Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/11/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Wehrbeauftragter, Sie haben den im Gesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen im Namen des ganzen Hauses alles Gute für Ihre Arbeit im Interesse der Bundeswehr. Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich rufe nun die Ta- gesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: 4 a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Deutschland im Aufbruch - Moderne Wirt- schaftspolitik für neue Arbeitsplätze b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung - Drucksache 14/2909 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- genabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gunnar Uldall, Birgit Schnieber-Jastram, Wolfgang Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen - Drucksache 14/2988 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifel sind nicht mehr erlaubt: Es gibt in Deutschland einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung, und zwar einen Aufschwung, der Präsident Wolfgang Thierse alle Branchen erfasst hat, den Export gleichermaßen wie den Binnenmarkt. Das weisen die Wachstumszahlen aus, die wir zu erwarten haben. Alle Institute rechnen mit einem wirtschaftlichen Wachstum für dieses Jahr in Höhe von 2,8 Prozent sowie mit einem ebenso hohen im nächsten Jahr. Die Europäische Kommission und der Internationale Währungsfonds halten sogar ein darüber hinausreichendes Wachstum für möglich. Fazit: Wir haben in diesem Land die Chance, die erste Dekade des neuen Jahrhunderts zu einer Dekade der wirtschaftlichen Vernunft und des sozialen Ausgleichs zu machen. Wir werden diese Chance nutzen. ({0}) Aber es sind nicht nur kühle Zahlen über wirtschaftliches Wachstum, die beeindrucken - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch international. Wir können vielmehr mit großer Freude feststellen, dass das Wachstum, dass der Aufschwung inzwischen auch den Arbeitsmarkt erreicht hat. Das weisen die Zahlen ebenso klar aus. Die Arbeitslosenzahlen sind im April dieses Jahres gegenüber dem April des Vorjahres um exakt 156 000 zurückgegangen. Wir sind unter der 4-Millionen-Grenze. Wir haben alle Chancen - so die wirtschaftswissenschaftlichen Institute, so andere Institutionen, die sich mit diesen Fragen befassen -, am Ende dieser Legislaturperiode weniger als 3,5 Millionen Arbeitslose zu haben. Ich halte das für den zentralen Erfolg der deutschen Politik. ({1}) Der Opposition, die gelegentlich daran erinnert, dass das mit der Politik in diesem Land nichts zu tun habe, sei übrigens gesagt ({2}) - das ist sehr interessant -, dass während der ganzen 90erJahre, dass während der ganzen Zeit, in der Sie regierten, die Zahl der Arbeitslosen deutlich über 4 Millionen lag und während nicht unerheblicher Teile der 90er-Jahre sogar an die 5-Millionen-Grenze herankam. ({3}) Jetzt sind wir bei unter 4 Millionen. Wir werden diesen Weg konsequent und entschlossen weitergehen. ({4}) Für mich besonders erfreulich ist der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit. Wir hatten 1999 im Vergleich zu 1998 über das Jahr hinweg einen Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit um mehr als 9 Prozent. Wir haben für April dieses Jahres, verglichen mit dem Monat März, einen Rückgang der Arbeitslosenquote bei Jugendlichen um 1,8 Prozent. Wir haben die Jugendarbeitslosigkeit, verglichen mit dem Rückgang der allgemeinen Arbeitslosigkeit, um mehr als das Doppelte verringern können. Das ist ein zentraler Erfolg der Politik unserer Regierung, der Politik der rot-grünen Koalition. ({5}) Ich erinnere mich noch ganz gut an die Debatte über das Sofortprogramm der Bundesregierung hier in diesem Hohen Hause, in der uns quasi vorgeworfen worden ist, dass wir auch mit staatlichen Maßnahmen dafür sorgen wollen und werden, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zurückgeht. Was für ein Vorwurf meine Damen und Herren! Wir haben es geschafft, den Jugendlichen endlich wieder eine Perspektive zu geben. Das ist nicht nur Arbeitsmarktpolitik, das ist Gesellschaftspolitik par excellence. ({6}) Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen; denn wir wissen, dass in vielen wichtigen Bereichen, vor allen Dingen im Osten unseres Landes, noch zu wenig betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Dies ist übrigens nicht deshalb so, weil die meisten Unternehmen dort in puncto Ausbildung Drückeberger wären, sondern vor allen Dingen deshalb, weil es dort weniger Betriebe gibt. Im Vergleich zum westdeutschen Durchschnitt gibt es etwa im Mittelstand deutlich weniger Betriebe als bei uns. Hierin liegt einer der zentralen Gründe, warum wir bei der Bereitstellung von betrieblichen Ausbildungsplätzen im Osten des Landes noch mehr Probleme haben als im Westen des Landes; denn im Westen haben wir in gemeinsamer Anstrengung des Bündnisses für Arbeit in weiten Bereichen bereits eine ausgeglichene Situation zwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und der Nachfrage nach solchen. ({7}) Wir müssen deshalb insbesondere im Osten unseres Landes, in den neuen Bundesländern, mit den bisher realisierten Programmen weitermachen, um den Jugendlichen auch dort so weit wie möglich eine Perspektive im eigenen Land, in der eigenen Region zu geben. Das ist Kern unserer Anstrengungen, und wir werden nicht nachlassen, auf diesem Weg fortzufahren. Meine Damen und Herren, das, was ich eben über wirtschaftliches Wachstum und den Arbeitsmarkt gesagt habe, vollzieht sich in einer fast inflationsfreien Situation. ({8}) Übrigens: All diejenigen, die seinerzeit befürchtet haben, die dramatisch gestiegenen Rohölpreise und die Schwäche des Außenwerts - ich betone: des Außenwerts - des Euro würden zu massiven Inflationsschüben im Inneren der Bundesrepublik führen, haben sich getäuscht. ({9}) Im April dieses Jahres war eine Inflationsrate von 1,5 Prozent - ich unterstreiche: 1,5 Prozent - zu verzeichnen, während sie im März noch bei exakt 1,9 Prozent lag. Sie sehen also: Die Befürchtungen, die übrigens gelegentlich insbesondere von denen ausgesprochen worden sind, die die Frage des Euro noch als eine Frage von Leben und Tod in Europa bezeichnet haben, sind irreal. ({10}) Ich will dazu gleich ein paar Bemerkungen machen. Die positiven Wachstumsraten und die Tatsache, dass wir über Inflation im Euroland Gott sei Dank nicht zu reden brauchen, macht die Kraft der europäischen Volkswirtschaften, jener Volkswirtschaften, die den Euro-Raum bilden, deutlich. Diese Kraft der Volkswirtschaften und die Wachstumserwartungen, die wir nicht nur in Deutschland, sondern die wir im Euroland insgesamt haben, machen die Stärke der europäischen Währung aus. Deshalb ist es keine Gesundbeterei, wenn man darauf hinweist, sondern ökonomische Einsicht, und sie ist richtig. Es ist auch vernünftig, darauf hinzuweisen und keine Angstmacherei mit diesem Tatbestand zu betreiben. ({11}) Im Übrigen - auch das gehört zu den ja doch verfügbaren Einsichtsmöglichkeiten - habe ich mir einmal die Exportquote von Bayern geben lassen. ({12}) Das ist eine ganz interessante Zahl, weil man von einem dort amtierenden Ministerpräsidenten ja gelegentlich Sprüche hört, die so klingen, als hätten seine Partei und sein früherer Parteivorsitzender mit der Einführung des Euro nichts, aber auch nicht das Geringste zu tun. ({13}) Das hat er ja auch nicht, oder? - Ich habe es immer anders verstanden. Die Exportquote in Bayern beträgt ungefähr 37 Prozent. ({14}) Es fehlt euch noch ein bisschen, um auf 38 Prozent zu kommen. Sie ist übrigens fast exakt so hoch wie die in den meisten anderen Bundesländern und fast genauso hoch wie die von Niedersachsen. ({15}) Das hat natürlich mit dem Auto zu tun; das ist ja keine Frage. ({16}) - Nein, nicht BMW meine ich jetzt, sondern Volkswagen, Herr Glos. ({17}) Rund 30 Prozent aller deutschen Industriearbeitsplätze hängen vom Export ab. Aber es ist die Auffassung all derjenigen, die wirklich Wirtschaft praktizieren, dass wir uns trotz der Schwäche des Euro, und zwar ausschließlich in der Parität zum Dollar, deswegen keine großen Sorgen machen müssen, weil die Stärke der Währung unbezweifelbar da ist. Ferner brauchen wir angesichts der Sicherung der Arbeitsplätze im Export nicht unbedingt zu weinen, wenn es der deutschen Exportwirtschaft zulasten anderer besser geht. Denn wir hatten schon einmal andere Zeiten: Als die DM-Dollar-Parität bei 1,35 DM und darunter lag, hatten wir Grund, über den Außenwert zu weinen, weil wir enorme Schwierigkeiten beim Export hatten. Mir kommt es darauf an, allen Menschen in diesem Land zu sagen: Die Stärke einer Währung bemisst sich nach der Kraft der dahinter stehenden Volkswirtschaften. Der Außenwert dieser Währung wird sich dieser Kraft angleichen. Davon bin ich fest überzeugt. Bis dahin lasst uns ein bisschen Freude daran haben, dass es unserer Exportwirtschaft so gut geht, meine Damen und Herren! ({18}) Ich stelle mir gelegentlich vor, welche Reden in diesem Haus gehalten würden, wenn die Machtverhältnisse umgekehrt wären. Mit Zahlen, die nur ein Zehntel der jetzigen betragen würden, würden Sie einen Tanz um das goldene Kalb aufführen; davon bin ich fest überzeugt. ({19}) Als die Wachstumserwartungen für 1998 und 1999 nicht so glanzvoll waren, wie wir sie gerne gehabt hätten, hat die Opposition gesagt, dass das natürlich an der Regierung liegt. Jetzt habe ich eine Stellungnahme - ich glaube, von Frau Merkel - gelesen, in der steht, jetzt, wo die Wachstumsraten nach oben gehen, liegt es natürlich nicht an der Regierung. Das überrascht mich. ({20}) Frau Merkel, das ist Politik nach dem Motto: Wenn in Deutschland die Sonne lacht, hat es die CDU gemacht. Gibt es winters Eis und Schnee, war es die böse SPD. ({21}) So kann man es doch nicht machen. Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir eine Situation in Deutschland haben, die im Vergleich zu dem, was wir im letzten Jahrzehnt der früheren Regierung erlebt haben, glanzvoll ist, hat etwas mit den Ansätzen zu tun, die wir gemacht haben und die zum Teil bereits in das Gesetzblatt Eingang gefunden haben. Das hat zum Beispiel mit der Steuerreform zu tun, die der Bundesfinanzminister auf den Weg gebracht hat und die zu großen Teilen bereits durchgesetzt ist und weiter durchgesetzt werden wird. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass wir uns nicht auf einen fruchtlosen Streit eingelassen haben, welches der richtige Weg in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sei: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Diese Situation gäbe es, wenn wir nicht beides gemacht hätten, in Deutschland nicht. Wir haben mit den ersten Maßnahmen, mit dem Steuerentlastungsgesetz, angesichts damaliger konjunktureller Schwäche auf dem Binnenmarkt massiv für zugeführte Kaufkraft bei den durchschnittlich Verdienenden in diesem Land gesorgt. Es hat nicht nur soziale Gründe, dass wir Entlastungen in großem Umfang gemacht haben. Nein, es entsprang auch der ökonomischen Einsicht, dass es sinnvoll ist, die Nachfrage zu mobilisieren, da konjunkturelle Erwartungen auf dem Binnenmarkt noch nicht so realisiert werden konnten, wie wir es uns wünschten. Deshalb ging es uns immer um wirtschaftliche Vernunft und sozialen Ausgleich, wenn wir dafür gesorgt haben, dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in diesem Land von dem, was sie brutto verdienen, netto mehr übrig haben. Das ist der Kern unserer Politik. ({22}) Das war auch der Grund, warum wir das Kindergeld kräftig erhöht haben, während Sie nur herumgeredet haben. Wir haben das Kindergeld in mehreren Schritten um 50 DM pro Kind erhöht. Es sind die größten Sprünge, die beim Kindergeld in der Geschichte der Bundesrepublik gemacht worden sind. Das war wirtschaftlich vernünftig und sozial gerecht. ({23}) Das wird jetzt weitergehen. Wir befassen uns nun mit der Angebotsseite. Die Beschlüsse des Finanzausschusses sind gefasst. In der nächsten Woche wird, soweit ich es mitbekommen habe, die Mehrheit im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass das eichelsche Unternehmenssteuerkonzept Gesetz werden wird. ({24}) Es ist auch nötig, dass es Gesetz wird; denn damit nehmen wir die von uns beabsichtigte Stärkung der Angebotsseite vor. Das soll den Unternehmen in Deutschland bessere Möglichkeiten geben. Sie sehen ja, dass das greift. Wenn ich „bessere Möglichkeiten für Unternehmen“ sage, meine ich schlicht, dass wir jene Gewinne, die in Deutschland gemacht werden und die bei uns in Arbeitsplätze investiert werden, steuerlich besser stellen wollen als jene Gewinne, die nach Luxemburg oder Liechtenstein transferiert werden. Ich weiß gar nicht, was daran falsch sein soll. ({25}) Das ist der Kern des eichelschen Konzepts. Das wird durchgesetzt. Wir werden mit dem Pfusch jährlicher Steuergesetze aufhören, weil diese zu völliger Unkalkulierbarkeit bei den Investoren, aber auch bei den Verbrauchern geführt haben. Das ist der Grund, warum Hans Eichel eine Konzeption vorgelegt hat, die bis zum Jahr 2005 tragen wird. Wir brauchen die Kalkulierbarkeit für Investoren. ({26}) Kern dessen, worum es uns geht, ist, eine im internationalen und auch im europäischen Wettbewerb vergleichbare Unternehmensbesteuerung zu schaffen. Diese wird durchgesetzt. Wir, das heißt, die staatliche Ebene, werden uns mit einem Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent begnügen. Wir räumen den Personengesellschaften - soweit sie es wollen - eine Optionsmöglichkeit ein, ohne Körperschaften werden zu müssen. All denjenigen, die fragen: Was macht Ihr denn bei der Einkommensteuer?, möchte ich ein paar nüchterne Zahlen entgegenhalten, mit denen sich zum Beispiel beweisen lässt, dass durch eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes, die immer wieder gefordert wird, alle möglichen Gruppen entlastet werden, aber jedenfalls nicht die hart arbeitenden Mittelständler in diesem Land. ({27}) Nach den Zahlen, die mir vorliegen, haben 78 Prozent derer, die über gewerbliche Einkommen verfügen, also die klassischen Mittelständler, ein zu versteuerndes Einkommen - ich betone: ein zu versteuerndes Einkommen; Sie müssen natürlich die Freibeträge einrechnen; ansonsten ist es arg wenig - von unter 100 000 DM. Diesen Menschen, also 78 Prozent derer, auf die Sie sich immer berufen, helfen Sie doch nicht mit der Reduzierung des Spitzensteuersatzes. Die Einkommen dieser Menschen sind doch gar nicht so hoch, dass sie auch nur in die Nähe des Spitzensteuersatzes kommen. ({28}) Auf den Weg, den Hans Eichel beschritten hat - Eingangssteuersatz senken, bei der Progression etwas tun und bei der Gewerbesteueranrechnung in doppelter Weise hilfreich sein -, sind die meisten Mittelständler angewiesen. Sie machen dagegen Politik für vielleicht 5 Prozent des Mittelstandes, aber nicht für mehr. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein. ({29}) Die Politik, die wir machen, für die der Bundesfinanzminister steht und für die er sich übrigens große Zustimmung bei den Deutschen erworben hat, und zwar völlig zu Recht, wird unbeirrt Schritt für Schritt fortgesetzt werden. Ich kann an die Adresse der Mehrheit im Bundesrat, an die unionsgeführten Länder, nur warnend sagen: Derjenige, der alle nasenlang ankündigt: „Wenn Ihr nicht deutlich mit dem Spitzensteuersatz runtergeht, dann werden wir die eichelsche Steuerreform blockieren“, der blockiert den Aufschwung, der blockiert den Abbau der Arbeitslosigkeit und der blockiert die Chancen für die jungen Leute in unserem Land. Das werden wir Ihnen jeden Tag deutlich machen. Dann werden wir sehen, was passiert. ({30}) Das dritte Element, mit dem wir die Rahmenbedingungen verbessert haben, ist das Bündnis für Arbeit. Ich habe die Häme, besonders Ihre, Herr Brüderle, noch im Ohr, mit der Sie sich über dieses Bündnis geäußert haben. Sie hatten wohl die Hoffnung, dass das Bündnis platzen würde. Aber solche Hoffnungen sind Hoffnungen gegen die Menschen in unserem Land. Das müssen Sie sich klarmachen. Sie mögen parteipolitisch motiviert sein. Aber sie haben mit den Interessen der Menschen in diesem Land nicht das Geringste zu tun. ({31}) Als wir dann, weil wir vernünftige Gesprächspartner gefunden hatten, eine Tarifrunde in den wichtigsten Branchen dieses Landes, die den Aufschwung und den Abbau der Arbeitslosigkeit unterstützt, zustande gebracht haben, hätten Sie wenigstens einmal sagen können: Das haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände unter der Stabführung der Bundesregierung gut gemacht. Aber diese Größe hatten Sie nicht. ({32}) Sie sollten sie sich erwerben, wenn Sie wieder etwas zu sagen haben wollen. Im Bündnis für Arbeit haben wir nicht nur einen Ausbildungskonsens hergestellt; ({33}) vielmehr haben wir durch Diskussionen dafür gesorgt, dass von den gesellschaftlichen Kräften - es geht um Bereiche, in denen die Bundesregierung eben nicht autonom handeln kann - jener Kurs, für den diese Bundesregierung und diese Koalitionsmehrheit stehen, offensiv unterstützt worden ist. Das ist eine Leistung, die man nicht klein schreiben sollte; denn sie ist in diesem Land leider nicht selbstverständlich; sie musste erarbeitet werden. Wir werden im Bündnis für Arbeit in den nächsten Monaten an den Punkten Ausbildung und - vor allen Dingen - Weiterbildung weiterarbeiten. Hinzu kommt eine Gott sei Dank - wachsende Volkswirtschaft. Die Arbeit daran wird diesmal hoffentlich mit Unterstützung des ganzen Hauses getan. Aber die Frage, die wir noch nicht beantwortet haben, lautet: Welche gesellschaftlichen Gruppen profitieren von dieser wachsenden Volkswirtschaft? Wir müssen im Bündnis für Arbeit und später dann auch hier nicht nur darüber reden, sondern auch Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass breite Schichten der arbeitenden Bevölkerung am Wachsen des Kapitalstocks unserer Volkswirtschaft gerecht beteiligt werden. Das ist unsere große Aufgabe. ({34}) Ich denke, damit ist der wirtschafts- und finanzpolitische Dreiklang unserer Politik deutlich geworden. Das erste Element besteht in einer wachstums- und beschäftigungsorientierten Steuerpolitik und in einer ebensolchen Abgabenpolitik. Ich möchte einmal daran erinnern, dass beispielsweise die Beiträge zur Rentenversicherung nach jahrelangem Anstieg gesunken sind, seit wir regieren. Das ist für die Betriebe, zumal für die lohnintensiven, außerordentlich viel wert. Das sollte man einmal zur Kenntnis nehmen. ({35}) Man sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass der Versuch der Konsensbildung über das Bündnis für Arbeit das zweite Element dieser Politik - richtig und wichtig ist. Dasselbe gilt für das dritte Element dieser Politik - ich nehme an, der Bundesfinanzminister wird sich in der Debatte noch dazu äußern -, nämlich die Konsolidierung des Haushalts. Dies gilt angesichts der Tatsache, dass Sie uns 1,5 Billionen DM Schulden hinterlassen haben, für die wir jedes Jahr 82 Milliarden DM Zinsen zahlen müssen. ({36}) Diese Politik ist übrigens nicht nur im nationalen Maßstab außerordentlich wichtig; vielmehr trägt die eichelsche Konsolidierungspolitik dazu bei, dass die Europäische Zentralbank, die ja in eigener Verantwortung handelt, ein für uns so wichtiges, weil wachstumsfreundliches Zinsniveau aufrechterhalten kann. Ich gehe davon aus, dass das auch in Zukunft gelingt. Aber die unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist die Konsolidierungspolitik des Bundesfinanzministers. Deswegen unterstreiche ich auch hier: All denjenigen, die bereits jetzt darüber reden, dass man vielleicht zu erzielende Einnahmen - woraus auch immer - zur weiteren Absenkung des Spitzensteuersatzes nutzen könnte, sage ich: Größeren Unsinn kann man wirtschaftspolitisch nun wirklich nicht anrichten. ({37}) Diese Einnahmen gehören - ich erinnere an die Größenordnung unserer Schulden - in die Schuldentilgung. Wenn das geschehen ist, kann man darüber reden - das wäre eine vernünftige Diskussion -, ob diejenigen Zinsaufwendungen, die dann nicht mehr nötig sind, für zukunftsgerichtete Investitionen verfügbar gemacht werden können. Nur so herum geht es. Wir können nicht bereits verteilen, was wir noch gar nicht in der Tasche haben. ({38}) Ich mache deutlich: Der Weg, den wir gegangen sind, ein Weg wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit, führt zu sichtbaren Erfolgen, was das wirtschaftliche Wachstum angeht, er führt zu sichtbaren Erfolgen, was den Arbeitsmarkt angeht. Deswegen werden wir diesen Weg weitergehen, meine Damen und Herren, fest und entschlossen. Sie können und Sie sollten ihn kritisch begleiten, aber auf keinen Fall sollten Sie ihn blockieren, wenn Sie wirklich an Deutschlands Interessen und nicht nur an Parteipolitik denken. ({39})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Kollegen Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSUFraktion, das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tagesordnung für die heutige Sitzung des Deutschen Bundestages steht „Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung“. Streckenweise habe ich gedacht, es sei eher eine Kasperade, die hier abgehalten wird. ({0}) Der Titel dieser Regierungserklärung, meine Damen und Herren, lautet: „Deutschland im Aufbruch - Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Dieser Titel allein täuscht über die wahre Lage der Volkswirtschaft und des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik Deutschland hinweg. Deutschland ist nicht im Aufbruch, es gibt auch keine moderne Wirtschaftspolitik und, Herr Bundeskanzler, wir sind von neuen Arbeitsplätzen in Deutschland nun wirklich weit entfernt. ({1}) Sie berufen sich immer wieder und auch heute Morgen auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit. Herr Bundeskanzler, der Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland - Sie wissen das - ist im Wesentlichen statistisch begründet. Er ist im Wesentlichen eingetreten und er wird sich fortsetzen, selbst wenn Sie sich mit Ihrer ganzen Regierung entschließen sollten, bis zum Ende dieser Legislaturperiode in die Toscana zu reisen, ({2}) allein aus Gründen, die im Bevölkerungsaufbau, in der so genannten demographischen Entwicklung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland liegen. ({3}) Es scheiden nämlich sehr viel mehr ältere Beschäftigte aus dem Arbeitsmarkt aus, als jüngere Beschäftigte in den Arbeitsmarkt nachwachsen. Ihre ganze Hoffnung, Herr Bundeskanzler, richtet sich darauf, dass ältere Arbeitslose zu Rentnern werden, und nicht darauf, dass jüngere Arbeitslose zu Beschäftigten werden. Das ist die Wahrheit. ({4}) Sie haben ganz offensichtlich aus erkennbaren Gründen darauf verzichtet, einen europäischen Vergleich über die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten anzustellen. Herr Bundeskanzler, die Entwicklung des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik Deutschland ist im Jahre 1999 praktisch zum Stillstand gekommen. Es hat in Deutschland keine neuen Beschäftigten, keine zusätzlichen Arbeitsplätze gegeben. Wir haben bei den Beschäftigten gerade einmal ein Wachstum von 0,2 Prozent gehabt. Das sind im Jahresdurchschnitt etwa 30 000 zusätzliche Beschäftigte. Hätten wir den europäischen Durchschnitt - nur den europäischen Durchschnitt! - im Zuwachs von Beschäftigung erreicht, nicht bei der Statistik der Arbeitslosigkeit - der bei knapp 2 Prozent lag, dann hätte es in der Bundesrepublik Deutschland rund 500 000 Beschäftigte mehr geben müssen. Davon ist dieses Land weiter entfernt denn je zuvor. ({5}) Sie haben nicht nur auf den europäischen Vergleich verzichtet, sondern Sie haben mit ziemlich leichter Hand auch die Lage in den neuen Bundesländern als ein Randthema darzustellen versucht. In Wahrheit ist die Lage in den neuen Bundesländern besonders trostlos, Herr Bundeskanzler. Die Arbeitslosigkeit dort ist im Vergleich mit dem Vorjahr um über 50 000 gestiegen. Es hat einen Abbau von Arbeitsplätzen, einen Rückgang der Beschäftigtenzahl um 50 000 gegeben. Die wissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen für das Jahr 2000, also für das laufende Jahr, einen weiteren Rückgang der Beschäftigtenzahl in den neuen Bundesländern um noch einmal 75 000 voraus. Die Menschen in den neuen Bundesländern müssen schon den Titel dieser Regierungserklärung als blanken Zynismus empfinden, meine Damen und Herren. ({6}) Herr Bundeskanzler, Sie haben auf einen weiteren europäischen Vergleich bewusst und aus guten Gründen verzichtet. Sie haben die Wachstumsraten in Deutschland angesprochen. Es ist wahr: Das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr und vermutlich auch im nächsten Jahr kräftig steigen. Aber im Gegensatz zu früheren Jahren ist die Bundesrepublik Deutschland nicht die Lokomotive in der Europäischen Union, sondern sie ist im europäischen Vergleich das Schlusslicht. ({7}) Es reicht eben nicht aus zu sagen, wie gut die Lage in Deutschland ist, sondern es kommt immer darauf an, wie gut sie im Vergleich zu den europäischen und außereuropäischen Wettbewerbern ist. ({8}) Ich sage Ihnen hier ganz konkret: Wir haben dieses wirtschaftliche Wachstum in Deutschland doch nicht wegen dieser Bundesregierung und wegen ihrer Politik, sondern wir haben es trotz dieser Bundesregierung. ({9}) Die Bundesrepublik Deutschland fällt beim wirtschaftlichen Wachstum im internationalen Vergleich weiter zurück. Während die europäischen Länder im Durchschnitt ein wirtschaftliches Wachstum von zum Teil deutlich über 3 Prozent erreichen, bleibt die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr mit 2,7 Prozent erneut deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Herr Bundeskanzler, Deutschland und auch ganz Europa fallen gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika bezüglich des wirtschaftlichen Wachstums auch im laufenden Jahr 2000 wiederum zurück. Es kommt also nicht auf die absoluten Zahlen an, sondern im Wettbewerb kommt es auf die relativen Zahlen im Vergleich zu anderen Industrienationen an. Es kommt darauf an, ob Deutschland mithält oder ob Deutschland zurückfällt. Im Wachstum wie bei der Beschäftigung fällt Deutschland gegenüber dem europäischen Durchschnitt und gegenüber der amerikanischen Volkswirtschaft weiter zurück. Darin, Herr Bundeskanzler, liegt ein wesentlicher Grund für die Außenwertschwäche des Euro. Amerika wächst, Europa wächst nicht genug mit und Deutschland ist mit Italien Schlusslicht in der Europäischen Union. ({10}) Nun will ich ausdrücklich unterstreichen und Ihnen in dem zustimmen, was Sie zur gegenwärtigen Lage des Euro gesagt haben. Der Euro ist nach innen hin weitgehend stabil. Erste erkennbare Inflationspotenziale sind von der Europäischen Zentralbank mit einer, wie ich meine, klugen Zinspolitik unter Kontrolle gebracht worden. Die eigentliche Sorge, die wir haben müssen, betrifft den Außenwert des Euro. Dass Sie nun in Ihrer Rede, in Ihrer so genannten Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ({11}) an die Adresse des früheren Bundesfinanzministers Kritik richten, veranlasst mich doch, darauf hinzuweisen und zu fragen: Wer hat denn bei der Einführung des Euro von einer kränkelnden Frühgeburt gesprochen. Wir oder Sie, Herr Bundeskanzler? ({12}) Wer hat denn die Voraussetzungen für die Einführung des Euro kritisiert? Der Euro ist ein Erfolg, aber ob er im Verhältnis zum amerikanischen Dollar und zur amerikanischen Volkswirtschaft auch ein Erfolg bleibt, ob Europa mithält oder weiter zurückfällt, das hängt entscheidend von der Wirtschaftspolitik innerhalb der Europäischen Union ab und das wiederum hängt entscheidend von der Wirtschaftspolitik innerhalb der Bundesrepublik Deutschland als dem Land, das ein Drittel der Wirtschaftskraft des Euro-Gebietes stellt, ab. ({13}) Woran liegt es, dass das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland nicht mit dem durchschnittlichen europäischen Wachstum und auch nicht mit dem Wachstum vieler anderer europäischer Länder mithält? - Ich weiß nicht, ob ich mit meiner Rede die Unterhaltungen auf der Regierungsbank störe. ({14}) Herr Bundeskanzler, wir haben Ihnen zugehört, als Sie Ihre Regierungserklärung abgegeben haben. Dass von der linken Seite des Hauses gestört wird, bin ich gewohnt und stört mich persönlich nicht. Aber dass auf der Regierungsbank die Mitglieder der Bundesregierung so tun, als ob die Debatte im Plenum nicht stattfindet, und dass Sie sich ständig miteinander unterhalten, ist nicht in Ordnung. ({15}) Herr Bundeskanzler, Sie können noch so darüber lachen: Wir haben Ihnen beim Vortragen Ihrer Argumente zugehört. Ich finde, es gehört zum Stil des Parlamentes, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank zuhören, wenn ein Redner der Opposition spricht. ({16}) Woran liegt es, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland eine solche Wachstumsschwäche haben? Das Wachstum in Deutschland wird überwiegend vom Export getragen. Im Inland gibt es eine deutliche Schwäche bei der Nachfrage. Diese Nachfrageschwäche im Inland, Herr Bundeskanzler, hat im Wesentlichen damit zu tun, dass in der Verantwortung dieser Bundesregierung im Laufe des Jahres 1999 die Steuer- und Abgabenbelastung auf einen neuen Höchststand gestiegen ist. Alle Behauptungen, die Sie in den letzten Tagen und Wochen aufgestellt haben, nämlich dass Sie im Jahre 1999 die Abgabenund Steuerbelastung in Deutschland gesenkt haben, sind nachweislich falsch. Die Abgabenbelastung in der Bundesrepublik Deutschland hat im Jahre 1999 einen historischen Höchststand erreicht. Sie haben Steuereinnahmen erzielt, die einen Höchststand der Steuerquote bewirken. ({17}) Im Vergleich zum Jahr 1998 haben Bund, Länder und Gemeinden durch Ihre Steuerpolitik über 90 Milliarden DM mehr Steuern erhoben. Wenn Sie in diesem Zusammenhang die Behauptung aufstellen, dass die Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere der Rentenversicherungsbeitrag, gesunken seien, dann sagen Sie doch bitte auch dazu, dass der Rentenversicherungsbeitrag nur deshalb gesunken ist, weil Sie ihn mithilfe der Ökosteuer heruntersubventioniert haben. ({18}) Es hat sich in Wahrheit nichts an der Steuer- und Abgabenbelastung geändert. Sie ist weiter gestiegen und nicht gesunken. Seit Sie an der Regierung sind, Herr Bundeskanzler, verlieren Sie praktisch kein Wort darüber, wie Ihre Vorstellung hinsichtlich der langfristigen Entwicklung der Staatsquote ist. Die Staatsquote bringt zum Ausdruck, was der Staat durch Steuern und Abgaben von der erbrachten Wirtschaftsleistung dieses Landes für sich beansprucht. Die Staatsquote ist im Jahre 1999 nicht gesunken, sondern sie ist wieder auf knapp 49 Prozent gestiegen, und dies zu einem Zeitpunkt, wo der Herr Bundeswirtschaftsminister in einer Broschüre - sie darf sich nicht mehr „Jahreswirtschaftsbericht“ nennen, weil er dafür nicht mehr zuständig ist; sie nennt sich jetzt „Wirtschaftsbericht ́ 99“ - zum Ausdruck bringt, dass nach seiner AufFriedrich Merz fassung die Staatsquote „auf 40 Prozent zurückgeführt werden“ muss. ({19}) Wie wollen Sie es eigentlich bei steigender Steuer- und Abgabenbelastung erreichen, die Staatsquote in der Bundesrepublik Deutschland auf 40 Prozent abzusenken? Wenn Sie diese Politik der weiteren Steuer- und Abgabenerhöhungen fortsetzen, wird die Staatsquote nicht sinken, Herr Bundeswirtschaftsminister, sondern sie wird - entgegen dem, was Sie richtigerweise in Ihrem Wirtschaftsbericht zum Ausdruck bringen - weiter steigen. Eine Staatsquote von knapp 50 Prozent lässt für eine Volkswirtschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland eben nicht genug Freiraum für Investitionen und für mehr Beschäftigung. So werden Sie Ihr Ziel nicht erreichen, Herr Bundeskanzler. ({20}) Dies sind nicht die Horrorszenarien einer verrückt gewordenen Opposition. ({21}) - Das ist wie beim pawlowschen Reflex: Ihnen braucht man nur Stichworte zu sagen, dann reagieren Sie schon. ({22}) Ich will Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal das Szenario wiedergeben, das der so genannte Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Tagen für den Fall zu Papier gebracht hat, dass Ihre Steuerpolitik und Ihre Politik bezüglich der sozialen Sicherungssysteme bis zum Jahre 2030 fortgesetzt wird. Das ist ein Zeitraum, in dem der Herr Bundesaußenminister nicht denkt, wie er gerade zu erkennen gibt. ({23}) Aber das ist ein Zeitraum, der gerade einmal eine Generation umfasst. Ich spreche also über diejenigen, die heute 20 Jahre alt sind und im Jahre 2030 50 Jahre alt sein werden. Meine Damen und Herren, in diesem Zeitraum, so sagt der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung - nicht irgendwelche Turbokapitalisten, sondern diejenigen, die Sie zur Beratung Ihrer Wirtschaftspolitik in eine der SPD nahe stehende Stiftung berufen haben -, wird sich der Rentenversicherungsbeitrag von heute 19,3 Prozent bei ungebremster Entwicklung auf 28 Prozent erhöhen, der Pflegeversicherungsbeitrag von 1,7 Prozent auf 3,5 Prozent mehr als verdoppeln, der Krankenversicherungsbeitrag von heute 13,6 Prozent im Durchschnitt auf 17,5 Prozent erhöhen. Alles in allem führt dies zu einer Steigerung der Staatsquote von heute knapp 50 Prozent auf im Jahr 2030 sage und schreibe 65 Prozent. Das schrieb Ihnen der Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung vor wenigen Tagen ins Stammbuch unter der Voraussetzung, dass Sie das fortsetzen, was Sie mit der höchsten Steuer- und Abgabenbelastung, die dieses Land je gekannt hat, im Jahre 1998 begonnen und im Jahre 1999 fortgesetzt haben. ({24}) Nun will ich mich nicht auf die Beschreibung und Kritik der Lage allein beschränken. Die Opposition wird völlig zu Recht - weniger von der Regierung, aber mehr von der Bevölkerung - gefragt: Was ist denn zu tun? Ich will mich auf drei Punkte konzentrieren. Einen Punkt haben Sie selbst bereits angesprochen, Herr Bundeskanzler, das ist die Steuerreform. Ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, die Vermutung zu äußern, dass die Opposition irgendetwas blockiert. Von Blockade ist bei uns - ich nehme das für alle unionsgeführten Bundesländer mit in Anspruch - bei niemandem Rede. Im Gegenteil, ich habe mir in den letzten Tagen sogar schon öffentlich den Vorwurf machen lassen müssen, ich sei Ihnen mit dem, was ich an der einen oder anderen Stelle gesagt habe, zu weit entgegengekommen. ({25}) Damit das aber klar ist: Herr Bundeskanzler, wir lassen uns von niemandem in diesem Land, auch nicht von Ihnen, drohen und lassen uns von niemandem Warnungen aussprechen, wenn wir andere politische Überzeugungen haben und andere politische Antworten auf das geben, was jetzt in der Steuerpolitik notwendig ist. ({26}) Wenn bis jetzt in Deutschland jemand blockiert und abgelehnt hat, in der Steuerpolitik zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen, dann sind es nicht nur die SPD-geführten Bundesländer vor vier Jahren gewesen, sondern dann ist es auch diese Bundesregierung gewesen, die bis zum heutigen Tag das Angebot der Opposition, im Gesetzgebungsverfahren des Deutschen Bundestages jetzt zu Verbesserungen bei Ihrer Steuerpolitik zu kommen, abgelehnt hat. Sie haben jeden Dialog verweigert. ({27}) Aber ich mache Ihnen noch einmal das Angebot: Sie haben darauf abgestellt, dass am Donnerstag der nächsten Woche in zweiter und dritter Lesung entschieden werden soll. Wir haben bis dahin noch eine Woche Zeit. Wir können uns in dieser einen Woche sehr nüchtern und sachlich - wir sind zu Kompromissen über Sätze, über Zeitpläne und über vieles andere bereit - darauf verständigen, dass wir einen Grundsatz in der Steuerpolitik für die Zukunft aufrechterhalten, und das ist der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung aller Einkunftsarten. ({28}) Wenn Sie diesen Grundsatz bereit sind zu akzeptieren, Herr Bundeskanzler, akzeptieren wir auch Kompromisse mit Ihnen, die Rücksicht auf die öffentlichen Haushalte nehmen. Ich will, weil Sie es angesprochen haben, es ausdrücklich an dieser Stelle noch einmal sagen: Auch wir denken nicht im Traum daran, zur Finanzierung einer Steuerreform, die notwendig ist und für die es in den öffentlichen Haushalten Spielräume gibt - es sind begrenzte Spielräume, aber sie gibt es -, Vorschläge zu machen, Einmaleinnahmen des Staates zur Finanzierung dauerhafter Steuersenkungen heranzuziehen. Wir machen diesen Vorschlag ausdrücklich nicht. Ich mache mir zu Eigen, was der frühere Kollege und heutige Finanzminister des Saarlandes, Peter Jacoby, gestern vorgeschlagen hat: Die Einmaleinnahmen, die Sie, Herr Bundesfinanzminister, erzielen werden und wollen - vielleicht geben Sie auch Auskunft darüber, welche Potenziale Sie da erwarten, übrigens Potenziale aus Privatisierungen, die Sie in der Zeit, in der Sie hessischer Ministerpräsident waren, immer abgelehnt haben; ({29}) Sie haben immer abgelehnt, dass privatisiert wird und dass in diesem Bereich auch Privatwirtschaft möglich wird; aber Schwamm drüber, es geht nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft - , sollen dem Erblastentilgungsfonds zugeführt werden, damit auch die Schulden und die Zinslast der Länder gesenkt werden. ({30}) Ich sage Ihnen noch einmal: Das sind schöne Formulierungen, die Sie im Zusammenhang mit den 1,5 Billionen DM Schulden verwendet haben. Aber dabei unterschlagen Sie regelmäßig - das gehört natürlich zu Ihrer politischen Strategie -, dass in diesen 1,5 Billionen DM Schulden 500 Milliarden DM enthalten sind, die nicht die Schulden von Helmut Kohl, sondern die Schulden von Erich Honecker sind. ({31}) Aber wir machen ganz konkrete Vorschläge. Es gibt Spielräume für eine Steuerreform, die auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung ausgerichtet ist. Diese Steuerreform muss den Mittelstand genauso entlasten wie die großen Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland. ({32}) Was mir auffällt: Sie reden in der Steuerpolitik und auch sonst viel von der so genannten „new economy“. Spüren Sie eigentlich nicht, dass das, was Sie in der Steuerpolitik hinsichtlich der Entlastungswirkung vorschlagen, ganz überwiegend nicht auf die „new economy“, sondern auf die „old economy“ abstellt? ({33}) Sie entlasten die großen Konzerngesellschaften, die überwiegend zur „old economy“ gehören, und Sie missachten die wirtschaftlichen Interessen und die Leistungsfähigkeit gerade derjenigen, die als junge Unternehmen, als Einzelkaufleute jetzt tätig werden wollen und die auch Arbeitsplätze schaffen. ({34}) Wir werden ja in der nächsten Woche noch Gelegenheit haben, das hier ausführlich miteinander zu debattieren. Ich hätte mir nur gewünscht, da Sie so ausführlich über die Steuerpolitik gesprochen haben, Herr Bundeskanzler, dass Sie hier wenigstens eine Klarstellung vorgenommen hätten. Es ist in den letzten Wochen, wohl gegen die Planung der Bundesregierung, mehrfach öffentlich geworden, dass es sehr weit ausgereifte Pläne zur Erhöhung der Erbschaftsteuer gibt. Warum, Herr Bundeskanzler, haben Sie Ihre Regierungserklärung nicht genutzt, um klarzustellen, dass es mit der Bundesregierung eine Erhöhung der Erbschaftsteuer nicht gibt? Sie hätten doch die Gelegenheit dazu gehabt. Ich will Ihnen sagen, warum Sie es nicht getan haben: Weil es einen Parteitagsbeschluss der Sozialdemokraten vom Dezember des Jahres 1998 gibt und Sie die Linken in Ihren eigenen Reihen beruhigen müssen. Da Sie erkannt haben, dass Vermögensteuern und Vermögensabgaben nicht mehr erhoben werden können, haben Sie jetzt Pläne in der Schublade, die Erbschaftsteuer zu erhöhen. Ich sage Ihnen: Wer Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze in Deutschland schaffen will, darf nicht mittelständische Betriebe mit noch höherer Erbschaftsteuer belasten. Es wäre gut gewesen, wenn Sie das heute Morgen gesagt hätten. ({35}) Damit wir uns alle nicht täuschen: Selbst eine gut gelungene Steuerreform - ich hoffe, dass es dazu kommt wird die Steuer- und Abgabenbelastung in Deutschland nicht so weit senken, wie es eigentlich notwendig wäre. Deswegen stehen wir vor grundlegenden Reformen der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich will das jetzt nicht im Detail ausführen. Aber ich will zwei grundsätzliche Bemerkungen machen. Erstens. Beide Reformen, die der Rentenversicherung wie die der gesetzlichen Krankenversicherung, müssen bis in das Jahr 2030 reichen. Sie werden uns, wenn es um schwierige politische Entscheidungen geht, nur dann mit in der Verantwortung finden, wenn Sie den Mut besitzen, auch jetzt die Probleme mit zu lösen, die es ab dem Jahr 2015 im Hinblick auf die schon einmal beschriebene demographische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland geben wird. Wenn Sie kürzer springen wollen, wenn Sie kurzatmigere Politik machen wollen, dann werden Sie die Unterstützung der Opposition im Deutschen Bundestag dafür nicht finden. Zweitens. Wir erwarten von Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister und Frau Gesundheitsministerin, dass Sie Vorschläge machen, wie die Rentenreform bis zum Jahr 2030 ausfallen soll, und dass Sie Vorschläge machen, wie die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum Jahr 2030 aussehen soll. Frau Fischer, Sie haben im letzten Jahr unser Angebot, gemeinsam diese Entscheidungen zu treffen, das wir im Zuge des entsprechenden Vermittlungsverfahrens geFriedrich Merz macht haben, abgelehnt. Sie hatten zu Beginn des Vermittlungsverfahrens einen bereits ausformulierten Gesetzentwurf in der Tasche, der der Zustimmung des Bundesrates nicht bedurfte. Damals sind Sie mit dem Kopf durch die Wand marschiert. Jetzt ist der Karren in den Dreck gefahren. Wir sind - damit das klar ist - nicht bereit, Ihnen dabei zu helfen, ihn wieder herauszuholen, ohne dass Sie vorher Vorschläge machen, wie das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik Deutschland langfristig aussehen soll. ({36}) Meine Damen und Herren, zum letzten Thema: Auch hierzu haben Sie, Herr Bundeskanzler, praktisch nichts gesagt. Das entscheidende Problem auf unserem Arbeitsmarkt und im Rahmen der Beschäftigungskrise in der Bundesrepublik Deutschland ist die Lage der so genannten Langzeitarbeitslosen. Rund 40 Prozent der Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland sind länger als ein Jahr arbeitslos und haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Welche Angebote machen Sie eigentlich den Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland für eine langfristige Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt? Welche Anreize werden für jemanden, der gering qualifiziert ist, geschaffen, sich vielleicht auch für eine etwas geringfügiger bezahlte Beschäftigung wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren? Die einzige Antwort, die die Bundesregierung bis zum heutigen Tage darauf gegeben hat, ist die Sozialversicherungspflicht der so genannten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mit dem Ergebnis, dass 100 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr entstanden sind und 700 000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ersatzlos weggefallen sind. Das war Ihre Antwort, die Sie bis jetzt gegeben haben. Aber Sie brauchen für das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit bessere Antworten. Herr Bundesarbeitsminister, ich frage Sie: Wo sind Ihre Vorschläge? Wir haben angeboten, mit Ihnen zusammen diesen schwierigen Weg zu beschreiten. Wo sind Ihre Angebote zur Verzahnung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe? Sie selbst haben diesen Vorschlag gemacht. Wir haben ihn aufgegriffen und haben Ihnen gesagt: Wir sind bereit, diesen sehr schwierigen Weg - auch auf der Ebene der Kommunen - mitzugehen. Anderthalb Jahre sind Sie an der Regierung. Sie haben keinen Vorschlag dazu gemacht, die Verzahnung dieser beiden großen und zum Teil widersprüchlichen sozialen Sicherungssysteme auf den Weg zu bringen. Ich habe eine ganz konkrete Frage, die dieses Jahr entschieden werden muss: Herr Bundeskanzler, was geschieht mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz? Wird es eine Anschlussregelung geben? Das Beschäftigungsförderungsgesetz läuft am 31. Dezember 2000 aus. Nach übereinstimmender Überzeugung aller Beteiligten wurde mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz und dessen Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung dafür gesorgt, dass gerade in den Problembereichen der Langzeitarbeitslosen eine Vielzahl von Menschen wenigstens auf Zeit wieder eine reguläre Beschäftigung finden konnte. Warum geben Sie auf die Frage, ob das Beschäftigungsförderungsgesetz fortgesetzt werden soll oder nicht, keine Antwort? ({37}) Die Bundesrepublik Deutschland ist von einer wirklich modernen Wirtschaftspolitik und der Schaffung von neuen, dauerhaften Arbeitsplätzen leider weiter entfernt als fast alle anderen europäischen Mitgliedstaaten. Wir brauchen in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur wohlfeile Regierungserklärungen, sondern eine wirkliche Agenda für die Modernisierung einer im Kern gesunden und leistungsfähigen Volkswirtschaft. Meine Vermutung ist, dass Sie, Herr Bundeskanzler, den Zeitpunkt, zu dem Sie eine solche wirkliche Modernisierung unseres Arbeitsmarktes, unseres Steuersystems und unseres sozialen Sicherungssystems so auf den Weg bringen können, dass in Deutschland im vergleichbaren Maßstab dauerhaft neue Arbeitsplätze entstehen, während Ihrer Regierungstätigkeit schon jetzt verpasst haben. ({38}) Denn so grundlegende Reformen, bei denen viele Besitzstände in Frage gestellt werden müssen, ({39}) die Mut erfordern und es nötig machen, etwas gegen die Widerstände in den eigenen Reihen durchzutragen, Herr Bundeskanzler, haben Sie in Wahrheit bis heute nicht angepackt. ({40}) In Beliebigkeit und schönen Medienbildern - das gebe ich zu - sind Sie uns überlegen. ({41}) Aber zu einer langfristigen Ausrichtung Ihrer Politik, die über den nächsten Wahltermin hinausreicht, also nicht nur Legislaturperioden erfasst, und im Sinne der Generationengerechtigkeit angelegt ist, fehlt Ihnen, Herr Bundeskanzler, der Mut. ({42})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mir während Ihrer Rede, Herr Kollege Merz, viele Stichworte aufzuschreiben, um die Alternativen kennen zu lernen, die Sie als Opposition anlässlich der Bewertung der wirtschaftlichen Lage unseres Landes vorschlagen. Sie sehen, dass ich ohne jeden Zettel ans Rednerpult gekommen bin. Das ist das Ergebnis Ihrer Rede. Sie haben nämlich keine Alternativen. ({0}) Wir diskutieren über die wirtschaftliche Lage in unserem Land. Der Bundeskanzler hat, belegt mit vielen Zahlen, eine Analyse vorgelegt, die nach meiner Auffassung die Realität in unserem Lande widerspiegelt. Sie als Führer der größten Oppositionsfraktion haben diese Analyse bezweifelt. Ich möchte Ihnen sagen, Herr Kollege, dass Ihre Kritik und Ihre Zweifel von fast niemandem in diesem Lande geteilt werden. Herr Henkel, der BDI insgesamt und auch andere bestätigen, dass wir auf dem richtigen Wege sind, dass der Aufschwung erfolgt, dass sich unser Land in einer sehr guten Position befindet. Sie stehen mit Ihrer Kritik völlig allein da. ({1}) Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, hat davon gesprochen, dass wir sieben goldenen Jahren entgegenblicken. Ich wäre etwas vorsichtig mit solchen Formulierungen; die Tendenz aber ist absolut richtig. Ihre Reaktion darauf war, dass Sie Herrn Jagoda kritisiert haben, er stünde dem Bundeskanzler zu nahe. Er steht dem Bundeskanzler nicht nahe, sondern sagt nur das, was er aufgrund seiner Kenntnisse als Präsident der Bundesanstalt für Arbeit prognostiziert. Deshalb liegen Sie mit Ihrer Bewertung der Arbeitslosenzahlen völlig falsch. Ich gestehe auch den vielen Zuhörern und Zuschauern insbesondere in den neuen Ländern gerne zu, dass wir über die Entwicklung in den neuen Ländern noch nicht so glücklich sind wie über die in den westlichen, alten Bundesländern. Aber ich will diesen Bürgerinnen und Bürgern sagen, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, der richtige ist: Wir fördern die Schaffung von Ausbildungsplätzen in den neuen Ländern. Wir fördern Investitionen in den neuen Bereichen, im Maschinenbau, in den neuen Technologien. Wir werden auch dort, wenn auch etwas langsamer als im Westen, die Erfolge haben, die wir uns für unser ganzes Land wünschen. Diese Zusage geben wir den Menschen in den neuen Ländern. ({2}) Wenn Sie gestatten, dass ein dienstälterer Fraktionsvorsitzender Ihnen einige Ratschläge gibt, wie man sich im Plenum verhält: Sie haben etwas unsouverän auf die Tatsache reagiert, dass der Bundeskanzler nicht jede Sekunde uneingeschränkt zugehört hat. ({3}) - In der Tat. Wenn der Inhalt es nicht erfordert, kann man sich auch einmal anderen Dingen zuwenden. ({4}) Herr Kollege Merz, Sie haben sich auf einem Terrain bewegt, das Ihnen aus Ihrer früheren Arbeit vertraut ist, nämlich auf dem Feld der Steuerpolitik. Auch mir ist dieses Thema vertraut. Auch ich habe mich damit beschäftigt, bevor ich diese Funktion übernommen habe. Deshalb will ich mit Ihnen gern in eine Debatte darüber eintreten, wenngleich wir heute in einer Woche darüber noch intensiver diskutieren werden. Sie haben zunächst die hohe Abgabenlast in unserem Lande angeprangert und haben dann gesagt: Das war ja noch nie so schlimm wie unter eurer Regierung. Das ist nun nicht ganz korrekt, um es einmal vornehm und zurückhaltend auszudrücken. Nehmen wir einmal unsere Steuerreform, deren erste Stufe schon in diesem Jahr in Kraft getreten ist. Aus der gesamten Palette der damit zusammenhängenden Maßnahmen möchte ich auch den Zuhörern einige Zahlen nennen: Als Sie - zu Recht - aus der Regierung abgewählt worden sind, betrug das steuerfreie Existenzminimum 12 500 DM. Wenn wir die letzte Stufe im Jahre 2005 abgeschlossen haben werden, wird das steuerfreie Existenzminimum 15 000 DM betragen. Dabei handelt es sich um den Betrag, für den kein Mensch Steuern bezahlen muss. Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent; wenn wir im Jahre 2005 die letzte Stufe der Steuerreform in Kraft gesetzt haben werden, wird er 15 Prozent betragen, über 10 Prozentpunkte weniger - ein Erfolg, von dem jeder Steuerzahler profitieren wird, auch wir. ({5}) Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Körperschaftsteuersatz 45 Prozent; wenn wir ({6}) unsere Steuerreform durchgesetzt haben werden, wird er 25 Prozent betragen - eine Erleichterung für die Unternehmen in Deutschland. ({7}) Als Sie abgewählt worden sind, betrug der Spitzensteuersatz 53 Prozent; im Jahre 2005 wird er 45 Prozent betragen ({8}) nicht nur ein Erfolg für diejenigen, die oben sind, sondern für alle Steuerzahler, weil sich das für alle positiv auswirken wird. Die Vorschläge von Eichel und der Bundesregierung sind genau der richtige Weg, auf dem man die Steuerlast für alle Bürger in unserem Land deutlich mildern kann. Sie haben das noch nie geschafft, solange Sie regiert haben. ({9}) Sie haben auch noch etwas zu dem Thema Vermittlungsverfahren oder zu dem Thema Bund/Länder gesagt. Das war übrigens - wenn ich dann doch Ihnen gegenüber ein bisschen fair sein will ({10}) der einzige Punkt, wo Sie etwas Konkretes vorgeschlagen haben - im Gegensatz zu dem, wie wir es machen. Sie haben gesagt, die einmaligen Einnahmen, die sich aus der Versteigerung der Lizenzen ergeben, sollen in den Erblastentilgungsfonds gehen. Man kann über alles reden. Wenn man es vorher nur klargestellt hat und Sie sagen: „Das dürft ihr nicht für dauerhafte Steuersenkungen verwenden“, dann begrüße ich diesen Erkenntnisprozess in Ihrer Fraktion. Man hat dazu ja auch andere Stimmen gehört. Diese Klarstellung ist schon einmal sehr gut. ({11}) Es ist übrigens ein bisschen leichtfertig, wenn man in Deutschland anfängt - begonnen hat das in der Opposition -, darüber zu reden, welches Geld man alles wofür ausgeben könnte - Geld, das man noch gar nicht hat. Diese Politik haben Kohl und Waigel lange Jahre gemacht. Das wollen wir nicht. Davor steht Hans Eichel. Herr Kollege Merz, Sie spielen ja auch in Ihrer Partei eine Rolle; die Parteivorsitzende der CDU ist leider nicht mehr da. Wie ist denn ein Beschluss des CDU-Parteitages zu bewerten, der nämlich zu der Frage der Einnahmen aus der Versteigerung der Lizenzen beschlossen hat: Diese Einnahmen sind für dauerhafte Infrastrukturmaßnahmen im Bereich des Verkehrs usw. zu verwenden? Diesen Beschluss haben Sie jetzt sozusagen einkassiert; ({12}) das begrüße ich. Man kann in der Tat nicht so verfahren, wie Sie das auf dem Parteitag vorgeschlagen haben. Wir reden immer von der Staatsverschuldung; das sind 1 500 Milliarden DM beim Bund allein. Ich habe nun auch bei vielen Veranstaltungen gemerkt: Das ist eine Größenordnung - 1 500 Milliarden, 1,5 Billionen -, unter der sich die Menschen so recht nichts vorstellen können. So viel Geld hat eigentlich noch nie jemand auf einem Haufen gesehen. Ich will das deshalb anders formulieren: Die Verschuldung, die Sie uns hinterlassen haben, 82 Milliarden DM Zinsen dafür im Bundeshaushalt, bedeutet: Jede Minute gibt der Bundesfinanzminister 156 000 DM für Zinsen aus; alle drei Minuten entspricht das dem Gegenwert eines Einfamilienhauses. Das müssen wir herunterfahren; das müssen wir stoppen; das müssen wir ändern. Deshalb geht das Geld in die Verringerung der Staatsverschuldung und nirgendwo anders hin. ({13}) Wir werden entscheiden müssen, was wir mit dem Geld, das wir dann im Hinblick auf den Schuldendienst einsparen, machen. Ich bin ganz entschieden der Meinung, die auch Hans Eichel geäußert hat, dass wir jetzt überhaupt nicht darüber reden sollten, wo das dann verwendet werden wird. Wir kennen die Größenordnung ja auch noch gar nicht. Die Versteigerung der Lizenzen hat noch nicht stattgefunden. Deshalb rate ich zur Vorsicht. Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Linie der Bundesregierung in diesem Punkte eindeutig zu. Sie, Herr Merz, haben auch noch über Rente und über Gesundheit gesprochen. Nun zum Thema Rente. Wir haben - das wissen Sie; Ihr Amtsvorgänger, Herr Kollege Schäuble, war für Ihre Fraktion beteiligt, und Michael Glos muss ja auch aus Proporzgründen immer mit dabei sein, wenn so etwas stattfindet ({14}) die Einrichtung einer Arbeitsgruppe von Koalition und Opposition verabredet. Die F.D.P. war auch mit dabei. Nun hat man mir über die Arbeitsgruppensitzungen, die unter Leitung des Arbeitsministers Walter Riester stattgefunden haben, berichtet: Im Grunde war nur Stagnation zu verzeichnen. Sie - nicht wir - haben auf den kommenden Sonntag, den 14. Mai, gestarrt und daraus die große politische Linie abgeleitet: Wir dürfen uns überhaupt nicht auf irgendwelche Kompromisse einlassen, wir müssen Rentenwahlkampf in Nordrhein-Westfalen machen. Nur, das Ergebnis ist: Über Rente redet in NordrheinWestfalen inzwischen niemand, weil die Menschen erkannt haben, dass die Maßnahmen, die wir im letzten Jahr durchgesetzt haben, die richtigen Maßnahmen gewesen sind, um die Zukunft der kommenden Generationen zu sichern. ({15}) Daraus können Sie überhaupt keinen Speck mehr schneiden. Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot, Herr Kollege Merz, stellvertretend für die größte Regierungsfraktion. Nach dem kommenden Sonntag, dem 14. Mai, wird sich manches beruhigen. Sie werden die Wahl verloren haben. Dann wird die Aufgeregtheit vorbei sein und wir kommen auch hier in Berlin wieder zur inhaltlichen Arbeit zurück. ({16}) Herr Kollege Merz, wir werden dann unter der Leitung von Walter Riester intensiv darüber reden: Schaffen wir gemeinsam eine Lösung, die bis zum Jahr 2030 trägt - Erwerbsunfähigkeitsrente, Berufsunfähigkeitsrente, zusätzliche private Vorsorge, soziale Grundsicherung, Mindestrente, Alterssicherung der Frauen, Witwenrente usw.? Darüber wollen wir reden. Das Angebot gilt nach wie vor, weil es für unser Land politisch wichtig wäre, dass man sich einigt, zumindest die andere große Volkspartei mit dieser Koalition. ({17}) - Daran ist gar nichts neu. Nur, ich beklage, dass nichts passiert ist, und zwar deshalb, weil Sie glaubten, damit Wahlkampf machen zu können. ({18}) Lassen Sie uns doch nach dem 14. Mai vernünftig darüber reden. Wir halten das Angebot nach wie vor aufrecht. Gleichzeitig sage ich aber klipp und klar: Wenn wir uns in diesen nächsten Wochen nicht einigen können, dann wird die Koalition ihre Mehrheit im Bundestag dazu benutzen, das Rentenreformrecht so durchzusetzen, wie wir es für richtig halten. Diese Verantwortung haben wir. ({19}) Zum Thema Gesundheitsreform. Es ist wahr: Wir haben Vorstellungen für eine Neuordnung im Gesundheitsbereich vorgelegt, diese, wie man weiß, auch im Deutschen Bundestag durchgesetzt und sind damit in den Bundesrat gegangen. Das, was Andrea Fischer, was wir vorgelegt haben, ist nur zum Teil verwirklicht worden, weil Sie - entgegen Ihren Äußerungen - in einem Bereich, in dem wir Ihre Zustimmung brauchten, blockiert haben. Das heißt, Sie haben im Bereich der Gesundheitspolitik Mitverantwortung dort, wo wir Schwierigkeiten haben. Das ist so und das können Sie auch nicht wegreden. ({20}) Andrea Fischer hat angeboten, darüber ein Gespräch zu führen. Das ist ja auch vernünftig. Die Antwort Ihrer neuen Parteivorsitzenden war: „Machen wir nicht!“ ({21}) Dann stellen Sie sich hier nicht hin und sagen, Sie würden nie blockieren. Natürlich wollen Sie blockieren. Das war doch die Antwort von Frau Merkel in diesem Zusammenhang. ({22}) Ich weiß ja nicht: Hat Frau Merkel nun etwas zu sagen oder haben Sie etwas zu sagen? ({23}) Wenn Sie bereit sind, mit uns über die Korrektur der Maßnahmen, die Sie uns nicht ermöglicht haben, zu reden, wird dies geschehen. ({24}) - Die Ministerin wird auf Sie zukommen. Wir kommen auf Sie zu. Aber wenn Frau Merkel sagt „Ich rede gar nicht mit Ihnen!“, dann behaupten Sie nicht, Sie würden nicht blockieren. Natürlich blockieren Sie. Zu einem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Es geht auch am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen um die Frage: Wird die Politik der Bundesregierung, die Politik der Koalition hier in Berlin von dem großen und mächtigen Bundesland Nordrhein-Westfalen mitgetragen oder nicht? Ich appelliere deshalb von hier aus an die Bürgerinnen und Bürger in diesem Bundesland, ({25}) nicht nur die landespolitischen Fragen zu berücksichtigen. Was meine Partei angeht, habe ich gar keine Sorge. Jeder weiß, dass viele Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen Clement für viel geeigneter halten als seinen Gegenkandidaten von der CDU, übrigens zu Recht. ({26}) Ich appelliere auch deshalb, weil wir die Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen im Bundesrat bei vielen Maßnahmen brauchen, wenn es um Steuerpolitik und viele andere Dinge geht. Berücksichtigen Sie bitte auch die Erfolge, die wir in der Bundespolitik erreicht haben. Wir sind auf einem sehr guten Weg. Die Opposition hat keine Alternative. Deshalb werden wir diesen Weg, so wie er dargestellt worden ist, unbeirrt fortsetzen. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.-Fraktion.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, wer würde sich nicht mit Ihnen darüber freuen, dass wir jetzt 156 000 Arbeitslose weniger haben als vor einem Jahr? Wir sind uns aber ebenso darin einig, dass dies die Dramatik von 3,986 Millionen Arbeitslosen und deren Angehörigen, also das Los von mehr als 10 Millionen Mitbürgern, nicht ändert. Ich habe Zweifel, ob die Zahl, die Sie hier vortragen konnten, den anspruchsvollen Titel „Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“ schon rechtfertigt. Im Hinblick auf das, was Sie angekündigt haben, hatte ich größere Erwartungen und bin über das, was jetzt eintritt, enttäuscht. ({0}) Die Prognosen, von denen Sie, Herr Bundeskanzler, sprachen, sagen nämlich auch, dass unser Wachstum nur 2,8 Prozent betragen wird, während sich das der EU-Mitgliedstaaten im Schnitt auf 3,2 Prozent - wir sind da hinten dran - und das der Vereinigten Staaten von Amerika auf 4,4 Prozent beläuft. Sie haben vorhin davon gesprochen, Ihr Ziel sei es, dazu beizutragen - und nicht zu bewirken, denn das können Sie alleine nicht, das kann die Politik überhaupt nicht -, dass die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen gesenkt werden soll. Das klingt schon bemerkenswert zurückhaltender als die Ankündigung zu Beginn der Legislaturperiode, als manchmal Prognosen bis hin zur Halbierung abgegeben wurden. ({1}) Genauso wurde im Bereich der Bildungsausgaben eine Verdoppelung angekündigt, während jetzt nur graduelle Veränderungen auf dem Wege sind. Vielleicht ist das ein neuer Realismus. Ich habe bei einigen der Beiträge, die ich gehört habe, irgendwie das Gefühl gehabt, dass diese gar nicht an unser Gremium gerichtet waren, sondern sich nur auf den Muttertag, den kommenden Sonntag, bezogen haben. Von all denen, die hier geredet haben und noch reden werden, bin ich der Einzige, der in direkter Funktion damit beschäftigt ist. ({2}) Deswegen nehme ich mir auch das Recht, dazu nichts zu sagen. ({3}) - Nein, nicht zum Muttertag, sondern zum Wahltag, Herr Merz. Ich möchte gerne zu dem Thema, das auf der Tagesordnung steht, sprechen, nämlich wie wir durch eine vernünftige Politik dazu beitragen können, dass schneller als bislang absehbar mehr Arbeitslose in Arbeit kommen. Wir wissen doch - und dazu haben wir auch selbst beigetragen -, dass es in Wahrheit nicht nur 3,9 Millionen Arbeitslose sind, sondern dass die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die keinen bezahlten Job haben, bei ehrlicher Rechnung unter Hinzunahme all derer, die in ABM oder im Vorruhestand sind, eher die 5-MillionenGrenze überschreitet. ({4}) - Es hat doch gar keinen Zweck, bei einer Bestandsaufnahme so zu tun, als sei nur eine Seite des Hauses am Zustandekommen von Problemen beteiligt gewesen. Das will ich ja gar nicht behaupten. Ich finde, dass das Thema dieser Aussprache angesichts seiner Dimension mehr als eine parteipolitische Profilierung in einem Wahlkampf verlangt. Betreiben wir diese parteipolitische Profilierung in der Frage der Arbeitslosigkeit ohnehin nicht schon viel zu lange? Wissen die Vernünftigen in unseren Parteien in Wahrheit nicht längst, was eigentlich getan werden müsste, und ist der Konsens in diesem Hause nicht eigentlich viel größer, als wir in solchen Debatten einräumen wollen? Wir wissen doch alle genau, dass Politik und Staat Arbeitsplätze in Wahrheit nur im öffentlichen Dienst schaffen können. Gleichzeitig wissen wir, dass genau der kleiner werden muss, weil die öffentlichen Haushalte eingeschränkt und sogar öffentliche Leistungen privatisiert werden müssen. Wieso hören wir dann nicht einfach auf, so zu tun, als könne die Politik die Arbeitsplätze schaffen? Wir können den Weg von alten und neuen Unternehmen hin zu neuen Jobs für deutlich mehr Erwerbstätigkeit frei machen. Wir alle wissen, dass wir die politischen, staatlichen und halbstaatlichen Hindernisse, dass wir die staatlichen und halbstaatlichen Privilegien für starke Lobbys wegräumen müssen, die alle zusammen schuld daran sind, dass in Deutschland viel zu wenige neue Arbeitsplätze entstehen. ({5}) Wir alle wissen, dass wir den Weg für viele neue Jobs, und zwar für sehr gut bezahlte, gut bezahlte und weniger gut bezahlte Jobs, freiräumen müssen. Das amerikanische „Ruhrgebiet“ hatte vor 15 Jahren Arbeitslosenquoten in Höhe von 20 bis 25 Prozent. Heute liegt die Arbeitslosenquote in Ohio unter 4 Prozent und damit noch unter dem US-Durchschnitt. Gut bezahlte Arbeitsplätze im Bereich der Informationstechnik prägen heute diesen Teil des amerikanischen mittleren Westens, nicht zuletzt dadurch, dass dort deutsche Firmen jene Bedingungen vorfanden, die wir ihnen hier vorenthalten. Damit exportieren wir Arbeitsplätze, die wir hier dringend brauchen. Warum das so ist, Herr Bundeskanzler, steht übrigens im Schröder-Blair-Papier. Ich zitiere: Die Ansicht, dass der Staat schädliches Marktversagen korrigieren müsse, führte allzu oft zur überproportionalen Ausweitung von Verwaltung und Bürokratie im Rahmen sozialdemokratischer Politik. Weiter heißt es: Der Weg zur sozialen Gerechtigkeit war mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben. Einfacher gesagt heißt das doch: Unsere Langzeitarbeitslosigkeit ist zum größeren Teil politisch hausgemacht. Mich interessiert inzwischen der Streit darüber, wer das eigentlich mehr oder weniger verschuldet hat, nicht mehr sehr. Ich will auch nicht mit Ihnen darüber streiten, ob der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mehr auf Vorruhestand und andere statistische Kunstgriffe als auf neue Arbeitsplätze zurückzuführen ist. Ich finde, wir sollten stattdessen das Nötige tun. Wir sollten die Hindernisse für das Entstehen vieler guter neuer Jobs beseitigen. Ich möchte Ihnen in acht Punkten darlegen, was aus Sicht der F.D.P. konkret zu tun ist. Herr Kollege Struck, jetzt können Sie den Zettel nehmen und mitschreiben, jetzt lohnt es sich. ({6}) Erstens. Wir müssen Teilzeitbeschäftigung leichter machen: angefangen bei den 630-Mark-Jobs - hier ist ein Fehler passiert, das werden Ihnen alle Beteiligten und Betoffenen immer wieder sagen - bis hin zu flexiblen Arbeitszeiten und Beschäftigungsverhältnissen. Es ist nicht einzusehen, warum jemand nicht morgens die Zeitung austragen, tagsüber seinem Hauptjob nachgehen und abends - wenn er denn will - als Übungsleiter im Sportverein Jugendlichen den Spaß am Turnen oder am Fußball vermitteln kann. Das muss die freie Entscheidung jedes Einzelnen sein und bleiben. Hier soll die Politik ihre Behinderungsmaßnahmen einstellen. ({7}) Zweitens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen vernünftig hinkommen: schnell, sicher und preisgünstig, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber eben auch mit dem Auto. Das heißt: Wir müssen neue Straßen bauen, damit die Menschen nicht länger Tausende von Stunden sinnlos im Stau stehen und Milliarden Mark nutzlos verschwendet werden. Die Autofahrer haben noch nie so viel an Steuern pro Liter Sprit bezahlt und noch nie wurde davon so wenig für den Ausbau der Verkehrswege ausgegeben. Ich weiß von Ihnen, Herr Bundeskanzler, von dem Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und von seinem Verkehrsminister, dass Sie das genauso sehen. Aber Sie dürfen die Konsequenz nicht ziehen, weil Ihr Koalitionspartner das als Betonpolitik diskreditiert. Deswegen verplempern Abertausende von Menschen so viel Zeit im Stau. Deswegen wird die Umwelt so belastet. ({8}) Deswegen wollen manche Menschen auch keinen weiteren Weg zu ihrem Arbeitsplatz gehen, weil sie dabei zu viel Zeit verlieren. Drittens. Wir müssen den Irrsinn ständig steigender Benzinpreise, die durch die Ökosteuer immer weiter in die Höhe getrieben werden, stoppen. ({9}) Meine Damen und Herren, das hat auch mit diesem Thema zu tun. Wenn junge Menschen, Auszubildende, Lehrlinge, Studenten, wenn Menschen mit einem kleineren Einkommen, die in der Fläche wohnen, weite Wege mit dem Auto zurücklegen müssen, dann ist das für sie ein massives Mobilitätshemmnis, dann suchen sie Arbeitsplätze, die etwas weiter entfernt sind, eben nicht mehr, nehmen sie nicht mehr an, weil es zu teuer wird, weil es für sie nicht lohnt. Deswegen: Stellen Sie doch diesen Unsinn mit ständig steigenden Ökosteuern ein. Das hindert die Mobilität, und das beschädigt das Interesse an mehr Beschäftigung. ({10}) Wir brauchen intelligente neue Verkehrssysteme wie den Transrapid, den Cargolifter, die Telematik, wir brauchen den Wettbewerb auf der Schiene. ({11}) Warum suchen wir hier nicht ein Modell, das genauso wie in der Telekommunikation durch das Brechen des Monopols beim Telefon zur Jobmaschine geworden ist? Warum machen wir nicht auch den Verkehr auf den Schienen zu einer Jobmaschine - eine Gesellschaft, die das Schienennetz betreibt, aber konkurrierende Unternehmen, die Transportleistungen für Personen und Güter anbieten? ({12}) Da entstehen Jobs und da entsteht Qualität. Da sinken die Preise. Ich glaube, das wäre ein vernünftiger Beitrag. Viertens. Wir brauchen Erleichterung von Unternehmensgründungen. Wer mit Gründern von jungen Unternehmen spricht, bekommt von ihnen immer das gleiche Klagelied zu hören, und zwar ganz unabhängig davon, wo sie parteipolitisch stehen. Wir müssen sie von den bürokratischen Staatslasten befreien, Vorschriften reduzieren und Lohnnebenkosten senken. Auch das steht übrigens im Schröder-Blair-Papier. Der erste Schritt wäre: Weg mit dem Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit! ({13}) Auch Firmen wie Microsoft in den USA oder Pixelpark in Berlin haben unter nach deutschen Normen irregulären Bedingungen angefangen. Nach unseren Bedingungen hätten sie gar nicht anfangen können. Die Internetgeneration mit Gründermentalität sollten wir durch Deregulierung und Entbürokratisierung zur Selbstständigkeit ermuntern, statt sie mit merkwürdigen Regelungen wie den Scheinselbstständigkeitsbestimmungen zu hemmen. Fünftens. Leistung muss sich stärker als nach dem bisher geltenden Besteuerungssystem lohnen. Darüber wird heute und nächste Woche allemal hier gesprochen. Der Blick in die private Haushaltskasse ist deswegen für viele Beschäftigte so ärgerlich, weil sie bei steigenden Einkommen trotzdem immer weniger übrig behalten. Da meine ich nun, dass die Intonierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, vorgenommen haben, nicht in Ordnung war, als Sie den Eindruck erweckten, dass es, wenn wir voneinander abweichende Vorstellungen haben - etwa bei der Frage, wie wir Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften besteuern -, etwas mit Blockadehaltung auf unserer Seite zu tun habe. Wenn beim Thema Steuerpolitik ein Name für das Wort „Blockadepolitik“ steht, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, dann ist es der Ihres Freundes und Troikamitgliedes Oskar Lafontaine. ({14}) Der hat nun wirklich in einer Weise blockiert, dass dieser Begriff gerechtfertigt ist. Wir sagen, dass das Konzept, wie es jetzt vorliegt und nächste Woche gelesen werden wird, den Eigentümer, den Unternehmer weiterhin zu stark diskreditiert. Sie vernachlässigen mit dieser Bestimmung die Mittelstandskultur der Personengesellschaften. Sie verrechnen bürokratisch die Gewerbesteuer, statt sie abzuschaffen. Das ist alles Komplikation statt Vereinfachung. Die Spreizung der Steuersätze ist zu groß, die Dauer der Realisierung zu lang. Deswegen: Wenn wir im mittelständischen Bereich Bewegung schaffen wollen, müsste hierüber Einvernehmen im Bundesrat erzielt werden können. Sechstens. Wir müssen die Berufsausbildung von Jugendlichen fördern, indem wir Bürokratielasten von den Betrieben nehmen. Herr Bundeskanzler, Sie haben vorhin auf das Programm der Bundesregierung abgehoben und unsere Kritik zurückgewiesen. Sie war nicht dagegen gerichtet, dass man in staatlichen oder halbstaatlichen AusJürgen W. Möllemann bildungseinrichtungen für solche jungen Menschen, die in Betrieben noch keinen Job finden, Ersatzlösungen schafft. Sie war darauf gerichtet, dass Sie den Eindruck erweckt haben, als könnten das Ersatzlösungen sein. Das sind alles zeitlich befristete Interimslösungen. Anschließend stehen dieselben jungen Leute wieder vor den Arbeitsämtern. Was wir machen müssen, ist, den kleinen und mittleren Betrieben die Luft zu geben, dass sie diese jungen Menschen einstellen und beschäftigen, ({15}) und das etwa durch den Punkt, den ich gerade angesprochen habe, durch eine bessere Steuerpolitik. Ich möchte ein Bemerkung zu dem machen, was Herr Merz und Herr Struck zum Thema Gesundheitspolitik gesagt haben. In dem Bereich des Gesundheitswesens arbeiten ungefähr zweieinhalb Millionen Menschen. Diese Zahl könnte deutlich gesteigert werden. Gesundheit und Fitness bekommen aus Sicht der Menschen rund um den Globus eine immer größere Priorität. Die Bundesregierung macht aber das genaue Gegenteil von dem, was fällig wäre: Durch ein immer dichteres Netz von Reglementierungen und insbesondere durch das unselige System der so genannten Budgetierung lähmen Sie die Entwicklung im Gesundheitswesen. Sie treffen nicht nur die in Gesundheitsberufen Tätigen - Ärzte, Zahnärzte - und diejenigen, die in den pflegenden Berufen tätig sind, die sich bei dieser staatlichen Zuteilung von Einkommen entwürdigend behandelt fühlen, Sie beeinträchtigen auch die Möglichkeiten und Rechte der Patienten. In den vielen Jahren, die ich dem Parlament angehöre, habe ich die unterschiedlichsten Gesundheitsminister und -ministerinnen kennen gelernt. Aber eine Gesundheitsministerin wie Frau Fischer, die es schafft, restlos alle gegen sich aufzubringen, habe ich in diesem Parlament noch nicht erlebt. Das, was betrieben wird, ist Konfusion schier. Deswegen sollte man das Reformkonzept, von dem bisher die Rede ist, einstampfen und ein vernünftiges Konzept vorlegen, das diesen Namen verdient. ({16}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht sich auf die Bildungspolitik. Hier hat die Bundesregierung große Ankündigungen gemacht. Einige Schritte sind getan worden. Ich glaube aber, wir kommen heute zu dem Ergebnis - übrigens im Blick auf Bund und Länder -, dass unser Bildungssystem in Bund und Ländern mit graduellen Unterschieden, aber doch prinzipiell, dem internationalen Wettbewerb derzeit nicht standhalten kann. Unser Schulsystem und unser Hochschulsystem bekommen bei allen nationalen und internationalen Vergleichsstudien bemerkenswert schlechte Noten. Das ist gefährlich. Deswegen werden unsere Absolventen, die in zu langer Zeit zu schlecht ausgebildet werden - sie benötigen ein Jahr mehr bis zum Abitur als in allen anderen Ländern, sie studieren zwei Jahre länger und haben trotzdem schlechtere Abschlüsse -, auf dem immer internationaler werdenden Arbeitsmarkt in immer größere Schwierigkeiten kommen. Es ist sicher richtig, wenn im Blick auf die zu erwartenden deutlichen Mehreinnahmen des Bundes aufgrund der Privatisierung und der Rechtevergabe der wesentliche Schwerpunkt bei der Schuldentilgung liegt. Aber, meine Damen und Herren, mein fester Eindruck ist: Es bräuchte eine gemeinschaftliche Anstrengung von Bund und Ländern, eine Kraftanstrengung, um Deutschland zurück an die Spitze von Bildung, Wissenschaft und Forschung zu bringen, sonst verlieren wir unsere Wettbewerbsfähigkeit. ({17}) Meine Damen und Herren, ich spreche heute zum letzten Mal als Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Daher möchte ich mich von Ihnen verabschieden und Ihnen für gute und böse Worte danken. Ich war gerne hier. Nun gehe ich nach Düsseldorf in den Landtag und die Landesregierung. ({18}) - Die uneingeschränkte Freude über diese Absicht macht mir den Abschied ein bisschen leichter. - Dass ich deswegen - und weil mich der Kollege Struck gebeten hat, ihn dort nicht allein zu lassen ({19}) von dieser Stelle aus für den doppelten Einzug in Parlament und Regierung des grössten Bundeslandes um die Stimmen der Wähler dieses Landes bitte, werden Sie mir nach 28 Jahren Parlamentstätigkeit hoffentlich durchgehen lassen. Deswegen: Auf Wiedersehen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Wiedersehen im Bundesrat, meine Damen und Herren von der Bundesregierung! ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun erteile ich der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz und vor allen Dingen Sie, Herr Möllemann, man sollte das Fell des Bären erst verteilen, wenn er erlegt ist. Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Muttertag, also der 14. Mai, ausgehen wird. Ich glaube, dass er nicht in Ihrem Sinne ausgehen wird. Wenn man Sie über das eigentliche Thema der Debatte reden hört, dann drängt sich mir der Eindruck auf: Sie ärgern sich, dass wir unser Land endlich aus dem Schlamassel herausholen, den Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit angerichtet haben. ({0}) Sie können augenscheinlich kaum ertragen, dass wir erfolgreich die Probleme lösen, an deren Lösung Sie jahrelang immer wieder gescheitert sind. Das muss man hier festhalten. Festhalten muss man auch: Die Wirtschaftsdaten sind hervorragend. Der deutsche Außenhandel verzeichnet zweistellige Zuwachsraten. Die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute schreiben in ihrem Frühjahrsgutachten: Seit Herbst hat die konjunkturelle Erholung auch den Arbeitsmarkt erfasst. Die Zahl der Erwerbstätigen hat sich seither deutlich erhöht und die Arbeitslosigkeit ist beträchtlich zurückgegangen. Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie doch endlich zur Kenntnis: Erstmals seit 1996 liegt die Zahl der Arbeitslosen im April dieses Jahres unter vier Millionen. Das sind knapp eine halbe Million Menschen weniger als im letzten April Ihrer Regierungszeit 1998. ({1}) Das bedeutet eine halbe Million weniger Menschen mit der Sorge um ihre berufliche Zukunft, eine halbe Million weniger Männer und Frauen mit der zweifelnden Frage, wo denn wohl ihr Platz in der Gesellschaft sein solle. Das bedeutet auch hunderttausende weniger Ehe- und Lebenspartner und Kinder, die unter der Belastung der Arbeitslosigkeit leiden müssen. So sieht die Wirklichkeit aus, und zwar nach nur 19 Monaten, nachdem SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regierung gebildet haben. Nach meiner Meinung sind diese Daten kein Grund zum Jammern. Für uns ist diese Entwicklung eine Herausforderung, den eingeschlagenen Kurs konsequent und Schritt für Schritt fortzusetzen. ({2}) Natürlich kann man angesichts der aktuellen Arbeitslosenzahlen keine Entwarnung geben. Das werde ich auch nicht tun. Auch wir betrachten die Entwicklung des Arbeitsmarktes gerade in den fünf neuen Ländern mit Sorge. Für uns heißt das, dass wir unsere Anstrengungen in den ostdeutschen Bundesländern noch viel mehr verstärken müssen. Aber es ist einfach falsch, wenn Sie, Herr Merz, behaupten, der wirtschaftliche Aufschwung gehe am Osten vorbei. Sie wissen: Auch im Osten werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Nur, diese Entwicklung wird noch immer von den notwendigen Anpassungen im öffentlichen Dienst und besonders von der Situation in der Baubranche überlagert, sodass der dortige Arbeitsmarkt insgesamt stagniert. Herr Merz, es ist auch sachlich falsch, wenn Sie hier mit einer Vielzahl von Rechenkunststücken beweisen wollen, der Rückgang der Arbeitslosigkeit sei rein demographisch bedingt. Erstens. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland steigt, und zwar in den letzten Monaten kräftig und stetig. Die Bundesanstalt für Arbeit erwartet für dieses Jahr eine bundesweite Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen um durchschnittlich 160 000. Sie können uns das vorrechnen, solange Sie wollen; denn fest steht: Das Entstehen zusätzlicher Arbeitsplätze hat wirklich nichts, aber auch gar nichts mit der demographischen Entwicklung in diesem Land zu tun. ({3}) Zweitens. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt, obwohl aktuell durch die Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik im Endeffekt deutlich weniger Menschen im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Das zeigt: Der erste, nicht staatlich gestützte Arbeitsmarkt, auf den es schließlich ankommt, boomt. Auch das hat mit der demographischen Entwicklung so viel - oder besser gesagt: so wenig - zu tun wie der Abgeordnete Kohl mit der Aufklärung des Spendenskandals. ({4}) Drittens. Herr Merz - auch das Argument möchte ich hier anführen -, nehmen Sie zur Kenntnis: Im Frühjahr 2000 sind trotz der demographischen Entwicklung kaum weniger Menschen auf dem deutschen Arbeitsmarkt als vor einem Jahr, unter anderem deshalb, weil endlich auch mehr Frauen erwerbstätig sind oder sein wollen. Auch deshalb stimmt Ihre Rechnung hinten und vorne nicht. Ich finde es lächerlich, wenn Sie den Menschen weismachen wollen, die hervorragenden Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten gebe es nicht wegen, sondern trotz der Politik der Koalition. Sie, Herr Merz, sollten wirklich bei der Wahrheit bleiben, genauso wie Ihr Vorredner, Herr Möllemann. Die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung unter Helmut Kohl hat zwar jahrelang darauf hingewiesen, die Steuerlast, die Abgabenlast und die Lohnnebenkosten seien zu hoch. Sie wollten die Arbeitslosigkeit senken. Aber was haben Sie tatsächlich erreicht? Sie haben das glatte Gegenteil von dem erreicht, was Sie wollten: Die Abgabenlast wurde nicht gesenkt; vielmehr ist sie permanent gestiegen. Noch im April 1998 haben Sie zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöht, um den Rentenbeitrag bei 20,3 Prozent zu stabilisieren. Sie haben sie nicht erhöht, um ihn zu senken, wie wir das jetzt aufgrund der Mehreinnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerreform tun. Daran war bei Ihnen überhaupt nicht zu denken. Außerdem haben Sie 1998 eine Rekordarbeitslosigkeit von 4,3 Millionen und einen Schuldenberg von 1,5 Billionen DM hinterlassen. Das ist Ihre Bilanz. Verschonen Sie uns deshalb mit Ihren Rezepten. Sie heilen nicht und sie sind völlig kontraproduktiv. Wir haben seit dem Regierungsantritt Schritt für Schritt soziale und ökologische Reformen entschlossen umgesetzt. Unsere Politik ist maßgeblich für den wirtschaftlichen Aufschwung und für den Abbau der Arbeitslosigkeit verantwortlich. ({5}) Wir werden diesen Kurs fortsetzen. Sie haben mit Ihren unsozialen Entscheidungen und mit Ihrer Kampfansage gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer damals das erste Bündnis für Arbeit mutwillig zerstört. Wir dagegen haben die Voraussetzungen für einen neuen Anlauf geschaffen. Erste Ergebnisse liegen auf dem Tisch. Als ersten Schritt haben wir das äußerst erfolgreiche JUMP-Programm aufgelegt, das bis heute für 250 000 junge Menschen Perspektiven bei Ausbildung und Beschäftigung geschaffen hat. Das Resultat ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit um rund 10 Prozent zurückgegangen ist. Das ist erst einmal ein schöner Erfolg des Bündnisses für Arbeit. Zweitens. In diesem Frühjahr kommt ein wesentlicher Erfolg hinzu: Die diesjährigen Tarifabschlüsse stärken die wirtschaftliche Entwicklung massiv und sie stellen zusätzliche Beschäftigung in den Mittelpunkt. Auch das hat sehr viel mit der Politik dieser Regierung zu tun; denn Voraussetzungen waren zum Beispiel die ersten Schritte der Steuerreform im vergangenen Jahr, die deutliche Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen und die massive Entlastung gerade von Familien mit Kindern 600 DM mehr Kindergeld pro Kind und pro Jahr; das bedeutet für Familien mit zwei Kindern und einem Durchschnittsjahreseinkommen von 60 000 DM 3 000 DM mehr in der Haushaltskasse. Hinzu kommt die Senkung der Rentenbeiträge von 20,3 Prozent um einen Prozentpunkt auf 19,3 Prozent durch die Einnahmen aus der ökologisch-sozialen Steuerreform. Das heißt insgesamt, dass die Menschen nach jahrelangen Nettolohnverlusten unter der alten Regierung heute netto endlich mehr in der Tasche haben. Dafür hat diese Bundesregierung nicht nur gesorgt, weil es sozial geboten war, sondern auch, um die Voraussetzungen für die beschäftigungsorientierten Tarifabschlüsse in diesem Jahr zu schaffen. ({6}) Genau das ist einer der entscheidenden Unterschiede zu Ihren Steuervorschlägen, meine Damen und Herren von der CDU; denn Sie wollten weder damals noch wollen Sie heute die Bezieher kleiner Einkommen entlasten, wie wir es gemacht haben, sondern vor allen Dingen die Besserverdienenden. Das finden die Menschen nicht gerecht und sie haben verdammt Recht damit. Mit der großen Steuerreform, die wir in der nächsten Woche in diesem Hause verabschieden werden, werden wir diesen Kurs fortsetzen: schrittweise Erhöhung des steuerfreien Existenzminimums bis 2005 auf 15 000 DM, Senkung der Steuersätze, oben wie unten, auf 45 Prozent bzw. 15 Prozent. Das entspricht in weiten Teilen auch dem Steuerkonzept meiner Fraktion - das sage ich durchaus mit Stolz -, das wir in der letzten Legislaturperiode in diesem Hause vorgelegt haben. Dieses Konzept setzt diese Regierung jetzt um. ({7}) Wir entlasten damit bis zum Ende des Jahres 2005 eine Durchschnittsfamilie um rund 4 000 DM jährlich und wir entlasten auch die Unternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen. Dazu möchte ich an dieser Stelle Folgendes sagen: Sie reisen durch das Land und erzählen, wir würden den Mittelstand belasten. - Das ist einfach nicht wahr; das ist schlichtweg vordergründiges Geschrei. ({8}) Im Gegensatz zu Ihnen ist der Mittelstand bei uns in guten Händen. ({9}) - Moment. - Für die heutige Schieflage sind Sie verantwortlich. Sie haben dafür gesorgt, dass die Konzerne immer weniger Steuerlast getragen haben. Das ging auf die Knochen der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wir haben das geändert. Allein mit dem ersten Schritt im vergangenen Jahr haben wir für den Mittelstand eine Entlastung von 6 Milliarden DM herbeigeführt. Wir ziehen zusätzlich die eigentlich erst für 2002 geplante nächste Stufe unserer Steuerreform um ein Jahr vor. Zusammen mit unserer Unternehmensteuerreform wird das bis 2005 eine zusätzliche Entlastung für den Mittelstand von jährlich rund 14 Milliarden DM schaffen. Das ist ein Erfolg. Diese Entlastung des Mittelstands ist genau das Gegenteil von dem, was Sie jahrelang gemacht haben. ({10}) Deshalb kann ich Sie nur auffordern: Wenn Sie schon nicht auf uns hören, dann hören Sie wenigstens auf die warnenden Worte aus der Wirtschaft! Geben Sie Ihre Boykottpläne im Bundesrat auf! Geben Sie den Weg frei; denn die Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung ist sozial gerecht und sie ist wirtschaftlich erfolgreich. Wenn Sie diese Steuerreform blockieren, sind Sie die Bremser gegen den weiteren Aufschwung, dann machen Sie Politik gegen die Arbeitslosen. ({11}) Die zweite, ganz wesentliche Ursache für die hervorragende wirtschaftliche Entwicklung ist unsere Politik einer konsequenten Haushaltskonsolidierung. Wir haben mit dem Zukunftsprogramm 2000 endlich Schluss gemacht mit dem Wirtschaften auf Kosten zukünftiger Generationen. Das ist eine Politik, die meine Fraktion schon in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder gefordert hat. Wie oft hat Ihnen mein Kollege Oswald Metzger Ihre unseriöse Finanzpolitik um die Ohren gehauen, wie oft hat er Sie aufgefordert, mit Ihren Taschenspielertricks oder mit der Goldfingeraktion - ich erinnere mich gut - endlich aufzuhören, leider ohne Erfolg. 1,5 Billionen DM Schulden hat Ihre Regierung den Menschen in unserem Land hinterlassen. Das ist eine 15 mit elf Nullen. Das ist, glaube ich, eine Summe, die sich kaum einer im Lande vorstellen kann. Das bedeutet 82 Milliarden DM Zinsen Jahr für Jahr, das heißt 1 000 DM pro Person pro Jahr, vom Kind bis zum Greis. Das heißt, von jeder Steuermark, die die Menschen zahlen, geben wir allein 25 Pfennig für die Finanzierung der Zinsen aus. Da ist noch kein Pfennig von der Schuld getilgt. Ich weiß, Herr Merz, dass Sie das nicht hören wollen, aber die Verantwortlichen in der CDU haben eben offensichtlich nicht nur schwarze Koffer über die Grenzen geschmuggelt, um schwarzes Geld in schwarzen Parteikassen zu deponieren, sie haben auch jedes Jahr immer neue schwarze Löcher in Theo Waigels Haushalt produziert. Deshalb haben wir Ihre Steuerexperimente damals abgelehnt, weil sie noch größere Haushaltslöcher gerissen hätten, weil Sie damals wie heute Steuerpolitik auf Pump machen wollten. Das haben wir beendet und diesen Kurs werden wir auch fortsetzen. ({12}) Wir stehen für Generationengerechtigkeit. Wir haben uns immer für eine nachhaltige Politik eingesetzt, gerade auch meine Fraktion, und das eben nicht nur in der Umweltpolitik, sondern auch in der Haushalts- und Finanzpolitik. Deshalb werden wir diesen Haushalt Schritt für Schritt konsolidieren und die Verschuldung abbauen. Das ist nicht zuletzt - das will ich auch noch einmal sagen - eine Frage sozialer Gerechtigkeit; denn horrende Zinszahlungen bedeuten im Grunde systematische Umverteilung von unten nach oben. Deshalb wundert es mich auch nicht, Herr Möllemann, wenn Sie jetzt vorschlagen - heute haben Sie es nicht gemacht, aber wir sind uns ja des Öfteren in NordrheinWestfalen begegnet -, ({13}) das Geld, das wir möglicherweise aus der Versteigerung der neuen Handy-Frequenzen bekommen, sofort wieder zu verfrühstücken. Es wundert mich nicht, wie nachlässig Sie mit dieser Frage umgehen, wie unverschämt fahrlässig Sie Geld ausgeben, das überhaupt noch nicht da ist. ({14}) Auf diese Tour haben Sie schließlich den Schuldenberg, den wir heute haben - 82 Milliarden DM Zinsen pro Jahr -, mit verursacht; für ihn ist maßgeblich auch die F.D.P. mitverantwortlich. Und Sie wollen jetzt weiter das Geld verfrühstücken, statt es zum Sparen zu verwenden. ({15}) Ich sage Ihnen für meine Fraktion sehr deutlich: Wir sind der Meinung, zusätzliche Einnahmen sollen und müssen zur Tilgung der Schulden verwendet werden diesbezüglich hat der Finanzminister in uns verlässliche Bündnispartner -, denn nur so werden wir Handlungsspielräume für wichtige Investitionen in Bildung, Ausbildung, Forschung und Wissenschaft und für die soziale und ökologische Erneuerung zurückgewinnen. ({16}) Die fünf führenden deutschen Wirtschaftsinstitute haben diese Politik sehr positiv kommentiert. Sie begrüßen gerade an dieser Stelle nachdrücklich den Kurs der rotgrünen Bundesregierung. Sämtliche Fachleute haben ihre Erwartungen an die wirtschaftliche Entwicklung deutlich nach oben korrigiert. Das Bruttoinlandsprodukt wird in diesem und im nächsten Jahr um 2,8 Prozent steigen, doppelt so stark wie noch im vergangenen Jahr. Die Arbeitslosigkeit wird weiter abgebaut und sinkt im kommenden Jahr auf durchschnittlich 3,5 Millionen. Das sind rund 20 Prozent weniger als im letzten Jahr der Kohl-Regierung. Ich finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, da brauchen wir uns wirklich nicht zu verstecken, schon gar nicht vor denen, die das letzte Regierungsschiff so grandios versenkt haben. Deshalb, meine Damen und Herren, freuen wir uns zunächst einmal über diesen Erfolg, der auch etwas mit unserer Politik zu tun hat. ({17}) Ehe Sie sich hier weiter als Schlechtmacher und Miesmacher betätigen, ({18}) möchte ich Ihnen einen Kommentar von Roger de Weck aus der „Zeit“ der vorletzten Woche vorhalten. Er kommentiert Ihre Politik folgendermaßen: Die Schlechtmacher ... hassen es, wenn wir uns freuen. Jedes Mittel ist ihnen recht, zum Beispiel der schiefe Vergleich. Lieber reden sie von der Stärke des Dollar als vom gewaltigen, emporschnellenden, hoch gefährlichen Defizit in der Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten. Viel lieber heben sie die EuroSchwäche hervor als die europäischen und deutschen Erfolge im Export, um die Amerika froh wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Mann hat Recht. ({19}) Die relative Schwäche des Euro ist nämlich keine Bedrohung für die wirtschaftliche Entwicklung, weder in Europa noch in Deutschland. ({20}) Sie stärkt derzeit die Exportkraft des Euro-Raumes. Davon profitiert gerade die deutsche Wirtschaft ganz besonders. Es gibt auch keine Besorgnis erregenden Inflationsraten. Und im Vergleich zu anderen europäischen Währungen ist der Euro stabil. Wenn man sich die Wirtschaftsdaten des gesamten Euro-Raumes ansieht, kann man mit ein wenig Selbstbewusstsein nur zu dem Schluss kommen: Der Euro ist derzeit unterbewertet. Er wird auch gegenKerstin Müller über dem Dollar wieder stärker werden, und zwar dann, wenn weltweit noch deutlicher wird, welche wirtschaftliche Kraft und auch welches Innovationspotenzial die europäischen Gesellschaften in den kommenden Jahren entwickeln werden. Die ökologische Erneuerung unserer Gesellschaft ist bei dieser Frage von entscheidender Bedeutung. Von ihrer Umsetzung hängt der Schutz unserer Lebensgrundlagen entscheidend ab, aber verbunden damit ist eben auch die Entwicklung von neuen zukunftsfähigen Branchen und Arbeitsplätzen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch daran noch einmal erinnern: Bei der Entwicklung moderner, erneuerbarer Energien lag Deutschland vor anderthalb Jahren, vor der Übernahme der Regierung durch uns, noch unter „ferner liefen“. Der letzte Hersteller von Solaranlagen war gerade in die USA ausgewandert, weil er hier keine Entwicklungspotenziale gesehen hat. Jetzt sieht das anders aus. Das 100 000-Dächer-Programm der rot-grünen Regierung ist ein absoluter Renner. ({21}) Die rot-grüne Regierung hat durch ihre Maßnahmen das Markteinführungsprogramm, das es noch zusätzlich gibt, und das Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, das seit dem 1. April dieses Jahres in Kraft ist - nach nur 18 Monaten in Deutschland mit die weltweit besten Voraussetzungen für den Ausbau erneuerbarer Energien erreicht. Das ist ein wirklicher Beitrag zum Klimaschutz. Dadurch werden auch neue zukunftsfähige Arbeitsplätze in der Bundesrepublik geschaffen. ({22}) Schon heute arbeiten in Deutschland fast genauso viele Menschen im Bereich der erneuerbaren Energien wie in der Atomindustrie. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, weist den Weg in die Zukunft und nicht der von der Bayerischen Staatskanzlei angekündigte Veitstanz gegen den Atomausstieg. Auf diese Weise wird kein einziger zukunftsfähiger Arbeitsplatz geschaffen werden. ({23}) Innovation und Zukunftsfähigkeit sind für Sie, meine Damen und Herren von der CDU, Fremdwörter. Das haben Sie meines Erachtens gerade in den letzten Wochen mit der unsäglichen Diskussion um die Green Card noch einmal bewiesen. Diese dumpfe „Kinder statt Inder“Kampagne Ihres Spitzenkandidaten Rüttgers ist das Gegenteil von zukunftsweisender Modernisierung. Diese ist einfach nur peinlich und verantwortungslos, weil Sie damit Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer machen. Wir jedenfalls werden so etwas nicht mitmachen. Ich glaube, dass auch die Menschen diese Kampagne am 14. Mai zu „würdigen“ wissen. ({24}) Meine Damen und Herren, die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit geht kräftig zurück. ({25}) Die Aussichten sind ausgezeichnet. Wie titelte der „Stern“ in der vergangenen Woche? „Jetzt kommen die fetten Jahre“. ({26}) Ich glaube aber, dass wir jetzt nicht in Selbstzufriedenheit versinken dürfen, sondern wir müssen diese Chance für weitere dringend notwendige soziale und ökologische Reformen nutzen. Gerade eine echte Reform unserer sozialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen Altersvorsorge, wird für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung entscheidend sein. Wir wollen und müssen die gesetzliche Rente dauerhaft sichern. Wir brauchen langfristig stabile Beiträge. Nur so werden wir das Vertrauen besonders der jungen Generation in die gesetzliche Rentenversicherung zurückgewinnen. Gerade deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, fordere ich Sie auf, wenn am Sonntag die Wahl in Nordrhein-Westfalen gelaufen ist, endlich Ihre parteipolitischen Interessen zurückzustellen. Wir müssen jetzt die Chance des Rentengipfels nutzen, bei dem alle Fraktionen an einem Tisch sitzen, für eine durchgreifende Strukturreform, die endlich wieder Generationengerechtigkeit schafft. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Dafür wird sich meine Fraktion sehr stark einsetzen. ({27}) Die rot-grüne Koalition hat eine sehr gute Arbeit geleistet. Wir haben begonnen, unsere Gesellschaft sozial und ökologisch zu erneuern. Die Erfolge sind offensichtlich. Wir werden diesen Kurs konsequent weiterverfolgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Sie können diesen Weg mitgehen oder Sie können sich weiterhin als Miesmacher betätigen. Ich rate Ihnen aber eines: Versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten! Denn das würden Ihnen die Menschen zu Recht sehr übel nehmen. Danke schön. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Möllemann, ich habe im Handbuch nachgeschlagen. Es stimmt wirklich: Sie sind seit 28 Jahren im Bundestag. Auf der einen Seite bewundere ich das. Auf der anderen Seite frage ich mich aber, ob man nach 28 Jahren ohne inneren Schaden aus dem Bundestag herauskommt. ({0}) Ich will Ihnen noch sagen: Sollten Sie wirklich ausscheiden - aus welchen Gründen auch immer -, wünsche ich Ihnen persönlich alles Gute, politisch natürlich nicht. Aber ich wünsche Ihnen immerhin Einsichten. Das ist ja auch etwas. Ansonsten warten wir das Ergebnis getrost ab. ({1}) Ich habe mich sehr gewundert, als Sie gesagt haben, Sie würden sich hier zum 14. Mai nicht äußern. Das haben Sie außer in Ihrer gesamten Rede überhaupt nicht getan. ({2}) Da sich alle anderen zum 14. Mai geäußert haben, will ich zur Klarheit eines sagen: Wenn es dem Kollegen Struck vor allem darum geht, dass sich im Bundesrat nichts verändert, obwohl er doch sonst immer für Veränderungen ist, dann möchte ich aber, dass sich wenigstens eines verändert: Die Landesregierung von NRW soll endlich von links und sozial unter Druck geraten. Das klappt am besten, wenn es eine PDS-Fraktion im Landtag gibt. ({3}) - Die Chance besteht ja. Sie sollten nicht so lachen. Vielleicht wundern Sie sich noch. Wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten. - Damit habe ich dieses Thema abgearbeitet. Mir ist aufgefallen, wie die Vokabeln bestehen bleiben. Von der alten Bundesregierung kannte ich das Miesmacher-Vokabular gegen SPD, Grüne und andere hier im Hause genauso, wie es jetzt gebraucht wird. Ich wundere mich noch über einen anderen Punkt: Wenn es einen Konjunkturaufschwung gibt, habe ich noch keine Bundesregierung erlebt, die nicht sagt, dass diese Konjunktur das Ergebnis ihrer hervorragenden Rahmenpolitik der letzten Monate und Jahre sei. Wenn es eine Rezession gibt, habe ich ebenfalls noch keine Bundesregierung erlebt, die dann nicht erklärt, dass dies mit objektiven ökonomischen Prozessen zu tun habe, dass im Übrigen die tieferen Ursachen in Asien und in den USA und nicht in Bonn oder Berlin lägen. Wenn man solche Erfolge für sich in Anspruch nimmt, muss man auch bei der entgegengesetzten Entwicklung damit leben, dass die Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass man für die schlechte Entwicklung genauso verantwortlich ist. Deshalb wäre es schon richtiger, man würde differenzieren. ({4}) Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion sagt, der Aufschwung sei nicht hausgemacht. In der „taz“ vom 28. April sagt die alternative Wirtschaftswissenschaftlerin Beate Willms, dass weder am Aufschwung noch am möglichen Abbau der Arbeitslosigkeit Rot-Grün bisher einen nennenswerten Anteil hat. Sie begründet diese Meinung. (

