Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen einige Änderungen bei der Besetzung von Gremien vorgenommen werden.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt für den verstorbenen Kollegen Heinz-Adolf Hörsken den Kollegen Dr. Klaus Lippold als neues ordentliches Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Klaus Lippold als ordentliches Mitglied im Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes bestimmt.
Aus dem Wahlprüfungsausschuß scheidet die Kollegin Andrea Lederer als beratendes Mitglied aus. Die Gruppe der PDS schlägt als neues Mitglied die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann als beratendes Mitglied in den Wahlprüfungsausschuß gemäß § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes gewählt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Vorstellungen der Bundesregierung zur Verhängung einer Haushaltssperre für den Bundeshaushalt *)
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nutzung der Reform des Dienstrechts für die Verwaltungsmodernisierung - Drucksache 13/4076 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Gerald Häfner, Dr. Jürgen Rochlitz, Ursula Schönberger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kein Abbau von Umweltstandards und Bürgerrechten - Drucksache 13/4075 4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Strafrechtlicher Schutz des Eigentums und des Vermögens - Drucksache 13/4064 5. Beratung des Antrags des Abgeordneten Volker Beck ({0}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entkriminalisierung des Ladendiebstahls, Schwarzfahrens und der Fahrerflucht bei Sachbeschädigung - Drucksache 13/2005 -
*) Wurde bereits in der 94. Sitzung am Mittwoch, 13. März 1996, aufgerufen.
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Gerald Häfner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stärkung der Idee des Täter-Opfer-Ausgleiches und Effizienzsteigerung der Justiz bet der Verbrechensbekämpfung durch Konzentration auf schwerwiegende Rechtsverletzungen - Drucksache 13/4078 7. Vereinbarte Debatte zur parlamentarischen Behandlung des Jahresgutachtens '96 des Sachverständigenrates für Umweltfragen
*. Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Steffi Lemke, Werner Schulz ({2}), Helmut Wilhelm ({3}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Förderung der Wohnungsprivatisierung an Mieter, Genossenschaften und Mietergemeinschaften - Drucksache 13/4077 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz ({4}), Marieluise Beck ({5}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Krise der Bremer Vulkan und Zukunft der maritimen Industrie - Drucksache 13/3975 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Sofortige politische Konsequenzen aus dem Umgang mit Subventionsmitteln beim Bremer Vulkan-Verbund
- Drucksache 13/4079 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck ({6}), Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Reformprojekt ,,Lebensgestaltung-Ethik-Rellgionskunde" an Brandenburger Schulen als Beitrag zur Vermittlung von Wertorientierung
- Drucksache 13/4090 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Manfred Müller ({7}), Hanns-Peter Hartmann, Dr. Willibald Jacob und der Gruppe der PDS: Eine gemeinsame Beschäftigungs- und Sozialpolitik für die Europäische Union - Drucksache 13/4072 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Regierungskonferenz '96 als Wegbereiterin für eine soziale und ökologische Reform der Europäischen Union - Drucksache 13/4074 14. Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({8}), Halo Saibold, Gila Altmann ({9}), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit im internationalen Luftverkehr - Drucksache 13/4080 -
Bei der zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs zur Pflegeversicherung - es handelt sich um die Tagesordnungspunkte 10a und 10b - soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Darüber hinaus ist vereinbart worden, die frauenpolitische Debatte, Tagesordnungspunkt 4, in dieser Woche abzusetzen.
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2 d sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
2. Debatte Schlanker Staat"
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des öffentlichen Dienstrechts ({10})
- Drucksache 13/3994 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({11})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze ({12})
- Drucksachen 13/3993, 13/4069 -Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({13})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren
- Drucksache 13/3996 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren ({15})
- Drucksache 13/3995 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({16})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nutzung der Reform des Dienstrechts für die Verwaltungsmodernisierung
- Drucksache 13/4076 -Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({17})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Gerald Häfner, Dr. Jürgen Rochlitz, Ursula Schönberger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Abbau von Umweltstandards und Bürgerrechten
- Drucksache 13/4075 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Auch dazu kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundesminister des Innern, Herr Kanther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen sicher in den nächsten Jahren unser Land in vielen Bereichen fit machen für die Zukunft. Unser Thema „schlanker Staat" gehört dazu.
Es gibt an vielen Stellen Veränderungsbedarf; so, wie es viel Bewährtes gibt, ist manches darauf zu überprüfen, was sich ändern muß. In vielen Bereichen haben wir bei der Staatstätigkeit die Grenzen des Machbaren und allemal des Finanzierbaren erreicht. Wir brauchen einen Mut zu grundlegenden Erneuerungen, wenn sich Staat und öffentliche Verwaltung zukünftig auf das konzentrieren sollen, was ihres Amtes und unerläßlich ist, wenn wir darangehen wollen, den Staat von jenem Fett zu befreien, das er angesetzt hat, das aber nur Geld kostet und nicht mehr effizient ist.
({0})
Verwaltung ist reformierbar. Entscheidend ist, zu erkennen, wo und mit welchen Mitteln. Es gibt keine Patentrezepte. Vielmehr müssen viele Wege gegangen werden.
Einer davon ist die von der Bundesregierung eingeleitete Reform des öffentlichen Dienstrechts. Daß wir Leistungselemente in Bezahlung und Beförderung verstärken sollten, ist eine aus allen beruflichen Erfahrungen unserer Zeit gewonnene Überzeugung.
Deshalb setzt die Dienstrechtsreform auch bei der Erprobung in Führungspositionen, Leistungsprämien und Zulagen, der Bindung von Dienstaltersstufen an Leistungsurteile sowie der Verbesserung des Beurteilungswesens an. Die Verbesserung der Mobilität im öffentlichen Dienst ist gleichfalls erforderlich. Erforderlich ist bei diesen Schritten eine Gemeinsamkeit von Bund und Ländern, aller öffentlichen Arbeitgeber. Wir haben nicht vor, eine solche Reform gegen die Bundesländer zu machen.
({1})
Wir suchen die Gemeinsamkeit in der Sache. Aus dem Bundesrat heraus sind viele Vorschläge gemacht worden, die sehr nachdenkenswert sind, und es gibt solche, über die man eher mehr am Rande wird streiten müssen, weil sie nicht zur Effizienz beitragen, wie etwa die Frage der Besetzung von Führungsämtern auf Zeit eher einer zusätzlichen Politisierung von Verwaltung das Wort reden würde als deren notwendiger Verminderung. Darüber kann mit Fug und Recht gestritten werden. Ich bin ganz gewiß, daß wir an dieser Stelle ein gemeinsames Arbeitsergebnis erzielen müssen.
Ein zweiter Aspekt, wenn wir den Staat schlanker machen und auf seine Ursprungsaufgaben sowie die notwendigen Aufgaben unserer Zeit zurückführen wollen, ist die Verringerung der Stellenpläne. Ich habe in meinem Bereich gleich nach meinem Amtsantritt eine sofortige Einstellungssperre - außer dem Sicherheitsbereich - verhängt. Hiervon sind im Bereich des Bundesinnenministeriums etwa 25 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen. In gut zwei Jahren konnten so 572 unbesetzte Stellen erwirtschaftet werden, zusätzlich zu den allgemeinen Bewirtschaftungsauflagen des Parlaments. Am Anfang hieß es, nun breche der Notstand aus; mittlerweile behauptet dies niemand mehr.
Schlanker Staat bedeutet aber nicht, daß ohne Ansehen der Aufgabe oder der Sparte der öffentlichen Verwaltung mit dem Rasenmäher über die Stellenpläne gegangen wird. Beispielsweise haben wir 1995 und 1996 im Bereich der inneren Sicherheit 640 neue Stellen geschaffen. Unerläßliche Verstärkungen in Brennpunktbereichen sind aber leichter durchzusetzen, wenn an anderer Stelle Stellenabbau, der dringend notwendig ist, geleistet werden kann.
Ich meine, es muß mehr Mut aufgebracht werden, auszuprobieren, ob man mit weniger Personal auskommen kann. Denn nicht eine möglichst große Zahl von Mitarbeitern sollte der Stolz von Vorgesetzten sein, sondern die Fähigkeit, Aufgaben mit möglichst geringem Aufwand möglichst gut zu erledigen.
({2})
Deshalb gehört auch die Bereitschaft dazu, in Führungspositionen wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Auch das ist ein wichtiger Aspekt der Dienstrechtsnovelle.
Ich füge hinzu: Das alles wird nur mit den Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes und nicht etwa gegen sie gehen. Deutschland hat einen funktionierenden öffentlichen Dienst, aber nichts ist so gut, als daß es nicht noch wesentlich verbessert werden könnte. Ich meine deshalb, daß wir ganz falsch beraten sind, wenn wir die Neidglocke gegenüber den Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes läuten oder öffentlich Beamtenhatz betreiben. Es wird nicht möglich sein, ein so großes Werk ohne die innere Bereitschaft der Mitarbeiter, ohne ihre Kreativität zu bewirken.
Klarere Verwaltungsstrukturen und effiziente Verwaltungsverfahren müssen die Verwaltungsabläufe im Ganzen beschleunigen und mehr Freiräume für eigenes Handeln bei Bürgern und Unternehmungen herbeiführen. Wir brauchen den Mut - übrigens auch als Parlament -, mehr Ergebnis- und weniger Verfahrenskontrolle anzuwenden.
({3})
Wir haben eine Regelungsdichte erreicht, vor der der Bürger häufig den Überblick verliert, und das muß sich ändern. Der moderne Staat muß sich auf den Kern seiner eigentlichen Aufgaben beschränken. Er muß hinschauen, wo Aufgaben, die er wahrnimmt, auch privat mindestens gleich gut erledigt werden können.
({4})
Da ist ein Teilaspekt von Privatisierung angesprochen, womit man aber als Zauberwort keineswegs das ganze Problem lösen kann. Der Bund ist hier weit vorangegangen, indem er sich von wirtschaftlichen Betätigungen getrennt und 11 Milliarden DM Veräußerungserlöse erzielt hat. Ich weiß, daß das unter haushälterischen Aspekten natürlich nur ein Einmaleffekt ist und strukturelle Überlegungen nicht ersetzt, aber es ist eben auch eine einmalige Hilfe und ein Beitrag zu vermehrter Effizienz obendrein.
Auch die Verwaltungsorganisation ist zu überprüfen. Es müssen nicht alle Aufgaben, die heute bei Ministerien und Oberbehörden angelegt sind, dort erledigt werden. Deshalb hat das Bundeskabinett mit seinem Beschluß vom 7. Februar auch Bundesbehörden auf den Prüfstand gestellt und will in den nächsten fünf bis zehn Jahren mit Funktionen und durch Veränderung von Organisationsabläufen etwa 7 000 Stellen einsparen. Ich kann aus meinem Bereich sagen, daß es dazu sicher viele Möglichkeiten gibt, ohne daß die Effizienz der öffentlichen Verwaltung sinkt. Im Gegenteil, häufig wird sie steigen.
Verwaltung ist kein Selbstzweck. Sie zählt zu den Garanten eines funktionierenden Gemeinwesens und muß diesem standhalten. Sie muß sich verändern. Reform der Verwaltung ist kein einmaliger Akt, sondern ein ständiger Prozeß. Ich warne deshalb auch vor den vorschnellen Behauptungen, man könne sich eine Maßnahme herauspicken, habe damit einen Königsweg entdeckt, und alles übrige ergebe sich dann von selbst.
({5})
Das Thema schlanker Staat ist ein Mosaikbild, ist eine Daueraufgabe, in der viele Steine zusammenpassen müssen, damit es ansehnlich entsteht.
Dazu gehören sehr viele Einzelprobleme. Ich erinnere an die Mischfinanzierung auf allen Ebenen unseres Staatsaufbaus als Quelle endloser Bürokratie. Ich erinnere an die häufig viel zu langen Planungs- und Genehmigungsverfahren im Bau- oder im Produktzulassungsbereich. Die Straffung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im internationalen Wettbewerb ist eine Standortfrage für unser Land.
({6})
Hier setzen die vom Kabinett in diesem Jahr beschlossenen drei Beschleunigungsgesetze an. Die mit ihnen auf den Weg gebrachten Änderungen im Verwaltungsverfahrensgesetz, in der Verwaltungsgerichtsordnung und beim Immissionsschutzgesetz werden zu einer substantiellen Beschleunigung und deutlichen Verkürzung dieser Verfahren führen.
Ein solches Bündel von Maßnahmen vergrößert ohne negative Einflußnahme auf den Umweltschutz die Effizienz unserer Behördenvorgänge. Es ermutigt Investoren, und es stärkt damit den Standort Deutschland.
Wir müssen den Regelungsperfektionismus schrittweise überwinden, der, glaube ich, in vielen Jahrzehnten uns alle befallen hat.
({7})
- Aber mein Herr, ich suche an dieser Stelle gar nicht den Streit mit Ihnen, wer hier gut und 13 Jahre regiert. Fragen Sie Ihre Länderkollegen von der sozialdemokratischen Partei, ob etwa die Bürokratie in den Ländern eine weniger drückende Last sei und weniger der Besserung bedürfe als an jeder anderen Stelle.
({8})
Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, daß der Bund 13 Prozent aller öffentlich Bediensteten beschäftigt und die Länder und die Kommunen den überwältigend großen anderen Anteil.
Es ist offenkundig, daß diese Verantwortung nur gemeinsam und auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung wahrgenommen werden kann.
Der Regelungsperfektionismus hat eine Rechts- und Vorschriftendichte auf allen Ebenen erreicht, die der Bürger vielfältig nicht mehr durchschaut. Zurückhaltung ist in diesem Zusammenhang bei der Festsetzung von Standards angezeigt. Eine Vorschrift - die ich nicht dem von Ihnen regierten Land zuschreiben will -, die im Abstand von 20 Zentimetern Kleiderhaken in Kindergärten vorschreibt, hat sicher gar nichts mit Politik, wohl aber mit üppiger Bürokratie zu tun. Wenn wir in einem anderen Bundesland erleben, daß 60 Amtsblattseiten mit Schulbauempfehlungen durch eine knappe Verordnung von acht Paragraphen ersetzt werden können, dann zeigt das eben, daß es geht. Man muß es nur im Detail anpakken und nicht in Phrasen darüber reden.
