
die auch von der Belegschaft unterstützt werden.
({0})
Nach sieben Monaten gescheiterter Verhandlungen
muss eine neue Phase des Nachdenkens, des Gespräches
und der Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft eintreten, um gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
dort eine neue Grundlage für eine Fusion zu schaffen,
über die später zu entscheiden sein wird. Eine solche Gesprächs- und Kooperationsphase betrachten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GMD als notwendige
Voraussetzung, um eine neues Klima des Vertrauens in
den Fusionsprozess und eine fachlich begründete Vision
für die Fusion zu erreichen.
Sollte diesen Vorstellungen nicht entsprochen werden,
sieht es so aus, als ob an der GMD ein Exempel statuiert
werden soll, um die IuK-Grundlagenforschung zurückzudrängen und ähnliche Strukturmaßnahmen an anderen
Gesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft einzuleiten.
Eine Einschränkung der Grundlagenforschung zieht
jedoch nicht automatisch den Ausbau der Kapazitäten der
Grundlagenforschung in Industriekonzernen nach sich,
denn - das wissen wir alle - die private Wirtschaft hat andere Ziele. Wenn der Grundlagenforschung der Helmholtz-Gemeinschaft das Rückgrat gebrochen werden
sollte, werden nicht nur den öffentlichen anwendungsorientierten Forschungsgesellschaften die Ergebnisse dieser interdisziplinären Grundlagenforschungen in 10 bis
20 Jahren fehlen, sondern auch der Industrie.
Durch geschickte Rhetorik in den vergangenen Jahren
ist es anscheinend gelungen, die Forderungen nach dem
gesellschaftlichen Nutzen und der Gemeinwohlorientierung der Forschung vollkommen aus der Diskussion zu
verdrängen. Jahrelang wurde die Forschung schlechtgeredet. Mit dem Hinweis auf die deutsche Technologiefeindlichkeit und ihre fatalen Auswirkungen ist der gesellschaftliche Nutzen der Forschung inzwischen erfolgreich
auf die Sicherung des Standortes Deutschland eingeschränkt worden.
Die PDS hält deshalb den von der Bundesregierung
eingeschlagenen Weg für eine Neuordnung und Umstrukturierung der Gesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft für eine Sackgasse. Wir empfehlen der Bundesregierung dringend, gemeinsam mit den Forschungseinrichtungen, Parteien, Organisationen und
Industrievertretern einen Neuansatz der Ordnung der
Forschung und ihrer Einrichtungen zu diskutieren, um
den unterschiedlichen Interessen am Ende auch wirklich gerecht zu werden.
Danke.
({1})
Jetzt hat Herr
Kollege Tauss das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie
schwer es Parteien, die in Sonntagsreden immer wieder
beschwören, dass sie doch dynamisch und flexibel seien
und dass man in neuen Strukturen denken müsse, offensichtlich fällt, einmal an einem konkreten Punkt in neuen
Strukturen zu denken. Es ist erstaunlich.
({0})
Dieselben, die in der Wirtschaft jede Fusion bejubeln,
tun hier so, als stünde der Untergang der Welt bevor.
({1})
Ich erinnere mich noch: Als vor Jahren die Fusion von
BMW und Rover stattfand, hat die CSU wochenlang gejubelt, Bayern hat praktisch England übernommen - Fusion war das Gute schlechthin.
({2})
Heute hören wir nur Bedenkenträger; nur irgendwelche
Schauerargumente werden vorgebracht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmen
die Bedenken der Beschäftigten ernst - deshalb ein klares
Signal in Richtung Arbeitsplatzsicherheit -, aber wir
missbrauchen die Ängste der Beschäftigten nicht,
({3})
um sie im Wahlkampf in dieser Form, wie Sie es tun, zu
schüren.
({4})
Das ist unverantwortlich, auch gegenüber der Forschungslandschaft in diesem Land, Herr Hauser.
Es ist schwierig, wie Sie mit diesem Thema umgehen.
Das gilt auch für die Form, wie Herr Kollege Mayer an anderer Stelle mit diesem Thema umgegangen ist. Bei Kollege Mayer wählte ich noch das Wort „Unverschämtheit“,
um auszudrücken, wie Sie aus Gründen des Wahlkampfs
in NRW diese Verunsicherung schüren.
Meine Damen und Herren, das Forschungszentrum Informationstechnik, die GMD hat es nicht verdient, dass
an dieser Stelle von einer Zerschlagung der Grundlagenforschung geredet wird. Das ist Teil Ihrer Kampagne, aber
es ist nicht Teil der Wahrheit. Es ist noch nicht einmal Teil
der halben Wahrheit; es ist die blanke Unwahrheit, und
das muss an dieser Stelle gesagt werden.
({5})
Kollege Hilsberg hat berechtigterweise darauf hingewiesen, dass es einstimmige Beschlüsse der Aufsichtsräte
inklusive der Wirtschaft gibt, dass es klare Diskussionen
gibt.
({6})
- Ich bin Gewerkschafter. Ich nehme die Bedenken der
Belegschaft außerordentlich ernst.
({7})
Ich habe den Betriebsräten angeboten zu kommen, ja sogar außerhalb von Sitzungswochen mit ihnen Mittag zu
essen und Gespräche zu führen. Sie als Vorkämpfer der
Arbeiterbewegung - das ist ja nun wirklich die klassische
Fehlbesetzung, die es in diesem Land überhaupt nur geben kann.
({8})
Nein, es stimmt nicht, Herr Hauser, wie Sie hier vortragen, dass die FhG der Gewinner der Fusion sein soll.
Das hätte natürlich jeder Beteiligte gern, dass er gewinnt.
Das ist überhaupt keine Frage. Es geht hier nicht um
Gewinner und Verlierer.
({9})
Wir wollen eine Fusion der Gewinner, wobei keine Mark
aus dem Bundeshaushalt weniger gezahlt wird. Das muss
man einmal klar sagen. Wir wollen eine Fusion der Gewinner, bei der wir den Beschäftigten eine Arbeitsplatzgarantie geben. Gab es in den letzten Jahren eine Fusion
in diesem Lande, wo es so etwas gegeben hat? Ihre Politik war eine Kürzung der Forschungsmittel. Aus unserem
Aufwuchs der Forschungsmittel werden beide profitieren.
({10})
Jetzt ist es so, dass die FhG und die GMD in Ruhe miteinander reden. Ich denke, wenn der Sonntag vorbei ist,
wird es noch einfacher sein, denn dann reden die Wissenschaftler miteinander. Es redet dann kein Außenstehender
mehr hinein, keiner sagt ihnen dann, was gut oder schlecht
wäre. Die wissen, was ihr Problem ist. Es wird dann über
Grundlagenforschung diskutiert, es wird über Anwendung diskutiert, es wird über Vorlauf diskutiert. Es gibt bei
der Fraunhofer-Gesellschaft Leute, die sich auf diese Fusion freuen, weil sie sagen: Durch diese Fusion haben wir
die Chance, auch bei uns mehr Grundlagenforschung zu
betreiben, mehr Zeit zu haben und nicht immer nach einer
Mitteleinwerbung - 38 Prozent oder wie auch immer schielen zu müssen. Wir wollen gemeinsam etwas erreichen. Wir wollen im Bereich der Grundlagenforschung
die Wissenschaftslandschaft in der IuK-Technologie gemeinsam stärken.
Jetzt kommt es darauf an, die Beteiligten in Ruhe arbeiten zu lassen. Jetzt kommt es darauf an, dass sie in
Ruhe ihr Konzept ausarbeiten können. Jetzt kommt es darauf an, dass die gemeinsamen Interessen gebündelt werden können. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Ihre
Wahlkampfshow in irgendeiner Form Erfolg hat. Sie wird
keinen Erfolg haben. So leicht können Sie die Leute nicht
hinter das Licht führen.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon einmal gesagt, die Rationalisierungsfusion, die Sie beschwören, ist es nicht. Wir wollen selbstverständlich Synergieeffekte erzielen. Wenn man Strukturen zusammenlegt, gehört es dazu, dass man sich überlegt, in welchen
Bereichen Stärken gebündelt werden müssen und in welchen Bereichen über Synergie geredet wird. Das ist selbstverständlich. Wir haben großartige Chancen, die Kompetenzen zu bündeln. Das haben wir in der Aktuellen
Stunde, in der wir über den Virus gesprochen haben, gesehen. Hier hat sich Kollege Mayer lautstark darüber beklagt, dass wir in Deutschland den Viren aus dem Ausland
schutzlos ausgeliefert seien, weil jetzt die Fraunhofer-Gesellschaft mit der GMD fusioniert. Ich will noch einmal
feststellen: Bei der Fraunhofer-Gesellschaft wie auch bei
der GMD gibt es eine hervorragende IT-Sicherheitsforschung. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat in Darmstadt das
Kompetenzzentrum IT-Sicherheit. Werden diese Kompetenzen gebündelt zusammengeführt, Frau Kollegin
Pieper, wird dies dazu führen, dass wir die Stärken, die
wir in diesem Bereich haben, ein Stück weit ausweiten
können. Sie werden nicht in irgendeiner Form gefährdet.
({11})
Noch ein Satz zu Ihrem Antrag. Da es sich um reine
Wahlkampfrhetorik handelt, muss man nicht unbedingt
darauf eingehen. Es ist aber schon interessant, wie man
auf wenigen Seiten noch nicht einmal sagen kann, was
man eigentlich will. Auf Seite 1 steht:
Ungeklärt ist ..., ob die interdisziplinäre Grundlagenforschung, ..., weiter verfolgt wird.
Hier stellen Sie sich hin und tun so, als ob es längst geklärt wäre. Herr Mayer stellt sich hier hin und sagt, es
droht das Aus, und spricht von einer Zerschlagung. Auf
Seite 2 Ihres Antrages sieht es ganz anders aus. Weiter sagen Sie, dass die Fusion positive Wirkungen erzielen
könnte. „Voraussetzung dafür ist, dass beide Partner
gleichberechtigt ihre Forschungsziele... einbringen“. Was
wollen Sie nun eigentlich? So viele Widersprüche im eigenen Text. Das ist genau das, was wir wollen. Aus diesem Grunde bedarf es eigentlich nicht der ganzen Rhetorik. Diese positiven Wirkungen sollen erzielt werden.
Kollegin Pieper, es wird nichts, aber auch gar nichts
behindert. Es wird weiterhin Spin-offs geben. Wir kommen zu kleinen Einheiten. In diesem Bereich wird die Anwendungsbezogenheit eine noch stärkere Rolle spielen.
Unternehmensgründer haben durch eine anwendungsbezogene Grundlagenforschung bei der FhG die Chance,
sich selbstständig zu machen und kleine Betriebe aufzubauen. Hier wird nichts in irgendeiner Form gefährdet. Im
Gegenteil. Wir betreiben eine moderne Forschungspolitik. Ich muss nochmals sagen: Es ist wirklich kleinkariert,
wie Sie hier mäkeln.
Es ist interessant, wie Sie über das Internet reden und
diese Dinge im Jahr 2000 regeln wollen. Jetzt hat sich die
CDU einen Internet-Beauftragten gegeben. Ich wünsche dem Kollegen viel Erfolg. Inhaltlich halte ich davon
nichts. Man muss sich das einmal vorstellen: Im Jahr 2000
habt ihr einen Internet-Beauftragten. Herzlich willkommen im Klub, kann ich nur sagen. Wir sind gespannt darauf, was wir inhaltlich zu erwarten haben. Ich hoffe, dass
der Internet-Beauftragte etwas mehr vom Thema Internet
versteht als das, was wir in der Vergangenheit von Ihnen
zur Kenntnis nehmen konnten.
Nein, Sie haben nicht über das Thema geredet. Sie reden nur darüber, wie Sie in irgendeiner Form etwas madig
machen können, aber vom Internet, von IuK-Technologien, von moderner Forschungspolitik haben Sie, so Leid
es mir tut, keine Ahnung.
Deshalb sind Sie auch aus diesem Grund im vorletzten
Jahr zu Recht abgewählt worden.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
gleich am Anfang meiner Rede etwas klarstellen, was angesichts der Desinformation der Koalition unklar geblieben ist: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht natürlich entschieden zur notwendigen Neuorientierung in der
deutschen Forschungslandschaft,
({0})
die ja durch die Initiativen des ehemaligen Zukunftsministers und des zukünftigen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, begründet worden ist.
({1})
Deswegen wird heute auch nicht so sehr über das Ziel gestritten.
Es ist richtig, dass angesichts eines sich verändernden
Umfelds eine strategische Neuordnung der GMD und
der FhG notwendig sein kann. Es ist richtig, eine
Mobilisierung von Synergien in beiden Einrichtungen zu
fordern. Es bleibt auch richtig, dass die Fortentwicklung
eines erfolgreichen marktnahen Forschungsmodells, nämlich des FhG-Modells, am Beginn des 21. Jahrhunderts
geboten zu sein scheint. Es ist richtig, die grundlagen- bzw.
vorlauforientierten Teile der GMD gleichwohl unter dem
Dach einer fusionierten Gesellschaft fortzuentwickeln.
({2})
Herr Kollege
Tauss, es ist nicht Ihre Aufgabe, zu entscheiden, wann sich
der Kollege setzen darf. Ich ermahne Sie freundlich.
Das sind die pubertären Ausflüchte des Herrn Tauss, an die wir uns hier
schon langsam gewöhnt haben, Frau Präsidentin.
Wir haben uns gewünscht, dieses Vorhaben im Konsens und unter parlamentarischer Begleitung zu einem Erfolg zu führen. Fusionsprozesse sind schließlich keine
Spaziergänge. Die Frau Bundesministerin Bulmahn hat
allerdings diese Entscheidung ohne parlamentarische
Rückkopplung getroffen. Sie ist mit ihr ohne Rücksprache
mit den verantwortlichen Parlamentariern an die Öffentlichkeit getreten. Sie sieht angesichts des heutigen Scherbenhaufens, wohin das geführt hat.
({0})
Unsere Fraktion ist erstaunt, mit welchem Mangel an
politischer Führung, mit welcher grenzenlosen Instinktlosigkeit, zumindest aber mit welcher riesengroßen Blauäugigkeit die Ministerin und Ihr Ministerium diesen Vorgang betreuen. An den Ergebnissen müssen wir sie messen. Das angekündigte Vorhaben, die Fusion zum Beginn
des nächsten Jahres durchzusetzen, ist gescheitert. Insoweit ist auch die Ministerin gescheitert. Eine partnerschaftliche Beteiligung der GMD entfällt, da eine Beteiligung der GMD an der zukünftigen fusionierten Struktur
derzeit nicht mehr vorgesehen ist.
Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Institutionen zweifeln inzwischen öffentlich an der Richtigkeit
des Vorgehens. Daran können auch Aufsichtsratbeschlüsse
nichts ändern. Die anhaltende Diskussion fördert nicht das
Ansehen der beteiligten Forschungseinrichtungen. So
muss befürchtet werden, dass Experten aufgrund der immer unsicherer werdenden Perspektiven die beiden Forschungseinrichtungen bald verlassen werden.
Die Union führt eine Aufklärungsinitiative unter dem
Motto „Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung“
durch.
({1})
Sie machen deutlich, warum diese Aufklärung notwendig
ist. Sie fördern durch Ihr Verhalten die Abwanderung von
Experten. Dies geht nicht mit uns.
({2})
Wenn das Vorhaben so wichtig ist, wie Herr
Catenhusen in seiner verlesenen Rede vorgetragen hat,
dann frage ich, warum es so schlampig vorbereitet worden ist. Warum haben Sie denn mit den Beteiligten, mit
den Vertretern der Forschungseinrichtungen, mit den regionalen Repräsentanten und mit den Menschen, die die
Fusion wirklich betrifft, den Vorgang nicht besprochen,
bevor Sie damit an die Öffentlichkeit getreten sind? Dieser Prozess ist zwar gewollt, aber nicht gekonnt.
Es fehlt bis heute eine strategische Bewertung der bestehenden fachlichen, finanziellen und organisatorischen
Voraussetzungen einer Fusion beider Einrichtungen. Es
fehlt eine tragfähige Chancen- und Risikoanalyse des Vorhabens durch Ihr Ministerium. Es fehlt eine Darstellung
gemeinsamer fachlicher Ziele, wahrscheinlicher Synergien, konkreter Kooperationsfelder sowie anderer strategischer Vorteile. Es fehlt eine vorläufige Abschätzung der
kurz- und mittelfristigen finanziellen Auswirkungen. Dies
wird von beiden Einrichtungen gefordert. Angesichts des
kontinuierlich begangenen Bruchs Ihres Wahlversprechens, die Investitionen in Forschung und Bildung zu verdoppeln, scheint mir diese Befürchtung sehr gerechtfertigt zu sein.
({3})
Der gesamte Prozess, so wie Sie ihn bisher gemanagt
haben, scheint mir nach dem Prinzip vonstatten zu gehen:
Sie zogen los, wussten aber nicht, wohin. Der Bundesforschungsministerin ist es gelungen, aus einer an sich richtigen Idee, nämlich dem synergieorientierten Zusammenschluss zweier bedeutender Forschungseinrichtungen, einen Vorgang zu machen, der inzwischen paradoxerweise
von beiden Einrichtungen als feindliche Übernahme
durch den jeweils anderen interpretiert wird. Das zeigt
mir, wie schlecht diese Sache vorbereitet worden ist. Dieser Vorgang wäre vermeidbar gewesen.
Herr Catenhusen, es wäre angesichts des dramatischen
Vertrauensverlustes, den das Handeln Ihres Hauses sowohl bei der Fraunhofer-Gesellschaft als auch bei der
GMD herbeigeführt hat, geboten gewesen, dass Sie aufgrund Ihres schlampigen Vorgehens zumindest in den
Grundzügen in diesem Hause ein Maß an Selbstkritik
üben, das erkennbar macht, dass Sie wissen, wie schlecht
Sie in den letzten Monaten gehandelt haben. Uns ist heute
noch einmal deutlich geworden: Es ging Ihnen nicht um
die Sache; vielmehr stand die Presseerklärung am Anfang.
Das Konzept sollte nachfolgen. Es liegt bis heute nicht
vor.
({4})
Bedauerlicherweise wird das Scheitern Ihres Handelns
auf dem Rücken zweier Forschungseinrichtungen ausgetragen. Die Fusion, die jetzt um ein Jahr verschoben werden soll, hängt völlig in der Luft. Diese Verschiebung
wird deutlich machen, dass dieser unbefriedigende Zustand noch um ein weiteres Jahr verlängert wird. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hofft, dass mit dem Moderator, den Sie jetzt einsetzen, rasch eine Lösung gefunden wird.
Sagen Sie einmal: Warum fällt Ihnen eigentlich erst ein
Dreivierteljahr nach dem Beschluss darüber ein, dass Sie
einen Moderator brauchen, um die Kommunikationsprozesse zu steuern?
({5})
Wenn das alles so super und so wichtig ist, dann wundere
ich mich, dass Sie eine wesentliche Veränderung des Fusionsprozesses par ordre du mufti im April, Monate nachdem Sie die Fusion begonnen haben, vornehmen. Wir hoffen, dass wenigstens das anständig vorbereitet wird. Wir
wünschen dem Moderator viel Erfolg, diesen Fusionsprozess zu einem guten Abschluss zu bringen.
({6})
Falls das allerdings bis Mitte September nicht erfolgen
wird, müssen wir uns noch einmal darüber unterhalten, ob
die Fusion unter den hier beschriebenen Konditionen
tatsächlich weiterhin sinnvoll ist. Herr Catenhusen, wenn
Sie es im September nicht schaffen, so etwas wie einen
Konsens herbeizuführen, der von vielen Seiten - von beiden beteiligten Einrichtungen, den Mitarbeitern, den Leitungsebenen, den Aufsichtsgremien - akzeptiert wird,
dann halte ich es für geboten, zu überlegen, ob Sie an diesem Vorhaben tatsächlich festhalten wollen. Wir erwarten, dass Sie jetzt handeln, dass Sie endlich anständig arbeiten, dass Sie politische Führung zeigen und dass Sie
uns Konzeptionen erläutern. Wenn das geschieht, dann
werden wir es an Unterstützung nicht mangeln lassen.
({7})
Ich fasse zusammen: Die Union steht zur Neuordnung
der deutschen Forschungslandschaft. Sie ist notwendig,
um sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.
Wir unterstützen daher die Fusion auf Grundlage des Eckwertepapiers. Wir haben unsere Sorgen über Mängel des
Fusionsprozesses in unserem Antrag dargelegt. Wenn ich
mir zum Beispiel die Rede des Kollegen Fell anhöre, dann
komme ich zu dem Ergebnis, dass die SPD die einzige
Fraktion in diesem Hause zu sein scheint, die noch voll
und ganz hinter diesem Fusionsprozess steht; deswegen
werden wir ihn weiterhin konstruktiv-kritisch begleiten.
Jetzt sind Sie am Zug. Tun Sie endlich Ihre Arbeit!
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, Klaus
Barthel ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Matthias Berninger, Kerstin Müller ({2}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik
- Drucksachen 14/2390, 14/2814 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Dr. Martin Mayer ({3})
Cornelia Pieper
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Kollegin Ursula Burchardt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Debatten über die ökonomischen Perspektiven in unserer Republik verfolgt, dann stellt man fest, dass ein Begriff daraus
überhaupt nicht mehr wegzudenken ist: Die Informationsund Wissensgesellschaft hat als ökonomisches Leitbild
der Industriegesellschaft längst den Rang abgelaufen.
Ins breite öffentliche Bewusstsein ist dies allerdings das ist mein Eindruck - erst in der jüngsten Zeit getreten.
Ich habe auch den Eindruck, dass die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers für viele so etwas wie ein Weckruf gewesen ist, um festzustellen, dass sich einige Dinge
wirklich dramatisch verändert haben.
({0})
Ich kann mich erinnern, dass ich vor ungefähr zweieinhalb Jahren in der Enquete-Kommission „Schutz des
Menschen und der Umwelt“ - wir haben uns dort zur VerSteffen Kampeter
blüffung mancher mit genau diesen Fragen sehr intensiv
beschäftigt - davon gesprochen habe, dass die Republik
auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft ist. Daraufhin hat mich der Sprecher der Unionsfraktion völlig verständnislos angeschaut und meinte, das,
was die Kollegin von den Sozialdemokraten erzählt, seien
Fantastereien.
Ich habe den Eindruck, dass der aktuelle Stand bei einigen
immer noch nicht bekannt ist, auch wenn ich im Hinblick
auf das, was es an Veränderungsnotwendigkeiten gibt,
die gerade abgeschlossene Debatte der letzten Dreiviertelstunde im Auge habe.
Faktisch ist es doch so, dass in den letzten anderthalb
Jahrzehnten durch die Entwicklung des World Wide Web,
die Entwicklung im Mobilfunk, im Bereich der Chipproduktion eine technische Revolution ihren Lauf genommen hat, die in dem, was sie an ungeheurer Dynamik entwickelt hat, tatsächlich in dieser Breite nicht vorherzusehen gewesen ist. Die Informations-KommunikationsBranche hat die Automobilindustrie, was die Umsätze betrifft, bereits jetzt eingeholt. Sie ist von den Beschäftigtenzahlen her der drittstärkste Sektor in der Bundesrepublik, und uns als Sozialdemokraten, als Koalitionsfraktion
geht es darum, diese enormen Potenziale für die wirtschaftliche Entwicklung und damit für neue Beschäftigungspotenziale ganz offensiv zu nutzen. Sonst beschweren sich meine Kollegen, dass ich keine
Pause mache. Jetzt habe ich sie gemacht und jetzt klatschen sie nicht.
({1})
- Ja, Sie haben es ja schon im Redemanuskript drinstehen.
Mit dem Siegeszug der Informationstechnik sind aber
zugleich - das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen - Veränderungen verbunden, die weit über den rein
ökonomischen Bereich hinausgehen und in ihren sozialen
und kulturellen Auswirkungen tatsächlich die Dimensionen haben, die damals auch den Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft gekennzeichnet haben. Die
Menschen erleben das täglich ganz praktisch an ihrem Arbeitsplatz. Kaum ein Arbeitsbereich ist von neuen Technologien nicht betroffen. Das geht weit bis in den privaten Lebensbereich und in die Gestaltung sozialer Beziehungen hinein.
Weil die neuen Technologien unser aller Leben dramatisch verändern, gilt es, das technisch-ökonomische Leitbild der Informationsgesellschaft mit einem qualitativen
Leitbild, mit einer gesellschaftlichen Gestaltungsperspektive zu verknüpfen. Das ist die Perspektive der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung.
({2})
Daher begrüßen wir es außerordentlich, dass die Bundesregierung die Verknüpfung dieser beiden Leitbilder
mit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ verfolgt. Ausdrücklich gehört - Sie können es dort
nachlesen - die Erschließung von innovativen Anwendungsmöglichkeiten für eine ökologische Modernisierung und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu
den strategischen Handlungsfeldern des Aktionsprogramms. Das ist echter Fortschritt. Da zeigt sich Weitsicht
und da zeigt sich Gestaltungswille und Gestaltungskraft.
({3})
Denn, meine Damen und Herren, wir verstehen Technik nicht als Selbstzweck, sondern als Chance für mehr
Lebensqualität. Uns geht es darum, den größtmöglichen
Nutzen für die Menschen und nicht für Börsen und für Bilanzen aus neuen Techniken zu ziehen. Das bedeutet,
technischen Fortschritt zu gestalten. Denn Technik an sich
ist für menschliche Bedürfnisse blind. Sie ist in ihren positiven oder negativen Auswirkungen ambivalent. Jeder,
der sich mit Technik auskennt, wird Ihnen das bestätigen
können.
({4})
- Nicht übertreiben!
Diese Ambivalenz wird insbesondere deutlich, wenn
man sich die Umweltwirkungen vor Augen hält. Ohne
Zweifel sind Informationstechnologien auf der einen
Seite ein ganz entscheidender Schlüssel für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch. Mit ihrer Hilfe lassen sich Produktionsprozesse in
nahezu allen denkbaren Bereichen effizienter gestalten
und damit Ressourcen und Energie einsparen. Mess-,
Steuer- und Regeltechnik trägt dazu bei, Emissionen zu
vermeiden, beispielsweise im Gebäudebereich oder in der
Verkehrslogistik. Nicht zuletzt spielt Informationstechnik
in der Umweltforschung, von Umweltinformationssystemen bis hin zur Klimaforschung, eine ganz entscheidende
Rolle, wenn es um Vorsorgestrategien geht.
Auf der anderen Seite - das muss man ganz nüchtern
sehen - werden durch neue Technologien auch neue Probleme induziert oder vorhandene verschärft. Neue Technologien tragen beispielsweise ganz erheblich zur Entgrenzung und Beschleunigung von Stoffumsätzen, Güterproduktion und Warenverkehr bei mit der Folge, dass
trotz der hohen Effizienzgewinne in der Produktion unter
dem Strich Stoffumsätze steigen und der Ressourcenverbrauch zunimmt. Dies wird insbesondere noch ein ganz
großes Problem beim Bereich E-Commerce werden. Hier
haben wir es mit zunehmendem Warenverkehr, mit Logistikproblemen und zunehmendem Ressourcenverbrauch
zu tun. Ich glaube, dass diese Faktoren noch zu entscheidenden Engpässen bei der technischen und ökonomischen
Entwicklung führen können. Auch die Hardware selbst ist
ein Problem.
Der Rohstoffverbrauch eines einfachen PCs alleine,
so hat das Wuppertal-Institut errechnet, entspricht einem
Äquivalent von fast 20 Tonnen Rohstoffen während seines gesamten Lebenszyklus, also von der Herstellung
über die Nutzung bis zu dem Zeitpunkt, wo er zu Abfall
geworden ist. Dazu kommt das Energieproblem. Der einmal eingeschaltete PC verbraucht, wenn er im Stand-byBetrieb vor sich hin schlummert, unglaublich viel Energie. Der Energieverbrauch durch Stand-by-Betrieb in
einem Jahr in der Bundesrepublik entspricht dem Energieverbrauch einer mittleren Großstadt. Dazu kommt der
Abfallberg, der schon heute sichtbar wird. Jährlich
fallen in Deutschland 2 Millionen Tonnen Elektronikschrott an. Der größte Teil davon entfällt auf ausgediente
PCs. Die Tendenz ist steigend. Ich will jetzt gar nicht
mehr auf die Fülle von problematischen Materialien und
Schadstoffen eingehen.
Wenn man die technischen Potenziale optimal nutzen
will, dann nutzt es überhaupt nichts, vor diesen Negativwirkungen die Augen zu verschließen wie das Kaninchen,
das auf die Schlange starrt. Technische Potenziale zu nutzen und Fortschritt zu gestalten heißt, dass man sich damit offensiv auseinander setzt. Sonst wird man früher
oder später von Problemen überrollt. Das brächte große
volkswirtschaftliche Folgekosten sowohl für den Staat
wie auch für die einzelnen Unternehmen mit sich. Deswegen geht es uns darum, Informationstechnik nachhaltig
zu gestalten. Das ist nicht nur eine Frage der Daseinsvorsorge, sondern schlicht und ergreifend der wirtschaftlichen Vernunft.
({5})
Das ist der Kern unseres Antrages „Strategie für eine
Nachhaltige Informationstechnik“. Wir greifen damit eine
ganz wesentliche Empfehlung der Enquete-Kommission
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ auf. Natürlich
kenne ich den Einwand - wir haben das ja auch schon mit
Ihnen herauf und herunter diskutiert -, dass es keine Möglichkeit gebe in dieser Branche, irgendwie gestaltend tätig
zu werden. Das ist falsch. Diese Auffassung haben wir in
der Enquete-Kommission übrigens einvernehmlich und
fraktionsübergreifend widerlegt. Wir haben uns damals
den Bereich der IuK-Branche als ein Beispielfeld ausgesucht, um einmal durchzudeklinieren, wie eine Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesrepublik entwickelt werden kann.
Wir haben gerade festgestellt, dass in dieser Branche,
die einer unglaublichen Innovationsdynamik unterliegt
und von einer hohen internationalen Verflochtenheit gekennzeichnet ist, natürlich Gestaltungspotenziale vorhanden sind. Hierfür sind nur ganz bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen und es müssen bestimmte Dinge anders gemacht werden. Mit den klassischen Instrumenten
des Ordnungsrechts kommt man dabei nicht weiter, sondern es sind ein paar moderne Steuerungsinstrumente
nötig. Insofern werden auch in der Politik Innovationen
angesagt.
Man braucht ein neues Verfahren des Politikmanagements. Das geht am besten, indem man sich mit den Akteuren, mit der Branche, den Verbänden und der Wissenschaft, zusammensetzt, also alle an einen Tisch holt und
darüber redet, wo die Hauptproblembereiche liegen, wo
es Handlungsbedarf gibt, welche Ziele die Unternehmen
selber formulieren und in einer überschaubaren Zeit erreichen können, welche Anstöße dazu notwendig sind und
welche Rahmenbedingungen Politik gestalten muss.
Außerdem müssen ganz konkrete Aktionsfelder benannt
werden. Beispielhaft dafür stehen folgende Fragen: Wie
kann die Recyclingfähigkeit von Geräten und einzelnen
Komponenten gesteigert werden? Wie können Schadstoffe bei den verwendeten Materialien vermieden werden? Wie kann der Energieverbrauch über den gesamten
Lebenszyklus reduziert werden?
Wenn man Lösungen hierfür sucht, wird es automatisch dazu kommen, dass neue Dienstleistungskonzepte
entwickelt werden, die mehr Service für den Kunden und
Nutzer mit sich bringen, aber gleichzeitig auch neue
Beschäftigungspotenziale eröffnen. Mit dem Instrument
konditionierter Selbstverpflichtungen und freiwilligen
Vereinbarungen kann man im Konsens und in Kooperation mit der Branche zu einer nachhaltigen Entwicklung
auch in diesem Sektor kommen.
({6})
Der Fachausdruck für solch eine strategische Planung
heißt Roadmapping. Ich weiß, dass die Freunde vom
Verein zur Bekämpfung der Anglizismen in der deutschen
Sprache immer ganz laut aufschreien und fragen, ob man
das nicht übersetzen kann. Im Prinzip kann man das natürlich. Wir befassen uns aber mit einer Branche, die ganz
zentral von englischer Begrifflichkeit lebt. Jeder Kollege
und jede Kollegin hier wird Begriffe wie Downloaden,
E-Commerce oder Ähnliches kennen. Wer diese Begriffe
schon in die Umgangssprache aufgenommen hat, der wird
auch mit dem Begriff Roadmapping noch leben können.
Gelegentlich muss man eben auch als Abgeordneter seinen Wortschatz ein bisschen „updaten“. So ist das nun
einmal, wenn man sich mit etwas Neuem beschäftigt.
({7})
Im Prinzip ist das Roadmapping-Verfahren nicht so
neu; denn es wurde in den USA bereits erfolgreich erprobt. Ich kann Ihnen sagen: Die Branche wartet seit mehreren Jahren darauf, dass die Bundesregierung an dieser
Stelle endlich die Initiative ergreift, weil sie weiß, dass in
diesem Bereich ihre ökonomischen Chancen liegen.
Lassen Sie mich abschließend noch ganz kurz eine
Rückbetrachtung zu den Ausschussberatungen anstellen.
Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang schon einmal
einen kleinen Vorgeschmack darauf geben, was die Kollegen von der Opposition gleich erzählen. Das wird nicht
so originell werden und dem ähneln, was wir eben schon
gehört haben. Von den Kollegen der CDU/CSU werden
wir hören, was sie immer sagen, wenn es um Ökologie
und Gestaltungsnotwendigkeit geht. Da werden wir die
Begriffe Dirigismus und Planungsbürokratie hören. Wir
werden außerdem den Vorwurf hören, dass die
Sozialdemokraten immer den Staat eingreifen lassen wollen.
({8})
- Das sind keine Vorurteile, das sind Erfahrungen, Herr
Kollege. Wir können ja einmal spekulieren, was wir
gleich hören werden. Ich meine das gar nicht persönlich,
wenn ich sage, dass es in der CDU weder im Westen noch
im Osten oder im Süden etwas Neues gibt. Ich habe den
Eindruck, dass es bei Ihnen wirklich schon eine Art pawlowscher Reflex ist, wenn Sozialdemokraten etwas zur
Ökologie und Gestaltungsfähigkeit sagen.
Der Umgang mit Technik muss rational sein. Entscheidungen dürfen nicht aus dem Bauch heraus getroffen werden und dürfen nicht auf tief sitzenden Vorurteilen beruhen.
({9})
Denn sonst werden die Chancen für den technischen Fortschritt tatsächlich verspielt. Ich kann Ihnen sagen: Es
reicht nicht, immer nur Nein zu sagen. Wenn man sich immer dem Fortschritt verweigert, hat man die Zukunft
schnell verspielt. Die Herren Rühe und Rüttgers sind
dafür ein lebendes Negativbeispiel.
({10})
Eine allerletzte Anmerkung zu der Ausschussberatung,
was die F.D.P. in den mitberatenden Ausschüssen angeht.
Es war etwas verwirrend, um nicht zu sagen, es war keine
klare Linie erkennbar. Im Forschungsausschuss haben wir
die Vorwürfe bezüglich Dirigismus, Planungsbürokratie
sowie Marktfeindlichkeit und die Forderung gehört, wir
mögen „in enger Kooperation mit der Industrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien entwickeln“. Dazu kann ich nur sagen: Das ist genau so in
unserem Antrag enthalten. Man muss uns nicht dazu auffordern.