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Wer ist Frau Willms?) - Das werde ich Ihnen erklären. Die „taz“ ist mehr eine Zeitung der Grünen und weniger eine Zeitung von uns. Zumindest die Grünen sollten auf diese Meinung hören. Es gibt drei Faktoren. Der erste Faktor - den kann man nicht wegdiskutieren -: Wir haben es tatsächlich mit einer demographischen Verschiebung zu tun. Das heißt, geburtenstarke Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt, gehen in Rente und geburtenschwache Jahrgänge kommen auf den Arbeitsmarkt. Das hat zunächst einmal auf die Statistik positive Auswirkungen. Der zweite Faktor - es ist wahr, was Sie sagen -: Die Konjunktur ist angekurbelt. Das hängt auch mit der Schwäche des Euro zusammen, die eine positive Seite hat. Das heißt, Exporte werden erleichtert, was der Exportwirtschaft hilft. Ich finde es albern, diese Tatsache zu leugnen. Ich sage aber gleichzeitig, dass diese Entwicklung mehrere Negativseiten hat. Die erste Negativseite ist, dass die Unternehmen, die auf Importe aus dem Dollar-Bereich angewiesen sind, jetzt sehr viel mehr bezahlen müssen. In diesem Bereich sind Arbeitsplätze gefährdet. Zweitens hat es psychologisch eine negative Auswirkung, weil nämlich das Vertrauen in den Euro abnimmt bei den Bürgerinnen und Bürgern, auch im Ausland außerhalb der Euro-Zone. Nun sagen Sie ja selber: Der Euro wird auch im Außenverhältnis wieder an Stärke gewinnen; Kerstin Müller sagt das auch. Bloß, dann müssen Sie dazusagen: Was wird denn dann aus der Exportwirtschaft? Das, was Sie jetzt positiv bewertet haben, passiert doch dann negativ. Dann werden nämlich die Exporte wieder abnehmen. ({0}) Aber das Dramatischste - worauf Sie leider überhaupt nicht eingegangen sind, Herr Bundeskanzler - ist der Osten. Im Osten hat ja die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht abgenommen, sie hat zugenommen. Sie hat auch in diesem Monat wieder um 8 000 zugenommen. Das heißt, die ganze Wirkung bleibt derzeit auf die alten Bundesländer beschränkt, es gibt keine Wirkung auf die neuen. Ich sehe überhaupt kein Konzept der Bundesregierung, wie man dort die Wirtschaft ankurbeln will. Wir haben die Investitionspauschale für Kommunen vorgeschlagen, damit die wieder in der Lage sind, eigene Wirtschaftskreisläufe in Gang zu setzen. ({1}) Dazu gehört aber auch die Stärkung der Kaufkraft in Ostdeutschland. Deshalb bitte ich Sie noch einmal: Legen Sie einen Fahrplan zur Angleichung der Löhne und Gehälter auch im öffentlichen Dienst vor, wenigstens in welchen Schritten und in welchen Fristen das erfolgen soll. Das ist im zehnten Jahr der deutschen Einheit politisch notwendig, das ist moralisch notwendig, ({2}) aber es ist auch ökonomisch sinnvoll. Denn ohne Ankurbelung der Kaufkraft werden wir die Wirtschaft in den neuen Bundesländern nicht ankurbeln. Da verstehe ich Ihren Bundesinnenminister überhaupt nicht, der es nun auf ein Schiedsverfahren und vielleicht sogar auf Streiks ankommen lassen will, anstatt hier so schnell wie möglich eine Verständigung herbeizuführen für den gesamten öffentlichen Dienst und speziell auch für den in den neuen Bundesländern. ({3}) Lassen Sie mich noch etwas sagen zu der Frage, ob denn das alles genügt. Sie selbst haben betont, entscheidend sei - und da sind Sie auf die Kaufkraft eingegangen -, dass die Einkommen netto im Vergleich zu brutto wieder zugenommen hätten, gerade bei Löhnen und Gehältern. Ich weiß nicht, Herr Bundeskanzler, ob das so stimmt. Wenn aber diese Kaufkraftthese neben der Angebotsthese im ausgewogenen Verhältnis zueinander stimmig gemacht werden soll, dann müssen wir schon ein paar Dinge ändern. Es ist doch real so, dass durch den Ausfall der Nettolohnanpassung bei Renten, bei Arbeitslosengeld, bei Arbeitslosenhilfe und damit indirekt auch bei Sozialhilfe die Kaufkraft geschwächt wurde. Und Sie kriegen es nicht weg. Diese Reformen gingen zulasten der sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Unter der Kohl-Regierung gab es immerhin jedes Jahr die Nettolohnanpassung, wenn auch bei schwachen Nettolohnsteigerungen. Erstmalig unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung fällt sie jetzt zwei Jahre lang aus. Das trifft die völlig Falschen. Die haben auch nichts davon, dass Sie den Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer senken; denn die zahlen gar keine Einkommensteuer. Außerdem müssen sie die Ökosteuer bezahlen. Das heißt, sie machen netto richtig Miese. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die etwas davon haben, dass der Eingangssteuersatz gesenkt wird, verlieren das fast alles wieder durch die Ökosteuer, die eben im Unterschied zur Meinung von Frau Müller nicht einmal ökologisch ist, aber ganz bestimmt nicht sozial. ({4}) Ich will mich damit heute auch gar nicht länger auseinander setzen. Fakt ist aber, Herr Bundeskanzler: Ich habe alles bewundert, was Sie gesagt haben, was dagegen spricht, den Spitzensteuersatz zu senken. Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, weshalb Sie es dann machen um 8 Prozent bis zum Jahre 2005. Wir, die Besserverdienenden, sind doch ausreichend mit begünstigt durch die Senkung des Eingangssteuersatzes. Wir müssen doch nicht noch einmal oben bei der Steuer nachgelassen bekommen. Dadurch sind wir nämlich letztlich die Einzigen, die netto richtig Plus machen. Es tut mir Leid, aber das ist, wenn auch abgeschwächt, die Fortsetzung der Umverteilung von unten nach oben. ({5}) Man hatte sich erhofft, dass diese Politik ab 1998 gestoppt und in ihr Gegenteil verkehrt wird. 8 Prozent sind eine ganze Menge. Nun weiß ich natürlich, dass es viele gibt, die noch viel mehr wollen. Aber diese 8 Prozent sind schon zu viel. Und wenn Sie sagen, über 70 Prozent der Mittelständler bezahlen überhaupt keinen Spitzensteuersatz, dann hätte es noch weniger Grund gegeben, den Spitzensteuersatz zu senken. Hätten Sie uns den doch einfach weiter zahlen lassen, kann ich nur sagen. Leute, die noch mehr verdienen als wir, und uns hätte es nicht hart getroffen, die soziale Schieflage wäre nicht gewesen und der Staat hätte auch mehr Einnahmen für kulturellen, sozialen und ökologischen Ausgleich. Das lässt sich ja noch ändern. Wir hoffen sehr, dass es passiert. Ich will noch etwas sagen: Wenn wir denn Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir tatsächlich das Spekulationskapital dämmen und es muss viel mehr investiert werden. Da passiert auch durch Ihre Steuerreform letztlich nichts. Schon deshalb nicht, weil Sie bei einbehaltenen Gewinnen nicht danach unterscheiden, ob sie investiv eingesetzt werden oder ob sie für Spekulationszwecke genutzt werden. ({6}) In beiden Fällen werden sie gleichermaßen begünstigt und damit kann die Wirkung diesbezüglich gar nicht eintreten. Wir sind in einem internationalen Spielkasino. Hier ist jede Form von Deregulierung falsch. Da ist schon alles dereguliert. Es wird höchste Zeit, dass wir einmal etwas regulieren, damit endlich wieder aktiv investiert wird. ({7}) Dann lassen Sie mich noch zu einer Sache etwas sagen, die ich überhaupt nicht verstanden habe. Im letzten Jahr hat diese Bundesregierung gesagt, Gewerbetreibende und Handwerker seien dadurch privilegiert, dass sie den Verkaufserlös nicht voll versteuern müssten. Wenn sie jetzt verkaufen, müssen sie die volle Steuer bezahlen. In diesem Jahr sagen Sie, beim Verkauf einer Aktiengesellschaft - sprich: einer Bank, einer Versicherung, eines Konzerns - wollen Sie beim Verkaufserlös auf jede Steuer verzichten. Es ist doch völlig absurd, das Handwerk und das Gewerbe mit der Steuer zu treffen und die Großen zu schonen. Es geht auch nicht um Gleichstellung, Herr Merz, sondern wir brauchen endlich einmal eine Situation, in der die Konzerne, Banken und Versicherungen entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihren Beitrag zur Finanzierung des Allgemeinwohls in der Bundesrepublik Deutschland leisten und nicht nur die Handwerker und die Gewerbetreibenden, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer. ({8}) Nun weiß ich: Auch der Bäcker kann sich entscheiden, sich wie eine Aktiengesellschaft behandeln zu lassen. Aber auch damit schicken Sie ihn ins Spielkasino, weil er nämlich nicht weiß, welche Auswirkungen das nach zwei oder drei Jahren haben wird, und die Entscheidung soll ja endgültig sein. Wir wollen aber keine Spieler, sondern wir wollen Handwerker und Gewerbetreibende, die Arbeitsplätze schaffen und die ausbilden. Deshalb brauchen wir Steuersicherheit und nicht solche Vabanquespiele. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. ({9}) Die Entlastung der Aktiengesellschaften bei den Verkaufserlösen ist ein völlig falscher Trend, zumal von den Großen gar keine neuen Arbeitsplätze mehr geschaffen werden. Seit Jahren bauen sie nur noch Arbeitsplätze ab. Stellen Sie sich einmal vor, die Fusion von Deutscher Bank und Dresdner Bank hätte stattgefunden, Herr Bundesfinanzminister! 16 000 Arbeitsplätze sollten abgebaut werden und die Steuer auf den Verkaufserlös wollten Sie ihnen schenken. Das heißt, die Allgemeinheit hätte die Arbeitslosigkeit finanziert, aber nicht die betroffenen Unternehmen, die dadurch nur Gewinne erzielt hätten. ({10}) Übrigens, Kollege Struck ist immer so stolz darauf, dass er vom BDI-Chef Henkel usw. gelobt wird. Ich finde, das sollte Sie nachdenklich machen; das Lob wird zu dick. ({11}) Früher waren Sie stolz auf das Lob von Gewerkschaften, heute sind Sie eher stolz auf das Lob vom BDI und von Henkel. Da hat sich in der deutschen Sozialdemokratie einiges verschoben. ({12}) Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Dabei kommen wir um einige Fragen nicht umhin. Lassen Sie uns doch Reformen machen, die den Abbau von Arbeitslosigkeit weniger von Zufällen und von internationalen Marktentwicklungen abhängig machen. Wir müssen ihn vielmehr strukturell sichern. Die erste entscheidende Frage ist: Was wird aus der Arbeitszeit? Es ist doch so: Immer weniger Menschen produzieren in immer kürzerer Zeit immer mehr und erbringen immer mehr Dienstleistungen. Das könnte zum Vorteil für uns alle sein. Stattdessen haben wir die Situation, dass Millionen draußen stehen und tote Zeit haben, während bei den anderen, die in Arbeit sind, der Stress, die Überstunden und der Leistungsdruck wachsen. Lassen Sie uns ein vernünftiges Arbeitszeitgesetz machen, wenigstens so eines wie in Frankreich, damit wir die Arbeitslosigkeit endlich abbauen. ({13}) Zweitens bin ich davon überzeugt: Wir brauchen eine neue Struktur bei den Lohnnebenkosten. Wir schlagen seit Jahren eine Reform vor, nach der die Unternehmen nicht mehr die zweite Hälfte, die 50 Prozent bezahlen sollen wie heute, sondern nach ihrer Wertschöpfung eine Abgabe in die gesetzlichen Sicherungssysteme zahlen sollen, jedes Vierteljahr, höchst flexibel. Steigt sie, mehr, sinkt sie, weniger. Nie wieder wäre ein Unternehmen mit Lohnnebenkosten überfordert, weil es immer von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig wäre. Dadurch könnten die Unternehmen auch leichter einstellen, weil sie wüssten, dass die Lohnnebenkosten keine starre Größe sind, sondern sich entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entwickeln. Auf der anderen Seite ist klar: Wenn ein Konzern 1 000 Leute entlässt und hinterher immer noch die gleiche Wertschöpfung hat, müsste er nach unserem Vorschlag immer noch die gleiche Abgabe in die Sicherungssysteme zahlen. Na und? Er hat ja auch einen höheren Gewinn, weil er tausendmal Lohn spart. Das überforderte doch den Konzern gar nicht. Das würde dazu führen, dass Entlassungen nicht mehr belohnt und Einstellungen nicht mehr bestraft würden. Das wäre eine strukturelle Reform. Die Lohnnebenkosten um einen Prozentpunkt zu erhöhen oder zu senken ist keine strukturelle Reform. ({14}) Lassen Sie uns auch ernsthaft über den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor nachdenken. Wenn jetzt die Zahl der Wehrpflichtigen und damit der Zivildienstleistenden gesenkt wird, bleiben viele Aufgaben unerledigt. Das zu ändern wird nur über einen solchen Sektor funktionieren. Das wäre erstens gut für die Gesellschaft und zweitens eine Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit. Außerdem müssen wir - das ist wahr - deutlich in Bildung investieren. Das gilt für alle Bundesländer, also auch für NRW, über das heute schon so viel gesprochen worden ist. Ich finde, dass die Einsparungen auf diesem Gebiet nicht hinnehmbar sind. Sie verletzten die Chancengleichheit der Kinder. Wer heute benachteiligt geboren wird, geht dann auch benachteiligt durchs ganze Leben. Solche Kinder müssen doch wenigstens die Chance haben, die Benachteiligung wieder auszugleichen. Diese Chance haben sie aber nur bei gleichem Zugang zu Kultur und Bildung. Dieser wird ihnen immer stärker verwehrt. Die Kinder werden zu früh getrennt, die Kindergärten werden mehr als Aufbewahrungsanstalten denn als Vorschulbildungseinrichtung verstanden. Nur in einem Bundesland wird das anders geregelt, nämlich in Bayern. Die Praxis dort unterscheidet sich trotzdem nicht von der in anderen Bundesländern. Aber immerhin, in dem entsprechenden Gesetz in Bayern wird dies anders geregelt. Damit hängt auch zusammen, was alles man heute für die Kinder im Rahmen der Schulausbildung hinzukaufen muss. Das geht weiter: Ich nenne zum Beispiel die Diskussion über Studiengebühren. Das alles sind Diskussionen, bei denen es um eine soziale Ausgrenzung geht. Natürlich gehört auch die Frage der Effektivität eines Studiums dazu. Wichtig sind auch die Fragen: Was wird in den Bildungseinrichtungen angeboten? Was haben die Angebote mit der neuen Zeit zu tun? Das alles sind Fragen, die uns in diesem Zusammenhang bewegen. Wir tauschen hier zwar Meinungen aus, streiten uns und werfen uns gegenseitig alles Mögliche vor, führen aber keine wirkliche Bildungsreform durch. Vielmehr müssen wir Experten aus anderen Ländern holen, was eine Menge über die Bildungspolitik - übrigens auch über die Politik des Zukunftsministers der letzten Regierung; um das einmal ganz deutlich zu sagen - aussagt. Zu dem Spruch „Kinder statt Inder“ ist zu sagen: Ein neues Jahrhundert bzw. ein neues Jahrtausend beginnt. Wir sollten einfach akzeptieren, dass es bestimmte Dinge gibt, die Ausläufer des Mittelalters sind. Dazu gehören alle Formen des Rassismus, alle Formen von Ausländerfeindlichkeit, alle Formen der Diskriminierung von Menschen wegen ihres Geschlechts oder wegen ihrer Staatsbürgerschaft bzw. Nationalität und alle Formen der Diskriminierung von Menschen wegen der Art, wie sie lieben. Lassen Sie uns das doch bitte nicht ins nächste Jahrhundert bzw. ins nächste Jahrtausend mitnehmen! Damit muss jetzt Schluss sein. Das wäre dann ein zivilisatorischer Fortschritt. ({15}) Ich plädiere hier für Reformen, zu denen ich sagen kann: Ja, sie stabilisieren den Abbau der Arbeitslosigkeit, sie bewirken ihn nicht mehr zufällig. Wenn wir diese Reformen durchführten, müssten Sie, Herr Bundeskanzler, nicht mehr zittern, welche Zahlen die Bundesanstalt für Arbeit nennt, und dann können Sie sich plötzlich auf die Rahmenbedingungen verlassen. Für eine solche Steuerreform, eine solche Abgabepolitik und eine solche Sozialpolitik würden wir eintreten. Bisher ist das aber nicht zu erkennen. Deshalb sage ich: Wir müssen an dem geplanten Steuergesetzeswerk noch eine ganze Menge ändern. Es ist ungerecht. Es belastet vor allen Dingen kleine und mittelständische Unternehmen und entlastet die großen. Die zu entlasten ist der falsche Weg. Die schaffen keine Arbeitsplätze mehr. Lassen Sie uns endlich einen anderen Weg gehen! Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt - das war ein bisschen verräterisch -: In den neuen Bundesländern klappt die Ausbildung noch nicht so, weil es dort nicht so viele Betriebe wie bei uns gibt, die ausbilden. Dieses „wie bei uns“ sollten Sie nicht noch einmal sagen. Der Osten gehört dazu. ({16}) Deshalb ist dieses „wie bei uns“ leicht verräterisch. Das würde mir im Hinblick auf den Westen nicht mehr passieren. Insofern bin ich in den letzten elf Jahren im Kopf im Hinblick auf die deutsche Einheit weitergekommen. Ich füge hinzu: Wir brauchen einen Fahrplan für den Aufbau Ost sowie für die Angleichung von Löhnen, Gehältern und allen Sozialleistungen einschließlich der Renten. Sonst wird es eine innere deutsche Einheit nicht geben. Nur eine Gleichstellung, nur Chancengleichheit garantiert auch die innere Einheit in der Bundesrepublik Deutschland. Danke schön. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Bundesfinanzminister Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein paar Zahlen und darauf aufbauend falsche Argumentationslinien, wie sie sowohl Herr Kollege Merz als auch soeben Herr Kollege Gysi verwendet haben, möchte ich hier kurz korrigieren. Herr Kollege Merz, der Abstand zwischen Deutschland und den anderen Ländern wird nicht größer zulasten Deutschlands, sondern ständig kleiner. Dass Deutschland die zweitletzte Position beim Wirtschaftswachstum in Europa hatte und noch hat, das ist wahr, ist aber seit dem Jahre 1995 der Fall. Seit 1995, also in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungszeit, war Deutschland immer an zweitletzter Stelle beim Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union. ({0}) Seit Ihrer Regierungszeit entwickeln sich die Arbeitslosenzahlen folgendermaßen: Im Jahre 1995 kam es zu einem Abbau von 37 000; diese Zahlen sind ja verfügbar. 1996 kam es zu einem Abbau um 277 000, 1997 um 287 000 und dann 1998 zu einem Wiederanstieg um 135 000. 1999 kam es zu einem Anstieg der Zahlen um 107 000 auf der Basis eines - nicht nur aus unserer, sondern auch aus allgemeiner Sicht - unglücklichen Verlaufes der Kurve - das wissen wir alle -: Es kam nämlich im ersten Teil des Jahres zu einem Anstieg und im zweiten Teil des Jahres zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Das Ergebnis insgesamt war jedoch ein Anstieg. Herr Merz, seit Oktober vergangenen Jahres kommt es zu einem Anstieg der Beschäftigtenzahlen um 155 000. Das sind die offiziellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die Legende, die Sie die ganze Zeit zu verbreiten versuchen, nämlich dass der Abbau der Arbeitslosigkeit ausschließlich etwas mit dem demographischen Wandel zu tun habe, also damit, dass viele Ältere ausscheiden und wenige Junge nachkommen, ist falsch. Das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass der Abbau zum anderen Teil auf einen neuen Anstieg der Beschäftigung zurückzuführen ist. ({1}) Genau das ist der Sachverhalt, den Sie die ganze Zeit zu verschleiern versuchen. ({2}) Sie haben die ganze Zeit beklagt, dass es keine Zahlen gebe. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind nun da. Benutzen Sie sie bitte auch, statt hier falsche Behauptungen zu verbreiten! Deutschland marschiert nach vorne. Ich will mir nicht alle Zahlen zu Eigen machen. Es gibt aber weltweit keine besseren als die des Internationalen Währungsfonds. Danach wird bezüglich des Wachstums sowohl im Vergleich der Euro-11-Gruppe als auch der 15 EU-Staaten der Abstand zugunsten Deutschlands immer kleiner. Bereits im nächsten Jahr wird Deutschland von allen großen Ländern Europas das höchste Wachstum verzeichnen können, auch ein höheres als das in den Vereinigten Staaten. So die Prognose des Internationalen Währungsfonds, der übrigens ausdrücklich auf unsere Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik hinweist und sagt: Die sind auf dem richtigen Weg. Sie können den jetzigen Chef, Herrn Köhler Sie kennen ihn noch aus gemeinsamer Zeit -, dazu befragen. Also, Herr Merz, verbreiten Sie nicht diese Unwahrheiten! Nun komme ich auf die Steuerpolitik zu sprechen, weil auch dazu immer eine falsche Behauptung aufgestellt wird. Wir brauchen uns nicht von Ihnen sagen zu lassen, wir bräuchten Mut. Wir brauchten Mut, um den Weg aus der Schuldenfalle zu gehen. Dabei haben Sie uns im vergangenen Herbst nicht unterstützt. Stattdessen haben Sie uns Knüppel zwischen die Beine geworfen. ({3}) Deswegen stelle ich Ihnen, Herr Merz, angesichts der Verhandlungen, die uns bevorstehen und die wir führen werden, eine Frage zuallererst: Sind Sie bereit, eine Steuerpolitik zu machen, die den Weg aus der Schuldenfalle nicht beeinträchtigt? Wir werden nämlich keine Steuersenkung vornehmen, die uns wieder zu einer Erhöhung der Neuverschuldung führt. Da ist für diese Bundesregierung die Grenze der Kompromissfähigkeit erreicht. Damit wir uns richtig verstehen. Im Jahr 2006 soll der Haushalt ausgeglichen sein. Das wäre das erste Mal seit Jahrzehnten. Von diesem Weg weichen wir nicht ab. Entlang dieser Leitplanke werden die anderen Politiken gemacht. Darauf hätte ich von Ihnen sehr gerne eine Antwort. ({4}) Übrigens: Täten wir etwas anderes, würden wir von ganz Europa gescholten. Denn wer den Euro hat, der muss sich auch auf eine konzertierte Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa einlassen. Das heißt, wir werden die Wachstumsgewinne für eine schnellere Konsolidierung einsetzen. Das ist die gemeinsame Verabredung aller 15 Finanzminister des Ecofin-Rates. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Thema Körperschaften und Personengesellschaften bzw. große Unternehmen und Mittelständler zu sprechen kommen. Es ist schon spannend, dass CDU/CSU und PDS hier in dieselbe - übrigens falsche - Richtung argumentieren. Die Wahrheit ist ganz einfach: Aufgrund unserer Steuerpolitik, des Steuerentlastungsgesetzes und der Steuerreform 2000, müssen die Kapitalgesellschaften sogar noch eine Kleinigkeit draufzahlen. Das können sie auch; das sage ich in aller Ruhe. Sie haben ja im vorigen Frühjahr etwas gesagt, was Sie heute nicht mehr wahrhaben wollen, nämlich dass das Steuerentlastungsgesetz ein Gesetz zur Vertreibung der Konzerne aus unserem Land sei. Das haben Sie hier gesagt, Herr Merz. ({5}) Richtig ist: Die Energieversorgungsunternehmen haben draufzahlen müssen. Aber ich sage Ihnen: Wer 72 Milliarden DM auf der hohen Kante liegen hat, der kann auch 16,7 Milliarden DM an Steuern zahlen. Damit habe ich kein Problem. ({6}) Auch die Versicherungswirtschaft hat mehr zahlen müssen. Aber auch sie kann das. ({7}) Richtig ist, dass jetzt alle Unternehmen entlastet werden. Dies läuft aber für die großen Gesellschaften, die Körperschaften, im Ergebnis auf plus/minus Null hinaus. Das heißt, die 20 Milliarden DM an Entlastung in der Wirtschaft kommen ausschließlich bei den kleinen und mittleren Unternehmen an. Daher ist es völlig falsch, zu behaupten, sie würden schlechter behandelt als die Körperschaften. Die Körperschaften zahlen definitiv 38 Prozent, 25 Prozent Körperschaftsteuer und im Schnitt 13 Prozent Gewerbesteuer, egal ob der Gewinn niedrig oder hoch ist. Und hier setzt in der öffentlichen Debatte die Falschmünzerei an, mit der immer darauf spekuliert wird, dass die Menschen vom Steuerrecht nicht so recht Ahnung haben: Die Personengesellschaften nämlich zahlen Einkommensteuer; das ist ein völlig anderes System. Darin gibt es im unteren Bereich zunächst einmal einen schönen Freibetrag, den wir ständig heraufsetzen, im Jahr 2005 europaweit auf das höchste Niveau. Das ist zugunsten der Bezieher kleinerer Einkommen, also auch der kleinen Unternehmen. Ab der ersten Mark oberhalb des Freibetrages sind Steuern in Höhe von 15 Prozent zu zahlen; einen derart niedrigen Satz hat es in Deutschland noch nie gegeben. Und jede Mark ab 98 000 DM wird dann mit 45 Prozent versteuert. Was heißt das? Das heißt, dass ein Einzelunternehmer - der Bundeskanzler hat die Zahlen vorhin schon genannt -, der einen zu versteuernden Gewinn - Freibeträge werden hinterher berücksichtigt - von 100 000 DM hat für ihn gilt der Spitzensteuersatz von 45 Prozent in der Tat -, eine Belastung seines Gewinns in Höhe von 27 Prozent hat. Ich wiederhole: Die Körperschaft zahlt 38 Prozent. Der Punkt, an dem eine Personengesellschaft und ein Einzelunternehmer 38 Prozent zu zahlen haben, das heißt, dass sie dort sind, wo sich die steuerliche Belastung der Körperschaft immer befindet, wird bei einem unverheirateten Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden Gewinn von 200 000 DM und bei einem verheirateten Einzelunternehmer bei einem zu versteuernden Gewinn von 400 000 DM erreicht. ({8}) Oberhalb dieser Grenze, also dort, wo eine Personengesellschaft oder ein Einzelunternehmer mehr zahlen müssten als eine Körperschaft, nämlich bei Unverheirateten oberhalb von 200 000 DM Gewinn und bei Verheirateten oberhalb von 400 000 DM Gewinn, liegen in ganz Deutschland noch - der Bundeskanzler hat die Zahl schon genannt - 5 Prozent der Personengesellschaften. ({9}) Die Behauptung, die Sie hier aufstellen, dass nämlich Personengesellschaften schlechter als Kapitalgesellschaften behandelt würden, ist zu 95 Prozent unwahr, und sie könnte zu 5 Prozent wahr sein. Das ist eine schlechte Trefferquote für einen Finanzpolitiker, Herr Merz. ({10}) Diese 5 Prozent müssen es aber auch nicht zahlen; sie können optieren. Dann unterliegen sie demselben Satz, nämlich 38 Prozent. Es können übrigens auch die Freiberufler optieren und haben dann auch maximal jene 38 Prozent, wenn sie in solche Gewinnkategorien hineinkommen. Folgendes ist klar: Wenn Sie um den Spitzensteuersatz noch weiter streiten wollen - bitte schön, das müssen wir machen; irgendwo wird man sich treffen müssen -, dann werden Sie auch sagen müssen, wie Sie es bezahlen wollen. ({11}) Deswegen bin ich dafür, dass wir gemeinsam eine Diskussion führen, aber dort, wo sie verbindlich wird, Herr Kollege Merz, nämlich zwischen Bundestag und Bundesrat, auch gemeinsam mit den Ländern, auch mit jenen Ländern, die CDU-Finanzminister haben. Ich werde keine Namen nennen. Ich sage Ihnen aber, dass CDU-Kollegen schon bei mir gewesen sind, die gesagt haben, dass sie es eigentlich nicht bezahlen können. Dann muss ich mir die großsprecherischen Bemerkungen aus München und anderswo anhören, ({12}) die besagen, dass man eine Steuerreform machen wolle, die einen zusätzlichen Einnahmeausfall von 70 Milliarden DM bewirken würde. Deswegen sage ich Ihnen: Ich bin für jedes Gespräch offen, aber verbindlich muss es sein. Sie sollten nicht einfach nur Ihre Wünsche äußern, sondern sollten auch sagen, wie Sie es bezahlen wollen, und ferner sagen, wie die Länder es bezahlen wollen. ({13}) Herr Stoiber hat nicht im Traum daran gedacht, von seinen vielen Privatisierungserlösen dem Bund auch nur einen Pfennig abzugeben. Er hat nicht einmal daran gedacht, das in die Deckungsquotenberechnung aufzunehmen. Jetzt, wo ich bei meinem überschuldeten Bundeshaushalt endlich ein bisschen Geld in die Kasse kriege, hält der sofort die Hand auf. Nein, meine Damen und Herren, so geht das wirklich nicht. ({14}) Ich will noch eine letzte Bemerkung über einen Sachverhalt machen, der die Handwerker freut und über den Sie, Herr Rauen, die Handwerker informieren sollten. ({15}) Sie wissen wie ich, wie ungerecht es die Handwerkerschaft immer empfunden hat, dass sie höher besteuert wird als die Freiberufler. Das ergibt sich daraus, dass die Handwerkerschaft Gewerbesteuer zahlen muss und die Freiberufler das nicht brauchen. Nun hat es viele Leute gegeben, die gesagt haben: Die Freiberufler sollen ebenfalls zahlen. Das ist nicht meine Position. Vielmehr haben wir mit dieser Ungerechtigkeit, dass der Handwerker höher besteuert wird als der Freiberufler, mit unserer Steuerreform endlich Schluss gemacht. Denn wir beseitigen die Gewerbesteuer als Kostenfaktor und damit ist der Handwerker endlich dem Freiberufler gleichgestellt und alle profitieren von der kräftigen Absenkung der Einkommensteuer. Von daher ergeben sich die 20 Milliarden DM Entlastung für den Mittelstand. So etwas haben Sie noch nie zuwege gebracht. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Michael Glos das Wort. ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema hat eigentlich gelautet: Regierungserklärung des Bundeskanzlers, „Deutschland im Aufbruch - Moderne Wirtschaftspolitik für neue Arbeitsplätze“. Erstens haben wir keine Regierungserklärung erlebt, sondern, wie Sie, Herr Bundeskanzler, vorhin selbst gesagt haben, eine spontan gehaltene Rede. ({0}) Das ersetzt in Zukunft eine Erklärung der ganzen Bundesregierung. Wir haben noch ein paar weitere Highlights erlebt. Mir ist dabei der Titel eines Buches von Graham Greene eingefallen: „Stunde der Komödianten“. Das war die eigentliche Überschrift dessen, was heute hier geboten worden ist. ({1}) Das, was Herr Eichel gerade geboten hat, war eine sehr etatistische Betrachtung. ({2}) 1987 - damals war Gerhard Stoltenberg Finanzminister; viele hier erinnern sich; Sie, Herr Kollege Wieczorek, haben damals sehr sachkundig mitgewirkt - gab es eine Steuerreform, bei der wir in der Relation sehr viel höhere Volumina der Steuersenkungen bewegt haben, als das heute der Fall ist. Das Ergebnis war Wachstum. Das Ergebnis war, dass unser Land im Zeitraum bis 1990 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze bekommen hat. ({3}) Die etatistische Betrachtung, die Sie hier anstellen, zeigt, dass Sie von moderner Wirtschaftspolitik - im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen - überhaupt nichts verstehen. Ich sage Ihnen voraus: Die von Ihnen vorgelegte Steuerreform ist im Grunde ein bürokratischer Wust, der das Steuersystem verkomplizieren und weitere Arbeitnehmer, insbesondere die qualifizierten, aus dem Land treiben wird. ({4}) Es gibt bei uns im Land nach wie vor keine Spur von Wachstumsdynamik, im Gegensatz zu den USA, die im ersten Quartal 2000 eine Wachstumsquote von - auf das Jahr gerechnet - 5,4 Prozent hatten und die eine Arbeitslosenquote von unter 4 Prozent haben. Das bedeutet, die Wachstumsbeschleunigung in Deutschland ist nicht selbst erarbeitet worden. Vielmehr werden wir durch Einflüsse von außen sozusagen mitgeschleift: den US-Boom, auf den ich verwiesen habe, die Euro-Schwäche, über die Sie etwas hätten sagen müssen, Herr Bundesfinanzminister ich komme noch dazu -, oder das Ende der internationalen Finanzkrisen, das uns letztendlich ebenfalls begünstigt. Es grenzt schon an Verhöhnung der Menschen, wenn man so kleine Fortschritte - die sich zudem aus der demographischen Entwicklung heraus ergeben: Mehr Leute scheiden aus dem Arbeitsleben aus als eintreten - als großen Erfolg feiert. Herr Lafontaine hat am Beginn der Legislaturperiode zu Recht gesagt: Wenn wir bis 2002 nicht auf 3 Millionen Arbeitslose herunterkommen, dann ist diese Bundesregierung gescheitert. Daran werden Sie sich messen lassen müssen. ({5}) Durch den zu erwartenden Einnahmesegen aus der Versteigerung von Funklizenzen und aus der Privatisierung von Post und Telekom werden Sie, Herr Minister Eichel, sozusagen zum Hans im Glück. Sie ernten glücklich, was andere gesät haben ({6}) und was von Ihnen bekämpft worden ist. Es waren Theo Waigel und Wolfgang Bötsch an führender Stelle, die damals die Postreform und die Privatisierungspolitik durchgesetzt haben. Zwei SPD-geführte Bundesländer haben sich bis zuletzt verweigert: Das eine war das von Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, geführte Hessen und das andere war das vom Bundeskanzler geführte Niedersachsen. Die beiden haben sich bis zuletzt verweigert. ({7}) Sie sollten einmal den Mut haben, das einzugestehen und sich zu entschuldigen, auch bei den Wählerinnen und Wählern, die damals bei den Monopolbetrieben gearbeitet haben und von Ihnen genasführt worden sind. ({8}) Ich bekenne mich zur Privatisierung, zur Deregulierung und zur Liberalisierung. Wir wissen, dass daran kein Weg vorbeiführt. Man macht eine Politik der PR-Gags. Ein weiterer PR-Gag war die Green Card. Das sollte ein Symbol für „Deutschland im Aufbruch“ sein. So wie die HolzmannNummer eine Beruhigungspille für die Gewerkschaften, insbesondere für die Baugewerkschaft war, so soll jetzt eine Beruhigungspille für die Informationstechnologiewirtschaft kommen. Dabei ist der Name Green Card völlig unzutreffend. In den USA ist damit eine dauerhafte Arbeitserlaubnis verbunden, keine Beschränkung auf fünf Jahre, wie sie die Bundesregierung plant. Dass eine vorübergehende Anwerbung ausländischer Spezialisten auch ohne größere Schwierigkeiten möglich wäre, zeigt sich in Bayern, wo diese Dinge mit einer leistungsfähigeren Verwaltung reibungsloser funktionieren. Wenn Herr Riester seine Arbeitsverwaltungen anweisen würde, bei der Ausstellung von Bescheinigungen großzügiger und rascher zu entscheiden, könnte man sehr viel bewirken. Stattdessen ist der Arbeitsminister auf diesem Gebiet ein Arbeitsverweigerer. Er tut nämlich nichts. ({9}) Die Bundesregierung macht Fehler, um sie anschließend mit großem Buhei wieder zu beseitigen. Das ist so ähnlich, wie wenn man auf das kurze Gedächtnis setzt und zunächst einen Brand legt, dann mit großem Tatütata als Feuerwehr ankommt und so tut, als hätte man das Feuer gelöscht, obwohl es, nachdem die Feuerwehr weggefahren ist, weiterglimmt. Ich will das gerne belegen: Mit dem verkündeten Ausstieg aus der Kernenergie geht Kompetenz in einem weiteren wichtigen Hochtechnologiesektor verloren. Mit dem Verzicht auf den Bau der Transrapidstrecke Hamburg-Berlin wird die führende Stellung Deutschlands bei der Magnetschwebebahntechnik unterminiert. Mit der Plünderung des Verteidigungshaushaltes - das ist zu rasch und zu schnell - gehen wichtige Arbeitsplätze und Forschungskapazitäten in der wehrtechnischen Industrie, die eine Hochtechnologieindustrie ist, verloren. Mit der verhinderten Zulassung beispielsweise von Gen-Mais wird die grüne Gentechnologie außer Landes getrieben. Die Fachkompetenz, die dann letztendlich mit der Green Card in etlichen Jahren wieder ins Land geholt werden muss, wird jetzt aus diesem Land vertrieben. ({10}) Unser Land braucht deswegen keine PR-Gags, sondern eine stetige Politik. Es braucht vor allen Dingen eine umfassende Bildungsreform. Dazu hat Kollege Möllemann vorhin Richtiges gesagt. Wir müssen die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland bei uns im Land sichern. Wir müssen vor allem schauen, dass sich der Studienstandort Deutschland wieder grundlegend verbessert. Unsere Universitäten müssen wieder Anziehungspunkt für die besten Köpfe der Welt werden. Wenn diese Menschen bei uns studiert haben und unsere Sprache beherrschen und unsere Lebensgewohnheiten kennen, sind das weiterhin auch die allerbesten Spezialisten für die deutsche Wirtschaft. Diese Leute müssen wir im Land behalten. So machen das in erster Linie die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle und auch nicht in der Universität, sondern im Klassenzimmer. Deswegen hat Kollege Rüttgers schon Recht, wenn er die Bildungspolitik in NordrheinWestfalen aufspießt. Wir brauchen ein Schulsystem, das Leistung fordert und Leistung fördert, anstatt wie in den SPD-regierten Ländern am leistungsfeindlichen Gesamtschulsystem festzuhalten. ({11}) - Ich weiß nicht, was Frau Laurien darüber gesagt hat, Herr Kollege. Sie scheinen es sehr gut zu wissen, weil Sie so laut rufen. Vielleicht sagen Sie es anschließend. Ich weiß aber zum Beispiel, was man bei Tests bei der Bundeswehr festgestellt hat: Die Rekruten aus den unionsregierten Ländern schneiden in Rechtschreibung und Rechnen besser ab als die Wehrpflichtigen aus den SPD-regierten Ländern. ({12}) Da natürlich die Menschen in Bayern nicht von Hause aus gescheiter sind ({13}) als die in Nordrhein-Westfalen, muss es doch am Schulsystem und an der Erziehung liegen, wenn wir diese Ergebnisse feststellen. ({14}) Die jungen Menschen sind nicht unterschiedlich begabt, sie sind nur unterschiedlich gefordert und gefördert und das liegt an der SPD-Bildungspolitik. ({15}) Es wurde schon mehrfach gesagt, dass Bundeskanzler Schröder 1998 in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident von Niedersachsen Studiengänge an der Universität Hildesheim aufgelöst hat. Es muss aber immer wieder gesagt werden - insbesondere dann, wenn Wahlentscheidungen anstehen -, dass die SPD-Politik gerade in der Bildung immer sehr kurzfristig und kurzsichtig ist und dass man versucht, die gemachten Sünden mit Werbegags wieder wettzumachen. Statt in Zukunftstechnologien zu investieren, hat man zum Beispiel in Niedersachsen das Geld zum Kauf eines Stahlwerks genommen, als ob das eine wichtige Sache für den Staat wäre. Aber dies hat damals dem Wahlgewinn genutzt. Alles das, was dem Land längerfristig nutzt, lässt man außer Acht und kauft sich immer wieder mit billigen PR-Gags die Stimmen der Leute. Wer eine solche Politik macht, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er später Green Cards für Eliten aus dem Ausland braucht, von denen er glaubt, diese könne er so willkürlich wie andere Importwaren kaufen. Allerdings - das ist interessant - ist die Bereitschaft der Leute, nach Deutschland zu kommen, sehr gering. Es gibt keine Invasion aus Indien. ({16}) - Herr Poß, passen Sie doch einmal auf. ({17}) Wenn Sie auf diese Art anfangen wollen, lasse ich bei Ihnen zwischendurch das Wort „Schul-“ weg und dann sind wir bei persönlichen Dingen, die wir miteinander austragen, aber das will ich nicht. Lieber Herr Poß, ich wollte mit Ihnen über die Währung reden. Die Leute, die da kommen sollen, wollen gar nicht für Euro, sondern in erster Linie für Dollar arbeiten. Das muss doch auch einen Grund haben. Ich war sehr gespannt, was der Herr Finanzminister heute zu dieser Währungsschwäche unserer Gemeinschaftswährung Euro sagt. Es ist nicht so, dass wir als Euro-Gegner dastehen wollen. ({18}) Im Gegenteil, ich bin für den Euro eingetreten. ({19}) Es war mein Parteivorsitzender Theo Waigel, der die Hauptarbeit des Durchsetzens und die Lasten getragen hat. Wir hätten heute mit einer D-Mark, die von einer rotgrünen Regierung getragen worden wäre, noch mehr Verwerfungen. Aber wir als das wirtschaftlich stärkste Land in Europa müssen dafür sorgen, dass das Wort „Stabilität“ wieder buchstabiert wird, ({20}) dass wir vor allen Dingen durch unser Wirtschaftswachstum wieder der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung werden. ({21}) Es gibt den traurigen Negativrekord von 88 Cent gegenüber dem Dollar. Gestern hat sich der Kurs wieder ein bisschen verbessert. Im Vergleich zur Einführung des Euro vor 17 Monaten hat sich in der Spitze eine Abwertung von 25 Prozent ergeben. Diese Zahl macht uns natürlich Sorge. Die Auswirkungen spürt man noch nicht sofort, aber dies wird spätestens in einem Vierteljahr auf die Importpreise durchschlagen. Es wird bei uns eine Inflationsspirale und dann eine Lohn-Preis-Spirale mit verheerenden Wirkungen in Gang setzen, wenn es nicht gelingt, diese Talfahrt zu stoppen. Gewonnen hat der Euro lediglich gegenüber der türkischen Lira. Dies ist die einzige Währung, gegenüber der der Euro in den letzten 17 Monaten, seit Herr Lafontaine und Sie Finanzminister sind, gewonnen hat. Die türkische Lira ist anscheinend noch schwächer. Dieser Umstand empfiehlt die Türkei neben anderen ideologischen Gründen offensichtlich auch für einen raschen EU-Beitritt. Herr Eichel - ich nehme Sie jetzt stellvertretend, weil der Herr Bundeskanzler nicht da ist -, berührt es Sie eigentlich gar nicht, wenn die Überschriften in uns nicht unbedingt nahe stehenden Zeitungen lauten: „Der Euro hat seinen guten Ruf verloren“, „Der Euro wird langsam zum Sozialfall!“ oder „Der Euro auf dem Weg zu einer Lachnummer“? Bei einer solchen Debatte wie der heutigen geht man ganz einfach kalt darüber hinweg und kommt stattdessen mit allen möglichen Kinkerlitzchen. Glauben Sie wirklich, dass die anhaltenden Kursverluste die Dänen dazu bewegen werden, bei der anschließenden Volksabstimmung dafür zu votieren, in die Euro-Zone einzutreten? Wie wollen Sie die Briten dazu bringen, sich auf den Euro zuzubewegen, was für die europäische Integration unverzichtbar ist, wenn Sie den Kurs einfach so schleifen lassen? Ich sage es noch einmal: Ich fordere keine künstlichen Interventionen auf dem Devisenmarkt, sondern ich fordere, dass in Europa eine Politik betrieben wird - auch eine Stabilitäts- und Wachstumspolitik -, die das Vertrauen der Märkte in die europäische Gemeinschaftswährung zurückgewinnt. ({22}) Jetzt frage ich Sie, Herr Bundesfinanzminister, wobei es mir noch lieber wäre, der Herr Bundeskanzler würde die Frage beantworten: Ich sehe mit großer Sorge die Umfrageergebnisse hinsichtlich des Vertrauens in die europäische Gemeinschaftswährung. Sind Sie eigentlich nicht in Sorge, dass die Menschen in Deutschland das Vertrauen in den Euro verlieren, noch bevor sie ihn fühlbar greifen können, also noch bevor sie die Scheine und Münzen erstmals in der Hand haben? Das kümmert Sie offensichtlich überhaupt nicht. Das kümmert offensichtlich auch den Bundeskanzler überhaupt nicht; er hat nämlich heute auch kein Wort dazu gesagt. ({23}) Duisenberg hat dazu gesagt: Über kurz oder lang höhlt ein Währungsverlust nach außen auch den Binnenwert einer Währung aus. Damit hat der Mann leider Recht. Wir wollen, dass es in Deutschland weiterhin ehrliches Geld für ehrliche Arbeit gibt. Diese unabdingbare Grundlage für unser Gemeinwesen wird gefährdet, wenn man die Dinge einfach treiben lässt und wegschaut. ({24}) Ich sage es noch einmal: Der Euro ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen und Probleme des 21. Jahrhunderts, aber nur ein stabiler Euro. Wir müssen deutlich machen, dass wir nicht einen billigen Motor zur Ankurbelung des Exports suchen, so wie es in den Reden des Herrn Bundeskanzlers und bei Ihnen angeklungen ist, sondern langfristig wollen, dass der Gegenwert für deutsche und europäische Arbeit im internationalen Maßstab gerecht vergütet wird. Die Terms of Trade haben sich in den letzten Monaten ganz bedeutend verschlechtert. Das bedeutet zwar, dass möglicherweise zum Beispiel Daimler-Benz oder Siemens - oder wer immer hier produziert - mehr Euro für sein Produkt einnimmt, aber der Arbeitnehmer, der dort arbeitet, bekommt, wenn ich den Dollar als Leitwährung der Welt zugrunde lege und es dann herunterrechne, letztendlich 25 Prozent weniger konvertiblen Gegenwert für seine Arbeit und seine Leistung. ({25}) Wenn das anhalten würde, dann bedeutete es letztendlich im Klartext genau dies. Dass es nicht so weit kommt, können wir nur dadurch verhindern, dass bei uns endlich wieder Wachstums- und Stabilitätspolitik gemacht wird. ({26}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeutet: Wir haben die Verpflichtung zu einer stabilitätsorientierten Geldpolitik, zu soliden Staatsfinanzen, zu einer konsequenten Reformpolitik für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, für sichere Renten und für ein leistungsförderndes Steuersystem, nicht für etatistische Betrachtungsweisen. Theo Waigel hatte zusammen mit Hans Tietmeyer das Vertrauen der Märkte. Immerhin war ein Waigel-Euro noch 1,18 Dollar wert; ein Eichel-Euro ist vorgestern an den Devisenbörsen für 89 Cent verramscht worden. ({27}) Das war die Reaktion der Märkte und das Urteil der Märkte ist unbestechlich. Wenn das die so genannte moderne Wirtschaftspolitik ist, von der Sie, Herr Bundeskanzler, reden, dann gute Nacht. ({28}) Dann können wir uns dafür nur ganz herzlich bedanken. Wirtschaftliche Reformen wurden zurückgenommen, der Stabilitätspakt wurde infrage gestellt, Reformen im Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Rente und der Krankenversicherung wurden entweder zurückgenommen oder verschleppt. Die notwendige Lockerung des starren Tarifrechts ist ausgeblieben. In der Gesundheitspolitik werden die Menschen immer mehr verunsichert; letztes Beispiel dafür war der Vorschlag einer Koppelung der Arzthonorare an den Heilerfolg. Herr Bundeskanzler, wenn man Ihr Gehalt an den Kurs des Euro koppeln würde, dann würden Sie noch stärker als die Ärzte plötzlich merken, wie ernst solche Maßnahmen gemeint sein könnten. ({29}) Fünf Ökosteuer-Stufen und eine Steuererhöhungsdebatte um Mehrwertsteuer und Erbschaftsteuer verunsichern die Märkte weiterhin. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Beschwichtigungen und Gesundbeten helfen nicht. Wir brauchen endlich eine wirkliche Reformpolitik. Wir brauchen auch den Verzicht auf weitere Steuererhöhungen und wir brauchen vor allem Signale dafür, dass wir uns der internationalen Entwicklung anschließen und sogar versuchen, wieder der Motor dieser Wachstumsentwicklung in Europa zu werden, wie das die Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit gewesen ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Glos, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie diesen Weg beschreiten, werden wir Sie dabei nachhaltig unterstützen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Kollege Dr. Norbert Wieczorek von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen, Michael Glos, gut zugehört. Wir kennen uns aufgrund unserer gemeinsamen Mitgliedschaft im Bundestag schon länger. Ich habe Sie so verstanden, dass Sie dafür plädieren, dass die deutschen Arbeiter in Dollar bezahlt werden und dann ihr Brot mit Dollar kaufen. Habe ich das richtig verstanden? ({0}) Weiter habe ich gehört, dass die Wechselkursschwankungen ganz entsetzlich seien und diese Regierung für alles verantwortlich ist. Ich erinnere mich daran, als der Dollar vor ein paar Jahren bei 1,38 DM lag, waren wir alle besorgt darüber, weil das die Struktur der Exporte kaputtgemacht hat. Nach Ihrem Maßstab einer DMSchwäche gegenüber dem Dollar waren aber die Anfangsjahre der Regierung Kohl eine einzige Katastrophe. In dieser Zeit stieg der Dollar nämlich auf über 3 DM. Mit Verlaub: Ich würde erst einmal nachdenken, lieber Michael, bevor man redet. ({1}) Damit bin ich bei dem Punkt, der uns heute eigentlich beschäftigt, nämlich bei der Lage der Wirtschaft in unserer Republik. Ich frage Sie: Welche Ausgangslage hatten wir vor eineinhalb Jahren? Länger sind wir noch nicht an der Regierung. Ich darf daran erinnern, dass wir von dem ach so stabilitätsorientierten Kollegen Waigel Schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM, 1 500 Milliarden DM, übernommen hatten. Wir hatten zerrüttete Staatsfinanzen mit einer unsicheren Steuerbasis, ein nicht reformiertes Steuersystem. Wir hatten Reformstau in fast allen Bereichen, weil die alte Koalition nicht mehr die Kraft hatte, irgendeine Reform zu machen. Wir hatten vor allen Dingen - das ist entscheidend - einen Verlust an Vertrauen in die Politik und in die soziale und wirtschaftliche Zukunft. Dann haben wir den Neuanfang begonnen. Von manchen ist gesagt worden, das sei pragmatisch gewesen. Natürlich ist Politik praktisch, aber wir hatten dabei auch Grundsätze. Der eine Grundsatz war ein wirtschaftspolitischer, in dem wir gesagt haben, dass Angebot und Nachfrage zusammengehören, was für jeden Ökonomen eine Selbstverständlichkeit sein sollte, und dass Angebots- und Nachfragepolitik deswegen aufeinander abgestimmt und miteinander verzahnt werden müssen. Der zweite ist ein gesellschaftlicher Leitsatz. Solidarität - mit Rechten und Pflichten - und soziale Gerechtigkeit gehören zusammen. Ich habe mit Freude in den Schlussfolgerungen von Lissabon gelesen, Herr Finanzminister und Herr Bundeskanzler, dass alle einschließlich Herrn Aznar betont haben: Wir müssen soziale Ausgrenzung beseitigen und wir müssen alle Menschen in die Gesellschaft integrieren. Das ist ein ganz wichtiger Satz. ({2}) Wir stellen uns die Frage: Was ist geschehen? Zunächst die Steuerreform 1999. Minister Eichel hat gerade etwas dazu gesagt. Die Entlastungen waren bei den Arbeitnehmern. Bei den Privathaushalten waren es 29,4 Milliarden DM, im Mittelstand waren es im vorigen Jahr übrigens auch schon 6 Milliarden DM. Das war Nachfragepolitik und es war Angebotspolitik zugleich: Nachfrage bei den privaten Nachfragern - das war die Schwäche unserer Konjunktur in den letzten Jahren der Regierung Kohl und Angebotspolitik bei den mittelständischen Unternehmen. Es war das Programm für jugendliche Arbeitslose, JUMP-Programm genannt. Immerhin sind dadurch über 26 000 feste Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt entstanden. Herr Merz, vielleicht denken Sie erst einmal darüber nach, bevor man darüber redet und sagt, dass keine neuen Arbeitsplätze für Jugendliche geschaffen worden sind. Das haben Sie vorhin gesagt. Die zentrale Frage für mich war aber die Frage nach der Haushaltskonsolidierung. Die hatte Herr Waigel nicht hinbekommen. Herr Eichel hat das geschafft. Ich habe die Zahlen genannt. Hierbei muss man eines sehen: Wer hat Minister Eichel geglaubt - ich erinnere mich noch an die Zweifel in diesem Hause im vorigen Jahr -, als er angekündigt hat, im Haushalt Kürzungen von 30 Milliarden DM durchzusetzen? Was hat er geschafft? Gut 90 Prozent, rund 28 Milliarden DM. Das ist eine Summe, von der Sie bei Ihrer Haushaltspolitik eigentlich nur träumen konnten. ({3}) Ich möchte Herrn Merz einen Hinweis geben, weil er von der Staatsquote gesprochen hat. Die Staatsquote betrug 1998 - unter Ihrer Regierung - 48,3 Prozent, im Übergang 1999 48,5 Prozent und sie beträgt 2000 47,5 Prozent - das ist ein voller Prozentpunkt weniger -, 2001 46,5 Prozent, 2002 46 Prozent, 2003 45 Prozent. Ich möchte gleich die Abgabenquote hinzufügen. Sie beträgt 2003 41 Prozent. Bei Ihnen lag sie am Schluss bei 42,3 Prozent. So sehen die tatsächlichen Zahlen aus. ({4}) Das hat wesentlich zur Vertrauensbildung beigetragen, wie übrigens auch das Bündnis für Arbeit. Der Bundeskanzler hat das angesprochen. Ich darf daran erinnern, dass Bündnisse fürArbeit in anderen Ländern - Holland, Dänemark, Irland - erfolgreich sind. Es ist aber ein sehr langfristiger Prozess, der vor allen Dingen darauf gebaut ist, dass die verschiedenen Akteure - Staat, Gewerkschaften, Unternehmen - zueinander Vertrauen finden und um ihre Interessen vertrauensvoll miteinander streiten konnten. Es war doch Bundeskanzler Kohl - er ist nicht mehr anwesend; vorhin hat er auf einer der hinteren Bänke gesessen; das ist offensichtlich sein neuer Platz -, der 1996 nach den Wahlen in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz den Gewerkschaften im Rahmen des Bündnisses für Arbeit, das er angeregt hatte, den Stuhl in rüdester Art vor die Tür gesetzt hat. Deswegen ist es schwierig, wieder Vertrauen herzustellen. Aber dass es jetzt gelungen ist, zeigen genau die Tarifabschlüsse dieses Jahres. Lieber Michael Glos, es handelt sich um Zweijahrestarifabschlüsse. Folglich kann es nicht nach einem Vierteljahr eine Lohninflation geben. Wer das behauptet, der hat gar nicht begriffen, welche moderne Wirtschaftspolitik diese Regierung betrieben hat. ({5}) Es ist auch wichtig, dass die Tarifverträge nicht par ordre du mufti, also durch Einfluss von oben, zustande gekommen sind; vielmehr haben die Tarifpartner gemeinsam und freiwillig diese Verträge abgeschlossen. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen, weil das mit zum Bild Deutschlands, der EU und der Eurozone im Ausland beiträgt. Wenn immer wieder von Abgeordneten aus den Reihen der Opposition - vorher waren es Vertreter der Interessenverbände - behauptet wird, hier sei ja alles verkrustet - das war richtig; unter Kohl war das so -, dann muss ich feststellen: Gerade im Bereich der Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern in der Tarifpolitik lässt sich eine Flexibilisierung seit Anfang der 90er-Jahre beobachten - ich nenne als Beispiele Arbeitszeitkonten und flexible Arbeitszeitmodelle -, die dazu geführt hat, dass die Produktivität in wichtigen Industriebereichen, zum Beispiel in der Automobilindustrie - deswegen sind wir ja exportstark; deswegen müssen wir einen stärkeren Euro überhaupt nicht fürchten -, zum Teil um 10 Prozent gestiegen ist. Ich möchte nur an Ford erinnern: Ford macht wahrscheinlich - das nehmen Sie sonst gern als Beispiel für Flexibilisierung - sein Werk Dagenham in Großbritannien zu und verlagert die Produktion nach Köln. ({6}) - Hier ist es ganz deutlich. An diesem Beispiel kann man erkennen, wie unsere neue Politik gewirkt hat. Deswegen empfehle ich, ein bisschen auf die internationale Reputation zu achten und nicht einfach etwas daherzureden. Noch ein Wort zur F.D.P.: Es wird immer behauptet, es gäbe nur flächendeckende Tarifverträge. Ich bin zufällig Schlichter für den Bereich Rheinland-Pfalz und Saarland. Ich werde als Schlichter sehr wahrscheinlich nie gefordert sein, weil die IG Metall dort nicht streikt. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Wenn Sie sich die Tarifstatistik ansehen, dann werden Sie feststellen, dass die Tariflöhne - nur davon rede ich - zwischen den Regionen um mehr als 20 Prozent differieren, ganz zu schweigen von der Lohndrift, die es bei größeren Unternehmen gibt. Ich empfehle, die Differenziertheit unserer Tariflandschaft und auch die Möglichkeiten der neuen Tarifverträge zur Kenntnis zu nehmen, die auch zwischen den Unternehmen Lohndifferenzierungen zulassen, gerade im Hinblick auf die Zusatzleistungen. Ich erwähne das nur deshalb, weil Sie immer noch den Eindruck erwecken, hier habe es keine Anpassungen gegeben. Ein großer Irrtum! Das Vertrauen, das jetzt gerade aufgrund der Konsolidierung des Haushalts wieder hergestellt worden ist - ich glaube, das war der entscheidende Faktor -, hat natürlich auch etwas bewirkt. Die Erfolge konnte man diese Woche an den Arbeitslosenzahlen und an den anderen Arbeitsmarktzahlen ablesen. Man kann die Erfolge auch daran erkennen, dass die Investitionen kräftig gestiegen sind und dass auch die private Nachfrage steigt. Auch das haben Sie, Herr Merz, nicht richtig dargestellt: ({7}) - Das mag sein oder er möchte es nicht wahrhaben. - 1997 sind laut Angaben der Konjunkturforschungsinstitute die Ausgaben der privaten Haushalte für den Konsum real um 0,7 Prozent gestiegen. 1999 sind sie um 2,1 Prozent gestiegen. Dieses Jahr wird ein Plus von 2,3 Prozent und nächstes Jahr ein Plus von 2,8 Prozent erwartet. Das ist ja wohl ein Zeichen dafür, dass Vertrauen zurückgekehrt ist. Die realen Investitionen - das ist der zweite große Faktor - sind 1997 um 3,7 Prozent gestiegen. 2000 wird mit einem Plus von 6,7 Prozent gerechnet. Das ist fast eine Verdoppelung. Man muss zur Kenntnis nehmen, wie die Realität der Republik gerade aufgrund der neuen Ansätze der Wirtschaftspolitik aussieht. Lassen Sie mich auch sagen, dass wir natürlich noch nicht am Ende des Weges sind. Es muss noch viel getan werden, gerade auch im Hinblick auf die Beschäftigung. Deshalb gilt es, auch in diesem Jahr Zeichen zu setzen. Nächste Woche wird die Steuerreform auf den Weg gebracht. Wir werden Ende Juni bzw. Anfang Juli - wenn ich richtig informiert bin - die Haushaltseckdaten vorlegen. Das sind ganz wichtige Punkte, und zwar nicht nur für unsere Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade auch für die internationalen Finanzmärkte; denn damit können wir belegen, dass Reformen in Deutschland möglich sind. Erst einmal eine Randbemerkung zur Euro-Diskussion: Es geht nicht, dass wir in diesem Land demokratische politische Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen für jede Frau und jeden Mann nach den Tageserwartungen bestimmter Wirtschaftszeitungen und - das geht erst recht nicht - nach den Tageserwartungen der Devisenhändler treffen. Dass so etwas gefordert wird, kann ich wirklich nicht nachvollziehen. Lassen Sie mich noch etwas zum Euro sagen. Ich habe zu denen gehört, die ihn von Anfang an begleitet haben und die sich für den Stabilitätspakt gemeinsam mit Ihnen - einige von Waigels Vorstellungen waren nicht umsetzbar; das haben wir ihm aber auch klar gesagt - eingesetzt haben. Ich bin froh - da möchte ich auf Herrn Eichel eingehen -, dass der Ecofin am Montag festgestellt hat, dass Einmaleinnahmen nicht in die allgemeine Haushaltsfinanzierung fließen. Das ist zwar richtig; aber ich sehe gleichzeitig mit Vergnügen und mit Freude, dass die Dr. Norbert Wieczoreck Stabilitätsprogramme sehr viel ernster genommen werden; denn wir sind dabei, Wachstum und gleichzeitig Preisstabilität zu erreichen. Das ist ganz wichtig. Ich möchte noch eine wirtschaftspolitische Bemerkung machen. Ich halte den Ansatz für gegeben, für die EuroZone eine solide Haushalts- und Fiskalpolitik zu machen. Dies war der eigentliche Grund für den Aufschwung der 90er-Jahre in Amerika. Diese Politik erlaubte der Zentralbank eine relativ lockere Geldpolitik. Für die Erfolge in den USA war diese Geldpolitik verantwortlich, nicht die Arbeitsgesetzgebung. Die war vor zehn Jahren, als die Amerikaner eine Arbeitslosenquote von 10 Prozent hatten, die gleiche wie heute. Es ist vor diesem Hintergrund ganz wichtig, dass ein entsprechender Spielraum in der Euro-Zone geöffnet wird. Deswegen muss der eingeschlagene Weg weitergegangen werden. Zurück zum Euro. Ich halte Ihre Äußerungen, lieber Michael Glos, für absolut fahrlässig; ich sage das in aller Deutlichkeit. Im Maastricht-Vertrag haben wir gemeinsam vereinbart - damals wurde Europapolitik noch gemeinsam gemacht; daran habe ich bei Herrn Stoiber neuerdings große Zweifel; bei der CDU weiß man nicht, wie sie sich entscheiden wird; ({8}) es wäre schlimm, wenn sich diese Tendenz fortsetzt -, dass das einzige Ziel der Europäischen Zentralbank die Preisstabilität ist. Preisstabilität beruht auf Binnenstabilität - und die ist ohne Zweifel gegeben und sie wird auch weiterhin gegeben sein. Ich habe etwas darüber gesagt, was gerade die Tarifvertragsparteien in der Bundesrepublik - dies gilt nicht nur für Deutschland - in diesem Jahr dazu beigetragen haben. Dass wir Wechselkursschwankungen haben - ich habe es in meiner Eingangsbemerkung angesprochen -, ist etwas Selbstverständliches. Man stelle sich einmal vor, wir hätten diese Wechselkursschwankungen wie jetzt beim Euro gegenüber der DM. Früher war die DM Ersatzwährung für das gesamte Euro-Land; heute gibt es in Europa eine gemeinsame Währung. Ich bitte Sie sehr ernsthaft darum, keine Reden zu halten, in denen man behauptet, die Menschen würden alle arm. Im Beispiel eben wurde darauf hingewiesen, jemand bei Daimler bekomme soundso viel Euro und wenn er diesen Betrag in Dollar bekäme, würde er um 25 Prozent ärmer. Dies ist natürlich Unsinn. Im Gegenteil, er bekommt etwas mehr und sein verfügbares Einkommen ist größer. Er kann sich mehr kaufen; denn seine reale Kaufkraft ist gestiegen, weil wir Preisstabilität, also innere Geldwertstabilität, haben. (

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Nur nicht in Florida!) - In Florida natürlich nicht. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Florida das klassische Reiseziel der Arbeiter ist; insofern habe ich damit kein Problem. Wer dahin fahren kann, dem macht das auch nichts mehr aus. Ich habe eben darauf hingewiesen - an der Haushaltspolitik symbolhaft dargestellt -, wie wichtig für die Inlandsnachfrage und für den Aufschwung die Wiederherstellung des Vertrauens war. Wir müssen den ausländischen Investoren deutlich machen - ich unterschätze nicht, was im Zusammenhang mit dem Euro passiert -, dass es bei uns zu Reformen kommen wird. Dazu zählt die Rentenreform, die wir gemeinsam zustande bringen wollen. Keiner kann sagen, ob sie gelingen wird. Dazu zählt auch die Steuerreform, die wir nächste Woche verabschieden wollen. Es ist ganz wichtig, dass wir unseren Anteil nach den Regeln der Politik - ich sage es noch einmal: nicht nach den Regeln der Tageserwartungen der Händler - leisten. Wir müssen das auch nach außen klarmachen. ({0}) - Langsam, langsam. Eure Steuerreform kenne ich noch. Es ist auch wichtig, dass andere Länder ähnlich vorgehen. Ich sage ganz offen: Die Regierungskrise in Italien hat sich auf den Euro ausgewirkt. Aber Herr Amato war derjenige, der die ersten Reformen in Italien durchgeführt hat. Ich hoffe, dass er - nicht euer Freund Berlusconi; wenn ich das so deutlich zu dieser Seite sagen darf - die Zeit hat, seine Reformmaßnahmen umzusetzen und dass ihm der Ecofin dabei hilft. Wenn es uns gelingt, das nötige Vertrauen herzustellen, dann stellt sich eine Situation ein, in der sich bestehende Defizite korrigieren. Eines wäre nämlich schlimm: wenn wir in eine Situation kämen, in der das Gefüge noch mehr durcheinander kommt. Die schlimme Gefahr, die auf uns allen lastet, ist ja vor allen Dingen die eines Crashs in Amerika. Die Gefahr ist nicht der Euro-Kurs, sondern ein Crash in Amerika. Deswegen ist es wichtig - diesbezüglich möchte ich den Finanzminister ansprechen -, dass in Okinawa beim G7-Gipfel eine bessere Kooperation erreicht wird. Die gegenwärtige, nur auf die US-interne Sicht gerichtete Politik der amerikanischen Treasury, konkret: meines alten Freundes Garry Summers, halte ich nicht für vertretbar. Sie ist auf die Dauer schädlich. Wir müssen da zu besseren Regelungen kommen. Ich hoffe, dass das gelingt. Ich weiß nicht, ob wir vor dem Gipfel in Okinawa noch eine Debatte zu diesem Thema haben werden; deswegen wollte ich das hier loswerden. Wenn wir nämlich nicht stabilere Wechselkursverhältnisse bekommen, hilft das weder Japan noch den USA noch Euro-Land. Daher müssen wir zu stabileren Wechselkursverhältnissen beitragen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wieczorek, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Ich möchte noch einen Schlusssatz sagen, weil ich am Anfang zwei Leitsätze vorgetragen habe. Dr. Norbert Wieczoreck So pragmatisch und praktisch manches auch ist, so ist es für Nichtökonomen doch etwas schwer verständlich. Die Leitlinie unserer Politik, der SPD-Wirtschaftspolitik die haben wir konkret in diesem Punkt gemacht, und wir werden sie weiter machen -, ist, dass es einen sozialen Konsens gibt, in dem sich jede Bürgerin, jeder Bürger, jede Frau, jeder Mann, ob Jung oder Alt, wiederfinden kann. Ziel unserer Politik ist, dass jeder in die Gesellschaft integriert ist und damit auch an der Gesellschaft teilnehmen kann und nicht ausgegrenzt wird, damit wir wieder eine soziale Gesellschaft haben, in der jeder nach seinen Bedürfnissen leben kann und in die er sich selber einbringen kann, aber auch einbringen soll. Ausgrenzung ist zu überwinden, aber das erfordert ein Angebot und auch den Willen, in die Gesellschaft hineinzugehen. Darauf ist unsere Politik ausgerichtet. Das ist übrigens auch der eigentliche Kern der so genannten neuen Wirtschaftspolitik, wie sie von Gordon Brown, Tony Blair und anderen gemacht wird. Das zur Erinnerung an die Opposition. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Rainer Brüderle von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir bleibt nur wenig Zeit, deshalb wenige Bemerkungen. Zunächst fällt auf: Zur wirtschaftlichen Lage, zum Konzept der Wirtschaftspolitik spricht der Bundeskanzler, nicht der Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich dafür zuständig ist. Wir haben uns gefreut, ihn zeitweise auf der Regierungsbank begrüßen zu können. ({0}) - Herr Staffelt, regen Sie sich nicht auf. Schön, dass Sie abgenommen haben. Sie können ja später noch reden. Zweitens. Herr Bundeskanzler, Sie haben es etwa so dargestellt: Wenn man Kritik an dem übt, was Sie für richtig halten, bedeutet dies einen Schaden für Deutschland, für die deutsche Wirtschaft. - Nein, Wettbewerb haben wir in der sozialen Marktwirtschaft, Wettbewerb brauchen wir auch in der Politik, um miteinander um den richtigen Weg zu ringen. Deshalb ist die Kritik an falschen Ansätzen notwendig, damit wir insgesamt erfolgreich sind. ({1}) Die Wechselkurse des Euro sind das Ergebnis einer täglichen Abstimmung an den Märkten und nicht auf finstere Machenschaften einiger Devisenhändler zurückzuführen. Sie sind das Ergebnis einer täglichen Abstimmung der Welt über die Reformfähigkeit mit Zukunftseinschätzung von Euro-Land. Der größte Teil von Euro-Land ist Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern. Es ist so, dass Amerika diesbezüglich kräftiger dasteht, mit mehr Dynamik. Im letzten Quartal war die Wachstumsrate dort fast doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Arbeitslosigkeit lag unter 4 Prozent. Davon sind wir weit entfernt. Deshalb muss die Devise in der Tat heißen, nicht kurzfristig durch Deviseninterventionen, sondern und da würde ich mir wünschen, dass Herr Eichel aktiver würde - durch koordinierte Wirtschaftspolitik und durch Reformen die Erwartungen draußen in der Welt hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit von Euro-Land und Deutschland zu verändern. ({2}) Ich habe den Eindruck, Sie sind zu sehr mit dem Shareholder-Value Ihrer Beteiligungen beschäftigt und zu wenig damit, den Außenwert des Euro zu stabilisieren, damit wir nicht von dieser Seite eine importierte Inflation bekommen. Wenn sich die derzeitige Entwicklung fortsetzte - zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland haben kein Vertrauen in den Euro -, würde dies bei uns auch nachhaltige Auswirkungen über die wirtschaftliche Lage hinaus haben. Kernpunkt ist, dass wir in Deutschland einen Verfall des ordnungspolitischen Denkens haben. In der Steuerpolitik gibt es die Mittelstandslücke. Sie sperren die Gewinne in den Betrieben ein, statt sie in eine produktivere Verwendung hinauszulassen, ({3}) weil Sie meinen, wenn das Geld in Unternehmerhand käme, wäre dies eine schlechte Verwendung. Das sind alte ideologische Reflexe, die Sie schnellstmöglich überwinden sollten. Mir fällt da in Analogie zu Brecht ein: Sie sehen zu sehr die Großen im Rampenlicht, und die im Dunklen, die Kleinen und Mittleren, die die Arbeitsplätze schaffen, den Mittelstand, sehen Sie zu wenig. Für den Mittelstand müssen die Weichen anders und besser gestellt werden. ({4}) Ich halte es für richtig, wenn Sie die Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen steuerlich freistellen. Am Anfang haben Sie gesagt, das kostet nichts. Heute redet man von 4 Milliarden DM Kosten, vielleicht sind es auch 8 Milliarden DM. Wahrscheinlich wollen Sie die Zahlen nicht nennen, damit die Fundi-Grünen nicht unruhig werden oder die Traditionssozis Sie innerparteilich nicht beschimpfen. Sie müssen aber auch fair sein und dem Handwerksmeister, der seinen Betrieb aufgibt und von der Veräußerung seines Betriebes leben muss und leben will, aber bisher den halben Steuersatz zu zahlen hat, analog entgegenkommen. So, wie bisher geplant, können Sie es nicht machen. ({5}) Herr Wieczorek, Sie tun bei Ihren Ausführungen zum Arbeitsmarkt und zum Tarifvertragsrecht gerade so, als ob es den Fall Viessmann nicht gegeben hätte. Dort haben 98 Prozent der Belegschaft einem Konzept zugeDr. Norbert Wieczoreck stimmt, um ihre Arbeitsplätze in Nordhessen zu erhalten. Im Betrieb andere Regelungen zu vereinbaren stellt doch eine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips dar. Die Gewerkschaften haben dagegen geklagt. Wir müssen diese Blockade aufbrechen. In Berichten der Bundesbank, der OECD und vieler Wirtschaftsforschungsinstitute können Sie nachlesen, dass einer der zentralen Hemmschuhe für mehr Arbeit in Deutschland die Starrheit und Inflexibilität auf unserem Arbeitsmarkt sind. Diese müssen wir aufbrechen. Dazu brauchen wir breite Korridore und ein anderes Denken ({6}) Es gibt hierzu erste Ansätze: Die IG Chemie hat entsprechende Vereinbarungen durchgesetzt. Sie müssen diese aber auch in der Breite umsetzen. Da man hier nicht vorankommt, ist unsere Vorstellung, dass letztlich auch der Gesetzgeber handeln muss. Sonst gibt es einen Stau, der von denjenigen verursacht wird, die drinstehen, und der zulasten derjenigen geht, die draußen stehen, aber auch etwas Hoffnung und Zuversicht haben wollen. So ist keine Solidarität insbesondere mit den Langzeitarbeitslosen zu erreichen. Hier muss es Reformen und Veränderungen geben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Letzter Satz, Herr Präsident. Wenn wir es nicht schaffen, in Deutschland überzeugende Reformen auf den Weg zu bringen, wird der Euro weiter schwächelnd dahindümpeln. Viele Fachleute sprechen davon, dass die Auffanglinie vielleicht bei einem Kurs von 0,80 Dollar liegt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ditmar Staffelt von der SPD-Fraktion.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein bisschen kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte die Opposition allergrößte Schwierigkeiten, sich auf das Modell „Modernisierung und soziale Verantwortung“ einzustellen. Sie diskutieren hier in einer Weise, als sei die Regierung in alten Denkkategorien verhaftet, als würde sie sich nicht den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft stellen. Sie tun so, als fördere die SPD als Regierungspartei nicht sehr bewusst und mit vielerlei wichtigen Initiativen gerade die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Lande. Sie gehen doch an den Realitäten vorbei, wenn Sie uns das dauerhaft unterstellen und damit Propaganda machen, während die Wahrheit und die Faktenlage völlig anders aussehen. ({0}) Im Übrigen möchte ich Ihnen sagen, dass ich mit großem Interesse am 28. April 2000 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter der Überschrift „Deutlich mehr Aufträge im Mittelstand“ gelesen habe, dass die Creditreform eine Umfrage unter Unternehmern in der Bundesrepublik, in Ost und West, gemacht hat und zu folgendem Resultat gekommen ist: 38 Prozent beurteilen ihre Auftragslage als gut oder sehr gut gegenüber 27,2 Prozent noch im vergangenen Jahr. Es ist so, dass 27,6 Prozent gegenüber 17,2 Prozent im letzten Jahr darauf verweisen, dass sich ihre Umsatzsituation deutlich verbessert hat. Es gibt - ich könnte diese Umfrageergebnisse noch auf eine breitere Grundlage stellen - viele Hinweise darauf, dass außerhalb dieses Parlamentes eine sehr viel optimistischere und sehr viel positivere Einschätzung der Politik der Regierung vorhanden ist, als Sie sie den Menschen hier vermitteln wollen. Darüber ärgere ich mich. Sie befinden sich inzwischen in einem Zustand der politischen Beliebigkeit, nur um Opposition zu machen. ({1}) Das beste Beispiel dafür ist doch das Thema Holzmann, das hier noch einmal angesprochen wurde. Ich erinnere mich noch sehr gut - das war ja eine der ersten Debatten hier in diesem Hause -: Sie konnten gar nicht eilfertig genug darauf verweisen, dass Frau Roth und Ihr Ministerpräsident Koch diejenigen waren, die vor Ort mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen hatten. Sie hatten fast ein Problem damit, dass der Kanzler dabei war. Wenig später, als eine Regelung erreicht worden ist, die viele Arbeitsplätze, aber auch vielen Mittelständlern die Existenz gerettet hat, haben Sie auf einmal einen Schwenk gemacht, das Gegenteil behauptet und sich distanziert. Wissen Sie: Eine solche Politik hat kurze Beine. Damit werden Sie für sich keine Mehrheiten in dieser Republik herbeiführen. ({2}) Dasselbe Affentheater - sind wir doch einmal ehrlich haben Sie mit der Green Card veranstaltet: Auf der einen Seite vergießt Herr Rüttgers Krokodilstränen. Auf der anderen Seite hat er aber Sprüche drauf, bei denen man das Gefühl hat, dass es sich um eine konservative Politik ganz tief aus der Mottenkiste handelt. Sie, die Sie immer von Experimenten und Ideen reden, sind noch nicht einmal bereit, einen solchen Versuch, ein solches Experiment mitzutragen. Trotzdem reden Sie von Innovation und Erneuerung. Mit einer solchen Grundeinstellung zum politischen Handeln schlagen Sie sich doch selber aus dem Felde. ({3}) Ich will noch eines sagen: Schauen Sie sich doch einmal die Mittelstandspolitik des Bundeswirtschaftsministeriums an! In unserem Katalog sind eine Fülle von Maßnahmen, um insbesondere die Selbstständigkeit in unserem Lande zu unterstützen. Teile dieses Katalogs sind die Fortsetzung dessen, was Sie gemacht haben - ohne jede Frage. Zu dieser Kontinuität bekennen wir uns. Andere Teile haben wir neu austariert und haben neue Akzente gesetzt. Aber es gibt doch keinen Zweifel daran - angefangen bei den Förderinstrumenten der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis hin zu den Maßnahmen der Deutschen Ausgleichsbank -, dass hier hervorragende Arbeit zur Unterstützung des Mittelstandes und zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen geleistet wird. Daran zweifelt doch in Wahrheit niemand, schon gar nicht diejenigen, die davon betroffen sind, nämlich die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Diese Tatsache können Sie doch nicht wegdiskutieren. ({4}) Ich füge noch eines hinzu: Schauen Sie sich an, was wir in diesem Zusammenhang an den Universitäten und in der Gesellschaft dafür getan haben, dass das Klima für Selbstständigkeit verbessert wird! Tun Sie doch nicht so, als würden wir hier keine großartige Unterstützung leisten! Sie haben eben über Bildungssysteme gesprochen. Herr Glos, zu dieser Diskussion muss ich Ihnen sagen: So einfach ist es ja nun nicht. Ich bin aus der Berliner Politik in den Bundestag gekommen. Das Land Berlin hat - ich vermute, andere Bundesländer auch - mehrfach im Bundesrat den Antrag gestellt, dass die Professoren endlich aus der Liste der Beamten gestrichen werden. Jede Änderung des Bundesbeamtengesetzes ist an Ihnen gescheitert. Sie haben damit mehr Flexibilität im Lehrkörper der Universitäten verhindert. ({5}) Erzählen Sie also nicht den Unsinn, als seien alle Schwachpunkte im Bereich der Bildung auf sozialdemokratische Bildungspolitik zurückzuführen! Wir bekennen uns dazu, dass es mehr Wettbewerb zwischen den Universitäten in unserem Lande geben muss. Natürlich brauchen wir diesen Wettbewerb. Aber die entsprechende Diskussion müssen wir gemeinsam führen. Schuldzuweisungen dieser sehr einfachen Art sind meiner Ansicht nach überhaupt nicht dazu geeignet, um zu Lösungen in dieser sehr schwierigen Frage der Innovation in der Bildungspolitik unseres Landes zu kommen. ({6}) Ich möchte darauf verweisen, dass ich die Bemühungen der Bundesregierung und des Bundeswirtschaftsministeriums ausdrücklich unterstütze, einen Einstieg in den Abbau von Bürokratie zu finden. Natürlich ist das ein wichtiges Thema. Sie müssen aber auch in diesem Punkt zugeben: Auf der einen Seite schreit das ganze Land nach Entbürokratisierung; auf der anderen Seite schreien zum Teil dieselben Menschen, dass wir Regelungsbedarf haben. Wir sind in dieser Frage in einer sehr schwierigen Situation. Deshalb muss im Einzelfall entschieden werden. Eine gemeinsame Anstrengung zur Entbürokratisierung lohnt sich aber in jedem Falle und wird Innovation und Anschübe für die Wirtschaft zur Folge haben. Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Punkten sagen, die Sie hier ebenfalls mit einem sehr negativen Akzent angesprochen haben: Wir haben doch nun in vielen Regionen dieser Republik geradezu eine Vielzahl von Neugründungen von kleinen Unternehmen der Hochtechnologie, ob das die Biotechnologie ist, ob das die Informations- und Kommunikationstechnologien sind. Das kommt doch nicht von ungefähr. Das ist zwar eine Entwicklung, die natürlich auch etwas damit zu tun hat, dass es solche Schübe in den USA gegeben hat, aber es muss doch gleichwohl eine Gründeratmosphäre in diesem Land geben. Es muss doch gleichwohl Rahmenbedingungen geben, die es solchen Unternehmen ermöglichen, Fuß zu fassen. Und wenn Sie sich dann einmal die Entwicklung des Neuen Marktes anschauen und dann feststellen, dass sich aus Zwei-Mann- bzw. Drei-Mann-Buden, wenn ich das so sagen darf, auf einmal millionen- und milliardenschwere Unternehmen entwickelt haben, dann können Sie doch nicht davon reden, dass diese Bundesregierung nicht in der Lage wäre, Voraussetzungen für innovative kleine und mittelständische Unternehmen in unserem Lande herbeizuführen. ({7}) Das ist doch Murks, was Sie hier erzählen. ({8}) - Ich habe jetzt keine Zeit. Bayern haben heute schon genug gesprochen. ({9}) Ich will noch einen Hinweis auf die so genannte Old Economy machen. Bei anderer Gelegenheit - das sollte man vielleicht wenige Tage vor der Wahl in NordrheinWestfalen auch noch einmal sagen - haben Sie hier Debatten darüber geführt, wie es denn nun eigentlich mit der Kohlesubvention und Ähnlichem mehr sei. Ich finde, dass man an dieser Stelle auch noch einmal sagen kann: Wir jedenfalls stehen zu den Vereinbarungen, die getroffen worden sind. Da gibt es kein Wenn und kein Aber. ({10}) Damit wir nicht nur über diejenigen reden, die jetzt in den ganz modernen wirtschaftlichen Bereichen zu Hause sind: Wir vergessen auch diejenigen nicht, die morgens um 6 Uhr noch am Fließband und anderswo in den Fabriken stehen und arbeiten. Auch die sind Teil unseres gesamtwirtschaftlichen Konzeptes für diese Republik, meine Damen und Herren. ({11}) Ich resümiere: Ich bin der Überzeugung, Sie werden sich einiges einfallen lassen müssen. Es reicht nicht, wenn Sie eine Politik entwickeln, die darauf aus ist, einzelne Körner aus unserem Konzept herauszupicken, und dann glauben, damit würden Sie die positive Einschätzung, die es ja in der Wirtschaft und bei den Verbänden zu diesem Thema gibt, aushebeln können. Nein, ich sage Ihnen: Sie werden erst wieder auf die Beine kommen, wenn Sie eigene Vorschläge und eigene Philosophien entwickeln und wir dann darüber streiten können. Das würde dem Lande übrigens auch gut tun. In der Verfassung, in der Sie sich im Moment befinden, sind Sie jedenfalls weit außerhalb des Mainstream. Und ich sage Ihnen eines: Sie werden das bei den nächsten passenden Gelegenheiten und dann auch bei Wahlen merken. Schönen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat nun das Wort der Kollege Karl-Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte über die Wirtschaftspolitik, die vor allen Dingen unter der Überschrift „Politik für mehr Beschäftigung“ steht. Auch der Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion „Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung“ steht im Zusammenhang mit dieser Debatte. Da wir jetzt eine leichte konjunkturelle Verbesserung haben, ist es ja unstreitig, dass wir auch eine leichte Entspannung auf dem Arbeitsmarkt haben. Es ist unstreitig, dass ein großer Teil dieser Entspannung, die wir auch in den nächsten Jahren zu erwarten haben, auch und vor allem damit zu tun hat, dass jedes Jahr in Deutschland 150 000 bis 200 000 Menschen mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden als aus der Ausbildung der jungen Generation für den Arbeitsmarkt nachwachsen. In dieser Situation einer leichten konjunkturellen Entwicklung brauchen wir auch politische Konzepte, wie wir die Beschäftigung vor allen Dingen älterer Arbeitnehmer in diesem Land wieder fördern können. ({0}) Wir haben unter unseren Arbeitslosen 900 000 Menschen über 55 Jahre. Ein großes Unternehmen wie die Deutsche Bank hat noch ganze 500 Beschäftigte über 50 Jahre. Wir hatten in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft eine Entwicklung, bei der die ältere Generation aus dem Arbeitsmarkt herausgebombt worden ist. ({1}) - Wer hat denn die Debatte in Deutschland über die Rente mit 60 geführt und damit jede Motivation kaputtgemacht, sich auch noch für die Fortbildung eines 55-Jährigen einzusetzen? ({2}) Das waren doch Sie mit Ihren Hilfstruppen aus IG Metall, DGB usw.! Wir haben seit anderthalb Jahren einen Bundesarbeitsminister Walter Riester. ({3}) Wir haben ein Bundesarbeitsministerium, das dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung seit Oktober 1999 keinen einzigen politischen Antrag mehr zugeleitet hat. ({4}) Das ist die Wahrheit! Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung kann seit Oktober 1999 keinen politischen Antrag mehr aus dem Arbeitsministerium beraten, außer einem einzigen, der im Bündnis für Arbeit besprochen worden ist: Weiterentwicklung der Altersteilzeit. Das ist im Übrigen eine Erfindung von uns. Dabei macht mir im Moment ganz große Sorge, dass die Altersteilzeit immer mehr verblockt und dazu benutzt wird, dass die Erwerbstätigen ganz aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das hat mit Altersteilzeit, wie wir sie uns einmal vorgestellt haben, - Beschäftigungspotenziale ausschöpfen, Erfahrungen älterer Arbeitnehmer nutzen und Teilhabe Älterer am Arbeitsmarkt ermöglichen -, immer weniger, um nicht zu sagen: gar nichts mehr zu tun. ({5}) Wenn Sie, diese SPD und dieses Arbeitsministerium, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt nicht nutzen, um jetzt eine breite gesellschaftliche Diskussion anzustoßen, wie wir für Problemgruppen Teilhabe am Arbeitsmarkt und am Arbeitsleben ermöglichen können, ist das ein Beweis, dass Sie keine sozialpolitische Konzeption haben - und im Übrigen auch keine Liebe und Zuwendung für die Problemgruppen und die betroffenen Menschen in diesem Bereich. Ansonsten kann ich es mir nicht erklären, dass im Bundesarbeitsministerium ein Winterschlaf herrscht, der weit ins Frühjahr hineinreicht. ({6}) Die CDU/CSU diskutiert in dieser Frage, immer wieder auch gestützt auf Anträge im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, ein Bündel von Maßnahmen. Jeder, der sich jahrelang mit Sozialpolitik beschäftigt hat, weiß doch, dass es in diesen Fragen nicht die Lösung gibt, sondern dass wir ganz viele unterschiedliche Instrumente in die Hand nehmen müssen, um für die betroffenen Menschen etwas zu tun. Der Vorschlag, den wir in unserem Antrag unterbreitet haben, nämlich ältere Arbeitnehmer stärker fortzubilden, damit sie an der Weiterentwicklung ihrer beruflichen Möglichkeiten arbeiten können, sie freizustellen für Fortbildung, finanziert über die Bundesanstalt für Arbeit, und ihre Arbeitsplätze so lange mit älteren Arbeitslosen zu besetzen, ist einer dieser konkreten Vorschläge. Ich bin einmal gespannt, wie Sie im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung mit diesem Antrag umgehen. Wahrscheinlich werden Sie fünf Minuten mit uns darüber diskutieren und dann die Abstimmungsmaschinerie in Gang setzen. Aber etwas Hoffnung habe ich, weil die sozialpolitische Sprecherin der Grünen am 5. Mai im „Handelsblatt“ erklärt hat, dass sie genau diesen Vorschlag, den wir machen, für den richtigen hält. ({7}) Ich bin einmal gespannt, ob die Grünen das halten. ({8}) Ich frage die Bundesregierung: Wie ist Ihre Haltung zum Beschäftigungsförderungsgesetz? Es läuft Ende dieses Jahres aus. Meine Fraktion hat dem Deutschen Bundestag in dieser Woche hierzu einen Antrag zugeleitet. Reden Sie nicht erst lange darüber, sondern stimmen Sie ihm zu, denn die befristete Beschäftigung hat sich nach allen Statistiken, zumindest nach denen, die ich kenne, bewährt. Sie haben sie bekämpft wie der Teufel das Weihwasser. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es war, als wir diese Initiative, für 24 Monate befristet einstellen zu können, eingebracht haben. Da haben Sie von „Heuern und Feuern“ gesprochen. Tatsache ist, dass über 50 Prozent der befristeten Arbeitsverhältnisse in unbefristete umgewandelt werden. Ich kann mich noch an die Diskussion im Deutschen Bundestag erinnern, als wir für einen kleinen Bereich des produzierenden Gewerbes, bei dem es gar nicht anders geht - Textilindustrie, Reifenindustrie -, die Maschinenlaufzeiten auf den Sonntag ausdehnen wollten. Da haben Sie uns hier im Deutschen Bundestag in Ihren politischen Reden als „Sonntagsschänder“ bezeichnet. Seien Sie froh, dass wir diese Entscheidungen getroffen haben. Ich frage Sie: Wo bleiben Sie in der sozialpolitischen Diskussion mit einer Antwort auf die Frage, wie wir Menschen mit Behinderungen stärker in den Arbeitsmarkt integrieren können? Wo bleiben Sie jetzt, da die Konjunktur ein Stück weit anspringt, mit Antworten? ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Laumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiermann?