Großer Handlungsbedarf liegt im Haushaltsrecht mit seinen häufig zu starren Regeln. Warum sollte es nicht möglich sein, größere Budgets für Liegenschaften, für Bau- und Beschaffungsmittel auszuweisen?
Wir müssen insofern auch die erschwerte Situation der öffentlichen Finanzen in diesen Teil der Debatte hineindenken. Dort, wo die Gefahr der Verschwendung von Steuermitteln besteht, mag ja besonderer Anlaß für eine besonders strikte Kontrolle sein. Aber dort, wo die Kassen in der heutigen Zeit eh so knapp sind, muß man an neue, freiere Formen der Bewirtschaftung denken,
({9})
um Synergieeffekte herbeiführen zu können, die sich aus der Zusammenfassung von Positionen, aus dem gelegentlich gelockerten Jährlichkeitsprinzip, aus dem Budgetgedanken ergeben.
({10})
Wir haben dazu Modellvorhaben in Arbeit. Sie haben bereits erste positive Ergebnisse hervorgebracht.
Das Thema schlanker Staat muß uns auch den Blick auf die eigene, die gesetzgeberische Tätigkeit und die Tätigkeit der Gerichte richten lassen. Wie oft ist im Zuge parlamentarischer Beratungen nach der Regelung der letzten filigranen Zwischenräume gesucht worden? Wie häufig differenzieren die Gerichte immer genauer, um oft auch die letzte Einzelheit eines Lebenssachverhaltes justitiabel zu machen? Das mag im Interesse größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit durchaus verständlich sein. Aber auf diese Weise werden oft Standards gesetzt, die von den Betroffenen nur mit kaum noch vertretbarem Aufwand realisiert werden können.
Eine hochkomplizierte Gesellschaft braucht vielerlei staatliche Vorgaben; das ist sicher wahr. Aber ein Staat, der Vorschriften und Vorsorge für alle Lebenslagen bereithält, fördert damit zugleich eine Mentalität, die von vornherein das Lebensrisiko ausschließen und die Sachverhalte abschließend regeln will. Das geschieht nicht ohne Freiheitsverlust und Kostenexplosionen.
({11})
Deshalb landet ein Teil unseres Problems auch bei der gewaltigen öffentlichen Erwartungshaltung, dem Gruppen- und Einzelegoismus. Deshalb bedeutet Problemlösung: Zusammenstoß mit vielerlei Besitzständen. Augenmaß und politischer Mut sind gleichermaßen gefragt, wenn es um die Grenzziehungen im Konfliktfall geht.
Es geht bei der Debatte um den schlanken Staat daher nicht nur um Verwaltungsreform, sondern generell um unsere geistige Innovationstätigkeit in diesem wichtigen Feld öffentlicher Verantwortung.
({12})
Es ist schwierig, den Bestand von Rechtsnormen zurückzuführen, für die alle es einmal - häufig in diesem Haus vorgetragene - gute und ausführliche Begründungen gegeben hat. Um so intensiver sollte in Zukunft bei der Verabschiedung gesetzlicher Regeln Sorgfalt auf die Gesetzesfolgenabschätzung gelegt werden: Was vom Aufwand kommt unten an - nicht nur an finanziellem Aufwand in der Staatskasse, sonBundesminister Manfred Kanther
dem auch an Regelungsaufwand in der Behörde oder an Vollzugsaufwand, zum Beispiel an Leidensdruck bei kleinen und mittleren Unternehmungen? Wir werden diesen Gedanken noch verstärkt in der Geschäftsordnung der Bundesregierung verankern.
In den Gesamtkontext unseres Themas gehören viele weitere Fragen, die ich hier nur andeuten kann, zum Beispiel die Überprüfung der Statistik. Schon das erste Zugreifen hat ergeben, daß wir viele Statistiken und Millionen von Mark einsparen können. Es hat aber gerade in den letzten Tagen ein Echo gegeben:
({13})
Nicht nur wenn wirtschaftliche oder soziale Besitzstände angetastet sind, auch wenn die bürokratischen Besitzstände angetastet werden, regt sich Widerspruch und muß dann intensiv überwunden werden, durch Überzeugungsarbeit und richtige Entscheidungen in der Sache. Ich werde dabei bleiben, daß der Statistikaufwand in diesem Land und der in der Europäischen Union, die von dem Gedanken der Statistik geradezu besessen ist, gleichermaßen zu überprüfen sind.
({14})
Überhaupt müssen wir das Thema „Bürokratie aus Europa" ernst nehmen und an jeder Stelle, an der wir darauf stoßen, mit unseren Möglichkeiten reduzieren.
({15})
Meine Damen, meine Herren, die vor uns liegenden Aufgaben sind umfassend und vielfältig. Sie müssen vor allem zugleich angepackt werden. Das verlangt politischen Führungsmut, möglichst Gemeinsamkeit und beherzten Zugriff in der Praxis. Die Aufgabe „schlanker Staat" ist eine der schwierigsten, die angepackt werden muß; aber sie ist lösbar. Deshalb sollten wir das gemeinsam tun.
Danke sehr.
({16})
Es spricht jetzt der Kollege Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Modernisierung von Staat und Verwaltung ist nach unserem Verständnis - das wollen wir heute bekräftigen - eine der zentralen politischen Gestaltungsaufgaben der kommenden Jahre.
Die ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Tätigkeit von Staat und Verwaltung vollzieht, ändern sich kontinuierlich und mit wachsender Dynamik. Politik und Verwaltung haben sich in immer kürzeren Zeiträumen auf neue Entwicklungen einzustellen, die in aller Regel nicht mehr nur national-internen Charakter haben. Das erfordert ein neues, modernes, weltoffenes Profil der Verwaltung.
({0})
Die Komplexität der staatlichen Aufgaben nimmt zu. Gleichzeitig verknappen sich die Ressourcen. Wir alle wissen, daß neue Anstrengungen zur Sicherung der ökonomischen Entwicklungsbedingungen Deutschlands erforderlich sind. Es müssen daher kooperative Instrumente und Lösungen gefunden werden, um bei anhaltend engen finanziellen Handlungsspielräumen die Massenarbeitslosigkeit nicht weiter anwachsen zu lassen und eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.
Der öffentliche Sektor mit seinen vielfältigen Einrichtungen ist in der Vergangenheit immer unüberschaubarer und schwerer steuerbar geworden. Auf neue Probleme wurde häufig mit der Schaffung neuer öffentlicher Einrichtungen und Behörden reagiert.
Das Politikmuster, Probleme durch Mehrausgaben und Ausbau von Verwaltung zu lösen, ist jedoch längst an seine Grenzen geraten. Wird der Staat ständig mit neuen Aufgabenstellungen konfrontiert, ohne daß er sich in vergleichbarem Maße von überkommenen Aufgaben trennt und dadurch Ressourcen für neue Prioritäten freimacht, kann das nur in einem Debakel enden.
Deshalb sollten wir uns aller Dogmen entledigen. Längst nicht alles, was heute durch staatliche Institutionen geleistet wird, kann nur durch den Staat vernünftig geregelt werden.
({1})
Andererseits ist eine ideologische Fixierung auf Privatisierung staatlicher Kompetenzen als Allheilmittel verfehlt,
({2})
weil nicht bedacht wird, daß im Wettbewerb häufig die staatliche Organisation durchaus kostengünstiger und effizienter arbeitet als ein privater Anbieter.
Vor einer ideologischen Fixierung auf Privatisierung ist nicht zuletzt deshalb zu warnen, weil nichts verbessert, sondern eher alles erheblich verschlechtert wird, wenn am Ende an Stelle eines staatlichen Monopols ein privates Monopol steht.
({3})
Staat und Verwaltung müssen Steuerungsfähigkeit zurückgewinnen und durch verstärktes Kostenbewußtsein und erhöhte Wirtschaftlichkeit die Effizienz und Effektivität ihres Handelns steigern. Was die öffentliche Hand tun und was sie lassen soll, muß im politischen Prozeß konkretisiert werden. Das kann sowohl die Übertragung überkommener Aufgaben auf freie Träger oder private Anbieter als auch die gezielte Übernahme neuer Staatsaufgaben bedeuten.
Ich erwähne hier sehr bewußt auch freie Träger, weil wir uns nicht auf die Alternative hie Staat und
dort private Anbieter unter dem ökonomischen Kalkül beschränken sollten. Ich fand es sehr bedenkenswert, daß kürzlich in einem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung" hervorgehoben wurde, daß wir vielleicht künftig gerade Stiftungen eine größere Rolle im gesellschaftlichen Raum zuordnen sollten.
({4})
Man muß eben ein neues Verständnis von freier Trägerschaft entwickeln.
Hohe Flexibilität und Innovationsfähigkeit sind entscheidend. Die Verwaltung braucht anpassungsfähigere Entscheidungsformen und mehr Selbstorganisation. Die SPD hat in diesem Sinne ein neues Leitbild für die Verwaltung formuliert. Elemente dieses Leitbildes sind eine stärkere Zielorientierung der Arbeit der Verwaltungen, mehr Bürgernähe und -freundlichkeit, mehr Kundenorientierung - wir sollten dabei den Begriff der Kunden nicht auf die unternehmerische Seite verengen, zu den Kunden gehören auch der einfache Bürger und die Allgemeinheit; das gilt für die Planungs- und Genehmigungsverfahren -,
({5})
mehr Einfühlungsvermögen hinsichtlich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen, mehr Wirtschaftlichkeit, mehr Kostendenken, mehr Zeitdisziplin, mehr Eigenverantwortung und zugleich mehr Verantwortungsbereitschaft sowie Abbau von Hierarchien.
Es umfaßt ferner Beseitigungen von Fehl- und Überregulierungen und Verringerung des Papierkriegs unter Wahrung der Bürgerbeteiligung und der rechtlichen, der Sicherheits- und der Umweltstandards.
({6})
Wenn eine Modernisierung der Verwaltung im Sinne dieses Leitbildes gelingen soll, dann muß für die Reform ein umfassender Ansatz gewählt werden. Das heißt, die Dienstrechtsreform, die wir heute auch diskutieren, muß in ein umfassendes Reformkonzept integriert sein.
Dabei muß der methodisch richtige Weg gewählt werden. Eine stumpfsinnige Rotstiftpolitik, die sich darauf beschränkt, möglichst viele Stellen abzubauen, hat mit einem sinnvollen Konzept zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({7})
Die Tatsache, daß bei dem Programm der Bundesregierung zur Straffung der Bundesbehörden nicht der Bundesinnenminister, sondern auffälligerweise der Bundesfinanzminister federführend ist, beweist, daß die Bundesregierung bedauerlicherweise einen falschen Ansatz gewählt hat.
Selbstverständlich kann niemand ernsthaft die These vertreten, der Staat könne Arbeitslosigkeit dadurch auffangen, daß er mehr Stellen anbietet oder auf notwendige Einsparungen verzichtet. Wenn der Staat jedoch der Wirtschaft und der Gesellschaft allgemein abverlangt, sich darauf zu besinnen, daß es besser ist, Geld für Arbeit als für Arbeitslosigkeit aufzuwenden, darf er sich selbst aus dem „Bündnis für Arbeit" nicht verabschieden,
({8})
sondern er muß aktiver Teilnehmer an diesem Bündnis sein.
An die erste Stelle gehört daher im Rahmen eines Gesamtkonzepts „Modernisierung der Verwaltung" die Prüfung der Frage, wie können wir die vorhandenen Fähigkeiten und Begabungen der Menschen im öffentlichen Dienst sinnvoll und effizient so einsetzen, daß die dem Staat zukommenden Aufgaben in optimaler Weise gelöst werden können. Dabei spielt die Motivation der Beschäftigten eine herausragende Rolle.
Kernstück einer Verwaltungsreform muß immer die Steigerung der Leistungsbereitschaft und die Stärkung der Eigenverantwortung der Beschäftigten sein. Wir haben das schon des öfteren an dieser Stelle gesagt, ich wiederhole es bewußt: Eine Verwaltungsreform, die gegen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Gang gesetzt werden soll, ist von Beginn an gescheitert.
({9})
Es sollte daher der Bundesregierung zu denken geben, wenn es in einer Verlautbarung des Deutschen Beamtenbundes heißt:
Das Bündnis für Arbeit des Finanzministers besteht offenbar lediglich darin, Behörden aufzulösen, zusammenzulegen oder zu privatisieren. Dafür kann er von den Gewerkschaften weder Verständnis noch Unterstützung erwarten.
Ich füge hinzu: Er kann dafür auch weder Verständnis noch Unterstützung seitens der SPD erwarten.
({10})
In einer Grundsatzrede hat Rudolf Scharping vor zwei Jahren fünf Leitprinzipien für die Verwaltungsmodernisierung formuliert, an die ich erinnern will:
Erstens. Steuern statt rudern.
Zweitens. Resultate sind wichtiger als Regeln. Drittens. Autonomie statt Hierarchie.
Viertens. Wettbewerb statt Monopol.
Fünftens. Motivation statt Alimentation.
({11})
Nun frage ich Sie: Folgt die Bundesregierung dem ersten Prinzip? - Offenkundig ist das nicht der Fall. Sie rudert herum, statt zu steuern. Sie hat keinen Kompaß, oder sie versteht ihn nicht zu lesen.
Das gilt auch für die Dienstrechtsreform, auf die mein Fraktionskollege Fritz Rudolf Körper noch näher eingehen wird.
({12})
Ein Mangel dieser Dienstrechtsreform ist vor allem, daß sie keine Vorschläge für ein besseres Personalmanagement bringt. Gerade das ist aber, glaube ich, ein wichtiges Element innerhalb einer solchen Dienstrechtsreform.