Das Interessante ist aber, dass die F.D.P. bei der Beratung im Umweltausschuss festgestellt hat, man könne
überhaupt nichts von Dirigismus oder Markteingriffen erkennen.
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit. Wir können die Kollegen im
Übrigen original hören.
Ja. - Dazu kann ich nur
sagen: Mit etwas Mühe geht es also doch. Deswegen kann
ich an Sie - auch in Ihrem eigenen Interesse - nur appellieren: Legen Sie die Scheuklappen ab, geben Sie sich
einen Ruck, hören Sie darauf, was die Branche und die
Bevölkerung will, und stimmen Sie unserem Antrag zu!
({0})
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Dr. Martin Mayer.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frau Kollegin Burchardt hat Pappkameraden und Gespenster aufgebaut, um dann fest darauf einschlagen zu können. Ich will
Ihnen nur sagen: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist keine
Erfindung der Informationsgesellschaft. Land- und Forstwirte haben schon vor Jahrhunderten so das Grundprinzip
des Wirtschaftens benannt.
({0})
Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens ist auch heute ein
wichtiges politisches Ziel. Nachhaltigkeit heißt, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schonen und ihre Regenerationsfähigkeit zu erhalten. Als Konservative brauchen wir
da ohnehin keinen Nachhilfeunterricht. Bewährtes und
Kostbares für die Zukunft zu sichern, das gehört zu unseren Grundsätzen. Dass das Ziel der Nachhaltigkeit auch in
der Informationstechnik von Bedeutung ist und berücksichtigt werden muss, ist selbstverständlich und bedarf eigentlich gar nicht eines eigenen Antrages.
Auch die Zusammenarbeit von Wirtschaftsunternehmen und Regierung sollte selbstverständlich sein. Es ist
schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung hierzu
noch einer gesonderten Aufforderung durch einen Antrag
bedarf.
Schließlich möchte ich feststellen, dass ich nichts gegen die Methode des Roadmappings habe, die in verschiedenen Bereichen der Wirtschaftsplanung angewandt
wird. Die Beteiligten müssen selbst wissen, mit welcher
Methode sie vorgehen.
Wenn es also nur darum ginge, das Ziel der Nachhaltigkeit durch die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft
und Verwaltung unter Zuhilfenahme moderner Planungsmethoden zu fördern und zu unterstützen, könnte man
dem Antrag unter der Voraussetzung zustimmen, dass das
zu erwartende Ergebnis den Aufwand und die Anstrengungen lohnt.
Der Antrag von Rot-Grün zielt aber auf etwas anderes
ab. Er fordert als Ziel die Festlegung einer Selbstverpflichtung der Branche oder ein Branchenprotokoll. Die
Nichteinhaltung dieser neuen Normen soll mit Sanktionen bestraft werden. Im Antrag steht übrigens, Frau
Burchardt, kein einziger Satz darüber, dass etwa bestehende Normen oder das klassische Ordnungsrecht dadurch ersetzt werden sollen, sondern es ist ganz klar ersichtlich, dass es hier zusätzliche Festlegungen geben
soll. Das ist der Punkt, warum wir meinen, das sei der
falsche Ansatz, und deshalb muss der Antrag abgelehnt
werden.
({1})
- Man muss den Antrag lesen. Sanktionsbewehrte Maßnahmen müssen im Vollzug nachprüfbar sein. In der
Praxis führt das, wie viele Beispiele beweisen, zu einem
riesigen bürokratischen Aufwand. Soll es eigentlich zusätzlich zu den zahlreichen, fast unübersehbaren Umweltvorschriften eigens für die IuK-Branche noch neue Normen und neue Festlegungen geben? Wer prüft die Einhaltung der Verpflichtungen? Wer verhängt Sanktionen?
Wer schlichtet im Streit? Wie ist das mit Exporten und
Importen in dieser ja sehr internationalen Branche? Das
lassen die Antragsteller bewusst offen, weil sonst deutlich
würde, welches Gestrüpp neuer Bürokratie entstünde.
Die Geräte der Informations- und Kommunikationstechnik, die Chips, die Leitungen, die Disketten, die Bänder, die Gehäuse, werden wie kaum andere Produkte - das
ist schon angesprochen worden - im weltweiten Verbund
hergestellt. Für hoch empfindliche Apparate und reinste
Chemikalien gibt es auf der Welt teilweise nur wenige
Hersteller, die sich nicht in Europa und auch nicht in
Deutschland befinden. Wie soll also eine nationale Initiative hier die Dinge vollständig verändern? Ich glaube
nicht, dass sich die Asiaten oder die Amerikaner durch zusätzliche deutsche Vorschriften etwa beeindrucken lassen.
Auch europäische Sondervorschriften sind hier nicht
durchsetzbar.
Nachhaltiges Wirtschaften heißt: möglichst wenig Energieverbrauch. Das steht ja auch in diesem Antrag. Wenn
aber der Energieverbrauch, wie im Antrag gefordert, im
Rahmen von Branchenprotokollen oder Selbstverpflichtungen festgeschrieben und zusätzlich sanktionsbewehrt
werden soll, wozu haben wir dann die Ökosteuer? Die rotgrünen Antragsteller glauben wohl selbst nicht an die ökologische Wirkung ihrer Steuer.
({2})
Sie entlarven damit ihre eigene Gesetzgebung als Abzockerei.
({3})
Entwicklungen und Produktion in der IuK-Branche
finden auch in kleinen mittelständischen Unternehmen
statt. Von jungen Menschen mit guten Ideen, die bereit
sind, neue Unternehmen zu gründen, leben wir. Von ihnen
gehen wichtige Impulse aus. Damit wir mit dem weltweiten Wachstum mithalten können, sind gerade diese Unternehmen besonders wichtig. Diese jungen und kleinen Unternehmen, die keine eigene Rechtsabteilung haben, werden aber durch zusätzliche Vorschriften, die der Antrag
fordert, in besonderer Weise betroffen und gehemmt, und
das muss verhindert werden.
({4})
In der IuK-Branche herrscht ein heftiger internationaler Wettbewerb. Der Schnelle besiegt den Langsamen.
Unternehmen der Branche haben es in Deutschland mit
seiner hohen Regelungsdichte ohnehin sehr schwer, international mitzuhalten. Sollen sie nun mit neuen Regelwerken zusätzlich behindert werden? Ich sage hier ein ganz
klares Nein.
Insgesamt geht der Antrag von Rot-Grün mit seiner
Forderung nach neuen Normen und Strafen bei Nichteinhaltung von einem falschen planwirtschaftlichen und statischen Ansatz aus. Die neue vernetzte und informierte
Welt geht über diesen kleinkarierten ideologischen Ansatz
hinweg. Deshalb muss der Antrag abgelehnt werden.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke,
die heutige Debatte zum Thema Nachhaltigkeit und neue
Technologien hat zumindest eines gezeigt, nämlich dass
über die Fraktionsgrenzen hinweg einige Blauäugigkeiten
in der Betrachtungsweise heute nicht mehr gang und gäbe
sind. Lange Zeit hieß es, neue Technologien seien per se
nachhaltig oder umweltfreundlich, weil sie Materialströme vermindern, den Energieverbrauch vermindern
und womöglich sogar den Verkehr vermindern. Das ist
also lange Zeit sehr positiv dargestellt worden.
Heute überwiegen, glaube ich, die skeptischen Töne.
Der Streit geht darum: Wie kann man das beurteilen, was
kann man tun, wie geht man damit um? Das hat übrigens
auch Ihre Rede gezeigt, aber - darauf komme ich noch Ihre Antworten darauf, wie man damit umgeht, waren
nicht sehr ausführlich. Jedenfalls habe ich nicht sehr viel
dazu gehört.
({0})
- Ja, wir sind im Moment schwach besetzt. Aber Sie können ja selber klatschen, wenn Sie meine Rede gut finden.
Im Verkehrsbereich gibt es inzwischen Studien, in denen untersucht wird, wie sich neue Technologien auswirken, ob sie zum Beispiel verkehrsmindernd wirken. Man
kann feststellen: Sie wirken sich dann positiv aus, wenn
man parallel dazu politische Maßnahmen ergreift, etwa,
wie Sie es gerade angesprochen haben, ökologisch steuernde Maßnahmen, zum Beispiel das Verteuern des Autofahrens zusammen mit Telematik. Das führt zu einer Verkehrsminderung. Sie sehen, man muss manche Dinge zusammenbringen, damit sie wirken, und darf nicht nur das
eine denken und das andere weglassen.
Ein anderes wichtiges Feld, insgesamt gesehen vielleicht noch wichtiger, sind die Produkte der Elektronikindustrie. Man braucht nur auf sein eigenes Leben
zurückzublicken, um zu sehen, was sich da in den letzten
Jahren entwickelt hat. Ich kann für mich sagen: Ich bin
kein Computerfreak, aber ich habe jetzt schon die vierte
Generation von Computern.
({1})
Ich habe schon drei Computergenerationen zu Hause stehen. Manche sagen: Auf den Bühnen unserer Generation
lagern die Sondermüllanlagen von morgen. Das ist inzwischen ein Riesenproblem. Das gilt auch für den
Telefonbereich. In meiner Kindheit gab es nur ein einziges schwarzes Telefon. Heute kann ich schon meine eigenen Telefone nicht mehr zählen. Sie sind farbig und haben
zahlreiche Bestandteile. So haben wir in jedem Bereich
eine Vielfalt von Geräten.
Die Kollegin Burchardt hat ausgeführt, wie zum Beispiel der ökologische Rucksack eines einzigen Computers
aussieht. Wenn ich das noch ergänzen darf: Die ökologische Belastung durch einen PC besteht aus fast so vielen
Tonnen wie beim Automobil, und ein PC enthält bis zu
700 unterschiedliche, zum Teil hochtoxische Materialien,
Dr. Martin Mayer ({2})
bei denen zum Teil nicht ganz klar ist, wo sie herkommen,
weil sie nicht gekennzeichnet sind oder weil es Mischformen sind. Manche sind nicht nur toxisch, sondern auch
sehr wertvoll. Aber alles ist miteinander verbunden und
wird im Nachhinein zu einem Riesenproblem.
Wir haben - es ist gesagt worden - 2 Millionen Tonnen
Schrott pro Jahr alleine in diesem Bereich. Zurzeit kommen gerade einmal 6 000 Tonnen zurück. Das ist nur ein
Bruchteil des Problems. Es ist nicht geregelt, wie wir mit
diesem Problem umgehen. Wir wissen nur, dass es die
Umwelt und nachwachsende Generationen belasten wird.
Wir müssen etwas tun.
({3})
Da möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, einmal sagen: Es geht nicht nur darum, dass die Industrie etwas dagegen unternimmt, sondern es geht auch darum, dass die Politik etwas tut. Es ist
ein Skandal, dass wir bis zum heutigen Tag noch keine
endgültig beschlossene Elektronikschrottverordnung
haben. Die CDU-regierten Länder blockieren seit Monaten eine Elektronikschrottverordnung, die wir dringend
brauchen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen.
({4})
Man kann schon sagen: Seit Jahren blockieren Sie eine
solche Verordnung. Das heißt, auf der einen Seite blockieren Sie ordnungsrechtliche politische Maßnahmen dort,
wo Sie etwas zu sagen haben, im Moment im Bundesrat,
und auf der anderen Seite mäkeln Sie an einem anderen
Instrument herum, von dem ich dachte, dass Sie sagen
würden: Aha, endlich haben sie begriffen, was wir schon
lange sagen, dass die Industrie auch selbststeuernde Prozesse organisieren muss.
({5})
Im Grunde genommen vertreten Sie eine Politik eines
Nachtwächterstaates. Der Staat soll nichts tun, die Wirtschaft soll nichts tun, anstoßen soll man auch nichts. Was
soll man denn dann politisch eigentlich tun? Ich verstehe
das nicht. Sie mäkeln nur herum.
({6})
Jetzt komme ich im Einzelnen zu Ihren Punkten. Sie
sagen, Roadmapping und das andere, was wir vorgeschlagen hätten, sei sozusagen Ordnungsrecht. Aber lesen
Sie doch bitte einmal den Antrag genau nach. Was steht
dort? Dort steht: Politik soll die Branche zusammenführen, also einen Dialog initiieren und moderieren. Die
Branche soll in Form einer freiwilligen Selbstverpflichtung definieren, welche Probleme es aus ökologischer
bzw. nachhaltiger Sicht gibt, welche großen Herausforderungen bestehen, die wir gemeinsam lösen können, und in
welchen Bereichen wir uns darauf verständigen können,
auf übereinstimmende Art und Weise die entsprechenden
Produkte herzustellen und sie damit ökologisch-nachhaltig verantworten zu können. Dann wird die Branche sagen: Wir sollten das vertraglich klären. Denn was nützt
eine Absprache, die hinterher niemanden bindet? Das ist
doch ein Witz.
({7})
Die Form der freiwilligen Selbstverpflichtung ist,
dass man sagt: Wir binden uns und sehen Sanktionen vor.
Dies sind übrigens keine staatlichen Sanktionen. Vielmehr verständigt sich die Branche selber auf Sanktionen.
Das kann übrigens ganz einfach geschehen, indem die
Branche sagt: Diese oder jene Firma hat den Vertrag, den
sie mit uns allen geschlossen hat, gebrochen, da sie entgegen unserer Absprache folgende hochtoxische Materialien verwendet. - Das könnte sanktioniert werden. Das
wäre sehr wirkungsvoll. Dazu müsste man keine Bürokratie aufbauen. Man könnte eine einmalige Anzeige
schalten und fertig wäre die Angelegenheit.
Aber diese Fantasie haben Sie nicht. Ich wundere mich
nur! Sie sagen, man könne keinen nationalen Alleingang
machen. Ich bitte Sie: Auf europäischer Ebene und international in der Branche wird dieser Versuch schon lange
unternommen. Jetzt leisten wir einen Beitrag und sagen:
Wir wollen Anstöße geben, die Entwicklung wissenschaftlich begleiten und staatlicherseits ein wenig dazu
beitragen, dass in der Wirtschaft Selbstverantwortung gedeihen kann. Sie aber sagen wieder Nein. Insgesamt gesehen sagen Sie nur Nein, mäkeln Sie nur und machen Sie
keine positiven Vorschläge.
({8})
Die Politik muss in diesem Bereich Folgendes leisten:
Sie muss Vorstellungen entwickeln, wie Nachhaltigkeit
gedeutet bzw. definiert werden kann und was in diesem
Zusammenhang wichtig ist. Zum Beispiel sollten Geräte
sparsam beim Energieverbrauch sein. Die verwendeten
Stoffe sollten möglichst nicht toxisch sein oder, wenn dies
doch der Fall sein sollte, sollte dies kenntlich gemacht
sein. Die Geräte müssen demontierbar sein. Sie sollten
übrigens auch arbeitnehmerfreundlich sein. - Das sage
ich hier, weil wir heute hier im Hause eine Gruppe von
Gewerkschaftlern haben. - Auch das ist von Bedeutung.
Auch für die Menschen, die diese Geräte demontieren
müssen, darf keine Gefährdung bestehen. Wir müssen zudem darauf hinweisen, dass neue Technologien im Rahmen des Service im Reparaturbereich dienstleistungsfreundlich sein müssen.
All dies sind Vorgaben, von denen ich glaube, dass die
Politik sie setzen sollte. Ansonsten wollen wir mit dem
vorliegenden Antrag ganz besonders die Eigenverantwortung der Industrie stärken und schützen und damit gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie durch branchenspezifische Strategien
zu unterstützen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Jetzt erteile ich
der Kollegin Cornelia Pieper das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Hermann, Sie sagten, die
Opposition mäkele an Ihnen herum. Ich bezeichne das
nicht als Mäkeln. Ich bezeichne das - das will ich betonen als kritische Oppositionsarbeit.
({0})
Damit komme ich zur Sache: Wir behandeln heute im
Deutschen Bundestag einen Antrag, mit dem eine Strategie für eine nachhaltige Informationstechnik entwickelt
werden soll. Frau Burchardt, Sie werden sich wundern:
Ich sage dazu, dass das ein guter Gedanke ist. Denn die
Informations- und Kommunikationstechnik stellt sich uns
als der Wachstumsmotor des beginnenden 21. Jahrhunderts dar. Auch Sie wissen natürlich, dass wir es zum Beispiel beim Thema Bildung im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung geschafft haben, einen gemeinsamen
Antrag dieses Hohen Hauses vorzulegen.
Aber darum geht es in diesem Falle nicht. Denn wer
glaubt, mit diesem Antrag, den Sie hier vorlegen, Ansätze
für eine politische Strategie an die Hand zu bekommen,
die eine Vernetzung von sozialen, ökonomischen und
ökologischen Aspekten dieser Entwicklung zum Ziel hat,
wird rasch enttäuscht sein.
({1})
- Genau. - Der aufmerksame Leser merkt schnell: Das
Produkt, also Ihr Antrag, hält nicht das, was die aufwendige Verpackung verspricht.
({2})
Ich würde gerne - mit Blick auf Herrn Dr. Thomae - der
Verpackung den Zettel beifügen: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie lieber die F.D.P.
({3})
Hier geht es nicht um eine nachhaltige Informationstechnik. Ihnen geht es im Grunde um einen nationalen
Eingriff in eine Wachstumsbranche, der ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zur Disposition stellt.
Auch in diesem Fall soll ein so genanntes Konsensmodell herhalten, wovon Sie gesprochen haben. Unserer
Auffassung nach sollen in Wirklichkeit dieser jungen
Branche politisch die Korsettstangen eingezogen werden.
Genau das steht auch in dem Antrag und Herr Kollege
Mayer von der CDU/CSU-Fraktion hat es auch gesagt.
So, wie Sie es vorgestellt haben, geht es nicht nur um eine
Selbstverpflichtung der Wirtschaft und auch nicht um ein
reines Roadmapping. Sie liefern gleich die grüne Keule
noch dazu, nämlich durch Sanktionsmechanismen für
den Fall der Nichteinhaltung seitens der Wirtschaft.
Wir alle wissen, wie viele Jobs gerade in der Informationstechnik stecken. Ich glaube, Ihr Antrag gefährdet den
Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sollten wir ihn
nicht unterstützen und deswegen lehnen wir ihn ab.
({4})
Ich finde es köstlich, dass Ihr Vertrauen in die Arbeit
des Bundesumweltministers Jürgen Trittin anscheinend
nicht so toll ist; denn die kleine Anzahl der Kollegen aus
der SPD-Fraktion, die sich in das Rubrum des Antrages
eingetragen haben, zeigt mir, wer die eigentlichen Mütter
und Väter der Botschaft sind.
({5})
- Ich weiß, Herr Tauss, auch Sie haben an diesem Antrag
mitgearbeitet,
({6})
und unsere konstruktive Kritik trifft Sie wieder schwer.
({7})
Ich kann das ja nachvollziehen.
Sie verlieren in dem Antrag kein Wort darüber, dass die
Industrie schon lange auf eine Elektronikschrottverordnung wartet, die den Stoffkreislauf von der Rohstoffgewinnung über das Produkt und den Nutzer bis hin zur
Wiederverwertung verbindlich regelt. Das können Sie
nicht den Ländern vorschlagen. Hier ist vielmehr die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert.
({8})
Meine Fraktion wird dem Antrag in der vorliegenden
Form nicht zustimmen, da es richtiger wäre, Aufgaben für
die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung
aufzuzeigen sowie in enger Zusammenarbeit mit der Industrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien zu erarbeiten. Ein einseitiger Standortnachteil
für den Informationstechnikbereich in Deutschland ist auf
jeden Fall zu vermeiden. Es geht um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Das falsche Signal an diese Branche bringt angesichts der Globalisierung eher große Gefahren für das prognostizierte weitere Wachstum mit sich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu den beiden
anderen Oppositionsfraktionen wird die PDS dem Antrag
zustimmen.
({0})
Es ist gut, dass die Themen Informationstechnologie
und Nachhaltigkeit zusammen beraten werden, auch
wenn man hinsichtlich der Kriterien bzw. der Konkretisierung des Begriffs Nachhaltigkeit sicherlich noch diskutieren wird. Beides sind Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist auch klar, dass das Verhältnis
zwischen ihnen ambivalent ist. Einerseits gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die neuen Informationstechnologien
für eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen, andererseits
bergen die neuen Technologien zusätzliche Belastungen
für Mensch und Umwelt. Deshalb gibt es keinen Zweifel
daran, dass es einer möglichst genauen Beobachtung und
einer gründlichen Folgenabschätzung dieser Entwicklung bedarf. Darin sind wir uns sicherlich alle einig, wie
man dies auch den Reden aus den Reihen der Union und
der F.D.P. entnehmen kann.
({1})
Umstritten ist das vorgeschlagene Verfahren des Roadmappings. Dieses Verfahren ist im Grunde ein Dialog der
Branche, weil diese am besten wissen müsste, was in den
nächsten Jahren auf uns zukommt. Es ist insofern auch ein
Ansatz für die Entwicklung des IuK-Marktes, weil dieser
von denjenigen, die ihn beherrschen, auch am besten eingeschätzt werden kann. Die Unternehmen planen voraus.
Was zählt, sind Fakten und Zahlen. Eine Analyse der Informations- und Kommunikationstechnologien unter dem
Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist also bei der Branche
in guten Händen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Koppelin?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, da Sie erklärt haben, Sie würden den Antrag begrüßen: Können Sie
mir dann erklären, warum von der Bundesregierung zurzeit kein Mitglied anwesend ist?
Da ich ja leider noch nicht
Mitglied der Bundesregierung bin, kann ich diese Frage
natürlich schlecht beantworten.
({0})
Es ist natürlich schade, aber wir haben heute schon häufiger über das Thema diskutiert und vielleicht hängen sie ja
noch am Bildschirm.
({1})
Es versteht sich in meinen Augen auch von selbst, dass
unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
und Umweltverbände diesen Prozess begleiten müssen,
genauso wie die Tatsache, dass sich eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Grundlagenforschung ebenfalls dieses Themas, denke ich, annehmen
muss.
({2})
Selbst wenn die Branche, Frau Burchardt, wartet,
bleibt doch die Frage, ob die Unternehmen diejenigen sein
sollten, die allein über die Konsequenzen oder die erforderlichen Maßnahmen entscheiden sollten. Laut Antrag
ist das Ziel ein Konsens in der Branche, eine Selbstverpflichtung oder ein Branchenprotokoll, das entstehen
soll. Wir dürfen uns hier im Hause an manchen Stellen
nichts vormachen; wir alle wissen, dass die Unternehmen
Eingriffe in den Markt und ihren Profit nicht freiwillig
und schon gar nicht aus eigenem Antrieb unterstützen.
Das Verfahren darf natürlich in meinen Augen, sosehr
ich ihm zustimme, nicht in billige Absprachen münden,
darf natürlich nicht darin münden, dass Politiker oder
auch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Verbände die Ergebnisse dieser Analyse
nicht mit beurteilen können. Sie müssen natürlich mit in
die Diskussion über die Schlussfolgerungen einbezogen
werden. Da ist es, Kollege Mayer, natürlich notwendig,
dass Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen, wenn man
sich denn schon selbst verpflichtet, ergriffen werden können. Denn wenn Selbstverpflichtungen nicht in konkrete
Maßnahmen münden, dann möchte ich auch das Recht haben, meinetwegen mit legislativen Maßnahmen einzugreifen. Ansonsten hat eine Selbstverpflichtung keinen
Sinn. Deswegen denke ich: Roadmap darf kein Freibrief
für die IuK-Branche sein, sondern muss natürlich Pflicht
sein, auch wenn sie einen Anteil an Selbstverpflichtungen
enthalten darf.
Damit gesellschaftlich kontrolliert werden kann, ob die
Regulierungsvorschläge angemessen sind, brauchen wir
eine breite Diskussion zum Thema „nachhaltige Informationstechnologien“. Was stellen wir uns darunter vor? Die
Entwicklung auf diesem Gebiet muss nachvollziehbar
sein. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, der Medien, der Bildungseinrichtungen, aber natürlich auch der Politik, dies
zu begleiten und offen zu legen. Wir partizipieren alle in
irgendeiner Form an dieser Entwicklung, an den neuen
Kommunikationstechnologien. Ich denke, dass sich niemand aus der Verantwortung stehlen kann, auch nicht die
Politik. Sie sollte mutig genug sein, an dieser Stelle einzugreifen.
Deswegen wird die PDS diesem Antrag zustimmen.
({3})
Das Wort hat
jetzt noch einmal der Herr Kollege Jörg Tauss.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Pieper, es geht nicht um kritische Oppositionsarbeit - sie
ist schon weg, schade -, es geht um Mäkelei. Begonnen
hat es heute Morgen mit dem Gemäkele an dem erfolgreichen Kurs der Bundesregierung und des Kanzlers und
jetzt mäkeln Sie am Roadmapping herum. Das zieht sich
durch den ganzen Tag. Eine kritische Opposition, wie wir
sie verstehen, zeigt aber Alternativen auf.
({0})
- Was soll der Verweis auf die Regierungsbank? Sie haben doch eben davon gesprochen, dass diese Regierung
aufgefordert werden müsste. Dazu sage ich: Nein, sie
muss nicht aufgefordert werden; man ist bei der Arbeit;
man macht das schon, wozu Sie sie auffordern wollen.
({1})
Wir müssen Ihnen hier noch etwas erklären und nicht denen. Die machen nämlich ordentliche Arbeit. Darin unterscheiden sie sich sehr von Ihnen.
({2})
- Seien Sie einmal ein wenig schweigsam; jetzt lese ich
Ihnen etwas vor, was Ihnen viel Freude macht. Es geht um
den Fachverband Informationstechnik im VDMA und
ZVEI. Die haben - jetzt hören und staunen Sie - bei einer
Anhörung unserer Enquete-Kommission in der letzten
Legislaturperiode Folgendes gesagt:
Wir haben dem Umweltbundesamt Ende 1996 die
Aufnahme von Beratungen über mittel- und langfristige Umweltziele für die informationstechnische Industrie vorgeschlagen.
Die Industrie hat es vorgeschlagen, nicht die bösen Sozialdemokraten! - Hierzu haben auch Gespräche stattgefunden, heißt es hier weiter im Text. Und dann:
Hieran könnte angeknüpft werden, wenn im
Umweltbundesamt konkrete Aktionsfelder definiert
werden.
Das, meine Damen und Herren, ist unser Ziel; mit der
Wirtschaft werden wir es machen. Sie könnten Opposition
machen, indem Sie Alternativen aufzeigen. Aber die haben Sie nicht. Intelligente Firmen und Unternehmen
({3})
- jetzt rufen Sie nicht die ganze Zeit dazwischen; die Frau
Präsidentin hat schon gemeint, ich solle mich heute kürzer fassen; Sie können auch eine Zwischenfrage stellen achten im eigenen Interesse darauf, dass Produktion und
Produktionsverfahren die Umwelt nicht belasten. Das ist
moderne Politik und nicht dieses rückwärtsgerichtete, alberne … - Ach, ich will das nicht weiter ausführen, sonst
rügt mich noch die Präsidentin.
({4})
Gerade die IT-Branche hat Interesse daran. Elektronikschrott ist ein zentrales Problem. Der Kollege
Hermann hat zu Recht darauf hingewiesen.
Kollege Mayer, entschuldigen Sie bitte: Nachhaltigkeit
ist nicht Konservativismus. Wenn Konservativismus das
sein sollte, was Sie heute vorgetragen haben, dann ist es
ein Drama. Nachhaltigkeit heißt, optimierte Produkte,
optimierte Prozesse und Dienstleistungen und die Rahmenbedingungen dafür zu entwickeln. Das hat etwas mit
Nachhaltigkeit zu tun
({5})
und ist das Gegenteil von Konservativismus.
So angenehm und faszinierend der Computer ist - Kollege Hermann hat Recht -, er hat, auf die Müllhalde gebracht, höchst unangenehme Eigenschaften, da er hoch
toxisch ist. Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs weiß
jeder Bescheid: Wenn wir das Problem mit dem Stand-byBetrieb in den Griff bekommen würden, könnten wir ein
ganzes Kernkraftwerk abschalten.
Die Bundesregierung hat - darüber haben wir gerade
geredet - gehandelt. Sie hat beispielsweise ein Forschungskonzept für die Produktion von morgen auf den
Weg gebracht. Im Rahmen dieses Prozesses gibt es eine
ganz interessante Aktion, übrigens getragen vom Fraunhofer-Institut für chemische Technologie, was, Herr Kollege Fischer, in unser beider Wahlkreis liegt. Falls Sie die
Kurve jetzt nicht kriegen - Sie reden nachher noch -,
würde ich vorschlagen, es einmal gemeinsam zu besichtigen. Dann hören Sie, was die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern zu unserem Antrag sagen. Sie werden
möglicherweise staunen.
Dieses Programm, von dem ich rede, hat mehrere
Ziele. Es geht um Lebensdauerplanung - „design to life“
ist der englische Fachbegriff -, es geht um Werterhaltung,
Mehrgenerationenproduktplanung. Es geht um Technologien und Methoden zur Lebensdauerdokumentation, zur
nachhaltigen Instandsetzung. Darüber freut sich übrigens
das Handwerk, das Sie sonst an allen Stellen hochjubeln.
Es geht um die marktfähige Umsetzung von erweiterter
Produktverantwortung. Das hat etwas mit Roadmapping
zu tun - aber nicht nur damit, sondern auch mit Methoden
zur Steigerung von Nachfrage nach nachhaltigen Produkten. Das schönste nachhaltige Produkt hilft nämlich
nichts, wenn die Verbraucher in den Märkten daran vorbeigehen. Das heißt, wir müssen ein Bewusstsein für
nachhaltige Produkte schaffen, damit sie auch gekauft
werden.
({6})
Das ist moderne Umweltpolitik, für die diese Regierung
steht.
Diesen Zielen wollen wir uns mit Hilfe des Roadmapping nähern. Die IT-Branche könnte eine Vorreiterrolle
für nachhaltige Produktion und Produkte spielen. Ein Roadmapping ist dafür ein hervorragender Ansatz. Er kommt
aus den USA, nicht gerade das Musterland des Sozialismus, wie wir alle wissen. Die Kapitalisten haben es also
erfunden. An dieser Stelle - nicht überall, aber hier beim
Roadmapping - wollen wir ausnahmsweise einmal von
den Kapitalisten lernen. Wir laden die Union ein, da mitzumachen.
Die Roadmap wird in Abstimmung mit der Branche erstellt. Über VDMA und ZVEI habe ich bereits geredet. So
kommt man zu gemeinsamen Ergebnissen. Nicht Papa
Staat alleine ist gefordert, sondern in der Kooperation von
Staat und Industrie werden umweltverträgliche Produkte
auf den Weg zur Nachhaltigkeit gebracht. Eine modernere
Politik kann man sich eigentlich nicht vorstellen.
({7})
Deswegen: Mäkeln Sie nicht, machen Sie mit!
Wir freuen uns also auf die spannenden Diskussionen
mit Ihnen. Ich kann nur nochmals sagen: Kollege Fischer,
Sie haben ja nachher noch die Chance, die Kurve zu krieJörg Tauss
gen. Meine herzliche Bitte ist - ich meine es jetzt wirklich
ernst -, in diese Gespräche Hersteller, Fachverbände,
ZVEI, VDMA sowie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzubeziehen. Sie haben die Chance mitzumachen. Setzen Sie sich wenigstens mit an den Tisch,
hören Sie es sich an! Den Workshop, den wir machen,
werden wir, Kollegin Burchardt, sicher nicht hinter verschlossenen Türen abhalten. Die Opposition kann gerne
mitwirken. Denn wir wollen Sie auf dem Weg zu einer
moderneren Politik gerne einbinden. Das würde dem
Land sicherlich nicht schaden.
Machen Sie mit, anstatt sich - wie es heute geschehen
ist - nörgelnd ins Abseits zu reden. Es macht sonst noch
nicht einmal Spaß, sich mit Ihnen auseinander zu setzen,
so gerne ich mich mit Ihnen fetze.
({8})
Das ist keine konstruktive Opposition, es macht keinen
Spaß mit Ihnen. Und das ärgert mich persönlich noch so
ein bisschen.
({9})
Das Wort hat
jetzt der schon mehrfach genannte Herr Kollege Fischer.
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Lieber Herr Kollege Tauss, was Sie uns hier geboten haben, war Demagogie pur.
({0})
Vielleicht liegt das auch daran, dass Sie heute bereits zum
dritten Mal hier im Einsatz sind. Man hat das Gefühl, die
SPD hat gar keine anderen Leute mehr, die zu diesem
Thema sprechen können.
({1})
Die Sachlichkeit hat darunter zu leiden.
Im Übrigen: Wenn man die Regierungsbank anschaut,
wird man nicht gerade in dem bestätigt, was Sie sagen,
Herr Kollege Tauss. Wenn das wirklich so ein wichtiges
Thema wäre, wären die alle hier und würden hören, was
das Parlament zu sagen hat. Das ist eine Missachtung des
Parlaments und Sie verteidigen das auch noch. Das kann
eigentlich nicht sein.
({2})
Wir debattieren heute den Antrag der Regierungsfraktionen „Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik“. Das ist ein großer Anspruch, wenn man bedenkt,
dass das Leitbild der Nachhaltigkeit drei Dimensionen die Ökonomie, die Ökologie und das Soziale - umfasst.
Das bedeutet eine dauerhafte tragfähige Entwicklung, bei
der ökologische, ökonomische und soziale Belange
gleichberechtigt und ausgewogen miteinander verbunden
sind.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die
Regierungsfraktionen den Versuch gestartet haben, diese
von der Enquete-Kommission formulierten Anforderungen umzusetzen. Bereits im ersten Absatz Ihres Antrags ich will nun zu Ihrem Antrag sprechen, da Sie das selbst
nicht hinbekommen haben - umreißen Sie grob das gesetzte Anspruchsniveau. Sie haben einige der vielen Bereiche benannt, in denen die Politik Veränderungen der
Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung
der Informationstechnik in Deutschland vornehmen
müsse: Veränderungen im Arbeitsleben, Stichwort: Vereinbarkeit von Familie und Beruf; Veränderungen der
Informationsübermittlung, Stichwort: Informationszugang und Wissensvermittlung; Veränderungen der Qualifikationsanforderungen an Arbeitnehmer, Stichwort: zukunftssichere Arbeitsplätze.
Leider kommen Sie über das Benennen dieser wichtigen Felder nicht hinaus. Denn im Weiteren handelt Ihr
Antrag, liebe Kollegin Burchardt, weniger von Nachhaltigkeit als vielmehr von der Ökologisierung der Informationstechnik. Es geht nur noch um die Verringerung
der Stoff- und Energieflüsse im Bereich der IuK-Technik,
die Erhöhung der Ressourcenproduktivität und die
Vermeidung von Problemstoffen bei der Herstellung von
IuK-Geräten.
Zur Lösung dieser vermeintlich drängenden Probleme
schlagen Sie unter Berufung auf die Enquete-Kommission die Erstellung einer Roadmap vor, die die ökologischen Herausforderungen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Informationstechnik benennen soll.
Die Enquete-Kommission hat in der Tat einvernehmliche Empfehlungen für eine weitere nachhaltige Entwicklung im Bereich der Informationstechnik ausgesprochen. Ein Teilbereich war die ökologische Zielsetzung der
Verbesserung der Schadstofffreiheit und Verringerung des
Energieverbrauchs. Ein Unterkapitel dieses Teilbereichs
war die Erstellung einer Roadmap.
Dabei hat die Enquete-Kommission den Staat aber allenfalls als Finanzier einer solchen Anstrengung der Wirtschaft erwähnt.