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Laumann, ist Ihnen nicht bewusst, dass beim Umbau der Montanstrukturen die Unternehmen insbesondere zum Instrumentarium des Freisetzens von Belegschaften gegriffen haben und über Sozialplanleistungen ein Großteil der Belegschaften abgebaut worden ist? Das heißt im Klartext, dass auf der einen Seite die Statistiken, also die hohen Arbeitslosenzahlen in den Arbeitsämtern, im Wesentlichen dadurch geprägt worden sind, dass ältere Arbeitnehmer aufgrund des Umbaus im Montanbereich ihren Arbeitsplatz verlassen mussten, und dass auf der anderen Seite immerhin der Vorteil zu verzeichnen war, dass diese älteren Kolleginnen und Kollegen, die nicht freiwillig gingen, einen Erhalt der Arbeitsplätze der jüngeren Kolleginnen und Kollegen vor Ort ermöglichten. Ich bitte Sie, dies in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, natürlich nehme ich das zur Kenntnis. Nur, für die Zukunft sind uns solche Lösungsmöglichkeiten, wie wir sie in der Vergangenheit in der Montanindustrie praktiziert haben, nämlich die Beschäftigten immer früher in Rente zu schicken - beim Bergbau ist dies mittlerweile mit 50 Jahren möglich -, verschlossen, weil wir dies der jüngeren Generation finanziell schlicht und ergreifend nicht mehr zumuten können. ({0}) Deshalb führen wir hier keine Debatte, wie sie in der Vergangenheit üblich war. Wir müssen vielmehr eine Debatte von morgen führen angesichts dessen, dass wir wissen, dass das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre angehoben werden muss. ({1}) Wir müssen natürlich auch sehen, wie wir ein Angebot hinbekommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt verbleiben können und dort eine berufliche Perspektiven haben. Über diese Frage müssen wir gemeinsam eine gesellschaftliche Debatte in Gang setzen. ({2}) Ich sage es noch einmal: Ich halte es für einen Skandal, dass eine Großbank in Deutschland nur noch 500 Arbeitnehmer, die über 50 Jahre alt sind, beschäftigt und dass wir diese Entwicklung nicht stärker zum Thema machen. Wir von der Union werden uns, weil wir uns an den Menschen orientieren und weil wir wollen, dass alle Menschen eine Teilhabe am Arbeitsmarkt haben, mit den Problemgruppen, mit denjenigen Menschen, die es auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben, beschäftigen und Ihnen zur Lösung dieser Probleme Vorschläge machen. Ich habe aber die Bitte: Lehnen Sie nicht jeden Vorschlag, den wir vor allen Dingen im Bereich der Sozialpolitik einbringen, deswegen ab, weil auf dem Briefkopf „CDU/CSU“ steht. ({3}) Tun Sie es insbesondere nicht so lange, wie Sie dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung keine einzige politische Initiative zuleiten. Schönen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zu den eigenartigen ArKarl-Josef Laumann gumenten des Kollegen Laumann wird sicher meine Kollegin Schmidt einiges zu sagen haben. ({0}) Ich hingegen möchte einige Aspekten in Bezug auf Ostdeutschland ansprechen; denn zu Deutschland im Aufbruch gehört natürlich auch Ostdeutschland. Es wird immer wieder behauptet - von Herrn Gysi heute eigenartigerweise nicht; denn Herr Gysi konzentriert sich eher auf den Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen -, dass die Reformpolitik der Bundesregierung, insbesondere die der Haushaltskonsolidierung und der Steuerpolitik, zulasten der neuen Länder gehe. Ich sehe das entschieden anders. Mit dem reformpolitischen Befreiungsschlag der rot-grünen Bundesregierung wird auch der Weg für eine Beschleunigung des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern frei gemacht. Gerade in Ostdeutschland leiden wir immer noch an der bleiernen Lethargie der späten Kohl-Jahre. Mitte der 90er-Jahre ist das Wachstum in den neuen Bundesländern regelrecht zusammengebrochen. Es halbierte sich von 9,6 Prozent 1994 auf 4,4 Prozent im Jahre 1995. 1998 lag das Wirtschaftswachstum dann nur noch bei 2 Prozent. Die Folge: Seit 1997 wächst die ostdeutsche Wirtschaft langsamer als die westdeutsche. Der Aufholprozess ist seither zum Stillstand gekommen. Wir alle beklagen die unbefriedigende Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Diese unbefriedigende Lage ergibt sich vor allem dann, wenn man nur die rein statistischen Daten betrachtet. Ich rate zu einer differenzierteren Betrachtungsweise. ({1}) Im verarbeitenden Gewerbe und insbesondere bei den Dienstleistungen gibt es zwischenzeitlich beachtliche Wachstumsraten und vor allen Dingen - dies erscheint mir sehr wichtig - Beschäftigungsanstiege. Dramatisch ist allerdings nach wie vor die Situation auf dem Bausektor. Hier leiden wir in den neuen Ländern noch immer unter den Fehlern, die zu Beginn der 90er-Jahre gemacht wurden. Mit milliardenschweren Subventionen wurde ein völlig überhöhter Bausektor aufgepäppelt, der dann beim Ausbleiben des Subventionssegens prompt in die Knie ging. Mitte der 90er-Jahre gingen die Bauaufträge und die Bauproduktion kontinuierlich zurück - mit den bekannten deutlichen Bremsspuren auf dem Arbeitsmarkt. Ich muss der Ehrlichkeit halber hinzufügen: Die Krise ist nicht ausgestanden. Die Wirtschaftsstruktur der neuen Länder ist noch immer von einem zu kleinen Anteil an verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungsunternehmen geprägt, während das Baugewerbe und auch der öffentliche Sektor einen zu großen Anteil an der ostdeutschen Bruttowertschöpfung haben. So wird das erfreuliche Wachstum im industriellen Bereich von den Pleiten im Baugewerbe und im Handel per saldo überdeckt. Das Ergebnis ist die angespannte Lage auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in Ostdeutschland müssen ein besonders starkes Interesse daran haben, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates zurückzugewinnen; ({2}) denn die Schuldenfalle, in die uns die Kohl-Regierung geführt hat, belastet gerade den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland. Wenn immer mehr Steuermittel für die jährlichen Zins- und Tilgungszahlungen der öffentlichen Hände aufgebracht werden müssen, dann wird es immer schwerer, die Mittel für die dringend erforderlichen Infrastrukturinvestitionen in den neuen Ländern bereitzustellen. Führende Wirtschaftsforschungsinstitute haben kürzlich ausgerechnet, dass selbst im Jahr 2005 noch mit einer Infrastrukturlücke in einer Größenordnung von circa 300 Milliarden DM zu rechnen ist. Dabei sind die Infrastrukturinvestitionen des Bundes noch nicht einmal berücksichtigt. Ich frage mich, wie solche gewaltigen Summen aufgebracht werden können, wenn weiterhin mehr als ein Fünftel der Steuereinnahmen des Bundes in den Schuldendienst gesteckt werden muss. Deshalb sage ich: Die Konsolidierungspolitik von Hans Eichel ist gerade aus ostdeutscher Sicht richtig und war längst überfällig. ({3}) Wenn die in unserem Entschließungsantrag formulierten Eckpunkte der Rahmen für die Fortsetzung erfolgreicher Politik sind, wird sich die Umsetzung in besonders positiver Weise auf Ostdeutschland auswirken. Es ist unbestritten: Teilungsbedingte Sonderbedarfe bestehen nicht nur im Bereich der Infrastruktur, sondern auch bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktfördermaßnahmen. Die Arbeitslosenquoten in den neuen Ländern sind mehr als doppelt so hoch wie die in den alten, wobei sich die Schere zwischen Ost und West wieder öffnet. Die Ausbildungsplatzsituation in den neuen Ländern ist erheblich schwieriger als in den alten Ländern; der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Manche dieser Sondertatbestände erfordern auch Sonderprogramme. ({4}) Ich meine aber auch, dass überall dort, wo es schwerwiegende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt bzw. Defizite auf dem Ausbildungsmarkt gibt, gleiche Förderprogramme und Fördertatbestände greifen müssen, ganz gleich, ob sie nun in Oberhausen oder in Sangerhausen zur Anwendung kommen. ({5}) Meine Damen und Herren, die Ausrüstungslücke der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Wirtschaft wird auf 40 Prozent geschätzt, was einem Investitionsvolumen von circa 260 Milliarden DM entspräche. Es ist völlig klar, dass diese Lücke mit der herkömmlichen regionalen und strukturellen Wirtschaftsförderpolitik nicht zu schließen ist. Es ist im Übrigen auch nicht sinnvoll, wenn der Staat versucht, den Strukturwandel in der Wirtschaft leiten und lenken zu wollen. Das geht aller Erfahrung nach schief, wie ich bereits am Beispiel der ostdeutschen Bauwirtschaft ausgeführt habe. Der notwendige wirtschaftliche Strukturwandel einer Gesellschaft ist keine staatliche Veranstaltung, zumindest nicht primär. Entscheidend sind hier die Unternehmen gefordert. Deshalb ist es in Zeiten eines beschleunigten Strukturwandels völlig richtig, die Investitionsbedingungen der Unternehmen durch günstigere steuerliche Rahmenbedingungen zu verbessern. ({6}) Nirgendwo in Deutschland ist der Investitionsbedarf so hoch wie in den neuen Ländern. Deshalb werden insbesondere Unternehmen in Ostdeutschland von Eichels Steuerreform profitieren. Die Hunderttausende von kleinen und kleinsten Personengesellschaften in Ostdeutschland werden von der Senkung der Einkommensteuertarife oder der pauschalen Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld stärker profitieren als die in Westdeutschland. Die Unternehmensteuerreform wird, so hoffe ich, die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Ostdeutschland weiter erhöhen. Ich verspreche mir deshalb auch davon neuen Schwung bei den Unternehmensgründungen, die wir in den neuen Ländern so dringend brauchen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der systematische Abbau des Reformstaus, der in der 16-jährigen Ära Kohl in der Bundesrepublik entstanden war, ist nicht nur für Westdeutschland, für die westdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft, bitter nötig. Wie Mehltau haben sich die späten Kohl-Jahre auch auf die Entwicklung in Ostdeutschland gelegt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hinsken. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kaspereit, können Sie mir sagen, was die Bundesregierung in den 19 Monaten, seitdem sie in Amt und Würden ist, getan hat, um Existenzgründungen insbesondere in den neuen Bundesländern, aber auch allgemein in der gesamten Bundesrepublik zu erleichtern, und pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, dass gerade der Mittelstand, auf den Sie ja jetzt indirekt ein Loblied singen - bereits Herr Staffelt hat versucht, das in den höchsten Tönen herauszustellen -, von der Politik dieser Bundesregierung überhaupt nicht profitiert? Ich kann Ihnen sagen, dass ich in der Lage bin, sofort 24 Positionen zu nennen, die alle zur Verschlechterung der Situation des Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland beigetragen haben.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, warum stellen Sie mir die Frage, wenn Sie selber sie schon vermeintlich beantworten? ({0}) Ich bin der Meinung, dass für den Mittelstand in Ostdeutschland, allein schon aufgrund der psychologischen Effekte der Ankündigung dieser Steuerreform, eine Menge passiert ist - jedenfalls mehr als in Ihrer Zeit. ({1}) Sie wissen: Ein wenig Stetigkeit und Verlässlichkeit ist sehr wichtig, auch in der Wirtschaft. Als eines der letzten OECD-Länder hat die Bundesrepublik nach dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung die Grundlagen für ein dauerhaftes und dynamisches Wachstum geschaffen. Mehr Wachstum in Europa verhilft auch in den neuen Ländern zu mehr Beschäftigung und es hilft, den Strukturwandel zu beschleunigen. Die Erfolge dieser Politik sind allenthalben sichtbar. Die Wirtschaft in Deutschland und Europa wächst so stark wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr. Die Beschäftigungslage verbessert sich stetig; die Zahl der Arbeitslosen nimmt kontinuierlich ab. Dass sich die Erfolge dieser Politik in den neuen Ländern zunächst weniger spektakulär und mit einiger Zeitverzögerung auswirken, ist nach wie vor der besonderen historischen Lage Ostdeutschlands geschuldet. Niemand konnte und kann erwarten, dass das Erbe von 40 Jahren Kommunismus in Deutschland über Nacht verschwindet, auch nicht nach zehn Jahren. Der Aufbau Ost ist eine Generationenfrage, für die man auch heute noch langen Atem braucht. ({2}) Wenn dies den Menschen früher und deutlicher gesagt worden wäre, Herr Hinsken, würden manche unnötigen Polemiken unterbleiben und es wären weniger Hoffnungen enttäuscht worden. Die Aufgaben für die neuen Länder sind klar zu umreißen: Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe und in Dienstleistungsunternehmen für die Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die Voraussetzungen dafür sind gut - inzwischen in beiden Teilen Deutschlands. Wir haben eine gut ausgerüstete Infrastruktur für die Aufgaben der Zukunft geschaffen und wir werden die noch bestehenden Lücken in den neuen Ländern in den nächsten Jahren schließen. ({3}) Wir haben - das darf vielleicht in diesem Haus auch einmal gesagt werden - exzellent ausgebildete Arbeitnehmer, im Osten mehr als im Westen. Die Defizite im Ausbildungsbereich werden, solange dies notwendig ist, auch mit staatlichen Hilfen vermindert. Wir setzen jetzt längst fällige Strukturreformen durch sei es in den Steuer- und Transfersystemen, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder den sonstigen Faktor- und Gütermärkten -, die die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland verbessern. Diese neue Grundausrichtung deutscher Politik sichert Deutschlands wirtschaftliche Zukunft, auch die Ostdeutschlands. ({4}) Es wäre grundlegend falsch, wegen der - im Wesentlichen teilungsbedingten - Sonderlasten Ostdeutschlands auf Sonderwege zu setzen, wie das die PDS tut. Ich halte nichts davon, die neuen Länder unter eine noch so gut gemeinte Käseglocke zu stellen. Das bringt uns nicht weiter. Die neuen Länder sind Teil des einheitlichen europäischen Binnenmarktes, in dessen Spielregeln sie eingebunden sind. Kommunen und Länder sind gefordert, attraktive Investitionsbedingungen für ansiedlungswillige Unternehmen zu schaffen. Der Bund kann dabei helfen; er kann es aber nicht an ihrer Stelle tun. ({5}) Ich habe den Eindruck, dass dies in den neuen Ländern zwischenzeitlich häufig besser verstanden wird als in den alten Ländern. Ich bin davon überzeugt, dass die Reformen, die diese Bundesregierung begonnen hat, gerade auch in den neuen Ländern zu positiven Ergebnissen führen werden, so schmerzlich die Anpassungsprobleme aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels zurzeit auch sind. Wir müssen den Menschen in den neuen Ländern sagen, dass diese Anpassungsprobleme lösbar sind, dass dies aber Zeit erfordert und deshalb Geduld.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kaspereit, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Luft, bitte schön.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke schön, Frau Kollegin Kaspereit. - Ich bin ja mit Ihnen völlig einverstanden, dass man die Hoffnung nie aufgeben darf. Aber mit dem Prinzip Hoffnung alleine - darin stimmen wir sicherlich überein - wird es nicht gehen. Es gibt im Moment sogar die Tendenz, dass die Investoren, die sich für Ostdeutschland interessieren, angesichts der Euro-Schwäche wieder zögerlich werden. Das ist ein Punkt, den wir ins Auge fassen müssen. Es gibt nach wie vor die Tendenz zur Abwanderung - die hat ja mit der Einführung der D-Mark in den neuen Bundesländern nicht aufgehört, sondern hält leider immer noch an -, sodass wir Gefahr laufen, in den neuen Bundesländern eine Art Altenheim zu werden. Ja, der Altersdurchschnitt nimmt erheblich zu. Vieles von dem, was in den neuen Bundesländern nach 1990 geschehen ist, war ja politisch motiviert. Ökonomen haben da nicht viel mitreden dürfen. Ich möchte Sie fragen: Sind Sie mit mir einer Meinung, dass man auch jetzt vieles politisch auf den Weg bringen muss, um es ins Lot zu bringen? Wäre es nicht günstig gewesen, wenn sich die Bundesregierung stärker für den Bau des Großraumflugzeuges in Laage bei Rostock engagiert hätte? Das wäre für diese arg gebeutelte Region eine echte Hilfe gewesen, mit Ausstrahlung weit ins Land hinein. Wäre es nicht günstig,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Luft, die Fragen sollen kurz und präzise gestellt werden. Keine Argumentation bitte!

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- für arbeitsintensive Dienstleistungen - auch wir im Osten wollen ja eine Dienstleistungsgesellschaft werden - Steuererleichterungen herbeizuführen, wenigstens in der Anfangsphase? Wäre es nicht günstig, Existenzgründerinnen und Existenzgründer anfangs steuerlich besser zu stellen? Das alles sind Fragen, die politisch noch zu überdenken sind.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben eine Menge an Fragen gestellt, auf die ich - das wissen Sie - im Einzelnen hier nicht eingehen kann; dazu möchte ich das Plenum nicht missbrauchen. Aber eines muss man feststellen: Die Investitionsentscheidung trifft das Unternehmen, und zwar nicht alleine nach politischen Gesichtspunkten. Da spielen eine Menge Dinge eine Rolle: zunächst einmal der Markt und qualifiziertes Personal, am Ende auch eine gewisse Förderpolitik. Darüber könnte man lange streiten. Wir müssen uns für die neuen Bundesländer engagieren - gar keine Frage -, auch politisch. Ich weiß, dass wir das tun; ich weiß, dass der Bundeskanzler das tut. Auch in den vergangenen Jahren hat es ein derartiges Engagement gegeben. Was den A3XX angeht, so sollten wir darüber im zuständigen Ausschuss sprechen. Das heißt, da sind die Würfel ja schon gefallen. Sie wissen genau, dass es etwas anders ist, als Sie es hier darstellen. Ich möchte zum Schluss meiner Rede kommen. Ich hatte angesprochen, dass wir den Menschen sagen müssen, dass die Anpassungsprobleme lösbar sind. Wir werden unser Bestes dazu tun, um die Lösungen, die nötig sind und oft auch Zeit erfordern - manchem ist die Zeit wohl schon zu lang -, anzugehen. Wir brauchen Geduld. Wir müssen den Menschen aber vor allen Dingen Mut machen, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Der Staat ist nicht der umfassende Daseinsvorsorger. Je überzeugender uns dies gelingt, umso schneller werden wir die wirtschaftliche Einheit und damit ein Stück der inneren Einheit Deutschlands vollenden können. Danke. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Bernd Protzner von der CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie müssen noch einmal einen bayerischen Redner ertragen. ({0}) - Ja, auch einen fränkischen. Nach vier Stunden Debatte haben wir zwei Ergebnisse. Das erste: Wir sind uns darin einig, dass eine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden muss. Das zweite: Wir sind uns nicht einig in der Beurteilung, ob die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland schon zufrieden stellend ist. Dass sich der Herr Bundeskanzler heute sehr kräftig auf die eigenen Schultern geklopft hat, halte ich für ungerechtfertigt. Wenn er und Sie von SPD und Grünen allein die Arbeitslosenzahlen in den Mittelpunkt stellen, dann ist das eine falsche Betrachtungsweise. Wichtiger ist die Beschäftigtenzahl, da nicht jeder, der aus der Arbeitslosenstatistik ausscheidet, auch einen Arbeitsplatz erhält. Stilllegung von Arbeitskraft ist bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu lange Tradition gewesen. Das ist der Weg von gestern. Was wir brauchen, ist Beschäftigungsaufbau, sind neue und zusätzliche Arbeitsplätze. Eine soziale Marktwirtschaft braucht aktiv Tätige. Denn nur diese erwirtschaften Kaufkraft und zahlen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung. Insofern ist eine Senkung der Arbeitslosenzahlen ohne gleichzeitigen Anstieg der Beschäftigtenzahlen keine dauerhafte Lösung des Arbeitsmarktproblems. Wir helfen den Menschen doch nicht dadurch, dass sie aus der Statistik herausfallen, sondern nur dadurch, dass sie einen Arbeitsplatz finden. Dies gilt sowohl für Junge als auch für Ältere. ({1}) Ich darf hier auf Friedrich Merz zurückkommen: Es ist falsch, nur die Arbeitslosenstatistik zu zitieren, wie es Bundesfinanzminister Eichel in seiner Replik versucht hat. Wir hatten zwar im Dezember 150 000 Arbeitslose weniger, aber gleichzeitig auch 20 000 Arbeitsplätze weniger als 1998. Ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen bedeutet nicht zugleich eine Zunahme der Beschäftigtenzahlen, sondern kann auch mit dem Rückgang der Beschäftigtenzahlen einhergehen. ({2}) Ich halte es für eine Schande in der Bundesrepublik Deutschland, dass wir zwar am Dienstag dieser Woche die neuesten Arbeitslosenstatistiken bekommen haben, aber nicht die neuesten Beschäftigtenstatistiken. Diese liegen erst für Februar vor. ({3}) Es muss doch im Zeitalter des Internets möglich sein - die Bundesregierung hat ja angeblich eine große Internetofensive gestartet -, die Arbeitslosenstatistiken und die Beschäftigtenzahlen am gleichen Tag zu präsentieren, damit wir objektive Diskussionsgrundlagen haben. ({4}) Die Unternehmen bei uns müssen zum Monatsende bei Ämtern und Behörden Millionen von Zahlen abliefern. Da kann es doch nicht schwierig sein, mit einem guten Computerprogramm diese paar Zahlen zu ermitteln. Hätte man nicht so viele IT-Spezialisten ins Ausland vertrieben, bräuchte man auch keine Inder, um ein solches Softwareprogramm zu schreiben. Eine zweite Bemerkung: Ich darf Sie, Frau Hendricks, bitten, Ihrem Finanzminister weiterzugeben, dass er aus den Berichten des IMF unzulänglich zitiert hat. Er hat gesagt, man könne die Beschäftigtenzahlen hintanstellen; wichtig für die Bundesrepublik Deutschland sei die Wachstumszahl. Die Wachstumszahlen würden vom IMF bestätigt. Dabei verschweigt er, dass auch der IMF in seinen Berichten immer darauf hinweist, dass es bei uns in der Bundesrepublik Deutschland keinen engen Zusammenhang zwischen Konjunkturzuwachs und Beschäftigtenzahlen gibt. In Großbritannien ergibt 1,6 Prozent Wirtschaftswachstum eine Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze um 1 Prozent. In der Bundesrepublik brauchen wir derzeit ein Wirtschaftswachstum von 2,7 bis 3 Prozent - manche sagen sogar von 5 Prozent -, um eine einprozentige Zunahme der Zahl der Arbeitsplätze zu erreichen. Hier liegen wir hinter anderen Staaten zurück. ({5}) Eine Modernisierung der Wirtschaftspolitik bedeutet, dass wir, lieber Herr Kollege, einen engeren Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzzuwachs wieder herstellen müssen. Dazu reichen Ihre Maßnahmen nicht aus; sie sind vielmehr kontraproduktiv. ({6}) Wir müssen den Unternehmen ein Umfeld schaffen, damit sie bei einem Umsatzanstieg nicht sagen: Wir versuchen erst einmal, mit den vorhandenen Mitarbeitern auszukommen. Die Unternehmer müssen vielmehr sagen: Wir wollen neue Mitarbeiter einstellen, wenn der Umsatz steigt. Das ist soziale Marktwirtschaft, wie wir sie verstehen. Wenn wir das nicht erreichen, ist dies nicht im Sinne der sozialen Marktwirtschaft. Das Wachstum des Bruttosozialprodukts - sagen Sie das Herrn Eichel - erfolgt nicht als Selbstzweck, sondern es müssen dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen. ({7}) Meine Damen und Herren, hierzu nenne ich auch Zahlen: In der Bundesrepublik haben wir derzeit ein Potenzial von etwa 40 Millionen Erwerbstätigen. Wir haben - Herr Poß, Sie kennen sich mit Zahlen ja immer so gut aus - derzeit etwa 34 Millionen Arbeitsplätze. Diese große Lücke ist durch eine moderne Wirtschaftspolitik zu schließen. ({8}) - Herr Poß, ich komme gleich auf Ihr Geschäftsfeld zurück. Jetzt mache ich eine letzte Bemerkung zu Herrn Eichel: Wir können uns nicht ausruhen, wenn die Auslandsnachfrage und die Auslandskonjunktur gut laufen. ({9}) Wenn ich mir die Statistik für die ersten drei Monate dieses Jahres ansehe, stelle ich fest, dass erstmals wieder das Wachstum bei der Auslandsnachfrage und das Wachstum der Binnenkonjunktur auseinander klaffen. Die Binnenkonjunktur ist in den ersten drei Monaten eingebrochen, und zwar bis tief in die Automobilbranche hinein, jedenfalls was den Absatz in Deutschland betrifft. Das ist für mich kein Zufall. Die Menschen bei uns wollen etwas leisten, Herr Poß. Die Menschen wollen vom dritten in den vierten Gang schalten; im vierten Gang braucht man jedoch mehr Sprit als im dritten Gang. Aber Sie haben ja den Spritpreis erhöht und andere Belastungen wie die Ökosteuer geschaffen. Ich finde es schon dreist, was Herr Eichel heute früh gesagt hat: Im letzten Jahr sind Steuern in Höhe von 90 Milliarden DM mehr eingenommen worden. Er aber will nicht einmal unsere Steuervorschläge mit einer Rückvergütung an die Bürger in Höhe von 50 bis 55 Milliarden DM verwirklichen. Das zeigt, dass er auf Staat statt auf Freiraum und Eigeninitiative setzt. Das ist der falsche Weg. Dieser wird nicht zielführend sein. Wir brauchen mehr Dynamik, mehr Freiraum. Deutschland hat eine bessere Politik verdient. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Protzner, zu Ihrer Rede muss ich Ihnen sagen: Wahrscheinlich haben Sie vergessen, was in der Vergangenheit war. Ich habe heute niemanden gehört, der gesagt hat: Wir sind mit dem, was passiert ist, zufrieden und jetzt machen wir Schluss. Vielmehr haben wir und auch die Mitglieder der Bundesregierung gesagt: Mit der Politik der Bundesregierung, den Haushalt zu konsolidieren, damit wir mehr Geld für Investitionen, für Steuerentlastungen in einem Umfang von 76 Milliarden DM, für Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Förderung der Familien bekommen, damit sie in diesem Lande wieder konsumieren können, sind wir auf dem richtigen Weg. ({0}) Hier war davon die Rede, die Reformen dauerten so lange. Dazu muss ich Ihnen sagen: Hätten Sie die notwendigen Reformen wie die Gesundheits-, die Rentenund Arbeitslosenförderungsreform während Ihrer Regierungszeit gemacht, könnten wir heute darauf aufbauen und dann müssten Sie nicht über einen Reformstau reden. Wir aber fangen an. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren; ob mit Ihnen oder ohne Sie. ({1}) Genauso werden wir eine Steuerreform umsetzen, die den Menschen wieder mehr Geld in die Taschen gibt, die ihnen netto wieder mehr von dem lässt, was sie brutto verdienen. ({2}) - Da können Sie so viel schreien, wie Sie wollen. Die jungen Familien kommen zu uns und sagen: Danke schön, ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie das Kindergeld erhöht haben. ({3}) Wir bedanken uns bei Ihnen dafür, dass Sie es demnächst möglich machen, dass sich Väter und Mütter den Erziehungsurlaub teilen können. Wir bedanken uns dafür, dass Sie uns einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geben wollen. Das ist Politik für die Menschen in diesem Land und nicht das, was Sie hier vorführen. ({4}) Nun kommen wir zu einigen Zahlen zur Beschäftigung, die Sie genannt haben. Ich bin in Nordrhein-Westfalen zur Schule gegangen. Heute habe ich gehört, die in Nordrhein-Westfalen seien alle dumm geblieben und die in Bayern seien alle schlau. Ich habe in Nordrhein-Westfalen eines gelernt: Ich kann Zahlen lesen. Deshalb kann ich auch die Zahlen lesen, die die Bundesanstalt für Arbeit herausgegeben hat. Wir haben seit einem Jahr kontinuierlich sinkende Arbeitslosenzahlen; aber sie sind nicht, wie Ihre Kollegen sagen, allein demographisch bedingt. Vielleicht nenne ich Ihnen einmal ein paar Zahlen aus den letzten Jahren und aus diesem Jahr. Wir hatten im Dezember 1999 im Vergleich zum Dezember 1998 36 000 Beschäftigte mehr. Im Januar 2000 gab es, verglichen mit dem Januar 1999, 55 000 Beschäftigte mehr. Wir haben jetzt - das zeigen die aktuellen Zahlen - 73 000 Beschäftigte mehr. Wir haben natürlich einen Rückgang der Zahl der Arbeitslosen, weil mehr Ältere aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Aber machen Sie doch einmal eines, denken Sie doch einmal daran: Diese 73 000 Beschäftigten mehr bedeuten 73 000 Familien, die wieder eine Perspektive bekommen haben, ({5}) die wissen, dass sie für ihre eigene Existenz wieder arbeiten können. Allein in Nordrhein-Westfalen haben wir 53 000 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen, also die Beschäftigtenzahlen um 53 000 erhöht. Man sollte bei der Beurteilung dessen, was erreicht wurde, objektiv bleiben. Ich bin damit nicht zufrieden. Ich wäre auch nicht damit zufrieden, wenn Ende nächsten Jahres die Zahl der Arbeitslosen dreieinhalb Millionen betrüge. Ich bin erst dann zufrieden, wenn in diesem Land jede Frau und jeder Mann die Mittel für die eigene Existenz durch eigene Arbeit verdienen kann und damit wieder frei ist, über ihr oder sein Leben selbst zu entscheiden, wenn sie oder er nicht darauf angewiesen ist, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe zu bekommen. ({6}) Ich sage Ihnen etwas anderes, Kollege Laumann. Wir haben in Ostdeutschland die aktive Arbeitsmarktpolitik verstetigt. Wir haben durch das Vorschaltgesetz versucht, die vorhandenen Mittel zu konzentrieren. Wir haben trotz Sparprogramm und Haushaltkonsolidierungsprogramm mehr als 6 Milliarden DM zusätzlich in den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit gegeben. Wir haben gesagt, wir brauchen dieses Geld, um es auf die Problemgruppen, die es in diesem Lande gibt, zu konzentrieren. Das sind junge Menschen, das sind ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und das sind vor allen Dingen auch die Frauen gewesen, die nach der Familienarbeit wieder einen Weg zurück in den Arbeitsmarkt suchten. ({7}) Da erinnere ich mich an eines: Als wir im letzten Jahr als eine der ersten Maßnahmen das Programm „100 000 Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ hier aufgelegt haben, hat Ihr damaliger Fraktionsvorsitzender gesagt, das sei eine Beschäftigungstherapie für junge Leute, und wir veräppelten die. Was ist daraus geworden?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine Zwischenfragen.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mehr als 220 000 junge Menschen haben in einem Jahr an diesem Programm teilgenommen. Es ist uns zum ersten Mal trotz noch steigender Zahlen von Schulabgängerinnen und Schulabgängern gelungen, wirklich eine Entspannung auf dem Lehrstellenmarkt zu erreichen. Nun kann man darüber diskutieren, ob die Wirtschaft ihre Verpflichtung so erfüllt, wie sie sie denn wahrnehmen sollte. Ich sage, da haben sie noch einiges zu tun. Aber eines ist doch klar: Ich bin als Politikerin in den Deutschen Bundestag gewählt worden, und daher muss ich mir immer die Frage stellen, was ich tue, wenn die Wirtschaft das nicht macht. Sehe ich zu, wie immer mehr junge Menschen nach der Schule überhaupt keine Perspektive erhalten, wie das zu Ihren Zeiten der Fall war, ({0}) oder sage ich, als Staat begleiten wir dies? Da, wo das noch nicht möglich ist, ist es mir lieber, ein Jugendlicher ist in einer überbetrieblichen Ausbildung, als dass er überhaupt keine Ausbildung erhält und damit auf der Straße liegt und überhaupt keine Chancen mehr hat. ({1}) Als ich mir angehört habe, was hier über Bildung gesagt wurde, da fiel mir wirklich manchmal der Draht aus der Mütze. Sie hatten einen Zukunftsminister, der Jahr für Jahr die Ausgaben für Bildung und Forschung gekürzt hat. Wir machen eine Politik, die darauf hinausläuft, die Mittel dafür zu erhöhen und sie wirklich in neue Berufe zu investieren, um dafür zu sorgen, dass junge Menschen wieder eine Chance bekommen. Gestern las ich, dass meine Kollegin Böhmer gesagt hat, wir brauchten eine Bildungsinitiative, damit hier etwas geschieht. Schon im Dezember 1998 hat die Bundesbildungsministerin mit dem Bundeskanzler und der gesamten Bundesregierung ein Programm „Innovation und Arbeitsplätze im 21. Jahrhundert“ aufgelegt, das mit der Initiative „Frauen ans Netz“ und der Initiative „Frauen geben Technik neue Impulse“ kombiniert ist. Hier ist eine ganze Menge passiert. Wenn ich Sie reden höre, glaube ich, dass Sie gar nicht mehr in die Hochschulen und Schulen gehen, um zu sehen, was bei den jungen Menschen los ist. In den Hochschulen sind heute aufgrund der Initiative der Bundesbildungsministerin Programme aufgelegt worden, wie Doing, wie Being, wie Going und anderes mehr. Diese Programme haben wir schon lange in den Schubladen liegen, weil wir seit Jahren wissen, dass wir nicht genügend Nachwuchskräfte im Bereich der Ingenieurwissenschaften haben. Unter der alten Bundesregierung haben wir immer wieder Anträge gestellt, damit wir die Möglichkeit bekommen, in die Schulen zu gehen, um mehr junge Menschen für diesen Beruf anzuwerben und um uns dabei auf junge Frauen zu konzentrieren, die das Qualifikationspotenzial und die Qualifikationsreserve von morgen sind. Die sagen: Danke. Unter dieser Bundesregierung ist es jetzt möglich. Wir können die Projekte jetzt starten, dass wir mehr Frauen in den Ingenieurwissenschaften ausbilden und mehr Ausbildungsplätze schaffen. Die Bundesbildungsministerin hat im Bündnis für Arbeit dafür gesorgt, dass die Zahl der Ausbildungsplätze im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien bis zum Jahre 2003 auf 60 000 erhöht wird. Das, meine Damen und Herren, ist eine aktive Politik für mehr Arbeitsplätze. ({2}) Das ist etwas anderes, als entweder auf Tauchstation zu gehen oder immer alles abzulehnen und schlecht zu machen. Ulla Schmidt ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Protzner?

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte nur nicht, dass der Kollege Laumann beleidigt ist. ({0}) - Also gut.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Protzner.

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben die Initiativen der Bundesregierung angesprochen. Bei den ITBerufen gibt es eine ganz interessante Initiative der Bundesregierung, vertreten durch das Wirtschaftsministerium. Dieses hat mir jedenfalls Auskunft gegeben. Ein großer deutscher Verband kam auf die Bundesregierung zu, um den Ausbildungsberuf des IT-Assistenten zu schaffen. Hierbei wurde von 10 000 bis 20 000 Ausbildungsplätzen gesprochen. Die Bundesregierung hat dies dem Verband erfolgreich ausgeredet, wie mir das Bundeswirtschaftsministerium mitgeteilt hat. Halten Sie es für den richtigen Weg, den Verbänden den Vorschlag, neue Berufe im IT-Bereich zu schaffen, auszureden?