Zu kritisieren sind auch die geplanten Einschränkungen im Versorgungsrecht, weil über Veränderungen in diesem Bereich erst verhandelt werden kann, wenn der überfällige Versorgungsbericht vorgelegt wird. Warum, Herr Bundesinnenminister, halten Sie den Versorgungsbericht immer noch, streng bewacht, unter Verschluß? Gehört dieser Versorgungsbericht zu den streng gehüteten Geheimnissen, die der erstaunten Öffentlichkeit erst nach den Landtagswahlen am 24. März offenbart werden sollen?
({13})
Müssen Sie befürchten, daß Ihre Finanzplanung vollends zur Makulatur wird, wenn die Zahlen des Versorgungsberichtes auf dem Tisch liegen?
Verwaltungsmodernisierung verstehen wir als ein umfassendes Vorhaben, das sich nicht nur auf die Verbesserung von organisatorischen Abläufen beschränkt; Bestandteil eines solchen umfassenden Konzepts muß auch eine grundlegende Steuerreform sein. Was sich im Bereich der Steuerverwaltung abspielt, hat mit moderner, effizienter Verwaltung auch nicht das Geringste zu tun. Hier muß richtig aufgeräumt werden. Eine grundlegende Steuerreform setzt sicherlich einen breiten Konsens voraus. Wir bieten dazu unsere konstruktive Mitarbeit an.
Schließlich bedarf es auch einer Verständigung darüber, inwieweit eine Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren erreicht werden kann, ohne Umweltschutz, Sicherheitsstandards und Bürgerbeteiligung zu vernachlässigen. Sie haben dazu einige Gesetze eingebracht, die unterschiedlich zu bewerten sind.
({14})
Ein deutliches Defizit bei diesen Gesetzgebungsvorhaben sehen wir darin, daß sich die Bundesregierung nicht um verläßliche empirische Daten bemüht hat. Wer nicht weiß, wie lange Genehmigungsverfahren in der Praxis dauern, kann kaum zu vernünftigen Verbesserungsvorschlägen gelangen.
({15})
Die Kritik, die in dem jüngst vorgelegten Umweltgutachten an den Vorschlägen der Bundesregierung zur Verfahrensbeschleunigung und Deregulierung geübt wird, sollten Sie eingehend studieren.
Wir begrüßen wie der Umweltrat Vorschläge, die sich mit dem Verfahrensmanagement beschäftigen und die erkennbar werden lassen, daß in dem bestehenden System noch erhebliche Beschleunigungspotentiale vorhanden sind, die ausgeschöpft werden können. Eine Absenkung von Umwelt- und Sicherheitsstandards und eine Verschlechterung der Bürgerbeteiligung lehnen wir aber in Übereinstimmung mit dem Umweltrat entschieden ab.
({16})
Dazu wird mein Fraktionskollege Dietmar Schütz noch in Einzelheiten Stellung nehmen.
({17})
- Ja, ja, ich habe ihn gelesen. Es gibt durchaus interessante Ansätze, Herr Hinsken. Aber bei einer Absenkung von Umwelt- und Sicherheitsstandards kann man, wie gesagt, nicht mit unserer Zustimmung rechnen.
Skeptiker meinen, meine Damen und Herren, in der Vergangenheit habe man schon des öfteren ehrgeizige Ziele zur Reform des öffentlichen Dienstes und zum Abbau von Bürokratie auf die Fahnen geschrieben; es sei jedoch immer alles im Sande verlaufen; inzwischen füllten ungezählte Gutachten und Bücher die Bibliotheken, ohne daß etwas Ernsthaftes geschehen sei. Von diesen skeptischen Einwänden sollten wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir haben gar keine andere Wahl, wenn wir im globalen Wettbewerb bestehen wollen, als uns der Reformaufgabe zu stellen.
({18})
Ermutigen sollten uns die Erfolge, die viele Städte und Kommunen bei der Reform der Verwaltung bereits erzielt haben. Die Städte Passau und Heidelberg sind dafür herausragende Beispiele.
Aber auch die wirtschaftlichen Erfolge, die Neuseeland zu verzeichnen hat, sollten beispielgebend sein. Neuseeland erhält von der OECD die besten Noten und hält den Spitzenplatz in der internationalen Wettbewerbsrangliste bei Staatsleistungen. Das ist nicht zuletzt einer umfassenden Modernisierung von Staat und Verwaltung in diesem Lande zu verdanken.
Hans Peter Bull, der ehemalige Innenminister Schleswig-Holsteins, meinte: Der Öffentliche Dienst wird sich nur bessern - ich zitiere -, „wenn er wirklich von einem neuen Geist der Modernisierung erfaßt wird" . Ob die ziemlich abgeschlaffte amtierende Bundesregierung diesen neuen Geist einzuflößen vermag, unterliegt allerdings ernsthaften Zweifeln.
Ich danke Ihnen.
({19})
Das Wort erhält jetzt unser Kollege Dr. Rupert Scholz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über das
Thema „Überregulierung, Überbürokratisierung, Vorschriftenflut" wird in unserem Lande seit Jahren diskutiert, und zwar genaugenommen auch mit viel einheitlicher Kritik. Das ist unbestreitbar.
Daß das Thema, das im Ergebnis sehr viel weiter zu spannen ist - Stichwort: Verschlankung des Staates -, mit wirklichem Nachdruck und mit der nötigen Stringenz jetzt in das Bewußtsein getreten ist und daß das von der Koalition von Anfang an als eine ihrer zentralen Aufgaben für diese Legislaturperiode in Ansatz gebracht worden ist, ist etwas, was mit Nachdruck zu begrüßen ist, so wie die Gesetzentwürfe, die heute als erster Schritt hier eingebracht worden sind, zu begrüßen sind.
({0})
Heute muß über die Grenzen staatlicher Zuständigkeiten, staatlicher Regulierungen, staatlicher Lenkungen, auch staatlicher Verteilungsmaßnahmen nun wirklich von Grund auf neu nachgedacht werden; denn der Staat ist mit der Last seiner Zuständigkeiten, mit dem Ausmaß der von ihm übernommenen Verantwortlichkeiten buchstäblich an die Grenze dessen gelangt, was für ihn selbst verträglich und - was wohl noch bedeutsamer ist - was für eine ebenso freie wie sozial verantwortliche, mobile, moderne, innovationsfähige Leistungsgesellschaft erträglich ist.
Die Signale dafür, daß unser Staat in vielfältiger Weise an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit und Kapazität gestoßen ist, sind unübersehbar. Ich weise nur hin auf die Staatsquote, die bekanntlich wieder über 50 Prozent liegt, und ich weise hin auf eine Gesetzgebungs- und Regulierungsmaschinerie, die immer schneller läuft, die immer weiter ausholt und immer intensiver wird und die in zunehmendem Maße nicht mehr, sondern weniger Effektivität, mehr Ineffektivitäten, Intransparenzen und Überregulationen produziert.
Auf Grund dessen benötigen wir schon auf der Ebene der Gesetzgebung die Bereitschaft zu mehr Zurückhaltung, zu weniger, dafür besseren, transparenten und dauerhafteren Regelungen, die Bereitschaft zur Einschränkung unverhältnismäßig großer Regulierungsansprüche, eine vorab wirksame Gesetzesfolgenabschätzung, die Bereitschaft zur Respektierung von mehr gesellschaftlicher Eigenverantwortung, insgesamt die Bereitschaft zur wirklichen und durchgreifenden Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Vom Subsidiaritätsprinzip sprechen bekanntlich viele; ernst genommen wird dieses Prinzip aber viel zuwenig. Unser Staat hat sich - die Zeit ist wahrhaftig gekommen - endlich und mit Nachdruck auf das Subsidiaritätsprinzip zu besinnen.
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Dies bedeutet naturgemäß nicht, daß sich der Staat, wie manche fordern, etwa auf den Kanon der klassischen Hoheitsaufgaben zurückzuziehen hätte. Nein, im System unseres Rechts- und Sozialstaates ist der Staat auch und definitiv dazu berufen, in umfassender Weise Partner der Gesellschaft zu sein, eben nicht nur Aufsichts- und Sicherheitsorgan, sondern auch umfassendes Dienstleistungsunternehmen für eine Gesellschaft, die von staatlichen Leistungs-, Vorsorge- und Lenkungssystemen natürlich in vielfältiger Weise, ja mitunter existentiell abhängig ist.
Dennoch muß das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Eigenverantwortung und staatlicher Vorsorge wie Lenkung im wesentlichen neu justiert werden. Zwischen mehr gesellschaftlicher Eigenverantwortung und prinzipiell subsidiärer staatlicher Lenkung müssen neue und wieder zukunftsfähige Umgewichtungen vorgenommen werden, was allerdings zunächst die kritische Bestandsaufnahme und dann auch die Rücknahme vieler Überregulierungen voraussetzt.
Die grundlegende Verschlankung des Staates ist somit eine der wichtigsten, politisch existentiellen Forderungen an Staat und Gesellschaft. Ohne eine entsprechende Verschlankung des Staates ist unsere Zukunft nicht mehr zu sichern.
Dies gilt namentlich und insbesondere für die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Heute fehlen uns in Deutschland bereits rund 4 Millionen wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Der Rückgang der Investitionen, vor allem in zukunftsfähige Technologien und Industrien, wird immer augenfälliger.
Die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland ist in vielfältiger Weise bedroht. Sie ist nicht zuletzt auch durch einen Staat bedroht, der etwa über seine Planungs- und Genehmigungsverfahren längst Überregulierungen, Verkrustungen und Überbürokratien geschaffen hat, die im internationalen Vergleich evidente Wettbewerbsnachteile mit sich bringen. Während die Errichtung einer modernen, neuen Industrieanlage in ihrer Planung und Genehmigung in Deutschland manchmal Jahre braucht, werden dafür in unseren europäischen Nachbarländern mitunter nur Monate, in Japan und in USA mitunter nur Wochen benötigt.
Dies alles liegt an einer Fülle von sehr unterschiedlichen Ursachen, Ursachen, die aber sehr oft schon bei den Gesetzgebungen beginnen, Gesetzgebungen, die nicht mehr den modernen Anforderungen von Effektivität genügen.
Diese Probleme setzen sich bei unseren Verwaltungsverfahren, unseren Planungs- und Genehmigungsverfahren fort, und sie enden schließlich im politischen Bereich bei vielfach mangelnder Bereitschaft, die Notwendigkeiten für moderne Technologien, für ihre Nutzung, für ihre Akzeptanz in unserem Lande anzuerkennen. Vor allem dort, wo rotgrüne Regierungen Verwaltungen steuern, kennen wir diese Malaisen bekanntlich zur Genüge.
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Vor allem zu nennen sind die - im übrigen bundesrechtswidrigen; ich betone das - immer wieder inszenierten Ausstiegsszenarien. Das geht vom Ausstieg aus der Kernenergie über die Behinderung der Gen- und Biotechnologie bis zu sonstigen Pervertierungen staatlicher Planungs- und Genehmigungsverfahren.
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Überall leidet der Wirtschaftsstandort Deutschland, leiden vor allem die Arbeitnehmer, geht die Zukunftsfähigkeit unseres Landes verloren.
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Die Koalition leitet mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzesvorhaben grundlegende erste Schritte zur Verschlankung ein. Diese Maßnahmen stehen im weitgehenden Zusammenhang mit dem von der Koalition vorgelegten Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze. Verschlankung des Staates heißt - um es noch einmal hervorzuheben - für uns, für die Koalition, entscheidend auch Förderung und Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und seiner Zukunftsfähigkeit.
Der öffentliche Dienst und die öffentliche Verwaltung müssen den neuen Anforderungen angepaßt werden. Sie müssen in vielfacher Hinsicht strukturell modernisiert werden. Dies bedeutet für den öffentlichen Dienst aber nicht etwa - wie dies von manchen unverantwortlichen Geistern immer wieder geltend gemacht wird -, daß man den Staat durch das schlichte Rasenmäherprinzip, also allein durch quantitative Verringerungen, verbessern, verschlanken könnte; Herr Kanther hat bereits darauf hingewiesen.
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Kein öffentlicher Dienst, meine Damen und Herren, kann im übrigen besser und effektiver sein, als es die Gesetze sind, die er zu vollziehen hat, und als es die Verwaltungsverfahren und Verwaltungsstrukturen sind, mit denen er zu leben und die er zu operationalisieren hat. In diesem Sinne ist die Reform des öffentlichen Dienstes untrennbar mit der Reform der öffentlichen Verwaltung insgesamt verbunden.
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In vielfältiger Hinsicht können die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes heute zurückgenommen werden, kann und muß stärker auf private Eigenverantwortung bis hin zu Maßnahmen der Privatisierung gesetzt und vertraut werden. Ich betone ganz ausdrücklich, Herr Schily: Privatisierung ist kein Ideologiethema und darf es auch nicht werden,
({7}) wie es bei Ihnen wieder angeklungen ist.
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Der Bund ist in dieser Hinsicht bekanntlich weit vorausgeschritten.
({9})
- Endlich kommt Leben in die Bude, na, wie schön! Endlich kommt Leben rein. O wie schön!
Der Bund ist in dieser Frage, meine Damen und Herren, wie wir wissen, weit vorangeschritten, wie vor allem die grundlegenden Privatisierungen bei
Post und Bahn belegen. Auf der Agenda steht eine Fülle weiterer Unternehmen. Ich füge hinzu: Solche Privatisierungen dürfen natürlich nicht nur nach den Grundsätzen von Wirtschaftlichkeit, sondern sie müssen auch nach den Grundsätzen von Sozialverträglichkeit und Infrastrukturgerechtigkeit vorgenommen werden.
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Vor allem bei Post und Bahn ist dies erfolgreich gelungen. Ich erinnere an das Telekommunikationsgesetz, bei dem die gleichen Voraussetzungen in richtunggebender Weise vorgesehen sind.
({11})
Um gleich ein weiteres Mißverständnis auszuräumen: Verstärkte Privatisierungserfordernisse bedeuten natürlich nicht, daß auf das Berufsbeamtentum zu verzichten wäre.
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Auch das ist ja ein Thema, das die Altideologen inzwischen wieder herausholen. Wir halten am Berufsbeamtentum fest und bekennen uns gleichzeitig zu seiner Reform.