({4})
Vom Staat als Beteiligtem an einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ der Unternehmern und von einer Strafe für
Unternehmen bei Nichteinhaltung einer solchen Verpflichtung ist in den Empfehlungen der Enquete-Kommission nichts zu finden. Wir haben in Deutschland kein
Problem mit zu wenig Staat, sondern wir haben ein Problem mit zu viel Staat. Deshalb hat die Enquete-Kommission bei ihrer Empfehlung einer Roadmap den Staat als
Akteur bzw. als Sanktionator bewusst nicht vorgesehen.
({5})
Es ist schon bezeichnend, dass Sie mit Ihrem Antrag
von den eigentlichen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung für und in Deutschland ablenken wollen.
({6})
Die Nachhaltigkeit für Deutschland umfasst eben nicht
nur den ökologischen Bereich - ansonsten könnten wir
diese Debatte im Umweltausschuss führen - und sie ist
auch nicht durch mehr Staat zu erreichen, denn dann
könnten wir die Marktwirtschaft gleich durch Planwirtschaft ersetzen.
({7})
Nein, meine Damen und Herren, sie umfasst gleichberechtigt auch die ökonomischen und sozialen Belange der
Menschen in unserem Gemeinwesen. Die Enquete-Kommission hat dem in ihrem Endbericht Rechnung getragen,
indem sie mehrere Strategien zur Umsetzung des Leitbildes der Nachhaltigkeit empfohlen hat. Eine davon
war zum Beispiel die Förderung der Nachhaltigkeitskonzepte durch die Nutzung der IuK-Techniken.
Doch davon findet sich in Ihrem Antrag überhaupt nichts.
Stattdessen sprechen Sie die Ressourcenintensität und
Umweltbelastungen der Halbleiter- und Komponentenherstellung sowie den Energieverbrauch im Stand-by-Betrieb - wir haben sogar von Kernkraftwerken gehört, die
abgeschaltet werden könnten - an. Das sind Ihre Themen
im Bereich der Nachhaltigkeit.
Wenden wir jetzt unseren Blick ab von den Fragen des
Umwelt- und Gesundheitsschutzes hin zu den Fragen der
ökonomischen und sozialen Entwicklung. Bereits vor
zwei Jahren, liebe Frau Burchardt, hat die EnqueteKommission, die Sie zitiert haben, in ihrem Abschlussbericht den Fachkräftebedarf für die Softwareentwicklung,
die Softwareanwendung und -ausgestaltung als das Nadelöhr der ökonomischen Entwicklung identifiziert. Das
haben Sie damals mit unterschrieben.
Sie hat damals empfohlen, auf allen Ausbildungsebenen - auf der Ebene der Universitäten, der Fachhochschulen und der beruflichen Ausbildung - die bestehenden Ausbildungskapazitäten zu erweitern und neue zu
schaffen. Dieses Problem bewegt die Menschen, und zwar
nicht nur die unmittelbar betroffenen Unternehmer und
Arbeitskräfte, nein, unsere Gesellschaft stellt sich insgesamt die Frage, wie wir mit älteren oder weniger qualifizierten Arbeitnehmern in Zukunft umgehen wollen. Sie
hatten zwei Jahre Zeit zu handeln. Nichts ist passiert.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich hätte angesichts der momentanen Lage in Deutschland von Ihnen erwartet, dass Sie die Initiative zur Behebung des Mangels
an geeigneten Fachkräften im Bereich der Anwendung
der Informationstechnik ergreifen, um zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens beizutragen.
Wenn ich mir aber vor diesem Hintergrund Ihren Antrag zu einer nachhaltigen Informationstechnik anschaue,
stelle ich fest: Das ist so, als wenn eine Gruppe von Feuerwehrsachverständigen im zwanzigsten Stock eines
Hochhauses intensiv über die Verfeinerung eines Rauchmelders diskutiert, während unter ihnen zehn Stockwerke
in hellen Flammen stehen. Mit der neuen Situation konfrontiert rufen sie die Feuerwehr aus Indien und Osteuropa, denn die eigenen Feuerwehrleute scheinen aus ihrer
Sicht nicht qualifiziert oder schon zu alt zu sein, um die
neuen Löschgeräte anständig zu bedienen. Genau das ist
die momentane Situation.
({8})
Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber es entspricht
den Tatsachen.
Wir haben 30 000 arbeitslose ansässige Computerfachleute. Aber statt in den letzten beiden Jahren die Qualifikation neuer Fachleute forciert oder den Unternehmen
den Einsatz älterer Fachleute schmackhaft gemacht zu haben, setzen Sie auf den Import von Fachleuten und scheren sich nicht um die Integration unserer Mitbürger in den
Arbeitsmarkt. Das muss hier einmal so deutlich gesagt
werden.
Es ist ein Armutszeugnis, dass an dieser Stelle über einen Antrag zur nachhaltigen Informationstechnik debattiert werden muss, dessen Inhalt sich in keinem Wort an
den aktuell drängenden Problemen der Menschen hier in
Deutschland orientiert. Ihr Antrag geht jedenfalls an dem
eigentlichen Ziel einer nachhaltigen und dauerhaft tragfähigen zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft
insgesamt meilenweit vorbei. Die Diskussion über Nanogramm und Pikogramm sowie über vermeintlich große
Entsorgungsprobleme beim Abfall, die Sie hier betreiben,
ist jedenfalls derzeit kein geeigneter Beitrag zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.
({9})
In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Verstecken Sie sich
nicht länger hinter Ihrem ökologischen Umbau, sondern
stellen Sie sich endlich den realen Problemen der Menschen in unserem Lande!
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Stra-
tegie für eine Nachhaltige Informationstechnik, Drucksa-
che 14/2814. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2390 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung
Axel E. Fischer ({0})
- Drucksache 14/3086 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Existenzsichernde Vergütung der psychotherapeutischen Versorgung gewährleisten
- Drucksache 14/2929 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Kollegen Dr. Dieter Thomae für die FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Wahlperiode haben wir dieses Gesetz weitgehend gemeinsam auf
den Weg gebracht und getragen. Die jetzige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben dieser Berufsgruppe vor den Wahlen sehr viel versprochen - zu
viel, denn sie können es nicht halten.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist erschreckend, wie die
Honorierung in diesem Bereich jetzt aussieht. Die floatenden Punktwerte haben dramatische Auswirkungen.
Nicht nur in den alten Ländern, sondern besonders auch
in den neuen Bundesländern werden die psychologischen
Psychotherapeuten an die Grenze ihrer Existenz gebracht.
({1})
- Das ist in der Tat skandalös. Das ist die Grundlage der
Auseinandersetzung, die wir jetzt führen müssen.
Grundlage ist die Budgetierung. Meine Damen und
Herren, die Budgetierung treibt alle in den Ruin. Sie
rationiert insgesamt die Leistungen.
({2})
Ob wir das Arzneimittelbudget, das Heilmittelbudget oder
diesen Bereich nehmen: Überall führt die Budgetierung
zur Rationierung der Gesundheitsleistungen zum Nachteil
der Patienten. Zum Glück merkt man jetzt draußen, welche Politik von Ihnen in diesem Bereich organisiert worden ist.
({3})
Meine Damen und Herren, das Erstaunliche ist, dass
wir feststellen müssen: Es gibt keine akzeptablen Stundenlöhne mehr. Es handelt sich nämlich um Leistungen,
die im Gutachterverfahren von den Krankenkassen genehmigt worden sind. Aber man muss wissen, dass diese
Leistungen dringend notwendig sind und nun endlich zu
einem akzeptablen Preis organisiert werden müssen.
({4})
Da gibt es kein Entkommen.
Viele Praxen in den neuen und alten Bundesländern
sind dem Ruin schon nahe; sie können keine entsprechenden Leistungen mehr erbringen. Der Bedarf ist groß.
Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns jetzt im Gesetzgebungsverfahren ernsthaft darum kümmern, eine saubere, vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen.
Ich möchte Ihnen einmal schildern, wie die Situation
in der Praxis aussieht. Ich glaube, Zahlen machen die Situation sehr deutlich: Im Jahr 1999 erzielten die Praxen im
Durchschnitt einen Umsatz von 70 DM pro Stunde. Wenn
man aber die Praxiskosten, die man mit etwa 44 DM veranschlagen muss, abzieht, dann bleibt noch ein Betrag
von 26 DM brutto.
({5})
Dann kommt die Altersvorsorge, dann kommt die Krankenversicherung, dann kommen die Steuern und dann - so
sagen uns die Experten - liegt der Nettostundenlohn bei
13 DM. Meine Damen und Herren, wer ist noch bereit, für
13 DM pro Stunde zu arbeiten? - Es kann keine vernünftige therapeutische Betreuung zu diesem Stundenlohn
mehr erfolgen.
({6})
Noch dramatischer ist es in Sachsen-Anhalt. Auch hier
möchte ich Ihnen einmal die Zahlen nennen: In SachsenAnhalt beträgt der Stundenumsatz 52,20 DM brutto. Nach
Abzug der Praxiskosten, die 43,70 DM ausmachen, bleiben brutto noch 8,50 DM übrig.
({7})
Ich könnte Ihnen hierzu noch eine Reihe von Beispielen nennen. Ich könnte Ihnen beispielsweise sagen, wie
die Situation in Berlin ist - sie ist ähnlich dramatisch.
Meine Damen und Herren, es ist nicht nur in diesem
Bereich dramatisch, sondern es ist auch bei den Krankengymnasten dramatisch, es ist bei den Logopäden dramatisch, es ist im Arznei- und Heilmittelbereich dramatisch. Ich sage Ihnen: Auch im Krankenhausbereich werden wir recht bald feststellen, dass es dramatischer wird,
weil die Wartezeiten immer größer werden. Hier, meine
Damen und Herren, ist die Bundesregierung gefordert.
Ich war erstaunt, als ich in der „Bild am Sonntag“ vom
23./24. April 2000 las, dass der zuständige Staatssekretär
gesagt habe, es gebe in diesem Land keine Budgetierung
im Arznei- und Heilmittelbereich mehr.
({8})
Er hat behauptet:
Um das System zwischen den Ärzten gerechter zu
gestalten, haben wir einen Individualregress eingeführt.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Ich weiß nicht, wann dieses Gesetz über die Rampe gebracht worden ist.
({9})
Ich glaube, Ihr Staatssekretär sollte sich einmal um die
Gesetzgebung kümmern, die Sie gemacht haben.
Mit diesen Äußerungen hat er also nicht nur die „Bild
am Sonntag“ belogen, sondern auch die deutschen Patienten, denn es gibt keinen Individualregress, sondern es
gibt bei der Budgetierung nur eine Gesamthaftung aller
Ärzte und das - ich sage es ganz eindeutig, meine Damen
und Herren - ist in meinen Augen nicht verfassungsgerecht.
({10})
Ich bin nicht bereit, dies weiter zu akzeptieren. Gehen Sie
von der Budgetierung weg! Dann, meine Damen und Herren, sind Sie auf einem vernünftigen Weg.
Ich bin bereit, im Anhörungsverfahren vernünftige
Vorschläge aufzunehmen, damit diese Problematik, die
sehr dramatisch ist, gelöst werden kann. Sie haben den
Psychotherapeuten vor den Wahlen so viel versprochen,
aber nichts gehalten. Ich muss sagen, das ist unverantwortlich.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht Kollegin Helga Kühn-Mengel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwas erstaunt
hat mich Ihr Beitrag schon, Herr Kollege Thomae.
({0})
- Manchmal genügt auch eine kurze Zeit, um jemanden
kennen zu lernen, aber diesen Aspekt möchte ich nicht
vertiefen.
({1})
Sie haben weder zu Ihrem Gesetzentwurf gesprochen
noch zu dem außerordentlich heiklen Punkt der Zuzahlung, die auch von der Verbändelandschaft abgelehnt
wird.
({2})
Das haben Sie durch ein gewisses Timbre in der Stimme
kompensiert. Aber ich sage Ihnen schon jetzt - ich nehme
etwas aus meiner Rede vorweg -: Die Situation für die
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist ernst.
Das müssen Sie mir nicht sagen.
({3})
Mit diesem Thema reise ich durch die bundesdeutsche
Landschaft, wie auch meine Kollegen. Ich weiß um die
Not. Nur in der Ursachenbeschreibung setze ich etwas andere Akzente als Sie.
({4})
- Auch das ist nicht richtig. Aber dazu komme ich noch.
Sie erinnern sich: Als das Psychotherapeutengesetz
nach langen Jahren der Auseinandersetzung in Kraft trat,
haben wir viele der Schwierigkeiten, über die wir heute
sprechen, zumindest in Ansätzen kommen sehen: Es
wurde über Zugangsmodalitäten zur Kassenärztlichen
Vereinigung, Zulassungsbedingungen und Methodenvielfalt diskutiert. Ich möchte daran erinnern, dass die SPD
diesem Gesetz die Zustimmung gegeben hat, weil sie im
Bundesrat ganz entscheidende Dinge nachbessern konnte:
bei der Gleichstellung der ärztlichen und psychologischen
Therapeuten und Therapeutinnen, bei ihrer Integration in
die Kassenärztlichen Vereinigungen mit Bildung eines
Fachausschusses und bei der Stärkung der Kinder- und Jugendtherapeuten. Auch der Wegfall der Zuzahlung war
ein Punkt, weshalb wir zugestimmt haben. Es ist schon
bemerkenswert, meine Damen und Herren von der F.D.P.,
dass Sie die Zuzahlung heute wieder herauskramen und
wieder verwerten wollen.
Wir werden diesen Vorschlag jedenfalls heute ebenso ablehnen wie damals.
({5})
Wir haben diesem Gesetz damals zugestimmt, weil wir
mehr Klarheit und mehr Sicherheit für die Patienten und
Patientinnen erreichen und deren gute psychotherapeutische Versorgung sicherstellen wollten. Ich erwähne das
deshalb, weil wir nicht unbedingt von einer Transparenz
im System sprechen können.
Es ist richtig, dass es Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Integration in die Kassenärztlichen Vereinigungen gibt. Es war das Ziel der Neugestaltung, dass die
Psychotherapeuten Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen werden, dass es eine gemeinsame Bedarfsplanung gibt, dass sie den Ärzten gleichgestellt sind, dass
beide Gruppen die gleiche Vergütung erhalten, dass sie in
den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung vertreten
sind. Ich sage noch einmal: Das System hat manche dieser Forderungen, die wir aufgestellt haben, noch nicht
umgesetzt. Wir können nur hoffen, dass vieles davon zu
den Anfangsschwierigkeiten gehört.
Wir wussten natürlich, dass es nicht so einfach sein
würde, die gleichberechtigte Einbindung umzusetzen. Immerhin haben wir es mit einem Bereich zu tun, der sehr
standesbewusst und interessenorientiert ist, denn die
Ärzte sind schon lange etabliert. Das gehört zur Ursachenbeschreibung. Es gibt nun einmal Schwierigkeiten,
wenn neue Partnerinnen und Partner in ein gewachsenes
System eingebunden werden sollen.
Man muss auch sagen, dass es in diesem System härteste interne Verteilungskämpfe gibt. Das ist unbestritten
und wird von den Ärzten und Ärztinnen in vernünftigen
Gesprächen immer wieder gesagt. Was die TherapeutinDr. Dieter Thomae
nen und Therapeuten betrifft, so haben wir es auch mit den
Auswirkungen solcher Verteilungskämpfe zu tun.
Es ist richtig, Herr Kollege Thomae, dass es im Jahre
1999 bundesweit einen dramatischen Punktwertabfall
bei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen gab,
der Teile eines ganzen Berufsstandes existenziell bedroht das ist richtig -, der Therapeuten in extreme wirtschaftliche Situationen bringt und - nicht zuletzt - in manchen
Regionen die psychotherapeutische Versorgung der Patienten und Patientinnen gefährdet. Richtig ist aber auch,
dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie hätten
verwendet werden sollen, über die Kassenärztlichen Vereinigungen in die Vergütung von Arztgruppen geflossen
sind.
({6})
- Das hat das BMG gesagt, das sagen Kommentatoren aus
dem Bereich der Krankenkassen.
Das finden Sie auch in einem Länderpapier wieder. Das
wird zurzeit überall diskutiert. Es ist doch nicht so, als
wären wir nicht bestrebt, die Ursachen der schwierigen
Situation herauszuarbeiten.
Richtig ist nach unserer Meinung aber auch, dass der
Antrag der PDS mit der Forderung nach Erhöhung des
Budgets zu kurz greift und - ich weise noch einmal darauf hin - der Antrag der F.D.P. allzu anbiedernd ist.
({7})
- Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Fuchs. Ich meine mich
zu erinnern, Ihren Antrag auch als Ersten genannt und gesagt zu haben, dass die dort erhobene Forderung nach Erhöhung des Budgets zu kurz greife und - ich wiederhole
es gerne - der Antrag der F.D.P. anbiedernd sei.
({8})
Im letzten Jahr galten Übergangsregelungen, die im
Übrigen noch Ihre Regierung beschlossen hat. Als wir sahen, wie problematisch sich die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Übergang gestaltete, haben wir
von der Koalition eine deutliche Nachbesserung in Höhe
von etwa 140 Millionen DM vorgenommen.
Wir haben mit der Gesundheitsreform 2000 festgeschrieben, dass aufgrund der besonderen Tätigkeiten in
der Psychotherapie eine angemessene Höhe der Vergütung pro Zeiteinheit zu gewähren ist. Das ist nicht unwichtig; denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen,
dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei einem drohenden oder bereits eingetretenen Punktwertverfall ihren Leistungsumfang nicht so ohne weiteres ausweiten können, wie das andere Arztgruppen können. Es
ist wichtig, dass wir diesen Punkt in § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes verankert haben.
Entscheidend ist nach unserer Meinung aber auch, dass
im Psychotherapeutengesetz eine Auffangregelung vorgesehen ist, damit ein bestimmtes Vergütungsniveau nicht
unterschritten wird,
({9})
und dass als Maßstab für die Angemessenheit der Vergütung ärztliche Beratungs- und Betreuungsleistungen herangezogen werden sollen. So ist es in Art. § 11 Abs. 2 festgeschrieben.
Offensichtlich ist der Vergütungspunktwert im zweiten Halbjahr 1999 aber auch deshalb so dramatisch gesunken, weil das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu
1998 zum Teil gesenkt wurde. Mittel für die Psychotherapie sind nicht geflossen. Sie sind - ich wiederhole es - in
andere Bereiche gelangt. Dabei handelt es sich nach einer
Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bundesweit um eine Summe von etwa 300 Millionen DM.
Wir können doch nicht einfach sagen: „Wir bessern das
Budget nach und geben mehr Geld in den Topf“, wenn all
diese Dinge nicht ordentlich auf den Tisch des Hauses gelegt werden.
Sie haben vorhin nach einem Beispiel gefragt. Die negativen Auswirkungen können am Beispiel Berlins - das
haben Sie vorhin selber erwähnt - dargestellt werden:
1996 gab die Kassenärztliche Vereinigung Berlin 72 Millionen DM für psychotherapeutische Leistungen aus. Im
Jahr 1998 stieg dieser Betrag auf 95 Millionen DM. Das
war eine Steigerung von 32 Prozent. 1999 betrug der Anteil der Mittel für psychotherapeutische Leistungen aus
der vertragsärztlichen Versorgung am Gesamtbudget lediglich 73 Millionen DM. Es fehlten also im letzten Jahr
über 20 Millionen DM im Budget der Kassenärztlichen
Vereinigung Berlin, die im vorigen Jahr den Psychotherapeuten noch zur Verfügung gestanden haben. Das habe ich
einer Darstellung der Länder entnommen. Ich weise nur
deshalb darauf hin, damit Sie nicht denken, ich ziehe wer
weiß was für Zahlen heran; denn die Länder befassen sich
damit. Wir befinden uns im Gespräch mit den Ländern,
weil wir wissen, dass wir die Länder als Aufsichtsbehörden für eventuellen Änderungen brauchen.
Wir haben immer wieder darauf hingewiesen - und es
auch in Stellungnahmen betont -, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen gemeinsam
Lösungen zu vereinbaren haben, die eine Versorgung der
Versicherten und ein angemessenes Honorar für die Ärzte
gewährleisten sollen.
({10})
Wir haben immer beide Seiten in die Verpflichtung genommen. Wir sehen die rechtlichen Grundlagen für einen
solchen Konsens in den genannten Auffangregelungen
gegeben: Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes,
und § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes.
({11})
Bis zum Ende des letzten Jahres war es dem Bundesministerium für Gesundheit nicht gelungen, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Spitzenverbände der
Krankenkassen zu einer gemeinsamen Position zu bewegen. Dann gab es Ende Januar dieses Jahres aber einen
Konsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder, dass
bei der Vergütung für das Jahr 1999, für das sich die Lage
ja besonders dramatisch darstellt, der vorgegebene Mindestpunktwert nicht unterschritten werden darf. Dabei
muss natürlich auch die Frage geklärt werden, wer Aufwendungen in welchem Umfang zu tragen hat. Ich denke,
dass damit ein Prozess eingeleitet wurde, der zu einer
zwar nicht hochwertigen, aber doch halbwegs akzeptablen Lösung geführt hat.
Im Übrigen ist die Analyse der gesamten Situation
außerordentlich schwierig, weil wir ein geschlossenes
Datenbild vonseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen
einfach nicht bekommen; es liegt nicht vor. Noch in
der letzten Sitzung vor der Osterpause - Herr Kollege
Lohmann, auch Sie haben das kritisiert - standen uns lediglich Daten vom ersten, allenfalls vom zweiten Quartal
1999 zur Verfügung.
({12})
- Sie sagen „Trauerspiel“. Sie haben das ebenso kritisiert
wie wir.
Vor diesem Hintergrund, bei völlig unklarer Datenlage
und bei Spekulationen darüber, wo die für die Psychotherapeuten gedachten Mittel eigentlich hingeflossen sind,
sehr verehrte Damen und Herren von der PDS und von der
F.D.P., erscheint das Nachschießen von frischem Geld
durch die Politik zu diesem Zeitpunkt nicht als das geeignete Mittel.
Jetzt komme ich zu dem, was die F.D.P. will. Die F.D.P.
will in erster Linie diejenigen Regelungen verändern, die
sie in der alten Koalition beschlossen hat.
Frau Kollegin, ich
muss darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit weit überschritten haben. Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich danke Ihnen; aber
ich glaube, ich darf das noch.
Ja, wenn Ihre Fraktion das gestattet. Nur, das geht dann zulasten der zweiten
Rednerin; aber das ist Sache Ihrer Fraktion.
Ich danke Ihnen. Ich
beeile mich.
({0})
- Ja, die kommt gleich noch. Frau Schaich-Walch hat sicherlich noch viel Gutes zu ergänzen.
Die F.D.P. will in ihrem Antrag die Punktwertdifferenz
für 1999 so erhöhen, dass die Psychotherapeuten eine
„angemessene Vergütung“ erhalten. Das hört sich gut an
und suggeriert den Psychotherapeuten schnelle Hilfe. Es
bedeutet aber auch, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen aus ihren Verpflichtungen entlassen werden; für
die Mehrkosten sollen allein die Krankenkassen aufkommen. Das heißt auf gut Deutsch: Die bestehenden Probleme sollen einseitig zulasten der GKV gelöst werden.
Im Übrigen: Was heißt „angemessene Vergütung“?
({1})
Mit welchen Arztgruppen, mit welchem Bezugsjahr usw.
wollen Sie Vergleiche anstellen?
Für das Jahr 2000 schlagen Sie eine Einzelleistungsvergütung vor. Das bedeutet, dass psychotherapeutische
Leistungen faktisch außerhalb des ärztlichen Gesamtbudgets bezahlt werden. Das können wir natürlich nicht mittragen, weil wir den Rahmen für die Beitragssatzstabilität
gesetzt haben.
Wie ist Ihr Plan zur Gegenfinanzierung? Die von Ihnen vorgeschlagene Zuzahlung - dazu habe ich schon etwas gesagt - ist für uns völlig inakzeptabel; wir haben sie
damals abgelehnt und das tun wir auch heute. Sie wird
auch von den Verbänden, zum Beispiel vom BVVP, ganz
kritisch gesehen. Ihr anderer Vorschlag zur Gegenfinanzierung besteht darin, dass Sie die Mittel, die wir für die
Verbraucherberatung eingesetzt haben, streichen wollen.
Sie können von uns nicht erwarten, dass wir ein Gesetz,
das wir gerade auf den Weg gebracht haben, schon wieder
zurücknehmen, indem wir ein wichtiges Element streichen.
Natürlich sehen auch wir die schwierige Situation. Wir
fordern die KVen und die Krankenkassen noch einmal
auf, ihren Verpflichtungen auf den genannten Grundlagen
nachzukommen. Wir fordern vor allem eine ordentliche
Datenbasis. Erst wenn das erreicht ist, können wir auf seriöses Material zurückgreifen und überlegen, ob eine Novellierung an bestimmten Stellen infrage kommt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Aribert Wolf.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenn wir über den Gesetzentwurf der F.D.P. debattieren, dann geht das nicht, ohne
dass wir ein Stückchen zurückschauen auf die Entwicklung der Psychotherapie und der dafür vorgesehenen Finanzgrundlagen. Frau Kühn-Mengel, Sie haben das im
Ton sehr nett gesagt, aber in der Sache wollen wir diesen
Geschichtsklitterungen schon ein bisschen entgegentreten. Wenn der Gesetzgeber, wie beim Psychotherapeutengesetz, Neuland betritt und nicht über gesicherte
Erfahrungen verfügt, kann auch einmal etwas schief
gehen; das räumen wir durchaus ein. Aber ein klug beratener und einsichtiger Gesetzgeber baut für eine solche
Situation vor und hält sich gleich im Gesetz ein Hintertürchen offen nach dem Motto: Versuch - Irrtum Korrekturmöglichkeit. Und genau das hat die damals
unionsgeführte Bundesregierung, hat der damalige
Gesundheitsminister Horst Seehofer klugerweise im
Psychotherapeutengesetz vorgesehen.
Aber ich muss Ihnen beweisen - und ich kann Ihnen
das auch beweisen -, dass die rot-grüne Bundesregierung
diese Klugheit in ihrer Gesundheitspolitik leider nicht an
den Tag gelegt hat. Frau Fischer, leider ist Ihr Budgetierungswahn eine der Hauptursachen dafür, dass wir in
Deutschland auch im Bereich der Psychotherapie derart
massive Probleme haben.
({0})
Aber nicht nur in der Psychotherapie, auch in anderen medizinischen Versorgungsbereichen in unserem Land haben wir immer stärker eine heimliche Mehrklassenmedizin zu verzeichnen.
({1})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben
zwar die von uns aus Gründen der Kostenbegrenzung angehobenen Zuzahlungen im Bereich der Arzneimittel
offiziell minimal abgesenkt, aber in der bundesdeutschen
Wirklichkeit werden heute Patienten dank Ihrer Budgetierungspolitik viel massiver zur Kasse gebeten, als das
mit unseren sozial abgefederten und über Härtefallregelungen gemilderten Zuzahlungsregelungen der Fall war.
({2})
All das läuft heute in der bundesdeutschen Wirklichkeit
wesentlich härter, brutaler, aber heimlich unter dem Ladentisch.
Das sind keine erfundenen Geschichten, Frau Fischer.
Ich habe es in der eigenen Familie vor kurzem erfahren.
Meine Frau war vor einigen Tagen bei einem Gynäkologen. Die erste und routinierte Forderung der Sprechstundenhilfe war: 50 Mark bar auf den Tisch, sonst gibt es
keine Vorsorgeuntersuchung!
({3})
Nach eineinhalb Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik ist
das die traurige Wirklichkeit in Deutschland. Da können
Sie schreien, so viel Sie wollen, Sie haben für die Menschen etwas Schlechtes auf den Weg gebracht.
({4})
Deswegen, Frau Fischer, sollten Sie sich weniger Gedanken darüber machen, wie Sie Bundesbürgern mehr
Geld aus der Tasche ziehen können, indem Sie Zins- und
Aktieneinkünfte auch noch sozialversicherungspflichtig
machen wollen. Stattdessen sollten Sie lieber darüber
nachdenken, wie Sie den bundesdeutschen Normalverbraucher vor diesem heimlichen Abkassieren und vor dieser heimlichen Mehrklassenmedizin endlich wirksam
schützen. Das wäre eine lohnende Aufgabe, mit der Sie
sich als Gesundheitsministerin wirklich profilieren könnten.
Aber bleiben wir bei der Psychotherapie. Meine Damen und Herren, wir kennen ja im Medizinbetrieb vielfach das Gejammer der Akteure, die Vergütung sei zu gering. Ich bin bestimmt der Letzte, der sagt, dass das, was
an Wehklagen bei uns in der Politik abgeladen wird, immer stimmt. Da ist natürlich oft ein Stückchen überzeichnende reine Interessenvertretung dabei. Aber wenn wir
uns die Situation der Psychotherapeuten im Jahre
1999 ansehen, dann müssen wir feststellen, dass sie in
mindestens der Hälfte der Bundesländer in der Tat völlig
unerträglich war. Das belegen Gerichtsurteile, Schiedssprüche, Aussagen der Krankenkassen und folgende Fakten, die ich Ihnen kurz nennen darf. Ich habe die Zahlen
vom dritten Quartal. Es reicht nämlich völlig aus, wenn
man einmal bei einer Krankenkasse anruft und sich Übersichten geben lässt. Das Gesundheitsministerium wäre
auch ein Stückchen weiter, wenn es dies tun würde. Ich
weiß nicht, warum ich die Zahlen bekomme, Sie im Ministerium aber nicht.
Das Bundessozialgericht peilt einen Vergütungspunktwert von 10 Pfennig an. Nach den mir vorliegenden Übersichten schwanken die Auszahlungspunktwerte zwischen
2 Pfennig in Berlin, 3,1 Pfennig in Sachsen, 3,9 Pfennig
in Mecklenburg-Vorpommern, 6,1 Pfennig in Süd-Württemberg, 6,5 Pfennig im Saarland und 7 Pfennig in Westfalen-Lippe, Bayern, Hamburg und Nordrhein. Das ist
wirklich beschämend.
Hinzu kommt, dass viele Psychotherapeuten zeitlich
genau festgelegte Leistungen erbringen und diese vorher
auch noch von den Krankenkassen genehmigen lassen
müssen. Für die üblichen Mengenausweitungen im
Medizinbetrieb steht die Psychotherapie also nur ganz begrenzt zur Verfügung.
({5})
Deswegen sind die Klagen der Psychotherapeuten über
eine katastrophale Einkommenssituation, die es ihnen
vielfach noch nicht einmal ermöglicht, die Praxiskosten
zu decken, richtig.
Ich will mich jetzt überhaupt nicht über die Gründe
auslassen, die dazu geführt haben, dass dieser dramatische Punktwerteverfall eingetreten ist.
({6})
Schuldzuweisungen helfen weder den Patienten noch den
Psychotherapeuten.
Nur so viel: Keiner, auch Sie nicht,
({7})
wusste zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes, ob das Geld, das für die Integration
der Psychotherapie in die gesetzliche Krankenversicherung und in das System der Kassenärztlichen Vereinigungen vorgesehen war, ausreichen würde.
({8})
Deswegen bestand Konsens in der Ärzteschaft, unter den
Psychotherapeuten und den Krankenkassen, dass man
sich darum bemühen wollte, ein ausreichendes Finanzvolumen zu berechnen. Von allen wurden ihre Zahlen an
Horst Seehofer gemeldet. Anhand dieser wurde dann das
Volumen berechnet. Und diese Zahlen wurden für die
Ausgestaltung des Psychotherapeutengesetzes übernommen. Heute sind wir alle, Sie und auch wir, ein Stückchen
schlauer, denn wir alle wissen, dass diese Berechnungen
von der Wirklichkeit überholt wurden: So wurden wesentlich mehr Psychotherapeuten zugelassen, als man damals gedacht hat,
({9})
und die von den Kassen gemeldeten Zahlen zur Kostenerstattung im Bereich der Psychotherapie waren offensichtlich viel zu niedrig angesetzt.
Es ist normal - das weiß jeder, meine Damen und Herren -, dass dann, wenn ein Honorarkuchen aufgrund zu
geringer Zutaten schon von Haus aus zu klein gebacken
wird, sich aber trotzdem auch noch wesentlich mehr Personen von diesem Kuchen ein Stückchen abschneiden
wollen, beileibe keine Freude aufkommen kann. Das
leuchtet, wie ich glaube, auch denen von uns ein, die nicht
tagtäglich in der Küche stehen und Kuchen backen.
Aber ein Mann wie Horst Seehofer hatte vorgebaut.
Weil er von diesen Unsicherheiten wusste, hat er in Art. 11
Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes eine Auffangregelung verankert. Darin ist ein klarer Verhandlungsauftrag
an die Kassen und die Ärzteschaft enthalten, dass dann,
wenn der Punktwert der Psychotherapeuten den der ärztlichen Betreuung um 10 Prozent unterschreitet, nachverhandelt werden muss.
({10})
Versuch - Irrtum - Korrekturmöglichkeit.
({11})
- Ich würde da nicht so laut schreien, Herr Schmidbauer.
Jetzt, meine Damen und Herren, kommt das, was RotGrün in eigener Machtvollkommenheit an Gesetzgebungspolitik auf den Weg gebracht hat: ein Budgetierungswahn ohnegleichen.
({12})
Sie haben uns ja nicht erst letztes Jahr mit dem GKVGesundheitsreformgesetz,
({13})
sondern bereits 1998 massiv Probleme beschert. Mit dem
so genannten GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz haben
Sie eine Budgetierung eingeläutet, die die Ausgaben der
Kassen bereits für 1999 streng begrenzt hat.
({14})
Damit durfte keine Krankenkasse in Deutschland, auch
wenn sie noch so sehr überzeugt war - das haben ja viele
Kassen gesagt -, dass das Finanzierungsvolumen für die
Psychotherapeuten zu knapp bemessen ist, mehr Geld zur
Verfügung zu stellen. Das war aufgrund Ihrer Gesetze
ausgeschlossen.
({15})
Es kommt ja noch toller, meine Damen und Herren: In
Art. 14 des ersten rot-grünen Budgetierungsgesetzes, des
so genannten Solidaritätsstärkungsgesetzes, ist geregelt,
dass die Auffangklausel des Psychotherapeutengesetzes
ausgehebelt wird.
Herr Kollege
Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schmidbauer?
Nein, ich möchte erst den
Gedanken zu Ende führen. Vielleicht kann er sich hinterher noch einmal melden.
Während des Gesetzgebungsverfahrens zum GKVSolidaritätsstärkungsgesetz wurde 1998 zunächst ein
Änderungsantrag von Rot-Grün eingebracht, der eine
Öffnung der Budgetierung gemäß Art. 11, also genau der
Auffangregelung von Horst Seehofer, vorsah. Aber da es
bei Ihnen wie üblich chaotisch zugegangen ist,
({0})
haben Sie diesen Antrag im Rahmen des allgemeinen Gewurstels wieder zurückgezogen und gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. beschlossen, dass es bei der
strengen Budgetierung bleibt. Und jetzt kommen in den
Bundesländern die Probleme hoch.
({1})
Die Frau Fischer lässt dann vom Bundesgesundheitsministerium erst einmal ganz forsch an alle Beteiligten
Briefe schicken mit dem Inhalt, dass Rot-Grün im Bundestag eine klare gesetzliche Ausgabenbegrenzung für die
Krankenkassen vorgenommen hat und es keine Ausnahmen von der Budgetierung, auch nicht für die Psychotherapie, gibt. So lautete der Inhalt der Briefe. Dann kamen
wutentbrannte Reaktionen aus den Ländern. Alle Beteiligten schimpften über die Gesetze und diesen Blödsinn
von Rot-Grün: Bundesländer, die von der SPD regiert
werden, unionsgeführte Bundesländer, Kassenärztliche
Vereinigungen, Kassen, Psychotherapeuten und am Ende
auch die Schiedsämter. Und langsam dämmert es der
Spitze des Gesundheitsministeriums, dass Rot-Grün hier
Murks beschlossen hat.