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, welcher Verband es war und welche Berufe gemeint sind. Wie ich diese Bundesregierung kenne, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie auch nur eine Initiative für mehr Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze verhindern würde. ({0}) Den konkreten Fall können wir vielleicht später besprechen, auch mit dem Bundeswirtschaftsministerium. Vielleicht gab es hier einen anderen Haken. Ich kenne Initiativen, die gemacht wurden. Zum Beispiel hat die Firma Ford in Köln Stipendien vergeben, damit junge Frauen in Ingenieurberufen ausgebildet werden. In meiner Stadt, einer Hochschulstadt, gibt es eine Initiative der Wirtschaft, die besagt, wir wollen mehr Studienplätze in diesem Bereich haben, wir wollen mehr ausbilden und wir wollen uns als Industrie daran beteiligen, dass mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Das ist der Weg, den wir in Zukunft beschreiten müssen. Auch die Industrie hat hier einiges aufzuholen. Die Bundesregierung aber ist dabei, alle Rahmenbedingungen zu schaffen, damit in diesem Bereich keine Behinderungen mehr stattfinden, sondern mehr Ausbildung betrieben wird. ({1}) Mir kommt es dabei darauf an, dass die Frauen nicht zu kurz kommen. Von dieser Stelle kann ich an alle Frauen und jungen Mädchen nur appellieren: Wenn ihr irgendwo auch nur das Gefühl habt, dass diese Technologien für euch interessant sind, so macht euch schlau, versucht damit umzugehen, versucht, diese Technologien zu beherrschen! Denn das sind die Zukunftsberufe und die Berufe, wo endlich aufgrund des großen Qualifikationsbedarfs wahr gemacht werden kann, dass Frauen ebenso an der obersten Stelle stehen, wie es die Männer über Jahrhunderte in diesem Land getan haben. Damit treiben wir die Gleichstellung in diesem Land voran. ({2}) Deshalb begrüße ich alle Maßnahmen der Bundesregierung. Ich begrüße aber auch die Maßnahmen des Landes Nordrhein-Westfalen, wo jede Schule an das Internet angeschlossen werden soll. Es muss eine Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer geben, damit wir endlich ausgebildete Menschen in den Schulen haben, die anderen Lehrern, aber auch den Mädchen und Jungen beibringen können, was sie für morgen brauchen. Der Einstieg in diese Informations- und Kommunikationstechnologien ist für die heutige Jugend eine Frage der Chancengleichheit von morgen. Wer sie nicht beherrscht, ist genauso schlimm dran, als hätte unsereiner weder rechnen noch lesen noch schreiben gelernt. Das muss jeder im Kopf behalten. ({3}) Deshalb hat die Bundesregierung mit dem Programm „Frau und Beruf“ Schritte eingeleitet, dass auch wirklich mehr Frauen Chancen in den neuen Berufen haben. Wir haben mit dem Elternurlaubsgesetz einen ersten Schritt gemacht, denn wir sind der Meinung: Die Frage nach der Beschäftigung von Frauen kann nur dann beantwortet werden, wenn auch die Männer einen Teil der Familienarbeit übernehmen und diese Arbeit zwischen den Ehepartnern gerecht aufgeteilt wird. Die Berufsfähigkeit von jungen Frauen ist nicht nur aus ökonomischen Gründen wichtig, weil die Wirtschaft auf dieses Qualifikationspotenzial angewiesen ist; vielmehr werden die Qualifikation von Frauen und die Chancen der Frauen, im Beruf zu bleiben und nicht ganz aus ihm aussteigen zu müssen, für die Familie der Zukunft und für die soziale Sicherheit der Familien eine ganz eminente Bedeutung haben; denn wir alle wissen: Eine lebenslange Erwerbsbiografie ist auch für Männer nicht mehr das Normale, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Die Familie der Zukunft wird darauf angewiesen sein, dass einmal die Frau und einmal der Mann alleine für den Unterhalt der ganzen Familie aufkommen muss, weil der andere lebensbegleitend lernen muss oder weil er sich in einem neuen Beruf orientieren muss. Das ist Zukunft; das ist Politik für mehr Beschäftigung! Ich wünsche mir, dass Sie davon in Bayern berichten, weil die dortige Förderung von Frauen noch ein bisschen schlecht ist. ({4}) Angesichts dessen, was heute angesprochen worden ist, kann man eines feststellen: Wir brauchen mehr flexiblere Arbeitszeitmodelle. Aber wir müssen auch das Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung mehr als bisher ausbauen. Deshalb kann ich nur an die Unternehmen appellieren: Heute jammern sie, weil wir den Anspruch junger Eltern auf Teilzeitarbeit umsetzen wollen. Die Unternehmen haben auch gejammert, als sie feststellten, dass sie es versäumt hatten, genügend Menschen für die Berufe in den Informations- und Kommunikationstechnologien auszubilden. Dieses Versäumnis müssen wir gerade aufarbeiten. Wenn die Unternehmen in diesem Bereich über ausreichend qualifiziertes Personal verfügen, dann werden ein ausreichendes Angebot an Kinderbetreuung und familienfreundliche Arbeitszeiten einer der Standortfaktoren der Zukunft sein. Von diesen Faktoren wird abhängen, ob sich die Wirtschaft entwickeln kann und ob Rahmenbedingungen geschaffen werden können, die tatsächlich die Gründung von Unternehmen begünstigen. Die Steuerlast dieser neuen Unternehmen wird sinken, weil wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht haben. Auch die Beitragslast dieser Unternehmen wird sinken, weil wir eine Rentenreform durchgeführt haben, weil die Arbeitslosigkeit abnimmt und deswegen die Kosten für die Arbeitslosigkeit sinken werden. Diese Unternehmen werden gleichzeitig über gut bis bestens qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfügen, weil diese Bundesregierung gesagt hat: Bei uns soll niemand Geld für Nichtstun bekommen; wir investieren das Geld, über das wir verfügen, lieber in die Ausbildung der Menschen und damit in deren Zukunft. Ich glaube, hier sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen14/2909 und 14/2988 in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Erwin Marschewski, Wolfgang Zeitlmann, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei - Drucksache 14/1662 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 14/2745 Berichterstattung: Abgeordnete Eckardt Barthel ({2}) Wolfgang Zeitlmann Marieluise Beck ({3}) Dr. Max Stadler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei, den wir jetzt diskutieren, steht in einem ganz engen Zusammenhang mit der Regelung der zukünftigen Zuwanderung nach Deutschland. Der hierfür in der Bundesregierung zuständige Bundesinnenminister Otto Schily sagt - wir stimmen ihm zu -: Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten. Wir fragen allerdings: Warum tut diese Bundesregierung dann nichts, um die Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen? Vergeblich wartet dieses Land auf Maßnahmen oder Aktivitäten der Bundesregierung; stattdessen schießt der Bundeskanzler bei der CeBIT in Hannover aus der Hüfte und kündigt eine so genannte Green Card für IT-Spezialisten an. Nach einem langen Hin und Her innerhalb der Bundesregierung liegen jetzt Vorschläge vor, die unweigerlich zu einer Erhöhung der Zuwanderung auf dem Verordnungswege führen werden. Natürlich stellt sich die Frage, ob der Bundestag dadurch bewusst umgangen werden soll. Notwendig wäre ein Gesetz zur Steuerung künftiger Zuwanderung nach Deutschland; denn bevor über 20 000 IT-Spezialisten nach Deutschland geholt werden, muss zunächst die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland eingedämmt werden. Zu dieser Frage äußert sich der Bundeskanzler allerdings überhaupt nicht. Dies rief den innenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, den Kollegen Wiefelspütz, auf den Plan, der in der „Welt“ von dieser Woche sowohl den Bundeskanzler als auch den SPD-Generalsekretär aufforderte, sich endlich zu diesem Thema zu äußern. Der Kollege Cem Özdemir von den Grünen wurde sogar noch deutlicher und sagte: Es wäre sehr wünschenswert, wenn sich der Kanzler endlich in die Debatte einschalten würde. ({0}) Auf der anderen Seite erklärt der Kollege Wiefelspütz gegenüber der „Berliner Zeitung“, ein Einwanderungsgesetz sei kein Projekt für diese Legislaturperiode. Im Klartext: Es besteht nicht die Absicht, die ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland zu begrenzen. Cem Özdemir von den Grünen wiederum begrüßte, ({1}) dass der Bundeskanzler mit der Green-Card-Debatte eine Diskussion über die weitere Zuwanderung nach Deutschland und über ein Einwanderungsgesetz in Gang gesetzt habe und er forderte den Bundeskanzler auf, ({2}) Ulla Schmidt ({3}) sich endlich an der Debatte zu beteiligen. Es gibt zwei Möglichkeiten der Erklärung für dieses Wirrwarr in der rot-grünen Koalition, was das Thema Zuwanderung anbelangt. Der Bundeskanzler selbst hat kein Konzept. Teile der Bundestagsfraktionen von Rot und Grün wollen eine Erhöhung der Zuwanderung nach Deutschland. Der zuständige Innenminister Schily spitzt in der Zuwanderungsfrage den Mund, ohne aber zu pfeifen. Die Position von CDU und CSU ist dagegen eindeutig. Das Einfallstor für ungeregelte Zuwanderung nach Deutschland ist und bleibt das Grundrecht auf Asyl. Wenn über Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung gesprochen wird, dann muss auch das Grundrecht auf Asyl auf den Prüfstand. Doch schon eine Diskussion darüber wird von der Regierungskoalition in Bausch und Bogen abgelehnt. Stattdessen werden immer weitere Forderungen erhoben: Erleichterungen des Familiennachzugs, Erleichterungen bei Ermessenseinbürgerungen, Ausweitung von Altfallregelungen für abgelehnte Asylbewerber, Ausweitung auf nicht staatliche Verfolgung. All dies weckt Hoffnung und schafft weiteren Anreiz für Zuwanderung nach Deutschland. Durch die von der rot-grünen Bundesregierung verantwortete Politik wird die Zunahme illegaler Einreise nach Deutschland geradezu gefördert. Schleuserbanden machen sich dies zunutze. Dem gilt es vorzubeugen. Aus diesem Grund hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei einen ersten wichtigen Schritt vorgeschlagen. Wir wollen, dass der Kreis der Nutzer des Ausländerzentralregisters um die Träger der Sozialhilfe und die für die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zuständigen Behörden erweitert wird, weil sie bestimmte Informationen aus dem Ausländerzentralregister benötigen, um zum Beispiel gerade den Missbräuchen bei Leistungen für Asylbewerber zu begegnen. Die Informationsmöglichkeiten des Auswärtigen Amtes und der deutschen Auslandsvertretungen müssen verbessert werden, um Visaerschleichungen wirksamer verhindern zu können. Auch die Polizei benötigt bei allgemeinen Personenkontrollen bessere Informationen aus dem Ausländerzentralregister, um schnell feststellen zu können, ob sich Personen illegal in Deutschland aufhalten. Lassen Sie mich zu den Sozialämtern kommen. Sie müssen diejenigen Daten erhalten, die sie brauchen, um im Einzelfall die Anspruchsberechtigung eines Antragstellers zu überprüfen und gegebenenfalls die missbräuchliche Inanspruchnahme von Leistungen zu verhindern.Sozialbetrüger, die bei mehreren Sozialämtern einen Antrag auf Leistungsgewährung stellen, können dadurch schneller ausfindig gemacht werden. Von besonderer Bedeutung ist auch die Information, ob für einen Ausländer eine Verpflichtungserklärung eines Dritten hinsichtlich der Sicherstellung des Lebensunterhalts und der Übernahme der Ausreisekosten abgegeben würde. Oft genug, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommt es nämlich vor, dass jemand nahezu professionell im Massenverfahren Einladungen ausspricht, Verpflichtungserklärungen abgibt, tatsächlich aber überhaupt nicht leistungsfähig ist. Hier können Wiederholungsfälle vermieden werden. Für uns besonders wichtig ist die Erweiterung bzw. die Verbesserung der Zugriffsmöglichkeiten der Polizeibehörden auf das Ausländerzentralregister; ({4}) denn die Erfahrungen nach dem Wegfall der Grenzkontrollen haben gezeigt, dass sich die diesbezüglichen Anforderungen gewandelt haben. Davor können Sie in der rot-grünen Bundesregierung die Augen nicht verschließen. Denn die Anforderungen werden sich noch weiter wandeln, wenn im Zuge der EU-Osterweiterung Grenzkontrollen zunehmend auch an den deutschen Ostgrenzen wegfallen. ({5}) Deswegen ist der einheitliche Zugriff aller Dienststellen des Bundesgrenzschutzes und der Polizeien der Länder unbedingt notwendig. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Zusammenhang mit Demonstrationen ausländischer Gruppierungen in Deutschland bringt der Zugriff auf das Ausländerzentralregister für die Polizeibehörden erhebliche Beschleunigungseffekte. Es können unmittelbar greifbare Erkenntnisse über den ausländerrechtlichen Status einer zu überprüfenden Person für die Bewertung des polizeilichen Sachverhalts und für die Identitätsfeststellung insbesondere beim Nichtmitführen von Ausweisunterlagen erlangt werden. Dadurch kann die Dauer der Eingriffsmaßnahme verkürzt werden. Das kommt nicht zuletzt gerade auch den von einer solchen Maßnahme betroffenen Personen zugute. Lassen Sie mich etwas zu den Zahlen der illegalen Zuwanderung nach Deutschland sagen. Die Zahlen sind immens: allein 37 789 unerlaubte Einreisen im Jahre 1999. Stark angestiegen sind die Feststellungen unerlaubt Eingereister im Inland. Im zurückliegenden Jahr griff der Bundesgrenzschutz 2 749 Personen auf. Über 11 000 ausländische Staatsangehörige wurden 1999 durch Schleuser nach Deutschland gebracht. Allein an den deutschen Grenzen wurden im vergangenen Jahr 3 410 Schleuser festgenommen. Das war eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 8 Prozent. Schleuser, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das ist organisierte Kriminalität. ({7}) Sie nutzen inzwischen modernste Kommunikationsmittel, beschaffen und fälschen Dokumente, besorgen Unterkünfte für Zwischenaufenthalte und betreiben für ihr Schleuserwesen eine Werbung im großen Stil. ({8}) - Ja, es gibt auch Länder in Deutschland mit „Schleußer“Unwesen, Herr Marschewski, da haben Sie völlig Recht. Aber lassen Sie mich zum Kern der Debatte zurückkommen. Wie die Praxis im Schleuserwesen Richtung Deutschland zeigt, geht der Trend ganz klar hin zu Großgruppenschleusungen. Lassen Sie mich angesichts dieser Situation auf einen Vorschlag einer grünen Europakollegin verweisen, nämlich der grünen Europaabgeordneten Ilka Schröder. Es verschlägt einem schon die Sprache, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn diese Kollegin im Europäischen Parlament - ich darf das hier deutlich machen - in ihrem parlamentarischen Informationsdienst die finanzielle Unterstützung von Fluchthelfern aus der EU-Kasse für notwendig erklärt. Frau Europakollegin Schröder erklärte wörtlich, viele Verfolgte könnten einzig durch die Hilfe von Schleusern in die Festung Europa kommen. Die Tätigkeit von Schleuserbanden bezeichnet sie als humanitäre Maßnahme. ({9}) Die Gebühren für das Schleuserwesen seien für die Betroffenen zu hoch, und deshalb müssten sie durch die Europäische Union subventioniert werden. Ich frage Sie: In welcher Welt leben wir eigentlich, dass sich eine deutsche Europaabgeordnete der Grünen zu einer Komplizin von Schleppern und Schleusern macht? ({10}) Die Zuwanderungsproblematik wird für die Sicherheit unseres Landes immer drängender. Allein der Bundesgrenzschutz hat 1998 über 60 000 Mal die Einreise zum Beispiel wegen unzureichender Grenzübertrittsdokumente nicht gestattet. Über 30 000 Zurückschiebungen und fast 40 000 Abschiebungen erfolgten 1998 durch den Bundesgrenzschutz. Diese Zahlen machen doch deutlich, dass in bestimmten Fällen eine Überprüfung mit der von uns heute hier geforderten Gesetzesänderung erheblich erleichtert werden kann, ({11}) denn bei all diesen Zahlen darf man nicht übersehen, dass die Dunkelziffer ja noch wesentlich höher ist. In diesem Zusammenhang ein letztes Wort zur Visapolitik: Das Auswärtige Amt hat seine Visumspraxis geändert. Visa für Deutschland werden künftig nach neuen gelockerten Regeln erteilt. Ist das wieder ein Alleingang der rot-grünen Bundesregierung oder wurde sich hier - so müssen wir die Bundesregierung fragen - mit unseren EU-Partnern abgestimmt? Vielleicht könnte uns das die Bundesregierung einmal verdeutlichen. ({12}) Tatsache ist, dass diese Anweisung des Auswärtigen Amts sämtliche Bemühungen um die Abwehr illegaler und krimineller Einwanderung unterläuft. Eine verstärkte Kontrolle an den Außengrenzen unter gleichzeitiger Erleichterung der Visaerteilung ist doch völlig kontraproduktiv. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel das neue Kriterium, ein Visum zu erteilen, wenn sich in der Abwägung der tatsächlichen Umstände, die für oder gegen die Erteilung eines Visums sprechen, Pro und Kontra die Waage halten. Die Weisung von Außenminister Fischer bedeutet für geschickt agierende Kriminelle eine Einladung, das Schleuserwesen nach Deutschland zu verstärken. Das ist der falsche Weg. Deshalb schlagen wir heute diese Gesetzesänderung vor. Durch eine zentrale Speicherung und Bereitstellung der Daten aller Personen und Organisationen, die im Zusammenhang mit den bereits genannten Missbräuchen wo auch immer in Erscheinung getreten sind, werden alle Stellen, die über Visaanträge zu entscheiden haben, in die Lage versetzt, eine effizientere Prüfung vorzunehmen. Wir wissen, dass Sie unsere Gesetzesänderung vor allem aufgrund von angeblichen Verstößen gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen ablehnen. Auch dagegen ließe sich eine Vielzahl von Argumenten anführen, da durch die von uns heute vorgeschlagene Gesetzesänderung der datenrechtliche Schutz, der bislang durch den entsprechenden Umgang, das Abfragen und Zur-Verfügung-Stellen von Daten des Ausländerzentralregisters gewährleistet wird, in keiner Weise negativ berührt wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Koschyk, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb appelliere ich an die Mehrheitsfraktionen hier im Hause: Versagen Sie sich nicht dieser dringend notwendigen Gesetzesänderung, damit endlich illegale Zuwanderung nach Deutschland effektiver durch die entsprechenden Einrichtungen unseres Landes bekämpft werden kann! Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Eckhardt Barthel.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Herr Koschyk, ein Satz vorweg: Angstmache ersetzt keine Politik. ({0}) Wenn Sie Ihre Darstellungen und das Horrorszenario, das Sie hier aufgezeigt haben, als sachlich empfinden, ({1}) dann würde auch gelten, dass jedes Gruselkabinett so harmlos wie ein Freizeitpark ist. Ich kann wirklich nur davor warnen, mit solchen Angstszenarien ({2}) an ein ernstes Problem - Missbrauch ist in der Tat ein ernstes Problem, an das wir heran müssen - heranzugehen. In dieser Form halte ich das wirklich für unverantwortlich. ({3}) Am Anfang habe ich mich, Herr Koschyk, gefragt, ob Sie zu Ihrem Antrag reden oder ob Sie wieder die gesamte Palette des Ausländer- und Asylbereiches auf die Tagesordnung setzen. Sie haben über Zuwanderung, IT-Spezialisten, Abschaffung von Asylrecht, über Visaproblematik, Altfallregelungen und anderes gesprochen. ({4}) Sie haben dann auch noch Widersprüche in der rot-grünen Regierung zu konstruieren versucht. Ich möchte Ihnen einmal an einem Beispiel ein paar Dinge zu den Widersprüchen sagen, die bei Ihnen zu einem Thema bestehen, das Sie für mich überraschend hier angesprochen haben. Es betrifft die IT- bzw. GreenCard-Frage. Sie werfen uns vor, dass sich der Bundeskanzler und seine Leute nicht äußerten. Sie äußern sich, das gebe ich zu, aber der eine sagt hü und der andere hott. Das ist Ihre Position. Ihren Freund Rüttgers und Nordrhein-Westfalen darf man ja heute beispielsweise einmal erwähnen. ({5}) - Das ist zur Sache. Es ist doch ein parlamentarischer Brauch, dass man auf den Vorredner eingeht. - Ihr Kollege Rüttgers aus NRW redet von „Kinder statt Inder“ und Ihr Schatzmeister spricht davon, dass er zu denen gehört, die Herrn Schröder gedrängt haben, die Green Card einzuführen. Das ist die Logik und die Homogenität innerhalb der CDU/CSU! Ich will aber versuchen, zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zu sprechen. Wie wir alle wissen, ist es der zweite Aufguss desselben Inhalts, vielleicht ist der Umfang ein bisschen dünner geworden. Ich möchte den Kollegen Stadler von der F.D.P., der heute leider nicht anwesend ist, wofür er sicher einen guten Grund hat ({6}) - richtig -, zitieren. Er hat zu diesem Gesetzentwurf der CDU/CSU gesagt, dass es sich um ein „Antragsrecycling“ handelt. Ich finde, das ist ein schöner Begriff. Was man einmal nicht durchbekommen hat, versucht man ein zweites Mal - möglicherweise bei anderen Mehrheitsverhältnissen - durchzubekommen. Aber die Mehrheitsverhältnisse, die Sie brauchen, sind für Sie zurzeit noch schwieriger zu erreichen - Gott sei Dank. Die F.D.P. hat damals Ihren Gesetzentwurf wohlbegründet abgelehnt. Sie hat es auch in den beratenden Ausschüssen getan. Sie wissen also, was Sie heute erwartet. Da nehme ich nichts vorweg. Die Begründung, die die F.D.P. für die Ablehnung Ihres Gesetzentwurfes hatte, als sie noch Ihr Koalitionspartner war, ist nicht falsch. Das muss ich sagen, auch wenn die Begründung von der F.D.P. kommt. ({7}) Sie können auch nicht erwarten, dass die neue Koalition diesem Gesetzentwurf plötzlich zustimmt. Natürlich kann man ein Gesetz nach fünfjähriger Laufzeit überprüfen. Man kann schauen, ob Veränderungen notwendig sind. Kein vernünftiger Mensch kann angesichts des Missbrauchs in diesem Bereich sagen - das ist doch keine Frage -, dass wir nichts zu tun brauchen. Was mich aber an Ihrer Strategie so ärgert, ist: Sie geben das Ziel Missbrauchsbekämpfung vor. Dann schlagen Sie ein Instrument vor, das aber nicht geeignet ist, das Ziel zu erreichen, und das außerdem noch viele negative Folgewirkungen haben wird. Daher lehnen wir den Gesetzentwurf ab. Sie behaupten dann aber, wir hätten das Ziel Missbrauchsbekämpfung nicht. Das ist eine Schlussfolgerung, die ich politisch für nicht seriös halte. Was Sie hier vorlegen, entspricht angesichts der negativen Wirkungen weder den Notwendigkeiten der Missbrauchsbekämpfung noch berücksichtigt es die daraus folgenden Einschränkungen anderer Rechtsgüter. Es gibt schlicht keine Begründung und Rechtfertigung für solche massiven Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung der in Deutschland lebenden Ausländer. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, an dem wir uns häufig zu orientieren versuchen, hat der von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf absolut nichts mehr zu tun. Ich möchte einen Slogan von Ihnen mit einem neuen Inhalt versehen. Das Motto Ihres vorgelegten Gesetzentwurfs ist „Datenflut statt Datenschutz“. ({8}) Was ich besonders dramatisch finde, ist, dass sich dieser Gesetzentwurf auf einen sehr sensiblen Bereich bezieht, nämlich auf den Bereich der Minderheitenpolitik. Sie wissen, dass viele Menschen nicht deutscher Herkunft in diesem Lande glauben, dass sie von einem großen Teil der Gesellschaft als Bedrohung angesehen werden. Diese Einschätzung ist zwar nur subjektiv, aber sie ist vorhanden. Wir müssen erreichen, dass dieses Gefühl nicht Raum greift. Wir müssen den Betroffenen deutlich machen, dass wir nicht in diese Richtung tätig werden wollen. Wenn diese Atmosphäre in der Gesellschaft vorhanden ist, Herr Koschyk, können selbst die besten integrationspolitischen Instrumente nicht mehr greifen. Ich setze einmal voraus, dass auch Sie nicht wollen, dass positive Eckhardt Barthel ({9}) Integrationsinstrumente verpuffen. Wir brauchen die Integration. ({10}) Die Ablehnung Ihrer globalen Erfassungs-, Speicherungs- und Zugriffsinitiative heißt allerdings nun nicht, dass man sich nicht Einzelpunkte des AZR-Gesetzes ansieht. ({11}) - Das haben wir am Anfang gesagt und sagen es auch jetzt. Natürlich muss man sich diese Punkte einmal ansehen. ({12}) Wir werden es bloß ein bisschen anders machen. Wir werden nach Kriterien vorgehen. Wir werden erstens fragen, wo eine Notwendigkeit besteht. Das Zweite ist die Wirksamkeit der angedachten Änderung. Wirkt das überhaupt oder ist es nur plakativ? Das Dritte ist: Wir werden nach der Verhältnismäßigkeit der einzusetzenden Instrumente fragen: Viertens werden wir auch fragen. Was sind mögliche negative Folgewirkungen? Das ist ein seriöses Vorgehen, das werden wir tun. Das, was Sie hier gemacht haben, ist allerdings in der Tat eine Ablehnung aller datenschutzrechtlichen Vorstellungen, die man haben kann. Ein Anschauen des AZR ist zum Beispiel nötig bei der Weiterübermittlung von Daten zur Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Dubliner Übereinkommen. Dafür muss eine einwandfreie Rechtsgrundlage gegeben werden. Und die Änderungen sind auch zur Umsetzung der EU-Datenschutzrichtlinie nötig, die Sie übrigens in Ihrem Antrag überhaupt nicht drin haben. Aber es kann doch nicht sein, so wie Sie es vorhaben, dass zum Beispiel sämtliche Personen gespeichert werden, zu deren Gunsten eine Verpflichtungserklärung nach § 84 Abs. 1 Ausländergesetz abgegeben wurde, ohne zu wissen, ob diese ein Visum überhaupt erhalten haben oder nicht. Was ist das für eine Prävention? Die geht nun wirklich in der Tat zulasten der Betroffenen. Ebenso benötigen wir keine Rechtsgrundlage für die Abgabe von Daten aus dem AZR an die Staatsangehörigkeitsdatei, weil wir ja noch gar nicht wissen und entschieden haben, ob die Staatsangehörigkeitsdatei überhaupt fortgeführt werden soll. Der Hauptgrund für die Ablehnung Ihres Antrages liegt natürlich in dem Gesetzentwurf für eine Warndatei. Es kann doch wohl nicht sein, dass zum Beispiel Daten von Personen gespeichert werden, die als Gastgeber eine Verpflichtungserklärung nach § 84 Ausländergesetz abgeben und alle sich daraus ergebenden Verpflichtungen erfüllen, aber dann praktisch verantwortlich dafür gemacht werden, dass der einreisewillige Ausländer zum Beispiel gefälschte Dokumente vorgelegt hat. Wie Sie wissen, ist gerade dieses ganz scharf vom Datenschutzbeauftragten kritisiert worden. Er hat Ihnen damals mehrere Punkte vorgelegt, die Sie allerdings nicht eingearbeitet haben. Es gehört schon eine ziemliche Chuzpe dazu, dass Sie sagen, datenschutzrechtliche Probleme gebe es in Ihrem Antrag nicht. Das ist toll. Meine Damen und Herren, wir lehnen Ihren Gesetzentwurf ab, weil für eine so weit gehende Erfassung, Speicherung und Abrufung von Daten keine Notwendigkeit besteht und die Folgewirkung Ihres Vorhabens für das Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten in diesem Lande überaus schädlich wäre. Ich bedanke mich. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der F.D.P. spricht jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Freien Demokraten wird das von der CDU/CSU vorgelegte Gesetz ablehnen. Wir haben das in der alten Koalition getan - es ist Ihnen seinerzeit nicht gelungen, ein solches Gesetz so zu beschließen -, wir werden das selbstverständlich in dieser Legislaturperiode als Oppositionspartei genauso handhaben, aus zwei einfachen Gründen. Der erste Grund ist: Ihr Gesetz bekämpft nicht wirksam Schleuserkriminalität. Der zweite Grund ist: Ihr Gesetz belastet aber eindeutig Unternehmen, die auf zunehmende Internationalität angewiesen sind. ({0}) Es ist ein Gesetzentwurf, der an den Interessen einer globalisierten Wirtschaft und einer gut funktionierenden Gesellschaft maßlos vorbeigeht. Das haben wir Ihnen in der alten Koalition gesagt, das werden wir Ihnen auch in dieser Legislaturperiode hier im Deutschen Bundestag sagen. Jeder hier wird doch der Meinung sein, dass Schleuserkriminalität und auch Kriminalität, wenn es um Sozialhilfemissbrauch geht, bekämpft werden muss. Ich kenne keinen Kollegen hier im Hause, der eine andere Meinung vertreten würde. Das, was Sie aber vorschlagen, ist erstens drastisch untauglich und zweitens eklatant schädlich für diejenigen, die in Deutschland auf ein Stück Internationalität angewiesen sind, wenn sie überhaupt international wettbewerbsfähig bleiben wollen. (Beifall bei der F.D.P. - Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/CSU]: Das geht doch an der Sache vorbei! - Albert Deß [CDU/CSU]: Bei 4 Millionen Arbeitslosen! Einer Ihrer großen Fehler in diesem Gesetzentwurf steht im § 2 des Gesetzes über die Warndatei, die Sie vorschlagen. Dort können wir den Anlass der Speicherung nachlesen. Das bedeutet im Klartext, dass in diese Eckhardt Barthel ({1}) Warndatei auch völlig unbescholtene Unternehmen künftig aufgenommen werden müssten, nur weil derjenige, der zum Beispiel aus dem Ausland als Spezialist eingeladen wurde, später vielleicht wegen veränderter politischer Umstände im Heimatland hier einen Asylantrag stellt. Das ist ein Abschreckungsinstrument für die gesamte international agierende Wirtschaft, was Sie hier vorschlagen. ({2}) Das, was Sie Warndatei nennen, ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Warnung an die Wirtschaft. Sie warnen herzlich wenig die Schleuser. Sie glauben doch nicht, dass Sie irgendeinen kriminellen Schleuser oder irgendeine kriminelle Schleuserbande dadurch abschrecken können, dass sie plötzlich in der Warndatei sind. Der Schleuser wird sowieso steckbrieflich gesucht. Auch wenn Sie sein Bild auf jeder Häuserwand plakatieren, wird ihn das herzlich wenig interessieren. Das sind Leute, die im organisierten kriminellen Milieu agieren; da haben Sie völlig Recht. Es interessiert sie herzlich wenig, ob sie auch noch in eine Warndatei aufgenommen werden. Aber diejenigen, die darauf angewiesen sind, dass Fachkräfte nach Deutschland kommen, um zum Beispiel in der Computertechnologie international wettbewerbsfähig zu bleiben, werden abgeschreckt, weil ihnen im Klartext gesagt wird: Du bleibst verantwortlich für den Spezialisten, den du eingeladen hast, selbst wenn du lange Zeit später mit ihm überhaupt nichts mehr zu tun hast und wenn du sein Handeln nicht mehr beeinflussen kannst. Sie haben einen außergewöhnlich schlechten Vorschlag gemacht. Er war in der alten Legislaturperiode schlecht und seine Umsetzung ist deswegen damals vom Bundesjustizministerium und vom Bundesdatenschutzbeauftragten verhindert worden. Sie wird auch hier, soweit ich das sehe, von allen Fraktionen, mit Ausnahme der CDU/CSU-Fraktion, verhindert werden und das ist gut so. Sie sind mit diesem Entwurf ziemlich alleine. Ich sage Ihnen auch: Dieser Vorschlag zeigt das gleiche Denken wie bei Ihrer Propaganda „Kinder statt Inder“. ({3}) Sie müssen endlich in der modernisierten, globalisierten Welt ankommen. Sie können mit solchen wirtschaftsfeindlichen Gesetzesinitiativen keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken. ({4}) Ändern Sie diesbezüglich nach der Landtagswahl bitte Ihre Politik. Denn ich befürchte, dass Sie sich sonst in dieser Frage immer mehr von der Wirtschaft entfernen. Wir sind übrigens - das wissen auch die Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, also den beiden Regierungsparteien -, wenn es um die Frage der Green Card geht, mit den Ausführungen überhaupt nicht einverstanden. Wir halten das für zu bürokratisch. Wir teilen die Kritik an dem, was bisher vorgelegt worden ist. Wir werden im Parlament insbesondere noch darüber zu reden haben, ob eine solche Green Card, wie Sie sie nennen, mit der Befristung überhaupt wettbewerbsfähig sein kann. Denken Sie beispielsweise an die Versuche der Anwerbung von Computerspezialisten aus Kalifornien. Die Kalifornier lachen sich ins Fäustchen, dass wir solche hohen bürokratischen Hürden aufbauen und solche Restriktionen schaffen. Wir müssen endlich begreifen, dass wir die Zuwanderung nach Deutschland besser steuern und auch begrenzen müssen, dass wir sie aber auch an den eigenen nationalen Interessen ausrichten müssen. ({5}) Ein nationales Interesse unserer Gesellschaft heißt: Die Intelligenz, die es auf der Welt gibt, muss in Deutschland arbeiten können, weil sonst die Arbeitsplätze im Silicon Valley oder in Bangalore entstehen, aber nicht in Deutschland. ({6}) Das hat überhaupt nichts mit Ideologie oder Rechts und Links zu tun. Hier geht es nur um die Frage: modern oder unmodern? Es geht nur noch um die Frage: Begreifen wir, welche Chancen wir international haben, oder begreifen wir das nicht? Ich muss Ihnen offen sagen: Ich bin bei der Logik Ihrer bisherigen Kampagne fest davon überzeugt, dass sie am kommenden Sonntag scheitern wird. Dann haben Sie meiner Meinung nach einen guten Anlass, sich von dem falschen Gleis Ihrer Innenpolitik fortzubewegen und sich auf das richtige, vernünftige Gleis in dieser Frage zu begeben. ({7}) Die Diskussion, die wir in Ihrem Gesetzentwurf nachlesen können, ist rückwärts gewandt. Deswegen ist das auch ein rein recycelter Gesetzentwurf. Darin steht überhaupt nichts Neues. Neu ist nur, dass das bisschen Datenschutz, das früher enthalten war, jetzt auch noch herausgestrichen worden ist. Das eignet sich meiner Meinung nach überhaupt nicht für eine moderne Gesellschaft. Ich möchte aber auch den anderen Kolleginnen und Kollegen etwas sagen. Denn ich lese nach unserer letzten Debatte über das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, das die F.D.P. hier im Deutschen Bundestag eingebracht hat - in der Debatte hat es von allen Seiten geheißen: das brauchen wir alles gar nicht -, zunehmend und freue mich darüber, dass es auch bei Rednerinnen und Rednern der SPD und der Sozialdemokraten ({8}) - Entschuldigung, Sie haben völlig Recht, wobei das eine schöne Frage ist: ob alle in der SPD soziale Demokraten sind; daran habe ich Zweifel -, der SPD und der CDU/CSU bei diesem Thema entsprechende Bewegungen gibt.Das muss auch so sein. Mir ist es lieber, wir kommen in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis als irgendwann einmal. Ich sage Ihnen voraus: Wir müssen die gesamte Migrationspolitik in Deutschland grundsätzlich neu definieren. Wir müssen sie auf neue, feste Füße stellen. Das liegt im Interesse der Gesellschaft und der Modernisierung unserer Wirtschaft. Wenn wir das jetzt nicht tun und weitere Jahre abwarten, dann ist, international gesehen, der Zug abgefahren. Denn in der globalisierten Wirtschaft werden jetzt die Claims abgesteckt und die Chancen verteilt. Deswegen sollten wir gemeinsam zu einem entsprechenden Ergebnis kommen. Wir als F.D.P. werden jedenfalls weiterhin diesbezüglich Vorschläge machen. Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir ablehnen, weil er ebenso wirtschaftsfeindlich wie untauglich im Hinblick auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität im Schleuserwesen ist. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der jetzt in zweiter und dritter Lesung erneut zur Debatte steht, ein Licht auf die Gedankenwelt, in der sich die Union bewegt, wirft. Immer dann, wenn es um Ausländer geht, kommt bei Ihnen der Abwehrreflex. Die gesamte Debatte über die Migration wird von Ihnen nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr und der Gefahr geführt. Sie denken nur darüber nach, wie man Dämme bauen, wie man die Fluten zurücktreiben kann. Sie merken gar nicht, wie sich inzwischen die äußeren Verhältnisse mit großer Geschwindigkeit zu verändern beginnen. Sie sitzen immer noch in Ihrem Bau und versuchen die Mauern möglichst noch höher zu ziehen. Sie haben immer noch nicht gemerkt, dass wir gesellschaftlich an einem Punkt angekommen sind, an dem wir aus eigenem Interesse gut beraten sind, die Mauern niederzureißen, weil unsere Gesellschaft Migration bzw. Zuwanderung benötigt und weil es nicht mehr darum geht, Zuwanderung nur unter dem Gesichtspunkt der Abwehr zu sehen. ({0}) Diesen gesellschaftlichen Wandel scheinen Sie in der CDU und in der CSU offensichtlich nicht nachvollziehen zu können. Das ist fast dramatisch, weil in der Tat immer deutlicher wird, was schon seit langer Zeit in wissenschaftlichen Nischen der Gesellschaft dokumentiert wird, nämlich dass eine demographische und ökonomische Entwicklung beginnt, in der die Gesellschaft immer stärker aus der Balance zu geraten droht. Das Verhältnis zwischen Alt und Jung fängt an, sich in einer rapiden Weise zuungunsten der Jungen zu verschieben. Statt jetzt noch mehr Ängste in der Gesellschaft im Hinblick auf die anderen, die da kommen und die immer als Bedrohung dargestellt werden, zu schüren, sind wir gut beraten, uns auch geistig darauf vorzubereiten, dass eine Situation entstehen wird, in der wir darum werben müssen, dass andere zu uns kommen, weil wir sonst nicht in der Lage sind, unsere Gesellschaft in einem ausgewogenen Verhältnis bestehen zu lassen. Das ist die Debatte, die Sie mit Ihrem Abwehr- und Angstdiskurs, den Sie immer wieder einbringen, zuschütten und vermauern. Das ist auch das Gefährliche daran. Sonst könnte man Sie ja als altbacken zur Seite schieben und sagen: Das ist eben die Union; wir stellen sie an den Rand; denn wir können sie für eine moderne Gesellschaft nicht gebrauchen. Aber natürlich ist es gefährlich, wenn Sie diese Angstmacherei und diese Abwehrhaltung, die, so glaube ich, etwas sehr Natürliches ist - es ist in Gesellschaften etwas Altbekanntes, dass es eine Abwehr gegen das Fremde gibt -, immer weiter schüren. Zu Ihnen von der F.D.P., Herr Kollege Westerwelle, möchte ich Folgendes sagen: Vielleicht wäre es ja doch an der Zeit, dass Sie endlich einmal den Titel Ihres in diesem Zusammenhang genannten Gesetzentwurfes, der „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ lautet, ändern. Denn genau dieser Titel dokumentiert den Gedankenansatz, dass es um nichts anderes als darum gehen muss, Zuwanderung zu begrenzen. Wir kommen bereits zu einer nächsten Etappe. Es geht um die Gestaltung von Zuwanderung und nicht allein, wie Sie es sich damals - wohl auch aus Angst vor gesellschaftlichen Reaktionen - ausgedacht haben, um Begrenzung. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? - Bitte.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe nur eine kurze Frage. Ich will es so formulieren: Wenn die Regierungsfraktionen unserem Gesetzentwurf zustimmen, können sie sich den Titel aussuchen. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es geht um die Denkweise, Herr Westerwelle. Aufgrund des Titels „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“ sind Sie einfach ertappt worden. Ich finde, das sollten Sie offen zugeben. ({0}) Ich komme noch kurz auf die zweite und dritte Lesung zum AZR zu sprechen. Der Gesetzentwurf stammt aus dem Hause Kanther; das ist hier schon gesagt worden. Er wurde damals von dem Koalitionspartner F.D.P. scharf kritisiert. Das Justizministerium war nicht bereit, da mitzuziehen. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat damals wie heute seine Bedenken geäußert. Auch meine Amtsvorgängerin - das möchte ich sehr deutlich sagen - hat starke Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf angemeldet, weil gerade dieser Grundsatzverdacht gegen Ausländer in diesem Land unter ausländerpolitischen Gesichtspunkten nicht akzeptiert werden kann. Gesetze werden nicht gemacht, weil sie einmal entworfen worden sind. Es geht um das Rechtsstaatsprinzip und die daraus abgeleiteten Voraussetzungen für ein Gesetzgebungsverfahren. Sie benennen immer bestimmte Voraussetzungen, ohne sie jemals zu belegen. Stets wird der Begriff des Sozialmissbrauchs angeführt. Er ist für Schlagzeilen wunderbar tauglich; denn er appelliert an die Gefühle der Bevölkerung. Man hat doch immer schon gewusst, dass sich der Ausländer zu Unrecht der Sozialhilfe bedient. Sie belegen nicht, dass diesem Sozialmissbrauch mit den von Ihnen vorgelegten Vorschlägen wirklich begegnet werden könnte. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf untauglich. Wir haben nach wie vor ein sehr gutes und wertvolles Grundrecht, nämlich das auf informationelle Selbstbestimmung. Angesichts der unglaublichen Explosion der Möglichkeiten der Datenerfassung haben wir als Parlament streng darauf zu achten, dass dieses Grundrecht nicht dadurch, dass neue Datensammlungen eingerichtet, neue Dateien angelegt und Verknüpfungen von Dateien hergestellt werden, verletzt wird. Deswegen halten wir daran fest, uns mit neuen Gesetzesvorschlägen in diesem Bereich so lange außerordentlich zurückhaltend zu verhalten, wie in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde anhängig ist. Es ist abzuwarten, was das Bundesverfassungsgericht zu den hierzu vorhandenen Gesetzen sagt. Unserer Einschätzung nach ist zumindest die von Ihnen jetzt vorgeschlagene Einrichtung einer Warndatei mit dem Grundsatz, dass Daten nicht auf Vorrat gesammelt werden dürfen, dass sie anonymisiert sein müssen, in keinster Weise vereinbar. Es kann nicht angehen, dass wir über Menschen eine Datei anlegen auf den Verdacht hin, dass sie mit einem anderen unter einer Decke gesteckt haben könnten, ({1}) ohne das in irgendeiner Weise zu belegen. Deswegen kann die Warndatei so, wie Sie sie jetzt vorschlagen, von uns auf keinen Fall akzeptiert werden. Im Grunde genommen geht es um die Grundhaltung, wie wir mit Gästen, mit Menschen, die unser Land besuchen, umgehen, auch mit Menschen, die zuwandern - aus ökonomischen Gründen, aber auch aufgrund der menschlichen Verbindungen. Mobilität zieht natürlich weitere Mobilität nach sich, das Hin- und Herwandern von Menschen, das Sich-Besuchen. Wir sind an dem Punkt, dass im Ausland immer kritischer wahrgenommen wird, dass die Abwehrhaltung in Deutschland nach wie vor unser großes Markenzeichen ist. Deswegen bin ich sehr froh, dass das Auswärtige Amt jetzt im Bereich der Visumserteilung gehandelt hat. Es steht einem modernen, offenen Land nämlich nicht gut zu Gesicht, wenn in den Botschaften und Konsulaten fast nicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen werden, wenn Geschäftsleute abgewiesen werden, wenn der Besuch von Menschen in Deutschland verweigert wird, ({2}) weil der Verdachtsmoment als schwerwiegender angesehen wird als die Idee der Mobilität, die eben zu einem modernen Land gehört. Dieser Schritt des Auswärtigen Amtes ist gut gewesen. Ich weiß, dass er auch im Ausland positiv bewertet wird. Es ist mitnichten so, dass alle Menschen deswegen nach Deutschland kommen, weil sie denken, es sei das weltoffenste Land. Gerade die Green-Card-Debatte zeigt, auf welch schmalem Grat wir uns bewegen. Die Postkarten-Debatte ist in Indien und anderen Ländern wir haben es hier schließlich mit dem Internet zu tun - angekommen, und zwar an demselben Tag, an dem sie begonnen wurde, an dem die Slogans in die Welt gesetzt wurden. Die jungen Akademiker sitzen nicht auf gepackten Koffern; sie warten mitnichten darauf, dass sie nach Deutschland kommen dürfen. Vielmehr gibt es dort Auseinandersetzungen und Gespräche, in denen man sich fragt: Wollen wir überhaupt in ein Land gehen, das diese Signale aussendet, dass wir nämlich gar nicht gewollt sind? Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die es gar nicht nötig haben, nach Deutschland zu gehen. Das müssen wir verstehen, statt uns mit altbackenen Abwehrhaltungen diesen Modernisierungsentwicklungen entgegenzustellen. Schönen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Koschyk, das gesellschaftliche Zerrbild, das Sie heute in Sachen Zuwanderung, Asylrecht, Familiennachzug, Visabestimmungen usw. gemalt haben - ich will das gar nicht alles aufzählen -, macht es einem wirklich schwer, sich damit sachlich oder überhaupt nur ernsthaft auseinander zu setzen. ({0}) - Ich sage Ihnen gleich etwas zu den Zahlen. Sie wissen ganz genau, dass wir immer wieder - schon bei der ersten Lesung Ihres Antrages - Debatten führen über die Verhältnismäßigkeit von Kriminalitätsbekämpfung, darüber, mit welchen falschen Fakten Sie hier immer wieder hervortreten, mit welchen Fakten Sie versuchen, Menschen ausländischer Herkunft mit Ihrer Politik Marieluise Beck ({1}) zu diskreditieren. Das lehnen wir ganz entschieden ab. So kann man mit diesen Dingen nicht umgehen. Ich will einmal ganz davon absehen, dass Sie im Moment diese Debatte instrumentalisieren - wahrscheinlich für den Wahlkampf oder wie auch immer -, denn die Punkte, die Sie angesprochen haben, haben größtenteils mit Ihrem Anliegen wenig zu tun. Ich komme zu den Zahlen, die Sie hier genannt haben; ich habe das übrigens auch schon in der ersten Lesung gesagt. In den Jahren 1996 bis 1998 hat es in der Tat laut BKA 14 400 Fälle von Schleuserkriminalität gegeben. Ich sage Ihnen noch einmal: Es hat beispielsweise im selben Zeitraum 15 500 Fälle von Betrug und Untreue im Zusammenhang mit Beteiligungen und Kapitalanlagen gegeben, 18 500 Fälle von Wirtschaftskriminalität im Anlage- und Finanzierungsbereich. Die Zahl allein dieser Straftaten liegt doppelt so hoch wie die Zahl bei der Schleuserkriminalität. Das gilt ebenso für den Sozialhilfebetrug, den ich in der Tat nicht bagatellisieren will. ({2}) Es geht hier um die Frage: Welcher gesellschaftliche Schaden wird hier eigentlich angerichtet? Welche Priorität wird von der CDU/CSU-Fraktion für welche Kriminalitätsbekämpfung verlangt? Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen: Das Statistische Jahrbuch weist 5,4 Milliarden DM Schaden im Bereich der Wirtschaftskriminalität aus. Sozialhilfeerschleichung wird laut BKA nicht einmal in der Statistik ausgewiesen. Das soll nicht heißen, dass wir das bagatellisieren wollen. Nehmen Sie das einfach einmal zur Kenntnis; lesen Sie die Statistiken wirklich einmal genau! Es kann einfach nicht sein, dass man - meine Kollegin Beck hat es schon gesagt - versucht, mit Angstmacherei eine Politik zu betreiben, die darauf hinausläuft, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus in unserer Gesellschaft zu schüren. Herr Koschyk, Sie haben davon gesprochen, dass die datenschutzrechtlichen Bestimmungen der entscheidende Grund gewesen sind, dass im Ausschuss eine Ablehnung des Antrages für heute empfohlen wurde. Das gilt für das Ausländerzentralregister, das wir damals schon abgelehnt haben, aber auch für Ihre Warndatei; hier sind schon von meinen Kollegen diverse Punkte genannt worden, warum wir sie zurückweisen müssen. Ich finde es ignorant und es ist mir juristisch völlig unklar, wie eine Fraktion wie die Ihre nicht einmal abwarten kann, bis es ein Verfassungsgerichtsurteil gibt. Bürger initiativen und Menschenrechtsorganisationen sind vor das Verfassungsgericht gezogen, weil sie das Ausländerregister infrage stellen, mit dem ja schon enorm viele Fakten über Menschen ausländischer Herkunft gesammelt werden. Mit Ihrer Warndatei soll ja noch eins oben drauf gesetzt werden. Ihr Kollege Marschewski hat vorgestern ein Interview gegeben, in dem er sich zu illegalen Einreisen und Schleuserkriminalität geäußert hat. Er hat davon gesprochen, dass dies die innere Sicherheit in Deutschland schwer bedrohe. Außerdem hat er in diesem Interview gesagt, dass die entsprechenden Zahlen beträchtlich gestiegen sind. Ich frage Sie, Herr Marschewski: Woher nehmen Sie diese Behauptungen? Nennen Sie das ehrliche Politik, dass Sie nicht einmal bei den Fakten bleiben? Warum sagen Sie zum Beispiel nicht, dass die Zahl illegal Eingereister um 6 Prozent zurückgegangen ist, dass es sich bei der Schleuserkriminalität nicht ausschließlich um Menschen ausländischer Herkunft handelt, sondern dass etwa 10 Prozent deutsche Staatsbürger dabei sind? Warum analysieren Sie, wenn Sie diesen Tatbestand auseinander nehmen, nicht, worum es tatsächlich geht? Und warum setzen Sie Illegale immer mit Kriminellen gleich? Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet es uns, Menschen, die illegal in unser Land einreisen, als Kriminelle abzustempeln. Ich meine, auch Sie sollten sich daran halten. Denn auch die Regierung Kohl hat damals die Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert. Meine Damen und Herren, hören Sie endlich auf, diese Politik für Ihre Parteibelange zu missbrauchen! Denn dies geht auf Kosten von Ausländerinnen und Ausländern. Ich meine, das kann kein Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung sein. Es ist allenfalls ein Beitrag zur Ausländerbekämpfung. Das wissen Sie auch ganz genau. Zum Schluss meines Beitrages möchte ich noch ein Wort an die Regierungsfraktionen, an SPD und Grüne, richten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, Sie müssen leider zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist sowieso mein letzter Satz. - Ich war ziemlich entsetzt darüber, dass sich die Bundesregierung zu der Entscheidung im Europaparlament betreffend Eurodac - ich habe es schon im Ausschuss gesagt - positiv geäußert hat. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur dieser Warndatei, sondern auch den Verschärfungen, die auf europäischer Ebene angedacht sind - sie sind noch nicht durchgesetzt, aber angedacht -, geschlossen entgegentreten. Ich hoffe, dass die anderen Fraktionen in diesem Hause auch dagegen vorgehen werden. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Erwin Marschewski, Sie haben das Wort für die CDU/CSUFraktion.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem sie Schlepper und Schleuser bekämpfen will. Das sind Leute, die andere Menschen ausbeuten. Das sind Leute, die ausländische Menschen unter falschen Versprechungen nach Deutschland locken, die ihnen einen Transport anbieten, der oftmals ihre Gesundheit beeinträchtigt, sogar ihr Leben gefährdet. Gegen diese Leute wollen wir vorgehen - mehr nicht. Das hat, Herr Kollege Westerwelle, überhaupt nichts mit einer Green-Card zu tun. Es hat auch nichts mit einer Zuwanderungssteuerung zu tun. Auch wir sind für ein Zuwanderungssteuerungsgesetz. Wir werden Ihnen in nächster Zeit einen entsprechenden Entwurf unterbreiten. Das ist der Gegenstand der Debatte - nicht das, was Sie gesagt haben. Eines ist mir in dieser Debatte deutlich geworden: Die Union ist und bleibt offensichtlich der einzige Garant der inneren Sicherheit in Deutschland. Das hat diese Debatte klar und eindeutig gezeigt. ({0}) Oder glauben Sie, innere Sicherheit werde garantiert von Dr. Hirsch, Frau Leutheusser oder ihrem Nachfolger Westerwelle? Von denen doch nicht! Auch der heute nicht anwesende Bundesinnenminister kann innere Sicherheit nicht garantieren. Herr Staatssekretär, gerade in Ihrem Ministerium klaffen doch zwischen dem, was versprochen wird, und dem, was herauskommt - die Versprechen werden eben nicht gehalten -, Welten. Sie haben uns gesagt, Sie wollten einen Gesetzentwurf vorlegen, um die Schleuserkriminalität zu bekämpfen. Ich bin gespannt, wann Sie dies tun werden. Sie haben gesagt, Sie wollten darüber vorurteilsfrei im Ausschuss diskutieren. Heute ist kein Gesetzentwurf da. Die Diskussion im Ausschuss bestand mehr oder weniger aus einem Abwürgen der Argumente. Nichts ist geschehen. Kein Versprechen wird von Ihnen erfüllt, obwohl wir Tausende von Geschleusten im Jahr haben - Kollege Koschyk hat es zu Recht gesagt - und die Zahlen im Steigen begriffen sind. Schauen Sie in die heute vom Bundesinnenminister veröffentlichte polizeiliche Kriminalstatistik. Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist erheblich höher. Im Bereich der Innenpolitik geht Ihre Leistungsfähigkeit gegen Null. Es wird überhaupt nichts gemacht. Das liegt doch sicherlich daran, dass zwischen Rot und Grün erheblich unterschiedliche Vorstellungen gerade im Bereich der Innenpolitik, des Ausländer- und des Strafrechts vorhanden sind. Das werden Sie ja bestätigen. Hätten wir damals so lange gewartet, bis das Bundesverfassungsgericht in einer Nebenfrage entschieden hätte, hätten wir weder das Asylrecht noch das Verbrechensbekämpfungsgesetz in Kraft setzen können. ({1}) So lange können wir nicht warten und so lange wollen wir nicht warten. Der Bundesinnenminister - heute nicht anwesend wird auch von seiner Koalition im Stich gelassen. Was ist aus der Aussage von Herrn Schily, die Grenze der Belastbarkeit sei überschritten, geworden? Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist aus dem Vorschlag geworden - ich gehe davon aus, dass er ernst gemeint war -, er wolle das subjektive Asylrecht einschränken? Er hat uns in diesem Punkt an seiner Seite. Welche Konsequenzen haben Sie daraus gezogen? Was ist - jetzt ganz aktuell - aus seinem Vorschlag, er wolle die Green Card auf drei Jahre begrenzen, geworden? Sie haben den Bundesinnenminister bei all seinen Vorstellungen im Regen stehen lassen. Das bedeutet, dass gerade im Bereich der Innenpolitik diese Bundesregierung unter mangelnder Handlungsfähigkeit leidet. ({2}) Das ist insbesondere im Bereich des Asyl- und des Ausländerrechts und der Verbrechensbekämpfung der Fall: Kein einziges Gesetz haben Sie in den 18 Monaten Ihrer Regierungszeit fertig gebracht. Kein einziges Gesetz! Große Worte, wenig Taten: Das ist die Leistung des Bundesinnenministers, die so genannte Leistung im Bereich der deutschen Innenpolitik. Herr Kollege Westerwelle, mit dieser Art Laisser-faire, die Sie als Liberaler haben zutage treten lassen, werden Sie weder Schleusertum noch Menschenhandel noch Sozialleistungsbetrug bekämpfen. Wir haben Praktiker gehört - Sie müssten das eigentlich wissen, da Sie bei einem Teil der Koalitionsgespräche vor zwei, drei Jahren dabei waren - und sind Punkt für Punkt die Praktikervorschläge durchgegangen und haben sie ins Gesetz geschrieben. Erstens. Was ist dagegen zu sagen, dass wir nicht nur die Antragstellung, sondern auch die Visaablehnung sowie die Gründe der Ablehnung im Gesetz speichern wollen? Es ist doch absurd, nur über die Antragstellung zu berichten. Wir wollen die Ablehnung und die Gründe dafür speichern. Was ist dagegen zu sagen? Zweitens. Wir wollen, dass auch die Polizeibehörden, die die Kontrollen vor Ort ausführen, Zugriff auf das Ausländerzentralregister haben. Was ist dagegen zu sagen? Drittens. Wenn jemand ein Versprechen gibt, für einen Dritten einzustehen, und das Versprechen wird nicht erfüllt: Warum soll das nicht in der Kartei bis zur Erfüllung des Versprechens vermerkt werden, warum muss der Steuerzahler in diesem Lande für dieses oft falsche Versprechen einstehen? Es gibt nicht nur gute Menschen auf der Welt; das ist nicht nur meine Erkenntnis. Natürlich wollen wir unser Land offen halten, aber wir wollen Einsatz zeigen gegen Schleuser und Schlepper: Es ist ein Verbrechen, wie die Geschleusten ausgebeutet werden. Dagegen vorzugehen ist unsere Politik. ({3}) Deswegen bitte ich die Bundesregierung, wirklich ernst zu machen und ein Gesetz vorzulegen. Ich frage Sie, Herr Staatssekretär - ich wundere mich, dass Sie gar nicht das Wort ergreifen -: Wann werden Sie konkret mit einem Gesetzentwurf kommen? Ansonsten verantworten Sie, dass das menschenverachtende Geschäft dieser Leute weiter ausgeweitet wird. Ansonsten haben Sie zu verantworten, dass Menschen mit unhaltbaren Versprechungen nach Deutschland gelockt werden und dort aufs Übelste ausgebeutet und missbraucht werden. Ich fordere Sie auf, endlich etwas gegen diese Zustände zu unternehmen. Reden Sie nicht nur! Das gilt insbesondere für Ihren Minister. Handeln Sie endlich, Herr Minister! Erwin Marschewski ({4}) ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben mich zweimal persönlich angesprochen und darauf möchte ich eingehen. Sie erwecken den Eindruck, dass das, was Sie hier vortragen, von der Expertenkommission und von Fachleuten unter der alten Regierung in der letzten Legislaturperiode bestätigt worden sei. Das ist nicht richtig. Die alte Regierung hat dieses Gesetz nicht im Deutschen Bundestag eingebracht, und zwar aus Vernunftgründen. Sie möchten jetzt etwas einbringen, was die alte Regierung nicht eingebracht hat. Das ist aus unserer Sicht eine etwas schwierige Angelegenheit. Sie erwecken auch den Eindruck, als wollten wir Schleuserkriminalität nicht bekämpfen. Schleuserkriminalität bekämpfen will vermutlich jeder hier in diesem Hause und wir ganz besonders. Ich halte aber die Idee, dass die Aufnahme dieser Kriminellen in eine weitere Datei bei der Kriminalitätsbekämpfung helfen könnte, für reichlich realitätsfern. Deswegen ist dies keine Frage von innerer Liberalität versus Kriminalitätsbekämpfung. Ihr Gesetz dient nicht der Kriminalitätsbekämpfung. Es dient lediglich der Abschreckung ansonsten Unbescholtener, zum Beispiel unbescholtener Unternehmen. Das ist der Grund, warum wir das Gesetz damals abgelehnt haben, warum es die alte Regierung nicht eingebracht hat und warum wir es heute nicht einbringen werden. Im Übrigen kann ich Ihnen nur sagen: Ich kann Ihren Ausführungen nicht zustimmen. Dass Sie ein blaues Hemd und eine gelbe Krawatte tragen, versöhnt mich aber wieder.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung, Herr Kollege Marschewski, bitte.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Westerwelle. Zunächst einmal möchte ich sagen: Ich bin Ihnen gegenüber immer versöhnlich eingestellt, das ist keine Frage. Aber Sie müssen auch einmal Sachargumenten Folge leisten: Erstens. Wir haben in der letzten Legislaturperiode eine Expertenanhörung durchgeführt. Die Experten haben uns gesagt: Verbessert das Ausländerzentralregister und schafft eine Warndatei, um wirklich etwas zu verhindern. Ich nenne einen praktischen Fall, den Sie eigentlich kennen müssten, aber offensichtlich nicht kennen: Wenn jemand im Ausland beim Konsulat A einen Visumantrag stellt und dieser Antrag abgelehnt wird, weil jemand betrügerisch gehandelt hat, weiß das Konsulat B zunächst einmal nicht, dass und warum dort eine Ablehnung erfolgt ist. Das wollen wir ändern, indem wir im AZR und in der Warndatei zentrale Vermerke einbringen. Ein weiteres Beispiel: Wenn ein Polizeibeamter vor Ort feststellen will, ob jemand als Schleuser oder Schlepper tätig ist, soll er das zentral geregelt im AZR kontrollieren dürfen. Das ist der Sinn dieser Übung. Ich habe den Eindruck, dass Sie den Gesetzentwurf nicht in seinen Einzelheiten kennen, weil Sie daran nicht mitgearbeitet haben. Letzteres hat der Kollege Stadler getan. Sie haben heute nur den Redebeitrag übernommen. Zweitens. Herr Kollege, ich wende mich dagegen, dass die F.D.P. immer noch im alten hirschschen bzw. leutheusserschen Geiste sagt: Uns ist Datenschutz lieber als Täterschutz. Das ist nicht unsere Politik, Herr Kollege Westerwelle. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sprache ist verräterisch. Dazu, dass beispielsweise der Kollege Koschyk sagt, dass der Erlass des Auswärtigen Amtes irgendwelche Visaregelungen lockern wolle, sage ich ganz einfach: Er kennt diesen Erlass nicht. ({0}) Dass beispielsweise zukünftig keine Ablehnung eines zustimmungspflichtigen Visums ohne Rücksprache mit der Innenbehörde erfolgen darf, ist - so denke ich - aus der Praxis begründbar. Jemand, der eine Ablehnung eines zustimmungspflichtigen Visums ausspricht, muss zumindest bereit sein, diese auch zu begründen. Dies aber halte ich nicht für eine Lockerung, sondern das ist in der Sache geboten. Dies gilt auch für die Einführung einer Begründung bei Ablehnung eines Visums zum Familiennachzug. Ich frage mich: Wo ist da eine Lockerung, wenn nun eine entsprechende Begründung der Entscheidung gegeben werden muss? Ich halte dies im Übrigen für selbstverständlich und denke, dass man darüber nicht streiten muss. ({1}) Zweiter Punkt. Lieber Herr Koschyk und Herr Marschewski, Ihr Bundesinnenminister hätte froh sein können, glaube ich, wenn es ihm beispielsweise gelungen wäre, in Europa im Zuge des Konfliktes im Kosovo und bei der Überwindung der Flüchtlingsschicksale eine Lastenteilung herbeizuführen, wie das Bundesinnenminister Schily gelungen ist. Ich denke, das ist eine hervorragende Leistung, und Sie sollten das auch einmal würdigen. ({2}) - Das hat beispielsweise damit zu tun, dass an- und aufgegriffen worden ist, was getan bzw. nicht getan worden ist. Erwin Marschewski ({3}) Sprache ist auch dabei, wie Sie mit diesem Thema umgehen, verräterisch. Ich glaube, es ist selbstverständlich, dass Schleusertum bekämpft werden soll. Aber es ist schon ein bisschen merkwürdig, dass Sie es uns nachteilig auslegen, wenn die Bundesregierung, der Bundesgrenzschutz gewisse Aufgriffzahlen nachweisen kann. Nein, umgekehrt: Sie hätten den Bundesgrenzschutz einmal dafür loben müssen, dass er das Schleusertum wirksam bekämpft hat. Es gibt doch überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir nicht akzeptieren können, dass mit menschlichem Schicksal Geschäfte gemacht werden. Darüber brauchen wir keinen Streit zu führen. ({4}) Sie sollten auch mit Ihren Sprüchen, die darauf abzielen, Angst zu schüren, aufhören; denn sie verkennen die Fakten und bringen uns auch nicht weiter. ({5}) Der von der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung einer Warndatei weist nach Dafürhalten der Bundesregierung sowohl ungeeignete als auch unverhältnismäßige Instrumente auf. Ich denke, das zeigt sich auch an Folgendem: Lieber Herr Marschewski, Sie versuchen ja denjenigen, die nicht in der Materie stehen, glaubhaft zu machen, was Sie alles unternommen hätten. Sie waren doch überhaupt gar nicht in der Lage, in Ihrer eigenen Regierungszeit nur eine der von Ihnen genannten Veränderungen herbeizuführen, ({6}) und zu einem großen Teil mit gutem Grund, weil Sie schon damals keine Mehrheiten dafür hatten. Das müsste Sie doch eigentlich nachdenklich stimmen. Natürlich muss man auch sehen, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Regelungen aus datenschutzrechtlicher Sicht unverhältnismäßig und bedenklich sind. Sie verstoßen nach meinem Dafürhalten gegen das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Bundesregierung folgt daher ganz eindeutig dem Votum der Ausschüsse und lehnt diesen Gesetzentwurf ab. Entschieden lehnen wir auch insbesondere das vorgeschlagene Gesetz über die Einrichtung einer so genannten Warndatei ab. Die Einrichtung dieser Datei ist nach unserem Dafürhalten nicht erforderlich. Es steht außer Frage, dass alles getan werden muss, um im Interesse der Bekämpfung der illegalen Einreise Visaerschleichungen zu verhindern. Dazu ist es auch wichtig, dass Visa erteilende Stellen Informationen über ver- oder gefälschte Dokumente oder Erkenntnisse über international organisierte Schleuserorganisationen austauschen. Der Aufbau eines zentralen Registers in der von Ihnen vorgeschlagenen Größenordnung ist für diese Zwecke nicht notwendig und auch nicht geeignet. Datenschutzrechtlich bedenklich ist insbesondere die große Anzahl der Anlässe, die zu einer Datenspeicherung in der von Ihnen vorgeschlagenen Warndatei führen soll. So beabsichtigt die CDU/CSU zum Beispiel auch, Daten über Personen zu speichern - da sollten Sie vielleicht einmal zuhören, Herr Marschewski -, ({7}) die Verpflichtungserklärungen nach § 84 Ausländergesetz abgegeben haben, ohne zu wissen, dass die dadurch begünstigten Personen im Visaverfahren ge- oder verfälschte Dokumente vorgelegt oder nach ihrer Einreise einen Asylantrag gestellt haben. Ich kann nicht nachvollziehen, warum ein gutgläubig handelnder Personenkreis für das Verhalten eines eingeladenen Ausländers verantwortlich gemacht und mit dem Makel der Aufnahme seiner Daten in diese Datei versehen werden soll. Der große Kreis der zugriffsberechtigten Stellen, darunter Polizeivollzugs- und Verfassungsschutzbehörden, ist ebenfalls datenschutzrechtlich mehr als fragwürdig. Aber auch, meine Damen und Herren, die Vorschläge zur Änderung des AZR-Gesetzes verstoßen gegen das informationelle Selbstbestimmungsrecht und können von der Bundesregierung nicht mitgetragen werden. So sieht der Entwurf zum Beispiel die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Übermittlung von Daten aus dem Ausländerzentralregister an die Staatsangehörigkeitsdatei vor, obwohl bis zum heutigen Tag für die Staatsangehörigkeitsdatei keine Rechtsgrundlage geschaffen wurde und der Gesetzgeber noch nicht entschieden hat, ob diese Datei überhaupt fortgeführt werden darf. ({8}) Die Ablehnung bedeutet aber nicht - das sage ich auch ganz deutlich -, dass sich die Bundesregierung gegen jegliche Änderung des AZR-Gesetzes ausspricht. So gibt es für uns zwei Punkte, die wir gerne diskutieren. Dies betrifft die Zugriffsmöglichkeiten von Polizei und Sozialbehörden. ({9}) Allerdings sollten wir uns vor übereilten und pauschalen gesetzlichen Änderungen hüten und zunächst einmal auf die Erfahrungen der Praxis zurückgreifen. Meine Damen und Herren, wenn Sie beispielsweise die Ergebnisse, Ihre Gespräche aus der so genannten Praxis, wiedergeben, so findet man einen eindeutigen Dissens. Es ist in der Tat zuerst die Frage zu stellen, ob eine solche Maßnahme notwendig ist oder nicht. Wir werden dies in der Praxis genau beobachten und nur in den Fällen, in denen tatsächlich festgestellt wird, dass die vorhandenen Instrumente zur Bekämpfung der illegalen Einreise und des Sozialleistungsmissbrauchs nicht ausreichen, eventuelle Möglichkeiten der Änderungen in Betracht ziehen. Ich denke, das ist eine gute und eine richtige Vorgehensweise. Wir sind zum Gespräch und zum Dialog bereit. Aber Schnellschüsse, die nicht begründbar sind, werden wir nicht machen. Im Übrigen ist unsere Ablehnung bekannt. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister und zur Einrichtung ei- ner Warndatei auf Drucksache 14/1662. Der Innenaus- schuss empfiehlt auf Drucksache 14/2745, den Gesetz- entwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/1662 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion der CDU/CSU abge- lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 f auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Übereinkommen vom 19. Dezember 1996 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zum Schengener Durchführungsübereinkommen und zu dem Übereinkommen vom 18. Mai 1999 über die Assoziierung der Republik Island und des Königreichs Norwegen - Drucksache 14/3247 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes - Drucksache 14/3273 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ({2}) - Drucksache 14/3044 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaMaria Bulling-Schröter, Rosel Neuhäuser, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Ressourcenverbrauch der Bundesrepublik Deutschland statistisch besser abbilden - Drucksache 14/2654 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Übergangsregelungen bei der Einführung des Kapitalgesellschaften- und Co-Richtlinie-Gesetzes - Drucksache 14/3078 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zeitweilige Aussetzung der Möglichkeit zur Erhöhung der Nutzungsentgelte - Drucksache 14/3121 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3078 soll zusätzlich an den Finanzausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 22 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. August 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen StaaParl. StaatssekretärFritz Rudolf Körper ten über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/2422 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) - Drucksache 14/3129 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/3129, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 22 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 5. November 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Antigua und Barbuda über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/2423 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({10}) - Drucksache 14/3130 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/3130, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 22 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({12}), Dietrich Austermann, Otto Bernhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wirtschaftlicher Ausgleich und Übergangsregelung für Duty free - Drucksachen 14/1206, 14/2103 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({13}) Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1206 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 22 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gunnar Uldall, Kurt-Dieter Grill, Wolfgang Börnsen ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vorlage des Berichts zum Stromeinspeisungsgesetz - Drucksachen 14/2239, 14/2837 Berichterstattung: Abgeordneter Kurt-Dieter Grill Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2239 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Die heutige Tagesordnung soll um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse erweitert werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse - Drucksache 14/3338 Wir kommen sofort zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zur Erhöhung der Sicherheit im Internet vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem „I love you“-Virus Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Ute Vogt.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Themas der Aktuellen Stunde haben wir wieder einmal mehr Grund, froh zu sein, dass es eine neue Bundesregierung gibt; ({0}) denn wir haben einen Innenminister ({1}) Vizepräsidentin Petra Bläss - wenn Sie ihn lieben, umso schöner -, der auch in Bezug auf die Informationstechnik auf der Höhe der Zeit ist, und das, obwohl er selbst nicht zu der Generation gehört, von der man sagen könnte, sie sei mit Computern groß geworden. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat sich der heutige Innenminister direkt nach seiner Amtsübernahme dem Thema der Informationstechnik angenommen und hat das, was im Bundestag lange vorbereitet wurde und Ihnen auch schon aufgrund der Arbeit der EnqueteKommission in der letzten Legislaturperiode hätte bekannt sein können, angepackt und in die Praxis umgesetzt. Wir haben einen Maßnahmenkatalog vorgelegt, der sich sehen lassen kann. Die heutige Aktuelle Stunde soll auch dazu dienen, diesen Katalog der Öffentlichkeit aus aktuellem Anlass in Erinnerung zu rufen und auf ihn aufmerksam zu machen. Wir haben das Paket mit Sofortmaßnahmen für ein sicheres Internet verabschiedet, das den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern, die das Internet benutzen, nicht nur die Anwendung des Internets erleichtert, sondern auch Schutz vor schädlichen Programmen durch Virenscanner, durch Einstellungen in Webbrowsern und SoftwareFirewalls ermöglichen wird. Es gibt für Netzvermittler die Möglichkeit, dass bei den Servicebetreibern ein Notfallplan entwickelt und etabliert wird. Wir können Maßnahmen ergreifen, die verhindern, dass gefälschte Adressen ankommen können. Zum Beispiel ist die Technik für Paketfilter vorhanden; sie müssen lediglich entsprechend eingesetzt werden. Diejenigen, die ihre Seiten selbst ins Netz stellen, können ihre Dateien täglich auf Viren und Angriffsprogramme hin überprüfen. Wir halten es für dringend notwendig, dass wir uns in dieser Frage gemeinsam an die Öffentlichkeit wenden. Wenn Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, dann werden Sie feststellen, dass gerade im Mittelstand mit dem Thema „Sicherheit im Netz“ häufig sehr sorglos umgegangen wird und dass viele schon jetzt mögliche Sicherheitsanwendungen nicht genutzt werden, sodass es unsere Aufgabe auch ist, auf diesem Gebiet Sensibilisierung herzustellen - etwas, was Sie in Ihrer Regierungszeit versäumt haben. An diese Aufgabe müssen wir alle zusammen herangehen. Es hilft nicht, wenn nur die Bundesregierung und nur die Abgeordneten der Regierungskoalition dafür werben; vielmehr brauchen wir den Einsatz des gesamten Parlaments. Wir müssen Öffentlichkeit herstellen, damit auch private Anwender um die Gefahren wissen, in die sie sich begeben, wenn sie sich im Internet bewegen und wenn sie Angriffen wie den zuletzt durchgeführten begegnen wollen. Wir haben erlebt, dass es vermutlich ein Einzelner geschafft hat, innerhalb von nur 72 Stunden einen Schaden von über 10 Milliarden US-Dollar anzurichten. Von der Aktion eines Einzelnen sind etwa 45 Millionen Computer betroffen; deshalb ist es notwendig, dass wir dieses Thema sehr viel ernster nehmen, als Sie es in der Vergangenheit getan haben. Wie gesagt, wir haben von Anfang an alles dafür getan. Der Maßnahmenkatalog musste überhaupt erst entwickelt werden, weil Ihr Innenminister leider das ignoriert hat, was zum Teil auch Sie in der Enquete-Kommission vertreten haben. Ihm fehlte möglicherweise der Bezug zu dem Medium; das muss man verstehen. Ich bin dafür - ich hoffe, dass auch Sie das zum Ausdruck bringen -, dass wir dieses Thema nicht klein reden. Wir sollten die vorhandenen Anstrengungen, Erfolge und Hilfestellungen nicht zerreden; stattdessen sollten auch Sie in dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, die Bevölkerung zu sensibilisieren und aufzuklären. Sie sollten vor allem die Größe haben, die Leistungen der Bundesregierung anzuerkennen. Hören Sie auf, an diesem Bereich herumzumäkeln! ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Sylvia Bonitz.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ob „Melissa“ im letzten Jahr, die Hackerangriffe auf Internetportale wie „Yahoo“, „Amazon“ und „Ebay“ im Februar oder jetzt das Computervirus „I love you“ - ihnen allen ist eines gemein: Sie stehen für die Verwundbarkeit des Internets als Masseninformations- und Kommunikationssystem. Im Zeitalter von E-Mail, Online-Banking und E-Commerce ist die vernetzte Welt anfällig für derartige Attacken. Es ist zu erwarten, dass kriminelle Zeitgenossen ausreichend Fantasie für immer neue und gefährlichere Viren besitzen werden, die naturgemäß an nationalen Grenzen nicht Halt machen. Umso wichtiger sind ein möglichst internationaler Rahmen und gemeinsame Standards zur globalen Gefahrenabwehr. Auch die Bundesregierung muss ihren Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit in den neuen Medien leisten. Sie hat ihre Hausaufgaben jedoch bislang nicht gemacht. Dabei wird das Ausmaß der Schäden durch CyberKriminalität in Form von Hackerangriffen, Wirtschaftsspionage und -sabotage und durch Lücken in der IT-Sicherheit in der System- und Prozesssteuerung von Experten inzwischen auf dreistellige Milliardenbeträge geschätzt. Wer den Erfolg des Internets als zukunftsorientiertes Medium sichern will, der steht in der Pflicht, über seine Risiken aufzuklären, Sicherheitslücken, so weit machbar, zu schließen und ein öffentliches Bewusstsein für diese Problematik zu schaffen. Denn jedem muss klar sein: Eine hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben. Cyber-Kriminelle nutzen als Sprungbrett für ihre Attacken nicht nur Großrechner der Industrie oder Universitätsrechner, sondern auch Tausende von Firmenrechnern, die inzwischen den Mittelstand ans Internet anbinden. Selbst ein PC daheim ist ausreichend, um die hoch technisierte Welt lahm zu legen. Schließlich bietet der Cyberspace nicht nur die Anleitung zu Bombenbau und KinUte Vogt ({0}) derpornos, sondern selbst das Werkzeug, um die Sicherheitsbarrieren des Internets zu überwinden. Anstatt das vorhandene Expertenwissen zügig an einer Stelle zu bündeln, befassen sich unterschiedlichste Arbeitsgruppen mit diesem sensiblen Thema. Aufgedeckte Sicherheitslücken gelangen hierdurch nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit. Dabei ist inzwischen bekannt, dass sich Internetattacken im Auftrag von kriminellen Organisationen oder gar feindlichen Staaten gegen die gesamte zivile Infrastruktur der Republik richten könnten, wie etwa die Energieversorgung, das Gesundheitswesen, das Verkehrswesen oder auch die Polizei. Nichts hat bislang die Bundesregierung veranlasst, dieses Wissen von sich aus an die Öffentlichkeit zu bringen oder gar die Alarmglocken zu läuten. Stattdessen gibt Innenminister Schily pausenlos Verbalplacebos in Form von Pressemittteilungen heraus, in denen seine Ideen zur Verbesserung der Sicherheit im Internet gemeldet werden. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt ein Cyberspace. ({1}) Die Realität in Deutschland sieht nämlich anders aus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein süddeutsches Systemhaus stellte fest, dass der eigene Internetrechner als Sprungstelle für Angriffe auf andere Web-Angebote genutzt wurde. Die Firma wandte sich an das BKA und an das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik. Doch man fühlte sich dort nicht zuständig. Am Ende wurde das Unternehmen an die lokalen Polizeidienststellen verwiesen. Was das angesichts veralteter Ausstattung der Polizei und nur weniger Internetexperten dort bedeutet, kann sich jeder ausmalen. In den USA schenkt man diesem Thema in der Politik eine weitaus größere Aufmerksamkeit als bei uns. Präsident Clinton beispielsweise hat sich nach den Internetattacken vom Februar persönlich mit Experten beraten und zu diesem Gespräch sogar einen der bekanntesten Hacker ins Weiße Haus eingeladen. Wir in Deutschland können uns schon glücklich schätzen, wenn sich Gerhard Schröder, der sich in der Öffentlichkeit gern als „OnlineKanzler“ präsentiert, immerhin jetzt beibringen lässt, wie das Internet überhaupt funktioniert. Randbemerkung: Wusste er das eigentlich schon, bevor er die Green-Card-Offensive gestartet hat? Herr Schily hält das BKA mit seinen Experten nach eigenem Bekunden für „bestens geeignet für diese Aufgabe“. Jedenfalls steht es so in der „Welt“. Dagegen bezeichnet der Vorsitzende des Bundes der Kriminalbeamten, Eike Bleibtreu, den Kampf im Internet als längst verloren. Bleibtreu schätzt, dass es im gesamten Bundesgebiet noch nicht einmal 50 Internetfahnder gibt. Hinzu kommt, dass in einer Spezialbehörde wie dem BSI von den rund 360 Beschäftigten nicht einmal ein Dutzend für das Internet zuständig ist. Ein weiteres Beispiel für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität: Bereits vor einem Jahr kündigte das Innenministerium eine spezielle Internetsuchmaschine an, die es der Polizei erleichtern sollte, strafrechtlich relevante Inhalte festzustellen, Beweismittel, Absender und Adressaten zu ermitteln. Fakt ist: Bis heute ist in dieser Hinsicht nichts realisiert. Auch die gebildete Taskforce „Sicheres Internet“ bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Die von ihr erarbeiteten „15 goldenen Regeln“ werden selbst vom Chaos Computer Club als „Beschwichtigung der Öffentlichkeit“ eingestuft. Ich komme zum Schluss und frage die Bundesregierung: Was konkret unternehmen Sie, um Lösungen zur Verbesserung der Sicherheitsstandards im internationalen Kontext zu erreichen? ({2}) Haben Sie für das G8-Treffen in der kommenden Woche einen konkreten Maßnahmenkatalog zur Globalisierung der Gefahrenabwehr vorbereitet?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, ich muss Sie an die Redezeit erinnern. Wir haben eine Aktuelle Stunde.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluss. Haben Sie, Herr Minister Schily, wenn Sie sich für eine internationale Verschärfung der Strafrechtsbestimmungen aussprechen, dem Kanzler ein konkretes Aufgabenpaket geschnürt, das er auf dem G8-Gipfel abarbeiten und erörtern soll? Wir alle sind gefordert, auch und gerade als Politiker das öffentliche Bewusstsein in Fragen der Informationsund Infrastruktursicherheit zu fördern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, ich muss Sie nochmals daran erinnern: Wir haben eine Aktuelle Stunde.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist mein letzter Satz. Wenn wir nicht mit vereinten Kräften und gebündeltem Expertenwissen endlich einen Zahn zulegen, ist es mit den Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit im Internet wie mit den Erfolgen der Regierung Schröder: Sie bleiben virtuelle Realität. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Grietje Bettin.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass ich hier heute zum ersten Mal reden darf, ({0}) und das zu einem Thema, das gerade in meiner Generation in jeder Wohngemeinschaft, auf jeder Studentenbude und in fast jedem Jugendzimmer zu einem Stück Alltagskultur geworden ist. Ich spreche über den Umgang mit dem Internet. ({1}) - Das mag sein. Unweigerlich verknüpft mit dem Thema Internet ist natürlich die Frage der Sicherheit und hier insbesondere die Virenproblematik, über die wir in den letzten Tagen viel gehört und gelesen haben. Die Attacke des „I love you“-Virus hat uns deutlich vor Augen gehalten, wie wenig eigentlich unsere Daten im Netz geschützt sind und wie angreifbar wir in unseren ganz persönlichen Intimbereichen geworden sind. Was ist eigentlich ein Virus? Kleine Programme, die meist mit bösen Absichten per E-Mail verbreitet werden und deren Aktivierung in der Regel an bestimmte Ereignisse geknüpft oder wie hier bei diesem Virus auf unser Liebesbedürfnis ausgerichtet sind, sind die Schattenseiten dieser Alltagskultur. Jeden Monat kommen 150 bis 250 neue Viren auf den Markt. Die meisten sind harmlos, aber 5 Prozent der Viren sind wirklich so genannte Killerviren. Was machen die Viren? Sie können Festplatten formatieren, den Bios-Chip überschreiben oder die Systemleistung bremsen. Auch können sie einzelne Anwendungen oder Dateien löschen oder sich mittels eines E-Mail-Programms selbstständig verbreiten. Die Fragen, die wir uns heute hier stellen, lauten: Was können wir national und auch international gegen diese Gefährdung tun? Wie können wir unsere Daten vor einem Virenangriff schützen? Was können wir den Bürgerinnen und Bürgern empfehlen, um ihre eigenen Daten vor Eingriffen zu schützen? Das betrifft den gesamten Datenbereich. Eine Möglichkeit ist natürlich, den Rechner gar nicht erst anzuschalten bzw. das Disketten- oder CD-RomLaufwerk auszubauen. Letzteres wird übrigens bereits in größeren Netzwerken praktiziert. Einen relativ wirksamen Schutz bieten auch so genannte Virenscanner, die ständig im Hintergrund laufen. Dabei müssen wir aber in Kauf nehmen, dass unsere Rechner etwas langsamer arbeiten. Gefordert ist aber insbesondere die Initiative aller Nutzerinnen und Nutzer. Wir müssen in einem stärkeren Maße kritische Distanz zu allem halten, was aus dem Netz kommt. Jeder sollte sich als sein eigener Datenschützer, seine eigene Datenschützerin begreifen. Wir müssen uns auch daran gewöhnen, alle Mails zu checken und Verdächtiges auch ungelesen zu löschen. ({2}) In den letzten Tagen wurde viel von der Einrichtung von so genannten Firewalls gesprochen. Was bringen diese Firewalls? Firewalls sollen ein Netzwerk vor Angriffen von außen schützen. Als Firewall bezeichnet man einen Rechner bzw. eine Anordnung von Rechnern, die zwischen zwei Netzwerke geschaltet sind. Diese Rechner werden speziell unter Sicherheitsaspekten konfiguriert und geben nur erwünschte Verbindungen frei. Hier läuft alles nach der Strategie: Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten. Ganz besonders wichtig ist auch, das de facto Microsoft-Monopol endlich aufzubrechen. ({3}) Durch die ausschließliche Verwendung eines Computerprogramms wurde eine kaum kontrollierbare Abhängigkeit geschaffen. Bisher hat sich Microsoft geweigert, Betriebsgeheimnisse der oft schwer durchschaubaren Programme preiszugeben, was sehr häufig auch die Aufklärung behindert hat. Aus dem Bereich der Ökologie wissen wir: Monokulturen können großen Schaden anrichten. ({4}) Das gilt leider auch für den Computersektor. Auch hier ist Konkurrenz gefragt. Sie sollte gefördert werden, um Buntheit und Programmvielfalt sicherzustellen. Letztendlich kann nur so verhindert werden, dass ein Virus eine so große Masse von Systemen befällt und lahm legt. Ich teile die Auffassung von Minister Schily, der fordert, dass alle zivil- und strafrechtlichen Möglichkeiten geprüft werden sollten, um die Verursacher der jüngsten Attacke zur Verantwortung zu ziehen. Dies macht aber internationale Abstimmung erforderlich. Um Straftaten aufklären zu können, ist es außerdem erforderlich, dass die Ausbildung der Strafverfolger verbessert wird. Oft hängen diese den Hackern in Bezug auf das technische Wissen weit hinterher. Ich habe mit großem Interesse die Anregung der CDUOpposition aufgenommen, einen eigenen Bundesbeauftragten für das Internet zu bestimmen. ({5}) Ich frage mich aber, ob es nicht effektiver wäre, dies in die Arbeitsbereiche des Datenschutzbeauftragten zu integrieren. ({6}) Darüber sollten wir weiter im Gespräch bleiben. Wir sollten den „I love you“-Virus als Alarmsignal, aber auch als Chance begreifen, um schnell und pragmatisch zu handeln. Hierbei muss uns klar sein, dass mit nationaler Politik wenig zu bewegen ist. Es wird nicht das Patentrezept gegen Virenattacken geben. Wir alle müssen uns insbesondere im Bereich des Internet von der klassischen Vorstellung vom Staat als letzter und allmächtiger Instanz lösen. Eher wird man verschiedene Strategien auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig verfolgen müssen, um wirklich sinnvollen Datenschutz zu betreiben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Bettin, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich möchte Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen dazu recht herzlich beglückwünschen. Ich hoffe - ich denke, auch hier spreche ich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen -, dass Sie Ihre zweite Rede ohne Krücken halten können. ({0}) Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege HansJoachim Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wohl nie zuvor in der Kulturgeschichte hat es einen Liebesbrief gegeben, der weltweit solche Schmerzen und auch ökonomische Schäden angerichtet hat wie diese „I love you“ -Mails, ein Warnschuss, wenn auch mit mehr als 10 Milliarden Dollar Schaden ein überaus teurer, aus dem wir dringend und umgehend Konsequenzen ziehen müssen. In diesem Punkt sind wir uns alle einig. Wir müssen erkennen, dass solche kriminellen, ja geradezu kriegerischen Attacken von überall auf der Welt ausgeführt werden können. Eine Arbeitsgruppe der Bundesregierung hat zu Recht eine „grundsätzlich neue Situation der Unsicherheit“ analysiert, weil es im Internet „kein geschütztes Staatsgebiet mehr gibt, das an seinen Grenzen erfolgreich zu verteidigen wäre“. Ob allerdings, Frau Kollegin Vogt, die Bundesregierung angesichts dieser zutreffenden Analyse ihre Hausaufgaben umfassend und vor allem rechtzeitig gemacht hat, scheint mir nicht so ganz sicher zu sein. ({0}) Bezeichnend ist es, dass zu dem Zeitpunkt, als Bundesinnenminister Schily seine Taskforce zusammenrief, um über Gegenmaßnahmen zu beraten - das war am 4. Mai dieses Jahres um 17 Uhr; deswegen kann es nur die neue Regierung sein, lieber Herr Tauss -, ({1}) ein junges Privatunternehmen, nämlich Datango aus Berlin, bereits einen „Webride“ gegen diesen Virus zur Verfügung stellen konnte. Dieses Beispiel macht deutlich, dass gegen diese Form der Bedrohung ein Schutz allein vom Staat nicht zu erwarten ist. Es ist vielmehr drängender und wichtiger denn je, auf eine Public Private Partnership zu setzen. In diesem Bereich gilt das Wort zu Recht. Künftig muss das Bundesinnenministerium aber auch kompetente Warnungen von Praktikern ernster nehmen. Ebenso wie der Virus „Melissa“ aus dem März 1999, so ist auch der „I love you“-Virus eine Folge - in diesem Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig - der Microsoft-Monostruktur. Beide Viren betrafen nur Rechner mit Microsoft-Betriebssystemen und nutzten die fehlende Transparenz der MS-Quellcodes gnadenlos aus. Auf diese Gefahr hatten zahlreiche Experten wie auch die 57. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder rechtzeitig hingewiesen, die bereits Monate vor diesem Angriff mahnten, „nur solche Produkte einzusetzen, welche auch eine Transparenz der Verfahrensabläufe gewährleisten“. ({2}) Diese ausdrückliche Warnung war ursprünglich vom Bundesinnenministerium in seinem KBSt-Brief Nr. 2/2000 im Netz veröffentlicht. Dem Vernehmen nach soll aber Frau Staatssekretärin Zypries veranlasst haben, dass diese berechtigte Warnung alsbald vom Server genommen wurde. ({3}) Wenn Herr Innenminister Schily eine Verschärfung der deutschen Strafvorschriften gegen solche Hacker fordert, wird dies bei potenziellen Tätern in Manila oder Taschkent mit Sicherheit schlotternde Knie hervorrufen. Auch in diesem Punkt bin ich mir mit der Kollegin Bettin einig: Die Eigenart des globalen Netzes macht es unabdingbar, dass Verteidigungsstrategien supranational entwickelt werden müssen. Der „I love you“-Virus hat im Übrigen auch die dringende Notwendigkeit einer weltweiten Internetkonvention und einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit drastisch vor Augen geführt. Die Erhöhung der Netzsicherheit ist nicht etwa ein exotisches Außenseiterthema, sondern wird zu einer Schlüsselfrage für die weitere Entwicklung der Weltwirtschaft. Wenn deshalb der „I love you“-Virus zum Startschuss für eine solche weltweite Internetkonvention wird, so hat er uns ungewollt einen Liebesdienst erwiesen. Um im Bild zu bleiben: Genauso wie bei der Aktion „Safer sex“ brauchen wir eine Aktion „Safer surf“, an der sich nicht nur die Regierungen und die Wirtschaft zu beteiligen haben, sondern in wachsendem Maße auch die Nutzer. ({4}) Denn es ist wahr: Wir brauchen technische Lösungen, aber wir brauchen auch einen Bewusstseinswandel. Ich werbe dafür - da bin ich mir auch einig mit meinen Vorrednern -, dass diese Probleme natürlich auch eine Beteiligung und eine Vorsicht der Nutzer erfordern. Man muss diese Briefe oder Mails nicht öffnen. Deswegen eine Aktion „Safer surf“ über alle Parteigrenzen hinweg, über nationale Grenzen hinweg. Das ist das Gebot der Stunde. Wir sind bereit, hieran mitzuwirken. Vielen Dank. ({5}) - Die Inder auch.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als das Internet noch eine Spielwiese war für ein paar abgedrehte Freaks, auch „Cyber Punks“ genannt, kümmerte sich eigentlich kaum jemand um die Sicherheit der Daten im Netz. ({0}) - Kaum jemand, Kollege Tauss. - Ob Datenmaterial authentisch und Anwendungen angriffssicher waren, das interessierte zumindest hier im Hause - natürlich bis auf den Kollegen Tauss - kaum jemanden. Erst seitdem das Internet nicht mehr nur als freier Kommunikationsraum genutzt wird, sondern vor allem als elektronischer Markt, also erst seit es ein großes kommerzielles und wirtschaftliches Interesse gibt, sorgen sich Fachleute natürlich auch um die Sicherheit im Netz. Es ist kein Zufall, dass die Experten auf diesem Gebiet vor allem im Wirtschaftsministerium angesiedelt sind. ({1}) Es war auch das Wirtschaftsministerium, das sich schon zu CDU-Zeiten, aber auch danach für die uneingeschränkte Verschlüsselung von Daten stark gemacht hat. Ich unterstelle: nicht unbedingt aus demokratischem Interesse an einer privaten Kommunikation, sondern natürlich aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. ({2}) Der sichere Datenfluss im Internet ist schließlich die Voraussetzung für die Abwicklung elektronischer Geldgeschäfte und insofern treffen sich natürlich hier berechtigte Interessen der Wirtschaft mit den Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Ähnlich verhält es sich mit Hacker-Angriffen, ServerAttacken und E-Mail-Viren. Derartige Störungen beeinträchtigen sowohl den Geschäftsverkehr als auch die Kommunikation und den Informationsaustausch. Es ist daher meines Erachtens richtig, wenn Maßnahmen ergriffen werden, das Netz gegen solche Angriffe resistent zu machen. Es geht dabei aber vor allem um technische Weiterentwicklungen auf diesem Gebiet. Es täte der deutschen Wirtschaft - wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen - recht gut, diese technischen Weiterentwicklungen mit zu verfolgen. ({3}) Die Verfolgung der Täter ist eine andere Sache. Solange es Schwachpunkte und Angriffpunkte bei der Sicherheit im Internet geben wird, wird immer wieder irgendjemand irgendwo auf dieser großen Welt versuchen, diese Sicherheitslücken auch auszunutzen, sie aufzudecken. Manchmal muss man diesen Menschen nahezu dankbar sein, weil sie genau diese Schwachpunkte im Netz aufdecken. Ich darf daran erinnern, dass die einstmals bösen Buben des hier schon angesprochenen Chaos Computer Club heute unter anderen zu den Beratern der Bundesregierung gehören. Auch die Bundesregierung setzt sich also damit auseinander. Im Moment haben alle Angst vor Virenangriffen per E-Mail. Wer häufig im Internet ist, weiß natürlich, dass es um ein Vielfaches mehr an Virenwarnungen gibt, als es tatsächlich Viren im Netz gibt. Der „I love you“-Virus ist dabei natürlich eine ziemlich gefährliche und auch absolute Ausnahme, die uns in den letzten Tagen sehr erschüttert hat. Klar ist auch: Ob falsche oder echte Virenwarnung, davor muss man sich schützen. Ich hoffe, dass die Expertinnen und Experten beim BSI gute Ideen für effektive Schutzmaßnahmen entwickeln. Diese Aufgabe kommt natürlich auch der Industrie zu. Virenangriffe sind ein ernst zu nehmendes Problem. Dennoch möchte ich noch zwei oder drei andere Faktoren ansprechen, die das Vertrauen der Menschen in die Internettechnologie meines Erachtens auch - zu Recht - beeinträchtigen, zum Beispiel die Datenrückverfolgung, die jetzt eingesetzt wird, um den Virusverschickern auf die Schliche zu kommen. Für die Sicherheitsbehörden ist diese Rückverfolgung der Datenspur natürlich hilfreich. Für den normalen Anwender kommen Fragen hinsichtlich der Anonymität im Netz auf. Es existiert eine permanente Verunsicherung. Darüber hinaus sind die Verschlüsselungsprogramme heute oft etwas für Spezialisten. Es gibt in der Gesellschaft ein extrem starkes Gefälle zwischen den Menschen, die an ihrem Rechner ohne jedes vernünftige Virenschutzprogramm arbeiten, und denjenigen Sicherheitseliten, die immer den aktuellsten Schutz aufbieten können. Auch gegen dieses Gefälle muss man etwas tun. Ein anderer Aspekt. Ich habe mich in der letzten Zeit sehr intensiv mit dem Internet im Zusammenhang mit Menschen mit eingeschränkter Mobilität oder auch Seniorinnen und Senioren beschäftigt. Wenn Sie sich die Qualifizierungsangebote auf diesem Gebiet, die so langsam in Tritt kommen, ansehen, stellen Sie fest, dass vielfach vermittelt wird, wie man das Internet einsetzen kann, wie man es nutzen kann, welche Chancen es bietet. Aber eine solche Bildung vermittelt zurzeit nichts über die Risiken. Darüber wird häufig nicht gesprochen. Ich denke, dass das keine wirkliche Vermittlung von Kompetenz im Umgang mit dem Internet ist, sondern dass es da um gesellschaftliche Gruppen geht, die als potenzielle Konsumentinnen und Konsumenten infrage kommen. Ich glaube, dass man hier, wie es schon angesprochen worden ist, auch viel häufiger über die Risiken sprechen muss, statt dass nur über die Chancen und die Möglichkeiten der Verwendung gesprochen wird. Obwohl ich wirklich von den Partizipationsmöglichkeiten begeistert bin, die das Internet mit sich bringt, lehne ich zu diesem Zeitpunkt zum Beispiel VeranstaltunHans-Joachim Otto ({4}) gen wie Wahlen im Internet ab. Denn diese suggerieren eine Datensicherheit, die noch nicht vorhanden ist. Das geht in die falsche Richtung. Man sollte über die Datenunsicherheit reden. Deswegen geht es meines Erachtens nicht darum, ein größtmögliches Sicherheitsgefühl zu vermitteln, sondern es geht darum, den Nutzerinnen und Nutzern wirklich Sicherheit im Netz zu bieten. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hubertus Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Marquardt, es ist immer mein Schicksal, in solchen Debatten nach Ihnen zu sprechen. ({0}) - Das ist ein erfreuliches Schicksal. - Insofern erlaube ich mir auch jetzt, zu sagen, was uns in diesem Punkt unterscheidet. Natürlich gibt es Risiken; das ist gar keine Frage. Natürlich ist tatsächliche Sicherheit besser als irgendein Gefühl von Sicherheit. Nur, wer ständig vor allem über Risiken redet, baut gerade bei denjenigen eine Hemmschwelle auf, diese Techniken zu nutzen, von denen Sie gesprochen haben, beispielsweise auch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Lassen Sie mich etwas zu dem Problem sagen. Die Zahlen sind genannt. Laut „Tagesspiegel“ - dem wir jetzt einfach einmal vertrauen - wurde durch das „I love you“Virus und viele andere Viren, die sich anders nennen, ein Schaden von bis zu 10 Milliarden US-Dollar angerichtet. Die Frage, die wir heute zu diskutieren haben, ist: Welche tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten haben wir als Politiker? Da gebe ich Ihnen, Herr Kollege Otto, vollkommen Recht - das liegt nicht an meinem neoliberalen Outfit heute, blau-gelb, ({1}) sondern das wussten wir auch vorher schon -, dass das nur in Kooperation mit der Wirtschaft geht - wie denn sonst? -, natürlich auch mit der Wissenschaft und mit privater Initiative; Chaos Computer Club ist genannt worden. Ich möchte aber drei Punkte bei den Handlungsmöglichkeiten in den Vordergrund stellen. Das Wichtigste ist, dass wir uns über Prävention unterhalten. Das ist der technische Kampf, den wir gegen die Viren aufzunehmen haben. Viren werden nie ganz auszuschließen sein. Eine Firewall - das werden wir als Bundestagsabgeordnete bei dem System, das wir verwenden, erleben - schafft allerdings nicht immer besonders viele Handlungsmöglichkeiten. Die Reden beispielsweise, die wir hier im Parlament halten, kann sich jeder draußen im Lande, der die entsprechende Software hat, auf seinem Rechner anschauen. Wir können das als Abgeordnete nicht, weil wir uns diese Software nicht auf den Rechner laden können. Das ist die Kehrseite dieser Medaille. Aber da wird die technische Entwicklung auf dem Markt Lösungen präsentieren, die uns diesen Kampf erleichtern werden. Erst in zweiter Linie - das ist auch notwendig - ist über Strafverfolgung, über Sanktionen und gegebenenfalls auch über die Verschärfung von Sanktionen zu sprechen. Es geht nicht - es ist gut, dass wir diese Einschätzung heute alle teilen - um so etwas wie einen elektronischen Klingelstreich, sondern es geht tatsächlich um so etwas wie elektronische Briefbomben, die wirtschaftlichen Schaden anrichten, die vor allen Dingen in kleinen und mittelständischen Unternehmen, welche 60 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland stellen, nachhaltigen Schaden anrichten. Deshalb geht es neben Prävention und neben Strafverfolgung auch um die Frage der Versicherung, also der Nachsorge in dem Bereich. Ich bin froh und dankbar, dass die Versicherungswirtschaft mittlerweile auch hier Angebote parat hält. Ich appelliere an dieser Stelle aber auch an die Wirtschaft, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen faire Konditionen auszuhandeln und die jetzige Situation nicht in der Form zu nutzen, angesichts des bestehenden Problemes Leute über den Tisch zu ziehen. Ich will das keinem unterstellen; aber ich halte das für einen wichtigen Punkt. ({2}) Meine Damen und Herren, über die Pluralität, über das Marktgeschehen von Betriebssystemen ist an dieser Stelle auch schon gesprochen worden. Ich unterstreiche das Gesagte. Es gibt bestimmte Systeme, zum Beispiel Linux oder Macintosh, die diese Virusprobleme nicht hatten. Aber 90 Prozent der Rechner auf der Welt laufen auf Microsoft- bzw. auf Windows-Basis. Das ist ganz einfach so. Es ist nicht nur ordnungspolitisch bedenklich, welches Maß an Konzentration es in diesem Bereich gibt - die amerikanische Regierung hat das deutlich gemacht, sie muss natürlich gegebenenfalls mit Mitteln des Kartellrechts diese Dinge regeln -, sondern es ist auch aufgrund der Angreifbarkeit des Systems, was Viren betrifft, bedenklich. Nun können wir eines nicht tun, nämlich als Politiker zu versuchen, Unternehmen zu zwingen, bestimme Betriebssysteme für ihre Arbeit heranzuziehen und andere nicht. Natürlich gibt es Ansprüche im Hinblick auf Konvergenz und Kompatibilität, die man politisch nicht verordnen kann, die sich vielmehr technisch ergeben. Trotzdem müssen wir auf die bestehende Gefahr hinweisen und in letzter Konsequenz ordnungspolitisch intervenieren, wenn sich ein Marktversagen, das technisch bedrohlich ist, in diesem Bereich durch eine Monopolbildung abzeichnet. Zum Schluss: Zum Internet gehört die Offenheit, gehört die Möglichkeit, die individuellen Freiheiten weiter auszubauen. Wir haben uns in diesem Hause - zumindest verbal und zunehmend auch in Regelungsform darauf verständigt, diesem Ganzen einen sicheren Ordnungsrahmen zu geben. Die Bundesregierung handelt. Der Bundesinnenminister hat schon letztes Jahr eine entsprechende Initiative ergriffen. Frau Kollegin Bonitz, ich gestatte mir den Hinweis darauf: Das Spielchen in Aktuellen Stunden - „Ihr habt noch nicht“ und unsere Antwort darauf: „Ihr früher aber erst recht nicht“ - mag ich eigentlich nicht. Aber wenn Sie damit beginnen, muss ich es fortführen und sagen: Was haben Sie denn früher in dieser Angelegenheit getan? Da gab es nur Absichtserklärungen. Jetzt müssen wir ein konkretes Problem lösen. Helfen Sie uns lieber, anstatt in die Vergangenheit zu schauen. Wie gesagt, die Bundesregierung handelt. Die SPDBundestagsfraktion bzw. die Koalitionspartner unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen. Ich denke, nur so gelingt es, dieser Geißel im System Abhilfe zu schaffen. Wir setzen auf Kooperation. Ich bin froh, dass sich in diesem Hause trotz mancher Spielereien zumindest in dieser Frage so etwas wie ein Konsens abzeichnet. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Martin Mayer.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Computervirus „I love you“ hat verheerende Schäden angerichtet. Jetzt geht es zum einen um die Begrenzung dieser Schäden. Zum anderen aber geht es um die Frage: Wie können solche Schäden künftig vermieden werden? Vor allem geht es um die Frage: Welches Ausmaß an Gefährdung besteht für die Allgemeinheit? Es geht ja nicht nur darum, dass Einzelpersonen und Unternehmen geschädigt worden sind, sondern dass für die gesamte Volkswirtschaft und letztlich für den Staat eine Bedrohung besteht. Seit der Debatte um das Jahr-2000-Computerproblem weiß doch jedes Kind, wie sehr wir in all unseren Alltagsdingen vom Computer und vom Netz abhängen und welche außergewöhnliche Bedeutung der Sicherheit von Informations- und Kommunikationsanlagen zukommt. Wenn jetzt Einzeltäter mit einem Computervirus enorme Schäden anrichten können, dann ist zu fragen, um wieviel größer die Gefährdung ist, wenn sich organisierte Verbrecherbanden oder gar verbrecherische Regime dieses Themas annehmen. Da muss man schon die Frage stellen: Was tut eigentlich die Bundesregierung, um dieser umfassenden Bedrohung zu begegnen? ({0}) Wo ist der strategische Ansatz? In ihrem Aktionsprogramm zur Informationsgesellschaft, das 140 Seiten umfasst, widmet sie dem Thema Sicherheit knapp vier. ({1}) Der Bundesinnenminister hat den Bericht der Arbeitsgruppe KRITIS, die meiner Erinnerung nach noch vom früheren Bundesinnenminister Kanther eingerichtet worden ist, zum Thema kritische Infrastrukturen entgegengenommen. Mehr nicht! Was denkt eigentlich der Bundesverteidigungsminister in dieser Frage, die sehr viel mit äußerer Sicherheit zu tun hat? Er schweigt. ({2}) Hat er noch nicht gehört, dass sich in den USA Heerscharen von Wissenschaftlern mit dem Thema Informationskrieg befassen? Und wo ist insgesamt eine angemessene Sicherheitsforschung? Wo ist eine grundlegende strukturierte Bedrohungs- und Sicherheitsanalyse mit einer Prioritätenliste? ({3}) Als es in den 60er- und 70er-Jahren darum ging, das große Risiko, das mit der Nutzung der Kernenergie verbunden ist, in den Griff zu bekommen und zu minimieren, wurden in Deutschland drei große Forschungseinrichtungen mit Tausenden von Wissenschaftlern gegründet. Wo gibt es Vergleichbares angesichts der großen Herausforderung in der Informationstechnik? Statt sich dieses Themas anzunehmen, beschäftigt sich die Bundesforschungsministerin mit der Zerschlagung der einzigen Organisation, die in der Lage wäre, sich eines solchen Themas anzunehmen, nämlich der GMD. ({4}) Sie sollte mehr darüber nachdenken, wie ein strategischer Ansatz gefunden werden kann, den Gefahren für Computer und Netz, die letztlich den Lebensnerv unserer Gesellschaft bedrohen, zu begegnen. Und wo bleiben die wirksamen Maßnahmen der Regierung, um endlich zu einer Offenlegung der Quellcodes der Software zu kommen? Der „I love you“-Virus hätte sich möglicherweise auch bei einer freien Software verbreitet. Aber die Maßnahmen, dem zu begegnen, wären wirksamer gewesen. ({5}) Es ist ja kein Zufall, dass sich dieser Virus in dem geheim gehaltenen Outlook so verbreitet hat. Wo bleiben die Aktivitäten der Bundesregierung, um beispielsweise dem offenen Betriebssystem Linux zum Durchbruch zu verhelfen? ({6}) Es gibt noch etwas Unglaubliches. Da beschäftigen sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon zwei Tage lang mit dem Weg Europas in die Informationsgesellschaft und mit allgemeinen Sicherheitsfragen. Der Herr Bundeskanzler hat darüber am 6. April im Plenum berichtet. ({7}) Aber das Thema „Sicherheit von Computern und Netzen“ kommt in der Schlusserklärung der EU und in der Rede des Bundeskanzlers nicht einmal in einem Nebensatz vor. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren. ({8}) Die Bundesregierung wird daher aufgefordert, dem Thema „Schutz von Computern und Netzen vor Angriffen von innen und außen“ endlich die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken und umgehend zu handeln: Als Erstes muss ein verantwortlicher Minister benannt werden, der eine umfassende Zuständigkeit hat, damit dieses Thema nicht im Gerangel der Ressorts zerrieben wird. Dann muss die systematische Forschung und die generelle Offenlegung der Software folgen. Und schließlich muss die Sicherheit von Computern und Netzen zu einem europäischen Thema ersten Ranges gemacht werden. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Matthias Berninger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bisher hatte, so finde ich, diese Debatte einen sehr guten Zug; denn wir hatten eine sehr breite Einigkeit darüber, dass es sich sowohl bei diesem Virus als auch bei anderen Viren, die die Sicherheit im Netz gefährden, um ein Problem handelt, für das wir alle gemeinsam nach Lösungen suchen müssen und bei dem wir schlecht in Schuldzuweisungen verfallen können. Der Kollege Mayer ist da einen etwas anderen Weg gegangen. Das bedaure ich ein bisschen, zumal er sich nach der Erledigung seiner Hausaufgaben fragen lassen muss. Ich halte das, was Sie zum Thema Monopolbildung und Quellcodes und über Microsoft gesagt haben, für sehr löblich. Nun muss man wissen, dass das Thema Microsoft insbesondere von der Bayerischen Staatskanzlei besonders nett behandelt wird. Es gibt nämlich keinen Ministerpräsidenten, der so am Monopolisten hängt wie Ministerpräsident Stoiber. ({0}) Das ist ein Problem, über das man hier auch einmal offen reden muss. ({1}) Wir reden auch von der Neuordnung der Forschungslandschaft. Sie haben gesagt, dass die GMD zerschlagen werden soll. Damit betreiben Sie natürlich Panikmache; denn darum geht es gar nicht. Es geht darum, im Bereich der neuen Medien effiziente Forschungsstrukturen zu schaffen. Durch die Zusammenlegung von FraunhoferGesellschaft und GMD erhalten wir die größte Forschungseinrichtung im Bereich der Informationstechnologie in ganz Europa. ({2}) Ich halte das für einen guten Weg. Inhaltlich ist das auch von Ihrer Fraktion bisher nicht kritisiert worden. Herr Kollege Mayer, damit wir uns wieder vertragen: Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen, nämlich die Tagung der Staats- und Regierungschefs der EU in Lissabon, wo mit dem Thema „E-Europe“ ein wichtiger Schritt nach vorne erreicht worden ist. Die Staats- und Regierungschefs haben nämlich erklärt, dass ihnen dies sehr wichtig ist. Dabei war vor allen Dingen von E-Commerce und Zugang die Rede; ({3}) die Sicherheit spielte für alle Beteiligten nicht die entscheidende Rolle. ({4}) Der Kollege Otto hat es angesprochen: Der „I love you“-Virus kann eine heilsame Funktion haben, nämlich insoweit, als man nicht in Euphorie verfällt, sondern das Thema Sicherheit ganz weit nach vorn schiebt und nicht nur krude über Inhalte redet. Wenn bisher über Sicherheit geredet wurde, wurde vor allem darüber geredet, welche Inhalte im Netz verbreitet werden; es wurde weniger über diese Form der systematischen Gefährdung gesprochen. ({5}) Ich denke, das wird sich ändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher halten sich solche Gefährdungen noch in einem einigermaßen erträglichen Rahmen. Die Zahl, die für den Schaden genannt wurde, 10 Milliarden DM, hängt natürlich auch damit zusammen, dass in den wirtschaftlichen Schaden sehr viele das Wachstum bremsende Effekte eingerechnet werden. Ich bin froh darüber, dass die Schäden bisher nicht das Ausmaß zum Beispiel von Naturkatastrophen haben, bei denen die Leute ihre Häuser und Ähnliches verlieren. Das kann zumindest ein wenig beruhigen. Insofern sollte man die Schadenssummen auch relativieren. Nur, wir sind auf dem Weg dorthin, dass die Medien miteinander verschmelzen. UMTS ist ein wichtiges Stichwort. Alle reden davon, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch bald sehr viel Geld einnehmen kann. ({6}) UMTS steht auch dafür, dass die Medien, verschiedene Anwendungen, etwa Internet und Handy - wahrscheinlich wird sogar bald der Kühlschrank versuchen, mit mir zu sprechen -, miteinander verschmelzen werden. In dem Moment, in dem das passiert, werden die Anfälligkeit und das Risiko erst richtig groß. Das unterstreicht eines: Die Dr. Martin Mayer ({7}) Politik hat mehrere Aufgaben. Die Politik hat die Aufgabe, den Zugang zu sichern. ({8}) Hier tut die Bundesregierung sehr viel; auch die Telekom und andere Unternehmen sind bereit, hier etwas zu tun. Ich bin der Meinung, dass man nicht auf einen Monopolisten setzen darf, sondern auch den anderen eine Chance geben sollte. Wir entwickeln Programme und Lernsoftware, damit die Menschen lernen, mit dieser Technologie umzugehen. Dort stecken wir auch sehr viel Geld hinein. Das heißt, beim Thema Zugang sind wir aktiv. Der zweite Punkt ist die Sicherheit. Der Innenminister kann ebenso wenig wie irgendein anderes Kabinettsmitglied sagen: „Ich kann allein für die Sicherheit sorgen“, sondern das ist ein globales Problem. Die Europäer müssen sich gemeinsam hinsetzen ({9}) und dürfen nicht den Amerikanern allein die Form der Sicherheitsphilosophie und der Standardsetzung überlassen. Denn anhand der Frage, welche Wege wir bei der Sicherheit gehen, entscheidet sich auch, wie das Internet von morgen aussehen wird. Ich erwarte hier, dass die Europäer mehr machen. In Lissabon ist in dieser Frage zu wenig geschehen; das muss man einfach auch einmal sagen. ({10}) Das kann man aber nicht einer Regierung vorwerfen. ({11}) Ein dritter Punkt betrifft die Vielfalt. Sie alle haben eine Einladung zu einer Tagung bekommen, auf der dann wieder der Monopolist in diesem Fall mit den Beamten gemeinsam über das Thema Neue Medien diskutiert, während die anderen Anbieter in den Hintergrund geraten. Ich wünsche mir, dass gerade die öffentliche Hand mit gutem Beispiel vorangeht. Wir haben andere Möglichkeiten; wir können auf andere Produkte setzen. Das sollten wir tun. Die Bundesregierung sollte auf europäischer Ebene darauf drängen, dass Microsoft aus den gleichen Gründen wie in den Vereinigten Staaten kartellrechtlich behandelt wird. Das ist dringend nötig, wenn man für Vielfalt sorgen will. Bei all diesen Themen können wir, denke ich, im Konsens vorankommen; wir wissen, dass da etwas passieren muss. Zu guter Letzt: Es gibt keine totale Sicherheit im Internet. Der Staat kann unheimlich viel tun und er sollte auch etwas tun. Aber diejenigen, die die E-Mails aufmachen, tragen die Hauptverantwortung. Es hat jemand, aus meiner Sicht zu Recht, gesagt: Wenn man eine E-Mail aufmacht, die unbekannt ist, dann ist das genauso, als würde man ein dreckiges Bonbon von der Straße aufheben und weiter lutschen. Nur, das Tückische ist eben, dass oft der Absender nicht unbekannt ist, sondern sich mit dem Absender irgendein bekannter Name verbindet. Die Menschen selber müssen die Verantwortung übernehmen. Hier gilt es, Aufklärung voranzutreiben, aber hier gilt es vor allem, die Unternehmen zu verpflichten, dass sie in ihren Programmen entsprechende Warnroutinen einbauen. Auch hier, denke ich, muss einiges getan werden. Insgesamt glaube ich wie der Kollege Otto, dass der „I love you“-Virus letzten Endes heilsam sein kann und das Immunsystem des Internet am Ende durch die Gegenmaßnahmen gestärkt wird, wenn sie schnell und konzertiert auf allen Ebenen ergriffen werden. Vielen Dank. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße sehr, dass wir heute die Gelegenheit haben, über ein sehr ernsthaftes Problem zu reden. Ich habe mich gerade noch einmal mit unserem Oberexperten, Herrn Tauss, verständigt, ob denn die durch das neuerliche Virus entstandene Schadenssumme von 10 Milliarden DM realistisch ist. Ich denke, darüber sollte man auch gar nicht streiten. Vielmehr muss man erkennen, dass es sich um eine ganz ernsthafte Herausforderung handelt. Ich hoffe, wir begreifen alle diese Zeichen an der Wand. Das Internet ist eine Innovation, deren Stellenwert wir in seiner ganzen Tragweite eigentlich nicht wirklich ermessen können. Vergleiche hinken immer; aber es ist sicherlich so wichtig wie vor 500 Jahren die Einführung der Buchdruckerkunst - eine völlig neue Kulturtechnik, die uns alle ergreift und menschlich verändert, ein riesiger Beitrag zur Ökonomie, ein Geschäft mit Folgen, die wir alle noch gar nicht richtig abschätzen können. Es gibt große Chancen, aber auch Risiken. Wir reden heute weniger über die Chancen als vielmehr über die Risiken. Die sind sehr ernst. Ich denke, wir sollten diesen „I love you“-Virus als letzte Mahnung begreifen, dass wir nicht tatenlos zusehen dürfen, was sich neben den Chancen an Risiken entwickelt. Wir werden heute auch den einen oder anderen Beitrag zu Computerkriminalität, zu Internetkriminalität hören. Ich will das überhaupt nicht gering schätzen, was hier an Straftaten begangen worden ist, und bin natürlich entschieden dafür, dass wir Lücken - insbesondere im internationalen Strafrecht - schließen. Ich glaube, auf nationaler Ebene ist das im Wesentlichen alles in Ordnung; da haben wir keinen Nachholbedarf. Aber ich muss Ihnen ganz freimütig sagen: Es interessiert mich nicht so sehr - ich bitte, das nicht misszuverstehen -, in Manila oder sonst wo auf der Welt jemanden als Hacker zu entlarven und ihn zu bestrafen, auch nicht bei einer Schadenssumme von 10 Milliarden DM. Mich interessiert, dass Sicherheit im Netz geschaffen wird, ({0}) dass der Verbraucher nachhaltig geschützt ist. Da will ich Ihnen deutlich sagen: Die Bundesregierung verdient Unterstützung dabei, diesen Weg konsequent weiter zu beschreiten. ({1}) Herr Otto, hören Sie mir bitte zu! ({2}) Es geht doch letzten Endes darum, dass nicht der Staat diese Sicherheit zu schaffen hat, ({3}) sondern das eine Bringschuld der Wirtschaft ist. Sie muss das Netz sicher machen. ({4}) - Sicherlich, Herr Mayer, nicht ganz alleine. Insofern gibt es die politische Verantwortung. Aber die Bundesregierung ist dieser Herausforderung nicht nur gewachsen, sondern kommt ihr auch nach. Trotzdem: Der Akzent liegt auf der Wirtschaft. Diejenigen, die mit dem Internet große Geschäfte machen - das sollen sie ja auch tun -, sollen bitte auch die Technik, die sie anwenden und einbringen, sicher machen. ({5}) Wer ein Auto in Verkehr bringt, muss es sicher machen. Das richtet sich nicht an die Justizministerin und den Innenminister, sondern an den Produzenten. ({6}) Ich will auch überhaupt niemanden vorführen. Ich möchte, Herr Otto, dass dort Geschäfte gemacht werden. - Ich rede gerade mit Ihnen, Herr Otto. ({7}) - Ich kommuniziere mit Ihnen und anderen. Es geht darum zu sehen: Wer muss wo Verantwortung wahrnehmen? Ich sage: Es gibt eine Bringschuld der Wirtschaft. Das ist keine Frage von neuen oder schärferen Gesetzen. Ich bitte darum, dass die Bundesregierung weiter den Weg verfolgt, sich mit der Wirtschaft zusammenzusetzen. Nach Möglichkeit sollte dies freiwillig geschehen; wenn es nicht geht, national wie international auch per Gesetz. Aber ich hoffe, es geht im Rahmen von Vereinbarungen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen, das sehr kühn klingen mag - Vergleiche hinken immer; ich bitte also um Nachsicht, wenn sich das nicht gleich auf Anhieb erschließt -: Wir haben vor Jahren besonders große Probleme mit dem Autodiebstahl gehabt. Was haben wir gemacht? Aus der Opposition heraus haben wir unter anderem Wegfahrsperren veranlasst ({8}) - die Koalition hat das mit aufgegriffen - und die Industrie hat das trotz einiger Probleme umgesetzt. So sind technologische Entwicklungen ermöglicht worden. Wenn ich heute mit meinem Auto losfahren will, tippe ich vier Zahlen ein und dann - aber auch erst dann - geht es los. Anhand dieses simplen Beispiels müssen wir uns doch einmal überlegen, wie auch im Bereich der Computertechnik, der Internetwirtschaft die Systeme sicher werden können. Die Wirtschaft muss ein sicheres Betriebssystem anbieten. Es wird niemals 150-prozentige Sicherheit geben. Aber es gibt eine 98-prozentige Sicherheit. Das muss die Wirtschaft leisten, insbesondere diejenigen - wir wissen alle worum es geht -, die einen großen Marktanteil haben. Diese müssen in Zukunft wesentlich stärker auf Sicherheitsstandards achten. Es geht nicht in erster Linie um Fragen von Strafbarkeit, sondern es wird in Zukunft darum gehen, dass ganze Teilbereiche unseres gesellschaftlichen Lebens durch solche Attacken auf Rechner möglicherweise lahm gelegt werden können.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Wiefelspütz, ich muss Sie an die Zeit erinnern.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Ende. - Es geht darum, die Wirtschaft aufzufordern durchaus mit einer gewissen Führung der Politik -, die Sicherheit des internationalen Datennetzes zu gewährleisten. Das ist eine Bringschuld der Wirtschaft. Diese einzufordern werden wir nicht müde werden. Das sind leistbare Dinge, übrigens auch im Interesse der Wirtschaft und durchaus mit der Möglichkeit verbunden, weitere Technologien zu entwickeln. Das ist eine Riesenchance im Interesse aller Verbraucher und aller Bürger. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Elmar Müller.

Elmar Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meinem Alter bekommt man nicht mehr viele Liebesbriefe. ({0}) Ich bin auch nicht sicher, was ich gemacht hätte, wenn ich eine E-Mail mit dieser Überschrift erhalten hätte. ({1}) Wir unterhalten uns heute über Viren im Internet. Wir tun aber gut daran, hier die ganze Bandbreite der Möglichkeiten, die wir durch das Internet erreichen können, zu betrachten. Es geht dort nicht nur um Viren. Wir haben Gelegenheit gehabt, uns über Hackertätigkeiten zu unterhalten. Wir sehen und erleben die Möglichkeiten, Systeme, vor allem im Zusammenhang mit der Spionage, auch im sozialen Bereich zu verändern. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn Hacker ein Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland manipulieren würden. Dies wäre möglich und kann nicht ausgeschlossen werden. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn Verkehrssysteme manipuliert würden, wodurch der Deutsche nicht mehr die Möglichkeit hätte, auf kontrollierte und geordnete Ampelfunktionen zurückzugreifen. All diese Dinge müssen betrachtet werden. Keiner hat die Möglichkeit, Schuldzuweisungen zu verteilen. Das ist eine Entwicklung, bei der wir in der Tat alle gefordert sind, vor allem die Regierung. ({2}) Frau Vogt hat vorhin gesagt, von der alten Regierung seien diese Fragen vernachlässigt worden. Ich erlebe jedoch, dass die Ministerien gerade jetzt besonders aktiv werden. Der Wirtschaftsminister lädt am Montag aus diesem Anlass Verbände und Wissenschaft ein und auch der Innenminister ist in dieser Sache tätig. Wenn das Problem im Oktober 1998 schon erkannt worden wäre, hätte man die Diskussion damals geführt. Aber es benötigt diesen konkreten Anlass. Sicherlich kann man nicht behaupten, dass die Probleme durch die Mikroelektronik und die globale Vernetzung geringer geworden wären. Sie weiten sich vielmehr im Grunde genommen jeden Tag aus und keiner ist vor diesen Angriffen gefeit. Die klassischen Verteidigungsmethoden der Aufklärung und Frühwarnung funktionieren in diesem System nicht. Der Vorwurf, den ich der Regierung mache das ist etwas, was die damals zuständigen Postpolitiker, auf Ihrer Seite der Kollege Bury, 1998 erkannt und sich auch gegenseitig versprochen haben -, besteht darin, dass sie damals gesagt hat: Es muss gelingen, die Verantwortlichkeiten in diesem Bereich zusammenzuführen, egal, welche Regierung nach dem September 1998 tätig ist. Es hat sich aber leider nichts geändert. Es gibt Zuständigkeiten im Innen-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Wissenschaftsministerium. Es ist eine wichtige Aufgabe, die Dinge mehr zusammenzuführen und zu bündeln sowie die Verantwortlichkeiten nicht durch dezentrale Zuständigkeiten, sondern durch eine gebündelte Zuständigkeit zu ordnen. Die Gefahren werden, wie wir gesehen haben, immer größer. Die Aufgaben müssen also gebündelt werden. Welcher politischer Handlungsbedarf besteht nun? Der Kollege Mayer und meine Kollegin Bonitz haben schon einiges genannt. Die politischen Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden. Man mag über Microsoft schimpfen, wie man will, aber am Ende muss schon als eines der Ziele genannt werden, dass wir gewisse Standards erhalten. Dazu haben wir auch auf europäischer Ebene durchaus Möglichkeiten. Die ECI in Nizza ist eine dieser Einrichtungen, in denen staatliche und wirtschaftliche Organisationen seit vielen Jahren erfolgreich bei der Standardisierung zusammenarbeiten. Das zeigt, dass Standardisierung auch in diesem Bereich möglich ist. Der Aufbau so genannter redundanter und robuster Teilstrukturen, die auch bestimme Bereiche des Staates, der staatlichen Vorsorge und der staatlichen Organisation schützen, muss möglich sein. Es muss möglich sein, dass bestimmte Dinge auch im Notfall - es ist nicht ausgeschlossen, dass ein solcher in größerem Umfang eintritt und anschließend funktionieren und funktionsfähig bleiben. So muss zum Beispiel die Integration der gesetzlichen Daten- und Informationssicherheit in den Schutz der öffentlichen Energie- , Rohstoff- und Güterversorgung, des Transports und Verkehrs sowie des Katastrophenschutzes geregelt sein. Diese Teilbereiche müssen notfalls auch durch Zweitsysteme gesichert werden. Wir brauchen ein internationales Regelungsregime. Das wurde bereits angesprochen. Dies ist notwendig. Dazu zählen sicherlich auch die Treffen der europäischen Regierungschefs. Aber daran sollten alle beteiligt sein, und zwar jeder in seinem Bereich. Am Schluss - das muss auch noch einmal festgehalten werden; Herr Kollege Wilhelm, Sie haben es vorhin genannt - ist dann auch jeder Einzelne verantwortlich. Darauf muss man in diesem Zusammenhang auch hinweisen. ({3}) - Er muss in die Lage versetzt werden. Aber er muss auch seine eigene Verantwortung hinsichtlich der Anreize im Internet erkennen. Er muss sich in seinem eigenen Interesse in der Nutzung des Internet üben und notfalls selbst zum Beispiel die Gefahren beim Öffnen einer E-Mail erkennen und diese abwehren. Ich bedanke mich herzlich. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf, das Wort.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den 60er-Jahren hat es einmal folgenden Satz gegeben: „Trau keinem über 30!“ Manche werden sich an diesen Satz noch erinnern. ({0}) - Ja, da hinten erkenne ich einen. Das Internet ist jetzt 30 Jahre alt. Am Anfang war es sehr stark Pentagon-orientiert, und dann konzentrierte es sich auf die Hardware. Danach kam die Phase der Software. Dann kamen die Betriebssysteme, und jetzt kommen wir in eine neue Phase, die sich mit Inhalten, mit „content“, beschäftigt. Das Internet hat sich sehr stark verbreitet. Es ist zu einer der wichtigsten Infrastrukturen der digitalen Ökonomie geworden. Natürlich gibt es dabei auch kritische Infrastrukturen. Es gibt Achillesfersen. Es gibt Bereiche, die empfindlich sind. Es gibt in einer solchen globalen Weltwirtschaft, in einer solchen globaElmar Müller ({1}) len Infrastruktur vor allen Dingen auch den Bedarf - das ist ganz klar zu erkennen -, dass die Regeln gelten, die wir uns in einem rechtsstaatlichen historischen Prozess selber erarbeitet haben. Bis in die 80er-Jahre hinein gab es eine ganze Reihe von Freaks - hier denke ich etwa an John Perry Barlow oder andere -, die die These vertreten haben: Der Cyberspace ist ein neues Hoheitsgebiet; darin hat der Staat nichts zu suchen. Diese These ist natürlich grundfalsch. Das ist völlig klar. Bei der Verbreitung und dem Einsatz des Internets muss online das Gleiche gelten wie offline. Deswegen sind wir dabei, auf vielen Sektoren entsprechende Gesetzesanpassungen vorzunehmen, Novellierungen zu machen und auch neue Rahmen zu finden. Wenn wir mit dem Netz einen globalen Infrastrukturrahmen haben, braucht man dazu auch einen entsprechenden Ordnungsrahmen. Das ist übrigens der Punkt, bei dem wir - Herr Mayer weiß das sehr genau aus der Arbeit der Enquete-Kommission - erheblich vorangekommen sind. Das muss man klar sagen. Ich kann mich noch gut an die Diskussionen in den letzten Jahren erinnern. Damals hieß der Innenminister Kanther. Wir hatten einen heftigen Streit, weil Herr Kanther auf gar keinen Fall eine Verschlüsselung erlauben wollte und gesagt hat: Wenn Verschlüsselung, dann nur mit der Hinterlegung des Schlüssels, denn sonst können das auch die Kriminellen nutzen. ({2}) Ich meine, es gab da eine sehr interessante Diskussion, eine sehr interessante Front. Ich habe auch damals immer gesagt: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass irgendein Krimineller bei Ihnen, Herr Kanther, einen Schlüssel hinterlegt. ({3}) - Das hat er nicht verstanden. Das waren irgendwie alte Antworten. ({4}) Nun, das war die Zeit, als wir noch nicht wussten, dass er sehr viel mit Liechtenstein zu tun hatte. Es war aber offensichtlich so, dass die Frage nicht verstanden wurde. Man gab alte Antworten auf neue Herausforderungen, auf neue Probleme, und das dürfen wir nicht tun, wobei diejenigen, die Fachkundigen, die heute hier geredet haben, das natürlich genau wissen. Deshalb müssen wir neue Antworten finden. Es gibt folgende neue Antworten: Erstens. Wir brauchen konkrete Schritte der Umsetzung auch im Ordnungsrahmen. Ich teile übrigens die Auffassung von Herrn Wiefelspütz. Es ist zunächst die Wirtschaft gefordert. Übrigens, Herr Wiefelspütz, die Wirtschaft hat ein elementares Interesse daran, denn sie möchte ja, dass das verbreitet wird. Deshalb ist auch im Moment in Redmond, da, wo Microsoft zu Hause ist, die Nervosität eindeutig am größten. ({5}) - Ja, zu Recht, denn die wissen ganz genau, worum es geht. Jetzt werden sie ein neues Angebot machen. Es gibt schon ein neues Windows-Konzept, ME, an dem sie arbeiten. Daran sieht man aber nur, dass das richtig ist: Die Wirtschaft ist gefordert, den Konsumenten, den Verbrauchern, denjenigen, die diese Systeme nutzen, auch handhabbare und vernünftige Systeme anzubieten. Das ist eine ganz klare Forderung. ({6}) Zweitens. Es ist auch ganz klar, dass natürlich zu dieser Form von Gesellschaft, die wir Informations- oder Wissensgesellschaft nennen, auch ein aufgeklärter Bürger, ein informierter, ein medienkompetenter Bürger gehört, der mit diesen Systemen umgehen kann. Das ist ganz wichtig. Wer glaubt, dass Informationsgesellschaft schon automatisch mit informierter Gesellschaft gleichzusetzen ist, der irrt sich. Wir brauchen schon Medienkompetenz; wir brauchen - übrigens noch darüber hinausgehend - auch so etwas wie eine umfassende Bildung, um mit solchen Medien umgehen zu können, denn wir leiden ja nicht unter dem schwierigen Problem des Zugangs zu Informationen. Das war früher einmal ein Problem; heute leiden wir darunter, dass es einen Überfluss an Informationen gibt, weshalb wir die Informationen einordnen und bewerten müssen. Drittens. Es ist klar, wir brauchen einen Ordnungsrahmen, der den Staat handlungsfähig macht. Wir haben übrigens in unserer Regierungszeit, unmittelbar nach deren Beginn, in einem schwierigen Diskussionsprozess für Europa eine digitale Signaturrichtlinie zustande gebracht, eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Internet. Das war nicht einfach, weil die Südländer andere Ordnungsvorstellungen haben als die Skandinavier, die sehr angelsächsisch orientiert und auch sehr viel weiter waren. Wir haben einen Kompromiss für eine digitale Signatur in Europa insgesamt gefunden. Wir haben einen sehr schnellen Prozess mit dem Bundesinnenminister organisiert, um Eckpunkte für Kryptographie zu verabschieden. Wenige Monate nach dem Regierungsantritt ist das ins Kabinett eingebracht worden. ({7}) Damit ist klar geworden, dass wir nicht den Weg der Amerikaner - und, wie ich eben geschildert habe, des alten Innenministers - gehen, sondern wir wollten Spielregeln haben, wir wollten Kryptographie zulassen, und das hat die Bundesregierung unmittelbar danach gemacht. ({8}) - Ja, es gab diese Eckpunkte noch nicht, Herr Otto. ({9}) - Nein, nein, das war genau der kontroverse Punkt. Herr Otto, das war der Punkt, den ich eben geschildert habe. Es gab in der alten Koalition so unterschiedliche Auffassungen, dass man sich gelähmt und nicht gehandelt hat. Es gab Wirtschaftspolitiker, die unsere Auffassung teilten. Die gab es, aber sie haben sich nicht durchsetzen können. Wir haben uns jetzt durchgesetzt, wir haben jetzt konkrete Entscheidungen getroffen. ({10}) - Kohl hat immer gehandelt, höre ich jetzt gerade. Wissen Sie, ich denke jetzt immer an Frau Merkel. Sie hat ja ein schweres Amt übernommen, und mir kommt das so vor, ({11}) als wenn Frau Merkel - sie ist jetzt neue Vorsitzende -, die jetzt auch pausenlos Love-Letters aus der CDU bekommt und von allen angestrahlt wird, ({12}) damit gleichzeitig wie durch diesen „I love you“-Virus erstickt wird. Ich weiß gar nicht, wie sie da herauskommen will. Das wird eine interessante Frage sein, ({13}) wie die neue Vorsitzende damit umgehen will. Es gibt also den dritten Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, und das ist der Ordnungsrahmen, den wir natürlich auch brauchen. ({14}) - Es ist ein „I love you“-Virus in der CDU ausgebrochen, und jeder, der das aufmacht, erstickt dann daran. Wir haben da natürlich auch konkrete Schritte unternommen. Wir haben übrigens - Herr Mayer weiß das noch - in der Enquete-Kommission auch über die Frage der Internetkompetenz der Strafverfolgungsbehörden geredet. Auch hier gibt es in den Ländern - das sage ich ganz klar dazu -, aber auch beim Bund große Anstrengungen, überhaupt einmal die Internetkompetenz herzustellen. Denn wie sollen die Strafverfolgungsbehörden überhaupt auf diesem Sektor agieren, wenn sie selber mit dem Medium gar nicht arbeiten? Da gibt es große Anstrengungen, auch des Bundesinnenministeriums, etwa in Bezug auf das BKA. Dort gibt es wichtige Fortschritte. Wenn wir all das machen und die Richtlinie zur Datensicherheit und die E-Commerce-Richtlinie entsprechend umsetzen, kommen wir ganz wesentlich voran. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Es wird immer gesagt: Das ist ein so wichtiges Feld, dafür brauchen wir einen zentralen Minister, einen Internet-Minister. ({15}) Wer so etwas fordert, versteht von der Sache nichts. Das Internet ist das dezentralste Medium, das es jemals gegeben hat. Darauf kann man nicht mit einem zentralen Minister antworten. Wir brauchen in allen Ressorts Fachkompetenz, Spezialisten. Wir brauchen in allen Ressorts Kenner und müssen dann die Zusammenarbeit der Ressorts organisieren. Nach meiner Meinung ist es eine völlig falsche Antwort, für ein dezentrales Medium eine neue Zentrale schaffen zu wollen. ({16}) - Die ist klar geregelt. Deshalb gibt es auch klare Entscheidungen. Wir haben jetzt den Bedarf, in einer sich global entwickelnden Weltwirtschaft, die auf der Plattform der globalen Infrastruktur des Internets arbeiten wird, globale Standards, globale Konventionen zu schaffen. Ich halte es für absurd, zu meinen, wir könnten allein etwas tun und anzunehmen, damit sei es dann gerichtet. Nein, wir brauchen die Partnerschaft der Wirtschaft. Deshalb machen wir Innovationspartnerschaften wie die Initiative D 21. Wir machen das Global Business Dialog Concept mit der Wirtschaft zusammen. Wir brauchen Medienkompetenz bei den Bürgern. Wir brauchen eine aufgeklärte Gesellschaft und einen handlungsfähigen, modernen Staat, der versucht, auf internationaler Ebene zu vernünftigen Konventionen zu kommen. Dann kann man damit fertig werden. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Norbert, wenn ich dir in einem Brief „I love you“ schreiben würde, dann gäbe das einen gesellschaftlichen Skandal. ({1}) Ich will heute versuchen, mit konventionellen Mitteln auf virtuelle Fragen zu reagieren. Leider ist es so, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass neue Medien die kriminelle Energie anreizen und herausfordern. Der „I love you“-Virus ist nicht der erste Virus dieser Art. Jeder hat in irgendeiner Art und Weise schon mit Viren in seinem Computer zu tun gehabt. Dies hat ganz offensichtlich auch die Opposition wach werden lassen, wie ich den Diskussionen entnehmen konnte. Wir sehen also, dass die heutige Aktuelle Stunde ihre Berechtigung hat. Wir haben als erste Regierung reagiert und etwas getan, während die Vorgängerregierung bisher nichts getan hat, ({2}) denn sonst hätte man sicher bessere Mittel zur Gegenwehr finden können. Wir sind die Ersten, die etwas unternehmen. Die bestehenden Gesetze reichen eigentlich schon aus, zumindest was das Inland angeht, um Hacker, die Viren in Umlauf bringen ({3}) - das, was ich gleich sagen will, hat übrigens schon Kaiser Wilhelm gemacht -, kräftig zur Kasse bitten zu können. Nach § 823 BGB können zivilrechtliche Forderungen geltend gemacht werden. Wir haben über die §§ 303, 303 a und 303 b StGB die Möglichkeit, strafrechtlich zu reagieren. Angesichts der negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen müssen wir natürlich auch im Vorfeld etwas unternehmen. Wir haben europaweit eine Arbeitsgruppe, die so genannte Cybercrime-Arbeitsgruppe, die im Entwurf einer Konvention vorsieht, die Strafbarkeit des unbefugten Zugangs zu Computersystemen zu verschärfen. Im deutschen Recht haben wir insoweit lediglich den § 202 a StGB, mit dem das strafbare Sichverschaffen von Daten geahndet wird. Der Schutzbereich dieser Norm wird also möglicherweise auszuweiten sein. Ich denke, dass wir das in Angriff nehmen werden. Eine Erweiterung des Schutzbereiches des § 303 b StGB, der die so genannte Computersabotage betrifft, auf den Schutz privater Computersysteme müssen wir überlegen. Es gibt eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates über den rechtlichen Schutz von Zugangskontrolldiensten vom 20. November 1998, mit der die gewerbliche Verbreitung von so genannten Cracking-Werkzeugen verhindert werden soll. Damit werden nicht nur die Hacker als Endtäter, sondern auch diejenigen, die aus kommerziellen Gründen derartigen Tätern das Werkzeug, also die Programme oder die Hardware, liefern, unter die Strafdrohung des Gesetzes gestellt. Nun nutzt allerdings die beste Strafvorschrift wenig, wenn der Täter nicht gefasst werden kann. ({4}) Das ist ungefähr genauso wie bei der Graffiti-Bekämpfung. ({5}) - Es ist doch gut; wir wissen doch, wo er ist. Deswegen haben die Innenminister und die Justizminister der G8-Staaten auf der Moskauer Konferenz 1999 eine Arbeitsgruppe mit der Entwicklung von Maßnahmen zur besseren Lokalisierung und Identifizierung von Straftätern im Internet beauftragt. Darauf hat auch unsere Bundesregierung maßgeblich hingewirkt. Der Bundesinnenminister wird nachher in seinen Ausführungen noch deutliche Hinweise auf den Ansatz der Bundesregierung in diesem Bereich geben. Lassen Sie mich zum Abschluss meiner fünfminütigen Rede noch ein paar Worte zu denjenigen verlieren, die sich durch das Verursachen von Schäden durch Virenprogramme produzieren. Für einen rechtschaffenen Menschen ist die geistige Haltung derer, die Schäden durch einen Computervirus hervorrufen, schwer nachvollziehbar. So lässt der Name des „I love you“-Virus auf Schizophrenie der Täter schließen, auf eine Verwirrung, auf die Unfähigkeit, sich konstruktiv im Leben zu verhalten, und auf die Negierung einer produktiven und positiven Teilnahme am Wirtschaftsleben. Diese kriminelle Energie - genau das ist der Punkt - könnte man auch anders einsetzen, nämlich positiv gestaltend. ({6}) - Dass Sie von Liebesbriefen nichts verstehen, habe ich gemerkt, als Sie eben geredet haben. Das möchte ich nur am Rande anmerken. Es ist für mich erschreckend, dass die Menschen, die solche Computerschäden verursachen, auf alles, was positiv und gut ist, mit Hass reagieren. Wir alle wissen, dass es sich hier um reine, blinde Zerstörungswut handelt. Ich möchte ein solches Verhalten zwar politisch nicht überbewerten, aber der Unterschied zu denjenigen, die mit Springerstiefeln und Naziparolen durch die Gegend ziehen, ist nicht sehr groß. Es gab einmal eine Zeit, in der in Deutschland Bücher verbrannt wurden. Nach meiner Meinung ist auch der Unterschied zwischen einer Bücherverbrennung und der Zerstörung von geistigem Eigentum durch Computerviren nicht sehr groß. Deswegen müssen wir ein solches Verhalten mit aller Macht verurteilen und es mit aller Macht zurückweisen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Internet ist seiner Art nach ein loser, nie ganz kontrollierbarer Verbund von Rechnern und seinem Wesen nach auf Offenheit und Freiheit angelegt. Das macht das Internet auch anfällig für solche Attacken und Schädigungen, wie wir sie in den letzten Monaten erlebt haben. Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir solche Schädigungen verhindern können. Diese Frage - da gebe ich Ihnen Recht betrifft sicherlich zunächst die Wirtschaft, insbesondere die Techniker. Hier muss geforscht werden und hier müssen Wege gefunden werden, mit denen die Hilflosigkeit und die Schutzlosigkeit des Internets in irgendeiner Weise verringert werden können. Es gibt ja schon Software, die Schutz bietet, die es ermöglicht, dass solche Angriffe, wie wir sie jetzt erlebt haben, zum großen Teil abgeblockt werden. Es müssen aber auch auf nationaler und internationaler Ebene Regelungen vereinbart werden, mit denen sich dann, wenn die Technik so weit ist, die technischen Möglichkeiten des Schutzes umsetzen lassen. Hier sind die Bundesregierung und - zweifellos - auch das Parlament gefordert. Wir müssen auch auf nationaler Ebene Regelungen erlassen und dürfen nicht achtlos beiseite stehen. Schließlich müssen die Computernutzer selber im präventiven Bereich besser als in der Vergangenheit informiert werden. Dies sollte wiederum durch die Hersteller, durch die Wirtschaft, durch den Staat und auch durch die Schulen geschehen. Es muss möglich sein, dass sich diejenigen Teile der Bevölkerung, die mit einem solchen Kommunikationsmittel umgehen, besser schützen können. „I love you“ hätte nicht diesen riesigen Erfolg gehabt, wenn es keine Nutzer gegeben hätte, die diese Information in ihrer Arglosigkeit aufgeschlüsselt hätten. Dieses Verhalten ist nach meiner Auffassung auf einen Mangel an Unterrichtung zurückzuführen. Wir müssen dafür sorgen, dass entsprechende Unterrichtungen der Computernutzer erfolgen. Ich teile die Bedenken derjenigen, die sagen, dass das Strafrecht auf diesem Gebiet wenig wirksam ist. Bei uns gibt es allerdings im strafrechtlichen Bereich seit dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität aus dem Jahre 1986 entsprechende Regelungen. Von der alten Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist sehr wohl und sehr frühzeitig erkannt worden, dass ein Kriminalitätsfeld entsteht, das entsprechend normiert werden muss. Bei uns sind die Computerstraftaten durch die §§ 202 a, 303 a und 303 b StGB tatbestandsmäßig erfasst. ({0}) Auch § 316 e StGB kommt hier als einschlägige Strafrechtsnorm in Betracht, lieber Herr Hartenbach, wenn durch die Beschädigung von Daten die Funktionsfähigkeit der Polizei oder der Feuerwehr beeinträchtigt wird. Der Versender dieses berühmten Briefes hat sich in Deutschland dadurch strafbar gemacht, dass er Schaden verursacht hat. Der Erfolg ist in Deutschland wie in vielen anderen Ländern eingetreten. Der Täter kann in Deutschland nach §§ 303 a und 303 b StGB bestraft werden. Er müsste mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Gefängnis rechnen. Ich meine, wir müssen uns angesichts der großen Bedrohung eines Teils unserer Freiheit - es geht um die Möglichkeit, über die Kontinente hinweg in Kontakt zu treten und zu kommunizieren - und angesichts des Schadens, der durch die Attacken über das Internet verursacht werden kann, Gedanken darüber machen, ob wir den Strafrahmen nicht höher ansetzen als diejenigen, die diese gesetzliche Regelung 1986 getroffen haben. Ein weiterer Mangel unseres Strafrechts scheint mir darin zu liegen, dass ein deutscher Täter, der eine solche Tat im Ausland begeht, dann nicht nach deutschem Recht bestraft werden kann, wenn Tat und Taterfolg keinen Bezug zum deutschen Inland haben. Diese Taten unterfallen nicht dem Weltrechtsprinzip. § 5 StGB gilt also insoweit nicht. Deshalb ist durch eine entsprechende Gesetzesänderung sicherzustellen, dass ein Deutscher in Deutschland bestraft wird, auch wenn er seine Tat im Ausland begangen hat und kein Bezug zu Deutschland besteht. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob nicht schon das bloße „Knacken“ von Computersystemen unter Umständen strafbar sein soll. Das sollte auch dann gelten, wenn kein Datenzugriff oder keine Datenzerstörung erfolgt. Dasselbe gilt für das Einbringen eines Virus in ein solches System, auch wenn dadurch kein Schaden angerichtet wird. Es gibt also auch bei uns Anlass, über Verbesserungen nachzudenken. Ich stimme all denen zu, die sagen, dass wir internationale Regelungen treffen müssen. Die Bundesregierung ist hier zweifellos gefordert. Ich hoffe sehr, dass wir zu solchen Regelungen gelangen. Danke schön. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Vogt hat gütigerweise auf mein fortgeschrittenes Lebensalter hingewiesen. Ich kann die Kollegin Vogt beruhigen: Auch im fortgeschrittenen Lebensalter gehe ich mit diesen modernen Kommunikations- und Informationsmedien um. Das tue ich, um nicht jegliche Autorität bei meinen Nachkommen zu verlieren. Ich glaube schon, dass wir die Debatte nicht so führen sollten - das sage ich gerade an die Adresse des Kollegen Dr. Mayer -, dass wir jetzt die großen Perspektiven und Chancen, die mit diesen Medien verbunden sind, zerreden. Das darf nicht geschehen! ({0}) Das, was an Informationsvermittlung, an Informationsgewinnung und an Steuerungsmöglichkeiten über diese Medien für die Menschheit möglich geworden ist, eröffnet ungeahnte Dimensionen. Darauf sollten wir immer wieder hinweisen. Ich habe allerdings in meiner Verantwortung als Innenminister auch immer darauf hingewiesen, und zwar von Anfang an, Herr Kollege Dr. Mayer, dass wir nicht euphorisch werden sollten und dass wir den Sicherheitsaspekt immer sehr ernst nehmen müssen. Wir haben das als Bundesregierung auch unter Beweis gestellt. Sie wissen, es gab einige apokalyptische Voraussagen, was das Jahr-2000-Problem angeht. Die gegenwärtige Bundesregierung hat das gut bewältigt. Allerdings muss ich Ihnen sagen: Die Vorbereitungen der alten Bundesregierung - ich will das zurückhaltend ausdrücken - waren etwas dürftig. ({1}) Ich halte jedoch nichts davon, dass wir nun alle Fragen miteinander vermischen. Frau Bonitz, bei Ihnen habe ich beim besten Willen nicht erkennen können, dass Sie irgendwie eine Übersicht gewonnen hätten. Wir können natürlich diese Debatte erweitern und darüber sprechen, was wir gegen die Übermittlung krimineller Inhalte über das Internet tun. Diesbezüglich gibt es einige Ansätze. Das ist eine schwierige Frage, weil man sich dabei in einen gewissen Gegensatz zum Schutz der Privatsphäre und der Geschäftsgeheimnisse begibt. Ich erinnere - Herr Mosdorf hat das auch angesprochen - an Kryptographien und Ähnliches. Aber ich will das nicht vertiefen, zumal Sie da auch bei der falschen Adresse waren. Zwar kümmert sich das Bundeskriminalamt um diese Dinge, aber das dürfen Sie nicht mit der Tätigkeit des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik vermengen. Ich glaube, wir sollten diese Aktuelle Stunde nutzen, um uns über die Frage zu unterhalten, die mit den Sicherheitsaspekten im engeren Sinne zu tun hat: Welche Angriffsflächen ergeben sich aus einem so tief vernetzten System, wie wir es haben? ({2}) Das ist die eigentliche Frage, mit der wir uns heute zu beschäftigen haben. Dabei darf man die Dinge nicht durcheinander bringen. Wir haben unterschiedliche Angriffsflächen. Es gibt den Versuch, den man gemeinhin mit den Hackern in Verbindung bringt, sich unbefugt Zugang zu Daten zu verschaffen. Das ist die eine Angriffsfläche. Wir haben eine andere Angriffsfläche, die man durchaus auch mit Computersabotage in Verbindung bringen kann, dass man also eine bestimmte Website überlädt und damit Denial of Service herbeiführt. Das war das, was uns im Februar beschäftigt hat. Übrigens war das der Anlass für die Taskforce, die ich eingesetzt habe. Es war richtig, eine solche Taskforce einzusetzen und nicht erst lange zu warten, ob irgendwelche Ressortabgrenzungen stattfinden. Sie wissen, wie mühsam es ist, Ressortzuständigkeiten zu überwinden. Nein, wir haben sofort gehandelt. Wir haben die dafür notwendigen Maßnahmen ergriffen, die richtigen Personen zusammengebracht und selbstverständlich auch - das sage ich Ihnen, Herr Otto - die Privatwirtschaft einbezogen. Da haben Sie völlig Recht: Das kann der Staat nicht allein, das kann die Privatwirtschaft nicht allein. Das ist ein typischer Fall des Zusammenwirkens des Staates und der privaten Industrie. Jetzt haben wir es mit einem Angriff zu tun, der sicherlich Dimensionen hat, die außergewöhnlich sind. Ich teile die Auffassung aller, die hier zum Ausdruck gebracht haben, dass das Strafrecht bei der Abwehr solcher Angriffe an allerletzter Stelle steht. Strafrechtsdrohungen haben zwar auch präventiven Charakter, aber in diesem Fall wahrscheinlich nur in sehr geringerem Maße. Mich in die Psyche des Philippinos hineinzuversetzen, um festzustellen, warum er nun mit der Gesellschaft entzweit ist - oder was da sonst war - das soll mich heute nicht beschäftigen. Trotzdem müssen wir die strafrechtliche Seite angehen. Der Europarat ist damit beschäftigt. Ich will das nicht vertiefen. Der entscheidende Punkt ist die technische Prävention, ({3}) und zwar die softwaretechnische Prävention; auf sie kommt es an. ({4}) Ich will das jetzt nicht alles wiederholen. Interessant ist, dass es bemerkenswerte Parallelen zur Natur gibt. Wir sprechen vom Virus. Wir haben von der Monokultur gehört. Herr Otto hat völlig zu Recht darüber gesprochen. Ich gebe Herrn Otto vollständig Recht: Es ist auch meine Auffassung - Herr Heil hat ebenfalls darüber gesprochen -, dass Monokulturen für Viren besonders anfällig sind. Das ist übrigens in der Natur genauso. Die Wälder sind am ehesten dort zugrunde gegangen, wo sie Monokulturen waren. Mischwälder sind weniger anfällig für Krankheiten. Das gilt übrigens auch für die Zusammensetzung der Gesellschaft. Das spricht für unser Staatsbürgerschaftsrecht. ({5}) Aber das nur am Rande. Ich denke, wir müssen in der Tat dafür sorgen, dass die Systeme so ausdifferenziert sind, dass die Krankheitsanfälligkeit, die Schadensanfälligkeit zumindest herabgesetzt wird. Nun haben wir es mit einem Sachverhalt zu tun, auf den wir im Moment noch keine Antwort haben. Diesbezüglich hat aber auch die alte Bundesregierung - wir sollten uns da nichts einreden, lieber Kollege Dr. Mayer nichts zustande gebracht. Es geht darum, dass wir nicht im Vorhinein wissen, wie neue Viren beschaffen sind. Das ist wie in der Medizin: Es treten immer wieder neue Viren auf. Deshalb kommt es zunächst einmal darauf an, mit diesem Sachverhalt klarzukommen. ({6}) - Lassen Sie das doch! Ich habe Ihnen ja auch zugehört. Beinahe hätte ich Sie jetzt als „Herr Virus“ angesprochen. Das wäre aber nicht gerecht, Herr Dr. Mayer. Es lag auch hier der Sachverhalt vor, dass der Virus nicht bekannt war. ({7}) Wir konnten ihn auch mit den Virenschutzprogrammen nicht sofort identifizieren. Es gab auch keine Vorwarnzeit das ist ein Unterschied zu anderen Sachverhalten, bei denen es rechtzeitig eine Warnung gab -, weil der Virus zunächst in Deutschland aufgetreten ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang der Arbeit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik Anerkennung zollen. Das ist übrigens eine Einrichtung, auf die wir stolz sein können, denn nicht alle Länder haben so etwas. ({8}) Ich bin stolz darauf, dass ich deren Mittel gegen bestehende Haushaltszwänge erhöht habe. Wir haben also sofort, kurz nach dem Auftreten dieses Virus, warnen können. Es hätten sich viele Schäden vermeiden lassen können, wenn diese Warnungen ernst genommen worden wären. Wir haben den Virus in kurzer Zeit identifizieren und analysieren können. Bereits am folgenden Tage haben wir eine Virusabwehr in die Scanner integriert. Das ist, wie ich glaube, eine gute Leistung. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Sie waren nicht die Ersten! Die Ausfälle in der Bundesverwaltung waren relativ gering. Nun komme ich auf Ihre Anfrage zu sprechen, Herr Dr. Mayer: Im internen Bereich, also im eigentlichen Sicherheitsbereich, sind keine Schäden aufgetreten. Dennoch ist Ihr Hinweis auf kritische Informationsstrukturen richtig. Die Arbeitsgruppe „Kritis“ arbeitet, wie Sie wissen, ja schon seit längerer Zeit daran. Sie haben mit Recht gesagt, dass nicht ich, sondern die alte Bundesregierung das in Gang gesetzt hat. Ich habe deren Bericht entgegengenommen. Es stimmt, dass noch einiges nachzuarbeiten ist und man daran arbeiten muss, aber dabei kommt es auf viele Aspekte an. Es geht zum Beispiel nicht nur um die Frage von Monostrukturen, sondern auch um die Frage der Staffelung von Systemen. Einer der Kollegen - ich glaube, es war der Kollege Müller - hat davon gesprochen, dass es auch auf Redundanz ankommt. Wir wissen aus Problemstellungen in der Energieversorgung, dass dann, wenn Redundanz nicht gewährleistet ist, auch keine Staffelung möglich ist und ein Dominoeffekt eintreten kann: Ein kleiner Eingriff in ein komplexes System breitet sich dann mit Blitzgeschwindigkeit aus und führt zu gewaltigen Schäden im System. Wir müssen die Dinge auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, wie ein solcher Dominoeffekt abgewehrt werden kann. Wir benötigen auch eine enge Zusammenarbeit mit der Wirtschaft im Rahmen der so genannten Computer Emergency Response Teams. Diese CERTs müssen auch untereinander korrespondieren; man darf nicht in Betriebsegoismus verbleiben, indem man andere nicht abgucken lassen will. In diesem Bereich muss es Kooperation geben. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir den Blick nur auf eine Seite richten. Wir müssen alle Aspekte in Betracht ziehen und alle - das sind die Endanwender und die Administratoren wie auch die Softwarehersteller und die Inhaltsanbieter - in die Verantwortung einbeziehen. Nur so kommen wir zu einer vernünftigen Lösung. Daran arbeitet die Bundesregierung mit Hochdruck. Insoweit war es richtig, diese Taskforce einzusetzen. Sie macht gute Arbeit und hat im Februar dieses Jahres bereits Empfehlungen herausgegeben. Sie wird das wieder tun. Da mich der Präsident mahnt, die Redezeit einzuhalten, kann ich sie jetzt nicht im Einzelnen vortragen. Ich glaube, dass die Bundesregierung gerade bezüglich der Sicherheit in der Informationstechnik auf eine hervorragende Arbeitsbilanz zurückblicken kann. Diese Bilanz wird sie in Zukunft sicherlich noch weiter verschönern. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das letzte Wort in dieser Aktuellen Stunde hat nunmehr für die SPD-Fraktion der Kollege Jörg Tauss. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich teile Ihnen jetzt mit, was ich zu sagen habe, lieber Kollege Otto. Zunächst einmal freuen wir uns, dass sich nach der Beschäftigung mit dem Jahr-2000-Problem der Deutsche Bundestag erneut mit Fragen der Datensicherheit bzw. - fachmännischer ausgedrückt - mit Fragen der IT-Sicherheit beschäftigt. Wenn diese Debatte ein positives Signal aussendet, dann auch deshalb, weil die Bedeutung der Themen Datenschutz und Datensicherheit in den Medien - in der Politik ohnehin - und im Bewusstsein der einzelnen Nutzer angekommen ist. Die Situation war vor zwei, drei Jahren, als wir in der Enquete-Kommission zusammensaßen, völlig anders. Wir haben damals - lesen Sie einmal im Bericht nach, den wir damals in der Enquete-Kommission verabschiedet haben - auf diese Probleme in ihrer gesamten Breite hingewiesen. Es haben sich leider nicht allzu viele dafür interessiert. Ein Journalist hat mir gesagt, das Thema sei nicht „sexy“ genug. Vielleicht bedurfte es des Virus mit dem schönen Namen „I love you“, dass dieses Thema „sexy“ geworden ist. Der „I love you“-Virus versetzte das globale Datennetz innerhalb von 72 Stunden in Angst und Schrecken. Es gab Meldungen über Schäden in Höhe von 10 Milliarden DM. Egal, wie hoch die Schäden sein mögen: Computer wurden lahmgelegt. Was mich bedenklich stimmt - das ist auch in der Debatte zum Ausdruck gekommen -, ist, wie leicht es offenbar war, die Sicherheitsvorkehrungen zu überlisten. Das gilt erst recht, wenn man sich vor Augen führt - es ist ja nach der Motivation des Täters gefragt worden -, dass es sich um einen jungen philippinischen Studenten handelt wie dies der „Spiegel“ gestern berichtete -, dessen Hausarbeit abgelehnt worden war. Die Hausarbeit war exakt der „I love you“-Letter. Frustration rechtfertigt diese Reaktion des Studenten selbstverständlich nicht. Lieber Kollege Geis, aus Bayern kam fast schon reflexartig - Sie kommen zwar nicht aus Bayern Bundesminister Otto Schily ({0}) - Entschuldigung, aber dann passt mein Text jetzt genau der Ruf nach schärferen Gesetzen. ({1}) - Sie haben ja schon einige Paragraphen genannt, Herr Kollege Geis. Auch § 202 a des Strafgesetzbuches können wir in diesem Zusammenhang erwähnen. Wir haben schon Systeme, die gegen unberechtigten Zugang gesichert sind. Aber ich glaube, wir sollten im rechtlichen Bereich eine sehr sachliche Debatte miteinander führen. Ich warne nur vor Hysterie. Hysterie war schon immer ein schlechter Ratgeber gewesen. Wir sollten zunächst einmal evaluieren, was eigentlich passiert ist. Dann werden wir feststellen, dass der Sicherheit in der Informationstechnik eine Schlüsselrolle zukommt. Das ist heute schon - völlig berechtigt - mehrfach gesagt worden. Eines fällt auf: Behörden und Verwaltungseinrichtungen, darunter die Bundesverwaltung, waren das Ziel dieser Attacke. Der Bundesinnenminister hat zwar darauf hingewiesen, dass die Schäden erfreulicherweise gering waren. Trotzdem ist die Situation ärgerlich. Es fällt außerdem auf: Nur die Nutzer einer bestimmten Software - auf diesen Punkt wurde schon hingewiesen - waren Ziel dieses Angriffs. Diese Software hat es dem Virus aufgrund mangelnder standardmäßiger Sicherheitseinstellungen absolut einfach gemacht. Es stellt sich aber das Problem, dass diese Software als Quasistandard für den Nutzer kaum zu umgehen ist. Er bekommt mit dem Kauf seines Computers dieses Betriebssystem mitgeliefert. Damit sind wir bei dem Problem der Monokultur, um das Wort „Monopolstruktur“ zu vermeiden. Der Virus macht Folgendes deutlich: Man kann und muss sich - das gilt für jeglichen Nutzer der neuen IuKTechnologien - gegen derartige Angriffe selbst schützen. Wäre das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial bei allen Nutzern vorhanden gewesen und wären die Sicherheitseinstellungen, die es ja pikanterweise gibt, die aber standardmäßig zum Teil ausgeschaltet waren, auf der höchsten Stufe eingeschaltet gewesen, dann hätten die Schäden nicht eintreten können. Man kann nicht oft genug davor warnen, unbekannte Mails mit angehängten Daten einfach ungeprüft zu öffnen. Ich habe diese Mail nicht geöffnet, nicht nur wegen - ein Kollege hat es schon angesprochen - meines hohen Alters, sondern weil man misstrauisch sein muss, wenn im Bereich des Bundestages eine Mail mit dem Titel „I love you“ ankommt. Ich zumindest war misstrauisch. Meinem Computer ist also nichts passiert. Ich denke, es würde sich lohnen, wenn wir uns mit dem Bericht der Enquete-Kommission beschäftigen. Die Kommission stellte fest, dass im Bereich der Software die Betriebssysteme eine Sonderstellung einnehmen. Es ist nicht zu verantworten, dass in nahezu allen Bereichen Betriebssysteme existieren, deren Quelltext nicht veröffentlicht wurde. ({2}) Es muss die Forderung an Microsoft sein, seine Politik an dieser Stelle zu ändern. Da sind wir uns, Kollege Otto, einig. ({3}) Ihr großer Vorkämpfer in Sachen Datensicherheit, Herr Rexrodt, wollte noch zur Bekämpfung von Kriminalität Einbruchstellen schaffen. Ich nenne als Stichwort Telekommunikationsüberwachungsverordnung. Wir haben diese Initiative gestoppt und ein Gutachten erstellen lassen. Ich glaube, wir sind uns jetzt in diesem Punkt einiger, als ich es damals mit dem Kollegen Rexrodt war. Es gibt übrigens auch weitere Probleme. Es gibt die Fragen: Können Geheimdienste eindringen? Können Polizeidienststellen eindringen? Wo sie eindringen können, können natürlich auch Hacker und Cracker eindringen, also auch diejenigen, die bösartig sind. Weil das rote Licht schon leuchtet, will ich nur noch sagen: Wir müssen uns auch in der Forschung mit dem Bereich IT-Sicherheit nochmals ganz vehement beschäftigen. Herr Marschewski und Herr Zeitlmann haben hier völlig falsche Signale gegeben mit dem Verbot kryptographischer Verfahren. Das hat sich schon durch den Regierungswechsel erledigt. Kollege Mayer, dass Sie uns die Zerschlagung der GMD vorwerfen, ist Unfug. Sie wissen das. Nachher debattieren wir darüber an dieser Stelle auch noch einmal. Nein, das Gegenteil wird gemacht. Wir haben beim Fraunhofer-Institut beispielsweise hervorragende Datensicherheitsexperten.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, auch das letzte Wort geht irgendwann zu Ende.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin bereits am Ende, Herr Präsident. Lassen Sie mich den Satz kurz zu Ende führen. Die GMD, Herr Mayer, wird nicht zerschlagen. Das Fraunhofer-Institut beschäftigt sich mit IT-Sicherheit, mit elektronischer Sicherheit. Wir haben das Kompetenzzentrum „Cast“ in Darmstadt. Schauen Sie es sich doch einmal an. Wir machen hier nichts kaputt, sondern ganz im Gegenteil: Wir bündeln die Kompetenzen und aus dieser Bündelung der Kompetenzen wird ein Mehr an Datensicherheit in diesem Lande herauskommen. Das ist die Linie, die diese Bundesregierung verfolgt, auch im Forschungsbereich, und das ist die richtige. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ({0}) - Drucksache 14/2667 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 14/3284 Berichterstattung: Abgeordnete Lydia Westrich Hansgeorg Hauser ({3}) Margareta Wolf ({4}) Carl-Ludwig Thiele Es liegen sieben Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesfinanzminister, Dr. Barbara Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der schillernden internationalen Welt der Hacker und Cracker kommen wir jetzt zum bodenständigen nationalen Berufsrecht der Steuerberater. Vor dem Hintergrund zunehmender Internationalisierung muss allerdings auch dieses Berufsrecht ab und an neu überdacht werden. Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater findet ein langer und zum Teil kontroverser Diskussionsprozess ein vorläufiges Ende. Im Mittelpunkt dieses Diskussionsprozesses stand die Verteilung der Befugnisse zur Steuerberatung, wobei Lohnsteuerhilfevereine und Buchhalter eine Ausweitung ihrer Befugnisse vehement forderten und die Steuerberater dies ebenso vehement ablehnten. Gestatten Sie mir, dass ich, bevor ich näher darauf eingehe, auf andere, im Ergebnis vielleicht ebenso wichtige und vielleicht sogar zukunftsweisendere Änderungen im Steuerberatungsrecht hinweise. Das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz enthält zahlreiche materielle Regelungen, mit denen das Ziel verfolgt wird, das Steuerberatungsgesetz und die dazu ergangenen Verordnungen zu modernisieren und zu straffen. Nennen möchte ich zunächst die Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf die Steuerberaterkammern. Hierzu gehören die Bestellung zum Steuerberater, die Anerkennung von Steuerberatungsgesellschaften, deren Widerruf und deren Rücknahme. Die Übertragung der Aufgaben erfolgt im Konsens mit dem Berufsstand und entspricht vergleichbaren Aufgabenverlagerungen bei Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern. Gleichzeitig wird den Steuerberaterkammern die Befugnis gegeben, die Gebühren für die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben nach dem Grundsatz der Kostendeckung jeweils in einer Gebührenordnung festzulegen. Da die Gebührenordnungen jeweils der Genehmigung der zuständigen Aufsichtsbehörde bedürfen, ist sichergestellt, dass die Gebühren sich strikt an ebendiesem Prinzip orientieren. Eine weitere wichtige Neuerung stellt die Schaffung der Möglichkeit der Beteiligung einer Steuerberatungsgesellschaft an einer anderen so genannten mehrstöckigen Steuerberatungsgesellschaft dar. Dies entspricht einer Regelung bei den Wirtschaftsprüfern und wird langfristig vielleicht den Markt stärker verändern als andere, heute mehr in der politischen Diskussion stehende Fragen des Berufsrechts. Mit der Einführung der Möglichkeit so genannter mehrstöckiger Steuerberatungsgesellschaften wurde im Übrigen einer Anregung des Berufsstandes entsprochen. Präzisiert werden die Regelungen zur Berufsausübung. Erstmals wird ein Überdenkungsverfahren bei Einwendungen gegen die Bewertung von Leistungen in der Steuerberaterprüfung geregelt. Wichtig ist die Anpassung des nationalen Steuerberatungsrechts an das europäische Recht. Der Kreis derjenigen, die befugtermaßen geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leisten dürfen, wird um Dienstleister in Steuersachen im Anwendungsbereich des Art. 50 des EG-Vertrages, also grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, erweitert. In Fällen, in denen tatsächlich keine grenzüberschreitende Dienstleistung erbracht wird, sondern ein deutscher Staatsbürger Steuerberatung für Deutsche im deutschen Steuerrecht mit Zielrichtung auf deutsche Behörden erbringt, ändert sich gegenüber heutigem Recht durch die Neuregelung nichts. Wer bisher zu derartigen Hilfeleistungen nicht befugt war, wird dies auch zukünftig nicht sein. Im Übrigen können im Interesse des Verbraucherschutzes zukünftig auch Personen zurückgewiesen werden, die erlaubterweise grenzüberschreitende Steuerberatung betreiben, jedoch fachlich nicht dazu fähig sind. In die Abgabenordnung wurde dazu mit Billigung der EUKommission ein neuer Zurückweisungstatbestand eingefügt, der im Interesse der Verbraucher an die fachliche Fähigkeit anknüpft. Die im Steuerberatungsgesetz und in der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften für Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften enthaltenen DM-Beträge werden ab 2002 im Verhältnis 2:1 auf Euro umgestellt. Lassen Sie mich nun noch kurz auf die eingangs angesprochenen kontroversen Themen eingehen, die Frage der Beratungsbefugnisse von Lohnsteuerhilfevereinen und Buchhaltern bzw. Bilanzbuchhaltern. Das Ergebnis des Diskussionsprozesses sehe ich insgesamt als positiv an. Die Koalitionsfraktionen werden deshalb im Zusammenhang mit der Abstimmung über das vorliegende Gesetz dem Bundestag einen Entschließungsantrag vorlegen, in dem die Bundesregierung gebeten wird, unter anderem zu prüfen, ob und wie das berufliche Tätigkeitsfeld von geprüften Bilanzbuchhaltern erweitert werden kann, Vizepräsident Rudolf Seiters allerdings - das möchte ich hier ausdrücklich betonen unter Berücksichtigung der Belange des Verbraucherschutzes und eines fairen Wettbewerbs. Natürlich geht es bei der Frage der Beratungsbefugnisse im Bereich der Steuerberatung um Marktanteile und Einkunftsmöglichkeiten. Wer sich weigert, über eine Liberalisierung in diesem Bereich ernsthaft nachzudenken, kann sich nur dem Vorwurf aussetzen, in einem Teilbereich des Dienstleistungssektors den Status quo zementieren zu wollen. Die Bundesregierung kann sich jedoch nicht an Partikularinteressen orientieren, sondern muss prüfen, was im Allgemeininteresse liegt. Der Entschließungsantrag macht deutlich, dass auch sensible Bereiche wie das Berufsrecht, hier der Steuerberater, nicht grundsätzlich vor Veränderungen geschützt sind und genauso auf den Prüfstand der Zukunftstauglichkeit gehören wie andere gesellschaftliche Bereiche auch. Es muss möglich sein, über Reformen auch in diesem Bereich ernsthaft weiter nachzudenken. Deshalb begrüßt die Bundesregierung den vorgelegten Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen. Nun zu den Lohnsteuerhilfevereinen. Die Neuregelung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine sieht unter anderem vor, dass die Beratungsbefugnis des Lohnsteuerhilfevereins nicht entfällt, wenn das Mitglied neben seinen Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit Einnahmen aus anderen Einkunftsarten hat, solange diese Einnahmen insgesamt den Betrag von 18 000 bzw. 36 000 DM bei zusammen Veranlagten nicht übersteigen. Ich möchte betonen, dass es sich bei den Einnahmen um reine Bruttobeträge handelt, bei denen es grundsätzlich nicht zu Saldierungen kommt. Generell hält die Bundesregierung die Neuregelung für notwendig, weil das bisher geltende Gesetz insoweit sprachlich unklar gefasst ist. Dies hat zu Unterschieden in der Rechtsanwendung in den verschiedenen Bundesländern geführt, was im Interesse aller Betroffenen nicht hinnehmbar ist. Der heutige Umfang der Beratungsbefugnis wird bei der Neufassung maßvoll erweitert und deutlich klarer definiert. ({0}) - Frau Hasselfeldt, wir haben das doch alles schon beraten. Sie verstehen das sicher auch im Schnelldurchgang. Ich glaube, dass sich die gegen die Neuregelung vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Kompetenz der Lohnsteuerhilfevereine in der Praxis als unbegründet erweisen, was die Finanzverwaltung allerdings genau beobachten wird. Personen, bei denen komplizierte steuerliche Sachverhalte zu würdigen sind, gehören meines Wissens nicht zu den typischen Mitgliedern eines Lohnsteuerhilfevereins. Dies dürfte sich auch in Zukunft nicht ändern. Deshalb meine ich, dass alle Betroffenen in der Praxis mit der gefundenen Regelung leben können. Zu den Buchhaltern und Bilanzbuchhaltern. Die Frage einer Erweiterung der Beratungsbefugnisse für die genannten Personen wird seit langem auf fachlicher und politischer Ebene kontrovers diskutiert. Nach Auffassung der Bundesregierung bedarf die Frage einer Befugniserweiterung für die genannten Personen einer näheren und intensiveren Prüfung, als sie im Rahmen des laufenden Gesetzgebungsverfahrens zu leisten war. Gerade im Interesse der Verbraucher, die Anspruch auf eine fachkundige Beratung haben, muss gewährleistet sein, dass Berater, auch wenn sie nur in einem relativ kleinen Ausschnitt des Steuerrechts beraten, nachgewiesenermaßen kompetent sind und der Verbraucher auch bei eventueller Falschberatung den Schaden nicht zu tragen hat. Ich bin zuversichtlich, dass eine befriedigende Lösung vielleicht noch in dieser Legislaturperiode gefunden werden kann. Insgesamt hat die im Rahmen des 7. Steuerberatungsänderungsgesetzes geführte Diskussion deutlich gemacht, dass bei allen Unterschieden in der Detailbewertung ein breiter Konsens besteht, dass auch in Zukunft eine sachkundige steuerliche Beratung unverzichtbar ist und der Gesetzgeber national, aber auch international Vorkehrungen treffen muss, um diese sicherzustellen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ja, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Staatssekretärin, Sie sprechen von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und Steuerberater, die diese nachweisen müssen. Können Sie mir dann bitte erklären, wieso in einem Gesetz, das von Ihnen vorgelegt wurde, die Möglichkeit eingeräumt, nein regelrecht der Auftrag gegeben wird, dass der Beruf des Steuerberaters „infolge eines körperlichen Gebrechens, wegen Schwäche der geistigen Kräfte oder wegen einer Sucht“ zu versagen ist. Wohlgemerkt, nachdem alle Prüfungen bestanden sind? Ist das nicht eine Diskriminierung, die auf einem Menschenbild beruht, das in keiner Weise dem, was Ihre Regierung immer wieder betont, nämlich einen Paradigmenwechsel herzustellen, entspricht? Können Sie mir bitte erklären, warum Sie diesen Satz nicht einfach ersatzlos streichen?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege Seifert, ich glaube, das von Ihnen vorgetragene Bedenken beruht auf einem falschen Verständnis. Die von Ihnen angegriffene Regelung besagt, wie Sie soeben zitiert haben, dass die Bestellung zum Steuerberater zu versagen ist, wenn der Bewerber „infolge eines körperlichen Gebrechens, wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte oder wegen einer Sucht nicht nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuerberaters ordnungsgemäß auszuüben“. Bei dieser Regelung handelt es sich keinesfalls um eine willkürliche Benachteiligung behinderter Menschen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Vorschrift ist eine Schutzvorschrift gleichermaßen für den betroffenen angehenden Steuerberater und für die Mandanten. Der Steuerberater muss gerade im Interesse seiner Mandanten in der Lage sein, seinen Beruf unabhängig, eigenverantwortlich, gewissenhaft und verschwiegen auszuüben. Eine fehlerhafte steuerliche Beratung birgt immer die Gefahr von Regressansprüchen des Mandanten in sich. Durch die vorgesehene gesetzliche Regelung soll der genannte Personenkreis vor solchen Ansprüchen geschützt werden. Das ist der Hintergrund. Es geht überhaupt nicht darum, behinderte Menschen von einer Berufsausübung auszuschließen. Wie Sie richtig gesagt haben, ist die Zulassung zur Prüfung und der Abschluss der Prüfung selbstverständlich möglich. Das ist übrigens neu. Das war früher nicht der Fall. Früher gab es nicht einmal die Zulassung zur Prüfung. Damit erzielen wir im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand für behinderte Menschen eine Verbesserung. Denn sie können als angestellte Steuerberater tätig sein. Somit unterliegen sie nicht persönlich dem Regress. Vielmehr müsste letztlich ihr Arbeitgeber, der Inhaber des Steuerberaterbüros, die Verantwortung für einen Regress übernehmen. Dies ist eine Verbesserung im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand. Denn im bisherigen Rechtszustand war bereits der Ausschluss von der Prüfung möglich. Jetzt ist ausschließlich - ich weiß, dass Sie das wahrscheinlich nicht beruhigt - die Zulassung als Steuerberater in selbstständiger Form nicht möglich. In Zukunft ist also eine Berufsausübung möglich, was früher nicht der Fall war.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Frage?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Staatssekretärin, den Fortschritt im Vergleich zu dem Verbot, sogar an der Prüfung teilzunehmen, erkenne ich an. Aber bei allem Verständnis ist festzustellen: Jeder Mensch in diesem Land hat das Recht, seine Fähigkeit oder Unfähigkeit zu beweisen. Nur wenn er behindert ist, kann die Steuerberaterkammer sagen: Nein, wir schützen dich vor dir selbst. Können Sie das mit dem Gleichheitsgrundsatz und mit dem von Ihnen selbst formulierten Paradigmenwechsel in Übereinstimmung bringen? Wollen Sie nicht auch den Menschen, die behindert sind, nicht mehr und nicht weniger als allen anderen die Chance einräumen, sich selber zu blamieren? Denn es ist nicht bewiesen, dass sie unfähiger sind als andere. Nur die Steuerberaterkammer unterstellt, dass sie unfähiger sind.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Herr Kollege, die entsprechende Behinderung muss natürlich festgestellt worden sein. Es muss zudem eine dauerhafte und nicht nur eine vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegen. Natürlich ist das auch gerichtlich zu überprüfen. Es ist doch selbstverständlich, dass dies Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sein kann und die Steuerberaterkammer nicht einfach so entscheiden kann, ob jemand zu krank ist und diese Tätigkeit in selbstständiger Form nicht ausüben darf. Natürlich sind davon nicht Menschen mit körperlichen Gebrechen betroffen, die im Übrigen in ihren geistigen Fähigkeiten überhaupt nicht beeinträchtigt sind. Aber es ist doch ein Fall denkbar, dass jemand zum Beispiel ins Koma fällt und den Antrag auf Zulassung zum Steuerberater schon gestellt hat. Dieser Antrag kann schlechterdings nicht genehmigt werden. Solche Fälle sind zwar sicherlich sehr selten, aber denkbar. Es geht in der Tat darum, den Betroffenen vor allfälligen Regressansprüchen zu schützen. Ich wiederhole: Im Vergleich zum bisherigen Rechtszustand würde ein solcher Mensch nicht an der Berufsausübung insgesamt gehindert, weil er als angestellter Steuerberater tätig sein könnte. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zur bisherigen Rechtslage. Ich weiß nicht, ob es dazu im Sinne der Freiheit der Berufsausübung schon einmal verfassungsrechtliche Streitverfahren gegeben hat und ob es dazu schon einmal eine höchstrichterliche Entscheidung gegeben hat. Denn es hat sicherlich auch schon früher die Versagung der Zulassung zur Prüfung aufgrund der genannten Gesichtspunkte gegeben, die wir jetzt nicht mehr für die Versagung der Zulassung zur Prüfung, sondern nur noch für die Versagung der Bestellung zum Steuerberater in selbstständiger Form vorsehen. Ich kann Ihre Bedenken verstehen, Herr Seifert; aber ich glaube, dass Sie von einer falschen Voraussetzung ausgehen. Es geht nämlich ganz gewiss nicht um einen diskriminierenden Tatbestand, sondern um den Schutz sowohl der Betroffenen als auch natürlich der Verbraucher. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Fahren Sie bitte fort, Frau Kollegin.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ich möchte nur noch kurz an das anknüpfen, was ich eben gesagt habe. Die Globalisierung geht natürlich am Dienstleistungssektor nicht vorbei. Sie bringt auch für das Berufsrecht neue Herausforderungen mit sich, da es noch weitgehend durch unterschiedliche nationale Regelungen geprägt ist. Es ist ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung und, wie ich glaube, aller Fraktionen in diesem Hause, dass durch den internationalen Anpassungsdruck keine Qualitätsnivellierung nach unten auf Kosten der Verbraucher, aber auch der Wirtschaft eintritt. Abschließend möchte ich das Hohe Haus für die Bundesregierung bitten, dem Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zuzustimmen und die Anträge der PDS abzulehnen, die offenbar - das wurde nicht nur gerade durch die Zwischenfragen des Kollegen Seifert deutlich, sondern auch an anderen Stellen - von einem falschen Verständnis des Regelungsinhaltes ausgehen. Diese Anträge sind im Finanzausschuss ausführlich beraten worden. Im Übrigen freue ich mich, dass im Finanzausschuss auch die CDU/CSU und die F.D.P. diesem Gesetzentwurf zugestimmt haben. Ich glaube, dass dies gerade bei berufsrechtlichen Weiterentwicklungen von einem hohen Wert ist. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Hansgeorg Hauser.