Meine Damen und Herren, das Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren nimmt die gegebenen, die allzu groß gewordenen Defizite in unseren Planungs- und Genehmigungsverfahren auf und begegnet diesen durch Maßnahmen zur substantiellen Beschleunigung, Konzentration und Öffnung für mehr private Eigenverantwortung. Flexiblere Planungs- und Genehmigungsverfahren sind notwendig: notwendig für den Wirtschaftsstandort, notwendig für mehr Eigenverantwortung, notwendig für Investitionsvorhaben, notwendig für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dies alles ist das entscheidende Programm, ist die entscheidende Philosophie dieser Gesetzgebung. Wir brauchen mehr kooperative Verantwortung von Verwaltung und Privaten, vom Projektmanagement bis zum Öko-Audit. Auch das muß erkannt und umgesetzt werden.
In die gleiche Richtung weist das Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungsverfahren. Auch hier werden die entsprechenden Verfahren im Bereich zentraler Aufgabenfelder des Umweltschutzes gestrafft und vereinfacht, und dies, wie mit Nachdruck hervorzuheben ist, ohne jede Einschränkung an qualitativem Umweltschutz. Die umweltrelevanten Schutzstandards werden nicht zurückgenommen. Der materielle Standard bleibt auch im Bereich des Immissionsschutzrechtes erhalten. Gerade deshalb ist den hier angesprochenen Besorgnissen, daß Umweltschutzstandards zurückgenommen werden könnten, mit Nachdruck zu widersprechen.
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Bei Ihrem Papier allerdings, Herr Fischer, das wir heute mitzuberaten haben, braucht man nur die Überschrift zu lesen: „Kein Abbau von Umweltstandards und Bürgerrechten" . Sie glauben doch nach wie vor an die Allmacht des Staates, und das hat mit Bürgerrechten überhaupt nichts zu tun.
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Da steht ausdrücklich drin - man muß es nur lesen -: Wo Genehmigungsverfahren, wo Kontrollverfahren zurückgenommen werden, bedeutet dies für die Grünen die Rücknahme von Standards. Die Wahrheit ist das Gegenteil. Aber Sie haben eben kein Bild vom eigenverantwortlichen Bürger, und deshalb verstehen Sie auch nichts von Bürgerrechten. Das ist ganz einfach.
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Aber ich möchte darüber hinaus darauf hinweisen, daß der Umweltschutz ebenso wie die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen im System einer ebenso sozialen wie ökologischen Marktwirtschaft nicht isoliert, nicht getrennt voneinander gesehen und verfolgt werden können. Es bedarf hier einer wirklichen Gesamtschau von Ökonomie und Ökologie. Hier bestehen keine einseitigen Prioritäten zugunsten der einen oder anderen Seite, sondern hier besteht eine Gesamtverantwortung zugunsten einer ebenso ökonomisch leistungsfähigen wie ökologisch sicheren und verantwortlichen Wirtschaft.
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Wer einen wirklich schlankeren und damit auch effizienteren Staat will, darf schließlich auch am System unseres Verwaltungsrechtsschutzes nicht vorbeigehen. Folgerichtig gehört in den Kontext unserer heutigen Debatte auch der Entwurf eines Änderungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung. Das System unseres Verwaltungsrechtsschutzes basiert bekanntlich auf der umfassenden Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes. Hiernach ist dem Bürger ein ebenso umfassender wie effektiver Rechtsschutz von Verfassungs wegen gewährleistet. Ein solcher Rechtsschutz muß aber auch gerade im System unseres gewaltenteiligen Rechtsstaates in einem adäquaten Verhältnis zu den Anforderungen einer effektiven Verwaltungsverantwortung und der von ihr für Staat und Gesellschaft insgesamt zu erfüllenden Aufgaben gesehen und operationalisiert werden. Dies bedeutet, daß auch im Lichte eben dieser Rechtsschutzgarantie der Gesetzgeber immer wieder mit für die nötigen Verfahrensvereinfachungen, Verfahrensverbesserungen sowie Beschleunigungen im System unseres Verwaltungsrechtsschutzes insgesamt zu sorgen hat. Es kann nicht der Sinn eines Systems verfassungskonformer Rechtsschutzgarantien sein, daß die reine Prozeßführung, die reine Durchführung und Einlegung von Rechtsmitteln gesamtstaatliche, gesamtgesellschaftliche Erfordernisse im Übermaß inhibiert. Wir leben auf dem Weg - der Innenminister hat darauf hingewiesen -, Individualgerechtigkeiten mitunter überzubetonen. Individualgerechtigkeiten sind unverzichtbar, natürlich. Aber es gibt auch gesamtstaatliche, gesamtgesellschaftliche Belange, und es gibt auch Gleichheitsbelange. Das ist etwas, was in unserer Rechtsprechung, in unserem System des Verwaltungsrechtsschutzes zunehmend in den Hintergrund getreten ist. Die Reparatur liegt im richtigen Ansatz gesehen dort, wo es um verfahrensmäßige Entschlakkungen geht. Auch hierzu bildet diese Novelle zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung einen ersten wichtigen Einstieg.
Meine Damen und Herren, insgesamt sind die von der Bundesregierung, von der Koalition eingebrachten neuen Gesetze ein erster wichtiger Schritt für die Modernisierung unseres Gemeinwesens insgesamt, zur Einleitung eines wirklich notwendigen Prozesses und vor allem auch ein Beitrag für den Wirtschaftsstandort Deutschland, für den Umweltstandort Deutschland und vor allem für die Arbeitsplätze und den Arbeitsmarkt in Deutschland. Das sind die Themen unserer Zeit.
Ich danke Ihnen.
({17})
Es spricht jetzt die Kollegin Antje Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es muß ein bißchen mit dem Thema zu tun haben, daß alle Abgeordneten fleißig wie die Beamten in ihren Bänken sitzen und vor sich hin schreiben.
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Dabei ist das Thema spannender, als es auf den ersten Blick erscheint.
Es ist allerdings auch schon fast so alt wie die Bundesrepublik. Über die Reform der öffentlichen Verwaltung und des öffentlichen Dienstes haben viele vor uns diskutiert. Seitdem wuchsen und wuchsen die staatlichen Institutionen, seitdem wucherte die öffentliche Verwaltung. Schon immer gab es sehr viel Kritik daran. Geändert hat sich aber tatsächlich wenig.
Dabei ist das Vorhaben, die Reform der öffentlichen Verwaltung in Angriff zu nehmen, in der Liste der Regierungsversprechen immer höher geklettert. In der letzten Regierungserklärung von Helmut Kohl stand es nun ganz oben, auf dem ersten Platz. Damit sind große Erwartungen geweckt worden. Herr Minister Kanther, als ich Ihrer Rede zugehört habe, habe ich jedoch gedacht: Das Talent, eine wirkliche
Reformstimmung zu verbreiten, haben Sie nicht, so viele Talente Sie auch sonst haben mögen.
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Niemand - auch ich nicht - sagt, daß die Bewältigung dieser Aufgabe einfach ist. Sie ist sogar unheimlich schwer. Sie ist theoretisch sehr schwer, weil man dabei im Kern etwas so Kompliziertes wie die Reform des ganzen Staates bedenken muß. Kann es das überhaupt geben? Sind wir überhaupt noch reformfähig? Was bedeutet Reform des Staates unter den völlig veränderten Gesetzen einer Informationsgesellschaft? Das heißt: Diese Konzepte theoretisch zu entwickeln, ist schon schwierig; noch schwieriger ist es aber, sie praktisch zu entwickeln. Denn dabei geht es gleichzeitig auch um das Schicksal von Hunderttausenden von Beschäftigten und Beamten im öffentlichen Dienst und um das Schicksal von Millionen von Bürgern und Bürgerinnen, die von diesem staatlichen Handeln, seinen möglichen Reformen und deren möglichen Scheitern betroffen sein können.
Dafür, daß sich die Regierung von Helmut Kohl diese Herkules-Arbeit, die Reform des öffentlichen Dienstes, vorgenommen hat, will ich ihr ausdrücklich Mut attestieren - Mut in der Absicht. Heute aber, wo wir die ersten Früchte dieses mutigen Vorhabens auf dem Tisch haben, frage ich: Wo ist dieser Mut denn nun bloß geblieben?
Ich empfinde es als eine schlechte Arbeitsteilung zwischen der Regierung und der Opposition, wenn die Regierung, die ja das Heft des Handelns und damit auch die Möglichkeit des Handelns in der Hand hat, von Kleinmut erfaßt wird, den Rotstift den Meister des Verfahrens und den Finanzminister den „master of the system" gegenüber dem Innenminister, der diese Ideen und Reformen eigentlich in der Hand haben müßte, sein läßt und wenn andererseits die Opposition grundsätzlich für die Kreativität, für die Ideen, für die Motivation der Beschäftigten und - das gehört dazu - für Ehrlichkeit gegenüber der Bevölkerung in den Fragen zuständig sein soll, was denn diese Bevölkerung von unserem Staat auf Dauer noch erwarten und was dieser ihr wirklich zusichern kann.
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- Ich komme zu diesen Ideen. Im übrigen haben Sie unsere Papiere eher zur Verfügung gehabt als wir Ihre. Das können wir Grüne für uns in Anspruch nehmen. An dieser Stelle haben wir unsere Aufgabe, Reformfraktion zu sein, wirklich erfüllt.
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Es gibt aber auch aus Ihren Reihen - ich spreche Herrn Scholz jetzt direkt an - ein interessantes Dokument, nämlich den Zwischenbericht des Sachverständigenrates „Schlanker Staat". Ich empfehle den Kollegen durchaus, diesen Zwischenbericht zu lesen. Er ist sehr interessant. Er ist übrigens sehr viel interessanter als die Vorlagen, die wir heute auf dem Tisch haben.
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Dieser Sachverständigenrat hat sich einige interessante Sachen vorgenommen. Mit einer Diskussion über das Dienstrecht allerdings, wozu wir heute einen Entwurf auf dem Tisch haben, hat er aus guten Gründen noch nicht begonnen. Denn er hat gesagt: Man muß anders anfangen.
Der Sachverständigenrat gibt einen guten Rat, nämlich mit der Debatte über die Aufgabenkritik des Staates anzufangen. Ich finde, damit hat er recht. Am Anfang der Debatte muß die Frage stehen: Welche Aufgaben hat der Staat? Man muß sich fragen: Ähnelt der Staat, den wir heute haben, eigentlich noch den Bürgern, die in diesem Staat leben? Handelt er nach dem, was diese Bürger, die anders sind als die vor 40 Jahren, heute wirklich brauchen? Tut er - diese Frage wollen wir offen stellen - vielleicht zuviel an Patronage? Wäre dies vielleicht in einigen Bereichen nicht mehr nötig? Wo gibt es neue Anforderungen der Bürger, die der Staat noch nicht oder unzureichend behandelt?
Tatsächlich bin ich der Überzeugung, daß die Vorstellung der Bundesregierung hinsichtlich der Kürzungsvorschläge pseudoradikal ist, daß sie aber überhaupt nicht modern ist in dem Sinne, daß sie die Kräfte der Bürger dieses Staates und auch die Kräfte der Beamten und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes für Innovationen freisetzt.
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Der zweite große Punkt aus dem Zwischenbericht des Sachverständigenrates: Der Sachverständigenrat rät der Regierung dringend, den Umzug nach Berlin als Chance zu Reformen und zur Straffung und Reduzierung der Bundesministerien zu nutzen. Das genau war unser Rat. Wir sollten diesen Dreischritt versuchen: Wir sollten anfangen mit der Reform des Parlaments, fortsetzen mit der Reform der Ministerien und des Bundestages mit seinen Institutionen - die äußere Mobilität, der Umzug, schafft eine wunderbare Möglichkeit, auch innere Mobilität zu erzeugen - und dann vorbildlich zeigen, wie es mit dieser Reform des Staates im ganzen geht.
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Wir haben bis heute nicht den Sachstandsbericht zum Berlin-Umzug, zu dem der Herr Bundesinnenminister aufgefordert ist. Wir haben letzte Woche eine Übersicht über tausend Dinge bekommen, die der Staat vorhat. Darin stand zum Umzug - ich bitte, dies zu lesen; man kam übrigens erst im dritten Absatz des letzten Punktes zu diesem Thema - ein so entlarvendes Vorhaben wie: „Der Umzug soll dazu genutzt werden, Dienste für Reinigung, Pförtner- und Botendienste und Mitarbeiter aus dem Parlamentsdienst zu privatisieren" .
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Tolle Reform! Nicht der kleinste Funke von Kreativität, nicht die Idee, daß diese äußere Mobilität gerade Mobilität in den Spitzenfunktionen, in den Leitungsebenen erzeugen könnte, daß man gründlich aufräumen und neu organisieren könnte. Putzfrauen und Pförtnerdienste zu privatisieren ist kein Vorschlag, sondern ein Offenbarungseid.
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Zur Gesetzesfolgenabschätzung - der Herr Minister hat dies erwähnt; die Idee ist übrigens von uns -: Gesetzesfolgenabschätzung bedeutet, die Verwaltungen und auch den Gesetzgeber verantwortlicher zu machen. Es bedeutet nicht, den Bürger durch den Abbau von Errungenschaften zu schädigen, für die er lange gekämpft hat.
({9})
Kommen wir zum öffentlichen Dienst. Hier hat der Gesetzgeber angesichts des Umzugs nach Berlin und angesichts der Gesetze der knappen Kassen eine unglaubliche Möglichkeit, auf die große aktuelle Frage der Zeit zu antworten: auf die Frage der Arbeitslosigkeit. Wo ist denn das Vorbild des Staates als Arbeitgeber? Wo ist die große Teilzeitoffensive in diesem Bereich?
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Im öffentlichen Dienst besteht diese Chance, weil der Staat Arbeitgeber und das Parlament Gesetzgeber ist. Im öffentlichen Dienst besteht diese Chance, weil die Beschäftigten das wollen. Im öffentlichen Dienst besteht diese Chance erst recht, weil Teilzeit mit Arbeitsplatzsicherheit verbunden ist und weil sie deswegen wirklich vorbildlich wäre. Davon finde ich nichts, nichts, nichts in diesem Gesetzentwurf.