({2})
Aber die politische Spitze hat nicht den Mut, Gesetze
zu ändern, Frau Fischer, denn dann würden die Dinge ja
öffentlich bekannt werden. Nein, ein findiger Beamter
kommt auf die Idee und sagt: Wir vollziehen einfach den
Murks nicht, den wir mit der Verabschiedung von Art. 14
GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz beschlossen haben. Gesagt, getan. Dann hört man aus dem Gesundheitsministerium ganz kleinlaut: Beanstanden wir halt die Gesetzesverstöße der Kassen nicht. Sie dürfen ruhig mehr zahlen,
als im Solidaritätsstärkungsgesetz festgelegt ist. Was wäre
denn los - so wörtlich -, wenn das Bundesgesundheitsministerium einen harten Standpunkt bezieht? Was würde
dann passieren?
Man muss sich dies auf der Zunge zergehen lassen: Der
Deutsche Bundestag beschließt auf Grundlage eines Vorschlages von Frau Fischer ein Gesetz. Dann aber entscheidet die Ministerin in eigener Selbstherrlichkeit: Aus
politischen Gründen vollziehe ich dieses Gesetz nicht. Das ist die traurige Wirklichkeit bei den Psychotherapeuten.
({3})
Frau Fischer, damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir
wollen nicht, dass Sie dieses Murksgesetz vollziehen. Wir
leben aber doch nicht in einer Bananenrepublik. Wenn Sie Gott sei Dank - endlich einsehen, dass Rot-Grün mit dieser totalen Budgetierung gesetzgeberischen Mist gebaut
hat, dann haben Sie wenigstens den verfassungspolitisch
geforderten Mut, Ihre Murksgesetze zu ändern, statt nur
deren Vollzug auszusetzen. Daher werden wir das Gesetzesvorhaben der F.D.P. unterstützen, soweit es die
Vergütungssituation für 1999 betrifft.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich kann Sie
nur auffordern, hier ebenfalls mitzuziehen. Denn das Parlament muss entscheiden, was in Deutschland rechtlich
gilt, und nicht eine Ministerin, die willkürlich festlegt, ob
sie ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Gesetz
vollzieht oder nicht. Aus dieser Patsche sollten Sie Ihrer
Ministerin - wenigstens mit Verspätung - heraushelfen.
Problematischer ist im F.D.P.-Vorschlag allerdings auch diesen Punkt will ich ansprechen -, was dort an Regelungen für das Jahr 2000 vorgesehen ist. Zunächst einmal will ich die Punkte nennen, in denen wir mit der
F.D.P. übereinstimmen. Die verkorkste Situation von
1999 in Kombination mit der rot-grünen Budgetierung für
das Jahr 2000 darf nicht dazu führen, dass heuer andere
Facharztgruppen massiv geschröpft werden, um für die
Psychotherapeuten überhaupt eine angemessene Vergütung sicherzustellen. Genau das droht, wenn wir die rotgrünen Gesetze unverändert lassen.
Sie von der F.D.P. haben einen Vorschlag gemacht, der
die Budgetierung durchbricht. Aber es ist ja so, dass der
Vergütungsanteil der Psychotherapeuten von den Kassen nicht mehr aus einem gesonderten Honorartopf bezahlt wird. Er wird vielmehr in die von den Kassen in einer Summe entrichtete Gesamtvergütung für alle Fachärzte eingerechnet. Rot-Grün hat die Gesamtvergütung
für die Fachärzte der Höhe nach streng begrenzt. Das
heißt: Alle Verbesserungen in Sachen Honorar für die
Psychotherapeuten gehen zu Lasten anderer Fachärzte.
Dies ist ein Teufelskreis: Nimm dem einen, gib dem anderen; so geht es der Reihe nach um.
Als Kinder haben wir bei uns zu Hause früher „Reise
nach Jerusalem“ gespielt.
({4})
Solange die Musik spielt bzw. die Verhandlungen mit den
Krankenkassen laufen, dürfen alle um einen aus Stühlen
gebildeten Kreis herumlaufen. Wenn die Musik aufhört
bzw. die Verhandlungen mit den Krankenkassen zu Ende
sind, dann müssen sich alle hinsetzen. Aber leider ist dann
ein Stuhl zu wenig da. Das heißt, einer fliegt heraus und
ist der Dumme. Da die Stühle bzw. die Finanzmittel insgesamt begrenzt sind, muss am Ende eine Arztgruppe für
die Verbesserungen der anderen Gruppe bezahlen. Das ist
die rot-grüne Reise nach Jerusalem bzw. die rot-grüne
Budgetierung.
({5})
Die F.D.P. sieht dieses Problem; Sie aber wollen es
nicht sehen. Ich weiß, dass Sie dem Budgetierungswahn
anhängen. Trotzdem halten wir den Lösungsweg der
F.D.P. aus folgenden Gründen für unbefriedigend. Liebe
Kollegen von der F.D.P., wenn wir die Psychotherapeuten
von diesem rot-grünen Irrsinnsspiel befreien und die Leistungen außerhalb des Budgets gesondert vergüten, alle
anderen aber in diesem System bleiben sollen, dann sind
wir von CDU und CSU der Meinung, dass wir nicht nur
eine Arztgruppe bevorzugen und diese vor dem rot-grünen Budgetierungssumpf retten sollten. Es sollte vielmehr
gleiches Recht für alle gelten.
({6})
Wir möchten hier im Interesse aller gesetzlich Krankenversicherten in diesem Land ein Ende der falschen rotgrünen Budgetierungspolitik für Psychotherapeuten, für
Augenärzte, für Gynäkologen und für alle anderen Fachund Hausärzte.
Im Bereich der Psychotherapie ist eines überdeutlich
geworden: Die Budgetierung ist kein geeignetes Steuerungsinstrument für eine medizinische Versorgung, die
sich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert.
({7})
Frau Fischer, wenn Sie Ihr Angebot zu Konsensgesprächen über die Gesundheitspolitik wirklich ernst meinen und diese nicht nur aus wahltaktischen Gründen kurz
vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl platzieren, dann
verabschieden Sie sich - wie im Bereich der Psychotherapie - auch in anderen Bereichen von dem Budgetierungswahn. Dies sollte nicht nur auf dem Wege geschehen, dass Sie Gesetze nicht vollziehen, sondern Sie sollten wirklich bereit sein, aus den Fehlern der letzten Jahre
zu lernen und etwas anderes auf die Füße zu stellen. Sie
wissen selber: Unsere Vorstellungen liegen auf dem
Tisch.
({8})
- Natürlich liegen sie auf dem Tisch. Ich kann sie Ihnen
zuschicken, wenn Sie sie nicht haben. Ich bin sogar von
Herrn Schulte-Sasse aus Ihrem Ministerium angerufen
und gefragt worden, ob er diese Vorstellungen nicht mal
haben könne.
Nur mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Eigenverantwortung, zu mehr Transparenz für die Patienten, zu
mehr Wettbewerb und Gestaltungsspielräumen für die
Selbstverwaltung und zu mehr differenzierten Wahlmöglichkeiten für die Versicherten können wir die Probleme in
unserem Gesundheitswesen zukunftsgerichtet angehen,
im Bereich der Psychotherapie genauso wie in allen anderen Versorgungsbereichen.
Also laden Sie uns nicht nur zu Konsensgesprächen
ein, Frau Fischer, sondern legen Sie endlich ein Konzept
vor! Bewegen Sie sich in Sachen Gesundheitspolitik ein
Stückchen in eine vernünftige Richtung! Dann können
wir für die Menschen in Deutschland etwas erreichen. Wir
als CDU/CSU sind bereit, sachgerecht zu diskutieren.
Aber zuerst müssen Sie dazu ein Konzept auf den Tisch
legen. Sie können nicht nur aus wahltaktischen Spielchen
heraus einfach etwas in den Raum stellen, was mit null
Substanz unterlegt ist.
Ich bedanke mich, meine Damen und Herren.
({9})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Horst
Schmidbauer.
Herr Kollege
Wolf, Sie haben den genialen Vorschlag, den Herr Seehofer in Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes
formuliert hat, angesprochen. Wir finden den Vorschlag
auch gut. Wir konnten ihm deswegen seinerzeit gut zustimmen, weil das Einfügen eines völlig neuen Versorgungsbereichs in der Dimension Psychotherapie in das
Gesundheitswesen natürlich ein schwieriges Unterfangen
ist. Ich bin Ihrer Rede deshalb interessiert gefolgt, weil ich
denke, dass Sie daraus nicht die Schlussfolgerungen
abgeleitet haben, die Herr Seehofer damit verbunden hat.
In Art. 11 Abs. 2 heißt es ja: Wenn der für die Vergütung
psychotherapeutischer Leistungen geltende Punktwert
den für allgemeine Beratungstätigkeiten geltendenden
durchschnittlichen Punktwert der beteiligten Krankenkassen um mehr als 10 Prozent unterschreitet, sind die
entsprechenden Stützungsmaßnahmen vorzunehmen.
({0})
Jetzt hat diese Regierung nichts anderes gemacht, als
in dieser Situation darauf hinzuwirken, was logisch ist,
dass diejenigen, die die Aufsicht haben - das sind die Länder, wenn nicht andere Beteiligte da sind -, letztendlich
im Schiedsverfahren vor dem Schiedsgericht klären lassen,
({1})
was 90 Prozent sind. In den Ländern, in denen das geschehen ist, sind in der Zwischenzeit einigermaßen vertretbare Vergütungsstrukturen für die Psychotherapie entstanden. Ich weiß also nicht, wo Ihr Problem ist.
({2})
Die Situation der Psychotherapeuten im Jahr 1999 war
doch nicht in dem Gesetz begründet. Ich kann daher nicht
nachvollziehen, wenn Sie ableiten, dass letztendlich die
Psychotherapie in 1999 schlecht gestellt war. Und für
2000 können wir das schon überhaupt nicht nachvollziehen.
Sie haben sehr eingehend dargelegt, dass wir bei der
Psychotherapie eine zeitabhängige Tätigkeit haben. Was
Herr Seehofer bei dem Gesetz nicht vorausgesehen hat,
haben wir korrigiert, indem wir gesagt haben: Es ist völlig klar, die Grenzen dürfen bei der Psychotherapie nicht
überzogen werden. Wir müssen eine zeitabhängige
Größenordnung für die Vergütung einführen. - Wir erleben auch, dass diese zeitabhängige Vergütung zurzeit in
der Selbstverwaltung ausgehandelt wird. Jetzt kommt es
sehr darauf an zu prüfen, ob die Rechnung, die die Selbstverwaltung zugrunde gelegt hat, greift. Wenn sie richtig
angewendet wird - das ist unsere Auffassung -, werden
wir dazu kommen, dass in der Psychotherapie eine ordnungsgemäße Vergütung auch für das Jahr 2000 und die
folgenden Jahre eingeführt wird.
Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo Ihre
Probleme liegen. Dass die Vergütung der Psychotherapeuten im Rahmen der Gesamtvergütung zu verteilen ist,
haben Sie gewollt. Sie haben doch ausdrücklich ein Integrationsmodell gefordert. Danach findet Psychotherapie
in der Gemeinschaft mit ärztlichen Psychotherapeuten
und anderen Ärzten statt und deswegen ist die Vergütung
natürlich auch im Gesamtrahmen des ärztlichen Budgets
zu regeln. Das ist ein ganz normaler Vorgang, das haben
Sie politisch selbst gewollt.
({3})
Ich bedanke mich,
dass Sie sich auf die Sekunde an die Zeit für die Kurzintervention gehalten haben.
({0})
Aber daran sieht man mal wieder, wie lang eine Kurzintervention sein kann.
({1})
Zur Erwiderung hat der Kollege Aribert Wolf das Wort.
Herr Schmidbauer,
zunächst einmal: Nicht ich habe ein Problem, sondern die
Psychotherapeuten und ihre Patienten haben ein Problem.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({0})
Es ist in unserem Gesundheitswesen so, dass dort, wo
Vergütungsprobleme auftauchen, in der Regel der Patient
der Leidtragende ist, weil er dann nämlich in die eigene
Tasche greifen muss oder weil er Versorgung vorenthalten
bekommt. Das ist etwas, was Sie überhaupt nicht zur
Kenntnis nehmen wollen und womit wir in unseren Wahlkreisen immer wieder konfrontiert werden, wenn die
Menschen zu uns kommen und fragen: Ist das tatsächlich
bundesdeutsche Wirklichkeit, was ich gerade wieder beim
Arzt erlebt habe?
Zur Ihren Argumenten. Natürlich gibt es Schiedsverfahren, aber genau da beginnt das Problem, Herr
Schmidbauer. Wenn Sie sich damit einmal intensiver befassen, sehen Sie, dass bei den Schiedsverfahren die Regel ist, dass die Stützungsmaßnahmen zu einem erhebliAribert Wolf
chen Teil, mindestens hälftig, von den Kassen finanziert
werden.
Nun haben Sie Ihre tollen Budgetierungsgesetze gemacht. Und in Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes
wurde festgelegt, dass die Auffangregelung faktisch aufgehoben wird. Jetzt gibt es aber mutige Länder - rot regierte wie unionsregierte, das will ich gar nicht leugnen -,
die sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir aufgrund eines völlig verkorksten Gesetzes, das von RotGrün auf Berliner Ebene beschlossen wurde, den Psychotherapeuten nicht helfen können, dass wir sie im Regen
stehen lassen müssen. - Ich habe Ihnen die Zahlen genannt; der Auszahlungspunktwert liegt in Berlin bei 2 statt
bei 10 Pfennig. - Jetzt kommen die Länder und sagen:
Liebes Bundesgesundheitsministerium, wir beanstanden
nicht und wehe, ihr beanstandet, dann haben wir ein
großes Remmidemmi draußen.
Genau das ist der Punkt. Das alles hat auch Herr
Schulte-Sasse ausgeführt. Wenn Sie jetzt diese Schiedsverfahren nicht beanstanden und die Verstöße gegen
Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes nicht geltend
machen, obwohl Sie früher einmal einen entsprechenden
Änderungsantrag vorgesehen haben, haben wir genau den
Fall eines Versäumnisses des Gesetzgebers. Die Budgetierung zeigt, wie fatal diese Regelungen sind.
Im Hinblick auf das Jahr 2000 machen Sie es sich auch
sehr leicht. Sie hätten zuhören sollen, Herr Schmidbauer,
als ich mit Blick auf die Verteilungskämpfe von der
Reise nach Jerusalem gesprochen habe. Es ist eben immer
eine Arztgruppe betroffen. Wenn ich alles aus einem Topf
nehme und die Psychotherapeuten unterstützen will, dann
nehme ich das Geld den Gynäkologen, den Fachinternisten oder den Rheumaspezialisten weg, die es aber genauso
nötig brauchen. Hier geben Sie nur den schwarzen Peter
weiter. Damit helfen Sie zwar den Psychotherapeuten,
schaden aber den anderen.
Das wollen wir nicht tun. Deswegen sagen wir: Budgetierung ist der falsche Weg. Das sollten Sie endlich zur
Kenntnis nehmen, statt sich an einem Wahn festzubeißen,
in den Sie sich einmal hineingesteigert haben. Ich bitte darum, dass Sie hier ein bisschen die Lebenswirklichkeit in
Deutschland berücksichtigen.
({1})
Wir fahren in der
Aussprache fort. Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katrin Dagmar
Göring-Eckardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Herr Wolf, Sie haben Recht, die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten haben ein Problem. Aber das, was Sie hier abgeliefert haben, ist weder
sachgerecht,
({0})
noch kann man davon reden, dass das nicht wahltaktisch
sei. Was Sie hier abliefern, hat mit der wirklich schwierigen Situation nichts zu tun, sondern es hat damit zu tun,
dass Sie versuchen wollen, diese Debatte für Ihren Wahlkampf in NRW zu nutzen.
({1})
- Ich glaube nicht, dass in Nordrhein-Westfalen nur die
Nordrhein-Westfalen Wahlkampf machen. Bei uns ist das
jedenfalls anders; da machen alle mit.
({2})
Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen nicht viel anders
ist.
Wenn Sie hier von einem Ende der Budgetierung für
alle reden, dann haben Sie die andere Seite vergessen,
Herr Wolf. Sie haben nämlich nicht gesagt, dass das auf
der anderen Seite heißt: mehr Beiträge für alle Versicherten. Damit schieben Sie den schwarzen Peter, von dem
auch Sie hier gesprochen haben, nämlich nicht innerhalb
der Ärzteschaft hin und her, sondern Sie schieben ihn
ganz klar in Richtung der Versicherten und Patienten. Ich
kann Ihnen für diese Regierung ganz deutlich sagen: Das
werden wir nicht mitmachen. Das sage ich übrigens auch
in Richtung F.D.P.
({3})
Was Sie als F.D.P. hier abgeliefert haben, ist, ebenso
wie das, was uns von der PDS als Antrag vorgelegt worden ist, aus zwei Gründen schlichtweg ungeeignet,
({4})
die Situation der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten tatsächlich zu verbessern. Erstens. Dadurch werden die Unsicherheiten und Unklarheiten für die psychotherapeutische Vergütung, die sich aus den Übergangsregelungen für 1999 ergeben haben, nicht beseitigt, sondern
vergrößert. Zweitens. Für die Zukunft wird wieder eine
Sonderregelung für Psychotherapeuten geschaffen und
damit die Steuerungskompetenz der Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen geschwächt. Ich glaube, das können
wir alle nicht wollen.
Noch ungeeigneter finde ich allerdings das, was die
PDS vorgeschlagen hat. Denn es heißt in ihrem Antrag
nur, man habe ein Problem und die Regierung möge sich
einmal darüber Gedanken machen. So einfach können wir
es uns im Parlament nicht machen.
Doch zunächst noch einmal zur Vergangenheit: Was
genau sind denn die Ursachen für die Probleme bei der
Vergütung psychotherapeutischer Leistungen, die aus
dem Jahre 1999 resultieren?
({5})
Auch die anerkannten nicht ärztlichen Psychotherapeuten
sind mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes Teil des vertragsärztlichen Versorgungssystems geworden - mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich
bringt. Das war so gewollt. Denn in der modernen Medizin ist die Behandlung psychischer Probleme gleichberechtigter Teil der Versorgung. Deshalb war eine Integration in die Selbstverwaltung geboten.
Die im Psychotherapeutengesetz von CDU/CSU und
F.D.P. eingeführte Übergangsregelung für die Vergütung
psychotherapeutischer Leistungen im Jahre 1999 war jedoch offenbar problematisch, obwohl wir - darüber haben
Sie heute leider nicht gesprochen - mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz eine deutliche Nachbesserung in Höhe
von 140 Millionen DM ermöglicht haben - so viel übrigens zum Thema Budgetierungswahn. In diesem Gesetz
ist eine so genannte Auffangregelung für den Fall vorgesehen, dass der aus dem vorgegebenen Budget errechnete
Punktwert für eine angemessene Vergütung nicht ausreicht.
Im zweiten Halbjahr 1999 kam es dann dennoch zu einem drastischen Absinken des Vergütungspunktwertes,
weil das von den Kassenärztlichen Vereinigungen bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu 1998 zum Teil
abgesenkt wurde. Die Datenlage ist zwar nach wie vor unvollständig; das können Sie nicht leugnen, wenn Sie die
reale Situation berücksichtigen. Aber man muss davon
ausgehen - da kann ich Frau Kühn-Mengel nur zustimmen -, dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie
hätten verwendet werden sollen, in die Vergütung anderer
Arztgruppen geflossen sind. Das werden auch Sie nicht
leugnen können. Wenn man sich die Zahlen genau anschaut, dürfte das ziemlich klar sein.
Gegen Ende letzten Jahres hat die Bundesregierung mit
allen Beteiligten - auch darauf ist schon hingewiesen
worden - wegen dieser Probleme intensive Gespräche geführt. Dabei gab es Ende Januar dieses Jahres einen Konsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder. Ich finde es
richtig, dass die Aufsichtsbehörden dort, wo es weiterhin
Probleme gibt, ihre aufsichtsrechtlichen Möglichkeiten
nutzen und davon Gebrauch machen. Herr Schmidbauer
hat gerade darauf hingewiesen.
Nun zum zweiten Teil des Vorschlages der F.D.P., der
sich mit der Zukunft beschäftigt. Mit Beginn dieses Jahres haben wir, wie schon erwähnt, eine neue Situation. Die
Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist integraler Bestandteil der Gesamtvergütung für die vertragsärztliche Versorgung. Die Psychotherapeuten werden damit wie eine Arztgruppe in die Institutionen der
ärztlichen Selbstverwaltung und deren Steuerungsverantwortung eingebunden. Zu diesem Integrationsmodell
gehört auch die Honorierung psychotherapeutischer Leistungen aus der von den Krankenkassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen für die gesamte vertragsärztliche Versorgung gezahlten Gesamtvergütung. Das hat
übrigens damals auch die F.D.P. so gewollt. Mit der Gesundheitsreform 2000 hat Rot-Grün außerdem bereits gesetzlich festgeschrieben, dass aufgrund der besonderen
Tätigkeit in der Psychotherapie eine angemessene Vergütung pro Zeiteinheit zu gewähren ist.
Was die F.D.P. nun will, ist, dass psychotherapeutische
Leistungen in Zukunft faktisch außerhalb der ärztlichen
Gesamtvergütung honoriert werden sollen. Dazu kann ich
nur sagen: Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Klar
ist, dass dann die Kassenärztlichen Vereinigungen an einer Mitwirkung an den ausgabenrelevanten Steuerungsaufgaben und an einer wirksamen Bedarfsplanung kein
Interesse mehr haben werden und die Lasten allein bei den
Kassen liegen. Gerade das wollen wir nicht - weder in
diesem noch in irgendeinem anderen Fall. Dies hat übrigens nichts damit zu tun, dass man sofort handeln könnte.
Frau Kühn-Mengel hat, so glaube ich, hier detailliert
aufgeführt, welche Maßnahmen geeignet sind, welche wir
bereits ergriffen haben und wie wir - so hoffen wir jedenfalls - gemeinsam zu einer Lösung kommen.
Deshalb zum Schluss nur noch eines: Es mag Sie, liebe
Kollegen von der F.D.P., kolossal ärgern, dass wir mit
dem Solidaritätsstärkungsgesetz die Zuzahlungen für
Psychotherapien wieder abgeschafft haben. Ich nehme
an, dass Sie deshalb die Idee einer Gegenfinanzierung
wieder aufwerfen. Ob die dadurch zur Verfügung stehenden Mittel zur Gegenfinanzierung reichen würden, will
ich hier nicht bewerten. Eines ist jedoch klar: Ihr Vorschlag würde die Versicherten, die psychisch krank sind,
im Vergleich zu denen, die somatisch bedingte Erkrankungen haben, wieder benachteiligen.
Ich dachte, dass wir uns von diesem Denken bereits
verabschiedet hätten. Wir jedenfalls wollen nicht wieder
dorthin zurück. Wir wollen keine neue Zuzahlungsepoche
einläuten, sondern wir wollen eine vernünftige und sachgerechte Lösung finden. Dies gilt auch für die Zeit nach
den Wahlkämpfen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es stimmt: 1999 waren wir uns einig, dass
das Psychotherapeutengesetz die Voraussetzungen für die
psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung deutlich verbessern sollte. Wichtige Schritte dabei waren die
staatliche Anerkennung zweier neuer akademischer Heilberufe, ihre Approbation sowie der Schutz der Berufsbezeichnung.
Dabei ging es nicht allein um ein neu zu schaffendes
Berufs- und Sozialrecht. Es ging immer auch um die Stärkung sprechender und zuwendungsorientierter Behandlungsverfahren im Rahmen der gesamten gesundheitlichen Versorgung. Das kennzeichnet den Stellenwert der
heutigen Debatte um eine existenzsichernde Finanzierung
psychotherapeutischer Leistungen.
Wer auf diesem Gebiet eine bedarfsgerechte und qualitativ gesicherte Versorgung haben will, muss die Psychotherapeuten auch angemessen vergüten. Das ist aber
nicht der Fall.
({0})
Bereits im dritten Quartal 1999 wurde deutlich, dass die
gesetzlichen Regelungen für das entsprechende Honorarvolumen nicht ausreichten. Die Aufstockung durch das
GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz änderte daran nichts.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste vom BMG ein
klares Signal an die Vertragsparteien der Selbstverwaltung dahin gehend erwartet werden, dass dieses Problem
unter finanzieller Beteiligung beider Seiten gelöst werden
muss, das heißt auch durch Budgeterhöhungen seitens der
Kassen. Doch dieses Signal gab es nicht.
Stattdessen verstrickte sich das Ministerium in einen
lang andauernden Streit mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Kassen, und zwar darüber, wer
nun die zusätzlichen Mittel aufzubringen habe. Das geschah vor dem Hintergrund unterschiedlich interpretierbarer gesetzlicher Formulierungen und nicht komplett erfasster Ausgaben im Erstattungsverfahren durch die Kassen.
Liebe Kollegin Helga Kühn-Mengel, Sie sagen, unser
Antrag greife zu kurz. Ich frage Sie ganz ehrlich: Wer,
wenn nicht die Bundesregierung, hat die Pflicht, für Klarheit zu sorgen, wenn ein Gesetz nicht eindeutig formuliert
ist oder nicht sachgerecht umgesetzt wird?
({1})
Liebe Kollegin Göring-Eckardt, ich finde Ihre Polemik
gegen die PDS langsam primitiv. Wo, wenn nicht in diesem Haus, muss ein Gesetz korrigiert werden?
({2})
In diesem Fall hätten Sie wohl nur eingestehen müssen,
dass die Budgetierungspolitik, wie es zu diesem
Zeitpunkt auch schon für das Gesundheitsstrukturreformgesetz 2000 vorgesehen war, nicht funktionieren
kann. Während die Zeit verstrich, ging es für viele Psychotherapeuten längst um Sein oder Nichtsein. Auch bei
hohem persönlichen Einsatz - vielleicht sollte ich besser
sagen: trotz persönlichem hohem Einsatz - geriet eine zunehmende Zahl von Psychotherapeuten in eine Situation,
in der es nicht mehr möglich war, kostendeckend zu arbeiten, geschweige denn, sich überhaupt ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften.
In den neuen Bundesländern nahm diese Entwicklung
dramatische Formen an. Ich sage Ihnen klipp und klar:
Dort gibt es keinen Bereich, in dem Überversorgung vorhanden wäre. Dort haben wir nach wie vor Unterversorgung und es wird zunehmend mehr Geld notwendig sein,
um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
({3})
Ich möchte auch daran erinnern, dass allein im Petitionsausschuss über 3 000 Petitionen eingegangen sind. Ich
denke, dies zeigt die Not der Psychotherapeuten. Ich bitte,
hier zu berücksichtigen, dass es nicht nur um die Not der
Psychotherapeuten geht, sondern auch um die Gefährdung der Behandlung der Patienten.
({4})
Erst nach einem Jahr völliger Ungewissheit aufseiten
der Leistungserbringer kam es schließlich durch Schiedsamtentscheidungen zu einer vorübergehenden Entspannung. Das BMG hat dafür - nach unserer Meinung zu
spät - die Voraussetzung geschaffen, indem es erklärte,
dass vertragliche Vereinbarungen oder Schiedsamtsentscheidungen auch dann aufsichtsrechtlich nicht infrage
gestellt würden, wenn sie mit der Rechtsauffassung des
BMG nicht übereinstimmten. Es ist schon einmal gesagt
worden: Hier wird ein eigenes Gesetz nicht dafür in Anspruch genommen, Fehlentwicklungen zu verändern.
Ich denke, das ist eine verklausulierte Form der Zustimmung zu der jetzt vorgenommenen Budgetierung. Ich
sage Ihnen ganz ehrlich und offen: Es ist das verschämte
Eingeständnis einer völlig verfehlten Politik.
({5})
Die Probleme, werden, obwohl Sie sie im Moment
überwunden haben, in der Zukunft wieder auf dem Tisch
liegen. Denn Sie gehen nach wie vor davon aus, dass die
Honorierung nach dem Prinzip der Budgetierung erfolgen
muss.
Es gibt schon jetzt Widerstände; es gibt schon jetzt Forderungen, dass die Psychotherapeuten außerhalb des
Facharztbudgets zu honorieren sind.
Ich sage Ihnen: Es bleibt dabei. Es wird Streit geben.
Es ist Ungewissheit da.
({6})
Ich denke, die Bundesregierung bleibt aufgefordert, hier
eine verlässliche Grundlage für die Finanzierung von psychotherapeutischer Versorgung zu schaffen. Nichts anderes und nichts weniger war der Inhalt unseres Antrages.
({7})
Zu dem Antrag der F.D.P.-Fraktion äußere ich mich
dann im Ausschuss, weil Sie unsere Auffassung zum
Thema Selbstbeteiligung kennen und weil Sie wissen,
dass wir auf keinen Fall dafür sind, dass man Geld, das Patienten und Selbsthilfegruppen durch ein Gesetz bekommen, streicht.
({8})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, wir
kommen im Interesse der Patienten und der Psychotherapeuten zu einer gemeinsamen Entscheidung.
({9})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Gudrun Schaich-Walch.
Lieber verehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
natürlich klar: Wir haben ein Problem. Aber wir werden
dieses Problem nicht lösen können, solange wir nicht in
der Lage sind, das Geschehen wirklich exakt zu beurteilen. Ansonsten laufen wir letztendlich Gefahr, zu Lösungen zu kommen, die unter Umständen ebenso unzulänglich sind, wie es die damalige Budgetfestsetzung in dem
entsprechenden Gesetz, das innerhalb der Regierungszeit
der CDU/CSU und der F.D.P verabschiedet worden ist,
offensichtlich gewesen ist.
Wir haben in diesem Bereich allerdings auch nichts
versprochen, was wir letztendlich nicht gehalten haben.
Wir haben das Budget für diesen Bereich im Jahre 1998
erhöht. Wir haben in den letzten Jahren in diesem Bereich
einen Anstieg zu verzeichnen. Im Gegensatz zu dem, was
Herr Wolf hier vorgetragen hat, gibt es in diesem Bundesland keine einzige KV, die einen Punktwert von weniger als 2 Pfennig festgelegt hat. Das ist ganz einfach nicht
wahr. Im Osten besteht eine schwierige Situation, in den
West-KVen allerdings nicht. Ich gehe auch davon aus,
dass der § 11 im Gesetz letztendlich konsequent umgesetzt werden wird. Wenn dies nicht der Fall sein sollte,
muss man, denke ich, sehen, dass wir das Gesetz in diesem Bereich korrigieren werden.
Was uns aber letztendlich fehlt, ist die Tatsache, dass in
diesem gesamten Bereich keine Bedarfsplanung besteht,
dass wir - Ostdeutschland ausgenommen - sehr schwer
feststellen können, wo Überversorgung und wo Unterversorgung besteht. Wir müssen uns diese Dinge erst vorstellen können, damit wir dann auch klar sagen, was es bedeutet.
({0})
- „Wie lange soll es denn dauern?“ Sie kannten die Datenlage doch auch nicht. - Nein, eines kann nicht sein,
nämlich dass wir, wenn Überversorgung besteht,
({1})
diese Überversorgung finanzieren und nicht abbauen, indem wir die Beiträge der Versicherten erhöhen.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Das ist keine Perspektive, mit der wir arbeiten. Wenn
die Selbstverwaltung - in diesem Fall die KV - die Umverteilung des ärztlichen Honorars nicht so vornimmt, wie
es im Gesetz geschrieben steht, kann ich auch nicht sagen,
dass die Reaktion der Politik dann diejenige sein muss,
mehr Geld in das System zu investieren. Das kann auch
nicht sein.
({0})
Sie sollten hier heute auch eines zur Kenntnis nehmen:
Wir hatten noch nie einen so großen Umfang von Ausgaben im Bereich des Gesundheitswesen und eine solch hervorragende Zuwachsrate wie in diesem Jahr.
({1})
Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie letztendlich
mehr Geld ausgeben wollen, als Beiträge in diesem System aufgebracht werden. Wenn Sie mir sagen können, wie
es gehen soll, die Beiträge stabil zu halten und den Ärztinnen und Ärzten mehr Geld zu geben, muss ich Ihnen allerdings sagen, dass Sie dann eine Bombenlösung haben.
Aber wie Ihre Lösung, zu der Sie hier nichts sagen,
aussieht, kann ich Ihnen sagen: 10 DM Zuzahlung bei jedem Arztbesuch und neben hohen Versicherungsbeiträgen
eine weitere Abschöpfung durch Zuzahlung der Versicherten. Dies kann nicht funktionieren. Wir müssen klar
machen, wie die Versorgungssituation aussieht, was und
wie viel Geld wir dafür brauchen. Dies werden wir bis
zum Herbst geschafft haben.
({2})
Dann wird es auch - wenn es so sein sollte - die notwendigen gesetzlichen Regelungen geben.
({3})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Aribert Wolf das Wort.
Frau Schaich-Walch, Sie
kennen das Sprichwort: Wer schreit, hat Unrecht.
({0})
- Das freut Sie natürlich nicht.
Wenn Sie es immer noch nicht erreicht hat, obwohl es
schon vielfach in der Presse veröffentlicht war, bin ich
gerne bereit, Ihnen unser Konzept zur Gesundheitspolitik
zu schicken, in dem deutlich steht, wie wir uns die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung vorstellen:
mehr Eigenverantwortung.
({1})
- Das heißt nicht: mehr Zuzahlung!
Sie können das alles in Ruhe nachlesen, was wir machen wollen, damit wir zum einen mehr Geld ins System
bringen und zum anderen die Bürger nicht mehr abkassieren. Wir wollen dem Einzelnen eine Wahlmöglichkeit
geben, damit er sich sein Versicherungspaket zusammenstellen kann, und trotzdem einen solidarisch finanzierten
Kernbereich gewährleisten.
Wenn Sie bereit sind, dieses Papier zur Kenntnis zu
nehmen, dann werden Sie auch bereit sein, zur Kenntnis
zu nehmen: Wenn ich von 2 Pfennig spreche, dann beruht
das natürlich nicht auf meinen eigenen Erkenntnissen.
Lassen Sie sich von der AOK Berlin oder von den Ersatzkassen in Berlin die Zahlen des dritten Quartals schicken!
Ich habe von rechnerischen Punktwerten und von Auszahlungspunktwerten gesprochen. Sie werden feststellen,
dass sich für Berlin, bevor das Schiedsamt entschieden
hat, für das dritte Quartal ein rechnerischer Punktwert für
die Psychotherapeuten von 2 Pfennig im Primärkassenbereich und von 5,3 Pfennig im Ersatzkassenbereich ergab.
Anhand dessen können Sie sehen, dass das, was Sie
hier im Deutschen Bundestag behauptet haben - es gebe
keinen KV-Bereich, in dem 2 Pfennig erreicht wurden -,
unwahr ist. Ich hoffe, Sie nehmen das dann auch zurück
und akzeptieren, dass diejenigen, die unmittelbar im Gesundheitswesen beteiligt sind, doch wohl eher die richtigen Zahlen haben als wir hier im Parlament. Es schadet
nichts, wenn man sich bei den unmittelbaren Fachleuten
ein wenig informiert, bevor man solche Behauptungen
aufstellt.