Hansgeorg Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das heute zu verabschiedende Gesetz zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater ist für den Berufsstand sicherlich sehr wichtig. Es sind eine Reihe von berufsrechtlichen Veränderungen enthalten. Für den einzelnen Steuerberater aber wird es sicherlich nicht solche Auswirkungen haben wie andere Gesetze, die sich zurzeit in der Beratung befinden. Hier denke ich insbesondere an die Steuergesetze, aufgrund derer - durch die Änderungen einiger Vorschriften, die Sie vornehmen wollen; ich nenne als Stichwort nur die Option - die Steuerberater eigentlich eine Zusatzprüfung machen müssten. Es müssten die hellseherischen Fähigkeiten geprüft werden; denn ohne diese können sie künftig ihren Beruf nicht mehr ausüben. ({0}) Meine Damen und Herren, das Änderungsgesetz enthält im Wesentlichen fünf Schwerpunkte: Erstens geht es um die Erweiterung des Kreises derjenigen, die befugtermaßen geschäftsmäßige Hilfe in Steuersachen leisten dürfen, zweitens um die Ausdehnung der Beratungstätigkeit der Lohnsteuerhilfevereine. Dann gibt es Neuregelungen bezüglich der Werbung. Zudem wurden Rechtsgrundlagen für die Datenverarbeitung und die Datennutzung geändert. Schließlich wurde die Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf die Steuerberaterkammern neu gefasst. Zum ersten Punkt. Ich möchte nur wenig zur Erweiterung des Kreises der befugt Beratenden sagen; denn dies wurde uns mehr oder weniger durch die europäische Rechtsprechung vorgeschrieben. Ich möchte vielmehr unsere Position begründen, warum wir Buchführungshelfern und Bilanzbuchhaltern keine weiteren Befugnisse zugestehen wollen. Sowohl vom Verband der Buchführungshelfer als auch vom Bundesverband der Bilanzbuchhalter wird die Forderung erhoben, den Mitgliedern auch das Recht zur Einrichtung der Buchführung und zur Abgabe von Umsatzsteuer-Voranmel-dungen einzuräumen. Dass darüber hinausgehende Forderungen existieren, war im Vorfeld der Beratungen klar geworden, auch wenn sie jetzt wieder zurückgezogen wurden. Wir sehen aber, dass dies die nächste Scheibe der Salamitaktik der genannten Verbände gewesen wäre. Unserer Meinung nach bleiben die Einrichtung der Buchhaltung und die Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen eine Vorbehaltsaufgabe der steuerberatenden Berufe. Diese Auffassung wird nicht nur durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, auch wenn diese schon älteren Datums ist. Sie wird auch von der gesamten Fachwelt einhellig unterstützt, und zwar nicht nur von den betroffenen Berufen, sondern auch von den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Klimatagung, zu der beispielsweise der Bund Deutscher Finanzrichter und auch die Deutsche Steuer-Gewerkschaft gehören. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen festgestellt, dass sowohl die Einrichtung der Buchführung als auch die Erstellung von Abschlüssen dem steuerberatenden Beruf vorbehalten bleiben müssen, weil nur dieser Personenkreis durch seine fachliche Kompetenz und seine persönliche Integrität den Schutz gesetzesunkundiger Steuerpflichtiger vor einer Falschberatung, die Aufrechterhaltung der Steuermoral, die Sicherung des Steueraufkommens und den Schutz der einheimischen Wirtschaft vor den Folgen einer nicht ordnungsgemäßen Beratung gewährleistet. So hat das Verfassungsgericht sein Urteil begründet. Es wird klar zwischen dem Verbuchen laufender Vorgänge, der laufenden Lohnabrechnung und der Anfertigung der Lohnsteueranmeldung unterschieden. Das ist das eine Arbeitsfeld. Das andere ist das Einrichten der Buchführung. Das würde - auch das sagt das Verfassungsgericht - fachspezifische Kenntnisse des Handels- wie auch des Steuerrechts erfordern. Vor allem ist es wegen der erheblichen Auswirkungen für die Steuerpflichtigen und auf den Finanzhaushalt des Staates mit Verantwortung verbunden. Bei der Aufstellung des Kontenplans wird grundsätzlich darüber entschieden, über welche Konten die Verbuchung der laufenden Geschäftsvorfälle erfolgt und - in der Konsequenz daraus - welche Positionen des Jahresabschlusses damit ermittelt werden. Die Wahl der Konten entscheidet auch über die Qualität und Aussagekraft der unterjährlichen Erfolgsrechnung als Mittel der Unternehmensführung. Das ist ein sehr wichtiges Instrument für eine Unternehmung. Die Auffassung, dass es heutzutage sowieso keinen Entscheidungsspielraum gebe, weil durch die EDV bereits alles vorgegeben sei, beweist, dass eine fachkompetente Festlegung für überflüssig gehalten wird. Nach meiner Auffassung zeigt dies, dass die Tragweite der Entscheidung nicht richtig eingeschätzt wird. Auch die EDV-gestützte Buchhaltung kann einem Anwender die normative Wertung nicht abnehmen, die vor Einrichtung der Buchführung anzustellen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen. Es ist ein absoluter Irrglaube, zu meinen, die Umsatzsteuer-Voranmeldungen wären nur ein Abfallprodukt der Buchhaltung. Die UmsatzsteuerVoranmeldung ist eine vollwertige Steuererklärung. ({1}) Sie ist zu unterscheiden von der jährlichen Steuererklärung. Es sind aber bei ihr alle rechtlichen und tatsächlichen Erfordernisse einer Steuererklärung gegeben. Das heißt, sie ist richtig, vollständig und termingerecht zu erstellen - und das mit allen Konsequenzen. Das heißt, gegebenenfalls ergeben sich Säumniszuschläge, es kann zu Steuerverkürzungen kommen und es können entsprechende Folgen der Strafbarkeit entstehen. Dieser Auffassung hat sich auch der BGH angeschlossen, der erst im letzten Jahr, am 22. April 1999, der Auffassung, die Umsatzsteuer-Voranmeldung sei lediglich ein Abfallprodukt aus der erfassten Buchhaltung, eine klare Absage erteilt hat. Vielmehr, so der BGH, gehe es bei der Umsatzsteuer-Voranmeldung um eine echte Steuererklärung, deren Anfertigung und Abgabe sich nicht darin erschöpfe, dass der Steuerberater seinen Stempel und seine Unterschrift auf den durch Ausdruck sozusagen ausgefüllten Vordruck setze. Vielmehr verlangt die Erstellung der Umsatzsteuer-Voranmeldung fundierte umsatzsteuerliche Kenntnisse, die durch sich häufig ändernde finanzgerichtliche Rechtsprechungen, durch die Steuergesetzgebung sowie die Einflüsse durch das europäische Steuerrecht ständig komplizierter werden. Die Forderung, dass die Hilfeleistung bei der Fertigung einer Umsatzsteuer-Voranmeldung weiterhin den Steuerberatern vorbehalten bleiben muss, wird auch von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft unterstützt. Es liege im Interesse einer funktionsfähigen Steuerverwaltung, dass die Umsatzsteuer-Voranmeldung von qualifizierten Steuerberatern erstellt werde und dabei für die Steuerverwaltung keine zusätzliche Mehrarbeit mehr entstehe. Zu glauben, dass Steuervoranmeldungen ja jederzeit durch die Jahressteuererklärung berichtigt werden könnten, ist nur für sehr beschränkte Fälle zutreffend. Tatsächlich ergibt sich aus der Rechtsnatur jeder einzelnen Umsatzsteuer-Voranmeldung als eigener Steuererklärung, dass bei gravierenden Änderungen jede einzelne Umsatzsteuer-Voranmeldung geändert werden muss. Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Bilanzbuchhaltern und Steuerberatern auch darin besteht, dass erstere ihre Tätigkeit gewerblich ausüben, also nicht eigenverantwortlich freiberuflich, wie es im Gesetz definiert ist. So besteht natürlich die Möglichkeit, damit alle möglichen anderen Tätigkeiten zu verbinden, beispielsweise die Vermittlung von entsprechenden Verträgen zur Kapitalanlage. Zudem gibt es für die Bilanzbuchhalter keine Verpflichtung, eine Berufshaftpflichtversicherung abzuschließen oder einen solchen Bestand nachzuweisen. Jedem Steuerberater wird sofort die Zulassung entzogen, wenn er keine Haftpflichtversicherung mehr nachweisen kann. Das ist hier nicht der Fall. Da auch jedwede Kontrolle und Berufsaufsicht fehlt, sind erhebliche Vorbehalte gegen das Ergebnis der Arbeit aus staatlicher Sicht anzumelden. Allerdings muss auch deutlich gesagt werden, dass Personen, die in der Lage sind, die mit der Buchhaltung verbundenen steuerrechtlichen Fragen zu erkennen und zu beantworten, auch die Fähigkeiten haben müssten, die Prüfung zum Steuerberater zu bestehen und die Zulassung zu erlangen. Ich meine, bevor ständig neue Forderungen erhoben werden, sollte sich dieser Personenkreis auf die vollständige Ausbildung zum Steuerberater konzentrieren. Das ist auch zumutbar. Auch die deutliche Ausweitung der Beratungsbefugnis von Lohnsteuerhilfevereinen haben wir mit großer Skepsis gesehen und im Ergebnis abgelehnt. Anders als bisher sollte die Steuerberatungsbefugnis bei Lohnsteuerhilfevereinen zum Beispiel auch Einnahmen aus Kapitalvermögen umfassen, die weit über dem Sparerfreibetrag liegen. Ich darf auf die Skepsis der Finanzverwaltung hinweisen, die über die Klimatagung - Sie wissen, die Klimatagung hat nichts mit dem Wetter zu tun, aber sehr wohl etwas mit der Atmosphäre, nämlich zwischen den Berufsständen auf der einen Seite sowie der Finanzverwaltung und der Rechtsprechung auf der anderen Seite zum Ausdruck gebracht hat, dass durch die Änderung des Steuerberatungsgesetzes auf keinen Fall mehr Arbeit für die Steuerverwaltung entstehen darf. Die Klimatagung weist auf die Schwierigkeit der Erstellung der Steuererklärung hin, in der zu prüfen ist, ob und wie die unterschiedlichen Kapitaleinkünfte in der Steuererklärung zu erfassen sind und ob sie ungeprüft aus den Bankbescheinigungen übernommen werden können. Die richtige Einordnung und Zuordnung - beispielsweise bei Vorliegen von inländischen oder ausländischen Aktiendividenden setzt profundes Wissen im Körperschaftsteuerrecht voraus. Ebenso verhält es sich bei der Besteuerung aus Fondsanteilen. Man könnte hier noch eine ganze Reihe von Beispielen aufführen. Die Steuerverwaltung sei darauf angewiesen, dass ein Großteil der Steuererklärungen mehr oder weniger ungeprüft übernommen werden könne, weil sonst die Arbeitsflut nicht zu bewältigen sei. Deshalb kam man zu dem Schluss, eine Ausweitung sei nicht zu befürworten, weil nach der allgemeinen Erfahrung bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Lohnsteuerhilfe Spezialkenntnisse außerhalb des klassischen Lohnsteuerbereiches nicht durchgängig gegeben seien. Wir sprechen den Lohnsteuerhilfevereinen keinesfalls die Befähigung zu einer guten Beratung ihrer Mitglieder ab - das haben wir in Gesprächen mit den Verbänden auch immer wieder zum Ausdruck gebracht -, aber wir sind der Meinung, dass dieser Beratungsbereich begrenzt bleiben und eben nicht auf diese Art ausgedehnt werden sollte. Denn durch die Beträge, die im Raum stehen, entsteht automatisch ein größerer Kreis von Betroffenen, die durch die Lohnsteuerhilfevereine beraten werden können. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt die Ausweitung ab und hat deshalb im Finanzausschuss gegen diesen Punkt gestimmt. Wir erkennen allerdings, dass durch die Zugrundelegung des Begriffes „Einnahmen“ die Grenzen trotz allem relativ strikt sind, eben weil Werbungskosten und Betriebsausgaben nicht mit den Einnahmen saldiert werden dürfen, es also nur um einen Bruttobetrag geht. Damit ist die Ausweitung der Beratungsbefugnisse stärker begrenzt, als es beispielsweise der Fall wäre, wenn Verlustverrechnungen zulässig wären. Dann könnte es um höhere Summen gehen. Das ist nicht der Fall. Das haben wir auch gesehen und im Übrigen in der Diskussion abgeklärt. Trotzdem sind wir der Meinung, dass durch die Festlegung der erhöhten Beträge von 18 000 DM eine Ausweitung erfolgt, die wir nicht mittragen wollen. Ein weiteres Anliegen des Gesetzentwurfs ist die Übertragung von hoheitlichen Aufgaben - zum Beispiel Bestellung zum Steuerberater, Anerkennung von Steuerberatungsgesellschaften, Widerruf und Rücknahme - auf die Hansgeorg Hauser ({2}) Steuerberaterkammern. Hier war ursprünglich vorgesehen, dass die Aufwendungen für diese Arbeiten durch staatlich festgelegte Pauschalgebühren abgegolten werden. Im Laufe der Beratungen ist auf unseren Antrag hin erreicht worden, dass die Gebühren durch die Kammern selbst festgesetzt werden dürfen. Es ist meines Erachtens nur recht und billig, dass die Steuerberaterkammern wie im Übrigen auch die Rechtsanwaltskammern und - so ist es zumindest vorgesehen - auch die Wirtschaftsprüferkammern die Höhe der Gebühren selbst bestimmen können. Selbstverständlich gibt es für die Festsetzung der Gebühren entsprechende Grundsätze. So müssen sie den Grundsatz der Kostendeckung berücksichtigen, das heißt, die bestehenden Aufwendungen dürfen durch das Gebührenaufkommen nicht dauerhaft überstiegen werden. Es muss der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt bleiben, dass Leistung und Gebühr in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Des Weiteren muss der Grundsatz der speziellen Entgeltlichkeit gelten, der besagt, dass in die Gebührenbemessung keine sachfremden Maßstäbe eingehen dürfen. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Kammern ihrer Verantwortung bewusst sind und ihre Aufgaben - wie auch bisher immer - zuverlässig ausüben werden. Insgesamt stimmen wir dem Gesetz zu, auch wenn wir uns in der Sache, wie bereits ausgeführt, gegen die Ausweitung der Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine ausgesprochen haben. Den Entschließungsantrag lehnen wir allerdings ab, da hier nach unserer Meinung durch weitere Prüfungen bei den Buchführungshelfern und Bilanzbuchhaltern nur falsche Hoffnungen erweckt würden, die der Gesetzgeber auf keinen Fall erfüllen sollte. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Christine Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen wollen, wird das Steuerberatungsgesetz und die damit verbundenen Verordnungen modernisieren. Das war auch der Ansatzpunkt, dem wir uns als Regierungsfraktion gestellt haben. Es haben sich viele Sachverhalte in der praktischen Entwicklung verändert, sodass eine Modernisierung jetzt ansteht. Diese Diskussion ist natürlich auch eine Gelegenheit, über die Abgrenzung der Tätigkeiten der unterschiedlichen Berufsgruppen sowie der Dienstleister, die in diesem Kontext verankert sind, neu nachzudenken und die damit verbundenen Anforderungen, die aufgrund der Entwicklung des Steuerrechts und der Rechtsprechung insgesamt gegeben sind, in die Diskussion einzubeziehen. Herr Hauser hat auch - ich finde, zu Recht - das Beispiel der Umsatzsteuer-Voranmeldung genannt und ausgeführt, welche Schwierigkeiten darin liegen. Wir haben im Finanzausschuss eine Anhörung durchgeführt und sehr intensive Debatten zu diesem Thema mit allen Erwägungen, die hier eine Rolle spielen, geführt. Es ist vollkommen klar, dass wir uns hier in einem Spannungsfeld zwischen der Gewährleistung der Gewerbe- und Berufsfreiheit einerseits und dem Schutz der Verbraucher und Verbraucherinnen andererseits bewegen. Die Koalitionsfraktionen haben - anders als jetzt von Ihnen, Herr Hauser, für die CDU/CSU-Fraktion dargestellt - die Befugnisse der Lohnsteuerhilfevereine zur Hilfeleistung in Steuersachen erweitern wollen. Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht, der wohl heute verabschiedet wird. Hier wird eine sinnvolle Regelung getroffen. Wir haben letztendlich auch einen Prüfauftrag vergeben, inwieweit die Beratungsbefugnisse der selbstständigen Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhalterinnen erweitert werden können. Nach einer sehr sorgfältigen Prüfung haben wir die Grenzen, bis zu denen die Lohnsteuerhilfevereine ihre Mitglieder beraten können, über die in der ersten Fassung vorgesehene 12 000- bzw. 4 000-Mark-Grenze hinaus weiter angehoben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Scheel, da auch Sie von der Kompetenz der Steuerberaterinnen und Steuerberater sprechen, möchte ich meine Frage, die ich auch schon an die Staatssekretärin gerichtet habe, an Sie in einer etwas abgewandelten Form wiederholen. Immerhin haben sich die Grünen und die Bündnis-90-Leute bisher immer für selbst bestimmte Lebensverhältnisse von behinderten Menschen eingesetzt: Können Sie allen Ernstes zustimmen, dass dieser Diskriminierungstatbestand wenn auch in abgeschwächter Form -, jetzt von Ihnen vorgelegt, neu beschlossen wird? Oder können Sie sich nicht wenigstens in diesem einen Punkt dazu durchringen, unserem Änderungsantrag zuzustimmen, diesen Satz ersatzlos zu streichen, damit wir keine neuen Diskriminierungstatbestände nur aufgrund von Behinderungen herstellen?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben das sehr intensiv geprüft und sind zu dem Ergebnis gekommen, das jetzt als Gesetzentwurf vorliegt. Ich muss Ihnen sagen: Es war auch aus unserer Sicht nicht möglich, darüber hinauszugehen. Mehr kann man an dieser Stelle nicht dazu sagen. Wir wollen den Lohnsteuerhilfevereinen künftig die Möglichkeit geben, ihren Mitgliedern Hilfe in Steuersachen zu leisten, wenn deren Einnahmen aus anderen Einkunftsarten als aus nicht selbstständiger Tätigkeit 18 000 DM bzw. 36 000 DM nicht überschreiten. Diese Erweiterung ist im Hinblick auf die aktuelle Einkommenssituation und auch Hansgeorg Hauser ({0}) die weiter steigenden Einkommen notwendig. Damit haben wir eine Regelung getroffen, die den Lohnsteuerhilfevereinen für längere Zeit eine sichere Existenzgrundlage gibt. Das ist ein sehr guter und wichtiger Schritt, der hier gegangen worden ist. Entgegen der Auffassung der Opposition, Herr Hauser, ist es für uns ganz klar, dass die Tendenz, Leistungen aus den Unternehmen auszulagern, zu einem erhöhten Beratungsbedarf auch in den weniger qualifizierten Bereichen der Steuerberatung führt, und dass gleichzeitig viele selbstständige qualifizierte Bilanzbuchhalter und Bilanzbuchhalterinnen diese Dienstleistungen anbieten könnten, sie aber zum Teil nicht ausführen dürfen. Dies muss man bei der Bewertung der Gesamtsituation berücksichtigen. Wir wollen die Befugnisse von Steuerberatern und Steuerberaterinnen sowie von den selbstständigen Bilanzbuchhaltern und Bilanzbuchhalterinnen den heutigen Realitäten entsprechend neu abgrenzen. Das heißt, die engen Grenzen müssen so erweitert werden, dass zwischen beiden Berufsgruppen ein fairer Wettbewerb möglich ist. Sie müssen so exakt sein, dass sie für die Verbraucher transparent sind und vor allem auch deren Schutz gewährleisten. Daher haben wir vonseiten der Koalitionsfraktionen diesen Entschließungsantrag vorgelegt, der den Willen zum Nachdenken und darüber hinaus zum Handeln dokumentiert, die Befugnisse der selbstständigen Bilanzbuchhalter zu erweitern. Jetzt ist ein ganz klarer zeitlicher Rahmen für eine Prüfung, welche Anforderungen an Qualifikation, Versicherungsschutz und Berufsaufsicht gestellt werden müssen, geschaffen. Damit haben wir zumindest ein Signal gegeben. Ein ganz entscheidender Bestandteil des Gesetzentwurfes ist auch eine praxistaugliche Neuregelung der Vorschriften zur Werbung. Gerade den zahlreichen Abmahnverfahren wird hier durch eine ganz klare Definition der Berufsbezeichnungen und der Möglichkeit, mit diesen Bezeichnungen zu werben, die rechtliche Grundlage entzogen. Fairer Wettbewerb ist heute keine Frage mehr, die allein aus einem nationalen Blickwinkel betrachtet werden kann. Daher ist es so, dass Personen aus dem EU-Ausland, die dort befugt sind, geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen zu leisten, dies auch in der Bundesrepublik Deutschland tun. Wegen der unterschiedlichen Qualifikationsanforderungen in anderen Staaten der Europäischen Union wurde von verschiedenen Seiten vorgeworfen, dass die inländischen Berater und Beraterinnen diskriminiert werden. Daher haben wir die Bundesregierung gebeten, die tatsächliche Entwicklung der grenzüberschreitenden Beratungstätigkeiten nicht nur zu beobachten, sondern auch zu analysieren und uns darüber zu berichten. Gegebenenfalls muss dann über die Verteilung der Befugnisse unter dem Aspekt der Gleichstellung unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten der europäischen Situation auch neu entschieden werden. Auch die weiteren Neuregelungen - Rechtsgrundlagen für die EDV-Nutzung, Übertragung hoheitlicher Aufgaben an die Steuerberaterkammer - modernisieren die Voraussetzungen für die Zulassung und die Berufsausübung in den steuerberatenden Berufen und sind angesichts der veränderten Anforderungen an eine funktionierende Dienstleistungsgesellschaft dringend erforderlich. Somit ist es gut, wenn diesem Gesetzentwurf zugestimmt wird. Ich freue mich, dass von der Opposition signalisiert wurde, dass sie auch hier im Plenum - im Finanzausschuss hat sie dies ja schon getan - diesem Gesetzentwurf in der letzten Lesung zustimmen wird. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht Kollege Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin hat den Gesetzentwurf im Transrapidtempo eingebracht. Daran kann man sehen, was ein Transrapid manchmal auch wert sein kann. Wir verabschieden heute wieder einmal ein Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes. Vieles ist bereits gesagt worden. Ich will die nach unserer Auffassung wichtigsten Bestandteile vortragen: Erstens die Anpassung an Art. 50 des EG-Vertrages durch Zulassung der niedergelassenen europäischen Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaters, zweitens verschiedene Änderungen im Prüfungs- und Zulassungswesen, auf die im Einzelnen schon hingewiesen wurde, und drittens die Übertragung hoheitlicher Aufgaben wie die Bestellung zum Steuerberater auf die Steuerberaterkammern ich denke, letzteres ist eine wichtige Entscheidung. Die Umsetzung von EG-Recht zeigt aber auch an dieser Stelle erneut, dass immer mehr Bereiche unserer Rechtsordnung von der Europäischen Union beeinflusst werden. Heute kommen wir bei der Harmonisierung des Rechts der EU-Mitgliedstaaten auch wieder einen Schritt weiter. Künftig werden im europäischen Ausland zugelassene Rechtsanwälte zum Beruf des Steuerberaters zugelassen. Der Dienstleistungsfreiheit bei grenzüberschreitender Hilfeleistung in Steuersachen wird Rechnung getragen. Wir verteidigen heute aber auch etwas, was es in dieser Form nur in Deutschland gibt: das umfassend geregelte Recht der freien Berufe. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin ein Befürworter dieses bewährten Bestandteils unseres Rechtssystems. Freiberufler wie die Steuerberater tragen aber auch ein hohes Maß an persönlicher Verantwortung. Ihre berufliche Leistung verlangt besonderen Sachverstand und hohe berufliche Qualifikation. Es ist deswegen mehr als gerechtfertigt, an die Zulassung zum Steuerberaterberuf besondere Anforderungen zu stellen, die zugegebenermaßen bei weitem nicht von allen Bewerbern erfüllt werden. Betrachtet man aber die Komplexität des trotz aller gegenteiligen Bekenntnisse der Koalition immer schwieriger und komplizierter werdenden Steuerrechts, können die Voraussetzungen für die Zulassung zum steuerberatenden Beruf nicht abgeschwächt werden. Das klingt für viele andere Berufsgruppen, die im Steuerwesen tätig sind, natürlich nicht befriedigend. Das wurde auch bei dem Expertengespräch im Finanzausschuss deutlich. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Zugangsvoraussetzungen zum Steuerberaterberuf nicht aufgeweicht werden dürfen. ({0}) Im Übrigen steht allen im Bereich Steuern Tätigen frei, die Steuerberaterprüfung zu absolvieren. In diesem Zusammenhang kann man über die Zulassungsbedingungen zur Steuerberaterprüfung reden. Ohne Frage haben Buchführungshelfer, Bilanzbuchhalter und andere im Steuerwesen Tätige eine qualifizierte Ausbildung mit einer anspruchsvollen Abschlussprüfung absolviert. Mit der Weiterentwicklung des Steuerrechts und damit auch der Ausbildungsinhalte wird von Zeit zu Zeit zu überprüfen sein, ob sich Prüfungsbestandteile mit der Steuerberaterprüfung überschneiden oder in welchem Umfang Ausbildungszeiten als berufspraktische Zeit gelten können. In einigen Bereichen sind im heute vorliegenden Gesetzentwurf Verbesserungen vorgenommen worden. Darauf ist hingewiesen worden. Zudem gibt es in allen angesprochenen Berufsgruppen eine dynamische Entwicklung, die es erforderlich macht, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob es Erleichterungen beim Zugang zum Steuerberaterberuf geben kann. Grundsätzlich muss es aber klare Grenzen zwischen dem steuerberatenden Beruf und anderen Tätigkeiten im Steuerwesen geben. So ist auch das ist gesagt worden - jede Umsatzsteuer-Voranmeldung eine Steuererklärung, die den steuerberatenden Berufen vorbehalten ist und auch bleiben sollte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine, wir sind bisher mit dem Steuerberatungsgesetz gut gefahren. Ich denke dabei insbesondere an die Bürger, die in Steuersachen Hilfe in Anspruch nehmen. Die meisten müssen das, weil unser Steuerrecht von normalen Steuerpflichtigen nicht mehr verstanden wird. Sie müssen sich auch darauf verlassen können, sachlich kompetent und umfassend beraten zu werden. Eine Schlussbemerkung zur Kompliziertheit des Steuerrechts. Die Qualität der Beratungsleistung steht und fällt auch mit der Praktikabilität der Gesetze und sonstigen Vorschriften. Hier stoßen wir mehr und mehr an Grenzen. Dazu trägt die gestern im Finanzausschuss verabschiedete Unternehmensteuerreform ein gutes Stück bei, denn sie hat unser ohnehin schon kompliziertes Steuerrecht in für uns unerträglicher Weise verkompliziert. ({1}) Meine Damen und Herren, die F.D.P. stimmt der Novelle des Steuerberatungsgesetzes zu. Ich sage allerdings: Wir werden wegen der weiteren Verkomplizierung des Steuerrechtes der Unternehmensteuerreform nicht zustimmen. Danke schön. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht die Kollegin Heidemarie Ehlert.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen der Bundesregierung, das Steuerberatungsgesetz zu modernisieren und zu straffen, ist zu begrüßen. Leider ist unsere Steuergesetzgebung schon mehr als kompliziert und die übergroße Mehrheit der Bürger muss auf die Hilfeleistungen von steuerberatenden Berufsgruppen zurückgreifen. Aber bei allen positiven Veränderungen, denen ich durchaus zustimme, sind unserer Meinung nach einige wichtige Fragen nicht ausreichend geklärt. Dazu haben wir entsprechende Änderungsanträge eingereicht. Leider kann ich nicht alle erläutern. Völlig unverständlich ist, warum der Regierungsentwurf nicht auf die berechtigten Forderungen der Bilanzbuchhalter eingegangen ist, ihre Befugnisse nun endlich neu zu regeln. Bereits 1994, als das 6. Änderungsgesetz zum Steuerberatungsgesetz eingebracht wurde, haben Sie sich, verehrte Kollegin Westrich, im Namen der SPDFraktion dafür engagiert, ob und in welchem Rahmen die Befugnisse der geprüften Bilanzbuchhalter erweitert werden können. Ich stimme mit Ihrer damaligen Auffassung völlig überein, dass es sich bei einem Teil der erforderlichen Tätigkeiten im Steuerberatungsbereich um Routinetätigkeiten handelt. Die Erstellung der laufenden Umsatzsteuer-Voranmeldung ist, wie Sie bereits 1994 feststellten, fast automatisch ein Abfallprodukt der laufenden Buchführung. Aber sie durfte nach der geltenden Rechtslage gemäß § 5 des Steuerberatungsgesetzes von Bilanzbuchhaltern unter Zwangsgeldandrohung nicht durchgeführt werden. Ähnlich ist es bei der Einrichtung der Buchführung. Der nun von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf berücksichtigt nach dem Motto „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern!“ ihre eigenen Forderungen von 1994 nicht. Was soll der Vorschlag, die Arbeitsaufgaben der Bilanzbuchhalter bis 2001 noch einmal zu prüfen? Für eine solche Prüfung waren sechs Jahre Zeit, zumal die SPD-Fraktion bereits 1994 die Stellungnahme des DIHT aufgegriffen hatte, dass die geprüften Bilanzbuchhalter hinreichend qualifiziert seien, die beiden zusätzlichen Tätigkeiten sachgerecht auszuführen. Neue Erkenntnisse dürften also in den kommenden Monaten nicht gewonnen werden. Wohl aber werden Hoffnungen enttäuscht und wird ein zusätzlicher Arbeitsaufwand für die mit der Prüfung beauftragten Behörden künstlich geschaffen. Die Lobby der Steuerberater hat wieder einmal erfolgreich ihre Pfründe verteidigt. ({0}) Ohne Nationalismus predigen zu wollen, wird den heimischen Bilanzbuchhaltern mit dem vorliegenden Gesetzentwurf das vorenthalten, was EU-Ausländern im gleichen Atemzug gestattet wird, nämlich in Deutschland Hilfeleistungen in Steuersachen einschließlich der Einrichtung der Buchführung und der Erstellung von Umsatzsteuer-Voranmeldungen anzubieten. Der Umfang des zulässigen Angebots richtet sich dabei nach dem Umfang der Berechtigungen im Niederlassungsland. Den in Österreich niedergelassenen Bilanzbuchhaltern ist eben das erlaubt, was den deutschen nicht erlaubt wird. Das ist meines Erachtens ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. ({1}) Einen weiteren Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz stellt Art. 1 Nr. 35 c Abs. 3 des Regierungsentwurfs dar, in dem es um die Änderung des § 40 des Steuerberatungsgesetzes geht. Er muss ersatzlos gestrichen werden. Dieser Absatz gibt den Steuerberaterkammern das Recht, die Bestellung zum Steuerberater zu versagen, wenn der Bewerber ... infolge eines körperlichen Gebrechens … nicht nur vorübergehend unfähig ist, den Beruf des Steuerberaters ordnungsgemäß auszuüben; Dieser Passus widerspricht dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 des Grundgesetzes. Auch Menschen mit körperlichen Behinderungen sind durchaus in der Lage, den Beruf des Steuerberaters auszuüben. ({2}) Ich möchte noch ein letztes Problem ansprechen. Dem Petitionsausschuss liegen eine Reihe von Petitionen von Bürgern aus den alten und den neuen Bundesländern vor, die im Zuge der deutschen Einheit vorläufig zu Steuerberatern bestellt worden sind und denen die endgültige Bestellung zum Steuerberater versagt wird, obwohl sie die entsprechenden Prüfungen abgelegt haben. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Gründe. Teilweise ist nach dem Parteibuch oder nach entsprechenden Beziehungen entschieden worden. Die Beweise kann ich Ihnen, Herr Hauser, vorlegen. Sie liegen in meinem Büro. Diese Klientel sollte von uns vertreten werden. Deshalb fordern wir in einem Änderungsantrag, dass diese Personen noch einmal die Möglichkeit erhalten, ihren Fall überprüfen zu lassen. Ich bitte sie sehr herzlich, unseren Änderungsanträgen zuzustimmen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Lydia Westrich.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gerade nach der Debatte von heute Morgen freue ich mich, dass wir jetzt einen Gesetzentwurf verabschieden, der von allen Fraktionen - bis auf die der PDS - getragen wird. Das Steuerberatungsgesetz steht in guter Tradition, Herr Hauser. Wir haben uns bei der Erarbeitung dieses Gesetzes schon öfter zusammengerauft. Das bedeutet gleichzeitig, dass es trotz des trockenen Stoffes ein sehr „lebendiges“ Gesetz ist, das vielfach geändert wurde. Heute verabschieden wir das 7. Steuerberatungsänderungsgesetz. Das beweist die Dynamik, die in der Entwicklung dieses Berufsrechts zu verzeichnen ist. Unsere fleißige Steuergesetzgebung der letzten Jahre trägt natürlich zu den Veränderungsnotwendigkeiten bei. Aber auch die Entwicklungen im europäischen Raum machen das zeit- und praxisnahe Reagieren notwendig. Die Bundesrepublik ist eines der wenigen Länder in Europa, das überhaupt ein Gesetz über den steuerberatenden Beruf hat. Die Angehörigen steuerberatender Berufe dürfen durch diese traditionelle Besonderheit natürlich nicht behindert werden. Wir wollen ihre Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit weiter stärken. Fast 60 000 Personen kümmern sich in Deutschland als Angehörige steuerberatender Berufe um die fachgerechte Unterstützung der Steuerpflichtigen bei der Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten und bei der Gestaltung ihrer steuerlichen Verhältnisse, was uns manchmal nicht ganz so lieb ist. Sie übernehmen damit im Rahmen der Volkswirtschaft eine bedeutsame Funktion. Außerdem sind sie laut Bundesverfassungsgericht ein Organ der Steuerrechtspflege. Der Aufgabenbereich hat sich weit über die Hilfeleistung in Steuersachen hinaus entwickelt. Steuerberater sind für ihre Auftraggeber im Normalfall nicht nur für einen Einzelfall tätig; in der Regel beraten und vertreten sie die Steuerpflichtigen über längere Zeiträume. Daraus ergibt sich von selbst, dass sie sich zu allgemeinen Beratern ihrer Auftraggeber in wirtschaftlichen Fragen entwickeln, zumal eine sachgerechte Hilfe in Steuersachen oft ohne betriebswirtschaftliche Beratung gar nicht durchzuführen ist. ({0}) Dem sensiblen Vertrauensverhältnis zwischen den Angehörigen der steuerberatenden Berufe und den Steuerpflichtigen, die eine umfassende und qualifizierte rechtliche Beratung erwarten dürfen, hat die Politik durch das Steuerberatungsgesetz bereits 1961 Rechnung getragen. Beim 7. Änderungsgesetz passen wir das nationale Steuerberatungsgesetz an das europäische Recht an. Wir modernisieren und straffen die Regelungen und machen sie durch Präzisierungen in einigen Bereichen leichter handhabbar. Ich muss jetzt nicht nochmals alle Maßnahmen dieses Gesetzes erwähnen. Das hat die Frau Staatssekretärin schon sehr ausführlich getan. Wir haben wichtige Forderungen der Steuerberater aufgenommen, einschließlich der Ermächtigung für eine Gebührenordnung, und wir sind in weiten Teilen im Konsens mit den Betroffenen. Im Gegensatz zu Herrn Hauser will ich aber auch meine große Freude ausdrücken, dass es den Koalitionsfraktionen gelungen ist, die Beratungsbefugnisse der Lohnsteuerhilfevereine gravierend zu verbessern. ({1}) Der Wille der Koalitionsfraktionen, Arbeitnehmern eine qualifizierte und günstige Steuerberatung zu erhalten, drückt sich in der Erweiterung der Beratungsbefugnisse bei Einnahmen aus anderen Einkunftsarten, sprich: Einnahmen aus Kapitalvermögen, auf Beträge von 18 000 DM bzw. 36 000 DM bei Verheirateten aus. Damit berücksichtigen wir natürlich auch das veränderte Verhalten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihre Zukunftsvorsorge nicht mehr allein über das Sparbuch abwickeln. Trotzdem sollen sie bei der Abgabe des Lohnsteuerjahresausgleiches oder der Einkommensteuererklärung auf die „Selbsthilfeeinrichtungen der Arbeitnehmer“, also auf Lohnsteuerhilfevereine, im Steuerberatungsbereich nicht verzichten müssen. Dem dient die Erhöhung dieser Beiträge. ({2}) Erstmals in der Geschichte des Steuerberatungsgesetzes haben wir die Anhörung mit den Fachleuten auch auf die Berufsstände der selbstständigen Buchhalter ausgedehnt. Hier stehen die langjährigen Forderungen der selbstständigen Angehörigen buchführender Berufe im Raum, die ihre Befugnis auf die Einrichtung der Buchführung, vorbereitende Abschlussarbeiten und das Erstellen der Umsatzsteuer-Voranmeldungen ausdehnen wollen. Die Bilanzbuchhalter erhalten dabei auch massive Unterstützung vom DIHT, der im Rahmen der Dienstleistungsfreiheiten des europäischen Wettbewerbs diese Ausweitung für unabdingbar hält. ({3}) Diese Argumente, Herr Hauser, sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Abgrenzungsstrategien der Steuerberaterkammern in den früheren Jahren, die sich auch in einer Vielzahl von Prozessen gegen selbstständige Bilanzbuchhalter und Buchhalter ausgedrückt haben, sind meiner Ansicht nach den Erfordernissen der heutigen Zeit nicht mehr angemessen. Auch die Ausdehnung von Dienstleistungsmöglichkeiten und die Erwartung der Steuerpflichtigen, bei der Erfüllung ihrer Steuerpflichten optimal beraten zu werden, müssen gegeneinander abgewogen werden. Wir haben im 7. Änderungsgesetz bereits einige wichtige Forderungen dieser Verbände erfüllt, auch mit Ihrer Zustimmung: Wir haben eine einheitliche Berufsbezeichnung eingeführt, wir haben die Werbemöglichkeiten rechtssicher gegen Prozesse gemacht und wir haben die Zugangsbedingungen zur Steuerberaterprüfung wesentlich erleichtert. In einem Entschließungsantrag fordert der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages mehrheitlich das Bundesfinanzministerium zusätzlich auf, bis Ende nächsten Jahres zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang das Tätigkeitsfeld der geprüften Bilanzbuchhalter erweitert werden kann. Wir werden auch genau beobachten, wie sich die grenzüberschreitende Steuerberatung aus anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft, vor allem aus Österreich und den Benelux-Staaten entwickeln wird. Wir wollen allen einen fairen Wettbewerb gewährleisten. ({4}) Der Zugang zu einem dem Steuerberater ähnlichen Beruf setzt in anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft teilweise eine wesentlich geringere fachliche Qualifikation voraus als unsere detaillierte Gesetzgebung. Ob dadurch gravierende Wettbewerbsnachteile für die Angehörigen buchführender Berufe entstehen, wird deshalb in den nächsten eineinhalb Jahren penibel registriert. Nötigenfalls müssen wir dann - ich bin überzeugt, das machen wir gemeinsam - die Verteilung der Befugnisse zur Steuerberatung neu überdenken. Das für die Koalitionsfraktionen wichtigste Kriterium wird auch dabei der Verbraucherschutz sein. Die Risiken für mögliche Befugniserweiterungen dürfen den Steuerpflichtigen nicht aufgelastet werden. Da vor allem kleinere Unternehmen und Handwerksbetriebe auf die Dienste der selbstständigen Bilanzbuchhalter, Buchhalter und Buchführungshelfer zurückgreifen, stehen wir als Gesetzgeber auch in der Pflicht, die Sicherheit einer ordnungsgemäßen Beratung in unserer komplizierten Steuergesetzgebung, insbesondere auch im Umsatzsteuerrecht, einigermaßen zu gewährleisten. Das bedeutet: obligatorische Haftpflichtversicherung, Berufsaufsicht, besser ans Steuerrecht angelehnte Ausbildungsinhalte und anderes mehr. Gerade in diesem Bereich gibt es bei den selbstständigen Buchhaltern und Buchführungshelfern noch erhebliche Defizite. Die Überprüfungszeit, wie sie der Entschließungsantrag vorsieht, wird auch den Verbänden Zeit geben, eventuell vorhandene Defizite aufzuarbeiten. Es ist ratsam, diese Zeit zu nutzen, zusammen mit den Steuerberaterkammern, den Finanzbehörden, dem DIHT Kriterien zu entwickeln, die eine Brücke bilden zwischen den Ansprüchen, die eine moderne Dienstleistungsgesellschaft im europäischen Raum stellt, und dem notwendigen Abbau von Hemmnissen sowie dem Vertrauensschutz für die Steuerpflichtigen bei der schwierigen Steuergesetzgebung im gesamten europäischen Raum. Ich fordere auch die Opposition auf, sich an diesen Gesprächen zu beteiligen. Ich bin überzeugt davon, dass wir mit reinen Abschottungsmechanismen wie bisher nicht weiterkommen. ({5}) Auch wenn das Steuerberatungsgesetz sicherlich ein lebendiges Gesetz bleiben wird, das heißt immer den jeweiligen Verhältnissen angepasst werden muss, haben wir mit diesem 7. Änderungsgesetz die Basis für eine weitere gute Entwicklung der steuerberatenden Berufe im europäischen Wettbewerb gelegt. Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeit mit dem Finanzministerium, den verschiedenen Verbänden und der Bundessteuerberaterkammer und hoffe, dass wir überall weiter im Gespräch bleiben - gemeinsam im Dienste der Steuerpflichtigen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Nach den Abstimmungen wird es eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Dr. Seifert geben. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Steuerberater in der Ausschussfassung. Das sind die Drucksachen 14/2667 und 14/3284. Dazu liegen sieben Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor, über die wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3311? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3312? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3313? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit demselben Stimmenverhältnis abgelehnt worden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3314? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt worden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3315? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist ebenfalls mit demselben Stimmenverhältnis abgelehnt worden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3316? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt worden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/3317? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit dem eben festgestellten Stimmverhältnis abgelehnt worden. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung, Drucksache 14/3284 Nr. 1. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3284 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Jetzt kommen wir zur persönlichen Erklärung zur Abstimmung des Abgeordneten Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen und draußen! Wir haben hier gerade über ein Steuerberatergesetz abgestimmt. Ich habe mich am Ende enthalten, weil Sie all unseren Änderungsanträgen Ihre Zustimmung verweigert haben. Ich will mich auf einen einzigen Änderungsantrag beziehen. Normalerweise spreche ich in diesem Hause, wenn es um Behinderten-, Menschenrechts- oder Bürgerrechtsfragen geht. Hier wurde ein Gesetz verabschiedet, das in einem Punkte, für den die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten kämpft, dass es keine -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, einen Moment! Ich muss jetzt doch auf die Regeln achten. Sie können nur zu Ihrem eigenen Abstimmungsverhalten Stellung nehmen. Sie können nicht das Abstimmungsverhalten anderer Abgeordneter kommentieren oder kritisieren. Bei diesem Instrument der Geschäftsordnung, das Sie benutzt haben, besteht dazu nicht die Möglichkeit.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mich darauf hinweisen. - Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten darum kämpft, dass solche Diskriminierungstatbestände nicht mehr in Gesetze aufgenommen bzw. getilgt werden. Am 5. Mai - das ist noch keine Woche her -, am europaweiten Aktionstag, haben Menschen mit Behinderung europaweit und gerade auch hier in Berlin genau darum gekämpft, dass solche Sätze nicht mehr in Gesetze kommen. Ich fühle mich als Teil dieser Behindertenbewegung und muss Ihnen sagen, dass ich enttäuscht bin, dass wiederum ein solches Gesetz verabschiedet wurde. Ich bitte Sie, in sich zu gehen. Vielleicht bekommen wir wenigstens in diesem Punkte so schnell wie möglich eine erneute Änderung hin, die solche Diskriminierungen unmöglich macht. Es kann nicht sein, dass sich jeder Mensch blamieren darf, auch beruflich, so wie er will, aber Menschen mit Behinderungen, die in gleicher Weise freiberuflich wie viele andere tätig werden wollen, vor sich selbst geschützt werden sollen. Wo gibt es denn so etwas? ({0}) Ich bitte Sie, in sich zu gehen. Frau Präsidentin, ich habe vielleicht das Geschäftsordnungsinstrument nicht ganz so angewandt, wie es richtig wäre. Daher schöpfe ich meine Redezeit nicht aus. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und bitte Sie alle in diesem Hause: Lassen Sie uns eine achte Änderung zugunsten von Menschen mit Behinderungen und ohne diskriminierende Formulierungen in Angriff nehmen! Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Norbert Hauser ({0}), Norbert Röttgen, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherung der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenforschung in der Informations- und Kommunikationstechnik - Drucksache 14/3097 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Norbert Hauser. ({1})

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die interdisziplinäre Grundlagenforschung ist für die Informations- und Kommunikationstechnologie von fundamentaler Bedeutung. Sie ist es nämlich, die die Grundlage für die anwendungsbezogene Forschung nachfolgender Jahre bildet. Herr Catenhusen, es schien, als hätten Sie die Bedeutung der Grundlagenforschung nicht nur erkannt, sondern wollten ihr zusätzlichen Auftrieb verleihen, als Sie uns am 29. September des vergangenen Jahres wie aus heiterem Himmel die Pläne der Bundesregierung über die Fusion von GMD und FhG gütigst zur Kenntnis gaben. In einer Pressemitteilung vom selben Tag hieß es vielversprechend - ich zitiere -: Zugleich wird in der neuen Organisation mehr Raum für Vorlaufforschung geschaffen und für die Inangriffnahme neuer Themen, die erst mittel- und langfristig Vermarktbarkeit versprechen. Was ist aus diesen hehren Zielen geworden? Die Grundlagenforschung ist Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes abhanden gekommen. Sie haben seit September Ihre forschungspolitischen Fusionsziele aufgegeben. So sollte interdisziplinäre Grundlagenforschung auch nach der Fusion in der FhG fortgeführt werden. Gerade hierin sollte der forschungspolitische Mehrwert der neuen FhG liegen. Sie, Herr Catenhusen, haben das Wort Grundlagenforschung aus den Fusionsplänen gestrichen. So sollte die Fusion mit einer Neugliederung der FhG einhergehen. Vorgesehen war die Aufgliederung der FhG in Fachbereiche, so auch in einen für I und K. Davon ist heute keine Rede mehr. Es ist daher kein Wunder, dass Sie mit Ihren Fusionsplänen mittlerweile auf ungeteilte Ablehnung stoßen. Erst vorgestern haben sich die Institutsleiter der GMD geschlossen gegen eine Fusion ausgesprochen. Bei den Mitarbeitern der GMD herrschen Bitternis und Verärgerung. Statt sie an dem Fusionsprozess zu beteiligen, werden ihnen seitens des BMBF Maulkörbe verpasst. Es macht sich das Gefühl breit, es gehe nicht mehr um das Wohl der GMD oder der FhG, sondern ausschließlich darum, die einmal propagierte Fusion um des vermeintlichen politischen Erfolges der Forschungsministerin willen durchzusetzen. Dies ist Arroganz der Macht, die hier zutage tritt. ({0}) Selbst die FhG, die nach allen Einschätzungen nach der Fusion auf der Gewinnerseite stünde, hat starke Vorbehalte. Die FhG hat deutlich gemacht, dass die Fusion nach Fasson der Bundesregierung nicht zum Ziel führen kann. So war einem Papier, das den FhG-Senatsbeschluss vom 11. April 2000 vorbereiten sollte, Folgendes zu entnehmen - ich zitiere -: Ein Kernproblem liegt nach wie vor in den bisher nicht überbrückbaren Unterschieden der Förderung von FhG und GMD und damit im unterschiedlichen Zwang zur Fokussierung der Forschung auf kurzund mittelfristige Umsetzbarkeit. Die FHG fordert deshalb von der Bundesregierung Antworten - Zitat -: Noch heute fehlt es an erschöpfenden und konsistenten Erklärungen des BMBF zu den mit der Fusion verfolgten forschungspolitischen Zielen und den damit verbundenen Förderbedingungen für die FhGund GMD-Institute in der erweiterten FhG. ({1}) Unter dem Label „Fusion unter Gleichen“ wurden die Geschäftsführungen beider Gesellschaften - hören Sie gut zu, Herr Hilsberg allein gelassen bei der gemeinsamen Richtungsfindung unter dem Diktat der so unterschiedlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in FhG und GMD. Was muss Ihnen eigentlich noch ins Stammbuch geschrieben werden, damit Sie endlich aufwachen? ({2}) Auch von Externen, die von der Fusion nicht betroffen sind, erhalten Sie schlechte Noten. Professor Wilfried Bauer von der TU München schrieb an Frau Bulmahn: Ich verstehe nicht, wie Sie ohne eingehende Beratung durch kompetente Wissenschaftler und Fachleute aus der Industrie solch eine delikate Angelegenheit im Stile einer Firmenfusion durchziehen zu können glaubten. Oder Professor Bernd Neumann von der Universität Hamburg betonte gegenüber der Forschungsministerin Zitat -, dass Ihre Maßnahme die Grundlagenforschung der GMD und damit in Deutschland substanziell schwächen wird. Noch deutlicher wurde Professor Siegfried Stiehl, ebenfalls Universität Hamburg, der etwas drastisch meint, dass durch die Fusion eine politische Guillotine einen der besten Köpfe der IuK-Grundlagenforschung in der Bundesrepublik vom wissenschaftlichen Körper der nationalen Informatik trennt. Das sind deutliche Worte, die der Koalition zu denken geben sollten. Meine Damen und Herren, mit solchen Noten könnte keiner von Ihnen mehr irgendein Examen bestehen. ({3}) Selbst die Sitzländer der GMD - Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen - haben deutlich gemacht, -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0}) - Sie brauchen die Frage ja nicht zu stellen.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hauser, ist Ihnen eigentlich entgangen, dass die entscheidenden Beschlüsse der beiden Gremien für die Fusion nahezu einstimmig erfolgt sind und dass von allen Fachleuten, die in diesen Gremien versammelt sind, keinerlei Kritik an dem bisherigen Fusionsprozess laut geworden ist? ({0})