({11})
So kommt es mir dann auch so vor, als ob, während öffentlich über das „Bündnis für Arbeit" diskutiert wird und es fast zu scheitern droht, im ureigensten Verantwortungsbereich des Staates ein Bündnis gegen die Arbeit geplant würde, übrigens ein Bündnis gegen die Arbeit und auch gegen die Umwelt.
({12})
Das betrifft den zweiten Teil Ihrer Vorhaben. Gerade weil Sie sich nicht trauen, den Arbeitsbereich neu zu organisieren, fangen Sie an, mit dem Rotstift zu streichen bei allen Errungenschaften im Umweltbereich, im Bereich der Bürgerrechte und im Bereich des Rechts, zu den Verwaltungsgerichten zu gehen, die wir in den letzten Jahren alle mühselig erreicht haben.
Nächster und vielleicht wichtigster Punkt. Jeder weiß - das haben auch alle meine Vorredner gesagt -: Die Reform des öffentlichen Dienstes wird man nicht
ohne die Motivation der Beschäftigten hinbekommen. Wenn Sie aber, Herr Minister Kanther, zum Beispiel mit der Vorschrift über die Stellenstreichung anfangen und von fünf oder drei Prozent Stellenstreichung reden, dann haben Sie 100 Prozent der Beschäftigten gegen sich, weil die sich dann sagen: Nachher bin ich es! Wenn Sie mit der Aussage anfangen, zehn Prozent höherqualifizieren und eingruppieren zu wollen, dann haben Sie 90 Prozent der Beschäftigten gegen sich, weil diese sich gekränkt und abgewertet fühlen.
Ich glaube, dieser Weg ist vollkommen verkehrt. Man muß die Motivation der Beschäftigten als beste Kenner der staatlichen Verwaltung geradezu hervorlocken. Dann wird man in bezug auf versteckte bürokratische Vorhaben fündig werden und jede Menge Verbesserungsvorschläge erhalten, die die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz nämlich am besten entdecken können.
({13})
Frau Vollmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Gerne.
Verehrte Frau Kollegin, ich war eben so überrascht, daß ich erst einmal in dem Gesetzentwurf nachschauen mußte, als Sie sagten, von Teilzeitarbeit stünde nichts darin.
({0})
Ist es nicht ganz im Gegenteil so, daß in dem Gesetzentwurf steht, daß Teilzeitarbeit 15 Jahre ohne weitere Voraussetzungen zulässig ist und ein solcher Antrag nur auf Grund dienstlicher Belange abgelehnt werden kann? Ist es nicht so, daß gerade die Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst in den letzten 20 Jahren um das Fünffache zugenommen hat? Darum verstehe ich Ihre Bemerkung nicht, weil Sie zu diesem Punkt sagen, Sie hätten „nichts, nichts, nichts" dazu im Gesetzentwurf gefunden.
({1})
Herr Kollege Hirsch, ich weiß, daß in dem Gesetzentwurf etwas über die Teilzeitmöglichkeit steht,
({0})
aber sie ist die Ausnahmeregelung. Ich habe von einer Teilzeitoffensive, von der Umgestaltung des ganzen öffentlichen Dienstes und von dem Regelangebot Teilzeit gesprochen.
({1})
Und ich habe davon gesprochen, daß Sie begreifen müssen, daß man genau in unserem Verantwortungsbereich zeigt, wie man es machen könnte: mit Zustimmung und sogar auf ausdrücklichen Wunsch der Beschäftigten. Es ging also nicht um die Ausnahmeregelung, sondern um die grundsätzliche Teilzeitoffensive. Die habe ich eingeklagt.
({2})
Ich kann leider auf unsere eigenen Vorschläge - ich bitte Sie, hierzu unser Papier zu lesen - nicht ausführlicher eingehen, weil meine Zeit nahezu vorbei ist. Es geht auch um die Abschaffung des Dschungels an Zulagen, statt ihn weiter zu vermehren, um die Besoldung nach Leistung und nicht nach Dienstalter sowie um Aufstieg und Quereinstieg nach Eignung und Fachkenntnis und nicht nach strengen Laufbahngrenzen.
Insgesamt - das zum Abschluß - kann man die Reform des öffentlichen Dienstes nicht ohne eine Reformstimmung, ohne eine Reformidee und ohne eine Reformoffensive im Bereich der Beschäftigten haben.
({3})
Und eines sage ich beiden großen Parteien ins Stammbuch:
({4})
Diese Reformstimmung werden Sie nicht ohne die Grünen haben.
({5})
Wenn Sie sich auf die Große Koalition vorbereiten, dann sage ich Ihnen: Damit können Sie manche Schwierigkeit vermeiden, aber eine Reformstimmung in diesem Land - gerade im Zentrum des Staates - bekommen Sie ohne uns nicht hin.
({6})
Bevor ich dem Kollegen Westerwelle das Wort gebe, möchte ich auf der Ehrentribüne den Präsidenten der Nationalversammlung der Republik Togo, Herrn Dahuku Péré, und seine Delegation ganz herzlich begrüßen.
({0})
Herr Präsident, verehrte Mitglieder der Delegation, wir haben Sie zum Deutschen Bundestag eingeladen. Wir haben seit 1994 und gerade bei den Wahlen mit großer Aufmerksamkeit die Entwicklungen in Ihrem Land verfolgt. Wir wissen um den schwierigen Demokratisierungsprozeß, wollen ihn stützen und jenen Kräften entgegenwirken, die diesen Demokratisierungsprozeß nicht wollen.
Ich bin sehr froh, daß wir uns in diesen Tagen hier austauschen können und die alten Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern vertiefen können. Ich hoffe, daß unser Austausch stärkend wirkt, auch im wirtschaftlichen Bereich, und Sie in den Demokratisierungsbemühungen Ihres Landes nicht nachlassen.
Herzlich willkommen beim Deutschen Bundestag.
({1})
Herr Kollege Westerwelle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, daß man bei einer Debatte zum schlanken Staat ein Antragspaket mit insgesamt 149 Druckseiten zu beraten hat. Ich meine, daß man sich schon einmal Gedanken darüber machen muß, und zwar jenseits aller Parteipolitik, ob es nicht etwas mit dem jeweiligen eigenen Verhalten zu tun hat, wenn wir in Deutschland eine zunehmende Regelungsdichte zu beklagen haben.
({0})
Das kann auch in Zahlen ausgedrückt werden. In der 10. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages wurden noch 320 Gesetze erlassen, in der
11. Legislaturperiode 366 Gesetze, und in der
12. Legislaturperiode waren es dann 493 Gesetze.
({1})
Ich denke, es ist wichtig, daß wir uns selber bescheiden und uns darüber im klaren sind, wer den schlanken Staat will, muß den fetten Staat auf Diät setzen.
({2})
Bei der Debatte um den schlanken Staat geht es um das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts.
Es ist kein guter Zustand, wenn ein mittelständischer Unternehmer in Deutschland eine Firma gründen möchte und dann zwischen 200 und 300 unterschiedliche Vorschriften zu beachten hat. Dann darf man sich über den Spott: BRD gleich „beinahe regelungsdicht", nicht wundern.
Es gibt einen bemerkenswerten Satz eines belgischen Unternehmers, der einmal gesagt hat: Wenn es nach den deutschen Vorschriften ginge, dann würde nicht einmal eine Biene die Flugtauglichkeitsprüfung bestehen. Ich denke, es ist schon wichtig, wenn einem der Spiegel hier einmal vorgehalten wird.
Das Entscheidende ist, daß sich der Staat auf seine Kernaufgaben reduzieren muß; denn viel stärker als die volkswirtschaftlichen Leistungen sind die Personalausgaben des Staates angestiegen. 1970 waren dafür bei Bund, Ländern und Gemeinden noch 61,5 Milliarden DM vorgesehen. Heute sind es auf allen staatlichen Ebenen schon rund 350 Milliarden DM. Übrigens, den Löwenanteil bei der Explosion der Personalausgaben steuern mit 191,5 Milliarden DM die Bundesländer bei.
Die Prognosen für die Zukunft zeigen, daß entweder die Personalausgaben künftige Haushalte verschlingen werden oder wir jetzt drastisch umdenken
müssen. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob wir den Staat nicht nur im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes zurückführen, sondern ob wir endlich mit einem Zustand Schluß machen, wo immer mehr Annehmlichkeiten, immer mehr Wohltaten auch auf Kosten der nächsten Generationen finanziert werden. Das ist die eigentliche Auseinandersetzung, um die es geht.
({3})
Deswegen, meine ich, ist es zu kurz gedacht - ich möchte Sie da ansprechen -, wenn wir bei diesen Debatten - übrigens auch gestern - immer nur über die Staatsausgaben reden. Dem Ausgabenzuwachs des Staates ging der Aufgabenzuwachs des Staates voraus.
Die eigentliche Frage, die wir beantworten müssen, ist: Wie definieren wir künftig gegen die natürliche Gesetzmäßigkeit der sich ständig ausweitenden Verwaltung das neue Verhältnis zwischen Bürger, Gesellschaft und Staat? Es geht im Grunde genommen darum, daß wir den Staat auf seine Kernaufgaben reduzieren müssen. Dabei ist das Stichwort Privatisierung - Herr Kollege Schily, ich will Ihnen gar nicht widersprechen, aber ich möchte das Stichwort aufgreifen - schon sehr wichtig.
Anfang des Jahres, als die Telekom einen Rechnungsfehler gemacht hat, haben wir uns doch alle Gedanken darüber gemacht: War denn ein solcher Computerfehler vermeidbar? Jeder hat einen neuen Vorschlag für einen besonderen Tarif gemacht, den man hätte einführen können. Nach jeder wöchentlichen Sendung von „Wie bitte?!" mit Geert MüllerGerbes hat wieder die ganze Nation das Lieblingsspottobjekt entdeckt.
Meine Damen und Herren, die eigentliche Antwort kann doch nicht sein, an irgendwelchen Tarifstrukturen herumzudoktern. Unsere Antwort ist: Setzen Sie dem Staatsmonopolisten Telekom private Wettbewerber an die Seite, dann bekommen Sie die Kundenfreundlichkeit und die Verbraucherfreundlichkeit, die man in diesem Lande braucht.
({4})
Deswegen müssen wir den Staat von Aufgaben entlasten. Das ist eine ganz grundsätzliche Auffassung. Es kann nicht gutgehen, wenn man einerseits nach der Vollkasko-Gesellschaft mit Rundumbetreuung ruft, andererseits aber den fett gewordenen Staat beklagt. Wer nach ständig neuen Wohltaten ruft, der darf sich dann nicht wundern, wenn der Staat immer mehr Mittel aufwendet und nach neuen Einnahmequellen sucht.
({5})
Deswegen ist die eigentliche Frage bei der Debatte „Schlanker Staat" aus meiner Einschätzung viel grundsätzlicher. Es geht nämlich darum, wie wir eine Entwicklung in Deutschland stoppen können, wo immer mehr Freiheiten und immer mehr Rechte beim einzelnen Bürger angesiedelt werden, aber immer mehr Pflichten und immer mehr Verantwortung beim Staat. Diese Schere kann nur zur Unfinanzierbarkeit des Staatswesens führen.
({6})
Ich denke, die echte Privatisierung ist deswegen eine der zentralen Aufgaben. Wir sind für ein Privatisierungsgebot, das sich im Zweifel für die Privatisierung entscheidet,
({7})
genau wie bei der Lufthansa, bei der Post, bei der Telekom. Der Staat wird stets der schlechtere Unternehmer bleiben. Das gilt übrigens auf allen politischen Ebenen.
({8})
Wir werden dann aber auch unbequeme Fragen beantworten müssen, die ebenfalls wichtig sind. Es gibt einen bürokratischen Wirrwarr. Wenn 37 verschiedene Anlaufstellen für 153 verschiedene Arten sozialer Hilfe zuständig sind, dann geht das häufig nicht nur zugunsten der wirklich Bedürftigen, sondern auch zugunsten der Findigen. Die eigentliche moralische Verantwortung ist doch: Wenn wir mit dem Gießkannenprinzip so weitermachen, daß wir nämlich an alle ein wenig verteilen, dann wird für die wirklich Bedürftigen zuwenig übrigbleiben. Diese moralische Verantwortung haben wir.
({9})
Wir müssen deswegen - dazu liegen Vorschläge hier auch vor - die Verfahren für Investoren und übrigens auch für die Behörden beschleunigen, für die Investoren neue Wahlmöglichkeiten schaffen und neue Genehmigungserfordernisse erstellen. Die Beschleunigungsmaßnahmen, die hier vorgeschlagen werden, erlauben flexiblere Verfahren, mehr Eigenverantwortung, schnellere Umsetzung und fördern Fortschritte in Wissenschaft, Forschung und Technologie.
Frau Kollegin Vollmer, es ist in meinen Augen wirklich falsch, wenn Sie einen künstlichen Widerspruch zwischen der Debatte „Schlanker Staat", der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren und dem von uns gleichermaßen vertretenen Anliegen eines vernünftigen Umweltschutzes konstruieren wollen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen uns beiden in dieser Debatte: Sie gehen den Weg einer ökologischen Staatswirtschaft, und wir schlagen den Weg einer ökologischen Marktwirtschaft vor. Das ist der entscheidende Unterschied in dieser Debatte.
({10})
Wir müssen, meine Damen und Herren, die entsprechenden Gesetze daraufhin überprüfen, ob sie
notwendig sind. Es gibt dazu, wie ich finde, eine wirklich wichtige Bemerkung: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es eben notwendig, kein Gesetz zu erlassen. Wir müssen den Mittelstand von bürokratischen Sonderlasten befreien.
({11})
Wir müssen deswegen sehr wohl dann, wenn der Staat ein Gesetz erläßt, eine Folgenabschätzung vornehmen, nicht nur im Hinblick auf die Kosten für den Staat, sondern auch im Hinblick auf die Kosten und die Aufwendungen für den privaten Unternehmer, zum Beispiel den mittelständischen, die ebenfalls zu kalkulieren sind.