({2})
Zu einer Erwiderung
die Kollegin Schaich-Walch.
Herr Wolf, ich stelle
Ihnen die Zahlen, die ich hier vorliegen habe, gerne zur
Verfügung. Allerdings ist die Spalte für Berlin noch leer,
weil die Zahlen da noch nicht vorgelegen haben.
({0})
Ich kann einmal anfangen: 8 Pfennig pro Punktwert für
Hamburg; 7,5 Pfennig für Rhein-Hessen.
({1})
- In Berlin gibt es eine Überversorgung, die grandios ist.
Wenn Sie jedem, der in dieses System kommt, ein leistungsgerechtes Gehalt garantieren wollen - was bei keinem anderen Arbeitnehmer in dieser Republik der Fall
ist -, dann wünsche ich Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber
diesen Weg gehen Sie allein.
({2})
Jetzt etwas zu Ihrem wunderbaren Zukunftsprogramm,
Ihrer Intervention für mehr Eigenverantwortung. „Eigenverantwortung“ heißt bei der F.D.P., für deren Antrag
Sie anscheinend mit gesprochen haben, eine Selbstbeteiligung von 10 DM. Was in Ihrem Papier „Eigenverantwortung“ heißt, ist nicht beschrieben. Vielmehr sprechen
Sie von „Versicherungspaketen“, ohne es bis heute geleistet zu haben - wie Sie das seit Jahren unterlassen haben -, zu konkretisieren, was ein „Versicherungspaket“
denn beinhaltet. Welche Indikationen sollen denn aus dem
Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung
ausgeschlossen werden? Welche Indikation soll denn derjenige, der seinen Beitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung zahlt, noch in der PKV zusatzversichern?
Um diese inhaltliche Ausgestaltung haben Sie sich bis
jetzt gedrückt. So lange ist Ihr Paket nichts anderes als
eine Mogelpackung.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3086 und 14/2929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. Das Haus ist damit
einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Klaus
Barthel ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Matthias Berninger, Ekin Deligöz, Hans-Josef
Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lebensbegleitendes Lernen für alle - Weiterbildung ausbauen und stärken
- Drucksache 14/3127 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch
damit ist das Haus einverstanden.
Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich gebe
zunächst für die Fraktion der SPD das Wort dem Kollegen
Ernst Küchler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Antrag zur Weiterbildungspolitik nimmt die SPD-Bundestagsfraktion ein
Thema wieder auf, das bereits in der letzten Legislaturperiode Gegenstand einer von unserer Fraktion initiierten
Debatte im Deutschen Bundestag war und das auch in der
Koalitionsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden
hat.
Die Weiterbildung, so heißt es dort, soll als vierte Säule
des Bildungssystems verankert und ausgebaut werden.
({0})
Die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens mache eine
enge Verzahnung zwischen Berufsleben und Weiterbildung erforderlich.
Nun ist der Hinweis auf die Notwendigkeit, der Weiterbildung einen deutlich höheren Stellenwert in der Bildungspolitik einzuräumen, nicht besonders originell, verfolgt man die einschlägigen Äußerungen aller politischen
Parteien, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und anderer
gesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahren. Es
vergeht kein bildungspolitischer Kongress, kaum eine
Debatte über die gesellschaftlichen und ökonomischen
Entwicklungen in unserem Land, ohne dass auf den Bedeutungszuwachs der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens hingewiesen wird.
Es macht mitunter skeptisch, wie inflationär dieser Begriff verwandt wird. Allerdings stehen die weiterbildungspolitischen Verlautbarungen und Beschlüsse aller
Ebenen - von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden
und Bildungspolitikern - in keinem angemessenen Verhältnis zum entsprechenden Engagement der öffentlichen
Hand, etwa der Länder und Kommunen. Im Gegenteil,
während der Weiterbildungssektor expandiert, stagnieren
die öffentlichen Anstrengungen, den Weiterbildungsbereich aufzuwerten und entsprechend auszustatten.
({1})
Während die Nachfrage nach Weiterbildungs- und
Qualifizierungsmaßnahmen ständig steigt - in den letzten
20 Jahren immerhin von 25 Prozent auf über 42 Prozent
der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren -, gehen die
Ausgaben der öffentlichen Hände für die Weiterbildung
zurück. Der Weiterbildungsbereich ist inzwischen - gemessen an der Inanspruchnahme - zum größten Bildungssektor geworden, und zwar auch was das Finanzvolumen angeht. Das Berichtssystem Weiterbildung weist
Aufwendungen in einem Volumen von über 80 Milliarden DM für den Weiterbildungsbereich aus.
Die in unserem Antrag noch einmal zusammengefassten Defizite im Weiterbildungsbereich, die übrigens bereits im Bericht des Bildungsministeriums unter Bildungsminister Jürgen Möllemann 1989 detailliert aufgelistet wurden, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen,
wurden bislang in der Bildungspolitik nicht hinreichend
berücksichtigt.
Einschlägige Programme und Projekte zum Abbau dieser Defizite blieben weitgehend im Versuchsstadium
stecken. Bildungspolitiker und Bildungsexperten sind
sich überraschend einig, dass der Weiterbildungsmarkt
zwar boomt, insbesondere im Bereich der beruflichen
Weiterbildung, es jedoch an der für die Nutzer und die
Weiterbildungseinrichtungen notwendigen Transparenz
mangelt, dass es einer flächendeckenden und qualifizierten Weiterbildungsberatung bedarf, dass ein System der
Qualitätssicherung und der Zertifizierung dringend erforderlich ist, dass es an einer auch unter ökonomischen Gesichtspunkten vorgenommenen Optimierung des Einsatzes der Ressourcen mangelt, dass die Professionalisierung
des Weiterbildungspersonals und der Weiterbildungseinrichtungen erhebliche Defizite aufweist, dass die Weiterbildungsforschung nicht dem Stand und der Bedeutung
des Weiterbildungssektors entspricht und - das ist das
Wichtigste - dass die allgemeine Zugänglichkeit nicht gewährleistet und die Chancengleichheit, die wir für das
Bildungssystem selbstverständlich reklamieren, im Weiterbildungsbereich nicht gegeben ist.
({2})
Das Berichtssystem Weiterbildung weist aus, dass bezüglich der Weiterbildungsbeteiligung das Gefälle je nach
Alter, Berufsstatus, Vorbildung und Geschlecht erheblich
ist. Aus sehr verschiedenen Gründen sind nach wie vor
große Teile der Bevölkerung von der Weiterbildung faktisch ausgeschlossen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht nun nicht
darum, diesen Bildungsbereich ordnungspolitisch dem
klassischen Bildungssystem und den herkömmlichen
Strukturen anderer Säulen des Bildungssystems einfach
anzupassen. Vielmehr muss aus unserer Sicht auf Bundesebene durch eine intelligente Förderpolitik und eine
Harmonisierung der Weiterbildungspolitik von Bund und
Ländern eine Weiterbildungsinfrastruktur geschaffen,
ausgebaut und gestützt werden, die Nutzer, Einrichtungen
und Träger in die Lage versetzt, flächendeckend qualifizierte Angebote und Lernmöglichkeiten zu entwickeln
und vorzuhalten, die Chancen zur Teilnahme und die Weiterbildungsmotivation zu verbessern bzw. zu stärken,
Weiterbildungsnetzwerke vor allem im regionalen Zusammenhang entstehen zu lassen und somit den Weiterbildungsbereich zu einem leistungs- und anpassungsfähigen Sektor unseres Bildungssystems zu entwickeln.
({3})
Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm
„Lebensbegleitendes Lernen für alle“ erste wichtige Akzente gesetzt und Entwicklungsstränge aufgezeigt, die mit
weiteren Programmen und Projekten in den kommenden
Jahren systematisch weiterzuentwickeln sind. Die Förderung einschlägiger Projekte weist hier den richtigen Weg
und zeigt, dass die Bundesregierung die Initiative zur
Stärkung des Weiterbildungsbereiches ergriffen hat.
Wir sind uns durchaus der Schwierigkeiten bewusst,
die sich aus der Kompetenzverteilung zwischen Bund
und Ländern sowie aus der spezifischen Rolle der Tarifparteien in diesem Bereich und der Bundesanstalt für Arbeit ergeben. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Weiterbildung im Bündnis für Arbeit, im Forum Bildung und in
der Konzertierten Aktion ein Thema ist, denn dort sind die
Verantwortlichen vertreten. Dort werden die Zusammenhänge von schulischer Bildung, beruflicher Ausbildung
und Weiterbildung, von allgemeiner und beruflicher Bildung angemessen zu diskutieren sein.
({4})
Unser Antrag zielt nicht auf eine bundeseinheitliche
staatliche Reglementierung ab, sondern auf eine Weiterbildungspolitik, die über Anreize und abgestimmte Aktivitäten etwa in Form von Vereinbarungen, Förderprogrammen und Projekten versucht, das System der Weiterbildung und Qualifizierung aufzuwerten und zu optimieren.
Auch bei der Novellierung einschlägiger Gesetze - ich
nenne hier nur das SGB III, das Meister-BAföG und das
Betriebsverfassungsgesetz - wird der Weiterbildung ein
angemessener Stellenwert beigemessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir an
dieser Stelle auch einen kritischen Hinweis auf zwei in der
Weiterbildungsdiskussion häufig verwandte Begriffe, die
Begriffe des „lebenslangen Lernens“ und der „Eigenverantwortung“. Inzwischen gehört es zum Allgemeingut,
dass sich Menschen in unserer Informations- und Wissensgesellschaft notwendigerweise ein Leben lang weiterbilden und qualifizieren müssen, wollen sie nicht den
Anschluss an die gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklungen verlieren.
Angesichts der raschen Veränderungen im Beruf, in der
Gesellschaft, in der Medienlandschaft sowie in den Lernund Kommunikationsstrukturen müssen wir dem Prinzip
des lebenslangen Lernens zwar zum Durchbruch verhelfen, ihm jedoch den mitunter bedrohlichen Charakter nehmen. Es ist nämlich eine Chance und nicht nur eine
Pflicht, sich weiterzubilden.
({5})
Wir müssen vielmehr auf Motivation, auf Neugier und auf
das Lernen als einen reizvollen und Erfolg versprechenden Prozess setzen. Gerade die neuen Medien, die die
Lernprozesse und damit auch die Bildungseinrichtungen
grundlegend verändern, eröffnen die Chance für kreatives, schnelles, flexibles und zeitgemäßes Lernen an den
unterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zeiten und mit vielfältigen Methoden: zu Hause, im Betrieb,
in Weiterbildungseinrichtungen, individuell und in Lerngruppen.
({6})
Online und offline, in den unterschiedlichsten Lernarrangements kann gelernt, können Informationen verarbeitet und neue Qualifikationen erworben werden. Selbst gesteuertes und informelles Lernen werden sich in die klassischen Lernstrukturen einpassen.
Dabei kommt der „Eigenverantwortung“ - um auf
den zweiten Begriff zu sprechen zu kommen - des Einzelnen eine größer werdende Bedeutung zu. Das kann
nicht bedeuten, dass die Eigenverantwortung - auch was
die Finanzierung der Weiterbildung angeht - die öffentliche Verantwortung für den Weiterbildungsbereich, die
Weiterbildungsangebote und die Weiterbildungseinrichtungen ablöst. Vielmehr müssen Eigenverantwortung und
öffentliche Verantwortung angemessen korrespondieren.
({7})
Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass sich die öffentliche Hand teilweise aus der Finanzierung von Weiterbildungseinrichtungen und -angeboten
zurückzieht und den an Weiterbildungsveranstaltungen
Teilnehmenden weitgehend die Finanzierung überlässt.
Dies ist in einer Zeit, in der wir die Verantwortung jedes
Bürgers für seine Weiterbildung anmahnen und die Teilnahme an Qualifizierung und Weiterbildungsangeboten
einfordern, ein falsches Signal.
Wir fordern daher die Entwicklung von Modellen zur
Weiterbildungsfinanzierung, die als Anreizsysteme für
eine breite Weiterbildungsbeteiligung dienen. Die entsprechenden Stichworte hierzu sind Gutscheinsysteme, Bildungskonten und Freistellungsregelungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch einmal kurz auf einige in unserem Antrag
formulierte Forderungen zu sprechen kommen: Die
Schaffung und die Förderung regionaler Kooperationsverbünde sowie die Vernetzung der Weiterbildungseinrichtungen und -anbieter, wie sie im Netzwerkprojekt der
Bundesregierung angedacht sind, finden unsere Zustimmung. Diese Netzwerke werden zur Optimierung der Angebote, der Teilnahme und Teilhabe, der Qualitätssicherung und der Beratung beitragen. Dabei darf es nicht bei
kurzatmigen und vereinzelten Netzwerkversuchen bleiben. Vielmehr müssen solche Vorhaben dauerhaft,
flächendeckend und strukturbildend sein.
({8})
Die Bundesanstalt für Arbeit und das Bundesinstitut
für Berufsbildung, die eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Weiterbildungssystems spielen, müssen diesem Bildungssektor eine größere Aufmerksamkeit widmen, damit insbesondere die berufliche Weiterbildung
und Qualifizierung verlässlich weiterentwickelt werden.
Versuche zur Optimierung der Weiterbildungsangebote, wie sie zum Beispiel in anderen Ländern bereits
mit Erfolg praktiziert werden - ich nenne hier nur die
Stichworte Jobrotation, Stiftung „Weiterbildungs-Test“,
Weiterbildungsaudit und verschiedene Formen der individuellen Weiterbildungsförderung und -finanzierung -,
können dazu beitragen, für Nutzer, Betriebe und Weiterbildungseinrichtungen Angebote noch attraktiver zu
machen. Qualitätssicherungssysteme sollen erprobt und
später flächendeckend eingesetzt werden. Der Weiterbildungsforschung muss eine deutlich höhere Bedeutung zukommen.
({9})
Grundlage für alle Akteure ist ein verlässliches und
brauchbares Informationssystem. Dieses fördert nicht nur
die Transparenz, sondern auch den Qualitätswettbewerb
unter den Weiterbildungsanbietern.
Die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Weiterbildungsstatistik hat verdeutlicht,
wie diffus und unvermittelt die unterschiedlichen Weiterbildungsstatistiken und Berichtssysteme derzeit noch nebeneinander stehen, übrigens auch ein Defizit, das bereits
im Berichtssystem 1989 beschrieben worden ist, allerdings ohne Konsequenz.
({10})
Auch für eine solide Weiterbildungspolitik ist eine differenzierte, verlässliche und interpretationsfähige Datenbasis unerlässlich. Wir fordern deshalb auch eine Ergänzung des Berufsbildungsberichts um ein ausführliches
Kapitel zur beruflichen Weiterbildung.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn die Reden
und Beschlüsse auf Parteitagen und Bildungskongressen
nicht nur Sonntagsreden und Antragsmakulatur bleiben
sollen, muss Weiterbildungspolitik einen festen Platz im
Bewusstsein nicht nur der Bildungspolitiker erhalten.
Weiterbildungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die
Bildungspolitikerinnen und -politiker, Sozial- und Wirtschaftspolitikerinnen und -politiker gleichermaßen angeht.
Unterstützen Sie unseren Antrag und tragen Sie dazu
bei, dass er nicht in der Akte „Wiedervorlage in der nächsten Legislaturperiode“ verschwindet.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Als nächster Redner
spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Werner
Lensing.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die am
tiefsten greifenden sozialen und ökonomischen Veränderungen unserer Gesellschaft sind bekanntlich eine fortschreitende Globalisierung von Produktion und Märkten,
zahlreiche durchgreifende Veränderungen von Form und
Inhalt der Arbeit, dazu die grenzüberschreitende Mobilität, offene Beschäftigungsverhältnisse und schließlich ein
häufiger Berufswechsel. Die dadurch notwendig gewordene Anpassung beruflicher Kompetenz weist der Gestaltung eines kontinuierlichen lebensbegleitenden Lernens
in der Tat eine zentrale Rolle zu.
({0})
Je schneller sich der soziale, technische und wirtschaftliche Wandel vollzieht, je tiefer greifend sich die Anforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt ändern, desto
zwingender wird für die betroffenen Menschen der Aufbau zeitgemäßer Wertvorstellungen, innovativer Fähigkeiten und neuer Überlebensstrategien.
Dies scheint nun endlich - ich denke, Herr Tauss, Sie
stimmen mir gleich auch noch zu - auch die rot-grüne Regierungskoalition begriffen zu haben, nachdem bisher seit
dem Regierungswechsel zumindest in der Weiterbildungspolitik viel zu wenig geschehen ist.
({1})
Vergleicht man den vorliegenden Antrag auf Drucksache 14/3127 mit roten oder grünen Papieren der Vergangenheit, so muss man heute neidlos anerkennen, wenn
auch mit Verwunderung: Selbst die rot-grünen Initiatoren
scheinen in der Tat weiterbildungsfähig zu sein.
({2})
Waren doch deren vergangenen Entwürfe durchgängig
geprägt von den veralteten Vorstellungen der 70er-Jahre das haben Sie, Herr Küchler, eben angesprochen -, so
muss man heute neidlos anerkennen: Man hat gelernt,
dass man mit Formen des institutionalisierten Lernens unter staatlicher allgegenwärtiger Aufsicht nichts bewirken
kann.
Zur allgemeinen Verblüffung erkennt nun auch RotGrün nach viel zu langem Zaudern: Mit Mitteln des
Staatsdirigismus und der Planwirtschaft sind die realen
Entwicklungen einer hoch komplexen und global vernetzten Industriegesellschaft nicht in den Griff zu bekommen. Dass Sie das gelernt haben, ist wunderbar.
So entdeckt man auch im neuen Antrag eine ganz neue
Sprache - für mich völlig überraschend. Hier wird zum
Beispiel - man höre und staune - eine alte CDU/CSUForderung zu einem neuen Leitbild erhoben.
({3})
Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, dass Zitat die Eigenverantwortung der am Lernprozess
Beteiligten als grundlegendes Prinzip zur Gestaltung
der Lernprozesse neu bestimmt
wird.
({4})
- Er ist ja von uns abgeschrieben worden. Von daher verstehe ich das auch sehr gut.
Und selbst folgender - für Rot-Grün außerordentlich
bemerkenswerter Satz ist zu finden - ich zitiere wieder
mit Vergnügen -:
({5})
Die Stärkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem
Lernen ist eine der wesentlichen Aufgaben zukünftiger Bildungspolitik und Bildungspraxis.
({6})
Bei solch geballter Weisheit kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider - und dies
muss ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt werden - blitzt
diese neue Erkenntnisfähigkeit nur vereinzelt auf und
wird keineswegs in der nötigen Konsequenz durchgehalten. Denn ein dringender Paradigmenwechsel, der aller
Orten angesichts einer immer enger werdenden Verzahnung von beruflicher Tätigkeit und lebenslangem Lernen
zu Recht gefordert wird und der zudem von der Institutionsbeschreibung zur Funktionsdarstellung führt, kurzum:
ein solch längst überfälliger Paradigmenwechsel wird
von der Koalition nicht erkannt, geschweige denn in
ihrem Antrag berücksichtigt. So viel Konsequenz hätte
mich im Übrigen auch erstaunt.
Doch eines muss klar sein, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Mobilisierung bisher bildungsbenachteiligter Gruppen, so wichtig diese ist, und die Verwirklichung „lernender Regionen“ reichen eben nicht aus.
({8})
Die zahlreichen, eher bieder anmutenden Vorschläge
des Antrages bleiben bedauerlicherweise an der Oberfläche und werden den tatsächlichen Veränderungen nicht
gerecht. Weil wir bei der CDU/CSU all das, was wir behaupten, auch beweisen,
({9})
möchte ich fünf Einwände formulieren.
Einwand eins. Der von Rot-Grün gern beschworene integrative Ansatz - von Ihnen auch erwähnt, Herr Küchler einer wie auch immer gearteten Synthese von allgemeiner, beruflicher und politischer Weiterbildung hat sich
schon längst als eine politideologische Luftnummer erwiesen.
({10})
Reden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, einmal mit den Menschen der neuen
Bundesländer über diese vermeintliche integrative Weiterbildung. Die Menschen werden Sie fragen: Habt ihr
denn gar nichts gelernt? Es ist ja schließlich Weiterbildung gefragt.
Einwand zwei. Ihr vermeintlich so moderner Vorschlag, ein Netzwerk „Lernende Region“ aufzubauen,
entspricht, wie die Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen
bis Sonntag ganz eindeutig beweisen, bedauerlicherweise
reinem Wunschdenken.
Einwand drei. Ihr Angebot, geeignete Finanzierungsinstrumente zur Deckung vor allem individueller Weiterbildungskosten zu schaffen, klingt großzügig. Berücksichtigt man jedoch, dass zwei Drittel der Kosten von den
Betrieben übernommen werden, 15 Prozent die Bundesanstalt für Arbeit bezahlt und der übrig bleibende eigenfinanzierte Anteil von lediglich 15 Prozent zudem noch von
der Steuer abgesetzt werden kann, erkennt man die wahre
Größenordnung Ihres scheinbar so reichhaltigen Angebotes.
Einwand vier. Weil Sie alle so sprachlos zuhören, trage
ich es gerne vor. Das von Ihnen vorgeschlagen Akkreditierungssystem ist ein uralter Hut der 70er-Jahre und
kaum realisierbar, vor allem, wenn man bedenkt, dass die
weitaus meisten Weiterbildungsmaßnahmen auf betrieblicher Ebene stattfinden.
Einwand fünf: Ihre Absicht, die Bund-Länder-Kooperation im Bereich der Weiterbildung auszubauen, erscheint in der Tat löblich. Aber Sie führen mit keiner Silbe
aus, auf welche Weise und auf welcher Basis die enge
Zusammenarbeit zwischen dem Bund, allein zuständig
für die berufliche Bildung, und den Ländern, allein zuständig für die allgemeine Bildung, im Detail funktionieren soll.
Eine Weiterbildungspolitik, die den hochgradig vernetzten und sich weiterhin differenzierenden Lebensbedürfnissen entsprechen soll, sollte sich von vier Prinzipien
leiten lassen, nämlich von der Eigenverantwortung, der
Selbstorganisation, der marktwirtschaftlich geprägten dezentralen Steuerung und natürlich auch von der Subsidiarität.
({11})
Ich verspreche Ihnen, dass wir uns trotz unserer Bedenken konstruktiv, wie man das von uns zu Recht erwarten kann,
({12})
an der Arbeit im Ausschuss beteiligen werden.
Die CDU/CSU stellt hierbei vier wesentliche Forderungen: Erstens. Wir brauchen mehr selbst organisiertes
Lernen, und zwar auf der Basis flexibler Angebote beruflicher Bildungsinstitutionen.
Zweitens. Wir benötigen mehr praxisbezogenes Lernen. Dies macht die Entwicklung neuer arbeitsintegrierter Formen der Weiterbildung im betrieblichen Ablauf erforderlich.
Drittens. Wir wünschen mehr IuK-gestütztes Lernen.
Dazu ist wiederum unter anderem eine stärkere Nutzung
der immensen Möglichkeiten der modernen Multimediatechniken erforderlich.
Viertens. Schließlich und endlich sind verstärkte Anstrengungen bei der Überwindung der drohenden gesellschaftlichen Bildungskluft gefordert. Dazu benötigen wir
neben anderem auch eine zuverlässige Diagnose der individuellen Weiterbildungsbedürfnisse.
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.
Wenn ich Ihnen einen
Gefallen damit tun kann, komme ich natürlich zum
Schluss. Aber das mag ich gar nicht glauben, Herr Präsident.
Sie tun
uns allen einen Gefallen, wenn Sie zum Schluss kommen.
({0})
Es geht doch um die
Bildung, Herr Präsident.
Der Schlusssatz als Krönung meiner Rede, meine Damen und Herren und vor allen Dingen Herr Präsident, lautet: Bildung ist in jeder Beziehung das eigentlich Humane,
das den Menschen auszeichnet und ihn zu einem geordneten, selbstbestimmten und Zufriedenheit stiftenden Zusammenleben befähigt. Weiterbildung ist zu wichtig, um
auf dem Altar der politischen Auseinandersetzung geopfert zu werden.
Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir an Gutem angetan haben.
({0})
Die vorgegebene Redezeit darf auch unterschritten werden, zumal zu einer späten Stunde.
({0})
Ich gebe das Wort nun dem Kollegen Matthias
Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
dem Vorredner aufmerksam zugehört hat, dann hat man
den Eindruck gewonnen, dass der Regierungswechsel
geradezu ein katastrophaler Einschnitt für die Weiterbildungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland gewesen sei.
Nun, Herr Kollege Lensing, wenn man sich das anschaut, was der so genannte Zukunftsminister qualitativ
und quantitativ in der letzten Legislaturperiode zustande
gebracht hat, dann muss man einfach feststellen: Er mag
zwar einige Dinge für wichtig gehalten haben, aber Weiterbildung gehörte sicherlich nicht dazu. Um sie hat er
sich nicht gekümmert.
({0})
Insoweit halte ich die Behauptung für ziemlich weit hergeholt, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag von
ihm abgeschrieben hätten. Wenn sie das getan hätten,
wäre der Stillstand in diesem Bereich fortgesetzt worden.
Das hätte sich auch in dem Antrag ausgedrückt.
({1})
Ich sehe einmal davon ab, dass im Weiterbildungsbereich relativ wenig passiert ist, und wage den Ausblick auf
das, was in den nächsten 20 Jahren vor uns liegt. Zwei
Zahlen sind sehr eindrucksvoll und sollten auch in einer
solchen Debatte unbedingt genannt werden, weil sich mit
ihnen das Ausmaß der Veränderungen, vor denen das
Bildungssystem steht, verdeutlichen lässt. Heute sind
12 Millionen Menschen unter 30 Jahre. In 20 Jahren werden es noch 8 Millionen Menschen sein. Zu diesem Zeitpunkt wird jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland älter als 40 Jahre sein. Alle Prognosen besagen, dass sich die
Wirtschaft in diesem Zeitraum ganz massiv und radikal
wandeln wird. Das heißt, immer ältere Menschen müssen
einen immer schneller voranschreitenden Wandel in irgendeiner Form erstens verkraften, und zweitens dürfen
sie sich nicht von ihm überrollen lassen. Wenn man sich
dies vergegenwärtigt, dann weiß man, wie bedeutsam das
Thema Weiterbildung in den nächsten Jahren sein wird.
Auch deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierung
in dem Bereich durch wesentliche Maßnahmen Akzente
setzen möchte.
({2})
Das Tempo, das die rot-grüne Koalition derzeit anschlägt, reicht nicht aus, um die vor uns stehenden Herausforderungen tatsächlich schon meistern zu können.
Innerhalb der Koalitionsfraktionen ist keiner selbstgefällig; aber wir denken, dass wir auf einem guten Weg sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Technische Entwicklungen werden die Bildung völlig verändern. Die Bundesregierung hat ein Programm angekündigt - das ist wirklich
ein sehr wichtiger Schritt -, in dem es um die Entwicklung
von Lernsoftware geht. Es geht darum - darüber haben
wir heute schon an anderer Stelle debattiert, als wir über
die Gefahren von Viren im Internet diskutiert haben -,
diese Entwicklung für den Bildungsbereich nutzbar zu
machen.
({3})
Das passt genau zu dem, was auch der Kollege Lensing
gesagt hat - wir sind uns darin einig -: Lernen ist ein Vorgang, der von den Individuen abhängt; die Individuen
müssen möglichst selbstbestimmt etwas leisten.
({4})
Das ist durch die neuen Medien noch besser möglich, weil
man, zumindest teilweise, ortsunabhängig lernen kann.
Wir sind in Deutschland aber technologisch und in der
Frage, wie man solche Lerninhalte vermittelt, nicht gerade an der Spitze. Wir müssen Anstrengungen unternehmen.
Zumindest in den vier Jahren, in denen ich während Ihrer Regierungszeit im Bundestag war - in anderen Ländern war diese Entwicklung in vollem Gange -, hat man
im Bildungsministerium eher gähnend dagesessen. Das
mag damit zusammenhängen, dass Herr Rüttgers keinen
Computer in seinem Büro hatte. Jedenfalls muss man mit
hohem Tempo etwas verändern.
400 Millionen DM, die dafür eingesetzt werden sollen,
sind kein Pappenstiel, wenn man sich die Beträge anschaut, die wir ansonsten in dem Antrag zu den Weiterbildungsprogrammen, die die Bundesregierung aufgelegt
hat, erwähnt haben. Die Summe ist im Vergleich zu Vorherigem deutlich größer, weil wir riesige Lücken
schließen und gegenüber anderen Ländern aufholen wollen.
({5})
Man sollte darüber reden, dass lebenslanges Lernen
natürlich nicht das Gleiche wie eine lebenslange Haftstrafe ist; stattdessen sollte man den Menschen etwas anderes vermitteln. Für meine Begriffe ist lebenslanges Lernen eine positive Entwicklung: Es geht darum, dass man
nicht mehr mit 15, 16 oder 17 Jahren oder nach dem Studium einen Beruf ergreift und ihn sein ganzes Leben lang
ausübt; vielmehr wird man in Zukunft die Chance haben,
mehrere Berufe erlernen und sein Leben auf dem Gebiet
der Erwerbstätigkeit ändern zu können. Es ist wichtig,
deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft, die lebenslang lernt, den Menschen letzten Endes mehr Freiheiten
gibt als eine Gesellschaft, die den Menschen irgendwann
einmal zu einer Ausbildung verhilft und sie nur dazulernen lässt, wenn es beispielsweise neue Maschinen gibt;
ansonsten bleibt man in derselben Firma am selben Arbeitsplatz.
Ich sehe eine solche Gesellschaft eher positiv, wenngleich sie für die Menschen mit Unsicherheiten verbunden ist. Nur, auch das ist eine Entwicklung, die nicht so
weit entfernt ist. Über 24 Millionen Menschen nehmen in
Deutschland jährlich an Weiterbildungsangeboten teil.
Das heißt, Weiterbildung findet schon statt, egal, ob wir
das hier diskutieren oder nicht.
Ich glaube aber, dass sich die Qualität der Weiterbildung sehr radikal verändern wird. Meine Einschätzung
ist, dass meine Generation ein zweites Mal wird an die
Hochschulen zurückgehen müssen. Wer in den 80er- oder
in den 90er-Jahren einen Hochschulabschluss gemacht
hat, der wird wahrscheinlich im Laufe seines Berufslebens noch einmal den Weg zur Hochschule finden müssen. Man wird, ganz anders als die Generationen davor,
sehr viel dazulernen müssen. Das bedeutet, dass Hochschulen ihren Umgang mit dieser Art von Studenten völlig verändern müssen. Die Hochschulen müssen lernen,
dass sie nicht mehr nur Orte der Erstausbildung sind; vielmehr werden die Themen „Weiterbildung“ und „Ausbildung von berufstätigen Menschen“ auch dort immer
wichtiger.
Ich sehe die Gefahr - Sie haben sie ebenfalls angesprochen - der Zuständigkeiten von Bund und Ländern. Mit genau diesen Zuständigkeitszuordnungen wird
aus meiner Sicht zu häufig Untätigkeit begründet, nach
dem Motto: Eigentlich dürfen die anderen nichts tun, weil
man selbst zuständig ist. Ein anderer Versuch, Untätigkeit
zu begründen, besteht darin, den anderen entsprechende
Zuständigkeiten zu übertragen.
Die Hochschulen selbst müssen lernen: Es wird immer
weniger junge Menschen geben, die an die Hochschulen
kommen, weil ihre Zahl in Deutschland abnimmt. Wenn
die Hochschulen weiterhin wie bisher bestehen wollen,
dann müssen sie aus meiner Sicht Anstrengungen unternehmen, auch Erwachsenen gute Angebote zu machen.
Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es dabei zwei
sehr unangenehme Botschaften gibt. Die eine unangenehme Botschaft beim lebenslangen Lernen ist, dass es das ist schon heute so - nicht völlig kostenlos zu haben ist.
Die zweite unangenehme Botschaft besteht darin, dass die
Situation wohl nicht eintreten wird, dass die Betriebe die
beruflichen Fortbildungen komplett bezahlen werden.
Ebenso wenig wird es so sein, dass der Staat die Kosten
der beruflichen Weiterbildungsangebote vollständig übernehmen wird.
Vor diesem Hintergrund halte ich die in unserem Antrag formulierte Forderung, dass die Bundesregierung
konzeptionell darüber nachdenken muss, wie man Menschen in die Lage versetzen kann, Weiterbildungsangebote anzunehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie
mehr oder weniger wohlhabend sind, für sehr wichtig.
Bündnis 90/Die Grünen sind daher der Meinung, dass
man ähnlich wie Bausparen oder ähnlich wie Altersvorsorge auch die Bildungsvorsorgeleistungen begünstigen
muss. Wenn Bildung so wichtig ist wie ein Dach über dem
Kopf, dann ist Bildungssparen aus meiner Sicht ein
ebenso wichtiges Thema wie das Thema Bausparen. Hier
müssen Veränderungen auch im Denken her.
All das, was ich an Entwicklungen beschrieben habe
und worüber wir uns auch einig waren, muss dazu führen,
dass man auch in anderen Politikbereichen sein Denken
deutlich verändert.
Der Präsident bedeutet mir, dass ich seine Anregung,
die Redezeit zu unterschreiten, nicht befolgt habe. Dafür
bitte ich um Entschuldigung, höre jetzt aber auch auf.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank,
dass Sie sich so freuen, dass ich heute schon zum dritten
Mal vor Ihnen stehe.
({0})
In der Tat, es ist so, und ich freue mich auch über den Einstieg in die Diskussion zum Thema „Lebensbegleitendes
Lernen“.
Ich glaube, uns allen ist klar, dass zukünftig in der Weiterbildung in der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft ganz andere Anforderungen, ja Herausforderungen bestehen als bisher. Dabei stehen nicht mehr so
sehr individuelle beziehungsweise ökonomische Lernbedürfnisse im Vordergrund, sondern eine dauerhafte enge
Verzahnung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, Beruf und Weiterbildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Der polnische Erziehungswissenschaftler Suchodolski
hat in seiner Veröffentlichung „Lifelong Education at the
Crossroads“ aus dem Jahre 1979 geschrieben, dass lebenslanges Lernen zur Schicksalsfrage für das Überleben
der Menschheit wird. Der Club of Rome hat die Hinwendung zur Erforschung, Entwicklung und Förderung
menschlicher Lernprozesse sowie die Verbesserung von
Lernmethoden und Lernhilfen als den entscheidenden
Ansatz zur menschlichen Zukunftssicherung bezeichnet.
Bereits 1973 hatte eine entsprechende Kommission,
die von der UNESCO eingesetzt worden war, festgestellt,
dass traditionell Schulen und Bildungseinrichtungen
weltweit nicht in der Lage seien, die noch etwa zu 50 Prozent brachliegenden Begabungspotenziale zu mobilisieren. Im UNESCO-Bericht wurde deutlich gemacht, dass in
der modernen Lerngesellschaft bestehende Bildungseinrichtungen ihre Bildungsmonopolstellung verlieren werden.
Sie sind aber immer noch die wichtigste Komponente in
einem Lernnetzwerk. Dieses Lernnetzwerk ist das Geflecht, das den Rahmen für lebenslanges Lernen zusammenhalten wird.
Wollen wir dieses Geflecht erfolgreich knüpfen, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, müssen
dem grundlegende Bildungsreformen in Deutschland vorausgehen. Das ist an dieser Stelle noch einmal meine
Botschaft an Sie, dort, wo Sie Verantwortung in den Ländern haben, diese Bildungsreformen auch durchzuführen.