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Hilsberg, hören Sie doch bitte zu! Ich habe Ihnen die Kritik der FhG, die ja eigentlich - ich führte das aus - der Gewinner dieser ganzen Aktion sein sollte, ausdrücklich und umfassend zitiert. Hier wurde deutlich, dass zwar eine Fusion unter den Parametern, wie sie ursprünglich einmal angedacht waren - Stärkung der Grundlagenforschung in der FhG, diese Stärke der GMD in die FhG mit hinüber nehmen, dadurch die Synergieeffekte aus beiden stärken -, möglich und sinnvoll sei. Aber von diesen Parametern haben Sie sich entfernt. ({0}) Ich werde gleich noch einmal dazu kommen, dass die Fusion von der Erfüllung dieser Parameter abhängig gemacht werden muss. Nur wenn das gewährleistet ist, kann es eine Fusion dieser beiden Einrichtungen geben. Und unter dieser Bedingung, Herr Hilsberg, haben zum Beispiel der Aufsichtsrat in der GMD und auch der Senat in der FhG zugestimmt, weil man davon ausging, dass dies auch Bedingungen für eine Fusion seien. Meine Damen und Herren, ich wies schon darauf hin, dass auch die Sitzländer - Berlin, Hessen und NordrheinWestfalen - deutlich gemacht haben, dass in diesem Sinne die Parameter eine Conditio sine qua non für eine Fusion sind. Ministerialdirigent Helmut Matonett vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen schreibt in einem Brief vom 30. März 2000 an den Landrat des RheinSieg-Kreises: Nur wenn gewährleistet ist, dass diese Eckpunkte, die nach Geist und Inhalt Grundlage für die Zusammenführung sein sollen, auch tatsächlich umgesetzt werden, wird die Landesregierung einer Fusion von FhG und GMD zustimmen. Meine Damen und Herren, Hauptproblem im Fusionsprozess ist der entstandene Eindruck, dass die Bundesregierung bereit ist, die interdisziplinäre Grundlagenforschung im IuK-Bereich auf dem Fusionsaltar zu opfern. ({1}) Heute müssen Sie die Antwort darauf geben, wohin der Weg der Informations- und Kommunikationstechnologie in Deutschland führen soll. Entweder auf der einen Seite Grundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungsorientierte Forschung als harmonischer Dreiklang oder auf der anderen Seite, wie es im Bericht der Evaluierungskommission für die FhG aus November 1998 heißt, anwendungsorientierte Vertragsforschung, ausgerichtet an der „Kundenzufriedenheit“. Eine solche, auf kurzfristige Erfolge abzielende Forschung hat durchaus ihren Sinn. Sie kann aber nur einen Teil der Forschungslandschaft darstellen. ({2}) Verbesserungen da, wo wir bereits top sind, Vorrang für Anwender für das kurzfristig Benötigte, aber eben keine Antworten auf lange Sicht. Das ist Feuerwerksforschung: brillant, leuchtend und beeindruckend für den Moment, aber eben ohne Antworten und dunkel im Blick auf die Zukunft. Wir haben Sie mehrfach auf die gegenläufige Entwicklung in den USA hingewiesen, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Die USA beabsichtigen, bis 2004 zusätzlich 1,378 Milliarden US-Dollar im Wesentlichen in die interdisziplinäre Grundlagenforschung zu investieren, ({3}) ausgerichtet nicht an kurzfristigen Zielen, sondern an Zeiträumen von Dekaden. Nur wenn wir übersehen, was übermorgen gefragt ist, wenn es uns gelingt, die Anforderungen, die unsere Gesellschaft in Zukunft zu bewältigen hat, zu erkennen, um uns dann umgehend auf die Suche nach Antworten zu begeben, eröffnen wir uns die Möglichkeiten, die Schwelle zu neuen Märkten als Erste zu überschreiten. Die USA haben das begriffen und versteNorbert Hauser ({4}) hen die Grundlagenforschung als strategische Forschung für neue Märkte. Wir verlangen deshalb für die Fusion von FhG und GMD deutliche Zeichen, dass die von Ihnen zugesagte Erhaltung und Förderung der Grundlagenforschung Voraussetzung und Bedingung für eine Fusion dieser beiden Forschungseinrichtungen sind. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft hat die Vorgängerregierung ein schlüssiges Gesamtkonzept nie zustande gebracht. Nur wenige technologische Neuerungen im Bereich Internet sind „made in Germany“. Hinsichtlich Computerausstattung und Internetanbindung rangierten deutsche Bildungseinrichtungen bei Regierungsübernahme im internationalen Vergleich höchstens im Mittelfeld. Didaktisch hochwertige Bildungssoftware war bei Regierungsübernahme nur wenig verfügbar, ganz zu schweigen von dem Thema Aus- und Weiterbildung im IT-Bereich, wo offenkundig nicht rechtzeitig auf erkennbare neue Anforderungen reagiert wurde, mit der Folge, dass wir in Deutschland heute hier eine Wachstumsbremse haben. ({0}) Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ erstmals ein Gesamtkonzept vorgelegt, in dem wir Ziele formulieren, Aktionen bündeln und in Kooperation und gegenseitiger Abstimmung von Wirtschaft und Politik die für den Aufbruch in die Informationsgesellschaft notwendigen Weichenstellungen für eine zukunftsgerichtete Forschungsund Bildungspolitik vorgenommen haben. Zentrale Maßnahmen sind dabei etwa die gemeinsame Initiative im Bereich Initiative D 21 mit der Wirtschaft und auch mit den Ländern zur verstärkten Computerausstattung und Netzanbindung aller Bildungseinrichtungen. Es geht etwa um das neue Förderprogramm „Neue Medien in der Bildung“, bei denen die Entwicklung und Erprobung didaktisch hochwertiger Bildungssoftware Schwerpunkt ist, wofür alleine in den nächsten Jahren 400 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden. Es geht etwa um Programme zur Erschließung neuer Anwendungsfelder durch Nutzung moderner I-und-K-Technologien, zum Beispiel im Bereich virtuelle Realität, intelligente Internettechnologien. Es geht auch um die Sicherung und den Ausbau der Spitzenposition in der informationstechnischen Technologieentwicklung, etwa durch unser neues Förderprogramm UMTS plus, und um neue Anstrengungen zur Fortentwicklung der wissenschaftlichen Infrastruktur, zum Beispiel die Umstellung des deutschen Forschungsnetzes hin zu einem Höchstleistungsnetz mit Übertragungsraten im Gigabytebereich. Zu einem in sich konsistenten zukunftsorientierten Gesamtprogramm gehört auch die Frage, wie wir die Struktur der außeruniversitären Forschung auf dem Gebiet der Kommunikations- und Informationstechniken zukunftsorientiert weiterentwickeln. In Übereinstimmung mit dem Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft und dem Direktor der GMD haben wir deshalb einen Prozess begonnen, der zum Ziel hat, durch Zusammenführung der Institute der GMD mit den Informations- und Kommunikationsforschungsinstituten der Fraunhofer-Gesellschaft die Stärken beider Einrichtungen zu bündeln. Jeder kann in diese neue Struktur seine besondere Stärke einbringen. Denn - das gilt es festzuhalten - gerade im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik kommt es zu einer immer stärkeren Rückkoppelung zwischen anwendungs- und produktorientierter Forschung und Entwicklung und strategisch orientierter längerfristiger Grundlagenforschung. Gerade in diesem Bereich sind die Innovationszyklen extrem kurz und damit verschwimmen die klassischen Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und Vorbereitung auf Produktentwicklungen. Meine Damen und Herren, ich meine, wer für Deutschland, wie Sie es heute tun, ausschließlich die Stärkung der Grundlagenforschung im klassischen Sinne reklamiert, missversteht die Innovationsdynamik auf diesem Gebiet und den Abbau bisher gültiger Grenzen zwischen Grundlagenforschung, angewandter Forschung und produktorientierter Forschung. Er missversteht auch grundlegende Studien wie etwa den amerikanischen PITAC-Report. ({1}) Denn dieser Report empfiehlt durchaus verstärkte Aktivitäten in strategisch ausgerichteten Forschungsfeldern. Er verknüpft sie aber immer mit sehr konkreten Anwendungsfeldern. Das ist der strategische Fehler und der Denkfehler, den Sie, Herr Hauser, und andere machen, indem Sie versuchen, diesen Gesamtkomplex künstlich auseinander zu dividieren und künstliche Trennungen im Gefüge und in der Struktur der außeruniversitären Forschung in Deutschland einzufordern.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauser?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Aber gerne.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Catenhusen, ist Ihnen entgangen, dass ich soeben vorgetragen habe, dass unser Verständnis von Grundlagenforschung aus dem harmonischen Dreiklang von Grundlagenforschung, Vorlaufforschung und anwendungsorientierter Forschung besteht, und dass damit durchaus deutlich wird, dass wir diese drei Aspekte nicht Norbert Hauser ({0}) auseinander ziehen wollen, sondern dass wir gerade das, was Sie jetzt im Begriff sind zu tun, nämlich sich nur noch auf die anwendungsorientierte Forschung zu stützen, für falsch halten?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Wenn Sie das so sehen, Herr Kollege Hauser, nehme ich das zwar zur Kenntnis, weise Sie aber darauf hin, dass es einen erkennbaren Widerspruch zwischen der strategischen Grundeinschätzung, die Sie in Ihrer Rede haben anklingen lassen - ich akzeptiere diese auch; darin besteht offenkundig Übereinstimmung zwischen uns; das ist ja auch wichtig -, und den Organisationskonsequenzen, die Sie aufgrund Ihrer Position ziehen, gibt. Denn gerade bei der Fusion von GMD und FhG werden nach unserer Überzeugung alle Beteiligten gewinnen können. ({0}) - Sie müssen mir schon überlassen, ob ich Ihre Frage mit zwei oder mit 20 Sätzen beantworte, Herr Kollege Hauser. - In diesem Sinne sage ich Ihnen: Jawohl, ich konstatiere diesen Widerspruch und denke, dass Sie an dieser Stelle für sich selber klären müssen, was für Sie wichtiger ist: Wollen Sie grundsätzlich den Synergieeffekt, der sich aus dem Prozess einer stärkeren Verknüpfung und Vernetzung von stärker auf Grundlagenforschung orientierten Instituten, die sehr viel mehr marktorientiert sind, sich aber in der Synergie mit den Instituten der GMD stärker auf Fragen der strategischen Forschung öffnen können, und von auf strategische Forschung orientierten Instituten ergibt? Oder wollen Sie in Ihren praktischen Umsetzungsforderungen Strukturen konservieren, die das Zusammenführen und das, wie Sie sagen, stärkere Aufeinanderbeziehen eher verhindern oder abblocken? Das ist die strategische Frage, die Ihnen gestellt wird und auf die wir eine andere Antwort geben. Denn nach unserer Überzeugung können bei der Fusion von GMD und FhG im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik alle Beteiligten gewinnen, und zwar die Institute der GMD an Marktorientierung und an stärkerer Orientierung an Auftragsforschung, wie es den Strukturen der Fraunhofer-Gesellschaft entspricht. Auch die FraunhoferGesellschaft - das Umdenken fällt beiden Organisationen offenkundig nicht ganz leicht - kann von der längerfristig orientierten Forschung auf der Basis strategischer Gesichtspunkte, wie sie in der bisherigen GMD vorgeherrscht hat, profitieren. Meine Damen und Herren, es ist doch klar, dass wir die Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft, die sich sehr stark auf die industrielle Auftragsforschung und auf die Auftragsforschung für öffentliche Projekte konzentriert hat, auch in zukünftig bedeutsamen Technologiefeldern stärken müssen. Die Kommission, die die Fraunhofer-Gesellschaft evaluiert hat, hat ausdrücklich empfohlen, die Kompetenz der Fraunhofer-Gesellschaft für die Produkte von morgen und übermorgen durch eine Verstärkung der Vorlaufforschung voranzubringen. Ich denke, konkret dies setzen wir um. Deshalb gilt: In dieser gemeinsamen Struktur sollte die vergrößerte Fraunhofer-Gesellschaft insgesamt mehr Anreize für Ausgründungen schaffen, wie sie zum Beispiel in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung in den letzten Jahren durchaus in beachtlicher Weise realisiert worden sind. Dies werden wir erreichen durch einen eigenen Fonds für die längerfristig angelegte Forschung auf strategischen, zukunftsträchtigen Gebieten - dazu könnte man auch „anwendungsorientierte Grundlagenforschung“ sagen -, und durch eine Verbesserung des Anreizsystems innerhalb der erweiterten Fraunhofer-Gesellschaft für Ausgründungen und für die Einwerbung von EU-Mitteln. Mein Eindruck ist, dass, wenn wir die Diskussion zu grundsätzlichen Fragen führen, viel mehr Gemeinsamkeit in der Zielsetzung auf beiden Seiten des Hauses besteht, als es vielleicht in einer hitzigen Debatte wenige Tage vor einer Landtagswahl den Anschein haben kann. Offenkundig fällt uns das aktive Mitwirken an solchen strukturellen Reformen, das offene Einlassen auf einen gemeinsamen Entwicklungsprozess, den wir nicht im Detail vorgeben wollen, nicht immer ganz leicht. Das ist auch kein Wunder nach 16 Jahren Reformstau in Deutschland. Wo gibt es die Kultur, strukturelle Reformen im Wissenschaftsbereich gemeinsam anzugehen? Wo sind in den letzten 16 Jahren Lernprozesse erfolgt, die Strukturen zukunftsorientiert weiterzuentwickeln? ({1}) Wir müssen lernen, damit umzugehen, dass die Reformbereitschaft in diesem Bereich nicht im ersten Anlauf mit Jubel begleitet wird, sondern zum Teil mit Besorgnis, weil man geneigt ist, mit der Überzeugung in den Prozess zu gehen: Besser, es bleibt so, wie es ist; ich weiß ja nicht, wie die Zukunft wird. Meine Damen und Herren, wir wissen - das hat die schwierige Diskussion der letzten Monate gezeigt -, dass es in der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, einer Großforschungseinrichtung des Bundes, und der Fraunhofer-Gesellschaft unterschiedliche Unternehmensphilosophien und -kulturen gibt. Das macht den begonnenen Integrationsprozess zu einem spannenden und nicht spannungsfreien Unterfangen. Ich kann verstehen, dass Sie als Abgeordnete es als Ihre Aufgabe erachten, uns auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. Es ist auch richtig, dass Abgeordnete, die in diesen Regionen Verantwortung tragen, uns mit den kritischen Nachfragen der Beschäftigten konfrontieren. Aber in der ersten Aprilhälfte hat es Beschlüsse seitens des Aufsichtsrats der GMD und des Senats der Fraunhofer-Gesellschaft gegeben - darauf hat der Kollege Hilsberg bereits hingewiesen -, durch die eine gewisse Klärung der Perspektive erreicht wurde: Norbert Hauser ({2}) Erstens. Die Umsetzung der Fusion wird zum 1. Januar 2002 erfolgen. Das heißt, wir haben mehr Zeit für ein sorgfältiges Austarieren der neuen Struktur gewonnen. Zweitens. Nach diesen Beschlüssen sind die wissenschaftlichen Mitarbeiter und die Leiter der Institute der GMD und der IuK-Institute der Fraunhofer-Gesellschaft am Zuge. Sie können mit den Vorständen beider Seiten und gemeinsam mit einem erfahrenen Moderator die Synergieeffekte der Zusammenführung definieren sowie die Struktur und die Schwerpunkte ihrer Arbeit unter dem künftigen gemeinsamen Dach der Fraunhofer-Gesellschaft ausarbeiten. Wir erhoffen uns davon eine nachhaltige Profilierung und Stärkung der Forschungslandschaft auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechniken. Eines aber will ich hinzufügen: Man sollte nicht den Eindruck erwecken, als spiele sich die außeruniversitäre oder gar die wissenschaftliche, strategisch orientierte Forschung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken weitgehend in der GMD ab, als gebe es außer der GMD keine außeruniversitäre Forschung mehr. Wir haben eine Vielzahl weiterer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in vielen Bundesländern, die hoch qualifizierte Arbeit auch im Bereich strategisch und anwendungsorientierter Grundlagenforschung leisten. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur das Heinrich-Hertz-Institut, das Max-Planck-Institut in Saarbrücken und das Deutsche Zentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern. Ich könnte diese Liste um 20 Institute - um Institute auch in den neuen Bundesländern - mit hervorragenden Leistungen erweitern. Auch die GMD muss wissen, dass sie nur ein Teil des Systems ist. Sie haben daher in Ihrem Antrag zu Recht darauf hingewiesen, dass wir eine breite Forschungslandschaft haben, dass wir hier also einen Baustein fortschrittsorientiert weiterentwickeln. Wir nehmen die Motivation Ihres Antrags sehr ernst, uns darauf hinzuweisen und auch uns zu ermuntern und zu drängen, dass wir den Instituten der GMD und der Fraunhofer-Gesellschaft den notwendigen Spielraum zur Mitgestaltung dieses Fusionsprozesses lassen. Diesem Drängen wird durch die Beschlüsse des Senats der FhG und dem Beschluss des Aufsichtsrats der GMD nachgekommen. Allerdings werden sie schon in den nächsten Wochen zu beraten haben, wie ernst sie die allgemeine Begrüßung der Zielsetzung der geplanten Strukturreform nehmen. Wir sind zuversichtlich, dass alle Beteiligten dieses Jahr für eine konstruktive Ausgestaltung der neuen Strukturen nutzen. Ich sage deutlich: Natürlich bedeutet dies auch, dass wir die Ergebnisse, durch die die Strukturen im Vergleich zum bisherigen Planungsstand weiterentwickelt wurden, ernst nehmen. Denn wir wollen eine effiziente, eine leistungsfähige Struktur, die uns auch auf dem Gebiet der Informations- und Kommunikationstechnik stärker macht. Ich denke, dass wir alle Grund haben, hier ein aktives Mitarbeiten an der zukunftsorientierten Weiterentwicklung der Strukturen zu ermuntern. Dazu wird sicherlich auch die Arbeitsplatzgarantie, die für alle Beschäftigten der GMD gilt, beitragen. Denn trotz aller Besorgnisse und Proteste kann hier von einem sehr sicheren Fundament aus die Strukturreform betrieben werden. Das muss man den Beschäftigten manchmal auch sehr deutlich sagen: Es geht nicht um ihren Arbeitsplatz; es geht nicht um ihre soziale Existenz, sondern es geht um die Frage, wie die zukunftsorientierten Erwartungen an ein leistungsfähiges Wissenschaftssystem auch von den Wissenschaftlern selbst in eine Weiterentwicklung der Strukturen umgesetzt werden. Ich werbe nach wie vor dafür, dass auch die Wissenschaftler selbst an diesem strukturreformerischen Prozess mitwirken. Schönen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, es klang am Anfang alles gut; die Argumentation schien logisch und schlüssig. Dem Anschein nach war die Aktion gut vorbereitet und so löste die Nachricht aus der Bundespressekonferenz vom 29. September 1999 unter dem Titel „Fraunhofer-Gesellschaft und GMD streben Fusion an“ erst einmal keine größeren Unmutsbekundungen aus. Warum auch? Frau Ministerin Bulmahn informierte die Öffentlichkeit darüber, sie habe sich mit den Vorsitzenden der Vorstände und der Aufsichtsgremien über die Fusion geeinigt. Kurz darauf - man beachte im Übrigen auch die Reihenfolge der Informationen - wurden über die Absichtserklärung die Mitglieder des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung informiert. Auch hier wurde der Eindruck erweckt, alles sei sehr modern und zukunftsorientiert. Die größte Forschungsorganisation auf dem Gebiet der IuK-Technik Europas werde entstehen, Raum für Vorlaufforschung werde für die neue Fraunhofer-Gesellschaft/GMD geschaffen; von Synergien war die Rede und davon, dass man mit einem überkritischen Potenzial den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken und das Ausland das Fürchten lehren wolle. Jedoch verfehlen schnelle Schüsse oft ihr Ziel, Herr Staatssekretär, und so hat diese Bundesregierung wieder einmal den schnellen Erfolg vorgezogen - eigentlich verwunderlich, denn Nachhaltigkeit sollte ja die Politik dieser Regierungskoalition bestimmen. ({0}) Das Ergebnis einer laufenden Systemevaluation der Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, das der Wissenschaftsrat übrigens im November dieses Jahres vorlegen wird, wurde nicht abgewartet und nach neuen zukunftsträchtigeren Modellen einer Zusammenarbeit zwischen GMD und den Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft wurde erst gar nicht gesucht. Was modern und zukunftsträchtig aussah, entpuppte sich also schnell als Dinosaurier der Forschungsgeschichte. Meine Damen und Herren, heute kommt es in der Wissenschaft längst nicht mehr darauf an, große verwaltungsintensive Forschungsorganisationen zu schaffen oder bestehende immer weiter anwachsen zu lassen. Gerade in der Forschung sind entgegen den Entwicklungen in der Wirtschaft - das zeigt ja gerade der rasche Wandel in den vielen aus der GMD ausgegründeten jungen IuKTechnik-Unternehmen - kleine, kreative Strukturen gefragt. Nicht die Größe einer Forschungsorganisation ist der Maßstab, sondern die Leistungsfähigkeit der Forschungsinstitute selbst. Die GMD-Institute zählen mit den von ihnen bearbeiteten Themen zur Weltspitze, so zum Beispiel mit dem „biological computering“. Das eigentliche Problem ist in der unterschiedlichen wirtschaftlichen Organisation von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft zu sehen; das wurde hier ja auch schon gesagt. Kleine Institute bei der GMD sind mit ihren Wissenschaftlerteams visionär tätig; Träger der Forschungsleistungen der Fraunhofer-Gesellschaft sind Institute, die zwar unselbstständig sind, die aber als selbstständige Profitcenter agieren. In der GMD findet zu 70 Prozent anwendungsorientierte Forschung, zu 30 Prozent Grundlagenforschung statt. In diesem Teil ist das Zusammengehen nicht kompatibel. Die reine Zusammenlegung von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft, ohne Berücksichtigung der gewachsenen Strukturen, birgt unseres Erachtens in Wirklichkeit eine Schwächung der Forschungsleistungen der einzelnen Institute in sich und läuft auf die Schwächung der Informations- und Kommunikationsbranche in Deutschland hinaus. Die Stärke der GMD liegt in ihren Wissenschaftlern, also in der Innovationskraft der Institute. In der heutigen Zeit muss man über ganz andere Strategien nachdenken. Kooperationsvereinbarungen und virtuelle Fusionen der Institute sind bereits heute gangbare Wege. So ist es vorstellbar, dass die unterschiedlichsten Organisationsstrukturen zielführend miteinander kooperieren. Die GMD kann auch künftig allein funktionieren. So könnte künftig die GMD einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung der Attraktivität des Studienstandortes Deutschland in der Doktorenausbildung und der Postdoktorandenphase leisten. Die GMD könnte durch die Fondsidee als Zukunftsmodell getragen werden. Dabei wären zwei Fonds zu bilden, der eine für die so genannten neuen Märkte, der andere für Projekte der Grundlagenforschung. Der Auftrag an die Vorstände und Aufsichtsgremien von Fraunhofer-Gesellschaft und GMD sowie an die eingesetzten Moderatoren sollte von der Bundesregierung neu überdacht werden, damit bis zum genannten Zeitpunkt - der Zeitraum hat sich ja nun erweitert, wie Herr Catenhusen vorgetragen hat - eine tatsächliche Kooperation zwischen GMD und Fraunhofer-Gesellschaft entstehen kann. Unseres Erachtens ist ein Kooperationsmodell zu entwickeln, das an die jeweiligen Stärken der Institute der GMD und der Institute der Fraunhofer-Gesellschaft anknüpft und zu gemeinsamen Projekten und Strategien führt. Denn nur eine partnerschaftliche Vereinigung schafft die Grundlage für den Erfolg. Das eigentliche Problem, das der unterschiedlichen wirtschaftlichen Organisation von GMD und Fraunhofer-Gesellschaft, ist auch so zu lösen. In der GMD sind, wie gesagt, kleine Institute mit ihren kleinen Wissenschaftlerteams sehr visionär tätig. Sie betreiben sozusagen Forschung in einem Randgebiet zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung. Sie heute zu Eigenmittelerwirtschaftung nach dem FhG-Modell zu bewegen würde viele Forschungsräume beschränken. Ich behaupte, es würde den Wissenschaftsstandort Deutschland gefährden. ({1}) - Ich weiß, Herr Tauss, Sie können leider nicht mit Kritik leben. Die rot-grüne Bundesregierung hat riesige Schwierigkeiten, die Kritik der Opposition zu ertragen. ({2}) Aber Sie haben nun einmal Verantwortung übernommen; da müssen Sie sich die besseren Ideen anhören, auch wenn sie aus der Opposition kommen. ({3}) - Die habe ich Ihnen doch gerade vorgetragen. Fakt ist, dass mit der Fusion, die Sie vorhaben, die Rolle der Grundlagenforschung künftig geschwächt wird. Deswegen denke ich, dass der CDU/CSU-Antrag - das sage ich auch namens meiner Fraktion - die richtigen Feststellungen getroffen hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, die Redezeit ist jetzt doch schon erheblich überschritten.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich für den Hinweis, Frau Präsidentin. - Wir unterstützen natürlich den Antrag der Union. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Josef Fell.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, Ihr Anliegen, die außeruniversitäre Forschung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu sichern und zu stärken, ist sicher berechtigt. Wir teilen Ihre Meinung. Nur, dies in einen Antrag zu packen, ist vordergründig und sehr schnell nachzuvollziehen: Sie haben unter den Mitgliedern der GMD eine Stimmung aufgegriffen und daraus einen Antrag gemacht, um in Nordrhein-Westfalen richtig Wahlkampf zu machen. Dies ist der eigentliche Hintergrund dieses Antrages. ({0}) Deswegen ist er auch nicht zu unterstützen. ({1}) - Nein, Sie haben nicht die richtigen Inhalte aufgegriffen; denn im Ziel sind wir überhaupt nicht voneinander entfernt und wir arbeiten daran, genau diese Grundlagenforschung voranzutreiben. Worum geht es? Im letzten Herbst wurde verkündet, die GMD und die FhG würden fusionieren. Die Unterstützung des Ministeriums lag nahe, da sich die Beteiligten weitreichende Synergieeffekte erwarteten. Dennoch war die Aufgabe von Ministerin Bulmahn von Anfang an nicht leicht und die Ministerin war nicht zu beneiden. Denn es zeichneten sich schnell zwei große Herausforderungen ab. Die erste ist ganz klar: Die Fusion muss erfolgreich sein. Beide Partner müssen gemeinsam mehr Erfolg haben, das heißt, sie müssen in der Summe mehr Erfolg haben als die beiden vorherigen Einzelkämpfer. ({2}) Dieser Erfolg ist nicht selbstverständlich. Aus der Wirtschaft wissen wir, dass mehr als die Hälfte der beabsichtigten Fusionen nicht stattfindet. Zweitens. Beide Partner haben zum Teil sehr unterschiedliche Strukturen und Aufgabenfelder. ({3}) - Nein, das ist überhaupt kein Abwatschen, Herr Kampeter. Ich will das klarstellen. Es ist nur eine Darstellung der vorhandenen Probleme, die wir mit Sicherheit lösen können; ({4}) denn die Grundlagenforschung ist ein Bestandteil der GMD, die der Anwendungsorientierung der FhG momentan noch ein Stück weit fremd ist. Ich will einige herausragende Beispiele der GMD zur Grundlagenforschung nennen: Die GMD arbeitet an Geruchscomputern, die es dem Nutzer ermöglichen, Informationen auch mit dem Geruchsorgan wahrzunehmen. Das ist ein sehr interessantes Forschungsgebiet. Die GMD arbeitet an Robotern, die Fußball spielen. Das ist keine reine Spielerei, wie man vielleicht denken könnte. Nein, es handelt sich vielmehr um einen sehr intelligenten Ansatz, autonome Systeme zusammenarbeiten zu lassen. Dies ist heute noch Grundlagenforschung, kann in einigen Jahren aber zu geradezu revolutionären Umwälzungen führen, zum Beispiel in der Produktion. Ein weiteres Beispiel ist die Arbeit an Bionik-Computern. DNA-PCs können die Rechenleistungen von Computern eines Tages möglicherweise beträchtlich steigern. Das alles sind herausragende Ergebnisse der GMD-Forschung. Auch außerhalb des direkten Forschungsbereichs nimmt die GMD wichtige Funktionen wahr. So arbeitet sie in internationalen Organisationen mit, die die künftigen Standards für Internet und Multimedia definieren. So stellt sie das deutsche Büro des World-Wide-WebKonsortiums sowie das deutsche Büro und den Vorsitz der Internet-Society. Als Großforschungseinrichtung nimmt sie darüber hinaus wichtige Aufgaben in der Ausbildung wahr. Diese Funktion kann aber nur dann ausgefüllt werden, wenn eine institutionelle Förderung vorhanden ist, die über das hinausgeht, was anwendungsorientierten Einrichtungen zur Verfügung steht. In diesen Punkten sind wir völlig einer Meinung. Die FhG dagegen hat ihre Stärken in der industrienahen Forschung. Je industrienäher die Forschung ist, desto schneller wird die Umsetzung in Produkte und die Schaffung von Arbeitsplätzen geleistet, und das ist gut so. Dies schafft Spielraum für die Finanzen des Staates. Der Staat sollte sich daher vor allem dort engagieren, wo der Markt wichtige Funktionen nicht erfüllen kann, wie in der Vorlaufforschung. Im anwendungsnahen Bereich hat die Industrie häufig ein Interesse, das groß genug ist, um selbst finanziell aktiv zu werden. Die Vorlaufforschung hingegen ist häufig noch zu weit vom Markt entfernt, als dass es sich für Unternehmen lohnen würde, hier selbst aktiv zu werden. Wenn sich die Förderpolitik vermehrt in Richtung Marktnähe verschieben würde - eine solche Politik haben Sie von der Union viele Jahre lang betrieben -, hieße das, vor allem die Ideen der Vergangenheit umzusetzen. Damit laufen wir Gefahr, dass den anwendungsorientierten Forschern in einigen Jahren die Ideen ausgehen. Die staatlichen Akzente, auch in der Informationstechnologie, müssen daher wieder stärker in Richtung Vorlaufforschung verlagert werden. ({5}) Bündnis 90/Die Grünen würden es daher begrüßen, wenn die Vorlaufforschung durch die Fusion mit der FhG gestärkt und in der GMD auf hohem Niveau erhalten bliebe. ({6}) Dies entspricht im Wesentlichen dem Grundsatz Ihres Antrags und wird durch die Fusion auch tatsächlich ausgeführt. Leider ist die Stimmung - so müssen wir feststellen - nach der anfänglichen Fusionseuphorie etwas umgeschlagen. Die Fusion wurde sogar zeitweise von einigen Beteiligten in Frage gestellt. Die Aufgabe der Ministerin Bulmahn wurde daher nicht einfacher. Bündnis 90/Die Grünen begrüßen es insbesondere, dass jetzt der zeitliche Druck auf die Fusion etwas gemindert wurde; denn erst der 1. Februar 2002 wird nun als Fusionszeitpunkt angestrebt. ({7}) Wir begrüßen auch, dass ein Moderator eingeschaltet wurde, um die Kommunikation zwischen den Beteiligen zu verbessern. Ich möchte den Akteuren einiges empfehlen: Die GMD sollte noch einmal allen Mut zusammenfassen und die Fusion offensiv angehen. Sie soll ihre Stärken in den Vordergrund stellen, und die bislang vorhandenen Schwächen soll sie als Chance sehen, gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft auch hier Stärken zu entwickeln. Dort, wo Verkrustungen entstanden sind, sollten diese in der Fusion aufgelöst oder als Ballast abgeworfen werden. Eine Ehe macht nur dann Sinn, wenn beide Partner aufeinander zugehen. Wenn ein Partner vor der Hochzeit mitteilt, dass sich nur der andere anpassen solle, führt dies automatisch zu Missstimmungen. Kommt es dennoch zur Hochzeit, sollte die genannte Einstellung entweder korrigiert werden oder die Ehe wird mit Krisen belastet sein. Möglicherweise kommt es sonst zu weniger Start ups, als von den Eltern erhofft wurde, oder es kommt zu Fluktuationen. Auf Frau Bulmahn kommt nun die Aufgabe zu, die beiden Partner mit einer sehr glücklichen Hand zusammenzuführen. Sollte sich allerdings trotz aller Anstrengungen herausstellen, dass eine Fusion nicht fruchtet, wünsche ich der Ministerin den Mut, daraus die Konsequenzen zu ziehen und über neue Strukturen nachzudenken. ({8}) Die Oppositionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. möchte ich daran erinnern, dass sie 16 Jahre lang Zeit hatten, die Forschungsstruktur in der Informationstechnologie zu organisieren. Wer heute „Kinder statt Inder“ schreit, wie dies ein ehemaliger Zukunftsminister tat, muss sich fragen lassen, wie es dazu kam, dass die Amerikaner und Japaner in den letzten Jahren den Ton angaben. Sie müssen sich auch fragen lassen, wie es nach Jahren des Aussitzens dazu kommt, dass heute Zehntausende von Informationstechnologiefachleuten fehlen. ({9}) Unsere Anstrengungen, die Fusion von GMD und FhG voranzutreiben, sind aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen sehr sinnvoll. Wir sind hoffnungsvoll, dass diese Fusion zum Vorteil der Grundlagenforschung ist und ihrer Stärkung dient. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Bundesregierung wurde im Rahmen neuer Schwerpunktsetzungen in Wissenschaft und Forschung zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt, dass die außeruniversitäre Forschung, speziell in den 16 Forschungszentren der Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft, neu geordnet werden muss. Durch Programmsteuerung und Projektfinanzierung soll erreicht werden, dass Grundlagen- und Anwendungsforschung enger zusammenrücken, um in kürzester Zeit technologische Spitzenleistungen zu erzielen. Dieser Umstrukturierungsprozess wurde mit einer Zusammenführung der FhG und der GMD eingeleitet. Die Regierung feiert diese Fusion als Erfolg bei der Schaffung der größten IuK-Organisation in Europa. Nur frage ich: Ist das wirklich das Entscheidende? Bei einer forcierten Verschmelzung beider Forschungseinrichtungen ist eine Schwächung der Grundlagenforschung zu befürchten. Ich möchte dafür noch einmal einige Argumente anführen: Die GMD kann die anwendungsorientierten Erfolgskriterien der FhG - immerhin gibt es dort eine institutionelle Finanzierung in Höhe von 60 Prozent und eine Finanzierung in Höhe von 40 Prozent aus Wirtschaftserlösen - nicht erfüllen. Durch eine Unterordnung der GMD unter die FhG-Kriterien würden speziell die Grundlagenforschung und die visionäre Forschung weitgehend eingeschränkt. Die GMD als Deutschlands weltweit bekannteste Forschungsinstitution für die klassischen Ingenieurwissenschaften würde von der Bildfläche verschwinden, ohne dass die FhG ihr Profil sichtbar ändert. Die erhofften Synergieeffekte bleiben aus. Sie beschränken sich aufgrund unterschiedlicher Aufgaben beider Einrichtungen auf den Abbau des Verwaltungsapparates der GMD. Teile der hoch qualifizierten Erwerbstätigen würden im Zuge der Auflösung der GMD in Erfolg versprechendere Einrichtungen und Firmen abwandern und eben nicht von der gemeinsamen Einrichtungen übernommen werden oder zeitweise eingeschränkte Entgelte erhalten. Wie sich ihre Arbeitsbedingungen entwickeln, steht also in den Sternen. Das können Sie alle in den Briefen, die auch Sie erhalten haben, nachlesen. Obwohl zunächst beide Gesellschaften einem solchen Fusionsprozess aufgeschlossen gegenüberstanden - darüber ist hier heute schon viel gesprochen worden -, kristallisierte sich Anfang April dieses Jahres heraus, dass diese Fusion eine sehr einseitige Angelegenheit ist. Zum jetzigen Zeitpunkt wird die Fusion als gescheitert betrachtet. Deshalb fordert die PDS die Bundesregierung auf, die Fusion auszusetzen und damit den Forderungen der Geschäftsführung, der Institutsleitung und des Wissenschaftlich-Technischen Rates der GMD nachzukommen, die auch von der Belegschaft unterstützt werden. ({0}) Nach sieben Monaten gescheiterter Verhandlungen muss eine neue Phase des Nachdenkens, des Gespräches und der Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft eintreten, um gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen dort eine neue Grundlage für eine Fusion zu schaffen, über die später zu entscheiden sein wird. Eine solche Gesprächs- und Kooperationsphase betrachten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der GMD als notwendige Voraussetzung, um eine neues Klima des Vertrauens in den Fusionsprozess und eine fachlich begründete Vision für die Fusion zu erreichen. Sollte diesen Vorstellungen nicht entsprochen werden, sieht es so aus, als ob an der GMD ein Exempel statuiert werden soll, um die IuK-Grundlagenforschung zurückzudrängen und ähnliche Strukturmaßnahmen an anderen Gesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft einzuleiten. Eine Einschränkung der Grundlagenforschung zieht jedoch nicht automatisch den Ausbau der Kapazitäten der Grundlagenforschung in Industriekonzernen nach sich, denn - das wissen wir alle - die private Wirtschaft hat andere Ziele. Wenn der Grundlagenforschung der Helmholtz-Gemeinschaft das Rückgrat gebrochen werden sollte, werden nicht nur den öffentlichen anwendungsorientierten Forschungsgesellschaften die Ergebnisse dieser interdisziplinären Grundlagenforschungen in 10 bis 20 Jahren fehlen, sondern auch der Industrie. Durch geschickte Rhetorik in den vergangenen Jahren ist es anscheinend gelungen, die Forderungen nach dem gesellschaftlichen Nutzen und der Gemeinwohlorientierung der Forschung vollkommen aus der Diskussion zu verdrängen. Jahrelang wurde die Forschung schlechtgeredet. Mit dem Hinweis auf die deutsche Technologiefeindlichkeit und ihre fatalen Auswirkungen ist der gesellschaftliche Nutzen der Forschung inzwischen erfolgreich auf die Sicherung des Standortes Deutschland eingeschränkt worden. Die PDS hält deshalb den von der Bundesregierung eingeschlagenen Weg für eine Neuordnung und Umstrukturierung der Gesellschaften der Helmholtz-Gemeinschaft für eine Sackgasse. Wir empfehlen der Bundesregierung dringend, gemeinsam mit den Forschungseinrichtungen, Parteien, Organisationen und Industrievertretern einen Neuansatz der Ordnung der Forschung und ihrer Einrichtungen zu diskutieren, um den unterschiedlichen Interessen am Ende auch wirklich gerecht zu werden. Danke. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat Herr Kollege Tauss das Wort.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie schwer es Parteien, die in Sonntagsreden immer wieder beschwören, dass sie doch dynamisch und flexibel seien und dass man in neuen Strukturen denken müsse, offensichtlich fällt, einmal an einem konkreten Punkt in neuen Strukturen zu denken. Es ist erstaunlich. ({0}) Dieselben, die in der Wirtschaft jede Fusion bejubeln, tun hier so, als stünde der Untergang der Welt bevor. ({1}) Ich erinnere mich noch: Als vor Jahren die Fusion von BMW und Rover stattfand, hat die CSU wochenlang gejubelt, Bayern hat praktisch England übernommen - Fusion war das Gute schlechthin. ({2}) Heute hören wir nur Bedenkenträger; nur irgendwelche Schauerargumente werden vorgebracht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nehmen die Bedenken der Beschäftigten ernst - deshalb ein klares Signal in Richtung Arbeitsplatzsicherheit -, aber wir missbrauchen die Ängste der Beschäftigten nicht, ({3}) um sie im Wahlkampf in dieser Form, wie Sie es tun, zu schüren. ({4}) Das ist unverantwortlich, auch gegenüber der Forschungslandschaft in diesem Land, Herr Hauser. Es ist schwierig, wie Sie mit diesem Thema umgehen. Das gilt auch für die Form, wie Herr Kollege Mayer an anderer Stelle mit diesem Thema umgegangen ist. Bei Kollege Mayer wählte ich noch das Wort „Unverschämtheit“, um auszudrücken, wie Sie aus Gründen des Wahlkampfs in NRW diese Verunsicherung schüren. Meine Damen und Herren, das Forschungszentrum Informationstechnik, die GMD hat es nicht verdient, dass an dieser Stelle von einer Zerschlagung der Grundlagenforschung geredet wird. Das ist Teil Ihrer Kampagne, aber es ist nicht Teil der Wahrheit. Es ist noch nicht einmal Teil der halben Wahrheit; es ist die blanke Unwahrheit, und das muss an dieser Stelle gesagt werden. ({5}) Kollege Hilsberg hat berechtigterweise darauf hingewiesen, dass es einstimmige Beschlüsse der Aufsichtsräte inklusive der Wirtschaft gibt, dass es klare Diskussionen gibt. ({6}) - Ich bin Gewerkschafter. Ich nehme die Bedenken der Belegschaft außerordentlich ernst. ({7}) Ich habe den Betriebsräten angeboten zu kommen, ja sogar außerhalb von Sitzungswochen mit ihnen Mittag zu essen und Gespräche zu führen. Sie als Vorkämpfer der Arbeiterbewegung - das ist ja nun wirklich die klassische Fehlbesetzung, die es in diesem Land überhaupt nur geben kann. ({8}) Nein, es stimmt nicht, Herr Hauser, wie Sie hier vortragen, dass die FhG der Gewinner der Fusion sein soll. Das hätte natürlich jeder Beteiligte gern, dass er gewinnt. Das ist überhaupt keine Frage. Es geht hier nicht um Gewinner und Verlierer. ({9}) Wir wollen eine Fusion der Gewinner, wobei keine Mark aus dem Bundeshaushalt weniger gezahlt wird. Das muss man einmal klar sagen. Wir wollen eine Fusion der Gewinner, bei der wir den Beschäftigten eine Arbeitsplatzgarantie geben. Gab es in den letzten Jahren eine Fusion in diesem Lande, wo es so etwas gegeben hat? Ihre Politik war eine Kürzung der Forschungsmittel. Aus unserem Aufwuchs der Forschungsmittel werden beide profitieren. ({10}) Jetzt ist es so, dass die FhG und die GMD in Ruhe miteinander reden. Ich denke, wenn der Sonntag vorbei ist, wird es noch einfacher sein, denn dann reden die Wissenschaftler miteinander. Es redet dann kein Außenstehender mehr hinein, keiner sagt ihnen dann, was gut oder schlecht wäre. Die wissen, was ihr Problem ist. Es wird dann über Grundlagenforschung diskutiert, es wird über Anwendung diskutiert, es wird über Vorlauf diskutiert. Es gibt bei der Fraunhofer-Gesellschaft Leute, die sich auf diese Fusion freuen, weil sie sagen: Durch diese Fusion haben wir die Chance, auch bei uns mehr Grundlagenforschung zu betreiben, mehr Zeit zu haben und nicht immer nach einer Mitteleinwerbung - 38 Prozent oder wie auch immer schielen zu müssen. Wir wollen gemeinsam etwas erreichen. Wir wollen im Bereich der Grundlagenforschung die Wissenschaftslandschaft in der IuK-Technologie gemeinsam stärken. Jetzt kommt es darauf an, die Beteiligten in Ruhe arbeiten zu lassen. Jetzt kommt es darauf an, dass sie in Ruhe ihr Konzept ausarbeiten können. Jetzt kommt es darauf an, dass die gemeinsamen Interessen gebündelt werden können. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Ihre Wahlkampfshow in irgendeiner Form Erfolg hat. Sie wird keinen Erfolg haben. So leicht können Sie die Leute nicht hinter das Licht führen. Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon einmal gesagt, die Rationalisierungsfusion, die Sie beschwören, ist es nicht. Wir wollen selbstverständlich Synergieeffekte erzielen. Wenn man Strukturen zusammenlegt, gehört es dazu, dass man sich überlegt, in welchen Bereichen Stärken gebündelt werden müssen und in welchen Bereichen über Synergie geredet wird. Das ist selbstverständlich. Wir haben großartige Chancen, die Kompetenzen zu bündeln. Das haben wir in der Aktuellen Stunde, in der wir über den Virus gesprochen haben, gesehen. Hier hat sich Kollege Mayer lautstark darüber beklagt, dass wir in Deutschland den Viren aus dem Ausland schutzlos ausgeliefert seien, weil jetzt die Fraunhofer-Gesellschaft mit der GMD fusioniert. Ich will noch einmal feststellen: Bei der Fraunhofer-Gesellschaft wie auch bei der GMD gibt es eine hervorragende IT-Sicherheitsforschung. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat in Darmstadt das Kompetenzzentrum IT-Sicherheit. Werden diese Kompetenzen gebündelt zusammengeführt, Frau Kollegin Pieper, wird dies dazu führen, dass wir die Stärken, die wir in diesem Bereich haben, ein Stück weit ausweiten können. Sie werden nicht in irgendeiner Form gefährdet. ({11}) Noch ein Satz zu Ihrem Antrag. Da es sich um reine Wahlkampfrhetorik handelt, muss man nicht unbedingt darauf eingehen. Es ist aber schon interessant, wie man auf wenigen Seiten noch nicht einmal sagen kann, was man eigentlich will. Auf Seite 1 steht: Ungeklärt ist ..., ob die interdisziplinäre Grundlagenforschung, ..., weiter verfolgt wird. Hier stellen Sie sich hin und tun so, als ob es längst geklärt wäre. Herr Mayer stellt sich hier hin und sagt, es droht das Aus, und spricht von einer Zerschlagung. Auf Seite 2 Ihres Antrages sieht es ganz anders aus. Weiter sagen Sie, dass die Fusion positive Wirkungen erzielen könnte. „Voraussetzung dafür ist, dass beide Partner gleichberechtigt ihre Forschungsziele... einbringen“. Was wollen Sie nun eigentlich? So viele Widersprüche im eigenen Text. Das ist genau das, was wir wollen. Aus diesem Grunde bedarf es eigentlich nicht der ganzen Rhetorik. Diese positiven Wirkungen sollen erzielt werden. Kollegin Pieper, es wird nichts, aber auch gar nichts behindert. Es wird weiterhin Spin-offs geben. Wir kommen zu kleinen Einheiten. In diesem Bereich wird die Anwendungsbezogenheit eine noch stärkere Rolle spielen. Unternehmensgründer haben durch eine anwendungsbezogene Grundlagenforschung bei der FhG die Chance, sich selbstständig zu machen und kleine Betriebe aufzubauen. Hier wird nichts in irgendeiner Form gefährdet. Im Gegenteil. Wir betreiben eine moderne Forschungspolitik. Ich muss nochmals sagen: Es ist wirklich kleinkariert, wie Sie hier mäkeln. Es ist interessant, wie Sie über das Internet reden und diese Dinge im Jahr 2000 regeln wollen. Jetzt hat sich die CDU einen Internet-Beauftragten gegeben. Ich wünsche dem Kollegen viel Erfolg. Inhaltlich halte ich davon nichts. Man muss sich das einmal vorstellen: Im Jahr 2000 habt ihr einen Internet-Beauftragten. Herzlich willkommen im Klub, kann ich nur sagen. Wir sind gespannt darauf, was wir inhaltlich zu erwarten haben. Ich hoffe, dass der Internet-Beauftragte etwas mehr vom Thema Internet versteht als das, was wir in der Vergangenheit von Ihnen zur Kenntnis nehmen konnten. Nein, Sie haben nicht über das Thema geredet. Sie reden nur darüber, wie Sie in irgendeiner Form etwas madig machen können, aber vom Internet, von IuK-Technologien, von moderner Forschungspolitik haben Sie, so Leid es mir tut, keine Ahnung. Deshalb sind Sie auch aus diesem Grund im vorletzten Jahr zu Recht abgewählt worden. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter. ({0})

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich am Anfang meiner Rede etwas klarstellen, was angesichts der Desinformation der Koalition unklar geblieben ist: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht natürlich entschieden zur notwendigen Neuorientierung in der deutschen Forschungslandschaft, ({0}) die ja durch die Initiativen des ehemaligen Zukunftsministers und des zukünftigen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, begründet worden ist. ({1}) Deswegen wird heute auch nicht so sehr über das Ziel gestritten. Es ist richtig, dass angesichts eines sich verändernden Umfelds eine strategische Neuordnung der GMD und der FhG notwendig sein kann. Es ist richtig, eine Mobilisierung von Synergien in beiden Einrichtungen zu fordern. Es bleibt auch richtig, dass die Fortentwicklung eines erfolgreichen marktnahen Forschungsmodells, nämlich des FhG-Modells, am Beginn des 21. Jahrhunderts geboten zu sein scheint. Es ist richtig, die grundlagen- bzw. vorlauforientierten Teile der GMD gleichwohl unter dem Dach einer fusionierten Gesellschaft fortzuentwickeln. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Tauss, es ist nicht Ihre Aufgabe, zu entscheiden, wann sich der Kollege setzen darf. Ich ermahne Sie freundlich.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sind die pubertären Ausflüchte des Herrn Tauss, an die wir uns hier schon langsam gewöhnt haben, Frau Präsidentin. Wir haben uns gewünscht, dieses Vorhaben im Konsens und unter parlamentarischer Begleitung zu einem Erfolg zu führen. Fusionsprozesse sind schließlich keine Spaziergänge. Die Frau Bundesministerin Bulmahn hat allerdings diese Entscheidung ohne parlamentarische Rückkopplung getroffen. Sie ist mit ihr ohne Rücksprache mit den verantwortlichen Parlamentariern an die Öffentlichkeit getreten. Sie sieht angesichts des heutigen Scherbenhaufens, wohin das geführt hat. ({0}) Unsere Fraktion ist erstaunt, mit welchem Mangel an politischer Führung, mit welcher grenzenlosen Instinktlosigkeit, zumindest aber mit welcher riesengroßen Blauäugigkeit die Ministerin und Ihr Ministerium diesen Vorgang betreuen. An den Ergebnissen müssen wir sie messen. Das angekündigte Vorhaben, die Fusion zum Beginn des nächsten Jahres durchzusetzen, ist gescheitert. Insoweit ist auch die Ministerin gescheitert. Eine partnerschaftliche Beteiligung der GMD entfällt, da eine Beteiligung der GMD an der zukünftigen fusionierten Struktur derzeit nicht mehr vorgesehen ist. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Institutionen zweifeln inzwischen öffentlich an der Richtigkeit des Vorgehens. Daran können auch Aufsichtsratbeschlüsse nichts ändern. Die anhaltende Diskussion fördert nicht das Ansehen der beteiligten Forschungseinrichtungen. So muss befürchtet werden, dass Experten aufgrund der immer unsicherer werdenden Perspektiven die beiden Forschungseinrichtungen bald verlassen werden. Die Union führt eine Aufklärungsinitiative unter dem Motto „Mehr Ausbildung statt mehr Einwanderung“ durch. ({1}) Sie machen deutlich, warum diese Aufklärung notwendig ist. Sie fördern durch Ihr Verhalten die Abwanderung von Experten. Dies geht nicht mit uns. ({2}) Wenn das Vorhaben so wichtig ist, wie Herr Catenhusen in seiner verlesenen Rede vorgetragen hat, dann frage ich, warum es so schlampig vorbereitet worden ist. Warum haben Sie denn mit den Beteiligten, mit den Vertretern der Forschungseinrichtungen, mit den regionalen Repräsentanten und mit den Menschen, die die Fusion wirklich betrifft, den Vorgang nicht besprochen, bevor Sie damit an die Öffentlichkeit getreten sind? Dieser Prozess ist zwar gewollt, aber nicht gekonnt. Es fehlt bis heute eine strategische Bewertung der bestehenden fachlichen, finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen einer Fusion beider Einrichtungen. Es fehlt eine tragfähige Chancen- und Risikoanalyse des Vorhabens durch Ihr Ministerium. Es fehlt eine Darstellung gemeinsamer fachlicher Ziele, wahrscheinlicher Synergien, konkreter Kooperationsfelder sowie anderer strategischer Vorteile. Es fehlt eine vorläufige Abschätzung der kurz- und mittelfristigen finanziellen Auswirkungen. Dies wird von beiden Einrichtungen gefordert. Angesichts des kontinuierlich begangenen Bruchs Ihres Wahlversprechens, die Investitionen in Forschung und Bildung zu verdoppeln, scheint mir diese Befürchtung sehr gerechtfertigt zu sein. ({3}) Der gesamte Prozess, so wie Sie ihn bisher gemanagt haben, scheint mir nach dem Prinzip vonstatten zu gehen: Sie zogen los, wussten aber nicht, wohin. Der Bundesforschungsministerin ist es gelungen, aus einer an sich richtigen Idee, nämlich dem synergieorientierten Zusammenschluss zweier bedeutender Forschungseinrichtungen, einen Vorgang zu machen, der inzwischen paradoxerweise von beiden Einrichtungen als feindliche Übernahme durch den jeweils anderen interpretiert wird. Das zeigt mir, wie schlecht diese Sache vorbereitet worden ist. Dieser Vorgang wäre vermeidbar gewesen. Herr Catenhusen, es wäre angesichts des dramatischen Vertrauensverlustes, den das Handeln Ihres Hauses sowohl bei der Fraunhofer-Gesellschaft als auch bei der GMD herbeigeführt hat, geboten gewesen, dass Sie aufgrund Ihres schlampigen Vorgehens zumindest in den Grundzügen in diesem Hause ein Maß an Selbstkritik üben, das erkennbar macht, dass Sie wissen, wie schlecht Sie in den letzten Monaten gehandelt haben. Uns ist heute noch einmal deutlich geworden: Es ging Ihnen nicht um die Sache; vielmehr stand die Presseerklärung am Anfang. Das Konzept sollte nachfolgen. Es liegt bis heute nicht vor. ({4}) Bedauerlicherweise wird das Scheitern Ihres Handelns auf dem Rücken zweier Forschungseinrichtungen ausgetragen. Die Fusion, die jetzt um ein Jahr verschoben werden soll, hängt völlig in der Luft. Diese Verschiebung wird deutlich machen, dass dieser unbefriedigende Zustand noch um ein weiteres Jahr verlängert wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hofft, dass mit dem Moderator, den Sie jetzt einsetzen, rasch eine Lösung gefunden wird. Sagen Sie einmal: Warum fällt Ihnen eigentlich erst ein Dreivierteljahr nach dem Beschluss darüber ein, dass Sie einen Moderator brauchen, um die Kommunikationsprozesse zu steuern? ({5}) Wenn das alles so super und so wichtig ist, dann wundere ich mich, dass Sie eine wesentliche Veränderung des Fusionsprozesses par ordre du mufti im April, Monate nachdem Sie die Fusion begonnen haben, vornehmen. Wir hoffen, dass wenigstens das anständig vorbereitet wird. Wir wünschen dem Moderator viel Erfolg, diesen Fusionsprozess zu einem guten Abschluss zu bringen. ({6}) Falls das allerdings bis Mitte September nicht erfolgen wird, müssen wir uns noch einmal darüber unterhalten, ob die Fusion unter den hier beschriebenen Konditionen tatsächlich weiterhin sinnvoll ist. Herr Catenhusen, wenn Sie es im September nicht schaffen, so etwas wie einen Konsens herbeizuführen, der von vielen Seiten - von beiden beteiligten Einrichtungen, den Mitarbeitern, den Leitungsebenen, den Aufsichtsgremien - akzeptiert wird, dann halte ich es für geboten, zu überlegen, ob Sie an diesem Vorhaben tatsächlich festhalten wollen. Wir erwarten, dass Sie jetzt handeln, dass Sie endlich anständig arbeiten, dass Sie politische Führung zeigen und dass Sie uns Konzeptionen erläutern. Wenn das geschieht, dann werden wir es an Unterstützung nicht mangeln lassen. ({7}) Ich fasse zusammen: Die Union steht zur Neuordnung der deutschen Forschungslandschaft. Sie ist notwendig, um sich veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Wir unterstützen daher die Fusion auf Grundlage des Eckwertepapiers. Wir haben unsere Sorgen über Mängel des Fusionsprozesses in unserem Antrag dargelegt. Wenn ich mir zum Beispiel die Rede des Kollegen Fell anhöre, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass die SPD die einzige Fraktion in diesem Hause zu sein scheint, die noch voll und ganz hinter diesem Fusionsprozess steht; deswegen werden wir ihn weiterhin konstruktiv-kritisch begleiten. Jetzt sind Sie am Zug. Tun Sie endlich Ihre Arbeit! ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Jörg Tauss, Klaus Barthel ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Matthias Berninger, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik - Drucksachen 14/2390, 14/2814 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg Tauss Dr. Martin Mayer ({3}) Cornelia Pieper Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Ursula Burchardt.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die Debatten über die ökonomischen Perspektiven in unserer Republik verfolgt, dann stellt man fest, dass ein Begriff daraus überhaupt nicht mehr wegzudenken ist: Die Informationsund Wissensgesellschaft hat als ökonomisches Leitbild der Industriegesellschaft längst den Rang abgelaufen. Ins breite öffentliche Bewusstsein ist dies allerdings das ist mein Eindruck - erst in der jüngsten Zeit getreten. Ich habe auch den Eindruck, dass die Green-Card-Initiative des Bundeskanzlers für viele so etwas wie ein Weckruf gewesen ist, um festzustellen, dass sich einige Dinge wirklich dramatisch verändert haben. ({0}) Ich kann mich erinnern, dass ich vor ungefähr zweieinhalb Jahren in der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ - wir haben uns dort zur VerSteffen Kampeter blüffung mancher mit genau diesen Fragen sehr intensiv beschäftigt - davon gesprochen habe, dass die Republik auf dem Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft ist. Daraufhin hat mich der Sprecher der Unionsfraktion völlig verständnislos angeschaut und meinte, das, was die Kollegin von den Sozialdemokraten erzählt, seien Fantastereien. Ich habe den Eindruck, dass der aktuelle Stand bei einigen immer noch nicht bekannt ist, auch wenn ich im Hinblick auf das, was es an Veränderungsnotwendigkeiten gibt, die gerade abgeschlossene Debatte der letzten Dreiviertelstunde im Auge habe. Faktisch ist es doch so, dass in den letzten anderthalb Jahrzehnten durch die Entwicklung des World Wide Web, die Entwicklung im Mobilfunk, im Bereich der Chipproduktion eine technische Revolution ihren Lauf genommen hat, die in dem, was sie an ungeheurer Dynamik entwickelt hat, tatsächlich in dieser Breite nicht vorherzusehen gewesen ist. Die Informations-KommunikationsBranche hat die Automobilindustrie, was die Umsätze betrifft, bereits jetzt eingeholt. Sie ist von den Beschäftigtenzahlen her der drittstärkste Sektor in der Bundesrepublik, und uns als Sozialdemokraten, als Koalitionsfraktion geht es darum, diese enormen Potenziale für die wirtschaftliche Entwicklung und damit für neue Beschäftigungspotenziale ganz offensiv zu nutzen. Sonst beschweren sich meine Kollegen, dass ich keine Pause mache. Jetzt habe ich sie gemacht und jetzt klatschen sie nicht. ({1}) - Ja, Sie haben es ja schon im Redemanuskript drinstehen. Mit dem Siegeszug der Informationstechnik sind aber zugleich - das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen - Veränderungen verbunden, die weit über den rein ökonomischen Bereich hinausgehen und in ihren sozialen und kulturellen Auswirkungen tatsächlich die Dimensionen haben, die damals auch den Übergang von der Agrarzur Industriegesellschaft gekennzeichnet haben. Die Menschen erleben das täglich ganz praktisch an ihrem Arbeitsplatz. Kaum ein Arbeitsbereich ist von neuen Technologien nicht betroffen. Das geht weit bis in den privaten Lebensbereich und in die Gestaltung sozialer Beziehungen hinein. Weil die neuen Technologien unser aller Leben dramatisch verändern, gilt es, das technisch-ökonomische Leitbild der Informationsgesellschaft mit einem qualitativen Leitbild, mit einer gesellschaftlichen Gestaltungsperspektive zu verknüpfen. Das ist die Perspektive der nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung. ({2}) Daher begrüßen wir es außerordentlich, dass die Bundesregierung die Verknüpfung dieser beiden Leitbilder mit ihrem Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ verfolgt. Ausdrücklich gehört - Sie können es dort nachlesen - die Erschließung von innovativen Anwendungsmöglichkeiten für eine ökologische Modernisierung und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu den strategischen Handlungsfeldern des Aktionsprogramms. Das ist echter Fortschritt. Da zeigt sich Weitsicht und da zeigt sich Gestaltungswille und Gestaltungskraft. ({3}) Denn, meine Damen und Herren, wir verstehen Technik nicht als Selbstzweck, sondern als Chance für mehr Lebensqualität. Uns geht es darum, den größtmöglichen Nutzen für die Menschen und nicht für Börsen und für Bilanzen aus neuen Techniken zu ziehen. Das bedeutet, technischen Fortschritt zu gestalten. Denn Technik an sich ist für menschliche Bedürfnisse blind. Sie ist in ihren positiven oder negativen Auswirkungen ambivalent. Jeder, der sich mit Technik auskennt, wird Ihnen das bestätigen können. ({4}) - Nicht übertreiben! Diese Ambivalenz wird insbesondere deutlich, wenn man sich die Umweltwirkungen vor Augen hält. Ohne Zweifel sind Informationstechnologien auf der einen Seite ein ganz entscheidender Schlüssel für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch. Mit ihrer Hilfe lassen sich Produktionsprozesse in nahezu allen denkbaren Bereichen effizienter gestalten und damit Ressourcen und Energie einsparen. Mess-, Steuer- und Regeltechnik trägt dazu bei, Emissionen zu vermeiden, beispielsweise im Gebäudebereich oder in der Verkehrslogistik. Nicht zuletzt spielt Informationstechnik in der Umweltforschung, von Umweltinformationssystemen bis hin zur Klimaforschung, eine ganz entscheidende Rolle, wenn es um Vorsorgestrategien geht. Auf der anderen Seite - das muss man ganz nüchtern sehen - werden durch neue Technologien auch neue Probleme induziert oder vorhandene verschärft. Neue Technologien tragen beispielsweise ganz erheblich zur Entgrenzung und Beschleunigung von Stoffumsätzen, Güterproduktion und Warenverkehr bei mit der Folge, dass trotz der hohen Effizienzgewinne in der Produktion unter dem Strich Stoffumsätze steigen und der Ressourcenverbrauch zunimmt. Dies wird insbesondere noch ein ganz großes Problem beim Bereich E-Commerce werden. Hier haben wir es mit zunehmendem Warenverkehr, mit Logistikproblemen und zunehmendem Ressourcenverbrauch zu tun. Ich glaube, dass diese Faktoren noch zu entscheidenden Engpässen bei der technischen und ökonomischen Entwicklung führen können. Auch die Hardware selbst ist ein Problem. Der Rohstoffverbrauch eines einfachen PCs alleine, so hat das Wuppertal-Institut errechnet, entspricht einem Äquivalent von fast 20 Tonnen Rohstoffen während seines gesamten Lebenszyklus, also von der Herstellung über die Nutzung bis zu dem Zeitpunkt, wo er zu Abfall geworden ist. Dazu kommt das Energieproblem. Der einmal eingeschaltete PC verbraucht, wenn er im Stand-byBetrieb vor sich hin schlummert, unglaublich viel Energie. Der Energieverbrauch durch Stand-by-Betrieb in einem Jahr in der Bundesrepublik entspricht dem Energieverbrauch einer mittleren Großstadt. Dazu kommt der Abfallberg, der schon heute sichtbar wird. Jährlich fallen in Deutschland 2 Millionen Tonnen Elektronikschrott an. Der größte Teil davon entfällt auf ausgediente PCs. Die Tendenz ist steigend. Ich will jetzt gar nicht mehr auf die Fülle von problematischen Materialien und Schadstoffen eingehen. Wenn man die technischen Potenziale optimal nutzen will, dann nutzt es überhaupt nichts, vor diesen Negativwirkungen die Augen zu verschließen wie das Kaninchen, das auf die Schlange starrt. Technische Potenziale zu nutzen und Fortschritt zu gestalten heißt, dass man sich damit offensiv auseinander setzt. Sonst wird man früher oder später von Problemen überrollt. Das brächte große volkswirtschaftliche Folgekosten sowohl für den Staat wie auch für die einzelnen Unternehmen mit sich. Deswegen geht es uns darum, Informationstechnik nachhaltig zu gestalten. Das ist nicht nur eine Frage der Daseinsvorsorge, sondern schlicht und ergreifend der wirtschaftlichen Vernunft. ({5}) Das ist der Kern unseres Antrages „Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik“. Wir greifen damit eine ganz wesentliche Empfehlung der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ auf. Natürlich kenne ich den Einwand - wir haben das ja auch schon mit Ihnen herauf und herunter diskutiert -, dass es keine Möglichkeit gebe in dieser Branche, irgendwie gestaltend tätig zu werden. Das ist falsch. Diese Auffassung haben wir in der Enquete-Kommission übrigens einvernehmlich und fraktionsübergreifend widerlegt. Wir haben uns damals den Bereich der IuK-Branche als ein Beispielfeld ausgesucht, um einmal durchzudeklinieren, wie eine Nachhaltigkeitsstrategie für die Bundesrepublik entwickelt werden kann. Wir haben gerade festgestellt, dass in dieser Branche, die einer unglaublichen Innovationsdynamik unterliegt und von einer hohen internationalen Verflochtenheit gekennzeichnet ist, natürlich Gestaltungspotenziale vorhanden sind. Hierfür sind nur ganz bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen und es müssen bestimmte Dinge anders gemacht werden. Mit den klassischen Instrumenten des Ordnungsrechts kommt man dabei nicht weiter, sondern es sind ein paar moderne Steuerungsinstrumente nötig. Insofern werden auch in der Politik Innovationen angesagt. Man braucht ein neues Verfahren des Politikmanagements. Das geht am besten, indem man sich mit den Akteuren, mit der Branche, den Verbänden und der Wissenschaft, zusammensetzt, also alle an einen Tisch holt und darüber redet, wo die Hauptproblembereiche liegen, wo es Handlungsbedarf gibt, welche Ziele die Unternehmen selber formulieren und in einer überschaubaren Zeit erreichen können, welche Anstöße dazu notwendig sind und welche Rahmenbedingungen Politik gestalten muss. Außerdem müssen ganz konkrete Aktionsfelder benannt werden. Beispielhaft dafür stehen folgende Fragen: Wie kann die Recyclingfähigkeit von Geräten und einzelnen Komponenten gesteigert werden? Wie können Schadstoffe bei den verwendeten Materialien vermieden werden? Wie kann der Energieverbrauch über den gesamten Lebenszyklus reduziert werden? Wenn man Lösungen hierfür sucht, wird es automatisch dazu kommen, dass neue Dienstleistungskonzepte entwickelt werden, die mehr Service für den Kunden und Nutzer mit sich bringen, aber gleichzeitig auch neue Beschäftigungspotenziale eröffnen. Mit dem Instrument konditionierter Selbstverpflichtungen und freiwilligen Vereinbarungen kann man im Konsens und in Kooperation mit der Branche zu einer nachhaltigen Entwicklung auch in diesem Sektor kommen. ({6}) Der Fachausdruck für solch eine strategische Planung heißt Roadmapping. Ich weiß, dass die Freunde vom Verein zur Bekämpfung der Anglizismen in der deutschen Sprache immer ganz laut aufschreien und fragen, ob man das nicht übersetzen kann. Im Prinzip kann man das natürlich. Wir befassen uns aber mit einer Branche, die ganz zentral von englischer Begrifflichkeit lebt. Jeder Kollege und jede Kollegin hier wird Begriffe wie Downloaden, E-Commerce oder Ähnliches kennen. Wer diese Begriffe schon in die Umgangssprache aufgenommen hat, der wird auch mit dem Begriff Roadmapping noch leben können. Gelegentlich muss man eben auch als Abgeordneter seinen Wortschatz ein bisschen „updaten“. So ist das nun einmal, wenn man sich mit etwas Neuem beschäftigt. ({7}) Im Prinzip ist das Roadmapping-Verfahren nicht so neu; denn es wurde in den USA bereits erfolgreich erprobt. Ich kann Ihnen sagen: Die Branche wartet seit mehreren Jahren darauf, dass die Bundesregierung an dieser Stelle endlich die Initiative ergreift, weil sie weiß, dass in diesem Bereich ihre ökonomischen Chancen liegen. Lassen Sie mich abschließend noch ganz kurz eine Rückbetrachtung zu den Ausschussberatungen anstellen. Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang schon einmal einen kleinen Vorgeschmack darauf geben, was die Kollegen von der Opposition gleich erzählen. Das wird nicht so originell werden und dem ähneln, was wir eben schon gehört haben. Von den Kollegen der CDU/CSU werden wir hören, was sie immer sagen, wenn es um Ökologie und Gestaltungsnotwendigkeit geht. Da werden wir die Begriffe Dirigismus und Planungsbürokratie hören. Wir werden außerdem den Vorwurf hören, dass die Sozialdemokraten immer den Staat eingreifen lassen wollen. ({8}) - Das sind keine Vorurteile, das sind Erfahrungen, Herr Kollege. Wir können ja einmal spekulieren, was wir gleich hören werden. Ich meine das gar nicht persönlich, wenn ich sage, dass es in der CDU weder im Westen noch im Osten oder im Süden etwas Neues gibt. Ich habe den Eindruck, dass es bei Ihnen wirklich schon eine Art pawlowscher Reflex ist, wenn Sozialdemokraten etwas zur Ökologie und Gestaltungsfähigkeit sagen. Der Umgang mit Technik muss rational sein. Entscheidungen dürfen nicht aus dem Bauch heraus getroffen werden und dürfen nicht auf tief sitzenden Vorurteilen beruhen. ({9}) Denn sonst werden die Chancen für den technischen Fortschritt tatsächlich verspielt. Ich kann Ihnen sagen: Es reicht nicht, immer nur Nein zu sagen. Wenn man sich immer dem Fortschritt verweigert, hat man die Zukunft schnell verspielt. Die Herren Rühe und Rüttgers sind dafür ein lebendes Negativbeispiel. ({10}) Eine allerletzte Anmerkung zu der Ausschussberatung, was die F.D.P. in den mitberatenden Ausschüssen angeht. Es war etwas verwirrend, um nicht zu sagen, es war keine klare Linie erkennbar. Im Forschungsausschuss haben wir die Vorwürfe bezüglich Dirigismus, Planungsbürokratie sowie Marktfeindlichkeit und die Forderung gehört, wir mögen „in enger Kooperation mit der Industrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien entwickeln“. Dazu kann ich nur sagen: Das ist genau so in unserem Antrag enthalten. Man muss uns nicht dazu auffordern. Das Interessante ist aber, dass die F.D.P. bei der Beratung im Umweltausschuss festgestellt hat, man könne überhaupt nichts von Dirigismus oder Markteingriffen erkennen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. Wir können die Kollegen im Übrigen original hören.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Dazu kann ich nur sagen: Mit etwas Mühe geht es also doch. Deswegen kann ich an Sie - auch in Ihrem eigenen Interesse - nur appellieren: Legen Sie die Scheuklappen ab, geben Sie sich einen Ruck, hören Sie darauf, was die Branche und die Bevölkerung will, und stimmen Sie unserem Antrag zu! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Dr. Martin Mayer.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frau Kollegin Burchardt hat Pappkameraden und Gespenster aufgebaut, um dann fest darauf einschlagen zu können. Ich will Ihnen nur sagen: Der Begriff der Nachhaltigkeit ist keine Erfindung der Informationsgesellschaft. Land- und Forstwirte haben schon vor Jahrhunderten so das Grundprinzip des Wirtschaftens benannt. ({0}) Die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens ist auch heute ein wichtiges politisches Ziel. Nachhaltigkeit heißt, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schonen und ihre Regenerationsfähigkeit zu erhalten. Als Konservative brauchen wir da ohnehin keinen Nachhilfeunterricht. Bewährtes und Kostbares für die Zukunft zu sichern, das gehört zu unseren Grundsätzen. Dass das Ziel der Nachhaltigkeit auch in der Informationstechnik von Bedeutung ist und berücksichtigt werden muss, ist selbstverständlich und bedarf eigentlich gar nicht eines eigenen Antrages. Auch die Zusammenarbeit von Wirtschaftsunternehmen und Regierung sollte selbstverständlich sein. Es ist schon bemerkenswert, dass die Bundesregierung hierzu noch einer gesonderten Aufforderung durch einen Antrag bedarf. Schließlich möchte ich feststellen, dass ich nichts gegen die Methode des Roadmappings habe, die in verschiedenen Bereichen der Wirtschaftsplanung angewandt wird. Die Beteiligten müssen selbst wissen, mit welcher Methode sie vorgehen. Wenn es also nur darum ginge, das Ziel der Nachhaltigkeit durch die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Verwaltung unter Zuhilfenahme moderner Planungsmethoden zu fördern und zu unterstützen, könnte man dem Antrag unter der Voraussetzung zustimmen, dass das zu erwartende Ergebnis den Aufwand und die Anstrengungen lohnt. Der Antrag von Rot-Grün zielt aber auf etwas anderes ab. Er fordert als Ziel die Festlegung einer Selbstverpflichtung der Branche oder ein Branchenprotokoll. Die Nichteinhaltung dieser neuen Normen soll mit Sanktionen bestraft werden. Im Antrag steht übrigens, Frau Burchardt, kein einziger Satz darüber, dass etwa bestehende Normen oder das klassische Ordnungsrecht dadurch ersetzt werden sollen, sondern es ist ganz klar ersichtlich, dass es hier zusätzliche Festlegungen geben soll. Das ist der Punkt, warum wir meinen, das sei der falsche Ansatz, und deshalb muss der Antrag abgelehnt werden. ({1}) - Man muss den Antrag lesen. Sanktionsbewehrte Maßnahmen müssen im Vollzug nachprüfbar sein. In der Praxis führt das, wie viele Beispiele beweisen, zu einem riesigen bürokratischen Aufwand. Soll es eigentlich zusätzlich zu den zahlreichen, fast unübersehbaren Umweltvorschriften eigens für die IuK-Branche noch neue Normen und neue Festlegungen geben? Wer prüft die Einhaltung der Verpflichtungen? Wer verhängt Sanktionen? Wer schlichtet im Streit? Wie ist das mit Exporten und Importen in dieser ja sehr internationalen Branche? Das lassen die Antragsteller bewusst offen, weil sonst deutlich würde, welches Gestrüpp neuer Bürokratie entstünde. Die Geräte der Informations- und Kommunikationstechnik, die Chips, die Leitungen, die Disketten, die Bänder, die Gehäuse, werden wie kaum andere Produkte - das ist schon angesprochen worden - im weltweiten Verbund hergestellt. Für hoch empfindliche Apparate und reinste Chemikalien gibt es auf der Welt teilweise nur wenige Hersteller, die sich nicht in Europa und auch nicht in Deutschland befinden. Wie soll also eine nationale Initiative hier die Dinge vollständig verändern? Ich glaube nicht, dass sich die Asiaten oder die Amerikaner durch zusätzliche deutsche Vorschriften etwa beeindrucken lassen. Auch europäische Sondervorschriften sind hier nicht durchsetzbar. Nachhaltiges Wirtschaften heißt: möglichst wenig Energieverbrauch. Das steht ja auch in diesem Antrag. Wenn aber der Energieverbrauch, wie im Antrag gefordert, im Rahmen von Branchenprotokollen oder Selbstverpflichtungen festgeschrieben und zusätzlich sanktionsbewehrt werden soll, wozu haben wir dann die Ökosteuer? Die rotgrünen Antragsteller glauben wohl selbst nicht an die ökologische Wirkung ihrer Steuer. ({2}) Sie entlarven damit ihre eigene Gesetzgebung als Abzockerei. ({3}) Entwicklungen und Produktion in der IuK-Branche finden auch in kleinen mittelständischen Unternehmen statt. Von jungen Menschen mit guten Ideen, die bereit sind, neue Unternehmen zu gründen, leben wir. Von ihnen gehen wichtige Impulse aus. Damit wir mit dem weltweiten Wachstum mithalten können, sind gerade diese Unternehmen besonders wichtig. Diese jungen und kleinen Unternehmen, die keine eigene Rechtsabteilung haben, werden aber durch zusätzliche Vorschriften, die der Antrag fordert, in besonderer Weise betroffen und gehemmt, und das muss verhindert werden. ({4}) In der IuK-Branche herrscht ein heftiger internationaler Wettbewerb. Der Schnelle besiegt den Langsamen. Unternehmen der Branche haben es in Deutschland mit seiner hohen Regelungsdichte ohnehin sehr schwer, international mitzuhalten. Sollen sie nun mit neuen Regelwerken zusätzlich behindert werden? Ich sage hier ein ganz klares Nein. Insgesamt geht der Antrag von Rot-Grün mit seiner Forderung nach neuen Normen und Strafen bei Nichteinhaltung von einem falschen planwirtschaftlichen und statischen Ansatz aus. Die neue vernetzte und informierte Welt geht über diesen kleinkarierten ideologischen Ansatz hinweg. Deshalb muss der Antrag abgelehnt werden. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, die heutige Debatte zum Thema Nachhaltigkeit und neue Technologien hat zumindest eines gezeigt, nämlich dass über die Fraktionsgrenzen hinweg einige Blauäugigkeiten in der Betrachtungsweise heute nicht mehr gang und gäbe sind. Lange Zeit hieß es, neue Technologien seien per se nachhaltig oder umweltfreundlich, weil sie Materialströme vermindern, den Energieverbrauch vermindern und womöglich sogar den Verkehr vermindern. Das ist also lange Zeit sehr positiv dargestellt worden. Heute überwiegen, glaube ich, die skeptischen Töne. Der Streit geht darum: Wie kann man das beurteilen, was kann man tun, wie geht man damit um? Das hat übrigens auch Ihre Rede gezeigt, aber - darauf komme ich noch Ihre Antworten darauf, wie man damit umgeht, waren nicht sehr ausführlich. Jedenfalls habe ich nicht sehr viel dazu gehört. ({0}) - Ja, wir sind im Moment schwach besetzt. Aber Sie können ja selber klatschen, wenn Sie meine Rede gut finden. Im Verkehrsbereich gibt es inzwischen Studien, in denen untersucht wird, wie sich neue Technologien auswirken, ob sie zum Beispiel verkehrsmindernd wirken. Man kann feststellen: Sie wirken sich dann positiv aus, wenn man parallel dazu politische Maßnahmen ergreift, etwa, wie Sie es gerade angesprochen haben, ökologisch steuernde Maßnahmen, zum Beispiel das Verteuern des Autofahrens zusammen mit Telematik. Das führt zu einer Verkehrsminderung. Sie sehen, man muss manche Dinge zusammenbringen, damit sie wirken, und darf nicht nur das eine denken und das andere weglassen. Ein anderes wichtiges Feld, insgesamt gesehen vielleicht noch wichtiger, sind die Produkte der Elektronikindustrie. Man braucht nur auf sein eigenes Leben zurückzublicken, um zu sehen, was sich da in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich kann für mich sagen: Ich bin kein Computerfreak, aber ich habe jetzt schon die vierte Generation von Computern. ({1}) Ich habe schon drei Computergenerationen zu Hause stehen. Manche sagen: Auf den Bühnen unserer Generation lagern die Sondermüllanlagen von morgen. Das ist inzwischen ein Riesenproblem. Das gilt auch für den Telefonbereich. In meiner Kindheit gab es nur ein einziges schwarzes Telefon. Heute kann ich schon meine eigenen Telefone nicht mehr zählen. Sie sind farbig und haben zahlreiche Bestandteile. So haben wir in jedem Bereich eine Vielfalt von Geräten. Die Kollegin Burchardt hat ausgeführt, wie zum Beispiel der ökologische Rucksack eines einzigen Computers aussieht. Wenn ich das noch ergänzen darf: Die ökologische Belastung durch einen PC besteht aus fast so vielen Tonnen wie beim Automobil, und ein PC enthält bis zu 700 unterschiedliche, zum Teil hochtoxische Materialien, Dr. Martin Mayer ({2}) bei denen zum Teil nicht ganz klar ist, wo sie herkommen, weil sie nicht gekennzeichnet sind oder weil es Mischformen sind. Manche sind nicht nur toxisch, sondern auch sehr wertvoll. Aber alles ist miteinander verbunden und wird im Nachhinein zu einem Riesenproblem. Wir haben - es ist gesagt worden - 2 Millionen Tonnen Schrott pro Jahr alleine in diesem Bereich. Zurzeit kommen gerade einmal 6 000 Tonnen zurück. Das ist nur ein Bruchteil des Problems. Es ist nicht geregelt, wie wir mit diesem Problem umgehen. Wir wissen nur, dass es die Umwelt und nachwachsende Generationen belasten wird. Wir müssen etwas tun. ({3}) Da möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, einmal sagen: Es geht nicht nur darum, dass die Industrie etwas dagegen unternimmt, sondern es geht auch darum, dass die Politik etwas tut. Es ist ein Skandal, dass wir bis zum heutigen Tag noch keine endgültig beschlossene Elektronikschrottverordnung haben. Die CDU-regierten Länder blockieren seit Monaten eine Elektronikschrottverordnung, die wir dringend brauchen, um dieses Problem in den Griff zu bekommen. ({4}) Man kann schon sagen: Seit Jahren blockieren Sie eine solche Verordnung. Das heißt, auf der einen Seite blockieren Sie ordnungsrechtliche politische Maßnahmen dort, wo Sie etwas zu sagen haben, im Moment im Bundesrat, und auf der anderen Seite mäkeln Sie an einem anderen Instrument herum, von dem ich dachte, dass Sie sagen würden: Aha, endlich haben sie begriffen, was wir schon lange sagen, dass die Industrie auch selbststeuernde Prozesse organisieren muss. ({5}) Im Grunde genommen vertreten Sie eine Politik eines Nachtwächterstaates. Der Staat soll nichts tun, die Wirtschaft soll nichts tun, anstoßen soll man auch nichts. Was soll man denn dann politisch eigentlich tun? Ich verstehe das nicht. Sie mäkeln nur herum. ({6}) Jetzt komme ich im Einzelnen zu Ihren Punkten. Sie sagen, Roadmapping und das andere, was wir vorgeschlagen hätten, sei sozusagen Ordnungsrecht. Aber lesen Sie doch bitte einmal den Antrag genau nach. Was steht dort? Dort steht: Politik soll die Branche zusammenführen, also einen Dialog initiieren und moderieren. Die Branche soll in Form einer freiwilligen Selbstverpflichtung definieren, welche Probleme es aus ökologischer bzw. nachhaltiger Sicht gibt, welche großen Herausforderungen bestehen, die wir gemeinsam lösen können, und in welchen Bereichen wir uns darauf verständigen können, auf übereinstimmende Art und Weise die entsprechenden Produkte herzustellen und sie damit ökologisch-nachhaltig verantworten zu können. Dann wird die Branche sagen: Wir sollten das vertraglich klären. Denn was nützt eine Absprache, die hinterher niemanden bindet? Das ist doch ein Witz. ({7}) Die Form der freiwilligen Selbstverpflichtung ist, dass man sagt: Wir binden uns und sehen Sanktionen vor. Dies sind übrigens keine staatlichen Sanktionen. Vielmehr verständigt sich die Branche selber auf Sanktionen. Das kann übrigens ganz einfach geschehen, indem die Branche sagt: Diese oder jene Firma hat den Vertrag, den sie mit uns allen geschlossen hat, gebrochen, da sie entgegen unserer Absprache folgende hochtoxische Materialien verwendet. - Das könnte sanktioniert werden. Das wäre sehr wirkungsvoll. Dazu müsste man keine Bürokratie aufbauen. Man könnte eine einmalige Anzeige schalten und fertig wäre die Angelegenheit. Aber diese Fantasie haben Sie nicht. Ich wundere mich nur! Sie sagen, man könne keinen nationalen Alleingang machen. Ich bitte Sie: Auf europäischer Ebene und international in der Branche wird dieser Versuch schon lange unternommen. Jetzt leisten wir einen Beitrag und sagen: Wir wollen Anstöße geben, die Entwicklung wissenschaftlich begleiten und staatlicherseits ein wenig dazu beitragen, dass in der Wirtschaft Selbstverantwortung gedeihen kann. Sie aber sagen wieder Nein. Insgesamt gesehen sagen Sie nur Nein, mäkeln Sie nur und machen Sie keine positiven Vorschläge. ({8}) Die Politik muss in diesem Bereich Folgendes leisten: Sie muss Vorstellungen entwickeln, wie Nachhaltigkeit gedeutet bzw. definiert werden kann und was in diesem Zusammenhang wichtig ist. Zum Beispiel sollten Geräte sparsam beim Energieverbrauch sein. Die verwendeten Stoffe sollten möglichst nicht toxisch sein oder, wenn dies doch der Fall sein sollte, sollte dies kenntlich gemacht sein. Die Geräte müssen demontierbar sein. Sie sollten übrigens auch arbeitnehmerfreundlich sein. - Das sage ich hier, weil wir heute hier im Hause eine Gruppe von Gewerkschaftlern haben. - Auch das ist von Bedeutung. Auch für die Menschen, die diese Geräte demontieren müssen, darf keine Gefährdung bestehen. Wir müssen zudem darauf hinweisen, dass neue Technologien im Rahmen des Service im Reparaturbereich dienstleistungsfreundlich sein müssen. All dies sind Vorgaben, von denen ich glaube, dass die Politik sie setzen sollte. Ansonsten wollen wir mit dem vorliegenden Antrag ganz besonders die Eigenverantwortung der Industrie stärken und schützen und damit gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie durch branchenspezifische Strategien zu unterstützen. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt erteile ich der Kollegin Cornelia Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hermann, Sie sagten, die Opposition mäkele an Ihnen herum. Ich bezeichne das nicht als Mäkeln. Ich bezeichne das - das will ich betonen als kritische Oppositionsarbeit. ({0}) Damit komme ich zur Sache: Wir behandeln heute im Deutschen Bundestag einen Antrag, mit dem eine Strategie für eine nachhaltige Informationstechnik entwickelt werden soll. Frau Burchardt, Sie werden sich wundern: Ich sage dazu, dass das ein guter Gedanke ist. Denn die Informations- und Kommunikationstechnik stellt sich uns als der Wachstumsmotor des beginnenden 21. Jahrhunderts dar. Auch Sie wissen natürlich, dass wir es zum Beispiel beim Thema Bildung im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung geschafft haben, einen gemeinsamen Antrag dieses Hohen Hauses vorzulegen. Aber darum geht es in diesem Falle nicht. Denn wer glaubt, mit diesem Antrag, den Sie hier vorlegen, Ansätze für eine politische Strategie an die Hand zu bekommen, die eine Vernetzung von sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekten dieser Entwicklung zum Ziel hat, wird rasch enttäuscht sein. ({1}) - Genau. - Der aufmerksame Leser merkt schnell: Das Produkt, also Ihr Antrag, hält nicht das, was die aufwendige Verpackung verspricht. ({2}) Ich würde gerne - mit Blick auf Herrn Dr. Thomae - der Verpackung den Zettel beifügen: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie lieber die F.D.P. ({3}) Hier geht es nicht um eine nachhaltige Informationstechnik. Ihnen geht es im Grunde um einen nationalen Eingriff in eine Wachstumsbranche, der ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zur Disposition stellt. Auch in diesem Fall soll ein so genanntes Konsensmodell herhalten, wovon Sie gesprochen haben. Unserer Auffassung nach sollen in Wirklichkeit dieser jungen Branche politisch die Korsettstangen eingezogen werden. Genau das steht auch in dem Antrag und Herr Kollege Mayer von der CDU/CSU-Fraktion hat es auch gesagt. So, wie Sie es vorgestellt haben, geht es nicht nur um eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft und auch nicht um ein reines Roadmapping. Sie liefern gleich die grüne Keule noch dazu, nämlich durch Sanktionsmechanismen für den Fall der Nichteinhaltung seitens der Wirtschaft. Wir alle wissen, wie viele Jobs gerade in der Informationstechnik stecken. Ich glaube, Ihr Antrag gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland. Deshalb sollten wir ihn nicht unterstützen und deswegen lehnen wir ihn ab. ({4}) Ich finde es köstlich, dass Ihr Vertrauen in die Arbeit des Bundesumweltministers Jürgen Trittin anscheinend nicht so toll ist; denn die kleine Anzahl der Kollegen aus der SPD-Fraktion, die sich in das Rubrum des Antrages eingetragen haben, zeigt mir, wer die eigentlichen Mütter und Väter der Botschaft sind. ({5}) - Ich weiß, Herr Tauss, auch Sie haben an diesem Antrag mitgearbeitet, ({6}) und unsere konstruktive Kritik trifft Sie wieder schwer. ({7}) Ich kann das ja nachvollziehen. Sie verlieren in dem Antrag kein Wort darüber, dass die Industrie schon lange auf eine Elektronikschrottverordnung wartet, die den Stoffkreislauf von der Rohstoffgewinnung über das Produkt und den Nutzer bis hin zur Wiederverwertung verbindlich regelt. Das können Sie nicht den Ländern vorschlagen. Hier ist vielmehr die Bundesregierung zum Handeln aufgefordert. ({8}) Meine Fraktion wird dem Antrag in der vorliegenden Form nicht zustimmen, da es richtiger wäre, Aufgaben für die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung aufzuzeigen sowie in enger Zusammenarbeit mit der Industrie Anwendungs-, Vermeidungs- und Beseitigungsstrategien zu erarbeiten. Ein einseitiger Standortnachteil für den Informationstechnikbereich in Deutschland ist auf jeden Fall zu vermeiden. Es geht um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Das falsche Signal an diese Branche bringt angesichts der Globalisierung eher große Gefahren für das prognostizierte weitere Wachstum mit sich. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu den beiden anderen Oppositionsfraktionen wird die PDS dem Antrag zustimmen. ({0}) Es ist gut, dass die Themen Informationstechnologie und Nachhaltigkeit zusammen beraten werden, auch wenn man hinsichtlich der Kriterien bzw. der Konkretisierung des Begriffs Nachhaltigkeit sicherlich noch diskutieren wird. Beides sind Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist auch klar, dass das Verhältnis zwischen ihnen ambivalent ist. Einerseits gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die neuen Informationstechnologien für eine nachhaltige Entwicklung zu nutzen, andererseits bergen die neuen Technologien zusätzliche Belastungen für Mensch und Umwelt. Deshalb gibt es keinen Zweifel daran, dass es einer möglichst genauen Beobachtung und einer gründlichen Folgenabschätzung dieser Entwicklung bedarf. Darin sind wir uns sicherlich alle einig, wie man dies auch den Reden aus den Reihen der Union und der F.D.P. entnehmen kann. ({1}) Umstritten ist das vorgeschlagene Verfahren des Roadmappings. Dieses Verfahren ist im Grunde ein Dialog der Branche, weil diese am besten wissen müsste, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Es ist insofern auch ein Ansatz für die Entwicklung des IuK-Marktes, weil dieser von denjenigen, die ihn beherrschen, auch am besten eingeschätzt werden kann. Die Unternehmen planen voraus. Was zählt, sind Fakten und Zahlen. Eine Analyse der Informations- und Kommunikationstechnologien unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist also bei der Branche in guten Händen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, da Sie erklärt haben, Sie würden den Antrag begrüßen: Können Sie mir dann erklären, warum von der Bundesregierung zurzeit kein Mitglied anwesend ist?

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Da ich ja leider noch nicht Mitglied der Bundesregierung bin, kann ich diese Frage natürlich schlecht beantworten. ({0}) Es ist natürlich schade, aber wir haben heute schon häufiger über das Thema diskutiert und vielleicht hängen sie ja noch am Bildschirm. ({1}) Es versteht sich in meinen Augen auch von selbst, dass unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Umweltverbände diesen Prozess begleiten müssen, genauso wie die Tatsache, dass sich eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Grundlagenforschung ebenfalls dieses Themas, denke ich, annehmen muss. ({2}) Selbst wenn die Branche, Frau Burchardt, wartet, bleibt doch die Frage, ob die Unternehmen diejenigen sein sollten, die allein über die Konsequenzen oder die erforderlichen Maßnahmen entscheiden sollten. Laut Antrag ist das Ziel ein Konsens in der Branche, eine Selbstverpflichtung oder ein Branchenprotokoll, das entstehen soll. Wir dürfen uns hier im Hause an manchen Stellen nichts vormachen; wir alle wissen, dass die Unternehmen Eingriffe in den Markt und ihren Profit nicht freiwillig und schon gar nicht aus eigenem Antrieb unterstützen. Das Verfahren darf natürlich in meinen Augen, sosehr ich ihm zustimme, nicht in billige Absprachen münden, darf natürlich nicht darin münden, dass Politiker oder auch unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Verbände die Ergebnisse dieser Analyse nicht mit beurteilen können. Sie müssen natürlich mit in die Diskussion über die Schlussfolgerungen einbezogen werden. Da ist es, Kollege Mayer, natürlich notwendig, dass Sanktionsmaßnahmen bei Verstößen, wenn man sich denn schon selbst verpflichtet, ergriffen werden können. Denn wenn Selbstverpflichtungen nicht in konkrete Maßnahmen münden, dann möchte ich auch das Recht haben, meinetwegen mit legislativen Maßnahmen einzugreifen. Ansonsten hat eine Selbstverpflichtung keinen Sinn. Deswegen denke ich: Roadmap darf kein Freibrief für die IuK-Branche sein, sondern muss natürlich Pflicht sein, auch wenn sie einen Anteil an Selbstverpflichtungen enthalten darf. Damit gesellschaftlich kontrolliert werden kann, ob die Regulierungsvorschläge angemessen sind, brauchen wir eine breite Diskussion zum Thema „nachhaltige Informationstechnologien“. Was stellen wir uns darunter vor? Die Entwicklung auf diesem Gebiet muss nachvollziehbar sein. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, der Medien, der Bildungseinrichtungen, aber natürlich auch der Politik, dies zu begleiten und offen zu legen. Wir partizipieren alle in irgendeiner Form an dieser Entwicklung, an den neuen Kommunikationstechnologien. Ich denke, dass sich niemand aus der Verantwortung stehlen kann, auch nicht die Politik. Sie sollte mutig genug sein, an dieser Stelle einzugreifen. Deswegen wird die PDS diesem Antrag zustimmen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt noch einmal der Herr Kollege Jörg Tauss. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Pieper, es geht nicht um kritische Oppositionsarbeit - sie ist schon weg, schade -, es geht um Mäkelei. Begonnen hat es heute Morgen mit dem Gemäkele an dem erfolgreichen Kurs der Bundesregierung und des Kanzlers und jetzt mäkeln Sie am Roadmapping herum. Das zieht sich durch den ganzen Tag. Eine kritische Opposition, wie wir sie verstehen, zeigt aber Alternativen auf. ({0}) - Was soll der Verweis auf die Regierungsbank? Sie haben doch eben davon gesprochen, dass diese Regierung aufgefordert werden müsste. Dazu sage ich: Nein, sie muss nicht aufgefordert werden; man ist bei der Arbeit; man macht das schon, wozu Sie sie auffordern wollen. ({1}) Wir müssen Ihnen hier noch etwas erklären und nicht denen. Die machen nämlich ordentliche Arbeit. Darin unterscheiden sie sich sehr von Ihnen. ({2}) - Seien Sie einmal ein wenig schweigsam; jetzt lese ich Ihnen etwas vor, was Ihnen viel Freude macht. Es geht um den Fachverband Informationstechnik im VDMA und ZVEI. Die haben - jetzt hören und staunen Sie - bei einer Anhörung unserer Enquete-Kommission in der letzten Legislaturperiode Folgendes gesagt: Wir haben dem Umweltbundesamt Ende 1996 die Aufnahme von Beratungen über mittel- und langfristige Umweltziele für die informationstechnische Industrie vorgeschlagen. Die Industrie hat es vorgeschlagen, nicht die bösen Sozialdemokraten! - Hierzu haben auch Gespräche stattgefunden, heißt es hier weiter im Text. Und dann: Hieran könnte angeknüpft werden, wenn im Umweltbundesamt konkrete Aktionsfelder definiert werden. Das, meine Damen und Herren, ist unser Ziel; mit der Wirtschaft werden wir es machen. Sie könnten Opposition machen, indem Sie Alternativen aufzeigen. Aber die haben Sie nicht. Intelligente Firmen und Unternehmen ({3}) - jetzt rufen Sie nicht die ganze Zeit dazwischen; die Frau Präsidentin hat schon gemeint, ich solle mich heute kürzer fassen; Sie können auch eine Zwischenfrage stellen achten im eigenen Interesse darauf, dass Produktion und Produktionsverfahren die Umwelt nicht belasten. Das ist moderne Politik und nicht dieses rückwärtsgerichtete, alberne … - Ach, ich will das nicht weiter ausführen, sonst rügt mich noch die Präsidentin. ({4}) Gerade die IT-Branche hat Interesse daran. Elektronikschrott ist ein zentrales Problem. Der Kollege Hermann hat zu Recht darauf hingewiesen. Kollege Mayer, entschuldigen Sie bitte: Nachhaltigkeit ist nicht Konservativismus. Wenn Konservativismus das sein sollte, was Sie heute vorgetragen haben, dann ist es ein Drama. Nachhaltigkeit heißt, optimierte Produkte, optimierte Prozesse und Dienstleistungen und die Rahmenbedingungen dafür zu entwickeln. Das hat etwas mit Nachhaltigkeit zu tun ({5}) und ist das Gegenteil von Konservativismus. So angenehm und faszinierend der Computer ist - Kollege Hermann hat Recht -, er hat, auf die Müllhalde gebracht, höchst unangenehme Eigenschaften, da er hoch toxisch ist. Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs weiß jeder Bescheid: Wenn wir das Problem mit dem Stand-byBetrieb in den Griff bekommen würden, könnten wir ein ganzes Kernkraftwerk abschalten. Die Bundesregierung hat - darüber haben wir gerade geredet - gehandelt. Sie hat beispielsweise ein Forschungskonzept für die Produktion von morgen auf den Weg gebracht. Im Rahmen dieses Prozesses gibt es eine ganz interessante Aktion, übrigens getragen vom Fraunhofer-Institut für chemische Technologie, was, Herr Kollege Fischer, in unser beider Wahlkreis liegt. Falls Sie die Kurve jetzt nicht kriegen - Sie reden nachher noch -, würde ich vorschlagen, es einmal gemeinsam zu besichtigen. Dann hören Sie, was die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu unserem Antrag sagen. Sie werden möglicherweise staunen. Dieses Programm, von dem ich rede, hat mehrere Ziele. Es geht um Lebensdauerplanung - „design to life“ ist der englische Fachbegriff -, es geht um Werterhaltung, Mehrgenerationenproduktplanung. Es geht um Technologien und Methoden zur Lebensdauerdokumentation, zur nachhaltigen Instandsetzung. Darüber freut sich übrigens das Handwerk, das Sie sonst an allen Stellen hochjubeln. Es geht um die marktfähige Umsetzung von erweiterter Produktverantwortung. Das hat etwas mit Roadmapping zu tun - aber nicht nur damit, sondern auch mit Methoden zur Steigerung von Nachfrage nach nachhaltigen Produkten. Das schönste nachhaltige Produkt hilft nämlich nichts, wenn die Verbraucher in den Märkten daran vorbeigehen. Das heißt, wir müssen ein Bewusstsein für nachhaltige Produkte schaffen, damit sie auch gekauft werden. ({6}) Das ist moderne Umweltpolitik, für die diese Regierung steht. Diesen Zielen wollen wir uns mit Hilfe des Roadmapping nähern. Die IT-Branche könnte eine Vorreiterrolle für nachhaltige Produktion und Produkte spielen. Ein Roadmapping ist dafür ein hervorragender Ansatz. Er kommt aus den USA, nicht gerade das Musterland des Sozialismus, wie wir alle wissen. Die Kapitalisten haben es also erfunden. An dieser Stelle - nicht überall, aber hier beim Roadmapping - wollen wir ausnahmsweise einmal von den Kapitalisten lernen. Wir laden die Union ein, da mitzumachen. Die Roadmap wird in Abstimmung mit der Branche erstellt. Über VDMA und ZVEI habe ich bereits geredet. So kommt man zu gemeinsamen Ergebnissen. Nicht Papa Staat alleine ist gefordert, sondern in der Kooperation von Staat und Industrie werden umweltverträgliche Produkte auf den Weg zur Nachhaltigkeit gebracht. Eine modernere Politik kann man sich eigentlich nicht vorstellen. ({7}) Deswegen: Mäkeln Sie nicht, machen Sie mit! Wir freuen uns also auf die spannenden Diskussionen mit Ihnen. Ich kann nur nochmals sagen: Kollege Fischer, Sie haben ja nachher noch die Chance, die Kurve zu krieJörg Tauss gen. Meine herzliche Bitte ist - ich meine es jetzt wirklich ernst -, in diese Gespräche Hersteller, Fachverbände, ZVEI, VDMA sowie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einzubeziehen. Sie haben die Chance mitzumachen. Setzen Sie sich wenigstens mit an den Tisch, hören Sie es sich an! Den Workshop, den wir machen, werden wir, Kollegin Burchardt, sicher nicht hinter verschlossenen Türen abhalten. Die Opposition kann gerne mitwirken. Denn wir wollen Sie auf dem Weg zu einer moderneren Politik gerne einbinden. Das würde dem Land sicherlich nicht schaden. Machen Sie mit, anstatt sich - wie es heute geschehen ist - nörgelnd ins Abseits zu reden. Es macht sonst noch nicht einmal Spaß, sich mit Ihnen auseinander zu setzen, so gerne ich mich mit Ihnen fetze. ({8}) Das ist keine konstruktive Opposition, es macht keinen Spaß mit Ihnen. Und das ärgert mich persönlich noch so ein bisschen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der schon mehrfach genannte Herr Kollege Fischer.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Tauss, was Sie uns hier geboten haben, war Demagogie pur. ({0}) Vielleicht liegt das auch daran, dass Sie heute bereits zum dritten Mal hier im Einsatz sind. Man hat das Gefühl, die SPD hat gar keine anderen Leute mehr, die zu diesem Thema sprechen können. ({1}) Die Sachlichkeit hat darunter zu leiden. Im Übrigen: Wenn man die Regierungsbank anschaut, wird man nicht gerade in dem bestätigt, was Sie sagen, Herr Kollege Tauss. Wenn das wirklich so ein wichtiges Thema wäre, wären die alle hier und würden hören, was das Parlament zu sagen hat. Das ist eine Missachtung des Parlaments und Sie verteidigen das auch noch. Das kann eigentlich nicht sein. ({2}) Wir debattieren heute den Antrag der Regierungsfraktionen „Strategie für eine Nachhaltige Informationstechnik“. Das ist ein großer Anspruch, wenn man bedenkt, dass das Leitbild der Nachhaltigkeit drei Dimensionen die Ökonomie, die Ökologie und das Soziale - umfasst. Das bedeutet eine dauerhafte tragfähige Entwicklung, bei der ökologische, ökonomische und soziale Belange gleichberechtigt und ausgewogen miteinander verbunden sind. ({3}) Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die Regierungsfraktionen den Versuch gestartet haben, diese von der Enquete-Kommission formulierten Anforderungen umzusetzen. Bereits im ersten Absatz Ihres Antrags ich will nun zu Ihrem Antrag sprechen, da Sie das selbst nicht hinbekommen haben - umreißen Sie grob das gesetzte Anspruchsniveau. Sie haben einige der vielen Bereiche benannt, in denen die Politik Veränderungen der Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung der Informationstechnik in Deutschland vornehmen müsse: Veränderungen im Arbeitsleben, Stichwort: Vereinbarkeit von Familie und Beruf; Veränderungen der Informationsübermittlung, Stichwort: Informationszugang und Wissensvermittlung; Veränderungen der Qualifikationsanforderungen an Arbeitnehmer, Stichwort: zukunftssichere Arbeitsplätze. Leider kommen Sie über das Benennen dieser wichtigen Felder nicht hinaus. Denn im Weiteren handelt Ihr Antrag, liebe Kollegin Burchardt, weniger von Nachhaltigkeit als vielmehr von der Ökologisierung der Informationstechnik. Es geht nur noch um die Verringerung der Stoff- und Energieflüsse im Bereich der IuK-Technik, die Erhöhung der Ressourcenproduktivität und die Vermeidung von Problemstoffen bei der Herstellung von IuK-Geräten. Zur Lösung dieser vermeintlich drängenden Probleme schlagen Sie unter Berufung auf die Enquete-Kommission die Erstellung einer Roadmap vor, die die ökologischen Herausforderungen auf dem Weg zu einer nachhaltigen Informationstechnik benennen soll. Die Enquete-Kommission hat in der Tat einvernehmliche Empfehlungen für eine weitere nachhaltige Entwicklung im Bereich der Informationstechnik ausgesprochen. Ein Teilbereich war die ökologische Zielsetzung der Verbesserung der Schadstofffreiheit und Verringerung des Energieverbrauchs. Ein Unterkapitel dieses Teilbereichs war die Erstellung einer Roadmap. Dabei hat die Enquete-Kommission den Staat aber allenfalls als Finanzier einer solchen Anstrengung der Wirtschaft erwähnt. ({4}) Vom Staat als Beteiligtem an einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ der Unternehmern und von einer Strafe für Unternehmen bei Nichteinhaltung einer solchen Verpflichtung ist in den Empfehlungen der Enquete-Kommission nichts zu finden. Wir haben in Deutschland kein Problem mit zu wenig Staat, sondern wir haben ein Problem mit zu viel Staat. Deshalb hat die Enquete-Kommission bei ihrer Empfehlung einer Roadmap den Staat als Akteur bzw. als Sanktionator bewusst nicht vorgesehen. ({5}) Es ist schon bezeichnend, dass Sie mit Ihrem Antrag von den eigentlichen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung für und in Deutschland ablenken wollen. ({6}) Die Nachhaltigkeit für Deutschland umfasst eben nicht nur den ökologischen Bereich - ansonsten könnten wir diese Debatte im Umweltausschuss führen - und sie ist auch nicht durch mehr Staat zu erreichen, denn dann könnten wir die Marktwirtschaft gleich durch Planwirtschaft ersetzen. ({7}) Nein, meine Damen und Herren, sie umfasst gleichberechtigt auch die ökonomischen und sozialen Belange der Menschen in unserem Gemeinwesen. Die Enquete-Kommission hat dem in ihrem Endbericht Rechnung getragen, indem sie mehrere Strategien zur Umsetzung des Leitbildes der Nachhaltigkeit empfohlen hat. Eine davon war zum Beispiel die Förderung der Nachhaltigkeitskonzepte durch die Nutzung der IuK-Techniken. Doch davon findet sich in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Stattdessen sprechen Sie die Ressourcenintensität und Umweltbelastungen der Halbleiter- und Komponentenherstellung sowie den Energieverbrauch im Stand-by-Betrieb - wir haben sogar von Kernkraftwerken gehört, die abgeschaltet werden könnten - an. Das sind Ihre Themen im Bereich der Nachhaltigkeit. Wenden wir jetzt unseren Blick ab von den Fragen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes hin zu den Fragen der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Bereits vor zwei Jahren, liebe Frau Burchardt, hat die EnqueteKommission, die Sie zitiert haben, in ihrem Abschlussbericht den Fachkräftebedarf für die Softwareentwicklung, die Softwareanwendung und -ausgestaltung als das Nadelöhr der ökonomischen Entwicklung identifiziert. Das haben Sie damals mit unterschrieben. Sie hat damals empfohlen, auf allen Ausbildungsebenen - auf der Ebene der Universitäten, der Fachhochschulen und der beruflichen Ausbildung - die bestehenden Ausbildungskapazitäten zu erweitern und neue zu schaffen. Dieses Problem bewegt die Menschen, und zwar nicht nur die unmittelbar betroffenen Unternehmer und Arbeitskräfte, nein, unsere Gesellschaft stellt sich insgesamt die Frage, wie wir mit älteren oder weniger qualifizierten Arbeitnehmern in Zukunft umgehen wollen. Sie hatten zwei Jahre Zeit zu handeln. Nichts ist passiert. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber ich hätte angesichts der momentanen Lage in Deutschland von Ihnen erwartet, dass Sie die Initiative zur Behebung des Mangels an geeigneten Fachkräften im Bereich der Anwendung der Informationstechnik ergreifen, um zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung unseres Gemeinwesens beizutragen. Wenn ich mir aber vor diesem Hintergrund Ihren Antrag zu einer nachhaltigen Informationstechnik anschaue, stelle ich fest: Das ist so, als wenn eine Gruppe von Feuerwehrsachverständigen im zwanzigsten Stock eines Hochhauses intensiv über die Verfeinerung eines Rauchmelders diskutiert, während unter ihnen zehn Stockwerke in hellen Flammen stehen. Mit der neuen Situation konfrontiert rufen sie die Feuerwehr aus Indien und Osteuropa, denn die eigenen Feuerwehrleute scheinen aus ihrer Sicht nicht qualifiziert oder schon zu alt zu sein, um die neuen Löschgeräte anständig zu bedienen. Genau das ist die momentane Situation. ({8}) Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber es entspricht den Tatsachen. Wir haben 30 000 arbeitslose ansässige Computerfachleute. Aber statt in den letzten beiden Jahren die Qualifikation neuer Fachleute forciert oder den Unternehmen den Einsatz älterer Fachleute schmackhaft gemacht zu haben, setzen Sie auf den Import von Fachleuten und scheren sich nicht um die Integration unserer Mitbürger in den Arbeitsmarkt. Das muss hier einmal so deutlich gesagt werden. Es ist ein Armutszeugnis, dass an dieser Stelle über einen Antrag zur nachhaltigen Informationstechnik debattiert werden muss, dessen Inhalt sich in keinem Wort an den aktuell drängenden Problemen der Menschen hier in Deutschland orientiert. Ihr Antrag geht jedenfalls an dem eigentlichen Ziel einer nachhaltigen und dauerhaft tragfähigen zukünftigen Entwicklung unserer Gesellschaft insgesamt meilenweit vorbei. Die Diskussion über Nanogramm und Pikogramm sowie über vermeintlich große Entsorgungsprobleme beim Abfall, die Sie hier betreiben, ist jedenfalls derzeit kein geeigneter Beitrag zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens. ({9}) In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen: Verstecken Sie sich nicht länger hinter Ihrem ökologischen Umbau, sondern stellen Sie sich endlich den realen Problemen der Menschen in unserem Lande! ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, For- schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Stra- tegie für eine Nachhaltige Informationstechnik, Drucksa- che 14/2814. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2390 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim- men von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung Axel E. Fischer ({0}) - Drucksache 14/3086 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Existenzsichernde Vergütung der psychotherapeutischen Versorgung gewährleisten - Drucksache 14/2929 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Dr. Dieter Thomae für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten Wahlperiode haben wir dieses Gesetz weitgehend gemeinsam auf den Weg gebracht und getragen. Die jetzige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben dieser Berufsgruppe vor den Wahlen sehr viel versprochen - zu viel, denn sie können es nicht halten. ({0}) Meine Damen und Herren, es ist erschreckend, wie die Honorierung in diesem Bereich jetzt aussieht. Die floatenden Punktwerte haben dramatische Auswirkungen. Nicht nur in den alten Ländern, sondern besonders auch in den neuen Bundesländern werden die psychologischen Psychotherapeuten an die Grenze ihrer Existenz gebracht. ({1}) - Das ist in der Tat skandalös. Das ist die Grundlage der Auseinandersetzung, die wir jetzt führen müssen. Grundlage ist die Budgetierung. Meine Damen und Herren, die Budgetierung treibt alle in den Ruin. Sie rationiert insgesamt die Leistungen. ({2}) Ob wir das Arzneimittelbudget, das Heilmittelbudget oder diesen Bereich nehmen: Überall führt die Budgetierung zur Rationierung der Gesundheitsleistungen zum Nachteil der Patienten. Zum Glück merkt man jetzt draußen, welche Politik von Ihnen in diesem Bereich organisiert worden ist. ({3}) Meine Damen und Herren, das Erstaunliche ist, dass wir feststellen müssen: Es gibt keine akzeptablen Stundenlöhne mehr. Es handelt sich nämlich um Leistungen, die im Gutachterverfahren von den Krankenkassen genehmigt worden sind. Aber man muss wissen, dass diese Leistungen dringend notwendig sind und nun endlich zu einem akzeptablen Preis organisiert werden müssen. ({4}) Da gibt es kein Entkommen. Viele Praxen in den neuen und alten Bundesländern sind dem Ruin schon nahe; sie können keine entsprechenden Leistungen mehr erbringen. Der Bedarf ist groß. Deshalb plädiere ich dafür, dass wir uns jetzt im Gesetzgebungsverfahren ernsthaft darum kümmern, eine saubere, vernünftige Lösung auf den Weg zu bringen. Ich möchte Ihnen einmal schildern, wie die Situation in der Praxis aussieht. Ich glaube, Zahlen machen die Situation sehr deutlich: Im Jahr 1999 erzielten die Praxen im Durchschnitt einen Umsatz von 70 DM pro Stunde. Wenn man aber die Praxiskosten, die man mit etwa 44 DM veranschlagen muss, abzieht, dann bleibt noch ein Betrag von 26 DM brutto. ({5}) Dann kommt die Altersvorsorge, dann kommt die Krankenversicherung, dann kommen die Steuern und dann - so sagen uns die Experten - liegt der Nettostundenlohn bei 13 DM. Meine Damen und Herren, wer ist noch bereit, für 13 DM pro Stunde zu arbeiten? - Es kann keine vernünftige therapeutische Betreuung zu diesem Stundenlohn mehr erfolgen. ({6}) Noch dramatischer ist es in Sachsen-Anhalt. Auch hier möchte ich Ihnen einmal die Zahlen nennen: In SachsenAnhalt beträgt der Stundenumsatz 52,20 DM brutto. Nach Abzug der Praxiskosten, die 43,70 DM ausmachen, bleiben brutto noch 8,50 DM übrig. ({7}) Ich könnte Ihnen hierzu noch eine Reihe von Beispielen nennen. Ich könnte Ihnen beispielsweise sagen, wie die Situation in Berlin ist - sie ist ähnlich dramatisch. Meine Damen und Herren, es ist nicht nur in diesem Bereich dramatisch, sondern es ist auch bei den Krankengymnasten dramatisch, es ist bei den Logopäden dramatisch, es ist im Arznei- und Heilmittelbereich dramatisch. Ich sage Ihnen: Auch im Krankenhausbereich werden wir recht bald feststellen, dass es dramatischer wird, weil die Wartezeiten immer größer werden. Hier, meine Damen und Herren, ist die Bundesregierung gefordert. Ich war erstaunt, als ich in der „Bild am Sonntag“ vom 23./24. April 2000 las, dass der zuständige Staatssekretär gesagt habe, es gebe in diesem Land keine Budgetierung im Arznei- und Heilmittelbereich mehr. ({8}) Er hat behauptet: Um das System zwischen den Ärzten gerechter zu gestalten, haben wir einen Individualregress eingeführt. Vizepräsident Rudolf Seiters Ich weiß nicht, wann dieses Gesetz über die Rampe gebracht worden ist. ({9}) Ich glaube, Ihr Staatssekretär sollte sich einmal um die Gesetzgebung kümmern, die Sie gemacht haben. Mit diesen Äußerungen hat er also nicht nur die „Bild am Sonntag“ belogen, sondern auch die deutschen Patienten, denn es gibt keinen Individualregress, sondern es gibt bei der Budgetierung nur eine Gesamthaftung aller Ärzte und das - ich sage es ganz eindeutig, meine Damen und Herren - ist in meinen Augen nicht verfassungsgerecht. ({10}) Ich bin nicht bereit, dies weiter zu akzeptieren. Gehen Sie von der Budgetierung weg! Dann, meine Damen und Herren, sind Sie auf einem vernünftigen Weg. Ich bin bereit, im Anhörungsverfahren vernünftige Vorschläge aufzunehmen, damit diese Problematik, die sehr dramatisch ist, gelöst werden kann. Sie haben den Psychotherapeuten vor den Wahlen so viel versprochen, aber nichts gehalten. Ich muss sagen, das ist unverantwortlich. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht Kollegin Helga Kühn-Mengel.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Etwas erstaunt hat mich Ihr Beitrag schon, Herr Kollege Thomae. ({0}) - Manchmal genügt auch eine kurze Zeit, um jemanden kennen zu lernen, aber diesen Aspekt möchte ich nicht vertiefen. ({1}) Sie haben weder zu Ihrem Gesetzentwurf gesprochen noch zu dem außerordentlich heiklen Punkt der Zuzahlung, die auch von der Verbändelandschaft abgelehnt wird. ({2}) Das haben Sie durch ein gewisses Timbre in der Stimme kompensiert. Aber ich sage Ihnen schon jetzt - ich nehme etwas aus meiner Rede vorweg -: Die Situation für die Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist ernst. Das müssen Sie mir nicht sagen. ({3}) Mit diesem Thema reise ich durch die bundesdeutsche Landschaft, wie auch meine Kollegen. Ich weiß um die Not. Nur in der Ursachenbeschreibung setze ich etwas andere Akzente als Sie. ({4}) - Auch das ist nicht richtig. Aber dazu komme ich noch. Sie erinnern sich: Als das Psychotherapeutengesetz nach langen Jahren der Auseinandersetzung in Kraft trat, haben wir viele der Schwierigkeiten, über die wir heute sprechen, zumindest in Ansätzen kommen sehen: Es wurde über Zugangsmodalitäten zur Kassenärztlichen Vereinigung, Zulassungsbedingungen und Methodenvielfalt diskutiert. Ich möchte daran erinnern, dass die SPD diesem Gesetz die Zustimmung gegeben hat, weil sie im Bundesrat ganz entscheidende Dinge nachbessern konnte: bei der Gleichstellung der ärztlichen und psychologischen Therapeuten und Therapeutinnen, bei ihrer Integration in die Kassenärztlichen Vereinigungen mit Bildung eines Fachausschusses und bei der Stärkung der Kinder- und Jugendtherapeuten. Auch der Wegfall der Zuzahlung war ein Punkt, weshalb wir zugestimmt haben. Es ist schon bemerkenswert, meine Damen und Herren von der F.D.P., dass Sie die Zuzahlung heute wieder herauskramen und wieder verwerten wollen. Wir werden diesen Vorschlag jedenfalls heute ebenso ablehnen wie damals. ({5}) Wir haben diesem Gesetz damals zugestimmt, weil wir mehr Klarheit und mehr Sicherheit für die Patienten und Patientinnen erreichen und deren gute psychotherapeutische Versorgung sicherstellen wollten. Ich erwähne das deshalb, weil wir nicht unbedingt von einer Transparenz im System sprechen können. Es ist richtig, dass es Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Integration in die Kassenärztlichen Vereinigungen gibt. Es war das Ziel der Neugestaltung, dass die Psychotherapeuten Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen werden, dass es eine gemeinsame Bedarfsplanung gibt, dass sie den Ärzten gleichgestellt sind, dass beide Gruppen die gleiche Vergütung erhalten, dass sie in den Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung vertreten sind. Ich sage noch einmal: Das System hat manche dieser Forderungen, die wir aufgestellt haben, noch nicht umgesetzt. Wir können nur hoffen, dass vieles davon zu den Anfangsschwierigkeiten gehört. Wir wussten natürlich, dass es nicht so einfach sein würde, die gleichberechtigte Einbindung umzusetzen. Immerhin haben wir es mit einem Bereich zu tun, der sehr standesbewusst und interessenorientiert ist, denn die Ärzte sind schon lange etabliert. Das gehört zur Ursachenbeschreibung. Es gibt nun einmal Schwierigkeiten, wenn neue Partnerinnen und Partner in ein gewachsenes System eingebunden werden sollen. Man muss auch sagen, dass es in diesem System härteste interne Verteilungskämpfe gibt. Das ist unbestritten und wird von den Ärzten und Ärztinnen in vernünftigen Gesprächen immer wieder gesagt. Was die TherapeutinDr. Dieter Thomae nen und Therapeuten betrifft, so haben wir es auch mit den Auswirkungen solcher Verteilungskämpfe zu tun. Es ist richtig, Herr Kollege Thomae, dass es im Jahre 1999 bundesweit einen dramatischen Punktwertabfall bei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen gab, der Teile eines ganzen Berufsstandes existenziell bedroht das ist richtig -, der Therapeuten in extreme wirtschaftliche Situationen bringt und - nicht zuletzt - in manchen Regionen die psychotherapeutische Versorgung der Patienten und Patientinnen gefährdet. Richtig ist aber auch, dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie hätten verwendet werden sollen, über die Kassenärztlichen Vereinigungen in die Vergütung von Arztgruppen geflossen sind. ({6}) - Das hat das BMG gesagt, das sagen Kommentatoren aus dem Bereich der Krankenkassen. Das finden Sie auch in einem Länderpapier wieder. Das wird zurzeit überall diskutiert. Es ist doch nicht so, als wären wir nicht bestrebt, die Ursachen der schwierigen Situation herauszuarbeiten. Richtig ist nach unserer Meinung aber auch, dass der Antrag der PDS mit der Forderung nach Erhöhung des Budgets zu kurz greift und - ich weise noch einmal darauf hin - der Antrag der F.D.P. allzu anbiedernd ist. ({7}) - Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Fuchs. Ich meine mich zu erinnern, Ihren Antrag auch als Ersten genannt und gesagt zu haben, dass die dort erhobene Forderung nach Erhöhung des Budgets zu kurz greife und - ich wiederhole es gerne - der Antrag der F.D.P. anbiedernd sei. ({8}) Im letzten Jahr galten Übergangsregelungen, die im Übrigen noch Ihre Regierung beschlossen hat. Als wir sahen, wie problematisch sich die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Übergang gestaltete, haben wir von der Koalition eine deutliche Nachbesserung in Höhe von etwa 140 Millionen DM vorgenommen. Wir haben mit der Gesundheitsreform 2000 festgeschrieben, dass aufgrund der besonderen Tätigkeiten in der Psychotherapie eine angemessene Höhe der Vergütung pro Zeiteinheit zu gewähren ist. Das ist nicht unwichtig; denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen, dass Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten bei einem drohenden oder bereits eingetretenen Punktwertverfall ihren Leistungsumfang nicht so ohne weiteres ausweiten können, wie das andere Arztgruppen können. Es ist wichtig, dass wir diesen Punkt in § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes verankert haben. Entscheidend ist nach unserer Meinung aber auch, dass im Psychotherapeutengesetz eine Auffangregelung vorgesehen ist, damit ein bestimmtes Vergütungsniveau nicht unterschritten wird, ({9}) und dass als Maßstab für die Angemessenheit der Vergütung ärztliche Beratungs- und Betreuungsleistungen herangezogen werden sollen. So ist es in Art. § 11 Abs. 2 festgeschrieben. Offensichtlich ist der Vergütungspunktwert im zweiten Halbjahr 1999 aber auch deshalb so dramatisch gesunken, weil das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu 1998 zum Teil gesenkt wurde. Mittel für die Psychotherapie sind nicht geflossen. Sie sind - ich wiederhole es - in andere Bereiche gelangt. Dabei handelt es sich nach einer Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bundesweit um eine Summe von etwa 300 Millionen DM. Wir können doch nicht einfach sagen: „Wir bessern das Budget nach und geben mehr Geld in den Topf“, wenn all diese Dinge nicht ordentlich auf den Tisch des Hauses gelegt werden. Sie haben vorhin nach einem Beispiel gefragt. Die negativen Auswirkungen können am Beispiel Berlins - das haben Sie vorhin selber erwähnt - dargestellt werden: 1996 gab die Kassenärztliche Vereinigung Berlin 72 Millionen DM für psychotherapeutische Leistungen aus. Im Jahr 1998 stieg dieser Betrag auf 95 Millionen DM. Das war eine Steigerung von 32 Prozent. 1999 betrug der Anteil der Mittel für psychotherapeutische Leistungen aus der vertragsärztlichen Versorgung am Gesamtbudget lediglich 73 Millionen DM. Es fehlten also im letzten Jahr über 20 Millionen DM im Budget der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, die im vorigen Jahr den Psychotherapeuten noch zur Verfügung gestanden haben. Das habe ich einer Darstellung der Länder entnommen. Ich weise nur deshalb darauf hin, damit Sie nicht denken, ich ziehe wer weiß was für Zahlen heran; denn die Länder befassen sich damit. Wir befinden uns im Gespräch mit den Ländern, weil wir wissen, dass wir die Länder als Aufsichtsbehörden für eventuellen Änderungen brauchen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen - und es auch in Stellungnahmen betont -, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen gemeinsam Lösungen zu vereinbaren haben, die eine Versorgung der Versicherten und ein angemessenes Honorar für die Ärzte gewährleisten sollen. ({10}) Wir haben immer beide Seiten in die Verpflichtung genommen. Wir sehen die rechtlichen Grundlagen für einen solchen Konsens in den genannten Auffangregelungen gegeben: Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes, und § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes. ({11}) Bis zum Ende des letzten Jahres war es dem Bundesministerium für Gesundheit nicht gelungen, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Spitzenverbände der Krankenkassen zu einer gemeinsamen Position zu bewegen. Dann gab es Ende Januar dieses Jahres aber einen Konsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder, dass bei der Vergütung für das Jahr 1999, für das sich die Lage ja besonders dramatisch darstellt, der vorgegebene Mindestpunktwert nicht unterschritten werden darf. Dabei muss natürlich auch die Frage geklärt werden, wer Aufwendungen in welchem Umfang zu tragen hat. Ich denke, dass damit ein Prozess eingeleitet wurde, der zu einer zwar nicht hochwertigen, aber doch halbwegs akzeptablen Lösung geführt hat. Im Übrigen ist die Analyse der gesamten Situation außerordentlich schwierig, weil wir ein geschlossenes Datenbild vonseiten der Kassenärztlichen Vereinigungen einfach nicht bekommen; es liegt nicht vor. Noch in der letzten Sitzung vor der Osterpause - Herr Kollege Lohmann, auch Sie haben das kritisiert - standen uns lediglich Daten vom ersten, allenfalls vom zweiten Quartal 1999 zur Verfügung. ({12}) - Sie sagen „Trauerspiel“. Sie haben das ebenso kritisiert wie wir. Vor diesem Hintergrund, bei völlig unklarer Datenlage und bei Spekulationen darüber, wo die für die Psychotherapeuten gedachten Mittel eigentlich hingeflossen sind, sehr verehrte Damen und Herren von der PDS und von der F.D.P., erscheint das Nachschießen von frischem Geld durch die Politik zu diesem Zeitpunkt nicht als das geeignete Mittel. Jetzt komme ich zu dem, was die F.D.P. will. Die F.D.P. will in erster Linie diejenigen Regelungen verändern, die sie in der alten Koalition beschlossen hat.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, ich muss darauf hinweisen, dass Sie Ihre Redezeit weit überschritten haben. Kommen Sie bitte zum Schluss.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen; aber ich glaube, ich darf das noch.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ja, wenn Ihre Fraktion das gestattet. Nur, das geht dann zulasten der zweiten Rednerin; aber das ist Sache Ihrer Fraktion.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen. Ich beeile mich. ({0}) - Ja, die kommt gleich noch. Frau Schaich-Walch hat sicherlich noch viel Gutes zu ergänzen. Die F.D.P. will in ihrem Antrag die Punktwertdifferenz für 1999 so erhöhen, dass die Psychotherapeuten eine „angemessene Vergütung“ erhalten. Das hört sich gut an und suggeriert den Psychotherapeuten schnelle Hilfe. Es bedeutet aber auch, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen aus ihren Verpflichtungen entlassen werden; für die Mehrkosten sollen allein die Krankenkassen aufkommen. Das heißt auf gut Deutsch: Die bestehenden Probleme sollen einseitig zulasten der GKV gelöst werden. Im Übrigen: Was heißt „angemessene Vergütung“? ({1}) Mit welchen Arztgruppen, mit welchem Bezugsjahr usw. wollen Sie Vergleiche anstellen? Für das Jahr 2000 schlagen Sie eine Einzelleistungsvergütung vor. Das bedeutet, dass psychotherapeutische Leistungen faktisch außerhalb des ärztlichen Gesamtbudgets bezahlt werden. Das können wir natürlich nicht mittragen, weil wir den Rahmen für die Beitragssatzstabilität gesetzt haben. Wie ist Ihr Plan zur Gegenfinanzierung? Die von Ihnen vorgeschlagene Zuzahlung - dazu habe ich schon etwas gesagt - ist für uns völlig inakzeptabel; wir haben sie damals abgelehnt und das tun wir auch heute. Sie wird auch von den Verbänden, zum Beispiel vom BVVP, ganz kritisch gesehen. Ihr anderer Vorschlag zur Gegenfinanzierung besteht darin, dass Sie die Mittel, die wir für die Verbraucherberatung eingesetzt haben, streichen wollen. Sie können von uns nicht erwarten, dass wir ein Gesetz, das wir gerade auf den Weg gebracht haben, schon wieder zurücknehmen, indem wir ein wichtiges Element streichen. Natürlich sehen auch wir die schwierige Situation. Wir fordern die KVen und die Krankenkassen noch einmal auf, ihren Verpflichtungen auf den genannten Grundlagen nachzukommen. Wir fordern vor allem eine ordentliche Datenbasis. Erst wenn das erreicht ist, können wir auf seriöses Material zurückgreifen und überlegen, ob eine Novellierung an bestimmten Stellen infrage kommt. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht nun der Kollege Aribert Wolf.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir über den Gesetzentwurf der F.D.P. debattieren, dann geht das nicht, ohne dass wir ein Stückchen zurückschauen auf die Entwicklung der Psychotherapie und der dafür vorgesehenen Finanzgrundlagen. Frau Kühn-Mengel, Sie haben das im Ton sehr nett gesagt, aber in der Sache wollen wir diesen Geschichtsklitterungen schon ein bisschen entgegentreten. Wenn der Gesetzgeber, wie beim Psychotherapeutengesetz, Neuland betritt und nicht über gesicherte Erfahrungen verfügt, kann auch einmal etwas schief gehen; das räumen wir durchaus ein. Aber ein klug beratener und einsichtiger Gesetzgeber baut für eine solche Situation vor und hält sich gleich im Gesetz ein Hintertürchen offen nach dem Motto: Versuch - Irrtum Korrekturmöglichkeit. Und genau das hat die damals unionsgeführte Bundesregierung, hat der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer klugerweise im Psychotherapeutengesetz vorgesehen. Aber ich muss Ihnen beweisen - und ich kann Ihnen das auch beweisen -, dass die rot-grüne Bundesregierung diese Klugheit in ihrer Gesundheitspolitik leider nicht an den Tag gelegt hat. Frau Fischer, leider ist Ihr Budgetierungswahn eine der Hauptursachen dafür, dass wir in Deutschland auch im Bereich der Psychotherapie derart massive Probleme haben. ({0}) Aber nicht nur in der Psychotherapie, auch in anderen medizinischen Versorgungsbereichen in unserem Land haben wir immer stärker eine heimliche Mehrklassenmedizin zu verzeichnen. ({1}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben zwar die von uns aus Gründen der Kostenbegrenzung angehobenen Zuzahlungen im Bereich der Arzneimittel offiziell minimal abgesenkt, aber in der bundesdeutschen Wirklichkeit werden heute Patienten dank Ihrer Budgetierungspolitik viel massiver zur Kasse gebeten, als das mit unseren sozial abgefederten und über Härtefallregelungen gemilderten Zuzahlungsregelungen der Fall war. ({2}) All das läuft heute in der bundesdeutschen Wirklichkeit wesentlich härter, brutaler, aber heimlich unter dem Ladentisch. Das sind keine erfundenen Geschichten, Frau Fischer. Ich habe es in der eigenen Familie vor kurzem erfahren. Meine Frau war vor einigen Tagen bei einem Gynäkologen. Die erste und routinierte Forderung der Sprechstundenhilfe war: 50 Mark bar auf den Tisch, sonst gibt es keine Vorsorgeuntersuchung! ({3}) Nach eineinhalb Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik ist das die traurige Wirklichkeit in Deutschland. Da können Sie schreien, so viel Sie wollen, Sie haben für die Menschen etwas Schlechtes auf den Weg gebracht. ({4}) Deswegen, Frau Fischer, sollten Sie sich weniger Gedanken darüber machen, wie Sie Bundesbürgern mehr Geld aus der Tasche ziehen können, indem Sie Zins- und Aktieneinkünfte auch noch sozialversicherungspflichtig machen wollen. Stattdessen sollten Sie lieber darüber nachdenken, wie Sie den bundesdeutschen Normalverbraucher vor diesem heimlichen Abkassieren und vor dieser heimlichen Mehrklassenmedizin endlich wirksam schützen. Das wäre eine lohnende Aufgabe, mit der Sie sich als Gesundheitsministerin wirklich profilieren könnten. Aber bleiben wir bei der Psychotherapie. Meine Damen und Herren, wir kennen ja im Medizinbetrieb vielfach das Gejammer der Akteure, die Vergütung sei zu gering. Ich bin bestimmt der Letzte, der sagt, dass das, was an Wehklagen bei uns in der Politik abgeladen wird, immer stimmt. Da ist natürlich oft ein Stückchen überzeichnende reine Interessenvertretung dabei. Aber wenn wir uns die Situation der Psychotherapeuten im Jahre 1999 ansehen, dann müssen wir feststellen, dass sie in mindestens der Hälfte der Bundesländer in der Tat völlig unerträglich war. Das belegen Gerichtsurteile, Schiedssprüche, Aussagen der Krankenkassen und folgende Fakten, die ich Ihnen kurz nennen darf. Ich habe die Zahlen vom dritten Quartal. Es reicht nämlich völlig aus, wenn man einmal bei einer Krankenkasse anruft und sich Übersichten geben lässt. Das Gesundheitsministerium wäre auch ein Stückchen weiter, wenn es dies tun würde. Ich weiß nicht, warum ich die Zahlen bekomme, Sie im Ministerium aber nicht. Das Bundessozialgericht peilt einen Vergütungspunktwert von 10 Pfennig an. Nach den mir vorliegenden Übersichten schwanken die Auszahlungspunktwerte zwischen 2 Pfennig in Berlin, 3,1 Pfennig in Sachsen, 3,9 Pfennig in Mecklenburg-Vorpommern, 6,1 Pfennig in Süd-Württemberg, 6,5 Pfennig im Saarland und 7 Pfennig in Westfalen-Lippe, Bayern, Hamburg und Nordrhein. Das ist wirklich beschämend. Hinzu kommt, dass viele Psychotherapeuten zeitlich genau festgelegte Leistungen erbringen und diese vorher auch noch von den Krankenkassen genehmigen lassen müssen. Für die üblichen Mengenausweitungen im Medizinbetrieb steht die Psychotherapie also nur ganz begrenzt zur Verfügung. ({5}) Deswegen sind die Klagen der Psychotherapeuten über eine katastrophale Einkommenssituation, die es ihnen vielfach noch nicht einmal ermöglicht, die Praxiskosten zu decken, richtig. Ich will mich jetzt überhaupt nicht über die Gründe auslassen, die dazu geführt haben, dass dieser dramatische Punktwerteverfall eingetreten ist. ({6}) Schuldzuweisungen helfen weder den Patienten noch den Psychotherapeuten. Nur so viel: Keiner, auch Sie nicht, ({7}) wusste zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes, ob das Geld, das für die Integration der Psychotherapie in die gesetzliche Krankenversicherung und in das System der Kassenärztlichen Vereinigungen vorgesehen war, ausreichen würde. ({8}) Deswegen bestand Konsens in der Ärzteschaft, unter den Psychotherapeuten und den Krankenkassen, dass man sich darum bemühen wollte, ein ausreichendes Finanzvolumen zu berechnen. Von allen wurden ihre Zahlen an Horst Seehofer gemeldet. Anhand dieser wurde dann das Volumen berechnet. Und diese Zahlen wurden für die Ausgestaltung des Psychotherapeutengesetzes übernommen. Heute sind wir alle, Sie und auch wir, ein Stückchen schlauer, denn wir alle wissen, dass diese Berechnungen von der Wirklichkeit überholt wurden: So wurden wesentlich mehr Psychotherapeuten zugelassen, als man damals gedacht hat, ({9}) und die von den Kassen gemeldeten Zahlen zur Kostenerstattung im Bereich der Psychotherapie waren offensichtlich viel zu niedrig angesetzt. Es ist normal - das weiß jeder, meine Damen und Herren -, dass dann, wenn ein Honorarkuchen aufgrund zu geringer Zutaten schon von Haus aus zu klein gebacken wird, sich aber trotzdem auch noch wesentlich mehr Personen von diesem Kuchen ein Stückchen abschneiden wollen, beileibe keine Freude aufkommen kann. Das leuchtet, wie ich glaube, auch denen von uns ein, die nicht tagtäglich in der Küche stehen und Kuchen backen. Aber ein Mann wie Horst Seehofer hatte vorgebaut. Weil er von diesen Unsicherheiten wusste, hat er in Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes eine Auffangregelung verankert. Darin ist ein klarer Verhandlungsauftrag an die Kassen und die Ärzteschaft enthalten, dass dann, wenn der Punktwert der Psychotherapeuten den der ärztlichen Betreuung um 10 Prozent unterschreitet, nachverhandelt werden muss. ({10}) Versuch - Irrtum - Korrekturmöglichkeit. ({11}) - Ich würde da nicht so laut schreien, Herr Schmidbauer. Jetzt, meine Damen und Herren, kommt das, was RotGrün in eigener Machtvollkommenheit an Gesetzgebungspolitik auf den Weg gebracht hat: ein Budgetierungswahn ohnegleichen. ({12}) Sie haben uns ja nicht erst letztes Jahr mit dem GKVGesundheitsreformgesetz, ({13}) sondern bereits 1998 massiv Probleme beschert. Mit dem so genannten GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz haben Sie eine Budgetierung eingeläutet, die die Ausgaben der Kassen bereits für 1999 streng begrenzt hat. ({14}) Damit durfte keine Krankenkasse in Deutschland, auch wenn sie noch so sehr überzeugt war - das haben ja viele Kassen gesagt -, dass das Finanzierungsvolumen für die Psychotherapeuten zu knapp bemessen ist, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Das war aufgrund Ihrer Gesetze ausgeschlossen. ({15}) Es kommt ja noch toller, meine Damen und Herren: In Art. 14 des ersten rot-grünen Budgetierungsgesetzes, des so genannten Solidaritätsstärkungsgesetzes, ist geregelt, dass die Auffangklausel des Psychotherapeutengesetzes ausgehebelt wird.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidbauer?