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Hierzu gibt es Vorschläge, insbesondere des Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, die ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchte.
Meine Damen und Herren, es steht natürlich auch die Reform des öffentlichen Dienstrechtes im Mittelpunkt dieser Debatte. Das ist notwendig. Ich finde, daß die wirklichen Schlüsselbegriffe und die Zielrichtungen diesen Gesetzentwurf richtig charakterisieren. Es geht im öffentlichen Dienst darum, das Leistungsprinzip zu stärken, die Mobilität zu erhöhen und Führungskraft auszubauen.
Wer das Berufsbeamtentum erhalten will - wir wollen das auch im Interesse der Zuverlässigkeit und der Rechtssicherheit von Verwaltungsentscheidungen -, der muß das Berufsbeamtentum reformieren. Das ist überhaupt keine Frage. Es gibt entsprechende Vorschläge gerade hinsichtlich von Teilzeitkombinationen.
Frau Kollegin Vollmer, wenn Sie sich Art. 1 Nr. 13 des Gesetzentwurfes ansehen - das ist der § 44a -, dann finden Sie dort ganz ausführliche Vorschläge der Bundesregierung, hier des Innenministers, zu den Fragen der Teilzeitarbeit.
Wir erleben wirklich seltsame Blüten. Wir reden über Mobilität, und es wird der Eindruck erweckt, als sei das ein unanständiges Angebot, das da gemacht wird. Wir brauchen mehr Mobilität, gerade was den öffentlichen Dienst angeht, und diese Mobilität wird in diesem Gesetzentwurf übrigens auch berücksichtigt, wenn es zum Beispiel um Abordnungen geht.
Jedem ist doch klar, daß diese Gesetzesinitiative zum öffentlichen Dienst mit den Verbänden beraten werden wird und beraten werden muß. Wir wollen keine Reform des Berufsbeamtentums gegen die Betroffenen und ohne ihre Meinung, sondern wir wollen in den bevorstehenden Anhörungen und Beratungen eine möglichst umfassende, weite und breite Beteiligung der betroffenen Berufsorganisationen.
({13})
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit in diesem Bereich.
Es sind seltsame Blüten, die der Staat, der sich immer weiter ausweitet, mittlerweile treibt. In Hessen haben inzwischen wirklich bemerkenswerte Fragen auch des öffentlichen Dienstes Schlagzeilen gemacht. Dort darf man nach vier Monaten mit Höchstversorgung in den Ruhestand gehen.
({14})
Diesen Vorwurf müssen Sie sich nach meinem Dafürhalten wirklich gefallen lassen. Sie sind nicht mehr in der Lage, mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger durch die Landschaft zu gehen und andere anzuklagen. Auf Sie zeigen längst mehr Finger der Hand zurück, wenn es um diese Fragen geht.
({15})
Herr Westerwelle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Nein, ich möchte jetzt meine Ausführungen beenden dürfen.
Ich möchte, meine Damen und Herren, auf eine weitere Sache hinweisen, die mir wirklich wichtig ist und um die es nach meinem Dafürhalten auch geht. Es ist viel darüber diskutiert worden, im Berufsbeamtentum Führungspositionen nur noch auf Zeit zu vergeben. Ich sage Ihnen dazu: Wenn Sie Führungspositionen auf Zeit vergeben, statt, wie wir es vorschlagen, Führungspositionen auf Probe zu vergeben, dann öffnen Sie der Parteipolitisierung der öffentlichen Verwaltung Tür und Tor. Das ist der Grund, warum wir da Bedenken haben.
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In Hessen hat eine Umweltbehörde von einem kleinen Betrieb verlangt, den Schornstein zu erhöhen. Die untere Naturschutzbehörde dagegen forderte anschließend das genaue Gegenteil. Sie verlangte nämlich, die Erhöhung des Schornsteins müsse unterbleiben, da sonst einige Vögel in ihrem Flug beeinträchtigt würden. Schließlich verlangte die untere Denkmalbehörde, der Turm dürfe nicht verändert werden, weil er schon einem Industriedenkmal vergleichbar sei.
Meine Damen und Herren, so stellt sich dann eben der fette Staat für den einzelnen Betroffenen dar, und deswegen ist es eine wichtige Frage, daß wir im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes einen schlanken Staat fördern, daß wir den Staat an die Kette legen. Es gilt beim Staat, was oftmals gilt: Weniger ist mehr - im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, aber auch im Interesse der Finanzierbarkeit unseres Gemeinwesens gerade mit Rücksicht auf die nächsten Generationen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Schlanker Staat" - das klingt natürlich ungeheuer populär, damit läßt sich auch sehr gut Wahlkampf machen; denn das Wort „Staat" ist nicht besonders positiv besetzt, wohingegen das Wort „schlank" sehr positiv besetzt ist.
({0})
- Aber, Herr Fischer, zweifellos, im Patriarchat im Bündnis mit Modezeitschriften ist das Wort „schlank" natürlich positiv besetzt, insbesondere wenn es um den Umgang mit Frauen geht. Bei Männern ist das anders. Sie nehmen dann für sich in Anspruch, gemütlich und interessant zu sein. Das ist eine der Ungerechtigkeiten, obwohl der Kanzler das lebende Gegenbeispiel dafür ist.
({1})
Davon ganz abgesehen, ist meine Sorge eine andere: Geht es Ihnen wirklich um den schlanken Staat, oder geht es Ihnen nicht vielmehr um dünnes Recht? Ich glaube, daß Sie letzteres anstreben. Das bedeutet dann eine Beeinträchtigung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, und zwar gerade, was die Rechtswegegarantie, den ökologischen und den sozialen Bereich betrifft.
Sie wollen eine Reduzierung der Aufgaben des Staates - aber welcher Aufgaben? Der Aufgabe, für den sozialen, den ökologischen und den kulturellen Ausgleich zu sorgen! Das ist eine Aufgabe, von der wir meinen, daß der Staat sie sogar umfassender wahrnehmen muß, als es gegenwärtig der Fall ist.
({2})
Wir würden uns natürlich immer treffen, wenn es um Entbürokratisierung geht. Dazu werde ich noch etwas sagen. Aber meine Hauptsorge ist - das hat auch mit dem Ost-West-Konflikt etwas zu tun -: Seit der Einheit, seit dem 3. Oktober 1990, betreiben Sie drei Dinge auf einmal: Erstens setzen Sie die Bundeswehr international ein und militarisieren die Gesellschaft - etwas, was vor der Einheit in dieser Form völlig undenkbar war. Zweitens betreiben Sie den Sozialabbau und kündigen den Sozialstaatskompromiß, der seit 1949 galt, weil Sie glauben, den sozialen Wettbewerb mit dem Ostblock nicht mehr führen zu müssen.
({3})
Drittens betreiben Sie jetzt auch noch Demokratie- und Rechtsabbau - das ganze unter dem Motto des „schlanken Staates" -, was in Wirklichkeit Einschränkungen von Bürgerinnen- und Bürgerrechten bedeutet, wogegen wir uns ganz entschieden wehren.
({4})
Wenn Sie zum Beispiel in der Verwaltungsgerichtsordnung das einzige Rechtsmittel, das es in bestimmten Fällen gibt, die Berufung, an ganz hohe Zulassungskriterien knüpfen wollen, wollen Sie praktisch das Rechtsmittel abschaffen, was übrigens ein Verstoß gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ist, wonach jede Gerichtsentscheidung durch ein einfaches, umfassendes, zulässiges Rechtsmittel überprüft werden können muß. Genau das wollen Sie abschaffen.
({5})
- Nein, das stimmt nicht. Das ist ein Irrtum. Das bilden Sie sich nur ein. Schon die Revision ist kein wirkliches Rechtsmittel. Darüber könnten wir gerne einen langen juristischen Streit führen. Das hat jetzt keinen Sinn. Aber ich behaupte, daß Sie Schritt für Schritt die Rechtswegegarantie einschränken.
({6})
Das hat Methode.
({7})
In Wirklichkeit könnten viele Probleme dann besser gelöst werden, wenn zum Beispiel bestimmte Behörden, insbesondere die Finanzbehörden, besser ausgestattet wären. Das Problem ist dort ein ganz anderes. Die 850 Millionen DM, die an die Vulkan AG für den Osten gingen und die im Osten nie angekommen sind - wie viele Beamte haben das geprüft? Offensichtlich kein einziger. Vergleichen Sie das einmal mit der Zahl der Beamten, die einen Antrag einer Sozialhilfeempfängerin auf einen Zuschuß von 200 DM prüfen. Damit sind mindestens fünf Leute beschäftigt, und die kontrollieren das auch noch.
({8})
Das ist die Realität in unserer Gesellschaft. Vielleicht müßte man das umstellen.
Entbürokratisierung - damit bin ich doch einverstanden. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel erzählen. Ich habe mich mit einer Funkstreifenbesatzung unterhalten, die in der Nähe von Schönefeld bei Berlin wirkt. Die Polizisten haben mir im Ernst erklärt, daß sie zwischen 50 und 70 Prozent ihrer Arbeitszeit damit zubringen, Formulare auszufüllen ({9})
das Ganze auch noch wegen wirklicher Bagatelldelikte. Da gibt es Anklagen vom Staatsanwalt - ich habe sie gelesen; damit wird die Justiz beschäftigt -, weil jemand auf der Autobahn von rechts überholt hat, was natürlich nicht richtig ist. Aber da genügt nicht ein kleiner Bescheid; da muß eine richtige Anklage her. Es ist kein Unfall, es ist nichts passiert! Da wird ein Richter beschäftigt. Da wird ein Staatsanwalt beschäftigt. Das sind die Realitäten.
Schaffen Sie die Bagatelldelikte im Strafgesetzbuch ab! Das wäre ein Akt der Entbürokratisierung.
({10})
Entlasten Sie die Polizei von bürokratischen Aufgaben und sorgen Sie dafür, daß sie der Kriminalität vorbeugen kann und die Kriminalität bekämpfen kann!
({11}): Sie meinen
doch etwas ganz anderes! Sie meinen doch
gar nicht das Beispiel, das Sie genannt
haben!)
Wie kommt es denn, daß wir bei Mord und Totschlag keine Polizisten haben? Aber wenn sich irgendwo 30 Linke zur Demo treffen, dann sind immer 500 Polizisten anwesend. Da haben Sie noch nie einen Mangel an Beamten gehabt. Das sind die Realitäten in dieser Gesellschaft.
({12})
Auch wenn Sie soziale Sicherung einführen, können Sie entbürokratisieren. Wenn wir zum Beispiel ernsthaft über eine soziale Grundsicherung nachdenken würden, wenn wir das als Anspruch regeln würden, dann würden wir uns natürlich sehr viel Verwaltungsarbeit schenken können. Es gäbe kaum noch Sozialhilfe. Wir müßten da nichts überprüfen. Wir könnten das Kindergeld ganz anders regeln. Es gäbe hier Möglichkeiten, ganz entscheidend zu entbürokratisieren, wenn man soziale Ansprüche festschriebe und nicht gerade dort so viel Kontrolle einführte, wie wir es gegenwärtig erleben.
Im übrigen: Wo steht denn geschrieben, daß alles so kompliziert sein muß - da stimme ich Ihnen ja zu -, ob das soziale Anträge sind, ob das Anträge bei Existenzgründungen sind?
Im Osten hatten wir ja schon ein vereinfachtes Recht, und dennoch war jede und jeder überfordert. Im Osten haben wir im Vergleich zu den alten Bundesländern eine Weile gewisse Erleichterungen gelten lassen, und dennoch war jede Existenzgründerin, jeder Existenzgründer restlos überfordert, wenn er ein Unternehmen gründen wollte, und war sechs, sieben Monate allein mit den Anträgen beschäftigt, bevor er dazu kam, überhaupt etwas zu unternehmen. Eigentlich heißen aber Unternehmerinnen und Unternehmer so, weil sie etwas unternehmen sollen, aber dazu kommen sie ja heute überhaupt nicht mehr.
Die Bedingungen in den alten Bundesländern sind noch katastrophaler. Hier können Sie entbürokratisieren.
Übrigens könnten Sie auch das Bankwesen wesentlich verändern, damit die Kreditvergabe anders erfolgt, was auch viele Existenzgründungen erleichtern würde. Auf der Strecke muß man verändern, nicht auf der, auf der Sie das vorhaben.
({13})
Dann müßte man dezentralisieren. Denn die meisten Aufgaben liegen doch heute beim Bund und viele beim Land. Das Problem besteht doch darin, daß nicht dort entschieden wird, wo die höchste Sachkenntnis liegt, nämlich in der Kommune. Dezentralisieren Sie doch endlich einmal staatliche Befugnisse! Dann würde vieles auch sehr viel schneller gehen, als das heute der Fall ist.
Dann haben Sie gesagt, wir müßten Stellen abbauen. Nein, wir müssen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit anderen Aufgaben beschäftigen. Es ist doch nicht so, daß es im sozialen Bereich, im Bildungsbereich, im Kulturbereich und im ökologischen Bereich nicht genügend Arbeiten gibt. Ich bin sogar der Meinung: Wir brauchen zusätzlich einen öffentlichen Beschäftigungssektor.
({14})
Den könnten wir finanzieren, wenn wir auf der einen Seite entbürokratisieren und auf der anderen Seite Steuergerechtigkeit herstellen,
({15})
wenn wir endlich dafür sorgen, daß diejenigen Steuern zahlen, die die entsprechenden Einkommen und Vermögen besitzen, und nicht immer bei jenen kürzen, die sowieso schon die sozial Schwächsten in unserer Gesellschaft sind.
Deshalb sage ich Ihnen, daß es allein mit der Frage des schlanken Staates, wie Sie das darstellen, nicht zu machen sein wird. Sie werden den versprochenen Effekt nicht erreichen; Sie werden lediglich erreichen, daß wir zum Beispiel keine Sicherheit im Umweltbereich mehr haben werden, daß es höchst gefährliche Anlagen geben wird, bei denen wir die Gefahr erst dann feststellen, wenn sie schon in Betrieb genommen worden sind. Das ist Ihr Ziel.