Das betrifft erstens die Verbesserung des Niveaus der
allgemein bildenden Schulen. Die Profilbildung aller
Schulformen einschließlich jener der Hauptschule muss
gestärkt werden. Wir haben immerhin fast ein Viertel
Ausbildungsabbrecher in Deutschland und das hat meines
Erachtens auch damit zu tun, dass wir bestimmte Schulformen, wie die Hauptschule, vernachlässigen.
({1})
Zweitens muss die Qualitätssicherung der Schul- und
Berufsbildung im Vordergrund stehen. Auch das gehört zu
den dringend notwendigen Bildungsreformen und ist eine
wichtige Voraussetzung, um die Weiterbildung in Gang zu
bringen. Wir brauchen eine stärkere Hinwendung zum
selbstständigen projektorientierten Lernen,
({2})
wir brauchen eine Allgemeinbildung, die auf traditionelle
Kulturtechniken setzt, aber auch auf Medienkompetenz,
Teamfähigkeit und eine allumfassende Allgemeinbildung,
die auch Mathematik, Naturwissenschaften und Technik
in den Vordergrund stellt.
({3})
Nicht zuletzt sei erwähnt, dass es Riesendefizite bei der
Ausstattung und der Unterrichtsversorgung an den Schulen in Deutschland gibt.
Ich will Ihnen anhand einer Studie, die in Schweden
gemacht wurde, verdeutlichen, dass dort circa 20 Prozent
der Topmanager aus der Wirtschaft durch ihre eigenen
Kinder das Surfen im Internet gelernt haben. Was heißt
das für die Weiterbildung? Diese Studie macht deutlich,
dass zukünftig das situative, natürliche Lernen aller Menschen in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen gestärkt werden muss. Das Ad-hoc-Lernen wird mehr denn
je bei der Erwachsenenbildung zur Kompetenzentwicklung und zur Bewältigung von neuen Lebenssituationen
beitragen, wie sie die Informationsgesellschaft von heute
auf morgen mit sich gebracht hat.
Zu den Reformen gehört aber auch die Vernetzung von
Schule und Wirtschaft. Da nenne ich nur beispielhaft das
Modell Baden-Württemberg, das Projekt „Surreale
Schule“, bei dem berufsbezogene Projekte bereits in die
allgemein bildenden Schulen getragen werden.
({4})
Der Sinn der dualen Ausbildung besteht in der rechtzeitigen Verknüpfung von allgemein bildenden Schulen mit
der Wirtschaft bis in den Weiterbildungsbereich hinein.
Die nächste wichtige Reform umfasst meines Erachtens die Vernetzung von Aus- und Weiterbildung. Es geht
um Lernen im Beruf und nicht als Beruf, wie Bundespräsident Herzog es schon einmal sagte. Damit meine ich,
dass kürzere Ausbildungszeiten im ersten Lebensabschnitt und permanentes Lernen in allen Lebenssituationen in einer sich rasant entwickelnden, global orientierten
Welt notwendig geworden sind.
({5})
Last, but not least ist die europäische Vernetzung von
Aus- und Weiterbildung angesichts eines EU-Binnenmarktes unerlässlich. Dafür hat der Lissabonner Gipfel
Grundlagen gelegt. Sie kennen beispielsweise den EuroPass in der Berufsausbildung. Aber auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben machen. Das ist meine Botschaft
in diesem Zusammenhang.
Ein Gesamtkonzept für lebenslanges Lernen ist unverzichtbar, wenn wir das Auseinanderdriften zwischen einer
immer komplexer werdenden globalen Welt und den entsprechend entwickelten Kompetenzen der Menschen verhindern wollen.
Die Chancen der Menschen zu verbessern und sie sie
erkennen zu lassen heißt zum einen, in ihre Köpfe zu investieren, zum anderen aber auch - das betone ich und da
stimme ich Herrn Berninger zu -, sie mehr als bisher zu
eigenverantwortlichem selbstständigen Lernen zu erziehen. Ihr Aktionsprogramm „Netzwerke Lebensbegleitendes Lernen“ ist da der richtige Anstoß, aber eben keine
ganzheitliche Lösung. Hierfür muss die Politik die längst
überfälligen Bildungsreformen auf den Weg bringen. Ansonsten wird Ihr Konzept zum lebensbegleitenden Lernen
reine Rhetorik bleiben. Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Maritta
Böttcher von der PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich diesen Antrag gelesen habe, habe ich mir überlegt, was er eigentlich
an Neuem enthält. Ich bin zu dem Schluss gekommen,
dass er nichts enthält, was die Regierung und das zuständige Ministerium veranlassen könnten, auf dem Gebiet
der Weiterbildung etwas anders zu machen, als sie es
ohnehin bereits tun. Wollte man in den Koalitionsparteien
die Zustimmung zur Weiterbildungspolitik der Bundesregierung zum Ausdruck bringen, so erscheint mir ein Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür als die ungeeignetste Form. Da hätte vielleicht ein Glückwunschschreiben ausgereicht.
({0})
Die absehbare Wirkungslosigkeit dieses Antrages, obgleich er ja von der Mehrheit dieses Hauses getragen wird,
lässt sich an allen seinen Teilen festmachen:
Die unumstritten wachsende Bedeutung der Weiterbildung wird so begründet, wie es die Regierung der neuen
Mitte am liebsten sieht, nämlich im Unterschied zu
mancher Sonntagsrede aus der verengten Sichtweise der
Standortdebatte heraus.
Die aufgelisteten und allseits bekannten Defizite im
Bereich der Weiterbildung unterliegen damit ebenfalls einer verengten Sicht. Für den Abbau selbst dieser ausgewählten Defizite gibt es keinen konkreten Vorschlag, sondern lediglich eine allgemeine Beschreibung des Wünschenswerten.
Der Hauptteil unter Abschnitt 2 liest sich wie eine Presseerklärung des BMBF - ich sage das jetzt einmal so - zur
Erläuterung von Projekten, die das Ministerium in Aussicht stellt.
An der Stelle, wo die Einbringer des Antrags die Bundesregierung schließlich doch noch auffordern, etwas zu
tun, läuft das im Grunde auf eine Forderung hinaus, die zu
nichts verpflichtet, nämlich dieses oder jenes zu prüfen.
Dabei halte ich es, Herr Catenhusen, außerdem für sehr
bedenklich, wenn die Bundesregierung diese Sachverhalte tatsächlich noch nicht geprüft haben sollte.
Die Antragsteller hoffen, durch punktuelle Anstöße das
Weiterbildungssystem in die richtigen Bahnen zu lenken.
Ich halte das, gelinde gesagt, für eine wirklichkeitsfremde
Illusion. Wir müssen den gesamten Weiterbildungsbereich systematisch strukturieren. Um dies zu erreichen,
muss der Bund endlich seine Kompetenz auf diesem Gebiet voll ausschöpfen. Er täte das nach unserer Meinung
am konsequentesten durch die Vorlage eines entsprechenden Rahmengesetzes.
({1})
Ein solchermaßen gesteckter Rahmen hätte die Funktion,
den Zugang aller zu einem lebenslangen Lernen sowohl
rechtlich als auch materiell auf gleichem Niveau zu sichern, die demokratische Mitwirkung der Lernenden für
die inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Weiterbildung im gesamten Bundesgebiet gleichermaßen zu gewährleisten, die Weiterbildung mit der ebenfalls bundesrechtlich geregelten beruflichen und universitären
Ausbildung sowie mit den zahlreichen Formen der
Arbeitsförderung sinnvoll zu verzahnen und schließlich
einheitliche Mindeststandards hinsichtlich Qualität, Transparenz und Zertifizierung in der Weiterbildung festzulegen.
Mit der Forderung eines solchen Rahmengesetzes geht
es uns nicht darum, der im Antrag betonten „Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden“ den alles regulierenden Staat gegenüber zu stellen. Aber Eigenverantwortung in der Weiterbildung darf nicht, wie es der
Antrag nahe legt, vorrangig auf die Eigenfinanzierung zur
dauerhaften Erhaltung und Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals reduziert werden.
({2})
Eigenverantwortung muss sich auf die Entfaltung aller
Fähigkeiten und Potenzen des Einzelnen beziehen und darüber hinaus dessen umfassende demokratische Mitwirkung bei der Bestimmung von Bedingungen, Inhalten und
Zielen der Weiterbildung beinhalten.
Von einem solchen Ansatz aus müssen die Akzente in
einer rahmengesetzlichen Regelung auch anders gesetzt
werden, als das im vorliegenden Antrag der Fall ist. So
notwendig es ist, das Weiterbildungssystem hinsichtlich
Träger, Koordination, Qualität, Transparenz, Zertifizierung usw. zu optimieren: Noch dringlicher sind eindeutige
Regelungen, die es jedem und jeder auch tatsächlich ermöglichen, dieses System kontinuierlich zu nutzen. Aufschlussreich ist doch zum Beispiel, dass mangels entsprechender gesetzlicher Regelungen in einigen Ländern viele
Beschäftigte nach wie vor keinen Anspruch auf bezahlten
Bildungsurlaub haben und dass von denen, die ihn haben,
nur etwa 3 Prozent davon Gebrauch machen.
Die PDS kann und wird vieles unterstützen, was von
verschiedenen Seiten, einschließlich der Bundesregierung, zur Erhöhung der Effizienz der Weiterbildungsinstitutionen vorgeschlagen wird. Ihren Schwerpunkt sieht sie
jedoch darin, sich auf Seiten der Lernenden für solche Bedingungen einzusetzen, die es allen ermöglichen, die Weiterbildungsangebote entsprechend anzunehmen.
({3})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine letzte Bemerkung,
Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, über
eines sollte frühzeitig Klarheit herrschen: Angesichts der
Dimension eines lebenslangen Lernens ist die Realisierung dieser Aufgabe gewiss mit beträchtlichen Kosten
verbunden. Sie ist jedoch sowohl für den Einzelnen wie
für die Gesellschaft von existenzieller Bedeutung.
({0})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige konstruktive Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktionen versteht die Bundesregierung als Ermutigung und als
Auftakt für eine intensive parlamentarische Begleitung
des Weges hin zur schrittweisen Verwirklichung des Prinzips vom lebensbegleitenden Lernen.
({0})
Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist in den Ländern,
bei den Sozialpartnern, bei den Trägern und Verbänden in
der konzertierten Aktion Weiterbildung, im Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und auch
in der Bund-Länder-Kommission erfreulich groß. Es ist
erstaunlich, dass die alte Bundesregierung im letzen Jahrzehnt diese Chancen nicht genutzt hat.
Wir befinden uns in einer Situation, in der die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen erfreulicherweise wächst;
denn unter den 19- bis 64-Jährigen nutzt heute schon
jeder Zweite die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Die
Teilnahme an allgemeiner beruflicher Weiterbildung da sind wir uns ja alle einig - ist dabei gleich wichtig. Allein für die berufliche Weiterbildung wenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern jährlich 2 Milliarden Stunden
für Kurse und Lehrgänge auf. Tag für Tag bilden sich
durchschnittlich etwa 1 Million Menschen im erwerbsfähigen Alter in der einen oder anderen Form beruflich
weiter. Dabei ist informelles Lernen am Arbeitsplatz und
selbst organisiertes Lernen, auch in verschiedenen sozialen Zusammenhängen und Projekten, statistisch bisher
nur unzureichend erfasst.
Ohne Übertreibung lässt sich also feststellen, dass wir
bereits auf dem Wege zu einer lernenden Gesellschaft
sind, wie sie jetzt von der UNESCO, der OECD und auch
der EU als Leitbild vorgeschlagen wird. Warum also heute
diese Debatte? Warum legen wir so viel Wert darauf, dass
lebensbegleitendes Lernen für alle Menschen selbstverständlich werden muss? Was sind die neuen Herausforderungen, auf die wir neue Antworten finden müssen? Auf
diese Fragen will ich Ihnen nur zwei Antworten geben.
Erstens. Wir müssen davon ausgehen, dass bei einer
Nichtbeteiligung an kontinuierlichem „Lernen ein Leben
lang“ für den einzelnen Menschen und für seine Familie
die Gefahr der Ausgrenzung aus allen gesellschaftlichen
Bereichen wächst.
Zweitens. Der Strukturwandel unserer Gesellschaft
und Wirtschaft kann nur mithilfe einer alle Gruppen
einschließenden Entwicklung lebensbegleitenden Lernens bewältigt und sozialverträglich gestaltet werden.
({1})
Hiervon, Kolleginnen und Kollegen, hängen sowohl
die Innovationsfähigkeit als auch der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft immer stärker ab. Zwischen diesen beiden Polen der Stärkung und Entfaltung individueller Möglichkeiten und auch der Zunahme und Veränderung gesellschaftlicher Anforderungen muss das
Bildungssystem sich weiterentwickeln.
Notwendig ist daher die Mobilisierung aller, vor allem
bildungsferner und benachteiligter Gruppen, und auch die
schrittweise Verwirklichung des Konzeptes „Lernende
Regionen“. Dies sind die beiden strategischen Ansatzpunkte einer Bildungspolitik der Bundesregierung, die
Lernen ein Leben lang ermöglichen und fördern will.
Lebensbegleitendes Lernen für alle kann natürlich nur
realisiert werden, wenn alle Bildungsbereiche mit allgemeinen, politischen, kulturellen und beruflichen Inhalten
in ein integratives Konzept einbezogen werden. Kollege
Lensing, ich glaube, das Gegeneinandersetzen allgemeiner, beruflicher und politischer Weiterbildung ist ein
falscher Ansatz. Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung der Menschen brauchen wir Angebote auf allen Feldern. Wenn sie stärker miteinander vernetzt und aufeinander bezogen werden, umso besser.
({2})
Auch ist eine stärkere Kooperation zwischen Bildungsanbietern und Bildungsnachfragern insbesondere in
den Regionen notwendig. Wir müssen alle Anstrengungen
unternehmen, um unser Bildungssystem offen zu halten,
weitere Chancen zu ermöglichen, Durchlässigkeit zu gewährleisten, Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung zu verstärken und nicht zuletzt auch das
System der individuellen Förderung erwachsenengerecht
weiterzuentwickeln.
Herr
Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?
Ja.
Bitte
schön, Herr Lensing.
Herr Staatssekretär,
ich beziehe mich auf Ihre Äußerung im Hinblick auf den
integrativen Ansatz. Ich habe erhebliche Bedenken, die
drei Säulen der allgemeinen, der beruflichen und der politischen Weiterbildung, die Sie angesprochen haben, zu
integrieren, vor dem Hintergrund der schmerzhaften Erfahrungen in der früheren DDR, wo dieses Modell erprobt
worden ist. Daher erklärt sich auch meine Bemerkung von
vorhin.
({0})
Dass es erhebliche Bedenken gibt, merken wir schon an
der Unruhe auf der - von mir aus gesehen - rechten Seite.
({1})
Ich weiß es auch aus entsprechenden Bemerkungen aus
den Bildungskreisen der ehemaligen DDR.
Geschätzter Kollege Lensing, mir ist nicht ganz verständlich,
wieso Sie einen Zusammenhang sehen zwischen den
Angeboten politischer Weiterbildung in der Bundesrepublik, in dem freien Deutschland, sowie den Prinzipien und
der Praxis so genannter politischer Indoktrination in der
ehemaligen DDR. Ich kann Ihnen bei diesem Gedanken ehrlich gesagt - nicht folgen.
({0})
- Ja.
Wir sind in dieser Entwicklung zwei erste konkrete
Schritte gegangen. Am 1. April dieses Jahres konnte erstmals in der über 30-jährigen Geschichte der gemeinsamen
Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommission ein
Modellversuchsprogramm zum lebenslangen Lernen
auf den Weg gebracht werden. Dieses Programm mit
14 Modellversuchen, für das in den nächsten fünf Jahren
25 Millionen DM aufgewendet werden, die je zur Hälfte
von Bund und Ländern getragen werden, basiert auf einer
gemeinsam in der BLK entwickelten Programmbeschreibung. Die Länder sind bereit, mit uns auf einer
programmatischen Grundlage die Rahmenbedingungen
dafür zu erproben, wie auf der einen Seite Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden und auf der
anderen Seite die Vernetzung hin zu einem eher nachfrager- und nutzerorientierten Bildungssystem geschaffen
werden können.
Das sind auch die Ziele, die wir als Bundesregierung
mit unserem geplanten Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ verfolgen. Frau Ministerin
Bulmahn hat dazu auf der Plenarsitzung der von uns wiederbelebten konzertierten Aktion „Weiterbildung“ entsprechende Schritte angekündigt.
Den Kern unseres Aktionsprogramms bildet das Programm „Netzwerke lebensbegleitenden Lernens“,
dessen strategische Bedeutung für den Aufbau lernender
Regionen offensichtlich ist. Wir freuen uns, dass die Länder dieses anerkannt und unsere Absicht zur Förderung
von Netzwerken ebenso wie die konzertierte Aktion
„Weiterbildung“ begrüßt haben.
({1})
Wir beabsichtigen, Projekte zur Vernetzung auf der
Grundlage einer mit den Ländern noch abzuschließenden
Vereinbarung noch vor der Sommerpause auszuschreiben. Die Europäische Union, die auch weitere beschäftigungspolitisch begründete Programme zur Kompetenzentwicklung und zur Benachteiligtenförderung kofinanzieren wird, wird dieses Netzwerkprogramm voraussichtlich mit rund 10 Millionen DM pro Jahr unterstützen. Das heißt, wir können in den nächsten fünf
Jahren im Rahmen dieses Programms rund 150 Millionen DM zielgerichtet für die Entwicklung lernender Regionen in Deutschland einsetzen.
({2})
Zu den Förderschwerpunkten zählen insbesondere die
breitere Anwendung von für die Nutzer transparenten
Qualitätssicherungsverfahren; die Zertifizierung von
Qualifikationen, möglichst unter Einschluss von Kompetenzen, die in informellen und selbst organisierten Lernprozessen erworben wurden; die Verbesserung der Beratung und die Motivierung insbesondere bildungsferner
und benachteiligter Gruppen; die Förderung neuer Lehrund Lernkulturen und eines insgesamt lernförderlichen
Umfeldes.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Lenke?
Ja,
bitte.
Bitte
schön, Frau Lenke.
Herr Staatssekretär, das sind ja
Ziele, die eigentlich zu unterstützen sind. Was sagen Sie
aber dazu, dass das Land Niedersachsen zum Beispiel Erwachsenenbildungsmittel in den Haushalten in den letzten Jahren ständig gekürzt hat und auch im Bildungsbereich der Schulen und Hochschulen ständig weniger Mittel zur Verfügung stehen?
({0})
- In der Erwachsenenbildung in Niedersachsen sind seit
1990 ständig die Mittel gekürzt worden. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen, ob das nicht Ihre guten Ideen konterkariert.
Ich
höre erstens Widerspruch vonseiten sozialdemokratischer
Abgeordneter aus Niedersachsen. Das sollten Sie als
Niedersachsen erst einmal untereinander diskutieren. Als
Parlamentarier aus Nordrhein-Westfalen kann ich in unserem Lande keinerlei Diskussion in dieser Richtung feststellen. Ich denke, es gilt für alle Bundesländer die Bemerkung, die Herr Küchler vorhin gemacht hat, dass es
nämlich in der Frage der Förderung der Weiterbildung in
dem einen oder anderen Land Diskussionen gibt, die hinsichtlich einer Prioritätensetzung für die Weiterbildung
nicht immer im vollen Glanze wünschbarer politischer
Gestaltung stehen. Aber dieser Diskussion soll sich jedes
Bundesland selbst aussetzen.
Die beiden angesprochenen Maßnahmen sollen den
Start zu einer Ausweitung der Aktivitäten des Bundes bilden. Wir freuen uns sehr, dass wir im Ausschuss auch weitere Prüfaufträge des Koalitionsantrages beraten können.
Dann sollten wir gemeinsam in die Debatte über einige
wichtige Fragen eintreten, etwa die Fragen: Was können
wir bezüglich der Weiterbildungsforschung tun? Was
müssen wir in der Weiterbildungswerbung mit den Ländern und Kommunen zusammen tun? Wie sieht es mit der
Qualitätssicherung und der Verzahnung beruflicher und
außerberuflicher Weiterbildung aus?
Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen.
Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir im Bereich der betrieblichen Weiterbildung, die Kollege
Lensing zu Recht angesprochen hat, mit den Tarifpartnern im Bündnis für Arbeit bereits Vereinbarungen
über Ziele und Maßnahmen zur Qualifizierung und Weiterentwicklung der beruflichen Weiterbildung getroffen
haben. Das kann auch der Union helfen, ihre Position weiter zu bestimmen. Ich habe mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen, dass Versuche zur Beschreibung der Leistungen der früheren Bundesregierung auf diesem Gebiet
nicht unternommen worden sind.
Schönen Dank.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich dem
Kollegen Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Land wie
die Bundesrepublik Deutschland, das nur über wenige ertragreiche Rohstoffe verfügt, kann sich im weltweiten
Wettbewerb nur dann behaupten, wenn es den Investitionen in sein Humankapital eine herausragende Bedeutung
beimisst. Bildung ist - darüber sind wir uns sicherlich einig - das Megathema der kommenden Jahre.
Wenn es heute um einen ganz konkreten Antrag der
Regierungsfraktionen zum Thema lebensbegleitendes
Lernen und zum Ausbau der Weiterbildung geht, stelle ich
etwas Erfreuliches fest, nämlich dass sehr viele Positionen mit denen in unserem Antrag, den wir bereits 1999
zum Thema Ausbildung und Qualifizierung für junge
Menschen eingebracht haben, identisch sind. Das möchte
ich hier anerkennen und deutlich machen. Denn ich
glaube, das Thema ist in höchstem Maße konsensfähig,
wenn wir uns der neuen Herausforderung des lebensbegleitenden Lernens stellen, um im neuen Jahrtausend neue
Wege zu gehen.
({0})
Damals habe ich in der Debatte sehr deutlich auf die
neuen Herausforderungen hingewiesen. Das ist zum Beispiel der technologisch bedingte Strukturwandel in Gesellschaft und Wirtschaft, die bereits stattfindende digitale
Revolution im Informations- und Kommunikationszeitalter. Jetzt ist es unsere Aufgabe, die daraus resultierenden
neuen Herausforderungen anzunehmen. Insoweit wird es
im zuständigen Ausschuss in vielen Punkten eine, so
glaube ich, interessante und spannende Beratung geben.
Zunächst möchte ich ein paar Anmerkungen machen,
die man nicht so sehr semantisch sehen sollte. Es handelt
sich eher um systematische Aspekte. Zu dem Arbeitsthema Weiterbildung bzw. lebensbegleitendes Lernen
für alle muss ich sagen: Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Weiterbildung der Bildungssektor ist, auf
dem ausschließlich lebensbegleitendes Lernen stattfindet.
Ich als Pädagoge sehe das ein wenig anders. Unsere Forderung hat schon immer gelautet: Alle Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, alle Bildungs- und Ausbildungssysteme müssen eine Kultur des lebensbegleitenden Lernens entwickeln.
({1})
Gerade heute in der Wissensgesellschaft geht es nicht darum, immer mehr zu lernen. Es geht vielmehr um die
Kompetenz, das Richtige zu lernen. Das ist ein gewaltiger
Unterschied. Ich glaube, dass gerade in diesem Bereich
die Weiterbildung und das lebensbegleitende Lernen einen neuen Stellenwert erhalten.
({2})
Unsere Kinder und Jugendlichen müssen also bereits in
der Schule an das Lernen in irgendeiner seiner vielen Formen herangeführt und dazu motiviert werden.
({3})
Wenn wir es nicht schaffen, in der Schule zu vermitteln,
zu lernen, wie man lernt,
({4})
dann werden wir diese Menschen in späteren Jahren mit
noch so vielen Weiterbildungsprogrammen und -einrichtungen nicht mehr motivieren können.
({5})
Ich gehe davon aus, dass in der Bildungspolitik drei
neue Zielsetzungen zu sehen sind. Für mich gibt es über
das hinaus, worüber wir bisher diskutiert haben, drei Zielsetzungen, die in die jetzigen Diskussionen mit eingeflossen sind: zum Ersten den verantwortungsbewussten Umgang mit den neuen Medien - was man mit den neuen
Medien anstellen kann, das haben wir in den letzten Tagen trefflich erlebt -, zum Zweiten eine ausgeprägte
Fremdsprachenkompetenz und zum Dritten die Befähigung zum lebensbegleitenden Lernen.
Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass
bereits die Grundschule diese Bereiche berücksichtigen
muss. Neben den klassischen Grundfertigkeiten Lesen,
Schreiben und Rechnen müssen bereits dort die Methoden
einer modernen Wissensaneignung eine zentrale Bedeutung erlangen. Ich gehe davon aus, dass damit auch die
Fähigkeit zur Eigenverantwortung, die soeben auch vom
Herrn Staatssekretär angesprochen wurde, und zur Selbstorganisation des Lernens von Anfang an in den Mittelpunkt gerückt werden muss.
Wir haben doch festzustellen, dass sich gerade viele
Kinder aus lern- und bildungsfernen Schichten, wie
auch Sie, Herr Staatssekretär, das formuliert haben, vor
dem Lernen - das zeigen empirische Forschungen - geradezu scheuen. Dies tun sie auch als Erwachsene, weil ihnen die Schule das Lernen als wichtigste Quelle der Erneuerung in allen Lebensbereichen und als Quelle der Lebensbereicherung nicht oder nur unzureichend vermittelt
hat. Was dort nicht geleistet wurde, kann man unter Umständen in vielen Fällen später nicht mehr gutmachen.
Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist: Wir sollten
uns sehr differenziert mit der Forderung nach lebensbegleitendem Lernen für alle auseinander setzen. Denn wir
sollten allen Talenten bzw. allen Begeisterungsmöglichkeiten der Einzelnen gerecht werden. Wir sollten auch
nicht Gruppen ausmachen, die dafür vielleicht nicht motivierbar sind. Sie haben in Ihrem Antrag Frauen, Mütter,
Väter und Benachteiligte ohne Bildungsabschlüsse erwähnt. Diese haben es sehr schwer, sich in dieser Richtung zu aktivieren. Ich gehe aber davon aus, dass wir den
alten Grundsatz beherzigen sollten, die Menschen in ihren
individuell ausgeprägten Begabungen, Fähigkeiten und
Talenten so zu nehmen, wie sie sind. Dabei dürfen wir
nicht irgendwelchen Vorurteilen aus der Vergangenheit
aufsitzen.
Es kann heute beispielsweise nicht mehr behauptet
werden, Frauen würden sich in diesen Bereichen nicht
aktiv betätigen. Wir wissen, dass Weiterbildung für die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Frauen heute ebenso ein Thema ist wie für die Älteren.
Wir müssen dabei zunächst einmal den Weg für die Kinder ebnen. Gerade die jungen Menschen sollten gezielt
gefördert, aber auch angemessen gefordert werden. Das
ist eine alte Grundthese unserer Bildungspolitik.
({6})
In diesen Bereichen kann es natürlich nicht nur um die
Jugend gehen. Bei dem heute in allen Bereichen und besonders auf dem Arbeitsmarkt festzustellenden Verdrängungswettbewerb wird es auch künftig unter der älteren
Generation - das ist bereits von Diskussionsrednern angesprochen worden - immer mehr Menschen geben, die
als so genannte Modernisierungsverlierer gelten, weil sie
diesem oft gnadenlosen Verdrängungswettbewerb nicht
standhalten konnten.
Wenn wir heute in Deutschland fast eine Million Arbeitslose über 55 Jahre haben, ist das eine riesengroße gesellschaftspolitische Herausforderung.
({7})
Wir müssen daher dem Bereich der Qualifizierung älterer
Arbeitnehmer einen neuen Stellenwert einräumen. Unser
Motto, das wir sowohl in unserem Antrag als auch heute
Morgen in der Debatte verdeutlicht haben, lautet: Lieber
mit 50 weiterqualifizieren als mit 60 in Rente!
({8})
Herr Kollege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.
Abschließend
einige Anmerkungen zu dem, was wir im Ausschuss diskutieren sollten. Wir sollten uns im Ausschuss mit der Innovation der beruflichen Bildung, den Maßnahmen zum
Zusammenspiel des dualen Systems und der Weiterbildung befassen sowie zum Ausbau des dualen Systems bekennen. Wir sollten auch die Frage stellen, inwieweit Zertifizierung und Differenzierung von Abschlüssen künftig
neu umgesetzt werden können.
Ich darf dabei im Zusammenhang mit der beruflichen
Bildung an das DIHT-Satellitenmodell erinnern. Ich
glaube, auf dieser Basis kann man weiter diskutieren. Ich
gehe davon aus, dass wir Sie von der SPD dafür begeistern können, obwohl wir das schon einige Male im Ausschuss ohne Erfolg versucht haben.
({0})
Herr Kollege Wiese, Sie haben die Redezeit weit überzogen. Ich
bitte Sie, jetzt wirklich den letzten Satz zu sprechen.
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident.
Ich gehe davon aus, dass wir uns miteinander ohne
große Auseinandersetzungen auf den Weg in die bereits
vorher erwähnte lernende Gesellschaft begeben sollten,
den wir kritisch begleiten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3127 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wiederspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({0}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Hauptstadtkulturförderung
- Drucksache 14/3182 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich darauf
hinweisen, dass die Reden zu den beiden noch ausstehenden Tagesordnungspunkten nach einer Vereinbarung zu
Protokoll gegeben werden. Ich setze voraus, dass Sie damit einverstanden sind.
Ich bitte, bei der Aussprache die vorgegebenen Redezeiten einzuhalten. Es scheint hier ein Wettbewerb zu bestehen, wer die Zeit am meisten überziehen kann. Das
bringt nichts.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner
hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag zur
Hauptstadtförderung die parlamentarische Befassung mit
einem Thema herbeiführen, die längst überfällig und
durch die intensive öffentliche, auch publizistische Diskussion der letzten Wochen natürlich nicht zu ersetzen ist.
Es geht bei diesem Thema weder finanziell noch konzeptionell um eine Marginalie der Kulturförderung des
Bundes, sondern um einen zentralen Bestandteil. Nicht
nur für die Hauptstadt hat dieses Thema vitale Bedeutung,
sondern auch für den Bund. Im Kern geht es, unter
Berücksichtigung der föderalistischen Strukturen dieses
Staates, um das Selbstverständnis des Kulturstaates
Deutschland. Wir reden, wenn wir uns nichts vormachen
und die eigentlichen Dimensionen dieses Themas in den
Blick nehmen, beim Thema Hauptstadtförderung zugleich über das Thema Kulturföderalismus und darüber, was wir uns darunter eigentlich vorstellen.
Heinz Wiese ({0})
Von dem neuen Berliner Kultursenator Christoph
Stölzl, dem ich auch von dieser Stelle alles Gute für die
Übernahme seines Amtes und allen im gemeinsamen Interesse angestrebten Erfolg wünsche,
({1})
stammt aus einem Interview der letzten Tage der wunderschöne Satz: „Die Kulturhoheit der Länder ist im Lande
Berlin nur eine sehr unzureichende Beschreibung der
Lage.“
Lieber Herr Stölzl, dieser Satz wäre auch dann noch
richtig, wenn Sie den ausdrücklichen Bezug auf Berlin gestrichen hätten. Denn die Kulturhoheit der Länder ist nur
eine unzureichende Beschreibung unserer Lage, so wie um es vollständig zu sagen - schon der Begriff „Kulturhoheit“ eine unzutreffende Beschreibung des Verhältnisses des Staates zur Förderung von Kunst und Kultur darstellt.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ganz offensichtlich nicht nur um Geld, eher geht es auch um eine
Menge Geld. Das Volumen der Bundesförderung wird
seit Jahren notorisch unterschätzt und mit dem eher kleinlichen Streit um einige Millionen DM mehr oder weniger
verniedlicht. Insgesamt stellt der Bund, wenn man die
verschiedenen Förderinstrumente zusammen nimmt, was
in diesem Zusammenhang natürlich erfolgen muss, mit
fast 500 Millionen DM und damit mit knapp einer halben
Milliarde DM fast die Hälfte aller in Deutschland verfügbaren Kulturfördermittel des Bundes für die Hauptstadt
zur Verfügung. Ich sage dies auch deswegen, weil damit
die gelegentliche öffentliche Quengelei aus der Berliner
Lokalszene - wie ich finde: hinreichend - widerlegt ist
und wir uns auf das konzentrieren sollten, was den Streit
wirklich lohnt.
Der Bund hat Berlin in der Vergangenheit weder allein
noch im Stich gelassen. Er wird dies auch in Zukunft nicht
tun. Darüber gab und gibt es zwischen Regierung und Opposition Konsens. Dies war vor dem Regierungswechsel
so und ist nach dem Regierungswechsel so geblieben. Ich
finde, das ist überhaupt die wichtigste und unverzichtbare
Gesprächsbasis innerhalb des Bundestages für die Verhandlungen, die gegenwärtig zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat stattfinden.
Nach meinem Verständnis gibt es in diesem Zusammenhang drei grundsätzliche Fragen: Erstens. Warum
überhaupt gibt es Hauptstadtkulturförderung? Zweitens.
Wofür im Konkreten gibt es sie? Drittens. Wie viel wird
dafür aufgebracht?
Die Beantwortung der ersten Frage ist, jedenfalls nach
unserem Verständnis, nach dem gemeinsamen Verständnis aller Kulturpolitiker der Fraktionen in diesem Haus,
die einfachste. Wegen der begrenzten Redezeit und der
Ermahnung des Präsidenten, uns an dem Wettbewerb um
deren Überschreitung möglichst nicht zu beteiligen,
schenke ich mir die Begründung. Wir alle sind davon
überzeugt, dass der Kulturstaat Deutschland auch und gerade in der Hauptstadt erkennbar sein muss.
Bei der Beantwortung der Frage, wofür diese Hauptstadtförderung stattfindet, müssen wir in aller Ruhe, aber
auch sorgfältig darüber nachdenken, welche Adressaten
denn geeignet sind und richtiger- und notwendigerweise
eine solche Kulturförderung bekommen sollten.
Bei der Beantwortung der Frage nach dem „Wie viel?“,
also nach der richtigen Dotierung, werden wir uns sofort
mindestens darauf verständigen können, dass, gemessen
an den begründeten Ansprüchen, immer zu wenig zur Verfügung steht.
({3})
Weil dies aber so ist, will ich auch hinzufügen, dass es
durchaus begründete Zweifel daran gibt, ob in der Vergangenheit alle Bundesmittel immer genau da angekommen sind, wo sie Kunst und Kultur in der Hauptstadt fördern sollten.
Haushaltsrechtlich wie kulturpolitisch reicht es nicht
aus, den Nachweis zu führen, dass die Fördermittel des
Bundes in Berlin restlos ausgegeben worden sind. Ein
bisschen mehr würden wir nicht nur gerne wissen, sondern vor allen Dingen sichergestellt haben. Wir brauchen
Transparenz und Plausibilität, nicht nur im Verhältnis des
Bundes zu Berlin, sondern auch im Verhältnis zu den anderen Ländern und zu den kulturpolitisch engagierten
Kommunen, die wir in Deutschland Gott sei Dank haben.
Für die Union ist eine überzeugende Hauptstadtkulturförderung wie übrigens auch eine Fortführung der Förderung für die Bundesstadt Bonn unverzichtbar. Indem ich
das eine wie das andere anspreche, mache ich zugleich
deutlich: Für uns kommt eine Reduzierung der Kulturförderung des Bundes auf Hauptstadtförderung selbstverständlich nicht in Betracht. Wir sind uns darüber einig,
dass die Kriterien einer solchen Förderung sein müssen:
die künstlerische und kulturpolitische Bedeutung und die
nationale und internationale Relevanz. Glücklicherweise
gibt es nicht nur in Berlin Kultureinrichtungen von nationaler und internationaler Bedeutung. Und nebenbei: Nicht
jede Berliner Kulturinstitution hat nationale und internationale Bedeutung.