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte erst den Gedanken zu Ende führen. Vielleicht kann er sich hinterher noch einmal melden. Während des Gesetzgebungsverfahrens zum GKVSolidaritätsstärkungsgesetz wurde 1998 zunächst ein Änderungsantrag von Rot-Grün eingebracht, der eine Öffnung der Budgetierung gemäß Art. 11, also genau der Auffangregelung von Horst Seehofer, vorsah. Aber da es bei Ihnen wie üblich chaotisch zugegangen ist, ({0}) haben Sie diesen Antrag im Rahmen des allgemeinen Gewurstels wieder zurückgezogen und gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. beschlossen, dass es bei der strengen Budgetierung bleibt. Und jetzt kommen in den Bundesländern die Probleme hoch. ({1}) Die Frau Fischer lässt dann vom Bundesgesundheitsministerium erst einmal ganz forsch an alle Beteiligten Briefe schicken mit dem Inhalt, dass Rot-Grün im Bundestag eine klare gesetzliche Ausgabenbegrenzung für die Krankenkassen vorgenommen hat und es keine Ausnahmen von der Budgetierung, auch nicht für die Psychotherapie, gibt. So lautete der Inhalt der Briefe. Dann kamen wutentbrannte Reaktionen aus den Ländern. Alle Beteiligten schimpften über die Gesetze und diesen Blödsinn von Rot-Grün: Bundesländer, die von der SPD regiert werden, unionsgeführte Bundesländer, Kassenärztliche Vereinigungen, Kassen, Psychotherapeuten und am Ende auch die Schiedsämter. Und langsam dämmert es der Spitze des Gesundheitsministeriums, dass Rot-Grün hier Murks beschlossen hat. ({2}) Aber die politische Spitze hat nicht den Mut, Gesetze zu ändern, Frau Fischer, denn dann würden die Dinge ja öffentlich bekannt werden. Nein, ein findiger Beamter kommt auf die Idee und sagt: Wir vollziehen einfach den Murks nicht, den wir mit der Verabschiedung von Art. 14 GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz beschlossen haben. Gesagt, getan. Dann hört man aus dem Gesundheitsministerium ganz kleinlaut: Beanstanden wir halt die Gesetzesverstöße der Kassen nicht. Sie dürfen ruhig mehr zahlen, als im Solidaritätsstärkungsgesetz festgelegt ist. Was wäre denn los - so wörtlich -, wenn das Bundesgesundheitsministerium einen harten Standpunkt bezieht? Was würde dann passieren? Man muss sich dies auf der Zunge zergehen lassen: Der Deutsche Bundestag beschließt auf Grundlage eines Vorschlages von Frau Fischer ein Gesetz. Dann aber entscheidet die Ministerin in eigener Selbstherrlichkeit: Aus politischen Gründen vollziehe ich dieses Gesetz nicht. Das ist die traurige Wirklichkeit bei den Psychotherapeuten. ({3}) Frau Fischer, damit wir uns nicht falsch verstehen: Wir wollen nicht, dass Sie dieses Murksgesetz vollziehen. Wir leben aber doch nicht in einer Bananenrepublik. Wenn Sie Gott sei Dank - endlich einsehen, dass Rot-Grün mit dieser totalen Budgetierung gesetzgeberischen Mist gebaut hat, dann haben Sie wenigstens den verfassungspolitisch geforderten Mut, Ihre Murksgesetze zu ändern, statt nur deren Vollzug auszusetzen. Daher werden wir das Gesetzesvorhaben der F.D.P. unterstützen, soweit es die Vergütungssituation für 1999 betrifft. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich kann Sie nur auffordern, hier ebenfalls mitzuziehen. Denn das Parlament muss entscheiden, was in Deutschland rechtlich gilt, und nicht eine Ministerin, die willkürlich festlegt, ob sie ein vom Deutschen Bundestag beschlossenes Gesetz vollzieht oder nicht. Aus dieser Patsche sollten Sie Ihrer Ministerin - wenigstens mit Verspätung - heraushelfen. Problematischer ist im F.D.P.-Vorschlag allerdings auch diesen Punkt will ich ansprechen -, was dort an Regelungen für das Jahr 2000 vorgesehen ist. Zunächst einmal will ich die Punkte nennen, in denen wir mit der F.D.P. übereinstimmen. Die verkorkste Situation von 1999 in Kombination mit der rot-grünen Budgetierung für das Jahr 2000 darf nicht dazu führen, dass heuer andere Facharztgruppen massiv geschröpft werden, um für die Psychotherapeuten überhaupt eine angemessene Vergütung sicherzustellen. Genau das droht, wenn wir die rotgrünen Gesetze unverändert lassen. Sie von der F.D.P. haben einen Vorschlag gemacht, der die Budgetierung durchbricht. Aber es ist ja so, dass der Vergütungsanteil der Psychotherapeuten von den Kassen nicht mehr aus einem gesonderten Honorartopf bezahlt wird. Er wird vielmehr in die von den Kassen in einer Summe entrichtete Gesamtvergütung für alle Fachärzte eingerechnet. Rot-Grün hat die Gesamtvergütung für die Fachärzte der Höhe nach streng begrenzt. Das heißt: Alle Verbesserungen in Sachen Honorar für die Psychotherapeuten gehen zu Lasten anderer Fachärzte. Dies ist ein Teufelskreis: Nimm dem einen, gib dem anderen; so geht es der Reihe nach um. Als Kinder haben wir bei uns zu Hause früher „Reise nach Jerusalem“ gespielt. ({4}) Solange die Musik spielt bzw. die Verhandlungen mit den Krankenkassen laufen, dürfen alle um einen aus Stühlen gebildeten Kreis herumlaufen. Wenn die Musik aufhört bzw. die Verhandlungen mit den Krankenkassen zu Ende sind, dann müssen sich alle hinsetzen. Aber leider ist dann ein Stuhl zu wenig da. Das heißt, einer fliegt heraus und ist der Dumme. Da die Stühle bzw. die Finanzmittel insgesamt begrenzt sind, muss am Ende eine Arztgruppe für die Verbesserungen der anderen Gruppe bezahlen. Das ist die rot-grüne Reise nach Jerusalem bzw. die rot-grüne Budgetierung. ({5}) Die F.D.P. sieht dieses Problem; Sie aber wollen es nicht sehen. Ich weiß, dass Sie dem Budgetierungswahn anhängen. Trotzdem halten wir den Lösungsweg der F.D.P. aus folgenden Gründen für unbefriedigend. Liebe Kollegen von der F.D.P., wenn wir die Psychotherapeuten von diesem rot-grünen Irrsinnsspiel befreien und die Leistungen außerhalb des Budgets gesondert vergüten, alle anderen aber in diesem System bleiben sollen, dann sind wir von CDU und CSU der Meinung, dass wir nicht nur eine Arztgruppe bevorzugen und diese vor dem rot-grünen Budgetierungssumpf retten sollten. Es sollte vielmehr gleiches Recht für alle gelten. ({6}) Wir möchten hier im Interesse aller gesetzlich Krankenversicherten in diesem Land ein Ende der falschen rotgrünen Budgetierungspolitik für Psychotherapeuten, für Augenärzte, für Gynäkologen und für alle anderen Fachund Hausärzte. Im Bereich der Psychotherapie ist eines überdeutlich geworden: Die Budgetierung ist kein geeignetes Steuerungsinstrument für eine medizinische Versorgung, die sich an den Bedürfnissen der Patienten orientiert. ({7}) Frau Fischer, wenn Sie Ihr Angebot zu Konsensgesprächen über die Gesundheitspolitik wirklich ernst meinen und diese nicht nur aus wahltaktischen Gründen kurz vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl platzieren, dann verabschieden Sie sich - wie im Bereich der Psychotherapie - auch in anderen Bereichen von dem Budgetierungswahn. Dies sollte nicht nur auf dem Wege geschehen, dass Sie Gesetze nicht vollziehen, sondern Sie sollten wirklich bereit sein, aus den Fehlern der letzten Jahre zu lernen und etwas anderes auf die Füße zu stellen. Sie wissen selber: Unsere Vorstellungen liegen auf dem Tisch. ({8}) - Natürlich liegen sie auf dem Tisch. Ich kann sie Ihnen zuschicken, wenn Sie sie nicht haben. Ich bin sogar von Herrn Schulte-Sasse aus Ihrem Ministerium angerufen und gefragt worden, ob er diese Vorstellungen nicht mal haben könne. Nur mit einem klaren Bekenntnis zu mehr Eigenverantwortung, zu mehr Transparenz für die Patienten, zu mehr Wettbewerb und Gestaltungsspielräumen für die Selbstverwaltung und zu mehr differenzierten Wahlmöglichkeiten für die Versicherten können wir die Probleme in unserem Gesundheitswesen zukunftsgerichtet angehen, im Bereich der Psychotherapie genauso wie in allen anderen Versorgungsbereichen. Also laden Sie uns nicht nur zu Konsensgesprächen ein, Frau Fischer, sondern legen Sie endlich ein Konzept vor! Bewegen Sie sich in Sachen Gesundheitspolitik ein Stückchen in eine vernünftige Richtung! Dann können wir für die Menschen in Deutschland etwas erreichen. Wir als CDU/CSU sind bereit, sachgerecht zu diskutieren. Aber zuerst müssen Sie dazu ein Konzept auf den Tisch legen. Sie können nicht nur aus wahltaktischen Spielchen heraus einfach etwas in den Raum stellen, was mit null Substanz unterlegt ist. Ich bedanke mich, meine Damen und Herren. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Kollegen Horst Schmidbauer.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Wolf, Sie haben den genialen Vorschlag, den Herr Seehofer in Art. 11 Abs. 2 des Psychotherapeutengesetzes formuliert hat, angesprochen. Wir finden den Vorschlag auch gut. Wir konnten ihm deswegen seinerzeit gut zustimmen, weil das Einfügen eines völlig neuen Versorgungsbereichs in der Dimension Psychotherapie in das Gesundheitswesen natürlich ein schwieriges Unterfangen ist. Ich bin Ihrer Rede deshalb interessiert gefolgt, weil ich denke, dass Sie daraus nicht die Schlussfolgerungen abgeleitet haben, die Herr Seehofer damit verbunden hat. In Art. 11 Abs. 2 heißt es ja: Wenn der für die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen geltende Punktwert den für allgemeine Beratungstätigkeiten geltendenden durchschnittlichen Punktwert der beteiligten Krankenkassen um mehr als 10 Prozent unterschreitet, sind die entsprechenden Stützungsmaßnahmen vorzunehmen. ({0}) Jetzt hat diese Regierung nichts anderes gemacht, als in dieser Situation darauf hinzuwirken, was logisch ist, dass diejenigen, die die Aufsicht haben - das sind die Länder, wenn nicht andere Beteiligte da sind -, letztendlich im Schiedsverfahren vor dem Schiedsgericht klären lassen, ({1}) was 90 Prozent sind. In den Ländern, in denen das geschehen ist, sind in der Zwischenzeit einigermaßen vertretbare Vergütungsstrukturen für die Psychotherapie entstanden. Ich weiß also nicht, wo Ihr Problem ist. ({2}) Die Situation der Psychotherapeuten im Jahr 1999 war doch nicht in dem Gesetz begründet. Ich kann daher nicht nachvollziehen, wenn Sie ableiten, dass letztendlich die Psychotherapie in 1999 schlecht gestellt war. Und für 2000 können wir das schon überhaupt nicht nachvollziehen. Sie haben sehr eingehend dargelegt, dass wir bei der Psychotherapie eine zeitabhängige Tätigkeit haben. Was Herr Seehofer bei dem Gesetz nicht vorausgesehen hat, haben wir korrigiert, indem wir gesagt haben: Es ist völlig klar, die Grenzen dürfen bei der Psychotherapie nicht überzogen werden. Wir müssen eine zeitabhängige Größenordnung für die Vergütung einführen. - Wir erleben auch, dass diese zeitabhängige Vergütung zurzeit in der Selbstverwaltung ausgehandelt wird. Jetzt kommt es sehr darauf an zu prüfen, ob die Rechnung, die die Selbstverwaltung zugrunde gelegt hat, greift. Wenn sie richtig angewendet wird - das ist unsere Auffassung -, werden wir dazu kommen, dass in der Psychotherapie eine ordnungsgemäße Vergütung auch für das Jahr 2000 und die folgenden Jahre eingeführt wird. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wo Ihre Probleme liegen. Dass die Vergütung der Psychotherapeuten im Rahmen der Gesamtvergütung zu verteilen ist, haben Sie gewollt. Sie haben doch ausdrücklich ein Integrationsmodell gefordert. Danach findet Psychotherapie in der Gemeinschaft mit ärztlichen Psychotherapeuten und anderen Ärzten statt und deswegen ist die Vergütung natürlich auch im Gesamtrahmen des ärztlichen Budgets zu regeln. Das ist ein ganz normaler Vorgang, das haben Sie politisch selbst gewollt. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich bedanke mich, dass Sie sich auf die Sekunde an die Zeit für die Kurzintervention gehalten haben. ({0}) Aber daran sieht man mal wieder, wie lang eine Kurzintervention sein kann. ({1}) Zur Erwiderung hat der Kollege Aribert Wolf das Wort.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidbauer, zunächst einmal: Nicht ich habe ein Problem, sondern die Psychotherapeuten und ihre Patienten haben ein Problem. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({0}) Es ist in unserem Gesundheitswesen so, dass dort, wo Vergütungsprobleme auftauchen, in der Regel der Patient der Leidtragende ist, weil er dann nämlich in die eigene Tasche greifen muss oder weil er Versorgung vorenthalten bekommt. Das ist etwas, was Sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen wollen und womit wir in unseren Wahlkreisen immer wieder konfrontiert werden, wenn die Menschen zu uns kommen und fragen: Ist das tatsächlich bundesdeutsche Wirklichkeit, was ich gerade wieder beim Arzt erlebt habe? Zur Ihren Argumenten. Natürlich gibt es Schiedsverfahren, aber genau da beginnt das Problem, Herr Schmidbauer. Wenn Sie sich damit einmal intensiver befassen, sehen Sie, dass bei den Schiedsverfahren die Regel ist, dass die Stützungsmaßnahmen zu einem erhebliAribert Wolf chen Teil, mindestens hälftig, von den Kassen finanziert werden. Nun haben Sie Ihre tollen Budgetierungsgesetze gemacht. Und in Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes wurde festgelegt, dass die Auffangregelung faktisch aufgehoben wird. Jetzt gibt es aber mutige Länder - rot regierte wie unionsregierte, das will ich gar nicht leugnen -, die sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass wir aufgrund eines völlig verkorksten Gesetzes, das von RotGrün auf Berliner Ebene beschlossen wurde, den Psychotherapeuten nicht helfen können, dass wir sie im Regen stehen lassen müssen. - Ich habe Ihnen die Zahlen genannt; der Auszahlungspunktwert liegt in Berlin bei 2 statt bei 10 Pfennig. - Jetzt kommen die Länder und sagen: Liebes Bundesgesundheitsministerium, wir beanstanden nicht und wehe, ihr beanstandet, dann haben wir ein großes Remmidemmi draußen. Genau das ist der Punkt. Das alles hat auch Herr Schulte-Sasse ausgeführt. Wenn Sie jetzt diese Schiedsverfahren nicht beanstanden und die Verstöße gegen Art. 14 des Solidaritätsstärkungsgesetzes nicht geltend machen, obwohl Sie früher einmal einen entsprechenden Änderungsantrag vorgesehen haben, haben wir genau den Fall eines Versäumnisses des Gesetzgebers. Die Budgetierung zeigt, wie fatal diese Regelungen sind. Im Hinblick auf das Jahr 2000 machen Sie es sich auch sehr leicht. Sie hätten zuhören sollen, Herr Schmidbauer, als ich mit Blick auf die Verteilungskämpfe von der Reise nach Jerusalem gesprochen habe. Es ist eben immer eine Arztgruppe betroffen. Wenn ich alles aus einem Topf nehme und die Psychotherapeuten unterstützen will, dann nehme ich das Geld den Gynäkologen, den Fachinternisten oder den Rheumaspezialisten weg, die es aber genauso nötig brauchen. Hier geben Sie nur den schwarzen Peter weiter. Damit helfen Sie zwar den Psychotherapeuten, schaden aber den anderen. Das wollen wir nicht tun. Deswegen sagen wir: Budgetierung ist der falsche Weg. Das sollten Sie endlich zur Kenntnis nehmen, statt sich an einem Wahn festzubeißen, in den Sie sich einmal hineingesteigert haben. Ich bitte darum, dass Sie hier ein bisschen die Lebenswirklichkeit in Deutschland berücksichtigen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katrin Dagmar Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Wolf, Sie haben Recht, die Psychotherapeutinnen und die Psychotherapeuten haben ein Problem. Aber das, was Sie hier abgeliefert haben, ist weder sachgerecht, ({0}) noch kann man davon reden, dass das nicht wahltaktisch sei. Was Sie hier abliefern, hat mit der wirklich schwierigen Situation nichts zu tun, sondern es hat damit zu tun, dass Sie versuchen wollen, diese Debatte für Ihren Wahlkampf in NRW zu nutzen. ({1}) - Ich glaube nicht, dass in Nordrhein-Westfalen nur die Nordrhein-Westfalen Wahlkampf machen. Bei uns ist das jedenfalls anders; da machen alle mit. ({2}) Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen nicht viel anders ist. Wenn Sie hier von einem Ende der Budgetierung für alle reden, dann haben Sie die andere Seite vergessen, Herr Wolf. Sie haben nämlich nicht gesagt, dass das auf der anderen Seite heißt: mehr Beiträge für alle Versicherten. Damit schieben Sie den schwarzen Peter, von dem auch Sie hier gesprochen haben, nämlich nicht innerhalb der Ärzteschaft hin und her, sondern Sie schieben ihn ganz klar in Richtung der Versicherten und Patienten. Ich kann Ihnen für diese Regierung ganz deutlich sagen: Das werden wir nicht mitmachen. Das sage ich übrigens auch in Richtung F.D.P. ({3}) Was Sie als F.D.P. hier abgeliefert haben, ist, ebenso wie das, was uns von der PDS als Antrag vorgelegt worden ist, aus zwei Gründen schlichtweg ungeeignet, ({4}) die Situation der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten tatsächlich zu verbessern. Erstens. Dadurch werden die Unsicherheiten und Unklarheiten für die psychotherapeutische Vergütung, die sich aus den Übergangsregelungen für 1999 ergeben haben, nicht beseitigt, sondern vergrößert. Zweitens. Für die Zukunft wird wieder eine Sonderregelung für Psychotherapeuten geschaffen und damit die Steuerungskompetenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen geschwächt. Ich glaube, das können wir alle nicht wollen. Noch ungeeigneter finde ich allerdings das, was die PDS vorgeschlagen hat. Denn es heißt in ihrem Antrag nur, man habe ein Problem und die Regierung möge sich einmal darüber Gedanken machen. So einfach können wir es uns im Parlament nicht machen. Doch zunächst noch einmal zur Vergangenheit: Was genau sind denn die Ursachen für die Probleme bei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen, die aus dem Jahre 1999 resultieren? ({5}) Auch die anerkannten nicht ärztlichen Psychotherapeuten sind mit der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes Teil des vertragsärztlichen Versorgungssystems geworden - mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Das war so gewollt. Denn in der modernen Medizin ist die Behandlung psychischer Probleme gleichberechtigter Teil der Versorgung. Deshalb war eine Integration in die Selbstverwaltung geboten. Die im Psychotherapeutengesetz von CDU/CSU und F.D.P. eingeführte Übergangsregelung für die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Jahre 1999 war jedoch offenbar problematisch, obwohl wir - darüber haben Sie heute leider nicht gesprochen - mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz eine deutliche Nachbesserung in Höhe von 140 Millionen DM ermöglicht haben - so viel übrigens zum Thema Budgetierungswahn. In diesem Gesetz ist eine so genannte Auffangregelung für den Fall vorgesehen, dass der aus dem vorgegebenen Budget errechnete Punktwert für eine angemessene Vergütung nicht ausreicht. Im zweiten Halbjahr 1999 kam es dann dennoch zu einem drastischen Absinken des Vergütungspunktwertes, weil das von den Kassenärztlichen Vereinigungen bereitgestellte Honorarvolumen im Vergleich zu 1998 zum Teil abgesenkt wurde. Die Datenlage ist zwar nach wie vor unvollständig; das können Sie nicht leugnen, wenn Sie die reale Situation berücksichtigen. Aber man muss davon ausgehen - da kann ich Frau Kühn-Mengel nur zustimmen -, dass Mittel, die eigentlich für die Psychotherapie hätten verwendet werden sollen, in die Vergütung anderer Arztgruppen geflossen sind. Das werden auch Sie nicht leugnen können. Wenn man sich die Zahlen genau anschaut, dürfte das ziemlich klar sein. Gegen Ende letzten Jahres hat die Bundesregierung mit allen Beteiligten - auch darauf ist schon hingewiesen worden - wegen dieser Probleme intensive Gespräche geführt. Dabei gab es Ende Januar dieses Jahres einen Konsens mit den Aufsichtsbehörden der Länder. Ich finde es richtig, dass die Aufsichtsbehörden dort, wo es weiterhin Probleme gibt, ihre aufsichtsrechtlichen Möglichkeiten nutzen und davon Gebrauch machen. Herr Schmidbauer hat gerade darauf hingewiesen. Nun zum zweiten Teil des Vorschlages der F.D.P., der sich mit der Zukunft beschäftigt. Mit Beginn dieses Jahres haben wir, wie schon erwähnt, eine neue Situation. Die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist integraler Bestandteil der Gesamtvergütung für die vertragsärztliche Versorgung. Die Psychotherapeuten werden damit wie eine Arztgruppe in die Institutionen der ärztlichen Selbstverwaltung und deren Steuerungsverantwortung eingebunden. Zu diesem Integrationsmodell gehört auch die Honorierung psychotherapeutischer Leistungen aus der von den Krankenkassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen für die gesamte vertragsärztliche Versorgung gezahlten Gesamtvergütung. Das hat übrigens damals auch die F.D.P. so gewollt. Mit der Gesundheitsreform 2000 hat Rot-Grün außerdem bereits gesetzlich festgeschrieben, dass aufgrund der besonderen Tätigkeit in der Psychotherapie eine angemessene Vergütung pro Zeiteinheit zu gewähren ist. Was die F.D.P. nun will, ist, dass psychotherapeutische Leistungen in Zukunft faktisch außerhalb der ärztlichen Gesamtvergütung honoriert werden sollen. Dazu kann ich nur sagen: Das halte ich nicht für den richtigen Weg. Klar ist, dass dann die Kassenärztlichen Vereinigungen an einer Mitwirkung an den ausgabenrelevanten Steuerungsaufgaben und an einer wirksamen Bedarfsplanung kein Interesse mehr haben werden und die Lasten allein bei den Kassen liegen. Gerade das wollen wir nicht - weder in diesem noch in irgendeinem anderen Fall. Dies hat übrigens nichts damit zu tun, dass man sofort handeln könnte. Frau Kühn-Mengel hat, so glaube ich, hier detailliert aufgeführt, welche Maßnahmen geeignet sind, welche wir bereits ergriffen haben und wie wir - so hoffen wir jedenfalls - gemeinsam zu einer Lösung kommen. Deshalb zum Schluss nur noch eines: Es mag Sie, liebe Kollegen von der F.D.P., kolossal ärgern, dass wir mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz die Zuzahlungen für Psychotherapien wieder abgeschafft haben. Ich nehme an, dass Sie deshalb die Idee einer Gegenfinanzierung wieder aufwerfen. Ob die dadurch zur Verfügung stehenden Mittel zur Gegenfinanzierung reichen würden, will ich hier nicht bewerten. Eines ist jedoch klar: Ihr Vorschlag würde die Versicherten, die psychisch krank sind, im Vergleich zu denen, die somatisch bedingte Erkrankungen haben, wieder benachteiligen. Ich dachte, dass wir uns von diesem Denken bereits verabschiedet hätten. Wir jedenfalls wollen nicht wieder dorthin zurück. Wir wollen keine neue Zuzahlungsepoche einläuten, sondern wir wollen eine vernünftige und sachgerechte Lösung finden. Dies gilt auch für die Zeit nach den Wahlkämpfen. ({6}) Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es stimmt: 1999 waren wir uns einig, dass das Psychotherapeutengesetz die Voraussetzungen für die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung deutlich verbessern sollte. Wichtige Schritte dabei waren die staatliche Anerkennung zweier neuer akademischer Heilberufe, ihre Approbation sowie der Schutz der Berufsbezeichnung. Dabei ging es nicht allein um ein neu zu schaffendes Berufs- und Sozialrecht. Es ging immer auch um die Stärkung sprechender und zuwendungsorientierter Behandlungsverfahren im Rahmen der gesamten gesundheitlichen Versorgung. Das kennzeichnet den Stellenwert der heutigen Debatte um eine existenzsichernde Finanzierung psychotherapeutischer Leistungen. Wer auf diesem Gebiet eine bedarfsgerechte und qualitativ gesicherte Versorgung haben will, muss die Psychotherapeuten auch angemessen vergüten. Das ist aber nicht der Fall. ({0}) Bereits im dritten Quartal 1999 wurde deutlich, dass die gesetzlichen Regelungen für das entsprechende Honorarvolumen nicht ausreichten. Die Aufstockung durch das GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz änderte daran nichts. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste vom BMG ein klares Signal an die Vertragsparteien der Selbstverwaltung dahin gehend erwartet werden, dass dieses Problem unter finanzieller Beteiligung beider Seiten gelöst werden muss, das heißt auch durch Budgeterhöhungen seitens der Kassen. Doch dieses Signal gab es nicht. Stattdessen verstrickte sich das Ministerium in einen lang andauernden Streit mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Kassen, und zwar darüber, wer nun die zusätzlichen Mittel aufzubringen habe. Das geschah vor dem Hintergrund unterschiedlich interpretierbarer gesetzlicher Formulierungen und nicht komplett erfasster Ausgaben im Erstattungsverfahren durch die Kassen. Liebe Kollegin Helga Kühn-Mengel, Sie sagen, unser Antrag greife zu kurz. Ich frage Sie ganz ehrlich: Wer, wenn nicht die Bundesregierung, hat die Pflicht, für Klarheit zu sorgen, wenn ein Gesetz nicht eindeutig formuliert ist oder nicht sachgerecht umgesetzt wird? ({1}) Liebe Kollegin Göring-Eckardt, ich finde Ihre Polemik gegen die PDS langsam primitiv. Wo, wenn nicht in diesem Haus, muss ein Gesetz korrigiert werden? ({2}) In diesem Fall hätten Sie wohl nur eingestehen müssen, dass die Budgetierungspolitik, wie es zu diesem Zeitpunkt auch schon für das Gesundheitsstrukturreformgesetz 2000 vorgesehen war, nicht funktionieren kann. Während die Zeit verstrich, ging es für viele Psychotherapeuten längst um Sein oder Nichtsein. Auch bei hohem persönlichen Einsatz - vielleicht sollte ich besser sagen: trotz persönlichem hohem Einsatz - geriet eine zunehmende Zahl von Psychotherapeuten in eine Situation, in der es nicht mehr möglich war, kostendeckend zu arbeiten, geschweige denn, sich überhaupt ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften. In den neuen Bundesländern nahm diese Entwicklung dramatische Formen an. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dort gibt es keinen Bereich, in dem Überversorgung vorhanden wäre. Dort haben wir nach wie vor Unterversorgung und es wird zunehmend mehr Geld notwendig sein, um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen. ({3}) Ich möchte auch daran erinnern, dass allein im Petitionsausschuss über 3 000 Petitionen eingegangen sind. Ich denke, dies zeigt die Not der Psychotherapeuten. Ich bitte, hier zu berücksichtigen, dass es nicht nur um die Not der Psychotherapeuten geht, sondern auch um die Gefährdung der Behandlung der Patienten. ({4}) Erst nach einem Jahr völliger Ungewissheit aufseiten der Leistungserbringer kam es schließlich durch Schiedsamtentscheidungen zu einer vorübergehenden Entspannung. Das BMG hat dafür - nach unserer Meinung zu spät - die Voraussetzung geschaffen, indem es erklärte, dass vertragliche Vereinbarungen oder Schiedsamtsentscheidungen auch dann aufsichtsrechtlich nicht infrage gestellt würden, wenn sie mit der Rechtsauffassung des BMG nicht übereinstimmten. Es ist schon einmal gesagt worden: Hier wird ein eigenes Gesetz nicht dafür in Anspruch genommen, Fehlentwicklungen zu verändern. Ich denke, das ist eine verklausulierte Form der Zustimmung zu der jetzt vorgenommenen Budgetierung. Ich sage Ihnen ganz ehrlich und offen: Es ist das verschämte Eingeständnis einer völlig verfehlten Politik. ({5}) Die Probleme, werden, obwohl Sie sie im Moment überwunden haben, in der Zukunft wieder auf dem Tisch liegen. Denn Sie gehen nach wie vor davon aus, dass die Honorierung nach dem Prinzip der Budgetierung erfolgen muss. Es gibt schon jetzt Widerstände; es gibt schon jetzt Forderungen, dass die Psychotherapeuten außerhalb des Facharztbudgets zu honorieren sind. Ich sage Ihnen: Es bleibt dabei. Es wird Streit geben. Es ist Ungewissheit da. ({6}) Ich denke, die Bundesregierung bleibt aufgefordert, hier eine verlässliche Grundlage für die Finanzierung von psychotherapeutischer Versorgung zu schaffen. Nichts anderes und nichts weniger war der Inhalt unseres Antrages. ({7}) Zu dem Antrag der F.D.P.-Fraktion äußere ich mich dann im Ausschuss, weil Sie unsere Auffassung zum Thema Selbstbeteiligung kennen und weil Sie wissen, dass wir auf keinen Fall dafür sind, dass man Geld, das Patienten und Selbsthilfegruppen durch ein Gesetz bekommen, streicht. ({8}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, wir kommen im Interesse der Patienten und der Psychotherapeuten zu einer gemeinsamen Entscheidung. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Gudrun Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich klar: Wir haben ein Problem. Aber wir werden dieses Problem nicht lösen können, solange wir nicht in der Lage sind, das Geschehen wirklich exakt zu beurteilen. Ansonsten laufen wir letztendlich Gefahr, zu Lösungen zu kommen, die unter Umständen ebenso unzulänglich sind, wie es die damalige Budgetfestsetzung in dem entsprechenden Gesetz, das innerhalb der Regierungszeit der CDU/CSU und der F.D.P verabschiedet worden ist, offensichtlich gewesen ist. Wir haben in diesem Bereich allerdings auch nichts versprochen, was wir letztendlich nicht gehalten haben. Wir haben das Budget für diesen Bereich im Jahre 1998 erhöht. Wir haben in den letzten Jahren in diesem Bereich einen Anstieg zu verzeichnen. Im Gegensatz zu dem, was Herr Wolf hier vorgetragen hat, gibt es in diesem Bundesland keine einzige KV, die einen Punktwert von weniger als 2 Pfennig festgelegt hat. Das ist ganz einfach nicht wahr. Im Osten besteht eine schwierige Situation, in den West-KVen allerdings nicht. Ich gehe auch davon aus, dass der § 11 im Gesetz letztendlich konsequent umgesetzt werden wird. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, muss man, denke ich, sehen, dass wir das Gesetz in diesem Bereich korrigieren werden. Was uns aber letztendlich fehlt, ist die Tatsache, dass in diesem gesamten Bereich keine Bedarfsplanung besteht, dass wir - Ostdeutschland ausgenommen - sehr schwer feststellen können, wo Überversorgung und wo Unterversorgung besteht. Wir müssen uns diese Dinge erst vorstellen können, damit wir dann auch klar sagen, was es bedeutet. ({0}) - „Wie lange soll es denn dauern?“ Sie kannten die Datenlage doch auch nicht. - Nein, eines kann nicht sein, nämlich dass wir, wenn Überversorgung besteht, ({1}) diese Überversorgung finanzieren und nicht abbauen, indem wir die Beiträge der Versicherten erhöhen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Das ist keine Perspektive, mit der wir arbeiten. Wenn die Selbstverwaltung - in diesem Fall die KV - die Umverteilung des ärztlichen Honorars nicht so vornimmt, wie es im Gesetz geschrieben steht, kann ich auch nicht sagen, dass die Reaktion der Politik dann diejenige sein muss, mehr Geld in das System zu investieren. Das kann auch nicht sein. ({0}) Sie sollten hier heute auch eines zur Kenntnis nehmen: Wir hatten noch nie einen so großen Umfang von Ausgaben im Bereich des Gesundheitswesen und eine solch hervorragende Zuwachsrate wie in diesem Jahr. ({1}) Ich möchte von Ihnen wissen, wie Sie letztendlich mehr Geld ausgeben wollen, als Beiträge in diesem System aufgebracht werden. Wenn Sie mir sagen können, wie es gehen soll, die Beiträge stabil zu halten und den Ärztinnen und Ärzten mehr Geld zu geben, muss ich Ihnen allerdings sagen, dass Sie dann eine Bombenlösung haben. Aber wie Ihre Lösung, zu der Sie hier nichts sagen, aussieht, kann ich Ihnen sagen: 10 DM Zuzahlung bei jedem Arztbesuch und neben hohen Versicherungsbeiträgen eine weitere Abschöpfung durch Zuzahlung der Versicherten. Dies kann nicht funktionieren. Wir müssen klar machen, wie die Versorgungssituation aussieht, was und wie viel Geld wir dafür brauchen. Dies werden wir bis zum Herbst geschafft haben. ({2}) Dann wird es auch - wenn es so sein sollte - die notwendigen gesetzlichen Regelungen geben. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Aribert Wolf das Wort.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Schaich-Walch, Sie kennen das Sprichwort: Wer schreit, hat Unrecht. ({0}) - Das freut Sie natürlich nicht. Wenn Sie es immer noch nicht erreicht hat, obwohl es schon vielfach in der Presse veröffentlicht war, bin ich gerne bereit, Ihnen unser Konzept zur Gesundheitspolitik zu schicken, in dem deutlich steht, wie wir uns die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung vorstellen: mehr Eigenverantwortung. ({1}) - Das heißt nicht: mehr Zuzahlung! Sie können das alles in Ruhe nachlesen, was wir machen wollen, damit wir zum einen mehr Geld ins System bringen und zum anderen die Bürger nicht mehr abkassieren. Wir wollen dem Einzelnen eine Wahlmöglichkeit geben, damit er sich sein Versicherungspaket zusammenstellen kann, und trotzdem einen solidarisch finanzierten Kernbereich gewährleisten. Wenn Sie bereit sind, dieses Papier zur Kenntnis zu nehmen, dann werden Sie auch bereit sein, zur Kenntnis zu nehmen: Wenn ich von 2 Pfennig spreche, dann beruht das natürlich nicht auf meinen eigenen Erkenntnissen. Lassen Sie sich von der AOK Berlin oder von den Ersatzkassen in Berlin die Zahlen des dritten Quartals schicken! Ich habe von rechnerischen Punktwerten und von Auszahlungspunktwerten gesprochen. Sie werden feststellen, dass sich für Berlin, bevor das Schiedsamt entschieden hat, für das dritte Quartal ein rechnerischer Punktwert für die Psychotherapeuten von 2 Pfennig im Primärkassenbereich und von 5,3 Pfennig im Ersatzkassenbereich ergab. Anhand dessen können Sie sehen, dass das, was Sie hier im Deutschen Bundestag behauptet haben - es gebe keinen KV-Bereich, in dem 2 Pfennig erreicht wurden -, unwahr ist. Ich hoffe, Sie nehmen das dann auch zurück und akzeptieren, dass diejenigen, die unmittelbar im Gesundheitswesen beteiligt sind, doch wohl eher die richtigen Zahlen haben als wir hier im Parlament. Es schadet nichts, wenn man sich bei den unmittelbaren Fachleuten ein wenig informiert, bevor man solche Behauptungen aufstellt. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung die Kollegin Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Wolf, ich stelle Ihnen die Zahlen, die ich hier vorliegen habe, gerne zur Verfügung. Allerdings ist die Spalte für Berlin noch leer, weil die Zahlen da noch nicht vorgelegen haben. ({0}) Ich kann einmal anfangen: 8 Pfennig pro Punktwert für Hamburg; 7,5 Pfennig für Rhein-Hessen. ({1}) - In Berlin gibt es eine Überversorgung, die grandios ist. Wenn Sie jedem, der in dieses System kommt, ein leistungsgerechtes Gehalt garantieren wollen - was bei keinem anderen Arbeitnehmer in dieser Republik der Fall ist -, dann wünsche ich Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber diesen Weg gehen Sie allein. ({2}) Jetzt etwas zu Ihrem wunderbaren Zukunftsprogramm, Ihrer Intervention für mehr Eigenverantwortung. „Eigenverantwortung“ heißt bei der F.D.P., für deren Antrag Sie anscheinend mit gesprochen haben, eine Selbstbeteiligung von 10 DM. Was in Ihrem Papier „Eigenverantwortung“ heißt, ist nicht beschrieben. Vielmehr sprechen Sie von „Versicherungspaketen“, ohne es bis heute geleistet zu haben - wie Sie das seit Jahren unterlassen haben -, zu konkretisieren, was ein „Versicherungspaket“ denn beinhaltet. Welche Indikationen sollen denn aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen werden? Welche Indikation soll denn derjenige, der seinen Beitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung zahlt, noch in der PKV zusatzversichern? Um diese inhaltliche Ausgestaltung haben Sie sich bis jetzt gedrückt. So lange ist Ihr Paket nichts anderes als eine Mogelpackung. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3086 und 14/2929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Andere Vorschläge liegen nicht vor. Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Küchler, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Klaus Barthel ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Ekin Deligöz, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lebensbegleitendes Lernen für alle - Weiterbildung ausbauen und stärken - Drucksache 14/3127 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch damit ist das Haus einverstanden. Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Ich gebe zunächst für die Fraktion der SPD das Wort dem Kollegen Ernst Küchler.

Ernst Küchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003165, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem Antrag zur Weiterbildungspolitik nimmt die SPD-Bundestagsfraktion ein Thema wieder auf, das bereits in der letzten Legislaturperiode Gegenstand einer von unserer Fraktion initiierten Debatte im Deutschen Bundestag war und das auch in der Koalitionsvereinbarung seinen Niederschlag gefunden hat. Die Weiterbildung, so heißt es dort, soll als vierte Säule des Bildungssystems verankert und ausgebaut werden. ({0}) Die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens mache eine enge Verzahnung zwischen Berufsleben und Weiterbildung erforderlich. Nun ist der Hinweis auf die Notwendigkeit, der Weiterbildung einen deutlich höheren Stellenwert in der Bildungspolitik einzuräumen, nicht besonders originell, verfolgt man die einschlägigen Äußerungen aller politischen Parteien, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Gruppen in den letzten Jahren. Es vergeht kein bildungspolitischer Kongress, kaum eine Debatte über die gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen in unserem Land, ohne dass auf den Bedeutungszuwachs der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens hingewiesen wird. Es macht mitunter skeptisch, wie inflationär dieser Begriff verwandt wird. Allerdings stehen die weiterbildungspolitischen Verlautbarungen und Beschlüsse aller Ebenen - von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden und Bildungspolitikern - in keinem angemessenen Verhältnis zum entsprechenden Engagement der öffentlichen Hand, etwa der Länder und Kommunen. Im Gegenteil, während der Weiterbildungssektor expandiert, stagnieren die öffentlichen Anstrengungen, den Weiterbildungsbereich aufzuwerten und entsprechend auszustatten. ({1}) Während die Nachfrage nach Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ständig steigt - in den letzten 20 Jahren immerhin von 25 Prozent auf über 42 Prozent der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren -, gehen die Ausgaben der öffentlichen Hände für die Weiterbildung zurück. Der Weiterbildungsbereich ist inzwischen - gemessen an der Inanspruchnahme - zum größten Bildungssektor geworden, und zwar auch was das Finanzvolumen angeht. Das Berichtssystem Weiterbildung weist Aufwendungen in einem Volumen von über 80 Milliarden DM für den Weiterbildungsbereich aus. Die in unserem Antrag noch einmal zusammengefassten Defizite im Weiterbildungsbereich, die übrigens bereits im Bericht des Bildungsministeriums unter Bildungsminister Jürgen Möllemann 1989 detailliert aufgelistet wurden, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, wurden bislang in der Bildungspolitik nicht hinreichend berücksichtigt. Einschlägige Programme und Projekte zum Abbau dieser Defizite blieben weitgehend im Versuchsstadium stecken. Bildungspolitiker und Bildungsexperten sind sich überraschend einig, dass der Weiterbildungsmarkt zwar boomt, insbesondere im Bereich der beruflichen Weiterbildung, es jedoch an der für die Nutzer und die Weiterbildungseinrichtungen notwendigen Transparenz mangelt, dass es einer flächendeckenden und qualifizierten Weiterbildungsberatung bedarf, dass ein System der Qualitätssicherung und der Zertifizierung dringend erforderlich ist, dass es an einer auch unter ökonomischen Gesichtspunkten vorgenommenen Optimierung des Einsatzes der Ressourcen mangelt, dass die Professionalisierung des Weiterbildungspersonals und der Weiterbildungseinrichtungen erhebliche Defizite aufweist, dass die Weiterbildungsforschung nicht dem Stand und der Bedeutung des Weiterbildungssektors entspricht und - das ist das Wichtigste - dass die allgemeine Zugänglichkeit nicht gewährleistet und die Chancengleichheit, die wir für das Bildungssystem selbstverständlich reklamieren, im Weiterbildungsbereich nicht gegeben ist. ({2}) Das Berichtssystem Weiterbildung weist aus, dass bezüglich der Weiterbildungsbeteiligung das Gefälle je nach Alter, Berufsstatus, Vorbildung und Geschlecht erheblich ist. Aus sehr verschiedenen Gründen sind nach wie vor große Teile der Bevölkerung von der Weiterbildung faktisch ausgeschlossen. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht nun nicht darum, diesen Bildungsbereich ordnungspolitisch dem klassischen Bildungssystem und den herkömmlichen Strukturen anderer Säulen des Bildungssystems einfach anzupassen. Vielmehr muss aus unserer Sicht auf Bundesebene durch eine intelligente Förderpolitik und eine Harmonisierung der Weiterbildungspolitik von Bund und Ländern eine Weiterbildungsinfrastruktur geschaffen, ausgebaut und gestützt werden, die Nutzer, Einrichtungen und Träger in die Lage versetzt, flächendeckend qualifizierte Angebote und Lernmöglichkeiten zu entwickeln und vorzuhalten, die Chancen zur Teilnahme und die Weiterbildungsmotivation zu verbessern bzw. zu stärken, Weiterbildungsnetzwerke vor allem im regionalen Zusammenhang entstehen zu lassen und somit den Weiterbildungsbereich zu einem leistungs- und anpassungsfähigen Sektor unseres Bildungssystems zu entwickeln. ({3}) Die Bundesregierung hat mit ihrem Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ erste wichtige Akzente gesetzt und Entwicklungsstränge aufgezeigt, die mit weiteren Programmen und Projekten in den kommenden Jahren systematisch weiterzuentwickeln sind. Die Förderung einschlägiger Projekte weist hier den richtigen Weg und zeigt, dass die Bundesregierung die Initiative zur Stärkung des Weiterbildungsbereiches ergriffen hat. Wir sind uns durchaus der Schwierigkeiten bewusst, die sich aus der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie aus der spezifischen Rolle der Tarifparteien in diesem Bereich und der Bundesanstalt für Arbeit ergeben. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Weiterbildung im Bündnis für Arbeit, im Forum Bildung und in der Konzertierten Aktion ein Thema ist, denn dort sind die Verantwortlichen vertreten. Dort werden die Zusammenhänge von schulischer Bildung, beruflicher Ausbildung und Weiterbildung, von allgemeiner und beruflicher Bildung angemessen zu diskutieren sein. ({4}) Unser Antrag zielt nicht auf eine bundeseinheitliche staatliche Reglementierung ab, sondern auf eine Weiterbildungspolitik, die über Anreize und abgestimmte Aktivitäten etwa in Form von Vereinbarungen, Förderprogrammen und Projekten versucht, das System der Weiterbildung und Qualifizierung aufzuwerten und zu optimieren. Auch bei der Novellierung einschlägiger Gesetze - ich nenne hier nur das SGB III, das Meister-BAföG und das Betriebsverfassungsgesetz - wird der Weiterbildung ein angemessener Stellenwert beigemessen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir an dieser Stelle auch einen kritischen Hinweis auf zwei in der Weiterbildungsdiskussion häufig verwandte Begriffe, die Begriffe des „lebenslangen Lernens“ und der „Eigenverantwortung“. Inzwischen gehört es zum Allgemeingut, dass sich Menschen in unserer Informations- und Wissensgesellschaft notwendigerweise ein Leben lang weiterbilden und qualifizieren müssen, wollen sie nicht den Anschluss an die gesellschaftlichen und beruflichen Entwicklungen verlieren. Angesichts der raschen Veränderungen im Beruf, in der Gesellschaft, in der Medienlandschaft sowie in den Lernund Kommunikationsstrukturen müssen wir dem Prinzip des lebenslangen Lernens zwar zum Durchbruch verhelfen, ihm jedoch den mitunter bedrohlichen Charakter nehmen. Es ist nämlich eine Chance und nicht nur eine Pflicht, sich weiterzubilden. ({5}) Wir müssen vielmehr auf Motivation, auf Neugier und auf das Lernen als einen reizvollen und Erfolg versprechenden Prozess setzen. Gerade die neuen Medien, die die Lernprozesse und damit auch die Bildungseinrichtungen grundlegend verändern, eröffnen die Chance für kreatives, schnelles, flexibles und zeitgemäßes Lernen an den unterschiedlichsten Orten zu den unterschiedlichsten Zeiten und mit vielfältigen Methoden: zu Hause, im Betrieb, in Weiterbildungseinrichtungen, individuell und in Lerngruppen. ({6}) Online und offline, in den unterschiedlichsten Lernarrangements kann gelernt, können Informationen verarbeitet und neue Qualifikationen erworben werden. Selbst gesteuertes und informelles Lernen werden sich in die klassischen Lernstrukturen einpassen. Dabei kommt der „Eigenverantwortung“ - um auf den zweiten Begriff zu sprechen zu kommen - des Einzelnen eine größer werdende Bedeutung zu. Das kann nicht bedeuten, dass die Eigenverantwortung - auch was die Finanzierung der Weiterbildung angeht - die öffentliche Verantwortung für den Weiterbildungsbereich, die Weiterbildungsangebote und die Weiterbildungseinrichtungen ablöst. Vielmehr müssen Eigenverantwortung und öffentliche Verantwortung angemessen korrespondieren. ({7}) Ich sage dies auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich die öffentliche Hand teilweise aus der Finanzierung von Weiterbildungseinrichtungen und -angeboten zurückzieht und den an Weiterbildungsveranstaltungen Teilnehmenden weitgehend die Finanzierung überlässt. Dies ist in einer Zeit, in der wir die Verantwortung jedes Bürgers für seine Weiterbildung anmahnen und die Teilnahme an Qualifizierung und Weiterbildungsangeboten einfordern, ein falsches Signal. Wir fordern daher die Entwicklung von Modellen zur Weiterbildungsfinanzierung, die als Anreizsysteme für eine breite Weiterbildungsbeteiligung dienen. Die entsprechenden Stichworte hierzu sind Gutscheinsysteme, Bildungskonten und Freistellungsregelungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich abschließend noch einmal kurz auf einige in unserem Antrag formulierte Forderungen zu sprechen kommen: Die Schaffung und die Förderung regionaler Kooperationsverbünde sowie die Vernetzung der Weiterbildungseinrichtungen und -anbieter, wie sie im Netzwerkprojekt der Bundesregierung angedacht sind, finden unsere Zustimmung. Diese Netzwerke werden zur Optimierung der Angebote, der Teilnahme und Teilhabe, der Qualitätssicherung und der Beratung beitragen. Dabei darf es nicht bei kurzatmigen und vereinzelten Netzwerkversuchen bleiben. Vielmehr müssen solche Vorhaben dauerhaft, flächendeckend und strukturbildend sein. ({8}) Die Bundesanstalt für Arbeit und das Bundesinstitut für Berufsbildung, die eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Weiterbildungssystems spielen, müssen diesem Bildungssektor eine größere Aufmerksamkeit widmen, damit insbesondere die berufliche Weiterbildung und Qualifizierung verlässlich weiterentwickelt werden. Versuche zur Optimierung der Weiterbildungsangebote, wie sie zum Beispiel in anderen Ländern bereits mit Erfolg praktiziert werden - ich nenne hier nur die Stichworte Jobrotation, Stiftung „Weiterbildungs-Test“, Weiterbildungsaudit und verschiedene Formen der individuellen Weiterbildungsförderung und -finanzierung -, können dazu beitragen, für Nutzer, Betriebe und Weiterbildungseinrichtungen Angebote noch attraktiver zu machen. Qualitätssicherungssysteme sollen erprobt und später flächendeckend eingesetzt werden. Der Weiterbildungsforschung muss eine deutlich höhere Bedeutung zukommen. ({9}) Grundlage für alle Akteure ist ein verlässliches und brauchbares Informationssystem. Dieses fördert nicht nur die Transparenz, sondern auch den Qualitätswettbewerb unter den Weiterbildungsanbietern. Die Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zur Weiterbildungsstatistik hat verdeutlicht, wie diffus und unvermittelt die unterschiedlichen Weiterbildungsstatistiken und Berichtssysteme derzeit noch nebeneinander stehen, übrigens auch ein Defizit, das bereits im Berichtssystem 1989 beschrieben worden ist, allerdings ohne Konsequenz. ({10}) Auch für eine solide Weiterbildungspolitik ist eine differenzierte, verlässliche und interpretationsfähige Datenbasis unerlässlich. Wir fordern deshalb auch eine Ergänzung des Berufsbildungsberichts um ein ausführliches Kapitel zur beruflichen Weiterbildung. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn die Reden und Beschlüsse auf Parteitagen und Bildungskongressen nicht nur Sonntagsreden und Antragsmakulatur bleiben sollen, muss Weiterbildungspolitik einen festen Platz im Bewusstsein nicht nur der Bildungspolitiker erhalten. Weiterbildungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die Bildungspolitikerinnen und -politiker, Sozial- und Wirtschaftspolitikerinnen und -politiker gleichermaßen angeht. Unterstützen Sie unseren Antrag und tragen Sie dazu bei, dass er nicht in der Akte „Wiedervorlage in der nächsten Legislaturperiode“ verschwindet. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als nächster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Werner Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Die am tiefsten greifenden sozialen und ökonomischen Veränderungen unserer Gesellschaft sind bekanntlich eine fortschreitende Globalisierung von Produktion und Märkten, zahlreiche durchgreifende Veränderungen von Form und Inhalt der Arbeit, dazu die grenzüberschreitende Mobilität, offene Beschäftigungsverhältnisse und schließlich ein häufiger Berufswechsel. Die dadurch notwendig gewordene Anpassung beruflicher Kompetenz weist der Gestaltung eines kontinuierlichen lebensbegleitenden Lernens in der Tat eine zentrale Rolle zu. ({0}) Je schneller sich der soziale, technische und wirtschaftliche Wandel vollzieht, je tiefer greifend sich die Anforderungen in der Arbeits- und Lebenswelt ändern, desto zwingender wird für die betroffenen Menschen der Aufbau zeitgemäßer Wertvorstellungen, innovativer Fähigkeiten und neuer Überlebensstrategien. Dies scheint nun endlich - ich denke, Herr Tauss, Sie stimmen mir gleich auch noch zu - auch die rot-grüne Regierungskoalition begriffen zu haben, nachdem bisher seit dem Regierungswechsel zumindest in der Weiterbildungspolitik viel zu wenig geschehen ist. ({1}) Vergleicht man den vorliegenden Antrag auf Drucksache 14/3127 mit roten oder grünen Papieren der Vergangenheit, so muss man heute neidlos anerkennen, wenn auch mit Verwunderung: Selbst die rot-grünen Initiatoren scheinen in der Tat weiterbildungsfähig zu sein. ({2}) Waren doch deren vergangenen Entwürfe durchgängig geprägt von den veralteten Vorstellungen der 70er-Jahre das haben Sie, Herr Küchler, eben angesprochen -, so muss man heute neidlos anerkennen: Man hat gelernt, dass man mit Formen des institutionalisierten Lernens unter staatlicher allgegenwärtiger Aufsicht nichts bewirken kann. Zur allgemeinen Verblüffung erkennt nun auch RotGrün nach viel zu langem Zaudern: Mit Mitteln des Staatsdirigismus und der Planwirtschaft sind die realen Entwicklungen einer hoch komplexen und global vernetzten Industriegesellschaft nicht in den Griff zu bekommen. Dass Sie das gelernt haben, ist wunderbar. So entdeckt man auch im neuen Antrag eine ganz neue Sprache - für mich völlig überraschend. Hier wird zum Beispiel - man höre und staune - eine alte CDU/CSUForderung zu einem neuen Leitbild erhoben. ({3}) Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, dass Zitat die Eigenverantwortung der am Lernprozess Beteiligten als grundlegendes Prinzip zur Gestaltung der Lernprozesse neu bestimmt wird. ({4}) - Er ist ja von uns abgeschrieben worden. Von daher verstehe ich das auch sehr gut. Und selbst folgender - für Rot-Grün außerordentlich bemerkenswerter Satz ist zu finden - ich zitiere wieder mit Vergnügen -: ({5}) Die Stärkung der Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Lernen ist eine der wesentlichen Aufgaben zukünftiger Bildungspolitik und Bildungspraxis. ({6}) Bei solch geballter Weisheit kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider - und dies muss ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt werden - blitzt diese neue Erkenntnisfähigkeit nur vereinzelt auf und wird keineswegs in der nötigen Konsequenz durchgehalten. Denn ein dringender Paradigmenwechsel, der aller Orten angesichts einer immer enger werdenden Verzahnung von beruflicher Tätigkeit und lebenslangem Lernen zu Recht gefordert wird und der zudem von der Institutionsbeschreibung zur Funktionsdarstellung führt, kurzum: ein solch längst überfälliger Paradigmenwechsel wird von der Koalition nicht erkannt, geschweige denn in ihrem Antrag berücksichtigt. So viel Konsequenz hätte mich im Übrigen auch erstaunt. Doch eines muss klar sein, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die Mobilisierung bisher bildungsbenachteiligter Gruppen, so wichtig diese ist, und die Verwirklichung „lernender Regionen“ reichen eben nicht aus. ({8}) Die zahlreichen, eher bieder anmutenden Vorschläge des Antrages bleiben bedauerlicherweise an der Oberfläche und werden den tatsächlichen Veränderungen nicht gerecht. Weil wir bei der CDU/CSU all das, was wir behaupten, auch beweisen, ({9}) möchte ich fünf Einwände formulieren. Einwand eins. Der von Rot-Grün gern beschworene integrative Ansatz - von Ihnen auch erwähnt, Herr Küchler einer wie auch immer gearteten Synthese von allgemeiner, beruflicher und politischer Weiterbildung hat sich schon längst als eine politideologische Luftnummer erwiesen. ({10}) Reden Sie, meine Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition, einmal mit den Menschen der neuen Bundesländer über diese vermeintliche integrative Weiterbildung. Die Menschen werden Sie fragen: Habt ihr denn gar nichts gelernt? Es ist ja schließlich Weiterbildung gefragt. Einwand zwei. Ihr vermeintlich so moderner Vorschlag, ein Netzwerk „Lernende Region“ aufzubauen, entspricht, wie die Erfahrungen in Nordrhein-Westfalen bis Sonntag ganz eindeutig beweisen, bedauerlicherweise reinem Wunschdenken. Einwand drei. Ihr Angebot, geeignete Finanzierungsinstrumente zur Deckung vor allem individueller Weiterbildungskosten zu schaffen, klingt großzügig. Berücksichtigt man jedoch, dass zwei Drittel der Kosten von den Betrieben übernommen werden, 15 Prozent die Bundesanstalt für Arbeit bezahlt und der übrig bleibende eigenfinanzierte Anteil von lediglich 15 Prozent zudem noch von der Steuer abgesetzt werden kann, erkennt man die wahre Größenordnung Ihres scheinbar so reichhaltigen Angebotes. Einwand vier. Weil Sie alle so sprachlos zuhören, trage ich es gerne vor. Das von Ihnen vorgeschlagen Akkreditierungssystem ist ein uralter Hut der 70er-Jahre und kaum realisierbar, vor allem, wenn man bedenkt, dass die weitaus meisten Weiterbildungsmaßnahmen auf betrieblicher Ebene stattfinden. Einwand fünf: Ihre Absicht, die Bund-Länder-Kooperation im Bereich der Weiterbildung auszubauen, erscheint in der Tat löblich. Aber Sie führen mit keiner Silbe aus, auf welche Weise und auf welcher Basis die enge Zusammenarbeit zwischen dem Bund, allein zuständig für die berufliche Bildung, und den Ländern, allein zuständig für die allgemeine Bildung, im Detail funktionieren soll. Eine Weiterbildungspolitik, die den hochgradig vernetzten und sich weiterhin differenzierenden Lebensbedürfnissen entsprechen soll, sollte sich von vier Prinzipien leiten lassen, nämlich von der Eigenverantwortung, der Selbstorganisation, der marktwirtschaftlich geprägten dezentralen Steuerung und natürlich auch von der Subsidiarität. ({11}) Ich verspreche Ihnen, dass wir uns trotz unserer Bedenken konstruktiv, wie man das von uns zu Recht erwarten kann, ({12}) an der Arbeit im Ausschuss beteiligen werden. Die CDU/CSU stellt hierbei vier wesentliche Forderungen: Erstens. Wir brauchen mehr selbst organisiertes Lernen, und zwar auf der Basis flexibler Angebote beruflicher Bildungsinstitutionen. Zweitens. Wir benötigen mehr praxisbezogenes Lernen. Dies macht die Entwicklung neuer arbeitsintegrierter Formen der Weiterbildung im betrieblichen Ablauf erforderlich. Drittens. Wir wünschen mehr IuK-gestütztes Lernen. Dazu ist wiederum unter anderem eine stärkere Nutzung der immensen Möglichkeiten der modernen Multimediatechniken erforderlich. Viertens. Schließlich und endlich sind verstärkte Anstrengungen bei der Überwindung der drohenden gesellschaftlichen Bildungskluft gefordert. Dazu benötigen wir neben anderem auch eine zuverlässige Diagnose der individuellen Weiterbildungsbedürfnisse.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Schluss.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich Ihnen einen Gefallen damit tun kann, komme ich natürlich zum Schluss. Aber das mag ich gar nicht glauben, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie tun uns allen einen Gefallen, wenn Sie zum Schluss kommen. ({0})