Sie werden erreichen, daß die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern zu Einsprüchen, wenn sie durch bestimmte Dinge unmittelbar beeinträchtigt sind, immer weiter zurückgehen. Das heißt, Sie werden Politikverdrossenheit und Demokratieverdrossenheit erhöhen, und Sie werden erreichen, daß die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ohnmächtig dem Staat gegenüberzustehen.
({16})
Genau das ist Ihr Ziel, und ich sage Ihnen: Damit sägen Sie an den Grundlagen dieser Bundesrepublik Deutschland.
Jetzt einmal zu den unangenehmen Seiten.
({17})
- Es gibt ja auch unangenehme, das können Sie ja nicht im Ernst bestreiten. Auch wir gehören ja zur Bundesrepublik Deutschland, und wenigstens uns empfinden Sie als unangenehme Seite. Sie können ja nicht bestreiten, daß es so etwas gibt.
Sie machen sich immer in Ihren Kleinen Anfragen Sorgen über die Verfassungstreue der PDS. Ich maDr. Gregor Gysi
che mir viel größere Sorgen über die Verfassungstreue der CDU/CSU und ihres Umfeldes.
({18})
Alle Angriffe auf das Grundgesetz in den letzten sechs Jahren kamen von Ihrer Fraktion. Die Aushöhlung der Rechtswegegarantie kommt von Ihrer Fraktion. Sie interpretieren das Grundgesetz so, wie Sie es wollen: Mal gehen internationale Einsätze der Bundeswehr über Jahre nach diesem Grundgesetz nicht, und dann stellen Sie über Nacht fest, nach demselben Grundgesetz soll es doch gehen. Das sind die Realitäten.
({19})
Ich meine, daß wir uns von Ihnen diesbezüglich keine Vorwürfe anzuhören brauchen.
({20})
- Ja, natürlich sind Rechtsfragen auch Machtfragen. Das hat sich sogar bis zu mir herumgesprochen. Das habe ich übrigens auch erlebt. Genau weil das so ist, lieber Herr Fischer, lieber Joschka Fischer,
({21})
sollten wir vielleicht gemeinsam dafür streiten, daß die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zunehmen, und dafür sorgen, daß die Koalition diese Rechte nicht unter dem Deckmantel des schlanken Staates abbaut, ein in Wirklichkeit dünnes Recht einführt, das heißt, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger einschränkt. Entbürokratisieren sollen Sie, aber nicht die Rechte der Menschen einschränken!
Danke.
({22})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Justiz, Herr Schmidt-Jortzig.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder Schritt zur Verwirklichung des schlanken Staates ist zugleich ein Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland, aber auch unmittelbar zur Leistungssteigerung des Gemeinwesens. Das ist der diametrale Unterschied zu Ihrer Position, Herr Gysi. Viele Bürger, viele Unternehmen klagen über eine umfängliche Regulierung ihrer Lebensbereiche, die trotz beginnender Bemühungen um Rücknahme und Begrenzung staatlicher Einflußnahme in den letzten Jahren leider weiter zugenommen hat. Handlungs- und Gestaltungsspielräume von Bürgern und
Wirtschaft werden mehr als notwendig eingeschränkt.
Weniger Staat und mehr Freiheit, weniger hoheitliche Fremdbestimmung und Schaffung von mehr Entfaltungsraum für den einzelnen, kurz: ein schlanker Staat - dieses liberale Anliegen ist eine vordringliche Aufgabe, deren Bewältigung von vielen als Nagelprobe für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands angesehen wird.
({0})
In dem Maße, in dem es gelingt, der Überreglementierung Einhalt zu gebieten, braucht er, der Staat, auch keine ausufernde Bürokratie, um solche Regulierungen umzusetzen und kontrollieren zu können. Der Schlüssel aus dem, wie Max Weber es einmal ausgedrückt hat, „Gefängnis der Bürokratie" sind die Beschränkung der Rechtsetzung auf das erforderliche Maß, der Rückbau der Apparate und die Verringerung des staatlichen Finanzbedarfs.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat diese Herausforderung angenommen. Heute wird ein ganz wichtiger Schritt in Richtung schlanker Staat für das Recht von Planungs- und Genehmigungsverfahren, für die Reform des öffentlichen Dienstrechts und für bestimmte Gerichtsverfahren getan.
Unter dem Schlagwort „Globalisierung" treffen industrielle Investoren ihre Entscheidungen heute weltweit. In diesem Zusammenhang spielt der Faktor Zeit eine ganz maßgebliche Rolle. Deshalb hat eine von der Bundesregierung eingesetzte Arbeitsgruppe das vorliegende Gesetzespaket entwickelt.
Der Entwurf empfiehlt insbesondere, im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes neue Vorschriften zur Beschleunigung investitionsrelevanter Genehmigungsverfahren einzuführen. Die wesentlichen Neuerungen sind eine frühzeitige Erörterung zwischen Antragsteller und Behörde über die erforderlichen Unterlagen, ein sternförmiges Verfahren zur Beteiligung anderer Stellen, bei dem die verschiedenen Behörden ihre Stellungnahmen nicht nacheinander, sondern parallel und innerhalb fester Fristen abgeben müssen, sowie eine stärkere Straffung der Planfeststellungsverfahren.
Eine Beschleunigung der Verwaltungsverfahren allein reicht aber nicht aus. Hinzukommen muß eine Verkürzung der Verwaltungsgerichtsverfahren, die im Falle der Anfechtung erteilter Genehmigungen Investitionsvorhaben deutlich verzögern können.
Die Beschleunigung und Verkürzung verwaltungsgerichtlicher Verfahren dient sowohl dem Bürger, der in angemessener Zeit Rechtsschutz gegen Akte staatlicher Verwaltung erfahren muß, als auch namentlich der Sicherung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit Deutschlands.
({1})
Es freut mich, dazu heute den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vorstellen zu können, von dem wichtige VerfahrensBundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig vereinfachungen und Verbesserungen im Verwaltungsgerichtsprozeß zu erwarten sind. Der Gesetzentwurf soll unter voller Wahrung der Essentials staatlicher Rechtsschutzgarantie Verkürzungen der Verfahren bewirken.
Herr Gysi - jetzt ist er nicht mehr da; dann lasse ich das -,
({2})
es stimmt natürlich nicht, daß in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zwei Instanzen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vorgesehen sind. Es geht dort um die Strafgerichtsbarkeit.
({3})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gysi?
Gerne.
Räumen Sie ein, daß in der Konvention die Frage des Rechtsmittels auch für den Zivilrechtsbereich - nicht nur für den Strafrechtsbereich - geregelt ist, daß im übrigen aber, zum Beispiel für den Strafrechtsbereich, ein volles Rechtsmittel - und nicht ein eingeschränktes, wie es zum Teil bei der Revision der Fall ist - gefordert wird?
Im übrigen wollte ich mich entschuldigen: Weil die Regierung noch andere Sünden begangen hat, muß ich in den Plutonium-Ausschuß. Das ist nicht etwa Desinteresse, wenn ich dann gehe.
({0})
Herr Gysi, ich weise nur darauf hin - das zeigt die Überschrift dieses Entwurfs -, daß wir hier über die Verwaltungsgerichtsordnung sprechen und über nichts anderes. Wenn Sie hier den Zivilprozeß vorführen wollen, ist das gut und schön, hat aber nichts mit unserem Tagesordnungspunkt zu tun.
({0})
Berufungsmöglichkeiten gegen erstinstanzliche Urteile der Verwaltungsgerichte sollen ebenso wie die aufschiebende Wirkung bestimmter Rechtsbehelfe eingeschränkt werden. Fehler in der Verwaltungsentscheidung während des gerichtlichen Verfahrens sollen einfacher korrigierbar werden, Normenkontrollverfahren künftig denjenigen vorbehalten bleiben, die wirklich selber in ihren Rechten betroffen sind, und das Beweisantragsrecht in Massenverfahren soll beschränkt werden. Das sind alles massive Forderungen im Interesse einer Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
({1})
- Herr Fischer, ich werde Sie, auch wenn Sie noch so sehr buhlen, nicht wie Herr Gysi mit „lieber Joschka Fischer" titulieren.
({2})
Der Entwurf zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und die übrigen vorgelegten Gesetzentwürfe sind ein deutlicher Beleg für den Willen der Bundesregierung,
({3})
mit konkreter Entschlackungspolitik Unternehmen zu Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu bewegen. Diesen Weg wird die Bundesregierung fortsetzen.
({4})
- In aller Ruhe: Der eingesetzte Sachverständigenrat „Schlanker Staat" soll nicht neue Gutachten produzieren, sondern ganz konkrete Neuerungsschritte und ihre schnelle Umsetzung in der Praxis vorbereiten.
({5})
- Hören Sie vielleicht einmal zu, Herr Fischer; dann ersparen Sie sich das Lesen.
({6})
Erste Empfehlungen des Sachverständigenrates liegen bereits vor: Mit einem Testkatalog für gesetzgeberische Vorhaben soll erreicht werden, daß die Erforderlichkeit von Gesetz- und Verordnungsentwürfen stärker als bisher hinterfragt wird und die Folgen von gesetzlichen Regelungen für den Bürger und die Wirtschaft konsequenter als bisher im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens abgeschätzt werden.
({7})
Daneben soll stärker als bisher eine Aufgabenkritik stattfinden. Bei einer Staatsquote von mehr als 50 Prozent ist eine Reduzierung der entsprechend finanzierungsbedürftigen Staatsaufgaben sicher dringend geboten. Dieses Ziel kann nur erreicht werden,
wenn sich der Staat an das Subsidiaritätsprinzip hält. Das ist allen bewußt.
Weitere Projekte zur Entschlackung der staatlichen Rechtsetzung sind für diese Legislaturperiode in Arbeit. Hierzu zählt eine Novellierung des Baugesetzbuchs und anderer öffentlicher Baurechtsvorschriften.
Gleiches gilt für eine Reform des öffentlichen Haushaltsrechts; Herr Kollege Kanther hat schon darauf hingewiesen. Gerade im Haushaltsrecht können wir uns von einem Schritt weg von der starren alten Kameralistik wirklich Einsparungen versprechen. Unser gegenwärtiges System führt noch immer dazu, daß Einsparungen damit bestraft werden, daß die entsprechenden Haushaltstitel im Folgejahr gekürzt und so diejenigen bestraft werden, die Einsparungen erzielen.
({8})
Wir kennen die Auswüchse unter dem Stichwort „Dezemberfieber' sattsam.
({9})
In meinem Geschäftsbereich stehen weitere Reformen zur Verschlankung des Staates an. Es sind dies insbesondere: eine Novelle zum Ordnungswidrigkeitengesetz, eine Vereinfachung des Mietrechts und eine Verbesserung des Zwangsvollstreckungsrechts mit dem Ziel, Gläubigern gerade im Bereich des Handwerks, insbesondere in den neuen Ländern, bessere Chancen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche zu geben.
({10})
Schließlich ist eine Verschlankung der staatlichen Bürokratie erforderlich. Die Bundesregierung hat bereits eine Vorlage beschlossen, nach der der Umzug nach Berlin genutzt werden soll, Bundesbehörden zu straffen und den Personalbestand des Bundes mittelfristig zu verringern.
({11})
Außerdem wurden Behörden verkleinert, zusammengelegt oder aufgelöst. Der Bundesminister der Finanzen hat darüber letzte Woche einen Bericht vorgelegt, an dem, Herr Schily, der Bundesinnenminister natürlich den entscheidenden Anteil hatte.
({12})
Ich meinerseits werde mich in meinem Ressort um eine weitere Entlastung des Sektors Justiz bemühen und insbesondere die Länder zu ermuntern versuchen, Organisation, Ablaufstrukturen und Arbeitsausstattung der Justiz zu reformieren. Hier, meine Damen und Herren von der SPD, könnten Sie wirklich intensiv mitarbeiten. In den Landesjustizbehörden gibt es ein großes Maß interner Reformreserven, die nicht ausgeschöpft werden.
Bereits in den nächsten Wochen soll im übrigen eine Novelle zum Schiedsverfahrensrecht vorgelegt werden, die die außergerichtliche Streitbeilegung in Deutschland vereinfachen wird.
({13})
Meine Damen und Herren, bereits an diesem kurzen Abriß ist abzulesen - auch zu hören, Herr Fischer -, daß die Bundesregierung alles daransetzt, durch Staatsverschlankung Deutschland für den steigenden Konkurrenzdruck in einer immer enger zusammenwachsenden Welt fit zu machen. Sicher ist hierbei auch der „Druck der schmalen Kassen" hilfreich. Wenn es dadurch gleichzeitig gelingt, die Eigenverantwortlichkeit der Menschen und ihren Willen zur Eigeninitiative durch gesellschafts- und sozialpolitische Maßnahmen zu stärken, braucht uns um die Zukunft Deutschlands als Wirtschaftsstandort nicht bange zu sein.
Besten Dank.
({14})
Zu diesem Thema spricht jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich vorweg zwei Bemerkungen machen.
Erste Bemerkung: Wenn man Herrn Kanther hört - er sagte, man müsse überlegen, man müsse prüfen, man müsse sich Gedanken machen -, dann fragt man sich: Wer regiert denn hier eigentlich seit 1982?
({0})
Zweite Bemerkung: Herr Westerwelle redet zu diesem Thema, obwohl er nur auf Grund der inflationären Ernennung von Staatssekretären unter dieser Bundesregierung in den Deutschen Bundestag gekommen ist.
({1})
Das alles halte ich nicht für glaubwürdig.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz offen: Der Begriff „schlanker Staat" ist ein falscher Begriff. Als ob es bei diesem Reformprojekt ausschließlich auf die Größe und den Umfang des Staates ankäme! Nein, es geht in erster Linie um Effektivität und Effizienz staatlichen Handelns.
({2})
Wir brauchen ein bißchen mehr Dynamik für dieses Thema, wie die heutige Debatte von seiten der Regierung gezeigt hat.