({4})
Das Selbstbewusstsein der Berliner Intendanten hat zweifellos Weltniveau, der Leistungsstand der von ihnen geführten Opernhäuser und Theater nicht immer. Die Eitelkeit der Betroffenen kann aber nicht Förderkriterium sein.
Die letzte Runde der öffentlichen Diskussion, die sich
ja auch in vielen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften, die sich erfreulicherweise an dieser Diskussion beteiligen, niedergeschlagen hat, hat bei mir gelegentlich den
Eindruck erzeugt, als sei Berlin die Übernahme jeder Einrichtung durch den Bund recht, wenn der Bund nur deren
Kosten übernimmt, während umgekehrt der Bund solche
Berliner Kultureinrichtungen für besonders geeignet für
die Bundesförderung hält, bei denen viel Glanz und wenig Ärger zu erwarten ist. Ich will ganz deutlich sagen:
Beides genügt den Ansprüchen an ein überzeugendes
Förderkonzept nicht. Eine Spur anspruchsvoller darf es
schon sein.
Wir, die CDU/CSU, sind aufgeschlossen für die beabsichtigte Änderung der Fördersystematik. Es gibt in der
Tat gute Gründe für die institutionelle Förderung anstelle
der bisherigen Töpfchenwirtschaft. Dagegen ist die bisher
vorliegende Liste dringend diskussionsbedürftig.
Ich halte es beispielsweise für ausgeschlossen, dass bei
den Berliner Festspielen mit der Nachfolge eines ungewöhnlich verdienstvollen Intendanten, der hoffentlich einen ähnlich überzeugenden Nachfolger findet, alles so
bleibt wie bisher und man im Übrigen tut, als habe sich
die Geschäftsgrundlage nicht wirklich fundamental verändert.
Ich halte es für dringend diskussionsbedürftig, ob es
wirklich plausibel ist, dass der Bund in die Förderung des
Jüdischen Museums - das als Berliner Stadtmuseum geplant war - institutionell einsteigt, während er für die
„Topographie des Terrors“ eine ähnliche Verantwortung
ablehnt. Wenn überhaupt, wäre die umgekehrte Entscheidung allemal eher plausibel.
({5})
Aus unserer Sicht ist der Zusammenhang zu wahren bzw.
herzustellen zwischen der Dokumentation des jüdischen
Lebens in Deutschland und in Berlin, der „Topographie
des Terrors“ als der „nationalen Endlösung der Judenfrage“ und dem Holocaust-Museum, also dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, wobei diese drei
Einrichtungen im Übrigen, wie es ein guter Zufall fügt,
auch städtebaulich auf einer Achse liegen.
Was das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bzw. die
Berliner Philharmoniker angeht, so ist es nicht plausibel, dass sich der Bund massiv direkt und indirekt in die
Förderung der Berliner Orchesterszene einschalten will,
aber jegliche Verantwortung für Musiktheater wie
Sprechtheater kategorisch ablehnt. Da ist das Interesse am
Glanz und dem Vermeiden von Risiken offenkundig ausgeprägter als die Konsistenz eines nur schwer erkennbaren Konzeptes.
Aus unserer Sicht, meine Damen und Herren, liegen
vier Säulen einer Hauptstadtkulturförderung nahe, über
die wir in den nächsten Wochen weiter sprechen wollen:
erstens - das versteht sich fast von selbst - nationale Gedenkstätten und zweitens die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Letztere ist als Institution Gott sei Dank unstreitig,
wenngleich ich ein Nachdenken darüber nicht nur für erlaubt, sondern für überfällig halte, ob nicht eine Neuordnung der Bund-Länder-Beteiligung bei der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz auch eine überzeugendere Dokumentation unseres Verständnisses von nationalem Erbe
und der Pflege und Förderung von Kunst und Kultur in
Deutschland unter den Bedingungen des Kulturförderalismus sein könnte.
({6})
- Ein großes Thema, Herr Tauss, das uns sicher gemeinsam beschäftigen wird.
Wir müssen als dritte Säule solche Solitärinstitutionen
fördern, die es in Berlin, aber anderswo nicht gibt und die
sich schon deswegen zur Förderung anbieten. Schließlich
brauchen wir ganz gewiss einen Hauptstadtkulturfonds,
der neben Institutionen herausragende Projekte fördern
kann und der anders aussehen muss, als das beim bisherigen Hauptstadtkulturfonds der Fall war.
Meine Damen und Herren, wir begleiten die Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Berliner Senat mit
kritischer Sympathie. Wir werden allerdings darauf achten, dass am Ende ein Ergebnis erzielt wird, das nicht nur
den Haushaltserfordernissen des Jahres 2001, sondern
auch den genannten Ansprüchen an eine Hauptstadtkulturförderung, die diesen Namen wirklich verdient, gerecht wird.
({7})
Für die
Bundesregierung hat Staatsminister Dr. Michael
Naumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es
ist keineswegs gespenstisch, sondern wirklich der Sache
geschuldet, dass ich jedes Mal, wenn Herr
Lammert spricht, das Gefühl habe, dass er Recht hat. Wir
mögen uns über einige Dinge streiten, aber er hat Recht.
Wird das aber auch von Ihren Parteifreunden in dieser
Stadt gehört? Wir werden es gleich vernehmen. Allerdings ist es kein Parteifreund, der das Wort ergreifen wird,
sondern ein unabhängiger, kulturpolitisch engagierter
Kopf.
Gestern durften Christoph Stölzl, der neue Berliner
Kultursenator, und ich dem Kulturausschuss des Deutschen Bundestages unsere verschiedenen Ansichten über
die zukünftige Kulturförderung der Hauptstadt Berlin
durch den Bund vortragen. Das Ziel der Veranstaltung so durfte ich der Vorausberichterstattung entnehmen - sei
es, Harmonie und Einvernehmen, also jene Form des
Glücks zwischen Bund und Land herzustellen, die nicht
unbedingt das Merkmal der bisherigen öffentlichen kulturpolitischen Diskussion war.
Trotz der angestrengten therapeutischen Bemühungen
der Vorsitzenden des Kulturausschusses, die allerdings
am Ende der Sitzung unter gewisse Redaktionsschlussterminzwänge zu geraten schien - man kennt das aus den
Woody-Allen-Filmen, bei denen der Therapeut immer öfter auf die Uhr schaut, während der Patient auf der Couch
gerne weiterreden möchte -,
({0})
ließ sich der harmonische Dauerton, der ihr vorgeschwebt
haben mag, beim genauen Hinhören nicht vernehmen.
({1})
Was Wunder? Die Fragmente der Berliner Kulturhaushaltspolitik fügen sich nicht automatisch zu einem
hübschen Bild zusammen, nur weil man eine Pressekonferenz anberaumt hat. Die Verhältnisse sind anders. Sie
sind - so der von mir sehr geschätzte Kollege Stölzl aus
bayerisch-liberaler Perspektive - preußischen Ursprungs.
Doch wer Preußens Geschichte und die Geschichte seines
Herrscherhauses kennt und schätzt, wird neben allerlei
aufgeklärtem Absolutismus, großer ethischer, architektonischer, rechtsphilosophischer und ästhetischer Anstrengungen im politischen Raum und ihrer hegelianischen
Überhöhungen in der Idee des sich selbst als Vollendung
der Geschichte wissenden Staates einige ausgeprägte
Spuren von Wahnsinn entdecken. Auch diese Spuren sind
nicht völlig getilgt.
In Christoph Stölzls Darlegungen war viel von preußischem Erbe und davon die Rede, dass dieses reiche, aber
auch teure kulturelle Vermächtnis der Stadt Berlin von nationaler Bedeutung sei. Wer will das bestreiten, Herr
Lammert? Doch selbst dann, wenn wir dem Rat der Ausschussvorsitzenden folgend auf eine juristische Definition
dessen stoßen sollten, was nationale Bedeutung in der
Kultur heißen mag - wir sind also wieder bei Hegel, der
übrigens nicht weit von hier seine Vorlesungen hielt und
von dem die wenigsten wissen, dass er dabei sehr viel
Schnupftabak genoss, der mit etwa 20 Prozent Cannabis
versetzt war -, wüssten wir nicht, was diese nationale Bedeutung den deutschen Steuerzahler in den nächsten Jahren kosten darf, geschweige denn in 50 Jahren.
({2})
- Das ist ein Schwabe.
Ein in und um Berlin herum, aber sonst nicht bekannter Lokalpolitiker hat kürzlich wieder dargelegt, dass er
sich ungern von „Bundesschlaumeiern“ in die unterfinanzierte Kulturpolitik seiner Stadt hineinreden lasse, zumal
dann nicht, wenn der Bund - so sagt er - lediglich
100 Millionen DM per annum zur Verfügung stelle. Ich
finde, das ist ganz schön viel Geld.
({3})
Einige Berliner Abgeordnete mögen das auch so sehen.
Aber - Herr Lammert hat das gerade richtig erklärt - die
Fakten sind ganz anders: Der Bund überweist in diesem
Jahr 474 Millionen DM in die Haushalte von Berliner
Kulturinstitutionen.
({4})
Mit den Worten des erstaunten Herrn Lammert während
der Kulturausschusssitzung ausgedrückt heißt das: eine
schlappe halbe Milliarde Mark. Das sind übrigens
126 Millionen DM mehr als im Jahr 1998.
({5})
In der Zunahme der Berliner Kulturförderung manifestiert sich auch die kulturpolitische Verantwortung dieser
Regierung gegenüber der Hauptstadt. Es wäre angesichts
seiner darbenden kulturellen Institutionen nur schön zu
beobachten, wenn - bei allen Vorbehalten, die Sie, Herr
Lammert, gemacht haben - ein ähnliches zunehmendes finanzielles Verantwortungsgefühl des Berliner Senats zu
spüren wäre.
Tatsächlich hat Berlin ein großes Erbe aus preußischer
Zeit angetreten, dessen Pflege nicht allein dem Land auferlegt werden kann. Der Bund hat dem längst Rechnung
getragen. Er finanziert den größten Komplex in der kulturellen Landschaft dieser Stadt, die Stiftung Preußischer
Kulturbesitz, zu 75 Prozent. Wir helfen Berlin bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen auch dadurch, dass wir uns
bereit erklärt haben, die in Brüssel zu akquirierenden
EFRE-Mittel in Höhe von 25 Millionen DM als genuinen
Anteil Berlins an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
anzuerkennen. Das ist etwas, das - da bin ich bei aller
haushaltspolitischen Vorsicht ganz sicher - der Vorgänger
von Hans Eichel nicht gemacht hätte.
({6})
- Genau, aber gehen wir noch einen Schritt weiter zurück:
Da haben wir beide Recht.
Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten
ist der Bund der größte Geldgeber. Dem muss freilich
auch die Bereitschaft Berlins entsprechen, seinen eigenen
Verpflichtungen in gemeinsam getragenen Institutionen
verlässlich nachzukommen.
Es gibt in Berlin aber über diejenigen Preußens hinaus
noch weitere Erbschaften, vor allem diejenigen, die uns
die DDR hinterlassen hat. Vor zehn Jahren sind hier zwei
Hauptstädte verschmolzen. Einen Masterplan über die
zukünftige finanzielle Ausstattung, eine Art kulturpolitische Architektur, in der haushaltspolitische Stabilität, programmatische Abstimmungen oder gar institutionelle
Verschmelzungen zum planerischen Vorteil aller Beteiligten vorgelegt worden wären, hat es nicht gegeben. Den
gab und gibt es nicht.
Die Vorgängerin von Christoph Stölzl, Frau Christa
Thoben, warf einen kurzen Blick in die Kulturverwaltung oder besser: in die Abgründe der Kulturverwaltung - dieser Hauptstadt und wandte sich mit Grausen ab. Christoph
Stölzl hat die Rolle des Sisyphus übernommen. Und doch
sollen wir uns vorstellen, dass er ein glücklicher Mensch
sei. Im nächsten Haushaltsjahr fehlen ihm 29 Millionen
DM. Das steht fest.
Dass in der Zwischenzeit die Verhandlungen des Bundes mit der Stadt Berlin ein wenig ins Stocken geraten
sind, wird er uns nicht anlasten wollen. Der Stein, den er
nach oben wuchten sollte, ist nach Frau Thobens Abgang und nicht durch unser Verschulden - wieder in die Talsohle der Berliner Haushaltspolitik zurückgerollt. Packen
wir es also noch einmal an.
({7})
Meinen Vorschlag, eine noch genau zu verabredende
Zahl von Berliner Institutionen vollständig in Bundesfinanzierung zu übernehmen, möchte ich so verstanden
wissen: Wir sind bereit, die Hauptlast der Finanzierung
dieser Institutionen zu tragen, eben weil wir ihre überregionale Bedeutung anerkennen, so zum Beispiel das Jüdische Museum, das geplant und gebaut wurde, an dessen
Betriebskosten man aber einfach nicht gedacht hat - man
hat übrigens dieses riesige Haus unter der Bedingung gebaut, dass 300 Menschen pro Tag kämen, also die Klimaanlage und übrigens auch die sanitären Anlagen vergessen, was zu Nachbesserungskosten mal eben in Höhe von
9 Millionen DM führte -, die Festspiele, den Gropiusbau,
das Haus der Kulturen der Welt.
Auch das Berliner Philharmonische Orchester, ein besonderer Glanzpunkt der Hauptstadtkultur, aber mit einem jährlichen Zuschussbedarf in Höhe von 24 Millionen
DM auch ein besonders teurer Glanzpunkt, könnte unter
bundesfinanzierter Obhut weiter musizieren. Dem Orchestervorstand und dem designierten Dirigenten Sir Simon
Rattle wäre das nur recht. Ebenso wenig wie die Landesregierung würde sich der Bund anmaßen, den Künstlern
die Noten aufs Pult zu legen. Art. 5 des Grundgesetzes gilt
unabhängig von Haushalts- und Kulturhoheitsfragen.
Um Christoph Stölzl zu zitieren: „Das Orchester musiziert ja weiter in Berlin“ - wie auch die Museumsinsel im
Herzen dieser Stadt erneuert wird und die Festspiele, um
die es auch geht, die Berliner Festspiele bleiben werden.
Der Bund ist bereit, die Hauptstadt bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen repräsentativen Pflichten zu unterstützen. Aber was in der Kultur repräsentativ ist, bestimmen in letzter Instanz nicht die Haushaltspolitiker, sondern die Autoren und Künstler, die Komponisten und
Regisseure, die Intendanten.
({8})
In ihrer Arbeit spiegelt sich nicht nur die Selbstinterpretation unserer Gesellschaft wider, ihre Fantasie, auch ihr
Trostbedarf, ihre Innovationskraft, sondern auch die Aufforderung zur Toleranz. Sie benötigt ein politisches Klima
der Zuneigung, nicht ein Klima der verbissen geleisteten
Subventionen.
Politiker haben in Berlins Theatern, obwohl man das
manchmal zu glauben scheint, kein Hausverbot, selbst
wenn sie wie der Regierende Bürgermeister der Meinung
sind, man müsse endlich damit aufhören, „abgetanzte und
abgelatschte Künstler durchzufüttern“.
({9})
Derlei Sprache aus dem Bauch der Kulturfeindlichkeit
richtet sich selbst.
({10})
Berlins größte Schätze sind die Museen, die Universitäten, der freie Geist der Forschung und der Künste. Sie,
nicht die Politik als solche, sind das Signum einer Hauptstadt. Sie bedürfen der kontinuierlichen Pflege aller, die
sich für das politische Klima des Landes verantwortlich
fühlen. Sich dabei einerseits auf den Bund zu verlassen
und andererseits gleichzeitig mit dem Lokalpatriotismus
von Kuhschnappel allerlei parteipolitische Büffelpossen
aufzuführen, verträgt sich nicht mit dem Auftrag, Bundeshauptstadt zu sein.
({11})
Kürzlich ist hier in Berlin eine Finanzsenatorin ausgeschieden, die sich der Politik der kontinuierlichen haushaltspolitischen Schildastreiche widersetzt hatte. Als sie
ihren ersten Sanierungsplan vorlegte, fuhr ihr ein hierzulande, aber sonst nicht weiter bekannter Politiker in die
Parade. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ - nicht
widerlegt -:
Was soll der ganze Unsinn, was sollen wir hier mühsam konsolidieren? Wenn die Arbeitslosen erst auf
den Stufen des Reichstages liegen, wird der Bund uns
die Milliarden schon rüberkippen.
So ging das zu in Berlin. Aber so geht es nicht weiter.
Wenn rechtzeitig Geld in die maroden Theaterbauten
im Ostteil der Stadt investiert worden wäre, dann sähe die
Situation heute anders aus. Ich wiederhole: Ein strukturerhaltendes Konzept für die Kultur hätte Berlin bereits in
den glücklichen Stunden der Wiedervereinigung vor einem Jahrzehnt gut getan. Und das betrifft beide Parteien,
die hier regieren.
Nun stehen wir vor den bröckelnden Fassaden und der
veralteten Bühnentechnik und nur noch Notmaßnahmen
können so manches kulturelle Erbstück vor dem endgültigen Verfall retten. Das Einzige, was in Berlin immer
noch wie geschmiert funktioniert, sind die Drehbühnen
der Berliner classe politique.
Der Antrag der CDU/CSU wird in die Ausschüsse
überwiesen werden. Zum Teil haben wir die dort aufgeführten Forderungen erfüllt, ich habe es eben erläutert.
Über anderes kann man sehr gut streiten.
Wir sind hier nicht auf der Titanic. Die Berliner Kultur
wird nicht untergehen, aber - um im Bilde zu bleiben wir können auch keine Kollisionen mit Eisbergen gebrauchen, deren Tücke, wie man weiß, darin besteht, dass sie
zu sechs Siebteln unter der Wasseroberfläche verborgen
sind.
Christoph Stölzl, so höre ich, nimmt die Akten seiner
Behörde mit ins Bett, wo sie ihm den Schlaf rauben. Dass
er gleichwohl immer noch der aufgeweckte, offene Kulturpolitiker bleibt, als der er auch mir bekannt und von mir
geschätzt ist, bleibt meine ehrliche Hoffnung. Ich wünsche ihm die Autonomie, die ein Kennzeichen des kritischen Geistes ist.
Parteipolitische Solidarität in der Auseinandersetzung
mit den Herren des Berliner Haushalts ist ein Tugend,
aber sie greift erst dann, wenn er selbst die Solidarität jener erfahren hat, die ihn berufen haben. In der Zwischenzeit will ich gerne mit ihm die Sorge tragen und teilen, dass Berlins Kultur in geistiger und finanzieller Unabhängigkeit das leisten kann, was ihre Aufgabe ist:
Ausgänge zu öffnen aus der öden Welt des Alltags und
auch aus der öden Welt der Finanzierungsdebatten in die
Welt der Künste, die immer noch der Ursprung von
gesellschaftlichem Glück sein kann, wenn man es nur suchen will.
Aber ich möchte mir Christoph Stölzl weiterhin als
glücklichen Menschen vorstellen, wenn auch als Sisyphus.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({12})
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Franziska EichstädtBohlig vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lammert, Ihr Antrag ist mir und, ich glaube,
auch anderen Kolleginnen und Kollegen sehr sympathisch. Ich empfinde ihn in gewissem Sinne als eine Art
Lobantrag für unsere Koalition und insbesondere für
Staatsminister Naumann.
({0})
Ich möchte Ihnen drei Aspekte nennen, wo mir der Antrag besonders nahe ist. Der erste Aspekt ist: Der Antrag
stellt dar, was Rot-Grün Schritt für Schritt inhaltlich und
konzeptionell längst erarbeitet. Wir haben es eben gehört.
Der zweite Aspekt - und das ist sehr wichtig - ist: Kultur braucht ein besonders hohes Maß an politischem Konsens. Ihr Antrag zeigt, dass in unserem Hause die Bereitschaft dazu besteht. Das finde ich sehr gut. Ich habe den
Eindruck, dass Koalition und Opposition auf Bundesebene hinsichtlich der Politikkultur, die gerade für die
Kulturförderung notwendig ist, deutlich weiter sind als in
der Beziehung zwischen Bund und Berlin. Wir haben es
eben schon von mehreren Seiten gehört. Ich kann das nur
bestätigen. Hier hapert es insbesondere von Berliner Seite
mächtig.
Der dritte Aspekt ist: Es ist wichtig, dass wir uns auf
ein gemeinsames Leitbild verständigen. Ich habe Ihren
Antrag und all das, was Minister Naumann bisher getan
und gesagt hat, so verstanden, dass wir gemeinsam das
Ziel haben, Berlin als neu belebte Hauptstadt mit einer besonderen kulturellen Ausstrahlung zu erhalten, zu gewinnen und weiterzuentwickeln. Das ist eine Aufgabe, die
über das bisherige Denken in der föderalen Kulturhoheit
ein deutliches Stück hinausgeht. Offenbar sind aber alle
bereit, diese Besonderheit positiv zu transportieren. Das
ist sehr wichtig.
Ich möchte noch einen vierten Punkt erwähnen, weil er
sonst heute nicht erwähnt wird. Ich finde das, was Sie als
Hinweis in Richtung Engagement für Bonn gesagt haben,
richtig und wichtig. Ich möchte nicht, dass es in Berlin so
ist, wie es in Bonn teilweise war. Man denkt immer, der
andere Ort ist so unendlich weit weg, sodass man sich darüber keine Gedanken mehr machen müsste. Das sollten
wir nicht vergessen.
Es ist schon gesagt worden, wie reichhaltig das Berliner Kulturangebot ist. Ich möchte noch einmal einige
Stichpunkte, die gleichzeitig politische Stichpunkte sind,
nennen: Der preußische Kulturbesitz, das reiche Erbe der
beiden konkurrierenden Teile Berlins - Hauptstadt der
DDR auf der einen Seite und Schaufenster des Westens
auf der anderen Seite -, die besonderen Gedenkstätten,
mit denen wir die Erinnerung an den Faschismus wach
halten wollen, und die Mahnung an die Verantwortung,
die daraus für uns und folgende Generationen folgt, dann
die Orte und Gedenkstätten, die diese Stadt als Vorposten
des Stalinismus und des real existierenden Sozialismus
geerbt hat - wir müssen darüber sehr ernst nachdenken,
wie sie in der Pflege stabilisiert werden können - und last,
not least - zunächst alles sehr widersprüchlich und unvermittelt nebeneinander stehend - der vielfältige, kreative Gärteich, der als Nahtstelle zwischen Ost und West
teils vor der Wende, aber auch nach der Wende recht üppig gediehen ist, von dem wir alle kulturell zehren, auch
die klassische Kultur der berühmten Leuchttürme.
({1})
Mein Eindruck ist, dass das Land Berlin politisch noch
nicht begriffen hat, dass es mit der Hauptstadtwerdung
eine Doppelfunktion übernommen hat, dass Berlin einerseits als Stadt, aber in Zukunft gleichzeitig als Hauptstadt auch der gesamten Nation verpflichtet ist. Diese
Doppelfunktion wird bisher von Berliner Seite mit einem
verklemmten Misstrauen behandelt, während es sehr
wichtig ist, dass sie konstruktiv und partnerschaftlich definiert wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das bisherige Spiel „Gebt uns Geld und mischt euch nicht ein“
endlich durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit
beendet wird.
({2})
Ich glaube, dass von allen Seiten des Bundestages, aber
auch vonseiten der Regierung das Angebot zu einem konstruktiven Dialog besteht. Ich muss aber sagen: Bevor wir
das stabilisieren können, muss man das Land Berlin deutlich kritisieren. Meiner Meinung nach ist Berlin bisher
schlicht nicht hauptstadtfähig, weil es nicht bereit ist, auf
diese Doppelfunktion, die ich versucht habe zu skizzieren sie soll letztlich zur Symbiose werden, wenn wir das Beispiel anderer Hauptstädte und Metropolen nehmen - positiv zuzugehen.
Ich muss mich schon wundern, wie stümperhaft und
mit welcher Ignoranz die Regierung des Landes Berlin
nicht nur zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode, sondern auch in den letzten fünf Jahren gearbeitet hat. Solange wie ich Mitglied des Bundestags bin und miterlebe,
wie in Berlin Politik gemacht wird, so lange benehmen
sich der Regierende Bürgermeister und sein damaliger
Kultursenator politisch wie ein Elefant im Porzellanladen,
insbesondere im Kulturbereich - das finde ich skandalös -, leider mit Duldung des Koalitionspartners.
Ich halte es für ein zentrales Problem, wenn der Regierende Bürgermeister der Metropole Berlin die Übernahme
von persönlicher Verantwortung für politisch bedeutsame
Gedenkstätten verweigert und sich dieses „Heldenmuts“
nicht nur an Zehlendorfer Stammtischen rühmt. Es darf
nicht sein, dass in dieser Stadt auf diese Art und Weise ein
wichtiger Teil unserer politischen und kulturellen Geschichte und unseres kulturellen Gedenkens an diese Geschichte ignoriert werden.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen.
Die längst überfälligen Reformen in den großen Häusern,
um die es bei der Debatte über die Übernahme von Bundesverantwortung geht, sind seit Jahren verschleppt und
verweigert worden.
Last, not least: Dem Bund gegenüber tritt man - ich
muss sagen: trat man; jetzt hat sich das schrittweise geändert; ich hoffe, dass sich das Verhalten noch weiter ändern
wird - bisher nach Gutsherrenart auf, und zwar nach dem
Motto - ich habe es vorhin schon erwähnt -: Rückt mehr
Geld heraus, aber mischt euch nicht ein; es geht euch
nichts an, was wir hier machen! Ich halte es auch für einen Skandal, dass eine Abrechnung der bisher gewährten
Kulturfördermittel nicht vorgelegt werden kann, weil ein
heilloses Kuddelmuddel herrscht. So darf es wirklich
nicht sein.
Frau Thoben - Herr Minister Naumann hat vorhin
schon darauf hingewiesen - stand sozusagen zwischen
Baum und Borke. Sie sollte auf der einen Seite die Kohlen aus dem Feuer holen, aber auf der anderen Seite
gleichzeitig gewährleisten, dass sich nichts Grundlegendes in Berlin ändert. Ich möchte von dieser Stelle aus
Christa Thoben meine Hochachtung und meine volle
Sympathie dafür aussprechen, dass sie nicht bereit war,
das gewünschte Durchlavieren und Vertuschen mitzutragen, sondern dass sie stattdessen der persönlichen Glaubwürdigkeit den Vorrang gegeben hat. Ich finde, dies war
ein sehr honoriger Schritt von Christa Thoben.
({3})
Ich wünsche Ihnen, Herr Stölzl, dass Sie den Weg und
die Kraft finden werden, um die unabdingbar notwendigen und sicherlich auch schmerzhaften Reformschritte ich weiß nicht, ob ich sagen soll: mit, ohne oder gegen die
Regierung des Landes Berlin, der Sie nun angehören wenigstens teilweise einzuleiten. Wie das praktisch möglich sein soll, weiß ich selber noch nicht. Ich wünsche
Ihnen vor allem, dass es Ihnen gelingen wird, die
misstrauische Verklemmtheit, die bisher Berlin dem Bund
gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, insbesondere auch in der berühmten Sondersitzung, in der es
um den Rücktritt von Christa Thoben ging, schrittweise
abzubauen. Die Mitglieder des Bundestages sind sicherlich bereit, mit Ihnen insoweit zusammenzuarbeiten.
({4})
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu unserer Kulturförderung sagen - ich sehe es ähnlich wie Herr
Lammert -: Auch ich halte die Grundkonzeption für gut,
80 Millionen DM für eine Art - ich verwende dieses Bild
ebenfalls - Leuchtturmförderung mit klaren Zuständigkeiten und 20 Millionen DM - davon verspreche ich mir
sehr viel; ich hoffe, dass ab 2001 auch wirklich 20 Millionen DM zur Verfügung stehen werden - für den Hauptstadtkulturfonds, für innovative und kreative Projekte
aufzuwenden. Das ist im Grundsatz eine sehr gute Einteilung. Ich wünsche mir allerdings eine nochmalige Diskussion über die einzelnen Institutionen.
Ich muss gestehen, dass ich selber teilweise hin- und
hergerissen bin. Auf der einen Seite finde ich es sehr gut,
wenn das Jüdische Museum in die bundespolitische
Kompetenz fällt, obwohl ich sehr genau weiß - ich war
seinerzeit Baudezernentin in Kreuzberg und habe das Projekt selbst mit auf den Weg gebracht -, dass dieses Museum eigentlich als eine Dependance des Berliner Stadtmuseums, also ursprünglich als eine Art Heimatmuseum
kreiert war. Ich gestehe: Ich habe selbst dazu beigetragen,
dass Berlin dieses Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist.
Dazu stehe ich auch bis heute. Insofern wünsche ich mir,
dass es jetzt durchaus eine Bundesinstitution wird. Auf der
anderen Seite geht es mir mit der „Topographie des Terrors“ so ähnlich wie Ihnen. Ich glaube, dass das der zentrale politische Ort ist, der letztlich über Berlin hinausgehende gesamtdeutsche Verantwortung repräsentiert.
Ich halte es für falsch, zwei Konzerthäuser und damit
zwei Orchester zu übernehmen. In diesem Punkt muss in
jedem Fall eine Entscheidung in die eine oder in die andere Richtung getroffen werden. Ich will mich im Einzelnen nicht festlegen; das steht mir auch nicht zu. Ich wünsche mir schon ein echtes Theater - eigentlich kann es nur
das Deutsche Theater sein - in dem Paket, für das der
Bund Verantwortung übernimmt.
Wahrscheinlich geht es allen so: Die Diskussion beinhaltet ein Stück Spaltung zwischen dem, was man sich
wünscht, und dem, was letztlich realisiert werden kann.
Last, not least ist es natürlich schon nötig, die Zuständigkeiten so zu definieren, dass zwischen Berlin und dem
Bund auf der Grundlage klarer Vereinbarungen wirklich
agiert werden kann.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Gut, ich komme zum Schluss.
Als Letztes möchte ich nur noch sagen, dass wir an
Berlin sehr klare Anforderungen stellen - ich hoffe, dass
uns das allen gemeinsam so geht -: partnerschaftliches
Zugehen auf den Bund, klare Vereinbarungen über
Zuständigkeiten, Schluss mit der Gießkannenförderung,
klare Reformen und Kosteneinsparungen, klare Mitverantwortung bei den Gedenkstätten. So wird von dieser
Seite Schritt für Schritt ein inhaltlich sinnvolles Konzept
über kurz oder lang vereinbart werden können.
({0})
Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Zahl und die Qualität der hier
vorhandenen Kulturgüter sowie die Fülle der kulturellen
Ereignisse in Berlin stellen die Stadt ohne jeden Zweifel
in die erste Reihe der Kulturmetropolen in dieser Welt. Da
das so ist, sind die Themen Kulturförderung und Kulturarbeit in der Tat nicht nur ein regionales Ereignis, sondern
auch etwas, womit wir uns zu befassen haben.
Bevor ich etwas mehr dazu sage, möchte ich eine Bemerkung zur Qualität der Kulturlandschaft in Berlin
machen. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, die
gegenwärtige Schwächephase der Berliner Kultur, die
schon Jahre andauert, in irgendeiner Weise zu kaschieren.
Ich schließe mich aber nicht dem gängigen und auch hier
immer wieder durchscheinenden Klischee an, dass die
Berliner ihre Kulturarbeit in den letzten 40 oder 50 Jahren
so schlecht gemacht haben - im Gegenteil.
Dass das nicht wahr ist, gilt aus meiner Sicht sogar für
den Ostteil der Stadt. Unter schwierigen und komplizierten Umständen sind dort ganz erhebliche und bleibende
Kulturleistungen erbracht worden. Was uns überliefert
worden ist, ist allerdings eine total verrottete Substanz
vieler Einrichtungen, insbesondere der Museen. Diese
Mängel zu beheben kostet enorm viel Geld. Ich glaube,
dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bei der Zusammenführung der beiden Teile der Stiftung und auch bei der
Arbeit an der äußeren Rekonstruktion Hervorragendes
geleistet hat.
Ich glaube auch, dass im Westteil der Stadt nach dem
Kriege alles in allem - das hat nichts mit der gegenwärtigen Schwächephase zu tun - hervorragende Kulturarbeit im Theater, in der Musik, in der darstellenden Kunst - geleistet worden ist. Dasselbe gilt für die Museen in der OffSzene, die es eigentlich nur in wenigen Städten und an erster Stelle immer in Berlin gegeben hat. Dort ist eine lebendige Landschaft mit Ausstrahlung entstanden. Dies ist
im Ostteil und im Westteil natürlich mit viel Geld geschehen; das ist auch heute noch so. Insgesamt kann sich diese
Stadt und dieses Land Berlin mit seiner Kulturarbeit sehen lassen.
Mit der Wiedervereinigung sind in Berlin enorme Probleme entstanden. Es handelt sich um Probleme in Bereichen, die die Masse der Menschen unmittelbar angehen:
der Arbeitsmarkt, der Sozialbereich, die Infrastruktur der
Berliner Haushalte. Ich habe auf diesem Gebiet Erfahrung; ich selbst war im früheren Westberlin vier Jahre lang
politisch verantwortlich. Der Haushalt war überlastet und
es war in vielen Bereichen, auch in der Kultur, nicht mehr
alles Wünschenswerte finanzierbar.
Das hat krisenhafte Entwicklungen mit sich gebracht,
auch in der Qualität der Kulturarbeit. Hier ist Kritik am
Berliner Senat angebracht und es ist die Frage zu stellen,
warum viele Berliner Kultureinrichtungen enorme Personalkörper mit sich herumschleppen, Entlassungen gar
nicht möglich waren, obwohl keine Arbeit mehr da war.
„Betriebsbedingte Kündigungen“ sind hier ein Stichwort,
bei dem alles aufschreit. Dabei sind sie in einer ganzen
Reihe von Einrichtungen, die ich Ihnen auch nennen
könnte, dringend erforderlich.
Der Berliner Senat muss sich auch gefallen lassen, dass
man ihm die Frage stellt, ob das Geld, das er da ausgibt,
sein eigenes und das, das er bekommt - 470 Millionen DM
vom Bund -, auch wirklich dort angekommen ist, wo es
ankommen sollte. Da ist vieles in keiner guten Verfassung.
Aber, meine Damen und Herren, ich würde es mir zu
einfach machen, wenn ich fordern würde, dass der Bund
ob der tatsächlichen oder mutmaßlichen Schwächen in
der Berliner Kultur den Hahn einfach zumacht oder die
Förderung auf Sparflamme stellt. Ich glaube, das wäre
nicht richtig. Die Neuordnung des Kulturbetriebes mit der
Wiedervereinigung und die Tatsache, dass Bundesregierung, Parlament und Bundesrat hier ansässig sind, bietet
ungeahnte Möglichkeiten. Wir sollten Berlin nutzen, um
den Anspruch Deutschlands als Kulturnation in aller
Welt zu vertreten.
Wir sollten da im Übrigen nicht zimperlich sein. Das
hat überhaupt nichts mit Nationalismus oder gar Chauvinismus zu tun und das hat auch gar nichts damit zu tun,
dass wir - Herr Naumann und Herr Lammert, Sie haben
darüber gesprochen - die Kulturhoheit der Länder infrage
stellen. Wir sollten froh sein, dass wir eine solche
Kulturmetropole in einem Land haben, in dem es Gott
sei Dank eine breit gefächerte Kultur in allen Regionen
gibt. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen.