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es geht doch um die Bildung, Herr Präsident. Der Schlusssatz als Krönung meiner Rede, meine Damen und Herren und vor allen Dingen Herr Präsident, lautet: Bildung ist in jeder Beziehung das eigentlich Humane, das den Menschen auszeichnet und ihn zu einem geordneten, selbstbestimmten und Zufriedenheit stiftenden Zusammenleben befähigt. Weiterbildung ist zu wichtig, um auf dem Altar der politischen Auseinandersetzung geopfert zu werden. Ich danke Ihnen für alles, was Sie mir an Gutem angetan haben. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die vorgegebene Redezeit darf auch unterschritten werden, zumal zu einer späten Stunde. ({0}) Ich gebe das Wort nun dem Kollegen Matthias Berninger vom Bündnis 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man dem Vorredner aufmerksam zugehört hat, dann hat man den Eindruck gewonnen, dass der Regierungswechsel geradezu ein katastrophaler Einschnitt für die Weiterbildungsinitiativen in der Bundesrepublik Deutschland gewesen sei. Nun, Herr Kollege Lensing, wenn man sich das anschaut, was der so genannte Zukunftsminister qualitativ und quantitativ in der letzten Legislaturperiode zustande gebracht hat, dann muss man einfach feststellen: Er mag zwar einige Dinge für wichtig gehalten haben, aber Weiterbildung gehörte sicherlich nicht dazu. Um sie hat er sich nicht gekümmert. ({0}) Insoweit halte ich die Behauptung für ziemlich weit hergeholt, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag von ihm abgeschrieben hätten. Wenn sie das getan hätten, wäre der Stillstand in diesem Bereich fortgesetzt worden. Das hätte sich auch in dem Antrag ausgedrückt. ({1}) Ich sehe einmal davon ab, dass im Weiterbildungsbereich relativ wenig passiert ist, und wage den Ausblick auf das, was in den nächsten 20 Jahren vor uns liegt. Zwei Zahlen sind sehr eindrucksvoll und sollten auch in einer solchen Debatte unbedingt genannt werden, weil sich mit ihnen das Ausmaß der Veränderungen, vor denen das Bildungssystem steht, verdeutlichen lässt. Heute sind 12 Millionen Menschen unter 30 Jahre. In 20 Jahren werden es noch 8 Millionen Menschen sein. Zu diesem Zeitpunkt wird jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland älter als 40 Jahre sein. Alle Prognosen besagen, dass sich die Wirtschaft in diesem Zeitraum ganz massiv und radikal wandeln wird. Das heißt, immer ältere Menschen müssen einen immer schneller voranschreitenden Wandel in irgendeiner Form erstens verkraften, und zweitens dürfen sie sich nicht von ihm überrollen lassen. Wenn man sich dies vergegenwärtigt, dann weiß man, wie bedeutsam das Thema Weiterbildung in den nächsten Jahren sein wird. Auch deswegen freue ich mich, dass die Bundesregierung in dem Bereich durch wesentliche Maßnahmen Akzente setzen möchte. ({2}) Das Tempo, das die rot-grüne Koalition derzeit anschlägt, reicht nicht aus, um die vor uns stehenden Herausforderungen tatsächlich schon meistern zu können. Innerhalb der Koalitionsfraktionen ist keiner selbstgefällig; aber wir denken, dass wir auf einem guten Weg sind. Ein weiterer wichtiger Punkt: Technische Entwicklungen werden die Bildung völlig verändern. Die Bundesregierung hat ein Programm angekündigt - das ist wirklich ein sehr wichtiger Schritt -, in dem es um die Entwicklung von Lernsoftware geht. Es geht darum - darüber haben wir heute schon an anderer Stelle debattiert, als wir über die Gefahren von Viren im Internet diskutiert haben -, diese Entwicklung für den Bildungsbereich nutzbar zu machen. ({3}) Das passt genau zu dem, was auch der Kollege Lensing gesagt hat - wir sind uns darin einig -: Lernen ist ein Vorgang, der von den Individuen abhängt; die Individuen müssen möglichst selbstbestimmt etwas leisten. ({4}) Das ist durch die neuen Medien noch besser möglich, weil man, zumindest teilweise, ortsunabhängig lernen kann. Wir sind in Deutschland aber technologisch und in der Frage, wie man solche Lerninhalte vermittelt, nicht gerade an der Spitze. Wir müssen Anstrengungen unternehmen. Zumindest in den vier Jahren, in denen ich während Ihrer Regierungszeit im Bundestag war - in anderen Ländern war diese Entwicklung in vollem Gange -, hat man im Bildungsministerium eher gähnend dagesessen. Das mag damit zusammenhängen, dass Herr Rüttgers keinen Computer in seinem Büro hatte. Jedenfalls muss man mit hohem Tempo etwas verändern. 400 Millionen DM, die dafür eingesetzt werden sollen, sind kein Pappenstiel, wenn man sich die Beträge anschaut, die wir ansonsten in dem Antrag zu den Weiterbildungsprogrammen, die die Bundesregierung aufgelegt hat, erwähnt haben. Die Summe ist im Vergleich zu Vorherigem deutlich größer, weil wir riesige Lücken schließen und gegenüber anderen Ländern aufholen wollen. ({5}) Man sollte darüber reden, dass lebenslanges Lernen natürlich nicht das Gleiche wie eine lebenslange Haftstrafe ist; stattdessen sollte man den Menschen etwas anderes vermitteln. Für meine Begriffe ist lebenslanges Lernen eine positive Entwicklung: Es geht darum, dass man nicht mehr mit 15, 16 oder 17 Jahren oder nach dem Studium einen Beruf ergreift und ihn sein ganzes Leben lang ausübt; vielmehr wird man in Zukunft die Chance haben, mehrere Berufe erlernen und sein Leben auf dem Gebiet der Erwerbstätigkeit ändern zu können. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass eine Gesellschaft, die lebenslang lernt, den Menschen letzten Endes mehr Freiheiten gibt als eine Gesellschaft, die den Menschen irgendwann einmal zu einer Ausbildung verhilft und sie nur dazulernen lässt, wenn es beispielsweise neue Maschinen gibt; ansonsten bleibt man in derselben Firma am selben Arbeitsplatz. Ich sehe eine solche Gesellschaft eher positiv, wenngleich sie für die Menschen mit Unsicherheiten verbunden ist. Nur, auch das ist eine Entwicklung, die nicht so weit entfernt ist. Über 24 Millionen Menschen nehmen in Deutschland jährlich an Weiterbildungsangeboten teil. Das heißt, Weiterbildung findet schon statt, egal, ob wir das hier diskutieren oder nicht. Ich glaube aber, dass sich die Qualität der Weiterbildung sehr radikal verändern wird. Meine Einschätzung ist, dass meine Generation ein zweites Mal wird an die Hochschulen zurückgehen müssen. Wer in den 80er- oder in den 90er-Jahren einen Hochschulabschluss gemacht hat, der wird wahrscheinlich im Laufe seines Berufslebens noch einmal den Weg zur Hochschule finden müssen. Man wird, ganz anders als die Generationen davor, sehr viel dazulernen müssen. Das bedeutet, dass Hochschulen ihren Umgang mit dieser Art von Studenten völlig verändern müssen. Die Hochschulen müssen lernen, dass sie nicht mehr nur Orte der Erstausbildung sind; vielmehr werden die Themen „Weiterbildung“ und „Ausbildung von berufstätigen Menschen“ auch dort immer wichtiger. Ich sehe die Gefahr - Sie haben sie ebenfalls angesprochen - der Zuständigkeiten von Bund und Ländern. Mit genau diesen Zuständigkeitszuordnungen wird aus meiner Sicht zu häufig Untätigkeit begründet, nach dem Motto: Eigentlich dürfen die anderen nichts tun, weil man selbst zuständig ist. Ein anderer Versuch, Untätigkeit zu begründen, besteht darin, den anderen entsprechende Zuständigkeiten zu übertragen. Die Hochschulen selbst müssen lernen: Es wird immer weniger junge Menschen geben, die an die Hochschulen kommen, weil ihre Zahl in Deutschland abnimmt. Wenn die Hochschulen weiterhin wie bisher bestehen wollen, dann müssen sie aus meiner Sicht Anstrengungen unternehmen, auch Erwachsenen gute Angebote zu machen. Zum Abschluss möchte ich sagen, dass es dabei zwei sehr unangenehme Botschaften gibt. Die eine unangenehme Botschaft beim lebenslangen Lernen ist, dass es das ist schon heute so - nicht völlig kostenlos zu haben ist. Die zweite unangenehme Botschaft besteht darin, dass die Situation wohl nicht eintreten wird, dass die Betriebe die beruflichen Fortbildungen komplett bezahlen werden. Ebenso wenig wird es so sein, dass der Staat die Kosten der beruflichen Weiterbildungsangebote vollständig übernehmen wird. Vor diesem Hintergrund halte ich die in unserem Antrag formulierte Forderung, dass die Bundesregierung konzeptionell darüber nachdenken muss, wie man Menschen in die Lage versetzen kann, Weiterbildungsangebote anzunehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie mehr oder weniger wohlhabend sind, für sehr wichtig. Bündnis 90/Die Grünen sind daher der Meinung, dass man ähnlich wie Bausparen oder ähnlich wie Altersvorsorge auch die Bildungsvorsorgeleistungen begünstigen muss. Wenn Bildung so wichtig ist wie ein Dach über dem Kopf, dann ist Bildungssparen aus meiner Sicht ein ebenso wichtiges Thema wie das Thema Bausparen. Hier müssen Veränderungen auch im Denken her. All das, was ich an Entwicklungen beschrieben habe und worüber wir uns auch einig waren, muss dazu führen, dass man auch in anderen Politikbereichen sein Denken deutlich verändert. Der Präsident bedeutet mir, dass ich seine Anregung, die Redezeit zu unterschreiten, nicht befolgt habe. Dafür bitte ich um Entschuldigung, höre jetzt aber auch auf. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der F.D.P.-Fraktion das Wort. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schönen Dank, dass Sie sich so freuen, dass ich heute schon zum dritten Mal vor Ihnen stehe. ({0}) In der Tat, es ist so, und ich freue mich auch über den Einstieg in die Diskussion zum Thema „Lebensbegleitendes Lernen“. Ich glaube, uns allen ist klar, dass zukünftig in der Weiterbildung in der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft ganz andere Anforderungen, ja Herausforderungen bestehen als bisher. Dabei stehen nicht mehr so sehr individuelle beziehungsweise ökonomische Lernbedürfnisse im Vordergrund, sondern eine dauerhafte enge Verzahnung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, Beruf und Weiterbildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Der polnische Erziehungswissenschaftler Suchodolski hat in seiner Veröffentlichung „Lifelong Education at the Crossroads“ aus dem Jahre 1979 geschrieben, dass lebenslanges Lernen zur Schicksalsfrage für das Überleben der Menschheit wird. Der Club of Rome hat die Hinwendung zur Erforschung, Entwicklung und Förderung menschlicher Lernprozesse sowie die Verbesserung von Lernmethoden und Lernhilfen als den entscheidenden Ansatz zur menschlichen Zukunftssicherung bezeichnet. Bereits 1973 hatte eine entsprechende Kommission, die von der UNESCO eingesetzt worden war, festgestellt, dass traditionell Schulen und Bildungseinrichtungen weltweit nicht in der Lage seien, die noch etwa zu 50 Prozent brachliegenden Begabungspotenziale zu mobilisieren. Im UNESCO-Bericht wurde deutlich gemacht, dass in der modernen Lerngesellschaft bestehende Bildungseinrichtungen ihre Bildungsmonopolstellung verlieren werden. Sie sind aber immer noch die wichtigste Komponente in einem Lernnetzwerk. Dieses Lernnetzwerk ist das Geflecht, das den Rahmen für lebenslanges Lernen zusammenhalten wird. Wollen wir dieses Geflecht erfolgreich knüpfen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, müssen dem grundlegende Bildungsreformen in Deutschland vorausgehen. Das ist an dieser Stelle noch einmal meine Botschaft an Sie, dort, wo Sie Verantwortung in den Ländern haben, diese Bildungsreformen auch durchzuführen. Das betrifft erstens die Verbesserung des Niveaus der allgemein bildenden Schulen. Die Profilbildung aller Schulformen einschließlich jener der Hauptschule muss gestärkt werden. Wir haben immerhin fast ein Viertel Ausbildungsabbrecher in Deutschland und das hat meines Erachtens auch damit zu tun, dass wir bestimmte Schulformen, wie die Hauptschule, vernachlässigen. ({1}) Zweitens muss die Qualitätssicherung der Schul- und Berufsbildung im Vordergrund stehen. Auch das gehört zu den dringend notwendigen Bildungsreformen und ist eine wichtige Voraussetzung, um die Weiterbildung in Gang zu bringen. Wir brauchen eine stärkere Hinwendung zum selbstständigen projektorientierten Lernen, ({2}) wir brauchen eine Allgemeinbildung, die auf traditionelle Kulturtechniken setzt, aber auch auf Medienkompetenz, Teamfähigkeit und eine allumfassende Allgemeinbildung, die auch Mathematik, Naturwissenschaften und Technik in den Vordergrund stellt. ({3}) Nicht zuletzt sei erwähnt, dass es Riesendefizite bei der Ausstattung und der Unterrichtsversorgung an den Schulen in Deutschland gibt. Ich will Ihnen anhand einer Studie, die in Schweden gemacht wurde, verdeutlichen, dass dort circa 20 Prozent der Topmanager aus der Wirtschaft durch ihre eigenen Kinder das Surfen im Internet gelernt haben. Was heißt das für die Weiterbildung? Diese Studie macht deutlich, dass zukünftig das situative, natürliche Lernen aller Menschen in ihren Lebens- und Arbeitszusammenhängen gestärkt werden muss. Das Ad-hoc-Lernen wird mehr denn je bei der Erwachsenenbildung zur Kompetenzentwicklung und zur Bewältigung von neuen Lebenssituationen beitragen, wie sie die Informationsgesellschaft von heute auf morgen mit sich gebracht hat. Zu den Reformen gehört aber auch die Vernetzung von Schule und Wirtschaft. Da nenne ich nur beispielhaft das Modell Baden-Württemberg, das Projekt „Surreale Schule“, bei dem berufsbezogene Projekte bereits in die allgemein bildenden Schulen getragen werden. ({4}) Der Sinn der dualen Ausbildung besteht in der rechtzeitigen Verknüpfung von allgemein bildenden Schulen mit der Wirtschaft bis in den Weiterbildungsbereich hinein. Die nächste wichtige Reform umfasst meines Erachtens die Vernetzung von Aus- und Weiterbildung. Es geht um Lernen im Beruf und nicht als Beruf, wie Bundespräsident Herzog es schon einmal sagte. Damit meine ich, dass kürzere Ausbildungszeiten im ersten Lebensabschnitt und permanentes Lernen in allen Lebenssituationen in einer sich rasant entwickelnden, global orientierten Welt notwendig geworden sind. ({5}) Last, but not least ist die europäische Vernetzung von Aus- und Weiterbildung angesichts eines EU-Binnenmarktes unerlässlich. Dafür hat der Lissabonner Gipfel Grundlagen gelegt. Sie kennen beispielsweise den EuroPass in der Berufsausbildung. Aber auch die Länder müssen ihre Hausaufgaben machen. Das ist meine Botschaft in diesem Zusammenhang. Ein Gesamtkonzept für lebenslanges Lernen ist unverzichtbar, wenn wir das Auseinanderdriften zwischen einer immer komplexer werdenden globalen Welt und den entsprechend entwickelten Kompetenzen der Menschen verhindern wollen. Die Chancen der Menschen zu verbessern und sie sie erkennen zu lassen heißt zum einen, in ihre Köpfe zu investieren, zum anderen aber auch - das betone ich und da stimme ich Herrn Berninger zu -, sie mehr als bisher zu eigenverantwortlichem selbstständigen Lernen zu erziehen. Ihr Aktionsprogramm „Netzwerke Lebensbegleitendes Lernen“ ist da der richtige Anstoß, aber eben keine ganzheitliche Lösung. Hierfür muss die Politik die längst überfälligen Bildungsreformen auf den Weg bringen. Ansonsten wird Ihr Konzept zum lebensbegleitenden Lernen reine Rhetorik bleiben. Ich freue mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich diesen Antrag gelesen habe, habe ich mir überlegt, was er eigentlich an Neuem enthält. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass er nichts enthält, was die Regierung und das zuständige Ministerium veranlassen könnten, auf dem Gebiet der Weiterbildung etwas anders zu machen, als sie es ohnehin bereits tun. Wollte man in den Koalitionsparteien die Zustimmung zur Weiterbildungspolitik der Bundesregierung zum Ausdruck bringen, so erscheint mir ein Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür als die ungeeignetste Form. Da hätte vielleicht ein Glückwunschschreiben ausgereicht. ({0}) Die absehbare Wirkungslosigkeit dieses Antrages, obgleich er ja von der Mehrheit dieses Hauses getragen wird, lässt sich an allen seinen Teilen festmachen: Die unumstritten wachsende Bedeutung der Weiterbildung wird so begründet, wie es die Regierung der neuen Mitte am liebsten sieht, nämlich im Unterschied zu mancher Sonntagsrede aus der verengten Sichtweise der Standortdebatte heraus. Die aufgelisteten und allseits bekannten Defizite im Bereich der Weiterbildung unterliegen damit ebenfalls einer verengten Sicht. Für den Abbau selbst dieser ausgewählten Defizite gibt es keinen konkreten Vorschlag, sondern lediglich eine allgemeine Beschreibung des Wünschenswerten. Der Hauptteil unter Abschnitt 2 liest sich wie eine Presseerklärung des BMBF - ich sage das jetzt einmal so - zur Erläuterung von Projekten, die das Ministerium in Aussicht stellt. An der Stelle, wo die Einbringer des Antrags die Bundesregierung schließlich doch noch auffordern, etwas zu tun, läuft das im Grunde auf eine Forderung hinaus, die zu nichts verpflichtet, nämlich dieses oder jenes zu prüfen. Dabei halte ich es, Herr Catenhusen, außerdem für sehr bedenklich, wenn die Bundesregierung diese Sachverhalte tatsächlich noch nicht geprüft haben sollte. Die Antragsteller hoffen, durch punktuelle Anstöße das Weiterbildungssystem in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich halte das, gelinde gesagt, für eine wirklichkeitsfremde Illusion. Wir müssen den gesamten Weiterbildungsbereich systematisch strukturieren. Um dies zu erreichen, muss der Bund endlich seine Kompetenz auf diesem Gebiet voll ausschöpfen. Er täte das nach unserer Meinung am konsequentesten durch die Vorlage eines entsprechenden Rahmengesetzes. ({1}) Ein solchermaßen gesteckter Rahmen hätte die Funktion, den Zugang aller zu einem lebenslangen Lernen sowohl rechtlich als auch materiell auf gleichem Niveau zu sichern, die demokratische Mitwirkung der Lernenden für die inhaltliche und strukturelle Ausgestaltung der Weiterbildung im gesamten Bundesgebiet gleichermaßen zu gewährleisten, die Weiterbildung mit der ebenfalls bundesrechtlich geregelten beruflichen und universitären Ausbildung sowie mit den zahlreichen Formen der Arbeitsförderung sinnvoll zu verzahnen und schließlich einheitliche Mindeststandards hinsichtlich Qualität, Transparenz und Zertifizierung in der Weiterbildung festzulegen. Mit der Forderung eines solchen Rahmengesetzes geht es uns nicht darum, der im Antrag betonten „Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden“ den alles regulierenden Staat gegenüber zu stellen. Aber Eigenverantwortung in der Weiterbildung darf nicht, wie es der Antrag nahe legt, vorrangig auf die Eigenfinanzierung zur dauerhaften Erhaltung und Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals reduziert werden. ({2}) Eigenverantwortung muss sich auf die Entfaltung aller Fähigkeiten und Potenzen des Einzelnen beziehen und darüber hinaus dessen umfassende demokratische Mitwirkung bei der Bestimmung von Bedingungen, Inhalten und Zielen der Weiterbildung beinhalten. Von einem solchen Ansatz aus müssen die Akzente in einer rahmengesetzlichen Regelung auch anders gesetzt werden, als das im vorliegenden Antrag der Fall ist. So notwendig es ist, das Weiterbildungssystem hinsichtlich Träger, Koordination, Qualität, Transparenz, Zertifizierung usw. zu optimieren: Noch dringlicher sind eindeutige Regelungen, die es jedem und jeder auch tatsächlich ermöglichen, dieses System kontinuierlich zu nutzen. Aufschlussreich ist doch zum Beispiel, dass mangels entsprechender gesetzlicher Regelungen in einigen Ländern viele Beschäftigte nach wie vor keinen Anspruch auf bezahlten Bildungsurlaub haben und dass von denen, die ihn haben, nur etwa 3 Prozent davon Gebrauch machen. Die PDS kann und wird vieles unterstützen, was von verschiedenen Seiten, einschließlich der Bundesregierung, zur Erhöhung der Effizienz der Weiterbildungsinstitutionen vorgeschlagen wird. Ihren Schwerpunkt sieht sie jedoch darin, sich auf Seiten der Lernenden für solche Bedingungen einzusetzen, die es allen ermöglichen, die Weiterbildungsangebote entsprechend anzunehmen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine letzte Bemerkung, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, über eines sollte frühzeitig Klarheit herrschen: Angesichts der Dimension eines lebenslangen Lernens ist die Realisierung dieser Aufgabe gewiss mit beträchtlichen Kosten verbunden. Sie ist jedoch sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft von existenzieller Bedeutung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige konstruktive Debatte über den Antrag der Koalitionsfraktionen versteht die Bundesregierung als Ermutigung und als Auftakt für eine intensive parlamentarische Begleitung des Weges hin zur schrittweisen Verwirklichung des Prinzips vom lebensbegleitenden Lernen. ({0}) Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit ist in den Ländern, bei den Sozialpartnern, bei den Trägern und Verbänden in der konzertierten Aktion Weiterbildung, im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit und auch in der Bund-Länder-Kommission erfreulich groß. Es ist erstaunlich, dass die alte Bundesregierung im letzen Jahrzehnt diese Chancen nicht genutzt hat. Wir befinden uns in einer Situation, in der die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen erfreulicherweise wächst; denn unter den 19- bis 64-Jährigen nutzt heute schon jeder Zweite die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Die Teilnahme an allgemeiner beruflicher Weiterbildung da sind wir uns ja alle einig - ist dabei gleich wichtig. Allein für die berufliche Weiterbildung wenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern jährlich 2 Milliarden Stunden für Kurse und Lehrgänge auf. Tag für Tag bilden sich durchschnittlich etwa 1 Million Menschen im erwerbsfähigen Alter in der einen oder anderen Form beruflich weiter. Dabei ist informelles Lernen am Arbeitsplatz und selbst organisiertes Lernen, auch in verschiedenen sozialen Zusammenhängen und Projekten, statistisch bisher nur unzureichend erfasst. Ohne Übertreibung lässt sich also feststellen, dass wir bereits auf dem Wege zu einer lernenden Gesellschaft sind, wie sie jetzt von der UNESCO, der OECD und auch der EU als Leitbild vorgeschlagen wird. Warum also heute diese Debatte? Warum legen wir so viel Wert darauf, dass lebensbegleitendes Lernen für alle Menschen selbstverständlich werden muss? Was sind die neuen Herausforderungen, auf die wir neue Antworten finden müssen? Auf diese Fragen will ich Ihnen nur zwei Antworten geben. Erstens. Wir müssen davon ausgehen, dass bei einer Nichtbeteiligung an kontinuierlichem „Lernen ein Leben lang“ für den einzelnen Menschen und für seine Familie die Gefahr der Ausgrenzung aus allen gesellschaftlichen Bereichen wächst. Zweitens. Der Strukturwandel unserer Gesellschaft und Wirtschaft kann nur mithilfe einer alle Gruppen einschließenden Entwicklung lebensbegleitenden Lernens bewältigt und sozialverträglich gestaltet werden. ({1}) Hiervon, Kolleginnen und Kollegen, hängen sowohl die Innovationsfähigkeit als auch der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft immer stärker ab. Zwischen diesen beiden Polen der Stärkung und Entfaltung individueller Möglichkeiten und auch der Zunahme und Veränderung gesellschaftlicher Anforderungen muss das Bildungssystem sich weiterentwickeln. Notwendig ist daher die Mobilisierung aller, vor allem bildungsferner und benachteiligter Gruppen, und auch die schrittweise Verwirklichung des Konzeptes „Lernende Regionen“. Dies sind die beiden strategischen Ansatzpunkte einer Bildungspolitik der Bundesregierung, die Lernen ein Leben lang ermöglichen und fördern will. Lebensbegleitendes Lernen für alle kann natürlich nur realisiert werden, wenn alle Bildungsbereiche mit allgemeinen, politischen, kulturellen und beruflichen Inhalten in ein integratives Konzept einbezogen werden. Kollege Lensing, ich glaube, das Gegeneinandersetzen allgemeiner, beruflicher und politischer Weiterbildung ist ein falscher Ansatz. Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung der Menschen brauchen wir Angebote auf allen Feldern. Wenn sie stärker miteinander vernetzt und aufeinander bezogen werden, umso besser. ({2}) Auch ist eine stärkere Kooperation zwischen Bildungsanbietern und Bildungsnachfragern insbesondere in den Regionen notwendig. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, um unser Bildungssystem offen zu halten, weitere Chancen zu ermöglichen, Durchlässigkeit zu gewährleisten, Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung zu verstärken und nicht zuletzt auch das System der individuellen Förderung erwachsenengerecht weiterzuentwickeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich beziehe mich auf Ihre Äußerung im Hinblick auf den integrativen Ansatz. Ich habe erhebliche Bedenken, die drei Säulen der allgemeinen, der beruflichen und der politischen Weiterbildung, die Sie angesprochen haben, zu integrieren, vor dem Hintergrund der schmerzhaften Erfahrungen in der früheren DDR, wo dieses Modell erprobt worden ist. Daher erklärt sich auch meine Bemerkung von vorhin. ({0}) Dass es erhebliche Bedenken gibt, merken wir schon an der Unruhe auf der - von mir aus gesehen - rechten Seite. ({1}) Ich weiß es auch aus entsprechenden Bemerkungen aus den Bildungskreisen der ehemaligen DDR.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Geschätzter Kollege Lensing, mir ist nicht ganz verständlich, wieso Sie einen Zusammenhang sehen zwischen den Angeboten politischer Weiterbildung in der Bundesrepublik, in dem freien Deutschland, sowie den Prinzipien und der Praxis so genannter politischer Indoktrination in der ehemaligen DDR. Ich kann Ihnen bei diesem Gedanken ehrlich gesagt - nicht folgen. ({0}) - Ja. Wir sind in dieser Entwicklung zwei erste konkrete Schritte gegangen. Am 1. April dieses Jahres konnte erstmals in der über 30-jährigen Geschichte der gemeinsamen Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommission ein Modellversuchsprogramm zum lebenslangen Lernen auf den Weg gebracht werden. Dieses Programm mit 14 Modellversuchen, für das in den nächsten fünf Jahren 25 Millionen DM aufgewendet werden, die je zur Hälfte von Bund und Ländern getragen werden, basiert auf einer gemeinsam in der BLK entwickelten Programmbeschreibung. Die Länder sind bereit, mit uns auf einer programmatischen Grundlage die Rahmenbedingungen dafür zu erproben, wie auf der einen Seite Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden und auf der anderen Seite die Vernetzung hin zu einem eher nachfrager- und nutzerorientierten Bildungssystem geschaffen werden können. Das sind auch die Ziele, die wir als Bundesregierung mit unserem geplanten Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ verfolgen. Frau Ministerin Bulmahn hat dazu auf der Plenarsitzung der von uns wiederbelebten konzertierten Aktion „Weiterbildung“ entsprechende Schritte angekündigt. Den Kern unseres Aktionsprogramms bildet das Programm „Netzwerke lebensbegleitenden Lernens“, dessen strategische Bedeutung für den Aufbau lernender Regionen offensichtlich ist. Wir freuen uns, dass die Länder dieses anerkannt und unsere Absicht zur Förderung von Netzwerken ebenso wie die konzertierte Aktion „Weiterbildung“ begrüßt haben. ({1}) Wir beabsichtigen, Projekte zur Vernetzung auf der Grundlage einer mit den Ländern noch abzuschließenden Vereinbarung noch vor der Sommerpause auszuschreiben. Die Europäische Union, die auch weitere beschäftigungspolitisch begründete Programme zur Kompetenzentwicklung und zur Benachteiligtenförderung kofinanzieren wird, wird dieses Netzwerkprogramm voraussichtlich mit rund 10 Millionen DM pro Jahr unterstützen. Das heißt, wir können in den nächsten fünf Jahren im Rahmen dieses Programms rund 150 Millionen DM zielgerichtet für die Entwicklung lernender Regionen in Deutschland einsetzen. ({2}) Zu den Förderschwerpunkten zählen insbesondere die breitere Anwendung von für die Nutzer transparenten Qualitätssicherungsverfahren; die Zertifizierung von Qualifikationen, möglichst unter Einschluss von Kompetenzen, die in informellen und selbst organisierten Lernprozessen erworben wurden; die Verbesserung der Beratung und die Motivierung insbesondere bildungsferner und benachteiligter Gruppen; die Förderung neuer Lehrund Lernkulturen und eines insgesamt lernförderlichen Umfeldes.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Lenke?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, das sind ja Ziele, die eigentlich zu unterstützen sind. Was sagen Sie aber dazu, dass das Land Niedersachsen zum Beispiel Erwachsenenbildungsmittel in den Haushalten in den letzten Jahren ständig gekürzt hat und auch im Bildungsbereich der Schulen und Hochschulen ständig weniger Mittel zur Verfügung stehen? ({0}) - In der Erwachsenenbildung in Niedersachsen sind seit 1990 ständig die Mittel gekürzt worden. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, ob das nicht Ihre guten Ideen konterkariert.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ich höre erstens Widerspruch vonseiten sozialdemokratischer Abgeordneter aus Niedersachsen. Das sollten Sie als Niedersachsen erst einmal untereinander diskutieren. Als Parlamentarier aus Nordrhein-Westfalen kann ich in unserem Lande keinerlei Diskussion in dieser Richtung feststellen. Ich denke, es gilt für alle Bundesländer die Bemerkung, die Herr Küchler vorhin gemacht hat, dass es nämlich in der Frage der Förderung der Weiterbildung in dem einen oder anderen Land Diskussionen gibt, die hinsichtlich einer Prioritätensetzung für die Weiterbildung nicht immer im vollen Glanze wünschbarer politischer Gestaltung stehen. Aber dieser Diskussion soll sich jedes Bundesland selbst aussetzen. Die beiden angesprochenen Maßnahmen sollen den Start zu einer Ausweitung der Aktivitäten des Bundes bilden. Wir freuen uns sehr, dass wir im Ausschuss auch weitere Prüfaufträge des Koalitionsantrages beraten können. Dann sollten wir gemeinsam in die Debatte über einige wichtige Fragen eintreten, etwa die Fragen: Was können wir bezüglich der Weiterbildungsforschung tun? Was müssen wir in der Weiterbildungswerbung mit den Ländern und Kommunen zusammen tun? Wie sieht es mit der Qualitätssicherung und der Verzahnung beruflicher und außerberuflicher Weiterbildung aus? Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung machen. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir im Bereich der betrieblichen Weiterbildung, die Kollege Lensing zu Recht angesprochen hat, mit den Tarifpartnern im Bündnis für Arbeit bereits Vereinbarungen über Ziele und Maßnahmen zur Qualifizierung und Weiterentwicklung der beruflichen Weiterbildung getroffen haben. Das kann auch der Union helfen, ihre Position weiter zu bestimmen. Ich habe mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen, dass Versuche zur Beschreibung der Leistungen der früheren Bundesregierung auf diesem Gebiet nicht unternommen worden sind. Schönen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gebe ich dem Kollegen Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland, das nur über wenige ertragreiche Rohstoffe verfügt, kann sich im weltweiten Wettbewerb nur dann behaupten, wenn es den Investitionen in sein Humankapital eine herausragende Bedeutung beimisst. Bildung ist - darüber sind wir uns sicherlich einig - das Megathema der kommenden Jahre. Wenn es heute um einen ganz konkreten Antrag der Regierungsfraktionen zum Thema lebensbegleitendes Lernen und zum Ausbau der Weiterbildung geht, stelle ich etwas Erfreuliches fest, nämlich dass sehr viele Positionen mit denen in unserem Antrag, den wir bereits 1999 zum Thema Ausbildung und Qualifizierung für junge Menschen eingebracht haben, identisch sind. Das möchte ich hier anerkennen und deutlich machen. Denn ich glaube, das Thema ist in höchstem Maße konsensfähig, wenn wir uns der neuen Herausforderung des lebensbegleitenden Lernens stellen, um im neuen Jahrtausend neue Wege zu gehen. ({0}) Damals habe ich in der Debatte sehr deutlich auf die neuen Herausforderungen hingewiesen. Das ist zum Beispiel der technologisch bedingte Strukturwandel in Gesellschaft und Wirtschaft, die bereits stattfindende digitale Revolution im Informations- und Kommunikationszeitalter. Jetzt ist es unsere Aufgabe, die daraus resultierenden neuen Herausforderungen anzunehmen. Insoweit wird es im zuständigen Ausschuss in vielen Punkten eine, so glaube ich, interessante und spannende Beratung geben. Zunächst möchte ich ein paar Anmerkungen machen, die man nicht so sehr semantisch sehen sollte. Es handelt sich eher um systematische Aspekte. Zu dem Arbeitsthema Weiterbildung bzw. lebensbegleitendes Lernen für alle muss ich sagen: Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die Weiterbildung der Bildungssektor ist, auf dem ausschließlich lebensbegleitendes Lernen stattfindet. Ich als Pädagoge sehe das ein wenig anders. Unsere Forderung hat schon immer gelautet: Alle Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, alle Bildungs- und Ausbildungssysteme müssen eine Kultur des lebensbegleitenden Lernens entwickeln. ({1}) Gerade heute in der Wissensgesellschaft geht es nicht darum, immer mehr zu lernen. Es geht vielmehr um die Kompetenz, das Richtige zu lernen. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Ich glaube, dass gerade in diesem Bereich die Weiterbildung und das lebensbegleitende Lernen einen neuen Stellenwert erhalten. ({2}) Unsere Kinder und Jugendlichen müssen also bereits in der Schule an das Lernen in irgendeiner seiner vielen Formen herangeführt und dazu motiviert werden. ({3}) Wenn wir es nicht schaffen, in der Schule zu vermitteln, zu lernen, wie man lernt, ({4}) dann werden wir diese Menschen in späteren Jahren mit noch so vielen Weiterbildungsprogrammen und -einrichtungen nicht mehr motivieren können. ({5}) Ich gehe davon aus, dass in der Bildungspolitik drei neue Zielsetzungen zu sehen sind. Für mich gibt es über das hinaus, worüber wir bisher diskutiert haben, drei Zielsetzungen, die in die jetzigen Diskussionen mit eingeflossen sind: zum Ersten den verantwortungsbewussten Umgang mit den neuen Medien - was man mit den neuen Medien anstellen kann, das haben wir in den letzten Tagen trefflich erlebt -, zum Zweiten eine ausgeprägte Fremdsprachenkompetenz und zum Dritten die Befähigung zum lebensbegleitenden Lernen. Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass bereits die Grundschule diese Bereiche berücksichtigen muss. Neben den klassischen Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen müssen bereits dort die Methoden einer modernen Wissensaneignung eine zentrale Bedeutung erlangen. Ich gehe davon aus, dass damit auch die Fähigkeit zur Eigenverantwortung, die soeben auch vom Herrn Staatssekretär angesprochen wurde, und zur Selbstorganisation des Lernens von Anfang an in den Mittelpunkt gerückt werden muss. Wir haben doch festzustellen, dass sich gerade viele Kinder aus lern- und bildungsfernen Schichten, wie auch Sie, Herr Staatssekretär, das formuliert haben, vor dem Lernen - das zeigen empirische Forschungen - geradezu scheuen. Dies tun sie auch als Erwachsene, weil ihnen die Schule das Lernen als wichtigste Quelle der Erneuerung in allen Lebensbereichen und als Quelle der Lebensbereicherung nicht oder nur unzureichend vermittelt hat. Was dort nicht geleistet wurde, kann man unter Umständen in vielen Fällen später nicht mehr gutmachen. Ein weiterer Aspekt in diesem Kontext ist: Wir sollten uns sehr differenziert mit der Forderung nach lebensbegleitendem Lernen für alle auseinander setzen. Denn wir sollten allen Talenten bzw. allen Begeisterungsmöglichkeiten der Einzelnen gerecht werden. Wir sollten auch nicht Gruppen ausmachen, die dafür vielleicht nicht motivierbar sind. Sie haben in Ihrem Antrag Frauen, Mütter, Väter und Benachteiligte ohne Bildungsabschlüsse erwähnt. Diese haben es sehr schwer, sich in dieser Richtung zu aktivieren. Ich gehe aber davon aus, dass wir den alten Grundsatz beherzigen sollten, die Menschen in ihren individuell ausgeprägten Begabungen, Fähigkeiten und Talenten so zu nehmen, wie sie sind. Dabei dürfen wir nicht irgendwelchen Vorurteilen aus der Vergangenheit aufsitzen. Es kann heute beispielsweise nicht mehr behauptet werden, Frauen würden sich in diesen Bereichen nicht aktiv betätigen. Wir wissen, dass Weiterbildung für die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Frauen heute ebenso ein Thema ist wie für die Älteren. Wir müssen dabei zunächst einmal den Weg für die Kinder ebnen. Gerade die jungen Menschen sollten gezielt gefördert, aber auch angemessen gefordert werden. Das ist eine alte Grundthese unserer Bildungspolitik. ({6}) In diesen Bereichen kann es natürlich nicht nur um die Jugend gehen. Bei dem heute in allen Bereichen und besonders auf dem Arbeitsmarkt festzustellenden Verdrängungswettbewerb wird es auch künftig unter der älteren Generation - das ist bereits von Diskussionsrednern angesprochen worden - immer mehr Menschen geben, die als so genannte Modernisierungsverlierer gelten, weil sie diesem oft gnadenlosen Verdrängungswettbewerb nicht standhalten konnten. Wenn wir heute in Deutschland fast eine Million Arbeitslose über 55 Jahre haben, ist das eine riesengroße gesellschaftspolitische Herausforderung. ({7}) Wir müssen daher dem Bereich der Qualifizierung älterer Arbeitnehmer einen neuen Stellenwert einräumen. Unser Motto, das wir sowohl in unserem Antrag als auch heute Morgen in der Debatte verdeutlicht haben, lautet: Lieber mit 50 weiterqualifizieren als mit 60 in Rente! ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Abschließend einige Anmerkungen zu dem, was wir im Ausschuss diskutieren sollten. Wir sollten uns im Ausschuss mit der Innovation der beruflichen Bildung, den Maßnahmen zum Zusammenspiel des dualen Systems und der Weiterbildung befassen sowie zum Ausbau des dualen Systems bekennen. Wir sollten auch die Frage stellen, inwieweit Zertifizierung und Differenzierung von Abschlüssen künftig neu umgesetzt werden können. Ich darf dabei im Zusammenhang mit der beruflichen Bildung an das DIHT-Satellitenmodell erinnern. Ich glaube, auf dieser Basis kann man weiter diskutieren. Ich gehe davon aus, dass wir Sie von der SPD dafür begeistern können, obwohl wir das schon einige Male im Ausschuss ohne Erfolg versucht haben. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiese, Sie haben die Redezeit weit überzogen. Ich bitte Sie, jetzt wirklich den letzten Satz zu sprechen.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich gehe davon aus, dass wir uns miteinander ohne große Auseinandersetzungen auf den Weg in die bereits vorher erwähnte lernende Gesellschaft begeben sollten, den wir kritisch begleiten. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3127 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wiederspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({0}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Hauptstadtkulturförderung - Drucksache 14/3182 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich darauf hinweisen, dass die Reden zu den beiden noch ausstehenden Tagesordnungspunkten nach einer Vereinbarung zu Protokoll gegeben werden. Ich setze voraus, dass Sie damit einverstanden sind. Ich bitte, bei der Aussprache die vorgegebenen Redezeiten einzuhalten. Es scheint hier ein Wettbewerb zu bestehen, wer die Zeit am meisten überziehen kann. Das bringt nichts. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSUFraktion.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag zur Hauptstadtförderung die parlamentarische Befassung mit einem Thema herbeiführen, die längst überfällig und durch die intensive öffentliche, auch publizistische Diskussion der letzten Wochen natürlich nicht zu ersetzen ist. Es geht bei diesem Thema weder finanziell noch konzeptionell um eine Marginalie der Kulturförderung des Bundes, sondern um einen zentralen Bestandteil. Nicht nur für die Hauptstadt hat dieses Thema vitale Bedeutung, sondern auch für den Bund. Im Kern geht es, unter Berücksichtigung der föderalistischen Strukturen dieses Staates, um das Selbstverständnis des Kulturstaates Deutschland. Wir reden, wenn wir uns nichts vormachen und die eigentlichen Dimensionen dieses Themas in den Blick nehmen, beim Thema Hauptstadtförderung zugleich über das Thema Kulturföderalismus und darüber, was wir uns darunter eigentlich vorstellen. Heinz Wiese ({0}) Von dem neuen Berliner Kultursenator Christoph Stölzl, dem ich auch von dieser Stelle alles Gute für die Übernahme seines Amtes und allen im gemeinsamen Interesse angestrebten Erfolg wünsche, ({1}) stammt aus einem Interview der letzten Tage der wunderschöne Satz: „Die Kulturhoheit der Länder ist im Lande Berlin nur eine sehr unzureichende Beschreibung der Lage.“ Lieber Herr Stölzl, dieser Satz wäre auch dann noch richtig, wenn Sie den ausdrücklichen Bezug auf Berlin gestrichen hätten. Denn die Kulturhoheit der Länder ist nur eine unzureichende Beschreibung unserer Lage, so wie um es vollständig zu sagen - schon der Begriff „Kulturhoheit“ eine unzutreffende Beschreibung des Verhältnisses des Staates zur Förderung von Kunst und Kultur darstellt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ganz offensichtlich nicht nur um Geld, eher geht es auch um eine Menge Geld. Das Volumen der Bundesförderung wird seit Jahren notorisch unterschätzt und mit dem eher kleinlichen Streit um einige Millionen DM mehr oder weniger verniedlicht. Insgesamt stellt der Bund, wenn man die verschiedenen Förderinstrumente zusammen nimmt, was in diesem Zusammenhang natürlich erfolgen muss, mit fast 500 Millionen DM und damit mit knapp einer halben Milliarde DM fast die Hälfte aller in Deutschland verfügbaren Kulturfördermittel des Bundes für die Hauptstadt zur Verfügung. Ich sage dies auch deswegen, weil damit die gelegentliche öffentliche Quengelei aus der Berliner Lokalszene - wie ich finde: hinreichend - widerlegt ist und wir uns auf das konzentrieren sollten, was den Streit wirklich lohnt. Der Bund hat Berlin in der Vergangenheit weder allein noch im Stich gelassen. Er wird dies auch in Zukunft nicht tun. Darüber gab und gibt es zwischen Regierung und Opposition Konsens. Dies war vor dem Regierungswechsel so und ist nach dem Regierungswechsel so geblieben. Ich finde, das ist überhaupt die wichtigste und unverzichtbare Gesprächsbasis innerhalb des Bundestages für die Verhandlungen, die gegenwärtig zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat stattfinden. Nach meinem Verständnis gibt es in diesem Zusammenhang drei grundsätzliche Fragen: Erstens. Warum überhaupt gibt es Hauptstadtkulturförderung? Zweitens. Wofür im Konkreten gibt es sie? Drittens. Wie viel wird dafür aufgebracht? Die Beantwortung der ersten Frage ist, jedenfalls nach unserem Verständnis, nach dem gemeinsamen Verständnis aller Kulturpolitiker der Fraktionen in diesem Haus, die einfachste. Wegen der begrenzten Redezeit und der Ermahnung des Präsidenten, uns an dem Wettbewerb um deren Überschreitung möglichst nicht zu beteiligen, schenke ich mir die Begründung. Wir alle sind davon überzeugt, dass der Kulturstaat Deutschland auch und gerade in der Hauptstadt erkennbar sein muss. Bei der Beantwortung der Frage, wofür diese Hauptstadtförderung stattfindet, müssen wir in aller Ruhe, aber auch sorgfältig darüber nachdenken, welche Adressaten denn geeignet sind und richtiger- und notwendigerweise eine solche Kulturförderung bekommen sollten. Bei der Beantwortung der Frage nach dem „Wie viel?“, also nach der richtigen Dotierung, werden wir uns sofort mindestens darauf verständigen können, dass, gemessen an den begründeten Ansprüchen, immer zu wenig zur Verfügung steht. ({3}) Weil dies aber so ist, will ich auch hinzufügen, dass es durchaus begründete Zweifel daran gibt, ob in der Vergangenheit alle Bundesmittel immer genau da angekommen sind, wo sie Kunst und Kultur in der Hauptstadt fördern sollten. Haushaltsrechtlich wie kulturpolitisch reicht es nicht aus, den Nachweis zu führen, dass die Fördermittel des Bundes in Berlin restlos ausgegeben worden sind. Ein bisschen mehr würden wir nicht nur gerne wissen, sondern vor allen Dingen sichergestellt haben. Wir brauchen Transparenz und Plausibilität, nicht nur im Verhältnis des Bundes zu Berlin, sondern auch im Verhältnis zu den anderen Ländern und zu den kulturpolitisch engagierten Kommunen, die wir in Deutschland Gott sei Dank haben. Für die Union ist eine überzeugende Hauptstadtkulturförderung wie übrigens auch eine Fortführung der Förderung für die Bundesstadt Bonn unverzichtbar. Indem ich das eine wie das andere anspreche, mache ich zugleich deutlich: Für uns kommt eine Reduzierung der Kulturförderung des Bundes auf Hauptstadtförderung selbstverständlich nicht in Betracht. Wir sind uns darüber einig, dass die Kriterien einer solchen Förderung sein müssen: die künstlerische und kulturpolitische Bedeutung und die nationale und internationale Relevanz. Glücklicherweise gibt es nicht nur in Berlin Kultureinrichtungen von nationaler und internationaler Bedeutung. Und nebenbei: Nicht jede Berliner Kulturinstitution hat nationale und internationale Bedeutung. ({4}) Das Selbstbewusstsein der Berliner Intendanten hat zweifellos Weltniveau, der Leistungsstand der von ihnen geführten Opernhäuser und Theater nicht immer. Die Eitelkeit der Betroffenen kann aber nicht Förderkriterium sein. Die letzte Runde der öffentlichen Diskussion, die sich ja auch in vielen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften, die sich erfreulicherweise an dieser Diskussion beteiligen, niedergeschlagen hat, hat bei mir gelegentlich den Eindruck erzeugt, als sei Berlin die Übernahme jeder Einrichtung durch den Bund recht, wenn der Bund nur deren Kosten übernimmt, während umgekehrt der Bund solche Berliner Kultureinrichtungen für besonders geeignet für die Bundesförderung hält, bei denen viel Glanz und wenig Ärger zu erwarten ist. Ich will ganz deutlich sagen: Beides genügt den Ansprüchen an ein überzeugendes Förderkonzept nicht. Eine Spur anspruchsvoller darf es schon sein. Wir, die CDU/CSU, sind aufgeschlossen für die beabsichtigte Änderung der Fördersystematik. Es gibt in der Tat gute Gründe für die institutionelle Förderung anstelle der bisherigen Töpfchenwirtschaft. Dagegen ist die bisher vorliegende Liste dringend diskussionsbedürftig. Ich halte es beispielsweise für ausgeschlossen, dass bei den Berliner Festspielen mit der Nachfolge eines ungewöhnlich verdienstvollen Intendanten, der hoffentlich einen ähnlich überzeugenden Nachfolger findet, alles so bleibt wie bisher und man im Übrigen tut, als habe sich die Geschäftsgrundlage nicht wirklich fundamental verändert. Ich halte es für dringend diskussionsbedürftig, ob es wirklich plausibel ist, dass der Bund in die Förderung des Jüdischen Museums - das als Berliner Stadtmuseum geplant war - institutionell einsteigt, während er für die „Topographie des Terrors“ eine ähnliche Verantwortung ablehnt. Wenn überhaupt, wäre die umgekehrte Entscheidung allemal eher plausibel. ({5}) Aus unserer Sicht ist der Zusammenhang zu wahren bzw. herzustellen zwischen der Dokumentation des jüdischen Lebens in Deutschland und in Berlin, der „Topographie des Terrors“ als der „nationalen Endlösung der Judenfrage“ und dem Holocaust-Museum, also dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas, wobei diese drei Einrichtungen im Übrigen, wie es ein guter Zufall fügt, auch städtebaulich auf einer Achse liegen. Was das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt bzw. die Berliner Philharmoniker angeht, so ist es nicht plausibel, dass sich der Bund massiv direkt und indirekt in die Förderung der Berliner Orchesterszene einschalten will, aber jegliche Verantwortung für Musiktheater wie Sprechtheater kategorisch ablehnt. Da ist das Interesse am Glanz und dem Vermeiden von Risiken offenkundig ausgeprägter als die Konsistenz eines nur schwer erkennbaren Konzeptes. Aus unserer Sicht, meine Damen und Herren, liegen vier Säulen einer Hauptstadtkulturförderung nahe, über die wir in den nächsten Wochen weiter sprechen wollen: erstens - das versteht sich fast von selbst - nationale Gedenkstätten und zweitens die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Letztere ist als Institution Gott sei Dank unstreitig, wenngleich ich ein Nachdenken darüber nicht nur für erlaubt, sondern für überfällig halte, ob nicht eine Neuordnung der Bund-Länder-Beteiligung bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auch eine überzeugendere Dokumentation unseres Verständnisses von nationalem Erbe und der Pflege und Förderung von Kunst und Kultur in Deutschland unter den Bedingungen des Kulturförderalismus sein könnte. ({6}) - Ein großes Thema, Herr Tauss, das uns sicher gemeinsam beschäftigen wird. Wir müssen als dritte Säule solche Solitärinstitutionen fördern, die es in Berlin, aber anderswo nicht gibt und die sich schon deswegen zur Förderung anbieten. Schließlich brauchen wir ganz gewiss einen Hauptstadtkulturfonds, der neben Institutionen herausragende Projekte fördern kann und der anders aussehen muss, als das beim bisherigen Hauptstadtkulturfonds der Fall war. Meine Damen und Herren, wir begleiten die Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Berliner Senat mit kritischer Sympathie. Wir werden allerdings darauf achten, dass am Ende ein Ergebnis erzielt wird, das nicht nur den Haushaltserfordernissen des Jahres 2001, sondern auch den genannten Ansprüchen an eine Hauptstadtkulturförderung, die diesen Namen wirklich verdient, gerecht wird. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat Staatsminister Dr. Michael Naumann das Wort.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist keineswegs gespenstisch, sondern wirklich der Sache geschuldet, dass ich jedes Mal, wenn Herr Lammert spricht, das Gefühl habe, dass er Recht hat. Wir mögen uns über einige Dinge streiten, aber er hat Recht. Wird das aber auch von Ihren Parteifreunden in dieser Stadt gehört? Wir werden es gleich vernehmen. Allerdings ist es kein Parteifreund, der das Wort ergreifen wird, sondern ein unabhängiger, kulturpolitisch engagierter Kopf. Gestern durften Christoph Stölzl, der neue Berliner Kultursenator, und ich dem Kulturausschuss des Deutschen Bundestages unsere verschiedenen Ansichten über die zukünftige Kulturförderung der Hauptstadt Berlin durch den Bund vortragen. Das Ziel der Veranstaltung so durfte ich der Vorausberichterstattung entnehmen - sei es, Harmonie und Einvernehmen, also jene Form des Glücks zwischen Bund und Land herzustellen, die nicht unbedingt das Merkmal der bisherigen öffentlichen kulturpolitischen Diskussion war. Trotz der angestrengten therapeutischen Bemühungen der Vorsitzenden des Kulturausschusses, die allerdings am Ende der Sitzung unter gewisse Redaktionsschlussterminzwänge zu geraten schien - man kennt das aus den Woody-Allen-Filmen, bei denen der Therapeut immer öfter auf die Uhr schaut, während der Patient auf der Couch gerne weiterreden möchte -, ({0}) ließ sich der harmonische Dauerton, der ihr vorgeschwebt haben mag, beim genauen Hinhören nicht vernehmen. ({1}) Was Wunder? Die Fragmente der Berliner Kulturhaushaltspolitik fügen sich nicht automatisch zu einem hübschen Bild zusammen, nur weil man eine Pressekonferenz anberaumt hat. Die Verhältnisse sind anders. Sie sind - so der von mir sehr geschätzte Kollege Stölzl aus bayerisch-liberaler Perspektive - preußischen Ursprungs. Doch wer Preußens Geschichte und die Geschichte seines Herrscherhauses kennt und schätzt, wird neben allerlei aufgeklärtem Absolutismus, großer ethischer, architektonischer, rechtsphilosophischer und ästhetischer Anstrengungen im politischen Raum und ihrer hegelianischen Überhöhungen in der Idee des sich selbst als Vollendung der Geschichte wissenden Staates einige ausgeprägte Spuren von Wahnsinn entdecken. Auch diese Spuren sind nicht völlig getilgt. In Christoph Stölzls Darlegungen war viel von preußischem Erbe und davon die Rede, dass dieses reiche, aber auch teure kulturelle Vermächtnis der Stadt Berlin von nationaler Bedeutung sei. Wer will das bestreiten, Herr Lammert? Doch selbst dann, wenn wir dem Rat der Ausschussvorsitzenden folgend auf eine juristische Definition dessen stoßen sollten, was nationale Bedeutung in der Kultur heißen mag - wir sind also wieder bei Hegel, der übrigens nicht weit von hier seine Vorlesungen hielt und von dem die wenigsten wissen, dass er dabei sehr viel Schnupftabak genoss, der mit etwa 20 Prozent Cannabis versetzt war -, wüssten wir nicht, was diese nationale Bedeutung den deutschen Steuerzahler in den nächsten Jahren kosten darf, geschweige denn in 50 Jahren. ({2}) - Das ist ein Schwabe. Ein in und um Berlin herum, aber sonst nicht bekannter Lokalpolitiker hat kürzlich wieder dargelegt, dass er sich ungern von „Bundesschlaumeiern“ in die unterfinanzierte Kulturpolitik seiner Stadt hineinreden lasse, zumal dann nicht, wenn der Bund - so sagt er - lediglich 100 Millionen DM per annum zur Verfügung stelle. Ich finde, das ist ganz schön viel Geld. ({3}) Einige Berliner Abgeordnete mögen das auch so sehen. Aber - Herr Lammert hat das gerade richtig erklärt - die Fakten sind ganz anders: Der Bund überweist in diesem Jahr 474 Millionen DM in die Haushalte von Berliner Kulturinstitutionen. ({4}) Mit den Worten des erstaunten Herrn Lammert während der Kulturausschusssitzung ausgedrückt heißt das: eine schlappe halbe Milliarde Mark. Das sind übrigens 126 Millionen DM mehr als im Jahr 1998. ({5}) In der Zunahme der Berliner Kulturförderung manifestiert sich auch die kulturpolitische Verantwortung dieser Regierung gegenüber der Hauptstadt. Es wäre angesichts seiner darbenden kulturellen Institutionen nur schön zu beobachten, wenn - bei allen Vorbehalten, die Sie, Herr Lammert, gemacht haben - ein ähnliches zunehmendes finanzielles Verantwortungsgefühl des Berliner Senats zu spüren wäre. Tatsächlich hat Berlin ein großes Erbe aus preußischer Zeit angetreten, dessen Pflege nicht allein dem Land auferlegt werden kann. Der Bund hat dem längst Rechnung getragen. Er finanziert den größten Komplex in der kulturellen Landschaft dieser Stadt, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu 75 Prozent. Wir helfen Berlin bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen auch dadurch, dass wir uns bereit erklärt haben, die in Brüssel zu akquirierenden EFRE-Mittel in Höhe von 25 Millionen DM als genuinen Anteil Berlins an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz anzuerkennen. Das ist etwas, das - da bin ich bei aller haushaltspolitischen Vorsicht ganz sicher - der Vorgänger von Hans Eichel nicht gemacht hätte. ({6}) - Genau, aber gehen wir noch einen Schritt weiter zurück: Da haben wir beide Recht. Auch bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten ist der Bund der größte Geldgeber. Dem muss freilich auch die Bereitschaft Berlins entsprechen, seinen eigenen Verpflichtungen in gemeinsam getragenen Institutionen verlässlich nachzukommen. Es gibt in Berlin aber über diejenigen Preußens hinaus noch weitere Erbschaften, vor allem diejenigen, die uns die DDR hinterlassen hat. Vor zehn Jahren sind hier zwei Hauptstädte verschmolzen. Einen Masterplan über die zukünftige finanzielle Ausstattung, eine Art kulturpolitische Architektur, in der haushaltspolitische Stabilität, programmatische Abstimmungen oder gar institutionelle Verschmelzungen zum planerischen Vorteil aller Beteiligten vorgelegt worden wären, hat es nicht gegeben. Den gab und gibt es nicht. Die Vorgängerin von Christoph Stölzl, Frau Christa Thoben, warf einen kurzen Blick in die Kulturverwaltung oder besser: in die Abgründe der Kulturverwaltung - dieser Hauptstadt und wandte sich mit Grausen ab. Christoph Stölzl hat die Rolle des Sisyphus übernommen. Und doch sollen wir uns vorstellen, dass er ein glücklicher Mensch sei. Im nächsten Haushaltsjahr fehlen ihm 29 Millionen DM. Das steht fest. Dass in der Zwischenzeit die Verhandlungen des Bundes mit der Stadt Berlin ein wenig ins Stocken geraten sind, wird er uns nicht anlasten wollen. Der Stein, den er nach oben wuchten sollte, ist nach Frau Thobens Abgang und nicht durch unser Verschulden - wieder in die Talsohle der Berliner Haushaltspolitik zurückgerollt. Packen wir es also noch einmal an. ({7}) Meinen Vorschlag, eine noch genau zu verabredende Zahl von Berliner Institutionen vollständig in Bundesfinanzierung zu übernehmen, möchte ich so verstanden wissen: Wir sind bereit, die Hauptlast der Finanzierung dieser Institutionen zu tragen, eben weil wir ihre überregionale Bedeutung anerkennen, so zum Beispiel das Jüdische Museum, das geplant und gebaut wurde, an dessen Betriebskosten man aber einfach nicht gedacht hat - man hat übrigens dieses riesige Haus unter der Bedingung gebaut, dass 300 Menschen pro Tag kämen, also die Klimaanlage und übrigens auch die sanitären Anlagen vergessen, was zu Nachbesserungskosten mal eben in Höhe von 9 Millionen DM führte -, die Festspiele, den Gropiusbau, das Haus der Kulturen der Welt. Auch das Berliner Philharmonische Orchester, ein besonderer Glanzpunkt der Hauptstadtkultur, aber mit einem jährlichen Zuschussbedarf in Höhe von 24 Millionen DM auch ein besonders teurer Glanzpunkt, könnte unter bundesfinanzierter Obhut weiter musizieren. Dem Orchestervorstand und dem designierten Dirigenten Sir Simon Rattle wäre das nur recht. Ebenso wenig wie die Landesregierung würde sich der Bund anmaßen, den Künstlern die Noten aufs Pult zu legen. Art. 5 des Grundgesetzes gilt unabhängig von Haushalts- und Kulturhoheitsfragen. Um Christoph Stölzl zu zitieren: „Das Orchester musiziert ja weiter in Berlin“ - wie auch die Museumsinsel im Herzen dieser Stadt erneuert wird und die Festspiele, um die es auch geht, die Berliner Festspiele bleiben werden. Der Bund ist bereit, die Hauptstadt bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen repräsentativen Pflichten zu unterstützen. Aber was in der Kultur repräsentativ ist, bestimmen in letzter Instanz nicht die Haushaltspolitiker, sondern die Autoren und Künstler, die Komponisten und Regisseure, die Intendanten. ({8}) In ihrer Arbeit spiegelt sich nicht nur die Selbstinterpretation unserer Gesellschaft wider, ihre Fantasie, auch ihr Trostbedarf, ihre Innovationskraft, sondern auch die Aufforderung zur Toleranz. Sie benötigt ein politisches Klima der Zuneigung, nicht ein Klima der verbissen geleisteten Subventionen. Politiker haben in Berlins Theatern, obwohl man das manchmal zu glauben scheint, kein Hausverbot, selbst wenn sie wie der Regierende Bürgermeister der Meinung sind, man müsse endlich damit aufhören, „abgetanzte und abgelatschte Künstler durchzufüttern“. ({9}) Derlei Sprache aus dem Bauch der Kulturfeindlichkeit richtet sich selbst. ({10}) Berlins größte Schätze sind die Museen, die Universitäten, der freie Geist der Forschung und der Künste. Sie, nicht die Politik als solche, sind das Signum einer Hauptstadt. Sie bedürfen der kontinuierlichen Pflege aller, die sich für das politische Klima des Landes verantwortlich fühlen. Sich dabei einerseits auf den Bund zu verlassen und andererseits gleichzeitig mit dem Lokalpatriotismus von Kuhschnappel allerlei parteipolitische Büffelpossen aufzuführen, verträgt sich nicht mit dem Auftrag, Bundeshauptstadt zu sein. ({11}) Kürzlich ist hier in Berlin eine Finanzsenatorin ausgeschieden, die sich der Politik der kontinuierlichen haushaltspolitischen Schildastreiche widersetzt hatte. Als sie ihren ersten Sanierungsplan vorlegte, fuhr ihr ein hierzulande, aber sonst nicht weiter bekannter Politiker in die Parade. Ich zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ - nicht widerlegt -: Was soll der ganze Unsinn, was sollen wir hier mühsam konsolidieren? Wenn die Arbeitslosen erst auf den Stufen des Reichstages liegen, wird der Bund uns die Milliarden schon rüberkippen. So ging das zu in Berlin. Aber so geht es nicht weiter. Wenn rechtzeitig Geld in die maroden Theaterbauten im Ostteil der Stadt investiert worden wäre, dann sähe die Situation heute anders aus. Ich wiederhole: Ein strukturerhaltendes Konzept für die Kultur hätte Berlin bereits in den glücklichen Stunden der Wiedervereinigung vor einem Jahrzehnt gut getan. Und das betrifft beide Parteien, die hier regieren. Nun stehen wir vor den bröckelnden Fassaden und der veralteten Bühnentechnik und nur noch Notmaßnahmen können so manches kulturelle Erbstück vor dem endgültigen Verfall retten. Das Einzige, was in Berlin immer noch wie geschmiert funktioniert, sind die Drehbühnen der Berliner classe politique. Der Antrag der CDU/CSU wird in die Ausschüsse überwiesen werden. Zum Teil haben wir die dort aufgeführten Forderungen erfüllt, ich habe es eben erläutert. Über anderes kann man sehr gut streiten. Wir sind hier nicht auf der Titanic. Die Berliner Kultur wird nicht untergehen, aber - um im Bilde zu bleiben wir können auch keine Kollisionen mit Eisbergen gebrauchen, deren Tücke, wie man weiß, darin besteht, dass sie zu sechs Siebteln unter der Wasseroberfläche verborgen sind. Christoph Stölzl, so höre ich, nimmt die Akten seiner Behörde mit ins Bett, wo sie ihm den Schlaf rauben. Dass er gleichwohl immer noch der aufgeweckte, offene Kulturpolitiker bleibt, als der er auch mir bekannt und von mir geschätzt ist, bleibt meine ehrliche Hoffnung. Ich wünsche ihm die Autonomie, die ein Kennzeichen des kritischen Geistes ist. Parteipolitische Solidarität in der Auseinandersetzung mit den Herren des Berliner Haushalts ist ein Tugend, aber sie greift erst dann, wenn er selbst die Solidarität jener erfahren hat, die ihn berufen haben. In der Zwischenzeit will ich gerne mit ihm die Sorge tragen und teilen, dass Berlins Kultur in geistiger und finanzieller Unabhängigkeit das leisten kann, was ihre Aufgabe ist: Ausgänge zu öffnen aus der öden Welt des Alltags und auch aus der öden Welt der Finanzierungsdebatten in die Welt der Künste, die immer noch der Ursprung von gesellschaftlichem Glück sein kann, wenn man es nur suchen will. Aber ich möchte mir Christoph Stölzl weiterhin als glücklichen Menschen vorstellen, wenn auch als Sisyphus. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat Kollegin Franziska EichstädtBohlig vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lammert, Ihr Antrag ist mir und, ich glaube, auch anderen Kolleginnen und Kollegen sehr sympathisch. Ich empfinde ihn in gewissem Sinne als eine Art Lobantrag für unsere Koalition und insbesondere für Staatsminister Naumann. ({0}) Ich möchte Ihnen drei Aspekte nennen, wo mir der Antrag besonders nahe ist. Der erste Aspekt ist: Der Antrag stellt dar, was Rot-Grün Schritt für Schritt inhaltlich und konzeptionell längst erarbeitet. Wir haben es eben gehört. Der zweite Aspekt - und das ist sehr wichtig - ist: Kultur braucht ein besonders hohes Maß an politischem Konsens. Ihr Antrag zeigt, dass in unserem Hause die Bereitschaft dazu besteht. Das finde ich sehr gut. Ich habe den Eindruck, dass Koalition und Opposition auf Bundesebene hinsichtlich der Politikkultur, die gerade für die Kulturförderung notwendig ist, deutlich weiter sind als in der Beziehung zwischen Bund und Berlin. Wir haben es eben schon von mehreren Seiten gehört. Ich kann das nur bestätigen. Hier hapert es insbesondere von Berliner Seite mächtig. Der dritte Aspekt ist: Es ist wichtig, dass wir uns auf ein gemeinsames Leitbild verständigen. Ich habe Ihren Antrag und all das, was Minister Naumann bisher getan und gesagt hat, so verstanden, dass wir gemeinsam das Ziel haben, Berlin als neu belebte Hauptstadt mit einer besonderen kulturellen Ausstrahlung zu erhalten, zu gewinnen und weiterzuentwickeln. Das ist eine Aufgabe, die über das bisherige Denken in der föderalen Kulturhoheit ein deutliches Stück hinausgeht. Offenbar sind aber alle bereit, diese Besonderheit positiv zu transportieren. Das ist sehr wichtig. Ich möchte noch einen vierten Punkt erwähnen, weil er sonst heute nicht erwähnt wird. Ich finde das, was Sie als Hinweis in Richtung Engagement für Bonn gesagt haben, richtig und wichtig. Ich möchte nicht, dass es in Berlin so ist, wie es in Bonn teilweise war. Man denkt immer, der andere Ort ist so unendlich weit weg, sodass man sich darüber keine Gedanken mehr machen müsste. Das sollten wir nicht vergessen. Es ist schon gesagt worden, wie reichhaltig das Berliner Kulturangebot ist. Ich möchte noch einmal einige Stichpunkte, die gleichzeitig politische Stichpunkte sind, nennen: Der preußische Kulturbesitz, das reiche Erbe der beiden konkurrierenden Teile Berlins - Hauptstadt der DDR auf der einen Seite und Schaufenster des Westens auf der anderen Seite -, die besonderen Gedenkstätten, mit denen wir die Erinnerung an den Faschismus wach halten wollen, und die Mahnung an die Verantwortung, die daraus für uns und folgende Generationen folgt, dann die Orte und Gedenkstätten, die diese Stadt als Vorposten des Stalinismus und des real existierenden Sozialismus geerbt hat - wir müssen darüber sehr ernst nachdenken, wie sie in der Pflege stabilisiert werden können - und last, not least - zunächst alles sehr widersprüchlich und unvermittelt nebeneinander stehend - der vielfältige, kreative Gärteich, der als Nahtstelle zwischen Ost und West teils vor der Wende, aber auch nach der Wende recht üppig gediehen ist, von dem wir alle kulturell zehren, auch die klassische Kultur der berühmten Leuchttürme. ({1}) Mein Eindruck ist, dass das Land Berlin politisch noch nicht begriffen hat, dass es mit der Hauptstadtwerdung eine Doppelfunktion übernommen hat, dass Berlin einerseits als Stadt, aber in Zukunft gleichzeitig als Hauptstadt auch der gesamten Nation verpflichtet ist. Diese Doppelfunktion wird bisher von Berliner Seite mit einem verklemmten Misstrauen behandelt, während es sehr wichtig ist, dass sie konstruktiv und partnerschaftlich definiert wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das bisherige Spiel „Gebt uns Geld und mischt euch nicht ein“ endlich durch eine partnerschaftliche Zusammenarbeit beendet wird. ({2}) Ich glaube, dass von allen Seiten des Bundestages, aber auch vonseiten der Regierung das Angebot zu einem konstruktiven Dialog besteht. Ich muss aber sagen: Bevor wir das stabilisieren können, muss man das Land Berlin deutlich kritisieren. Meiner Meinung nach ist Berlin bisher schlicht nicht hauptstadtfähig, weil es nicht bereit ist, auf diese Doppelfunktion, die ich versucht habe zu skizzieren sie soll letztlich zur Symbiose werden, wenn wir das Beispiel anderer Hauptstädte und Metropolen nehmen - positiv zuzugehen. Ich muss mich schon wundern, wie stümperhaft und mit welcher Ignoranz die Regierung des Landes Berlin nicht nur zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode, sondern auch in den letzten fünf Jahren gearbeitet hat. Solange wie ich Mitglied des Bundestags bin und miterlebe, wie in Berlin Politik gemacht wird, so lange benehmen sich der Regierende Bürgermeister und sein damaliger Kultursenator politisch wie ein Elefant im Porzellanladen, insbesondere im Kulturbereich - das finde ich skandalös -, leider mit Duldung des Koalitionspartners. Ich halte es für ein zentrales Problem, wenn der Regierende Bürgermeister der Metropole Berlin die Übernahme von persönlicher Verantwortung für politisch bedeutsame Gedenkstätten verweigert und sich dieses „Heldenmuts“ nicht nur an Zehlendorfer Stammtischen rühmt. Es darf nicht sein, dass in dieser Stadt auf diese Art und Weise ein wichtiger Teil unserer politischen und kulturellen Geschichte und unseres kulturellen Gedenkens an diese Geschichte ignoriert werden. Ich möchte noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Die längst überfälligen Reformen in den großen Häusern, um die es bei der Debatte über die Übernahme von Bundesverantwortung geht, sind seit Jahren verschleppt und verweigert worden. Last, not least: Dem Bund gegenüber tritt man - ich muss sagen: trat man; jetzt hat sich das schrittweise geändert; ich hoffe, dass sich das Verhalten noch weiter ändern wird - bisher nach Gutsherrenart auf, und zwar nach dem Motto - ich habe es vorhin schon erwähnt -: Rückt mehr Geld heraus, aber mischt euch nicht ein; es geht euch nichts an, was wir hier machen! Ich halte es auch für einen Skandal, dass eine Abrechnung der bisher gewährten Kulturfördermittel nicht vorgelegt werden kann, weil ein heilloses Kuddelmuddel herrscht. So darf es wirklich nicht sein. Frau Thoben - Herr Minister Naumann hat vorhin schon darauf hingewiesen - stand sozusagen zwischen Baum und Borke. Sie sollte auf der einen Seite die Kohlen aus dem Feuer holen, aber auf der anderen Seite gleichzeitig gewährleisten, dass sich nichts Grundlegendes in Berlin ändert. Ich möchte von dieser Stelle aus Christa Thoben meine Hochachtung und meine volle Sympathie dafür aussprechen, dass sie nicht bereit war, das gewünschte Durchlavieren und Vertuschen mitzutragen, sondern dass sie stattdessen der persönlichen Glaubwürdigkeit den Vorrang gegeben hat. Ich finde, dies war ein sehr honoriger Schritt von Christa Thoben. ({3}) Ich wünsche Ihnen, Herr Stölzl, dass Sie den Weg und die Kraft finden werden, um die unabdingbar notwendigen und sicherlich auch schmerzhaften Reformschritte ich weiß nicht, ob ich sagen soll: mit, ohne oder gegen die Regierung des Landes Berlin, der Sie nun angehören wenigstens teilweise einzuleiten. Wie das praktisch möglich sein soll, weiß ich selber noch nicht. Ich wünsche Ihnen vor allem, dass es Ihnen gelingen wird, die misstrauische Verklemmtheit, die bisher Berlin dem Bund gegenüber immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, insbesondere auch in der berühmten Sondersitzung, in der es um den Rücktritt von Christa Thoben ging, schrittweise abzubauen. Die Mitglieder des Bundestages sind sicherlich bereit, mit Ihnen insoweit zusammenzuarbeiten. ({4}) Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu unserer Kulturförderung sagen - ich sehe es ähnlich wie Herr Lammert -: Auch ich halte die Grundkonzeption für gut, 80 Millionen DM für eine Art - ich verwende dieses Bild ebenfalls - Leuchtturmförderung mit klaren Zuständigkeiten und 20 Millionen DM - davon verspreche ich mir sehr viel; ich hoffe, dass ab 2001 auch wirklich 20 Millionen DM zur Verfügung stehen werden - für den Hauptstadtkulturfonds, für innovative und kreative Projekte aufzuwenden. Das ist im Grundsatz eine sehr gute Einteilung. Ich wünsche mir allerdings eine nochmalige Diskussion über die einzelnen Institutionen. Ich muss gestehen, dass ich selber teilweise hin- und hergerissen bin. Auf der einen Seite finde ich es sehr gut, wenn das Jüdische Museum in die bundespolitische Kompetenz fällt, obwohl ich sehr genau weiß - ich war seinerzeit Baudezernentin in Kreuzberg und habe das Projekt selbst mit auf den Weg gebracht -, dass dieses Museum eigentlich als eine Dependance des Berliner Stadtmuseums, also ursprünglich als eine Art Heimatmuseum kreiert war. Ich gestehe: Ich habe selbst dazu beigetragen, dass Berlin dieses Kuckucksei ins Nest gelegt worden ist. Dazu stehe ich auch bis heute. Insofern wünsche ich mir, dass es jetzt durchaus eine Bundesinstitution wird. Auf der anderen Seite geht es mir mit der „Topographie des Terrors“ so ähnlich wie Ihnen. Ich glaube, dass das der zentrale politische Ort ist, der letztlich über Berlin hinausgehende gesamtdeutsche Verantwortung repräsentiert. Ich halte es für falsch, zwei Konzerthäuser und damit zwei Orchester zu übernehmen. In diesem Punkt muss in jedem Fall eine Entscheidung in die eine oder in die andere Richtung getroffen werden. Ich will mich im Einzelnen nicht festlegen; das steht mir auch nicht zu. Ich wünsche mir schon ein echtes Theater - eigentlich kann es nur das Deutsche Theater sein - in dem Paket, für das der Bund Verantwortung übernimmt. Wahrscheinlich geht es allen so: Die Diskussion beinhaltet ein Stück Spaltung zwischen dem, was man sich wünscht, und dem, was letztlich realisiert werden kann. Last, not least ist es natürlich schon nötig, die Zuständigkeiten so zu definieren, dass zwischen Berlin und dem Bund auf der Grundlage klarer Vereinbarungen wirklich agiert werden kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, ich komme zum Schluss. Als Letztes möchte ich nur noch sagen, dass wir an Berlin sehr klare Anforderungen stellen - ich hoffe, dass uns das allen gemeinsam so geht -: partnerschaftliches Zugehen auf den Bund, klare Vereinbarungen über Zuständigkeiten, Schluss mit der Gießkannenförderung, klare Reformen und Kosteneinsparungen, klare Mitverantwortung bei den Gedenkstätten. So wird von dieser Seite Schritt für Schritt ein inhaltlich sinnvolles Konzept über kurz oder lang vereinbart werden können. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahl und die Qualität der hier vorhandenen Kulturgüter sowie die Fülle der kulturellen Ereignisse in Berlin stellen die Stadt ohne jeden Zweifel in die erste Reihe der Kulturmetropolen in dieser Welt. Da das so ist, sind die Themen Kulturförderung und Kulturarbeit in der Tat nicht nur ein regionales Ereignis, sondern auch etwas, womit wir uns zu befassen haben. Bevor ich etwas mehr dazu sage, möchte ich eine Bemerkung zur Qualität der Kulturlandschaft in Berlin machen. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, die gegenwärtige Schwächephase der Berliner Kultur, die schon Jahre andauert, in irgendeiner Weise zu kaschieren. Ich schließe mich aber nicht dem gängigen und auch hier immer wieder durchscheinenden Klischee an, dass die Berliner ihre Kulturarbeit in den letzten 40 oder 50 Jahren so schlecht gemacht haben - im Gegenteil. Dass das nicht wahr ist, gilt aus meiner Sicht sogar für den Ostteil der Stadt. Unter schwierigen und komplizierten Umständen sind dort ganz erhebliche und bleibende Kulturleistungen erbracht worden. Was uns überliefert worden ist, ist allerdings eine total verrottete Substanz vieler Einrichtungen, insbesondere der Museen. Diese Mängel zu beheben kostet enorm viel Geld. Ich glaube, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz bei der Zusammenführung der beiden Teile der Stiftung und auch bei der Arbeit an der äußeren Rekonstruktion Hervorragendes geleistet hat. Ich glaube auch, dass im Westteil der Stadt nach dem Kriege alles in allem - das hat nichts mit der gegenwärtigen Schwächephase zu tun - hervorragende Kulturarbeit im Theater, in der Musik, in der darstellenden Kunst - geleistet worden ist. Dasselbe gilt für die Museen in der OffSzene, die es eigentlich nur in wenigen Städten und an erster Stelle immer in Berlin gegeben hat. Dort ist eine lebendige Landschaft mit Ausstrahlung entstanden. Dies ist im Ostteil und im Westteil natürlich mit viel Geld geschehen; das ist auch heute noch so. Insgesamt kann sich diese Stadt und dieses Land Berlin mit seiner Kulturarbeit sehen lassen. Mit der Wiedervereinigung sind in Berlin enorme Probleme entstanden. Es handelt sich um Probleme in Bereichen, die die Masse der Menschen unmittelbar angehen: der Arbeitsmarkt, der Sozialbereich, die Infrastruktur der Berliner Haushalte. Ich habe auf diesem Gebiet Erfahrung; ich selbst war im früheren Westberlin vier Jahre lang politisch verantwortlich. Der Haushalt war überlastet und es war in vielen Bereichen, auch in der Kultur, nicht mehr alles Wünschenswerte finanzierbar. Das hat krisenhafte Entwicklungen mit sich gebracht, auch in der Qualität der Kulturarbeit. Hier ist Kritik am Berliner Senat angebracht und es ist die Frage zu stellen, warum viele Berliner Kultureinrichtungen enorme Personalkörper mit sich herumschleppen, Entlassungen gar nicht möglich waren, obwohl keine Arbeit mehr da war. „Betriebsbedingte Kündigungen“ sind hier ein Stichwort, bei dem alles aufschreit. Dabei sind sie in einer ganzen Reihe von Einrichtungen, die ich Ihnen auch nennen könnte, dringend erforderlich. Der Berliner Senat muss sich auch gefallen lassen, dass man ihm die Frage stellt, ob das Geld, das er da ausgibt, sein eigenes und das, das er bekommt - 470 Millionen DM vom Bund -, auch wirklich dort angekommen ist, wo es ankommen sollte. Da ist vieles in keiner guten Verfassung. Aber, meine Damen und Herren, ich würde es mir zu einfach machen, wenn ich fordern würde, dass der Bund ob der tatsächlichen oder mutmaßlichen Schwächen in der Berliner Kultur den Hahn einfach zumacht oder die Förderung auf Sparflamme stellt. Ich glaube, das wäre nicht richtig. Die Neuordnung des Kulturbetriebes mit der Wiedervereinigung und die Tatsache, dass Bundesregierung, Parlament und Bundesrat hier ansässig sind, bietet ungeahnte Möglichkeiten. Wir sollten Berlin nutzen, um den Anspruch Deutschlands als Kulturnation in aller Welt zu vertreten. Wir sollten da im Übrigen nicht zimperlich sein. Das hat überhaupt nichts mit Nationalismus oder gar Chauvinismus zu tun und das hat auch gar nichts damit zu tun, dass wir - Herr Naumann und Herr Lammert, Sie haben darüber gesprochen - die Kulturhoheit der Länder infrage stellen. Wir sollten froh sein, dass wir eine solche Kulturmetropole in einem Land haben, in dem es Gott sei Dank eine breit gefächerte Kultur in allen Regionen gibt. Wir sollten diese Möglichkeiten nutzen. Berlin gibt 760 Millionen DM aus, der Bund zahlt davon allerdings 300 Millionen DM an die Stiftung, und dann gibt es noch einmal 470 Millionen DM. Das ist ein Betrag für einen öffentlich finanzierten Kulturhaushalt, wie wir ihn in keiner anderen Stadt dieser Welt finden. In keiner Stadt dieser Welt wird so viel öffentliches Geld zur Verfügung gestellt. Dennoch sage ich: Dieser Betrag darf trotz seiner enormen Dimension für uns kein Tabu sein. Aber dieser Betrag kann auch nicht einfach aufgestockt werden, sondern es muss ein Konzept vorgelegt werden und dann müssen wir darüber reden. Ich habe viel Verständnis dafür und unterstütze es, wenn gesagt wird, wir müssten einige Einrichtungen unmittelbar dem Bund zuordnen. Ich glaube nicht, dass wir das hier im Detail diskutieren können. Die nationalen Gedenkstätten sind unstrittig. Es gehören mindestens ein Sprechtheater, eine Oper und auch mindestens ein Orchester dazu. Wenn ich das sage, meine ich nicht, dass Berlin, was Kulturarbeit und Kulturverantwortlichkeit betrifft, auf provinzielles oder regionales Niveau zurückgeführt werden soll. Nein, auch Spitzeneinrichtungen müssen in der Verantwortung vornehmlich Berlins sein. Aber, Herr Stölzl, Berlin hat auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Kulturarbeit in der Breite funktioniert, dass die OffSzene erhalten bleibt und auch Kiezarbeit stattfindet, dass in der bildenden Kunst etwas nachwächst, junge Leute da sind. Berlin hat ferner dafür zu sorgen, dass die Ausbildungseinrichtungen, die es hier in Fülle gibt und die hohe Qualität haben, ihr hohes Niveau noch weiter verbessern können. Meine Damen und Herren, als Letztes - der Herr Präsident mahnt schon - möchte ich mir noch eines wünschen: Das ist die Tatsache - wir reden hier über Kultur und Kulturförderung -, dass wir ein stärkeres privates Engagement in der Hauptstadt brauchen. Dafür müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu bedarf es einer bestimmten Atmosphäre. Das betrifft auch das Stiftungsrecht. Daran arbeiten wir ja, nicht nur Sie. Das hat gar nichts mit Parteipolitik zu tun. Es kommt darauf an, dass das private Engagement verstärkt wird. Das steht nicht in Ihrer Tradition, es steht vielleicht gar nicht so sehr in deutscher Tradition. Es ist dennoch dringend erforderlich. ({0}) Nein, die deutsche Tradition ist darauf orientiert, dass sich der Landesherr, der Fürst, der regional Verantwortliche, für die Kultur verantwortlich fühlte. Das ist in staatliche Verantwortlichkeit eingemündet. Da tun uns Formen amerikanischer bzw. angelsächsischer Kulturarbeit und -verantwortlichkeit sehr wohl. Das hat nichts mit Kapitalismus und mit Knechtschaft des Kapitals zu tun, sondern damit, dass wir die breiten Ressourcen, die wir haben, für Kultur, Kulturförderung und Kulturengagement nutzen müssen. Das gilt gerade für Berlin. Diesen letzten Aspekt halte ich für enorm wichtig. Danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die PDS-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heinrich Fink das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist Bedeutendes hier gesagt worden. Ich bin ganz besonders dankbar für die Rede von Herrn Staatsminister Naumann. Ich kann sehr vieles davon unterstreichen und habe auch sehr vieles davon in Berlin erlebt. Ich möchte nur kurz unsere Position zusammenfassen: Einer zielgerichteten Diskussion über die Hauptstadtkulturförderung des Bundes fehlt meiner Meinung nach eine entscheidende Grundlage, nämlich eine auf demokratischem Wege entstandene Grundkonzeption für die Entwicklung der Berliner Kultur in ihrer ganzen Vielfalt. Erst auf einer solchen Grundlage ließen sich die Institutionen, Projekte und die Modalitäten ihrer Förderung durch den Bund sinnvoll festlegen. Deshalb ist, langfristig gesehen, die Forderung nach einem solchen Gesamtkonzept auch die Kernforderung der PDS in dieser Debatte. ({0}) Der vorliegende Antrag der CDU/CSU verzichtet leider ebenfalls auf eine solche Grundlage. Angesichts der gegebenen Umstände unterstütze ich aber eine Reihe von Forderungen, die ich als kurzfristigen Handlungsauftrag an die Bundesregierung verstehe. Dabei bin ich mir darüber im Klaren, dass die Antragsteller von der Bundesregierung teilweise andere Auskünfte erwarten als wir, zum Beispiel bezüglich der Planungen für das Schloss. Hier erwarten wir zuallererst ein schlüssiges und detailliertes Nutzungskonzept für die gesamte Spree-Insel, bevor man über Gebäude und konkrete architektonische Planungen redet. ({1}) Im Ausschuss für Kultur und Medien besteht über Parteiengrenzen hinweg Konsens darüber, dass der Bund nach der demokratischen Entscheidung für die Hauptstadt Berlin in der Pflicht steht, sich an der Finanzierung der Berliner Kultur von gesamtstaatlicher und hauptstädtischer Bedeutung angemessen zu beteiligen. Die Stadt Berlin allein wäre auch mit der Bewahrung und Weiterentwicklung der vielgestaltigen Kultur überfordert. Die PDS würdigt durchaus das bisherige finanzielle Engagement des Bundes in der Hauptstadt Berlin, ist aber der Auffassung, dass dieses noch nicht ausreicht und in keinem begründbaren Verhältnis zur Kulturförderung steht, die die Stadt Bonn bis heute erhält. Angesichts der gegenwärtigen komplizierten Situation in Berlin muss in neuer Weise überdacht werden, welche Wege der Kooperation zwischen Bund, Land Berlin und den anderen Ländern zu beschreiten sind. Dazu ist ein konzeptioneller Vorlauf notwendig. Die gestrige Beratung des Ausschusses möchte ich als hoffnungsvollen Beginn eines konstruktiven Dialogs in Sachen Kulturförderung in Berlin werten. Welche konkreten Institutionen und Projekte gefördert werden, bedarf der Abstimmung und Beteiligung aller. Ich möchte hier deutlich machen, dass es eine noch bessere Absprache mit den jeweiligen Stadtbezirken geben muss. Ich möchte nun auf die Kriterien hinweisen, die nach bisherigem Stand der Diskussion in der PDS der künftigen Förderung zugrunde gelegt werden sollten. Nach unserer Auffassung sind Kulturaufgaben von gesamtstaatlicher Bedeutung jene, die sich aus der deutschen Geschichte ergeben: aus der Trägerschaft für das Erbe Preußens, aus den Folgen der faschistischen Diktatur und des Weltkriegs, aus der deutschen Spaltung und der Vereinigung Deutschlands. Die sich daraus ergebenden Verpflichtungen sind ja im Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR und in internationalen Abkommen festgeschrieben. ({2}) Das gilt auch für die Verpflichtung zum Erhalt der kulturellen Substanz im Ostteil der Stadt. Ich möchte auch sehr dankbar darauf hinweisen, dass im Ostteil der Stadt bisher kein bedeutendes Theater geschlossen wurde. Demnach hat der Bund besondere Verantwortung für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Museumsinsel, für die Stätten des Mahnens und Gedenkens an die Opfer des Faschismus, für die Gedenkstätten, Archive und Dokumentationszentren aus der DDR-Zeit sowie für die sowjetischen Ehrenmale. In Bezug auf die sowjetischen Ehrenmale gehen die Meinungen von Land und Bund bis heute auseinander. Der Bund hat aber im Zweiplus-Vier-Vertrag die Verpflichtung dafür übernommen. Für unbedingt notwendig halten wir deshalb die Fortsetzung der Förderung im Rahmen des sogenannten Hauptstadtkulturfonds. Die Vergabe seiner Mittel sollte auch weiterhin durch ein unabhängiges Fachgremium für die Förderung des kulturellen und künstlerischen Dialogs in Berlin für besonders innovative Projekte und Experimentelles reserviert sein. Sie stimmen mir doch bestimmt zu, dass die kulturelle Vielfalt in Berlin ({3}) einmalig ist und daher wegen ihrer ganz besonderen Art, gerade hinsichtlich ihrer Breite und - Herr Rexrodt, Sie haben darauf hingewiesen - hinsichtlich der den meisten nicht bekannten Off-Szene, besonders zu fördern ist. Es ist schwierig zu unterscheiden: Was ist Hochkultur und was ist nicht Hochkultur? Ich lehne diesen Begriff sowieso ab. Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie gut und dass sie schön ist. Dazu gehört in Berlin die breite Szene, die sich den meisten bisher nicht erschließt,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- nämlich die Szene, die in den Hackeschen Höfen stattfindet und die auch zu fördern wäre. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen Eckhardt Barthel von der SPD-Fraktion.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einige Beiträge haben mich veranlasst, meine Schwerpunktsetzung ein bisschen zu verändern. Es gab bei einigen Beiträgen - das sage ich jetzt als Berliner Abgeordneter - für meine Begriffe ein bisschen viel Kritik. Außerdem wurde nur ein Teil der Berliner Wirklichkeit betrachtet. Herr Staatsminister, ich habe heute eine Überschrift in der „Berliner Morgenpost“ gelesen, die etwa lautete: Dieses Thema geht mir langsam auf die Nerven. - Ich fand es toll, wie Sie in Ihrer Rede ihre Gefühlswelt beschrieben haben. Die Überschrift ist angesichts dessen, was Sie gesagt haben, zu verstehen. Ich will aber nicht behaupten, dass etwas Falsches in Ihrer Rede enthalten war. Ich möchte nur ergänzend hinzufügen - das scheint mir notwendig zu sein -, dass es noch eine andere Berliner Szene gibt, und zwar die Szene, die wegen oder trotz der Kulturpolitik in Berlin vorhanden ist. In diesem Zusammenhang sollte man einmal zwei Beispiele erwähnen: Die Berliner Theater boomen. Wenn ein Theater weniger als 90 Prozent ausgelastet ist, dann spricht man inzwischen schon von einer geringen Auslastung. Die Museen haben nicht zuletzt durch den Tourismus, auch durch den Kulturtourismus, einen Millionenzuwachs an Besuchern. Das ist ein gutes Zeichen. Mir liegt daran - ich werde mich noch sehr kritisch mit der Berliner Kulturpolitik beschäftigen -, dass man auch die andere Seite der Kultur in Berlin betrachtet. ({0}) Herr Lammert, was ist eigentlich falsch an Ihrem Antrag? ({1}) Die zweite Frage ist: Wozu brauchen wir ihn? Sie beschreiben in diesem Antrag das, was der Staatsminister tut. ({2}) Jetzt ist die Frage für mich: Wie interpretiere ich Ihren Antrag? Ich interpretiere ihn so, dass ich sage: Ich sehe darin eine Unterstützung für unsere Kulturpolitik. ({3}) Das brauchen wir. Ich finde das sehr gut. ({4}) Es ist schön, wenn Sie das unterstützen, vor allen Dingen weil sich diese Kulturpolitik ja auch dadurch auszeichnet im Unterschied zu der vorhergehenden -, dass mehr Engagement und auch mehr Mittel für die Hauptstadtkultur damit verbunden sind. Insofern freue ich mich. ({5}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Anfang noch einmal etwas sagen zu den Begriffen in der Diskussion um die Hauptstadtkultur, bei denen ich Sorge habe. Ich las neulich in einer Zeitung - um es deutlich zu sagen: keine Berliner Zeitung -, dass es darum gehe, die Kulturhauptstadt zu fördern. Manchmal sind Begriffe ja sehr gefährlich. Ich hoffe, der Journalist wird sich da noch korrigieren. Das Schöne an der Bundesrepublik ist, dass es nicht eine Kulturhauptstadt gibt, sondern dass wir Kulturhauptstädte, Kulturmetropolen haben: ({6}) München, Frankfurt, Hamburg, Dresden, Leipzig - ich will es nicht weiter aufzählen. Das ist das Gute. Mir liegt daran gerade bei der Diskussion über die Hauptstadtkulturförderung deutlich zu machen, dass sich daran nichts ändern wird und sich daran auch nichts ändern darf. Aber wir benötigen eine Hauptstadt Berlin mit einer großen kulturellen Ausstrahlung. Das berührt auch Fragen der Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Hauptstadt, auch Fragen der Identität. Wenn sich Identität über Kultur definiert, dann bin ich sehr zufrieden mit dieser Identität. ({7}) Diese Aufgabe kann Berlin nicht allein leisten, das ist das ist zum Glück heute auch mehrfach gesagt worden eine nationale Aufgabe. Viele - das will ich auch noch als Ergänzung sagen sind sich der finanziellen Situation der Stadt nicht voll bewusst. Das ist kein Vorwurf, sondern nur eine Erläuterung. Das berührt nicht nur die Kulturpolitik, aber die eben auch. Zwei bis dato hochsubventionierte Kulturmetropolen man muss von zwei sprechen, nämlich Ost- und Westberlin -, deren kulturelle Vielfalt und Qualität es zu erhalten, ja zu erweitern gilt, befinden sich jetzt - ich sage: Gott sei Dank - unter einem Dach, aber eben auch unter einem viel zu engen Dach, was die Finanzierung betrifft. Deshalb ist Hilfe nötig, und diese Hilfe gibt es auch. Ich bin froh über den Beitrag, den die Bundesregierung leistet. 474 Millionen DM stellt sie in diesem Jahr der Berliner Kultur zur Verfügung. Gestatten Sie mir eine Fußnote: Ich wäre ein schlechter Berliner Abgeordneter, wenn ich mir nicht auch eine andere Zahl vorstellen könnte. ({8}) Allerdings bin ich mir natürlich auch bewusst, dass die Notwendigkeit und die Wirksamkeit der Hauptstadtkulturförderung außerhalb Berlins vermittelt werden muss. Herr Lammert, Sie werden das in NRW machen müssen, Frau Griefahn in Niedersachsen und andere wo auch immer. Das gilt übrigens nicht nur für die Hauptstadtkulturförderung, das gilt natürlich auch für andere Politikbereiche. Unter diesem Gesichtspunkt und auch unter dem Gesichtspunkt der Unterstützungsbereitschaft verstehe ich die vielen kritischen Blicke vieler Kolleginnen und Kollegen und auch von Staatsminister Naumann auf die jetzt gestatten Sie mir einmal, Ross und Reiter zu nennen und nicht immer nur von Berlin zu sprechen - christdemokratische Kulturpolitik in Berlin - eine Kulturpolitik, von der ein ehemaliger christdemokratischer Kultursenator in Berlin sagte, dass sie in der Krise sei. Ich behaupte, das stimmt. Die Situation ist so, wie Herr Hassemer sie beschreibt. Nicht die Kultur ist in Berlin in der Krise, sondern die Kulturpolitik ist in der Krise. ({9}) Ich erwähne diese kritische Anmerkung - Sie merken, dass ich versuche, Brücken zu bauen - durchaus auch als vertrauensbildende Maßnahme für die Stadt, um die Bereitschaft für die Kulturförderung in diesem Hohen Hause zu erhöhen. Der Rücktritt von Frau Thoben war keine Flucht vor Verantwortung, sondern ich glaube, er war die Konsequenz aus der desolaten Lage, in die die größte Regierungspartei in Berlin die Kulturpolitik getrieben hat. Der Herr Staatsminister hat vorhin schon das Wort des Regierenden Bürgermeisters von abgetanzten und abgelatschten Künstlern zitiert. ({10}) Wenn man seine Kulturkompetenz derart präsentiert, darf man sich natürlich nicht wundern, wenn andere fragen: Was habt ihr eigentlich mit Kultur am Hut, wenn der Regierende Bürgermeister das sagt? ({11}) Ich gestatte mir, hier auch ein Zitat von Fraktionschef Landowsky zu bringen, der - das finde ich besonders bemerkenswert - unter Beifall seiner Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus sagte, dass „jeder Bundespolitiker, der früher nichts zu sagen hatte, weil es keine Kulturpolitik und -kompetenzen gegeben hat, sich nun als Oberkulturguru hier in Berlin aufspielt“. Das sind keine Vertrauen erweckenden Maßnahmen. Solche Aussagen schaden der Stadt. ({12}) Auch zu den „Bundesschlaumeier“-Vorwürfen gegen den Staatsminister kann ich nur sagen: Wenn das im Interesse der Stadt geschehen soll, dann weiß ich nicht, wo die Leute das Interesse der Stadt sehen. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat dieses Verhalten meines Erachtens gut dargestellt. Sie hat es „in Kulturfragen aggressives Desinteresse nach Gutsherrenart“ genannt. Besser kann man das, glaube ich, nicht ausdrücken. Berlin hat es nicht nötig, als demütiger Bittsteller aufzutreten. Ich glaube auch - das ist bestätigt worden -, dass es ein Recht darauf hat, dass die Hauptstadtkultur gefördert wird. Aber man sollte vielleicht lieber nicht in die Hand beißen, aus der man Gelder haben möchte. Das dient bestimmt weder der Stadt noch der Kultur der Stadt. Herr Stölzl, ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmal alles Gute für Ihre schwere Arbeit wünschen. Aber Sie werden noch eine Menge Bewusstseinsarbeit bei denen leisten müssen, die Sie inthronisiert haben. Das wird eine schwierige Aufgabe werden. ({13}) Ich hoffe auch, dass wir - ich glaube, wir sind da bei uns schon ziemlich weit - wegkommen von der Konfrontation und hinkommen zum Dialog. Er wird nicht ohne Konflikte sein; das geht nicht anders. Es ist ja nicht so, dass ein Haushalt voll und der andere leer ist, sondern wir haben bei beiden Probleme. Aber ich glaube, dass es mit Staatsminister Naumann und Senator Stölzl zum Dialog kommt, weil Herr Naumann um die Verantwortung des Bundes für die Hauptstadtkultur weiß und entsprechend handelt. Herr Stölzl weiß sicher auch - nun zitiere ich einmal, Herr Lammert, aus Ihrem Antrag -, dass die „Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Berliner Kultur/-szene ... die überfällige Lösung struktureller Probleme nicht ersetzen“ kann. Ich glaube, der neue Eckhardt Barthel ({14}) Kultursenator weiß das. So wird es auch einfacher, das umzusetzen. Ich bin froh über das Konzept, das der Staatsminister für die Hauptstadtkulturförderung auf den Tisch gelegt hat. ({15}) Ich finde es richtig, dass anstatt pauschaler Überweisungen oder Beteiligungen einige Kulturinstitute voll übernommen werden, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens wird es dadurch eine klarere Verantwortungszuordnung - das finde ich immer wichtig - und zweitens eine größere Transparenz, geben, etwa hinsichtlich der Frage: Wo fließen die Mittel hin? Schon aus diesen beiden Gründen finde ich das sehr gut. Wie ich gehört habe, wird das Land Berlin bei diesen Institutionen durchaus Mitspracherechte haben. Das finde ich in Ordnung. Was ich an dem vorliegenden Konzept ebenfalls sehr in Ordnung finde, ist der Hauptstadtkulturfonds, denn dahinter steckt der Gedanke - ich hoffe, es läuft so, wie es geplant ist -, dass es neben der Förderung der großen Institutionen auch freie, innovative Kulturprojekte geben wird, die gefördert werden. Das halte ich für wichtig. Wir brauchen nicht nur diese Leuchttürme - ich kann dieses Wort eigentlich nicht ertragen -, sondern wir brauchen auch Innovatives, das Chancen bietet. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich mit Folgendem abschließen: Berlin braucht die Unterstützung des Bundes. Aber die Bundesrepublik Deutschland braucht auch eine Hauptstadt mit großer kultureller Ausstrahlung. Da darüber Konsens zu bestehen scheint und die Kultur des Bundes jetzt in guten Händen ist, bin ich optimistisch, obwohl ich weiß, wie schwer die Aufgabe ist. Ich bedanke mich. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine parlamentarische Debatte über die Hauptstadtkultur und die Rolle des Bundes ist notwendig und überfällig. Die CDU/CSU hat sie angestoßen. Vielleicht wird es uns auch gelingen, die parlamentarische Geschäftsführung demnächst davon zu überzeugen, dass Kulturdebatten keine Mitternachtsveranstaltungen, sondern von tagespolitischem Interesse sind und dass sie in diesem Hause auch einmal bei Sonnenschein stattfinden sollten. Eine nächste Möglichkeit würde sich im Übrigen im Rahmen der kommenden Haushaltsdebatte bieten. Der Kulturetat hat ja bisher in diesen Debatten eine untergeordnete Rolle gespielt. Ich rege an, zwischen den Fraktionen eine entsprechende konsensuale Vereinbarung zu finden, damit wir als „Kulturmenschen“ nicht immer ins Hintertreffen geraten. ({0}) Mit der durch den Umzug von Legislative und Exekutive gewachsenen Verantwortung des Bundes für die Hauptstadtkultur musste endlich die Exekutierung der Hauptstadtkulturförderung beendet werden. Es war ja ein ärgerlicher Vorgang, dass in den parlamentarischen Gremien das, was Beamte vorher schon längst verabschiedet hatten, nur noch nachträglich abgesegnet worden ist. Vor diesem Hintergrund macht die Parlamentarisierung Sinn. Wir wollten dieses Verfahren nicht fortsetzen. Als Fraktion bekennen wir uns zu der Verantwortung des Bundes für die kulturelle Rolle Berlins als Bundeshauptstadt und halten dies nicht für lediglich schmückendes Beiwerk des Sitzlandes. Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat vorhin die Behauptung aufgestellt, unser Antrag sei als Lob für den Kulturstaatsminister zu verstehen. Dieser Einschätzung möchte ich widersprechen. Für das Lob für den Kulturstaatsminister ist in der Regel Michael Naumann selbst zuständig. Er lässt sich in dieser Tätigkeit von keinem überbieten, schon gar nicht von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({1}) Die Diskussion über die Hauptstadtkultur sollte allerdings auch den Kulturföderalismus fest im Blick behalten. Die Länder werden das Engagement des Bundes umso mehr akzeptieren, je mehr von ihm kulturelle Vielfalt gefordert und gefördert wird. Deswegen wäre es gut, wenn, statt in der Bundeskulturpolitik auf mehr Zentralität zu setzen, von dieser Debatte das Signal ausginge, dass der Bund zu seiner kulturellen Verantwortung auch in anderen Bereichen steht. Es wäre beispielsweise gut, wenn der leibhaftige Staatsminister seinen Kleinkrieg gegenüber den Bayreuther Festspielen beenden und dieses nationale Musikereignis mit Weltrang außer Streit stellen würde. Es wäre gut, wenn er die kleinlichen Kürzungsmaßnahmen im Hinblick auf das Deutsche Museum in München und andernorts zurücknähme. Es wäre ebenfalls ein gutes Signal, wenn der Versuch beendet würde, die Förderung der Vertriebenenkultur zu beerdigen. ({2}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt nachdrücklich die Überlegungen des Bundes, Teile der Hauptstadtkultur, der Kultur in der Hauptstadt, auch institutionell, das heißt hundertprozentig, zu fördern. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit waren in der Vergangenheit nicht umfassend gewährleistet. Beispielhaft sei nur auf die Versuche der Finanzsenatorin Fugmann-Heesing hingewiesen, Bundeskulturmittel für andere Zwecke umzuwidmen. Wir erwarten allerdings von Ihnen, Herr Naumann, im Rahmen Ihrer haushaltsrechtlichen Absicherung eine entsprechende Vorarbeit. Die hundertprozentige dauerhafte Förderung einzelner Einrichtungen muss im Haushalt umfassend dargestellt werden. Das von den Kollegen der Regierungsfraktionen dargestellte Verfahren einer Pauschalzuweisung reicht nicht mehr aus. Dies erfordern die Haushaltsgrundsätze. Ich rechne daher mit einem raschen Abschluss der Verhandlungen mit dem Land Berlin. Denn Mitte dieses Jahres muss ein Haushaltsentwurf vorliegen. Dann müssen alle Haushaltspositionen fixiert werden, und zwar die Sachmittel, die Investitionen und die Personalkosten. Das ist sehr viel Arbeit. Ich halte es für eine ungewöhnliche Verhandlungsstrategie, wenn Sie vor dem Deutschen Bundestag despektierliche Bemerkungen über Berliner Verfassungsorgane machen. ({3}) Zumindest glaube ich nicht, dass dies für das Verhandlungsklima zwischen dem Bund und dem Land Berlin förderlich ist. Es ist eines Mitgliedes der Bundesregierung keinesfalls würdig, in dieser Art und Weise über andere Verfassungsorgane in der Bundesrepublik herzuziehen. ({4}) Alle diejenigen, die hier heute sagen: „Es ist eine gute Entscheidung, dass der Bund Teile der Berliner Hauptstadtkultur institutionell fördert“, möchte ich warnen. Ob dieses Projekt mit weniger Geld vonseiten des Bundes durchgeführt werden kann, bezweifle ich. Da nutzt es wenig, wenn hier viel von Hegel gesprochen wird. Da sollten Sie mehr mit Eichel sprechen, um zu Ergebnissen zu kommen. In der Substanz, so glaube ich, hilft Ihnen hier Eichel mehr als Hegel. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bedarf klarer Kriterien, was der Bund im Rahmen der institutionellen Hauptstadtkulturförderung übernimmt. Wir als Unionsfraktion haben einige Orientierungspunkte geliefert: die Verantwortung für das Erbe Preußens, was nicht nur eine nationale Aufgabe ist, sondern auch die bundespolitische Finanzierungskompetenz erfordert, die Förderung von einzigartigen Einrichtungen in Berlin und ein klares Bekenntnis zur nationalen Gedenkstättenarbeit. Was der Kulturstaatsminister hier und an anderer Stelle gesagt hat, ist noch nicht ausreichend und genügt keinerlei seriösen Ansprüchen. Entgegen der Behauptung meines Vorredners ist kein Konzept erkennbar und es mutet eher peinlich an, wenn die Übernahme des Jüdischen Museums, bei welchem man vortrefflich diskutieren kann, ob es ein bundespolitisch solitäres Ereignis ist und von uns individuell gefördert wird, mit Defekten in der Klimaanlage begründet wird. Dies kann kein Unterscheidungskriterium dafür sein, ob etwas in Bundesobhut übernommen wird oder nicht. Auch der Versuch, sich mit besonders hochwertigen Kultureinrichtungen des Landes Berlin wie zum Beispiel den Philharmonikern zu kleiden, um sie mit einem möglichst niedrigen Zuschussbedarf einzukaufen, kann kein Leitbild für seriöse Verhandlungen zwischen dem Bund und Berlin sein. Es mag keinen überraschen, dass wir Zweifel an den Vorschlägen haben. Die Ausführungen der Kollegin Eichstädt-Bohlig wichen ebenso in wesentlichen Punkten von dem ab, was Sie, Herr Naumann, hier vorgeschlagen haben. Ich will abschließend klarstellen, dass sich der Bund nicht nationaler Aufgaben entledigen darf, weil sie ihm unangenehm, zu teuer oder gar ideologisch missliebig geworden sind. Ich sehe insbesondere für den Bereich der nationalen Gedenkstätten einiges an Diskussionsbedarf. Hier möchten Sie, Herr Naumann, einiges übernehmen, manches ist Ihnen sehr unlieb. Ich denke hier beispielsweise an die „Topographie des Terrors“. Heinrich Wefing beschreibt ihren Zustand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sehr zutreffend: Da gibt es ein Haus ohne Ausstellung: das Jüdische Museum. Und eine Ausstellung ohne Haus: die „Topographie des Terrors“. Schließlich, gleichsam als doppelte Null-Lösung, weder Haus noch Ausstellung: den „Ort der Information“ am HolocaustMahnmal. Das ist ein Problem, das im Rahmen dieser Diskussion über die nationale Verantwortung für die Gedenkstättenarbeit ebenso gelöst werden muss wie die Frage der Verantwortung für das preußische Erbe. Hier muss um die Zukunft und die finanzielle Ausstattung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz vonseiten des Bundes noch einmal gestritten werden. Es wäre schön, wenn sich Geld und Geist durch diese Diskussion ein Stück weit wieder versöhnten. Ihnen, Herr Senator Stölzl, wünsche ich bei dieser Aufgabe viel Erfolg. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Abschließend hat der Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin, Herr Christoph Stölzl, das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einem Geschichtsfreund, der es noch nicht zum Parteifreund gebracht hat, mag es gestattet sein, heute Abend einen etwas längeren Zeitraum für die Bilanz des Verhältnisses zwischen dem Bund und Berlin zu wählen. Ich sage ausdrücklich: Berlin sagt ohne Wenn und Aber Dank für Hilfe, Engagement, Solidarität und - ich scheue das Wort nicht - Liebe für seine aus vielen Erbschaften stammende Kultur, die ihm durch den Bund und das Bundesparlament seit 1949 gegeben worden ist. Ich sage Dank für eine Förderung - diejenigen, die dabei gewesen sind, wissen das ebenso wie Wolfgang Schäuble -, die in weiten Teilen ohne Gängelband, in Diskretion, mit Augenmaß und manchmal mit notwendiger Freimütigkeit erfolgte. Darum ist das, was Frau Leonhard gestern angefangen hat, nämlich einerseits ihr strategischer Genius und andererseits die gewissermaßen kameradschaftliche Offenheit von Staatsminister Naumann, die Fortsetzung einer alten und guten Tradition. ({0}) Das ist die eine Seite. Aber es gibt auch die andere Seite: Eine Beurteilung mit Augenmaß und Fairness wird trotz aller Kritik im Detail zugestehen müssen: Berlin hat in diesen Jahrzehnten das Beste daraus gemacht, eine Stadt, die in einer schweren sozialen Krise immer noch 1 Milliarde DM bzw. 760 Millionen DM - je nachdem, ob man die religiöse Kultur einbezieht - ausgibt, obwohl sie wahrlich, wie man so sagt, andere Sorgen haben könnte. Einer solchen Stadt kann man nicht generell vorwerfen, dass sie mit der Kultur schlecht umginge. ({1}) Nicht für sich allein, sondern für die Deutschen und für ihr Verhältnis zu der Welt hat Berlin das - übrigens in Ost und West - geleistet. Das ist hier schon gesagt worden. Die Kultur, die nicht „der DDR war“, sondern in der DDR und oftmals trotz der DDR entstanden ist, hat auch für das Verhältnis der Deutschen zur Welt viel Gutes getan. Darum, und nur darum, dürfen wir heute dringlich darum bitten, dass das historisch gewachsene und deshalb notgedrungen seit 1990 ganz unvollkommene Vertragswerk zur Förderung der Kultur in der Hauptstadt endlich vollendet wird. Berlin hat im Jahre 1990 im Vertrauen auf Art. 35 des Einigungsvertrages stellvertretend für die Nation fast die gesamte Kultursubstanz - verzeihen Sie mir dieses hässliche Wort - übernommen. Dass dies unter den sozialen Prämissen dieser großen und armen Stadt nicht zu leisten war, ist offenkundig. Darum, finde ich, muss in Fairness neu verhandelt werden. Diese Verhandlungen müssen zu einem Ergebnis, zu einem Vertragswerk, zu Organisationsformen und zu Kontrollformen führen. Ich sage es ganz deutlich: Sie müssen dazu führen, dass wir uns als Föderalisten reinen Herzens gemeinsam an den Kulturleistungen in Berlin erfreuen dürfen, auch dann, wenn die Lasten endlich gerecht verteilt sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, spätestens seit dem Moment, in dem das Parlament an hochsymbolischer Stelle in Berlin seinen Sitz genommen hat, wird die unverzichtbare kulturelle Vielstimmigkeit von allen Deutschen wahrgenommen. Niemand wird sagen können, dass ihr föderaler Eigensinn, ihr eingewurzelter Stolz auf regionale Kulturleistungen dadurch Schaden leidet. Wenn man Berlins Kulturen liebt, wünscht man sich deshalb noch lange keine Kulturhauptstadt. Was sich aber in Berlin spiegelt, das geht doch alle Deutschen an: das Erbe des aufgeklärten Kosmopolitismus des 18., 19. und auch des frühen 20. Jahrhunderts, die unauslöschlichen Erinnerungen an Diktaturen, Kriege und an die Spaltung der Welt, aber auch an den Kampf um die Freiheit und die großen Opfer, die Menschen dafür gebracht haben. Die kulturellen Institutionen Berlins kann man auch als Erinnerungszeichen einer gemeinsamen, dramatischen Geschichte lesen, die uns alle angeht und die wir deswegen auch alle gemeinsam nach einem Schlüssel, der ausgehandelt werden muss, finanzieren sollten. Berlin ist aber trotzdem - keine Sorge - nicht nur Geschichte, sondern vor allem Zukunft. Die Deutschen brauchen eine Hauptstadt, die sichtbar Erfolg hat. Berlin leuchtet, Berlin zieht an, Berlin lockt Menschen, gerade die jungen, aus der ganzen Welt an und Berlin ist Marktund Kampfplatz der Ideen und Träume. Heinrich Mann hat sich Berlin einst als eine Menschenwerkstatt gewünscht, ein Labor, in dem sich politische Vernunft und Künste zum Nutzen einer neuen deutschen Demokratie mischen sollten. Berlin wünscht sich, dass dieses Hohe Haus die Bundesregierung nachdrücklich ermuntern möge, nicht Anmut und nicht Mühe zu sparen, um gemeinsam mit uns die anstehenden Probleme zu lösen, die - Sie haben die Summen gehört; im Verhältnis zu diesen Summen geht es um Randprobleme - wahrlich zu lösen sind. Mit gutem Willen müssen sie schnell vom Tisch gebracht werden. Lassen Sie uns dann gemeinsam das Gespräch mit der Welt in der Sprache der Kultur, die alle Menschen verstehen, die guten Willens sind, suchen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3182 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber hinaus soll die Vorlage an den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus und Verkehr und den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich darf Sie bitten, noch einen Moment hier zu bleiben. Obwohl die Reden für die beiden nächsten Tagesordnungspunkte zu Protokoll gegeben worden sind, haben wir noch einige Formalitäten zu erledigen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Die Rolle der Interparlamentarischen Union ({1}) im Zeitalter der Globalisierung - Drucksachen 14/1567, 14/2951 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Schloten Dr. Rita Süssmuth Rita Grießhaber Ulrich Irmer Wolfgang Gehrcke-Reymann Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden.1 Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung, Drucksache 14/2951. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1567 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Unrecht“ gründen und Entschädigung von NSOpfern der Zwangssterilisation und der Euthanasie in die Wege leiten - Drucksache 14/2298 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auch hier ist interfraktionell beschlossen worden, die Reden zu Protokoll zu geben.2 Besteht dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2298 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. Mai des Jahres 2000, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.