Berlin gibt 760 Millionen DM aus, der Bund zahlt davon allerdings 300 Millionen DM an die Stiftung, und
dann gibt es noch einmal 470 Millionen DM. Das ist ein
Betrag für einen öffentlich finanzierten Kulturhaushalt,
wie wir ihn in keiner anderen Stadt dieser Welt finden. In
keiner Stadt dieser Welt wird so viel öffentliches Geld zur
Verfügung gestellt.
Dennoch sage ich: Dieser Betrag darf trotz seiner enormen Dimension für uns kein Tabu sein. Aber dieser Betrag kann auch nicht einfach aufgestockt werden, sondern
es muss ein Konzept vorgelegt werden und dann müssen
wir darüber reden.
Ich habe viel Verständnis dafür und unterstütze es, wenn
gesagt wird, wir müssten einige Einrichtungen unmittelbar
dem Bund zuordnen. Ich glaube nicht, dass wir das hier im
Detail diskutieren können. Die nationalen Gedenkstätten
sind unstrittig. Es gehören mindestens ein Sprechtheater,
eine Oper und auch mindestens ein Orchester dazu.
Wenn ich das sage, meine ich nicht, dass Berlin, was
Kulturarbeit und Kulturverantwortlichkeit betrifft, auf
provinzielles oder regionales Niveau zurückgeführt werden soll. Nein, auch Spitzeneinrichtungen müssen in der
Verantwortung vornehmlich Berlins sein. Aber, Herr
Stölzl, Berlin hat auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass
die Kulturarbeit in der Breite funktioniert, dass die OffSzene erhalten bleibt und auch Kiezarbeit stattfindet, dass
in der bildenden Kunst etwas nachwächst, junge Leute da
sind. Berlin hat ferner dafür zu sorgen, dass die Ausbildungseinrichtungen, die es hier in Fülle gibt und die hohe
Qualität haben, ihr hohes Niveau noch weiter verbessern
können.
Meine Damen und Herren, als Letztes - der Herr Präsident mahnt schon - möchte ich mir noch eines wünschen: Das ist die Tatsache - wir reden hier über Kultur
und Kulturförderung -, dass wir ein stärkeres privates
Engagement in der Hauptstadt brauchen. Dafür müssen
die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu bedarf
es einer bestimmten Atmosphäre. Das betrifft auch das
Stiftungsrecht. Daran arbeiten wir ja, nicht nur Sie. Das
hat gar nichts mit Parteipolitik zu tun.
Es kommt darauf an, dass das private Engagement verstärkt wird. Das steht nicht in Ihrer Tradition, es steht vielleicht gar nicht so sehr in deutscher Tradition. Es ist dennoch dringend erforderlich.
({0})
Nein, die deutsche Tradition ist darauf orientiert, dass sich
der Landesherr, der Fürst, der regional Verantwortliche,
für die Kultur verantwortlich fühlte.
Das ist in staatliche Verantwortlichkeit eingemündet. Da
tun uns Formen amerikanischer bzw. angelsächsischer
Kulturarbeit und -verantwortlichkeit sehr wohl. Das hat
nichts mit Kapitalismus und mit Knechtschaft des Kapitals zu tun, sondern damit, dass wir die breiten Ressourcen, die wir haben, für Kultur, Kulturförderung und Kulturengagement nutzen müssen. Das gilt gerade für Berlin.
Diesen letzten Aspekt halte ich für enorm wichtig.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Für die
PDS-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heinrich Fink das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Bedeutendes hier gesagt worden. Ich bin ganz besonders dankbar für die Rede von Herrn Staatsminister Naumann. Ich
kann sehr vieles davon unterstreichen und habe auch sehr
vieles davon in Berlin erlebt.
Ich möchte nur kurz unsere Position zusammenfassen:
Einer zielgerichteten Diskussion über die Hauptstadtkulturförderung des Bundes fehlt meiner Meinung nach
eine entscheidende Grundlage, nämlich eine auf demokratischem Wege entstandene Grundkonzeption für die
Entwicklung der Berliner Kultur in ihrer ganzen Vielfalt.
Erst auf einer solchen Grundlage ließen sich die Institutionen, Projekte und die Modalitäten ihrer Förderung
durch den Bund sinnvoll festlegen. Deshalb ist, langfristig gesehen, die Forderung nach einem solchen Gesamtkonzept auch die Kernforderung der PDS in dieser Debatte.
({0})
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU verzichtet leider ebenfalls auf eine solche Grundlage. Angesichts der
gegebenen Umstände unterstütze ich aber eine Reihe von
Forderungen, die ich als kurzfristigen Handlungsauftrag
an die Bundesregierung verstehe. Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass die Antragsteller von der Bundesregierung teilweise andere Auskünfte erwarten als wir, zum
Beispiel bezüglich der Planungen für das Schloss. Hier erwarten wir zuallererst ein schlüssiges und detailliertes
Nutzungskonzept für die gesamte Spree-Insel, bevor man
über Gebäude und konkrete architektonische Planungen
redet.
({1})
Im Ausschuss für Kultur und Medien besteht über Parteiengrenzen hinweg Konsens darüber, dass der Bund
nach der demokratischen Entscheidung für die Hauptstadt
Berlin in der Pflicht steht, sich an der Finanzierung der
Berliner Kultur von gesamtstaatlicher und hauptstädtischer Bedeutung angemessen zu beteiligen. Die Stadt
Berlin allein wäre auch mit der Bewahrung und
Weiterentwicklung der vielgestaltigen Kultur überfordert.
Die PDS würdigt durchaus das bisherige finanzielle Engagement des Bundes in der Hauptstadt Berlin, ist aber
der Auffassung, dass dieses noch nicht ausreicht und in
keinem begründbaren Verhältnis zur Kulturförderung
steht, die die Stadt Bonn bis heute erhält.
Angesichts der gegenwärtigen komplizierten Situation
in Berlin muss in neuer Weise überdacht werden, welche
Wege der Kooperation zwischen Bund, Land Berlin und
den anderen Ländern zu beschreiten sind. Dazu ist ein
konzeptioneller Vorlauf notwendig. Die gestrige Beratung
des Ausschusses möchte ich als hoffnungsvollen Beginn
eines konstruktiven Dialogs in Sachen Kulturförderung in
Berlin werten. Welche konkreten Institutionen und Projekte gefördert werden, bedarf der Abstimmung und Beteiligung aller. Ich möchte hier deutlich machen, dass es
eine noch bessere Absprache mit den jeweiligen Stadtbezirken geben muss.
Ich möchte nun auf die Kriterien hinweisen, die nach
bisherigem Stand der Diskussion in der PDS der künftigen Förderung zugrunde gelegt werden sollten. Nach unserer Auffassung sind Kulturaufgaben von gesamtstaatlicher Bedeutung jene, die sich aus der deutschen
Geschichte ergeben: aus der Trägerschaft für das Erbe
Preußens, aus den Folgen der faschistischen Diktatur und
des Weltkriegs, aus der deutschen Spaltung und der Vereinigung Deutschlands. Die sich daraus ergebenden Verpflichtungen sind ja im Einigungsvertrag zwischen der
BRD und der DDR und in internationalen Abkommen
festgeschrieben.
({2})
Das gilt auch für die Verpflichtung zum Erhalt der kulturellen Substanz im Ostteil der Stadt. Ich möchte auch
sehr dankbar darauf hinweisen, dass im Ostteil der Stadt
bisher kein bedeutendes Theater geschlossen wurde.
Demnach hat der Bund besondere Verantwortung für
die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Museumsinsel, für die Stätten des Mahnens und Gedenkens an die
Opfer des Faschismus, für die Gedenkstätten, Archive
und Dokumentationszentren aus der DDR-Zeit sowie für
die sowjetischen Ehrenmale. In Bezug auf die sowjetischen Ehrenmale gehen die Meinungen von Land und
Bund bis heute auseinander. Der Bund hat aber im Zweiplus-Vier-Vertrag die Verpflichtung dafür übernommen.
Für unbedingt notwendig halten wir deshalb die Fortsetzung der Förderung im Rahmen des sogenannten
Hauptstadtkulturfonds. Die Vergabe seiner Mittel sollte
auch weiterhin durch ein unabhängiges Fachgremium für
die Förderung des kulturellen und künstlerischen Dialogs
in Berlin für besonders innovative Projekte und Experimentelles reserviert sein.
Sie stimmen mir doch bestimmt zu, dass die kulturelle
Vielfalt in Berlin
({3})
einmalig ist und daher wegen ihrer ganz besonderen Art,
gerade hinsichtlich ihrer Breite und - Herr Rexrodt, Sie
haben darauf hingewiesen - hinsichtlich der den meisten
nicht bekannten Off-Szene, besonders zu fördern ist.
Es ist schwierig zu unterscheiden: Was ist Hochkultur
und was ist nicht Hochkultur? Ich lehne diesen Begriff sowieso ab. Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie gut
und dass sie schön ist. Dazu gehört in Berlin die breite
Szene, die sich den meisten bisher nicht erschließt,
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
- nämlich die Szene, die in
den Hackeschen Höfen stattfindet und die auch zu fördern
wäre.
Vielen Dank.
({0})
Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Eckhardt
Barthel von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Einige Beiträge haben mich
veranlasst, meine Schwerpunktsetzung ein bisschen zu
verändern. Es gab bei einigen Beiträgen - das sage ich
jetzt als Berliner Abgeordneter - für meine Begriffe ein
bisschen viel Kritik. Außerdem wurde nur ein Teil der
Berliner Wirklichkeit betrachtet.
Herr Staatsminister, ich habe heute eine Überschrift in
der „Berliner Morgenpost“ gelesen, die etwa lautete: Dieses Thema geht mir langsam auf die Nerven. - Ich fand es
toll, wie Sie in Ihrer Rede ihre Gefühlswelt beschrieben
haben. Die Überschrift ist angesichts dessen, was Sie gesagt haben, zu verstehen. Ich will aber nicht behaupten,
dass etwas Falsches in Ihrer Rede enthalten war. Ich
möchte nur ergänzend hinzufügen - das scheint mir notwendig zu sein -, dass es noch eine andere Berliner Szene
gibt, und zwar die Szene, die wegen oder trotz der Kulturpolitik in Berlin vorhanden ist.
In diesem Zusammenhang sollte man einmal zwei Beispiele erwähnen: Die Berliner Theater boomen. Wenn ein
Theater weniger als 90 Prozent ausgelastet ist, dann spricht
man inzwischen schon von einer geringen Auslastung. Die
Museen haben nicht zuletzt durch den Tourismus, auch
durch den Kulturtourismus, einen Millionenzuwachs an Besuchern. Das ist ein gutes Zeichen. Mir liegt daran - ich
werde mich noch sehr kritisch mit der Berliner Kulturpolitik beschäftigen -, dass man auch die andere Seite der Kultur in Berlin betrachtet.
({0})
Herr Lammert, was ist eigentlich falsch an Ihrem Antrag?
({1})
Die zweite Frage ist: Wozu brauchen wir ihn? Sie beschreiben in diesem Antrag das, was der Staatsminister
tut.
({2})
Jetzt ist die Frage für mich: Wie interpretiere ich Ihren Antrag? Ich interpretiere ihn so, dass ich sage: Ich sehe darin
eine Unterstützung für unsere Kulturpolitik.
({3})
Das brauchen wir. Ich finde das sehr gut.
({4})
Es ist schön, wenn Sie das unterstützen, vor allen Dingen
weil sich diese Kulturpolitik ja auch dadurch auszeichnet im Unterschied zu der vorhergehenden -, dass mehr Engagement und auch mehr Mittel für die Hauptstadtkultur
damit verbunden sind. Insofern freue ich mich.
({5})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Anfang
noch einmal etwas sagen zu den Begriffen in der Diskussion um die Hauptstadtkultur, bei denen ich Sorge habe.
Ich las neulich in einer Zeitung - um es deutlich zu sagen:
keine Berliner Zeitung -, dass es darum gehe, die Kulturhauptstadt zu fördern. Manchmal sind Begriffe ja sehr gefährlich. Ich hoffe, der Journalist wird sich da noch korrigieren. Das Schöne an der Bundesrepublik ist, dass es
nicht eine Kulturhauptstadt gibt, sondern dass wir Kulturhauptstädte, Kulturmetropolen haben:
({6})
München, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Leipzig - ich
will es nicht weiter aufzählen. Das ist das Gute. Mir liegt
daran gerade bei der Diskussion über die Hauptstadtkulturförderung deutlich zu machen, dass sich daran nichts
ändern wird und sich daran auch nichts ändern darf.
Aber wir benötigen eine Hauptstadt Berlin mit einer
großen kulturellen Ausstrahlung. Das berührt auch Fragen
der Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Hauptstadt,
auch Fragen der Identität. Wenn sich Identität über Kultur
definiert, dann bin ich sehr zufrieden mit dieser Identität.
({7})
Diese Aufgabe kann Berlin nicht allein leisten, das ist das ist zum Glück heute auch mehrfach gesagt worden eine nationale Aufgabe.
Viele - das will ich auch noch als Ergänzung sagen sind sich der finanziellen Situation der Stadt nicht voll bewusst. Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Erläuterung.
Das berührt nicht nur die Kulturpolitik, aber die eben auch.
Zwei bis dato hochsubventionierte Kulturmetropolen man muss von zwei sprechen, nämlich Ost- und Westberlin -, deren kulturelle Vielfalt und Qualität es zu erhalten,
ja zu erweitern gilt, befinden sich jetzt - ich sage: Gott sei
Dank - unter einem Dach, aber eben auch unter einem viel
zu engen Dach, was die Finanzierung betrifft. Deshalb ist
Hilfe nötig, und diese Hilfe gibt es auch.
Ich bin froh über den Beitrag, den die Bundesregierung
leistet. 474 Millionen DM stellt sie in diesem Jahr der
Berliner Kultur zur Verfügung. Gestatten Sie mir eine
Fußnote: Ich wäre ein schlechter Berliner Abgeordneter,
wenn ich mir nicht auch eine andere Zahl vorstellen
könnte.
({8})
Allerdings bin ich mir natürlich auch bewusst, dass die
Notwendigkeit und die Wirksamkeit der Hauptstadtkulturförderung außerhalb Berlins vermittelt werden muss.
Herr Lammert, Sie werden das in NRW machen müssen,
Frau Griefahn in Niedersachsen und andere wo auch immer. Das gilt übrigens nicht nur für die Hauptstadtkulturförderung, das gilt natürlich auch für andere Politikbereiche.
Unter diesem Gesichtspunkt und auch unter dem Gesichtspunkt der Unterstützungsbereitschaft verstehe ich
die vielen kritischen Blicke vieler Kolleginnen und Kollegen und auch von Staatsminister Naumann auf die jetzt gestatten Sie mir einmal, Ross und Reiter zu nennen
und nicht immer nur von Berlin zu sprechen - christdemokratische Kulturpolitik in Berlin - eine Kulturpolitik, von der ein ehemaliger christdemokratischer Kultursenator in Berlin sagte, dass sie in der Krise sei. Ich behaupte, das stimmt. Die Situation ist so, wie Herr
Hassemer sie beschreibt. Nicht die Kultur ist in Berlin in
der Krise, sondern die Kulturpolitik ist in der Krise.
({9})
Ich erwähne diese kritische Anmerkung - Sie merken,
dass ich versuche, Brücken zu bauen - durchaus auch als
vertrauensbildende Maßnahme für die Stadt, um die Bereitschaft für die Kulturförderung in diesem Hohen Hause
zu erhöhen.
Der Rücktritt von Frau Thoben war keine Flucht vor
Verantwortung, sondern ich glaube, er war die Konsequenz aus der desolaten Lage, in die die größte Regierungspartei in Berlin die Kulturpolitik getrieben hat. Der
Herr Staatsminister hat vorhin schon das Wort des Regierenden Bürgermeisters von abgetanzten und abgelatschten Künstlern zitiert.
({10})
Wenn man seine Kulturkompetenz derart präsentiert, darf
man sich natürlich nicht wundern, wenn andere fragen:
Was habt ihr eigentlich mit Kultur am Hut, wenn der Regierende Bürgermeister das sagt?
({11})
Ich gestatte mir, hier auch ein Zitat von Fraktionschef
Landowsky zu bringen, der - das finde ich besonders bemerkenswert - unter Beifall seiner Fraktion im Berliner
Abgeordnetenhaus sagte, dass „jeder Bundespolitiker, der
früher nichts zu sagen hatte, weil es keine Kulturpolitik
und -kompetenzen gegeben hat, sich nun als Oberkulturguru hier in Berlin aufspielt“. Das sind keine Vertrauen erweckenden Maßnahmen. Solche Aussagen schaden der
Stadt.
({12})
Auch zu den „Bundesschlaumeier“-Vorwürfen gegen
den Staatsminister kann ich nur sagen: Wenn das im Interesse der Stadt geschehen soll, dann weiß ich nicht, wo die
Leute das Interesse der Stadt sehen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat dieses Verhalten meines Erachtens gut dargestellt. Sie hat es „in Kulturfragen
aggressives Desinteresse nach Gutsherrenart“ genannt.
Besser kann man das, glaube ich, nicht ausdrücken.
Berlin hat es nicht nötig, als demütiger Bittsteller aufzutreten. Ich glaube auch - das ist bestätigt worden -, dass
es ein Recht darauf hat, dass die Hauptstadtkultur gefördert wird. Aber man sollte vielleicht lieber nicht in die
Hand beißen, aus der man Gelder haben möchte. Das
dient bestimmt weder der Stadt noch der Kultur der Stadt.
Herr Stölzl, ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmal
alles Gute für Ihre schwere Arbeit wünschen. Aber Sie
werden noch eine Menge Bewusstseinsarbeit bei denen
leisten müssen, die Sie inthronisiert haben. Das wird eine
schwierige Aufgabe werden.
({13})
Ich hoffe auch, dass wir - ich glaube, wir sind da bei
uns schon ziemlich weit - wegkommen von der Konfrontation und hinkommen zum Dialog. Er wird nicht ohne
Konflikte sein; das geht nicht anders. Es ist ja nicht so,
dass ein Haushalt voll und der andere leer ist, sondern wir
haben bei beiden Probleme. Aber ich glaube, dass es mit
Staatsminister Naumann und Senator Stölzl zum Dialog
kommt, weil Herr Naumann um die Verantwortung des
Bundes für die Hauptstadtkultur weiß und entsprechend
handelt. Herr Stölzl weiß sicher auch - nun zitiere ich einmal, Herr Lammert, aus Ihrem Antrag -, dass die „Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Berliner Kultur/-szene ... die überfällige Lösung struktureller Probleme nicht ersetzen“ kann. Ich glaube, der neue
Eckhardt Barthel ({14})
Kultursenator weiß das. So wird es auch einfacher, das
umzusetzen.
Ich bin froh über das Konzept, das der Staatsminister
für die Hauptstadtkulturförderung auf den Tisch gelegt
hat.
({15})
Ich finde es richtig, dass anstatt pauschaler Überweisungen oder Beteiligungen einige Kulturinstitute voll übernommen werden, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens wird es dadurch eine klarere Verantwortungszuordnung - das finde ich immer wichtig - und zweitens
eine größere Transparenz, geben, etwa hinsichtlich der
Frage: Wo fließen die Mittel hin? Schon aus diesen beiden
Gründen finde ich das sehr gut. Wie ich gehört habe, wird
das Land Berlin bei diesen Institutionen durchaus Mitspracherechte haben. Das finde ich in Ordnung.
Was ich an dem vorliegenden Konzept ebenfalls sehr
in Ordnung finde, ist der Hauptstadtkulturfonds, denn dahinter steckt der Gedanke - ich hoffe, es läuft so, wie es
geplant ist -, dass es neben der Förderung der großen
Institutionen auch freie, innovative Kulturprojekte geben wird, die gefördert werden. Das halte ich für wichtig.
Wir brauchen nicht nur diese Leuchttürme - ich kann dieses Wort eigentlich nicht ertragen -, sondern wir brauchen
auch Innovatives, das Chancen bietet.
({16})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Lassen Sie mich
mit Folgendem abschließen: Berlin braucht die Unterstützung des Bundes. Aber die Bundesrepublik Deutschland
braucht auch eine Hauptstadt mit großer kultureller
Ausstrahlung. Da darüber Konsens zu bestehen scheint
und die Kultur des Bundes jetzt in guten Händen ist, bin
ich optimistisch, obwohl ich weiß, wie schwer die Aufgabe ist.
Ich bedanke mich.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine parlamentarische Debatte über die Hauptstadtkultur und die
Rolle des Bundes ist notwendig und überfällig. Die
CDU/CSU hat sie angestoßen. Vielleicht wird es uns auch
gelingen, die parlamentarische Geschäftsführung demnächst davon zu überzeugen, dass Kulturdebatten keine
Mitternachtsveranstaltungen, sondern von tagespolitischem Interesse sind und dass sie in diesem Hause auch
einmal bei Sonnenschein stattfinden sollten. Eine nächste
Möglichkeit würde sich im Übrigen im Rahmen der kommenden Haushaltsdebatte bieten. Der Kulturetat hat ja
bisher in diesen Debatten eine untergeordnete Rolle gespielt. Ich rege an, zwischen den Fraktionen eine entsprechende konsensuale Vereinbarung zu finden, damit
wir als „Kulturmenschen“ nicht immer ins Hintertreffen
geraten.
({0})
Mit der durch den Umzug von Legislative und Exekutive gewachsenen Verantwortung des Bundes für die
Hauptstadtkultur musste endlich die Exekutierung der
Hauptstadtkulturförderung beendet werden. Es war ja ein
ärgerlicher Vorgang, dass in den parlamentarischen Gremien das, was Beamte vorher schon längst verabschiedet
hatten, nur noch nachträglich abgesegnet worden ist. Vor
diesem Hintergrund macht die Parlamentarisierung
Sinn. Wir wollten dieses Verfahren nicht fortsetzen. Als
Fraktion bekennen wir uns zu der Verantwortung des
Bundes für die kulturelle Rolle Berlins als Bundeshauptstadt und halten dies nicht für lediglich schmückendes
Beiwerk des Sitzlandes.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat vorhin die Behauptung aufgestellt, unser Antrag sei als Lob für den
Kulturstaatsminister zu verstehen. Dieser Einschätzung
möchte ich widersprechen. Für das Lob für den Kulturstaatsminister ist in der Regel Michael Naumann selbst
zuständig. Er lässt sich in dieser Tätigkeit von keinem
überbieten, schon gar nicht von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({1})
Die Diskussion über die Hauptstadtkultur sollte allerdings auch den Kulturföderalismus fest im Blick behalten. Die Länder werden das Engagement des Bundes
umso mehr akzeptieren, je mehr von ihm kulturelle Vielfalt gefordert und gefördert wird. Deswegen wäre es gut,
wenn, statt in der Bundeskulturpolitik auf mehr Zentralität zu setzen, von dieser Debatte das Signal ausginge,
dass der Bund zu seiner kulturellen Verantwortung auch
in anderen Bereichen steht. Es wäre beispielsweise gut,
wenn der leibhaftige Staatsminister seinen Kleinkrieg gegenüber den Bayreuther Festspielen beenden und dieses
nationale Musikereignis mit Weltrang außer Streit stellen
würde. Es wäre gut, wenn er die kleinlichen Kürzungsmaßnahmen im Hinblick auf das Deutsche Museum in
München und andernorts zurücknähme. Es wäre ebenfalls
ein gutes Signal, wenn der Versuch beendet würde, die
Förderung der Vertriebenenkultur zu beerdigen.
({2})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrücklich die Überlegungen des Bundes, Teile der Hauptstadtkultur, der Kultur in der Hauptstadt, auch institutionell, das
heißt hundertprozentig, zu fördern. Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit waren in der Vergangenheit nicht umfassend gewährleistet. Beispielhaft sei nur auf die Versuche der
Finanzsenatorin Fugmann-Heesing hingewiesen, Bundeskulturmittel für andere Zwecke umzuwidmen.
Wir erwarten allerdings von Ihnen, Herr Naumann, im
Rahmen Ihrer haushaltsrechtlichen Absicherung eine entsprechende Vorarbeit. Die hundertprozentige dauerhafte
Förderung einzelner Einrichtungen muss im Haushalt
umfassend dargestellt werden. Das von den Kollegen der
Regierungsfraktionen dargestellte Verfahren einer Pauschalzuweisung reicht nicht mehr aus. Dies erfordern die
Haushaltsgrundsätze.
Ich rechne daher mit einem raschen Abschluss der Verhandlungen mit dem Land Berlin. Denn Mitte dieses Jahres muss ein Haushaltsentwurf vorliegen. Dann müssen
alle Haushaltspositionen fixiert werden, und zwar die
Sachmittel, die Investitionen und die Personalkosten. Das
ist sehr viel Arbeit.
Ich halte es für eine ungewöhnliche Verhandlungsstrategie, wenn Sie vor dem Deutschen Bundestag despektierliche Bemerkungen über Berliner Verfassungsorgane
machen.
({3})
Zumindest glaube ich nicht, dass dies für das Verhandlungsklima zwischen dem Bund und dem Land Berlin förderlich ist. Es ist eines Mitgliedes der Bundesregierung
keinesfalls würdig, in dieser Art und Weise über andere
Verfassungsorgane in der Bundesrepublik herzuziehen.
({4})
Alle diejenigen, die hier heute sagen: „Es ist eine gute
Entscheidung, dass der Bund Teile der Berliner Hauptstadtkultur institutionell fördert“, möchte ich warnen. Ob
dieses Projekt mit weniger Geld vonseiten des Bundes
durchgeführt werden kann, bezweifle ich. Da nutzt es wenig, wenn hier viel von Hegel gesprochen wird. Da sollten Sie mehr mit Eichel sprechen, um zu Ergebnissen zu
kommen. In der Substanz, so glaube ich, hilft Ihnen hier
Eichel mehr als Hegel.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bedarf klarer Kriterien, was der Bund im Rahmen der institutionellen
Hauptstadtkulturförderung übernimmt. Wir als Unionsfraktion haben einige Orientierungspunkte geliefert:
die Verantwortung für das Erbe Preußens, was nicht nur
eine nationale Aufgabe ist, sondern auch die bundespolitische Finanzierungskompetenz erfordert, die Förderung
von einzigartigen Einrichtungen in Berlin und ein klares
Bekenntnis zur nationalen Gedenkstättenarbeit.
Was der Kulturstaatsminister hier und an anderer Stelle
gesagt hat, ist noch nicht ausreichend und genügt keinerlei seriösen Ansprüchen. Entgegen der Behauptung meines Vorredners ist kein Konzept erkennbar und es mutet
eher peinlich an, wenn die Übernahme des Jüdischen
Museums, bei welchem man vortrefflich diskutieren
kann, ob es ein bundespolitisch solitäres Ereignis ist und
von uns individuell gefördert wird, mit Defekten in der
Klimaanlage begründet wird. Dies kann kein Unterscheidungskriterium dafür sein, ob etwas in Bundesobhut übernommen wird oder nicht.
Auch der Versuch, sich mit besonders hochwertigen
Kultureinrichtungen des Landes Berlin wie zum Beispiel
den Philharmonikern zu kleiden, um sie mit einem möglichst niedrigen Zuschussbedarf einzukaufen, kann kein
Leitbild für seriöse Verhandlungen zwischen dem Bund
und Berlin sein. Es mag keinen überraschen, dass wir
Zweifel an den Vorschlägen haben. Die Ausführungen der
Kollegin Eichstädt-Bohlig wichen ebenso in wesentlichen
Punkten von dem ab, was Sie, Herr Naumann, hier vorgeschlagen haben.
Ich will abschließend klarstellen, dass sich der Bund
nicht nationaler Aufgaben entledigen darf, weil sie ihm
unangenehm, zu teuer oder gar ideologisch missliebig geworden sind. Ich sehe insbesondere für den Bereich der
nationalen Gedenkstätten einiges an Diskussionsbedarf. Hier möchten Sie, Herr Naumann, einiges übernehmen, manches ist Ihnen sehr unlieb. Ich denke hier beispielsweise an die „Topographie des Terrors“. Heinrich
Wefing beschreibt ihren Zustand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sehr zutreffend:
Da gibt es ein Haus ohne Ausstellung: das Jüdische
Museum. Und eine Ausstellung ohne Haus: die „Topographie des Terrors“. Schließlich, gleichsam als
doppelte Null-Lösung, weder Haus noch Ausstellung: den „Ort der Information“ am HolocaustMahnmal.
Das ist ein Problem, das im Rahmen dieser Diskussion
über die nationale Verantwortung für die Gedenkstättenarbeit ebenso gelöst werden muss wie die Frage der Verantwortung für das preußische Erbe. Hier muss um die
Zukunft und die finanzielle Ausstattung der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz vonseiten des Bundes noch einmal gestritten werden. Es wäre schön, wenn sich Geld und
Geist durch diese Diskussion ein Stück weit wieder versöhnten. Ihnen, Herr Senator Stölzl, wünsche ich bei dieser Aufgabe viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({6})
Abschließend hat der Senator für Wissenschaft, Forschung
und Kultur des Landes Berlin, Herr Christoph Stölzl, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einem Geschichtsfreund, der es noch nicht zum Parteifreund gebracht hat,
mag es gestattet sein, heute Abend einen etwas längeren
Zeitraum für die Bilanz des Verhältnisses zwischen dem
Bund und Berlin zu wählen. Ich sage ausdrücklich: Berlin sagt ohne Wenn und Aber Dank für Hilfe, Engagement,
Solidarität und - ich scheue das Wort nicht - Liebe für
seine aus vielen Erbschaften stammende Kultur, die ihm
durch den Bund und das Bundesparlament seit 1949 gegeben worden ist.
Ich sage Dank für eine Förderung - diejenigen, die dabei gewesen sind, wissen das ebenso wie Wolfgang
Schäuble -, die in weiten Teilen ohne Gängelband, in Diskretion, mit Augenmaß und manchmal mit notwendiger
Freimütigkeit erfolgte. Darum ist das, was Frau Leonhard
gestern angefangen hat, nämlich einerseits ihr strategischer Genius und andererseits die gewissermaßen kameradschaftliche Offenheit von Staatsminister Naumann, die
Fortsetzung einer alten und guten Tradition.
({0})
Das ist die eine Seite.
Aber es gibt auch die andere Seite: Eine Beurteilung
mit Augenmaß und Fairness wird trotz aller Kritik im Detail zugestehen müssen: Berlin hat in diesen Jahrzehnten
das Beste daraus gemacht, eine Stadt, die in einer schweren sozialen Krise immer noch 1 Milliarde DM bzw.
760 Millionen DM - je nachdem, ob man die religiöse
Kultur einbezieht - ausgibt, obwohl sie wahrlich, wie man
so sagt, andere Sorgen haben könnte. Einer solchen Stadt
kann man nicht generell vorwerfen, dass sie mit der Kultur schlecht umginge.
({1})
Nicht für sich allein, sondern für die Deutschen und für
ihr Verhältnis zu der Welt hat Berlin das - übrigens in Ost
und West - geleistet. Das ist hier schon gesagt worden.
Die Kultur, die nicht „der DDR war“, sondern in der DDR
und oftmals trotz der DDR entstanden ist, hat auch für das
Verhältnis der Deutschen zur Welt viel Gutes getan. Darum, und nur darum, dürfen wir heute dringlich darum bitten, dass das historisch gewachsene und deshalb notgedrungen seit 1990 ganz unvollkommene Vertragswerk zur
Förderung der Kultur in der Hauptstadt endlich vollendet
wird.
Berlin hat im Jahre 1990 im Vertrauen auf Art. 35 des
Einigungsvertrages stellvertretend für die Nation fast die
gesamte Kultursubstanz - verzeihen Sie mir dieses hässliche Wort - übernommen. Dass dies unter den sozialen
Prämissen dieser großen und armen Stadt nicht zu leisten
war, ist offenkundig. Darum, finde ich, muss in Fairness
neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu
einem Ergebnis, zu einem Vertragswerk, zu Organisationsformen und zu Kontrollformen führen. Ich sage es
ganz deutlich: Sie müssen dazu führen, dass wir uns als
Föderalisten reinen Herzens gemeinsam an den Kulturleistungen in Berlin erfreuen dürfen, auch dann, wenn die
Lasten endlich gerecht verteilt sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, spätestens
seit dem Moment, in dem das Parlament an hochsymbolischer Stelle in Berlin seinen Sitz genommen hat, wird die
unverzichtbare kulturelle Vielstimmigkeit von allen
Deutschen wahrgenommen. Niemand wird sagen können,
dass ihr föderaler Eigensinn, ihr eingewurzelter Stolz auf
regionale Kulturleistungen dadurch Schaden leidet. Wenn
man Berlins Kulturen liebt, wünscht man sich deshalb
noch lange keine Kulturhauptstadt. Was sich aber in Berlin spiegelt, das geht doch alle Deutschen an: das Erbe des
aufgeklärten Kosmopolitismus des 18., 19. und auch des
frühen 20. Jahrhunderts, die unauslöschlichen Erinnerungen an Diktaturen, Kriege und an die Spaltung der Welt,
aber auch an den Kampf um die Freiheit und die großen
Opfer, die Menschen dafür gebracht haben.
Die kulturellen Institutionen Berlins kann man auch
als Erinnerungszeichen einer gemeinsamen, dramatischen Geschichte lesen, die uns alle angeht und die wir
deswegen auch alle gemeinsam nach einem Schlüssel, der
ausgehandelt werden muss, finanzieren sollten.
Berlin ist aber trotzdem - keine Sorge - nicht nur Geschichte, sondern vor allem Zukunft. Die Deutschen
brauchen eine Hauptstadt, die sichtbar Erfolg hat. Berlin
leuchtet, Berlin zieht an, Berlin lockt Menschen, gerade
die jungen, aus der ganzen Welt an und Berlin ist Marktund Kampfplatz der Ideen und Träume.
Heinrich Mann hat sich Berlin einst als eine Menschenwerkstatt gewünscht, ein Labor, in dem sich politische Vernunft und Künste zum Nutzen einer neuen deutschen Demokratie mischen sollten. Berlin wünscht sich,
dass dieses Hohe Haus die Bundesregierung nachdrücklich ermuntern möge, nicht Anmut und nicht Mühe zu
sparen, um gemeinsam mit uns die anstehenden Probleme
zu lösen, die - Sie haben die Summen gehört; im Verhältnis zu diesen Summen geht es um Randprobleme - wahrlich zu lösen sind. Mit gutem Willen müssen sie schnell
vom Tisch gebracht werden. Lassen Sie uns dann gemeinsam das Gespräch mit der Welt in der Sprache der
Kultur, die alle Menschen verstehen, die guten Willens
sind, suchen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3182 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber hinaus soll
die Vorlage an den Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus und Verkehr
und den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sie sind
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich darf Sie bitten, noch einen Moment hier zu bleiben.
Obwohl die Reden für die beiden nächsten Tagesordnungspunkte zu Protokoll gegeben worden sind, haben
wir noch einige Formalitäten zu erledigen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem
Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Die Rolle der Interparlamentarischen Union
({1}) im Zeitalter der Globalisierung
- Drucksachen 14/1567, 14/2951 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Schloten
Dr. Rita Süssmuth
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden.1 Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung, Drucksache 14/2951. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/1567 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Heinrich
Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ gründen und Entschädigung von NSOpfern der Zwangssterilisation und der Euthanasie in die Wege leiten
- Drucksache 14/2298 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auch hier ist interfraktionell beschlossen worden, die
Reden zu Protokoll zu geben.2 Besteht dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2298 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. Mai des Jahres 2000,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.