({3})
Ich meine auch, daß wir klare Ziele formulieren müssen. Wir brauchen einen leistungsfähigen und kostenbewußten Staat, der sich auf wichtige Aufgaben konzentriert. Ich nenne fünf Punkte: Sicherung der bürgerlichen und sozialen Grundrechte, Abwehr ökologischer Gefahren, Setzung ökonomischer Rahmenbedingungen, Gewährleistung eines modernen Bildungswesens und eine leistungsfähige Infrastruktur.
({4})
Meine Damen und Herren, ich schreibe Ihnen ins Stammbuch: Ohne soziale Sicherheit sind auf Dauer weder Menschenwürde noch Demokratie, noch Freiheit, noch innerer Frieden, noch Wohlstand in dieser unserer Gesellschaft möglich.
({5})
Durch das Erfinden neuer Etikette wird Ihre Politik auch nicht besser. Das hat die Praxis bisher gezeigt.
Die Zahl der Gesetze ist - auch das will ich Ihnen ins Stammbuch schreiben - keineswegs geringer, die Vorschriften sind nicht einfacher und nicht verständlicher geworden. Ihre Bemühungen auf dem Gebiet der Rechtsvereinfachung haben keine nennenswerten Erfolge. Sie haben den Bürgerinnen und Bürgern Entbürokratisierung versprochen, aber sie im Grunde genommen mit einer Vielzahl neuer Vorschriften belastet, die Bürokratie also ausgeweitet, statt sie einzuschränken. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist das von Ihnen zu verantwortende Steuerrecht, bei dem heute kein Mensch mehr durchblickt.
({6})
Seien wir ehrlich: Sie haben die Modernisierung der Bundesverwaltung bisher gar nicht ernsthaft angepackt. Diese Bemühungen stecken in den Kinderschuhen, stecken in den Anfängen. Wir müssen die Aufgaben des Staates annehmen. Die Herausforderungen an die Politik sind gewachsen. Wir brauchen deshalb dringender denn je einen handlungsfähigen und einen sozial verantwortlich handelnden Staat. Ich wiederhole: Wir brauchen ein effektives und effizientes staatliches Handeln.
Vor dieser Aufgabe haben Sie versagt. Ich will das mit einem weiteren Beispiel belegen. Auch bei dem heute zur ersten Beratung vorliegenden Gesetzentwurf zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren stehen Ankündigung und Praxis im Widerspruch.
({7})
Sie wollen für Genehmigungsverfahren auch außerhalb der Planfeststellung besondere gesetzliche Verfahrensregeln schaffen. Das würde aber den Bemühungen der Länder, eine Verringerung der Regelungsdichte zu erreichen, widersprechen.
Öffentliche Verwaltung braucht nicht weniger, sondern mehr Entscheidungsspielräume vor Ort.
({8})
Sie können nicht immer nur von Entbürokratisierung und Rechtsvereinfachung reden, im entscheidenden Augenblick aber das Gegenteil tun, indem Sie neue überflüssige Vorschriften schaffen und das Maß der Bürokratie erhöhen.
Ich denke, wir haben in der Zukunft die Aufgabe, auf die wir uns verständigen sollten: Wir müssen die Regelungsdichte reduzieren und bei neuen Rechtsvorschriften immer vier Punkte hinterfragen und kritisch prüfen:
Erstens. Ist das anstehende gesellschaftliche Problem bei Beachtung vorgegebener Maßstäbe nur durch staatliches Handeln zu lösen?
Zweitens. Gibt es Möglichkeiten administrativer Einflußnahme, eine Regelung zu vermeiden?
Drittens. Können die vorgesehenen Regelungen befristet werden?
Viertens. Können die Regelungen klarer, einfacher und übersichtlicher gefaßt werden?
Solche Bemühungen haben in unserer Industriegesellschaft auch ihre Grenzen. Wir können aber die Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts nicht mit dem Staat, dem staatlichen Handeln und den staatlichen Strukturen des 19. Jahrhunderts bewältigen.
({9})
Wir haben in diesem Hause schon mehrfach über die Verwaltungs- und Dienstrechtsreform debattiert. Unsere grundsätzlichen Positionen dazu sind bekannt und werden auf der Grundlage unserer Anträge in den Ausschüssen beraten. Wir werden zur Verwaltungs- und zur Dienstrechtsreform im Innenausschuß getrennte Anhörungen beantragen.
Ich will deshalb nur einige Stichworte herausgreifen. Das erste Stichwort heißt: Verzahnung von Verwaltungs- und Dienstrechtsreform. Lesen Sie dazu bitte den Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts aus dem Jahre 1972. Lassen Sie mich ausnahmsweise zitieren:
Die engen Zusammenhänge zwischen dem System des öffentlichen Dienstes und der Organisation der öffentlichen Verwaltung machen es erforderlich, beide Bereiche aufeinander abzustimmen; insbesondere wird die stärkere Betonung des Leistungsprinzips im öffentlichen Dienst ihren Rückhalt in einem Organisations- und Führungssystem finden müssen, das die Fähigkeit und Bereitschaft der Verwaltungsangehörigen zur bestmöglichen Erfüllung der ihnen anvertrauten Funktionen unterstützt und fördert.
Was hier gefordert wird, ist ein besseres Personalmanagement im Rahmen erneuerter Dienstrechts- und Verwaltungsstrukturen. An dieses zentrale und komplexe Thema haben Sie sich mit Ihrem Entwurf zum Dienstrechtsreformgesetz nicht herangewagt. Die Anregung dieser Kommission, die gut gearbeitet hat, ist also ein weiteres Mal unbeachtet geblieben.
Ich nenne ein zweites Stichwort, meine Damen und Herren: Führungsfunktionen auf Zeit. Da wird uns vorgeworfen, dieser Vorschlag liefe auf eine Politisierung von Führungspositionen im öffentlichen Dienst hinaus.
({10})
Ich sage Ihnen - Frau Albowitz, auch Ihnen -, das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen gerade keine Ausweitung des Kreises der politischen Beamten, sondern eine klare, enge Begrenzung.
({11})
Ich nenne Ihnen auch ein Beispiel. Wie froh wäre Herr Kanther gewesen, wenn der Präsident des Bundeskriminalamtes ein Beamter auf Zeit gewesen wäre! Sie hätten sich viel Ärger erspart, lieber Herr Kanther.
({12})
Ich sage Ihnen: Der jetzige Weg, aus dem Präsidenten des BKA einen politischen Beamten zu machen, ist der völlig falsche Weg.
({13})
Die Bekämpfung der Kriminalität erfordert einen tüchtigen Fachmann, aber keine laufende politische Übereinstimmung und kein besonderes persönliches Vertrauensverhältnis zum Bundesinnenminister. Deswegen, Herr Kanther, kann ich Sie vielleicht mit diesem Beispiel ein bißchen für unseren Vorschlag erwärmen, Führungsfunktionen auf Zeit zu vergeben. Wir sind der Auffassung, daß das der richtige Weg ist.
({14})
Der dritte Punkt ist das Leistungsprinzip. Ich will dazu vorweg sagen: Ihre Vorschläge scheinen mir zu eng und nicht erfolgversprechend zu sein. Die Stärkung des Leistungsprinzips im öffentlichen Dienst ist aber nach unserer Auffassung das zentrale Thema einer Dienstrechtsreform, und wir kommen dabei zu einem anderen Ergebnis als Sie.
Wir kommen zu dem Ergebnis, daß erstens das an den Bildungsabschlüssen orientierte Laufbahngruppenprinzip überholt ist, daß sich zweitens die Bezahlung an konkreten Funktionen und nicht an abstrakten Ämtern ausrichten muß und daß drittens der Aufstieg im Prinzip nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung möglich sein muß.
({15})
Dazu brauchen wir im öffentlichen Dienst durchgängig eine vernünftige, gute, objektive Dienstpostenbewertung und ein neues Beurteilungswesen. Wir brauchen statt der heutigen Abwicklung von
Personalbesetzungen eine Personalentwicklungsplanung. Dringend notwendig ist ein besseres Personalmanagement.
({16})
Die von Ihnen beabsichtigten Leistungszulagen sowie die leistungsabhängige Steigerung des Gehaltes reichen meiner Auffassung nach nicht aus, um dem Leistungsprinzip ausreichend Geltung zu verschaffen, zumal Leistungszulagen für viele Tätigkeiten und weite Bereiche des öffentlichen Dienstes von vornherein überhaupt nicht in Betracht kommen.
({17})
Lassen Sie mich als viertes Stichwort das Teilzeitbeamtenverhältnis nennen, das von manchen auch als Zwangsteilzeit bezeichnet wird.
In unserem Antrag betreffend Modernisierung der öffentlichen Verwaltung schlagen wir die voraussetzungslose Teilzeitbeschäftigung auf Antrag vor, soweit dienstliche Gründe nicht entgegenstehen. Dies entspricht weitgehend der Regelung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, der Ausbau und die Erleichterung von Teilzeitbeschäftigung ist gesellschafts- und familienpolitisch wichtiger denn je. Gerade der Staat, die öffentliche Hand sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen. Ideologische und verfassungsrechtliche Bedenken sollten an dieser Stelle beiseite gelegt werden.
({18})
Auch wenn Sie nicht müde werden, von einer Reform des öffentlichen Dienstrechtes zu reden - was Sie vorlegen, ist jedenfalls keine Reform. Sie verkennen die eigentlichen Reformerfordernisse und klammern wesentliche Themen aus. Die Ziele des Gesetzentwurfs sind richtig, der Inhalt wird diesen Zielen aber nicht gerecht. Wir freuen uns auf die Diskussion und werden konstruktiv mitarbeiten.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Als nächster in dieser Debatte spricht der Kollege Dietmar Schlee.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir kommen jetzt, wie es die Tagesordnung vorsieht, zu den einzelnen Gesetzentwürfen. Damit wird, so hoffe ich, die Debatte etwas konkreter. Die Zeit der Appelle, Herr Kollege Körper, und auch der Sprüche - lassen Sie es mich so salopp sagen - müßte eigentlich vorbei sein,
({0})
wenn man ganz konkret über einzelne Gesetzentwürfe spricht.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren ist ein
wichtiger Schritt hin zur Verschlankung des Staates. Herr Körper, Sie sollten endlich einmal akzeptieren, daß es eine Vielzahl konkreter Schritte gibt. Gibt es denn einen konkreteren Schritt als die Vorlage eines Gesetzentwurfs, wie er auf dem Tisch des Hauses liegt?
({1})
Hierbei handelt es sich um eine grundlegende und, wie ich meine, wegweisende gesetzespolitische Initiative. Diese Initiative wird zu einer Vereinfachung und Beschleunigung der Genehmigungs- und Planungsverfahren führen.
Wenn dieser Gesetzentwurf zum Gesetz wird, dann werden wir die Investitionsbereitschaft in diesem Lande fördern,
({2})
den Standort Deutschland verbessern, Arbeitsplätze schaffen. Das heißt: Dieser Gesetzentwurf leistet einen konstruktiven Beitrag zur Beschäftigungsinitiative. Daß dies notwendig ist, ist wohl Allgemeingut hier im Hause.
Wem es an der Stelle an Sensibilität gebricht, den darf ich an Hand von Beispielen auf zwei Dinge hinweisen.
Beispiel 1: Genehmigungsdauer für den Bau von chemischen Großanlagen in Deutschland 70 Monate, in Japan 20 Monate,
({3})
in Belgien 13 Monate. - Herr Kollege, das sind Zahlen, die ich noch einmal überprüft habe. Wenn Sie es besser wissen, dann müssen Sie hier andere Zahlen nennen.
Beispiel 2: Bei sogenannten normalen neuen Produktionsanlagen ist die Genehmigungsdauer, die Verfahrensdauer in Deutschland dreimal so lang wie in England.
({4})
Daß der Zufluß von Investitionskapital aus dem Ausland so ist, wie er ist, hat doch auch Gründe. Die zehn wirtschaftsstärksten Länder sind aufgeführt, und zwar angeführt von den Vereinigten Staaten von Amerika. Was die Zuflüsse von Investitionskapital aus dem Ausland angeht, so liegen wir an neunter Stelle. Hinter uns kommt nur noch die Schweiz.
Natürlich ist die Länge der Genehmigungsverfahren nicht der einzige Grund dafür, daß bei uns gerade auch von Ausländern nicht entschieden mehr investiert wird; aber wir wissen - dafür gibt es eine Vielzahl von Quellen -, daß ausländische Investoren durch überlange, nur schwer kalkulierbare Genehmigungsverfahren abgeschreckt werden.
({5})
Herr Schlee, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Kollege, ich habe nur ganz wenig Zeit. Ich kann es beim besten Willen nicht.
Das wird Ihnen nicht angerechnet.
Ich möchte es im Zusammenhang darstellen.
({0})
Meine Damen und Herren, die ausländischen Investoren vergleichen, sie wägen ab, und sie entscheiden am Ende gegen uns.
Lassen Sie mich zu den tragenden Elementen des Gesetzentwurfs einige wenige Bemerkungen machen.
Vorab folgendes: Das Zusammenwirken zwischen externem Sachverstand, der Expertenkommission von Professor Schlichter, der Administration und der Politik war optimal und muß, so meine ich, ein Beispiel dafür sein, wie wir in Zukunft andere schwierige Bereiche dieser Art angehen und wie wir dann gesetzgeberische Konsequenzen ziehen.
Nun aber zu einigen der wichtigsten Elemente dieses Gesetzentwurfs. In das Verwaltungsverfahrensgesetz ist ein eigener Abschnitt „Genehmigungsverfahren" eingefügt worden. Ich halte das für absolut richtig. Das ist ebenso wichtig wie die Tatsache, daß das offene Modell eines flexibleren, nachfragegerechteren und kooperativen beschleunigten Verfahrens festgelegt wird. Das war überfällig. Davon gehen Signale aus. Damit werden die Behörden ermuntert, Verfahrensmodelle einzusetzen und damit die Verfahren schneller und effektiver zu machen.
Im Mittelpunkt steht natürlich das Angebotsmodell. Danach sollen die Behörden nicht nur ein einziges starres Verfahrensmodell auf den Tisch des Hauses legen und darauf festgelegt sein. Es wird eine ganze Palette unterschiedlicher Genehmigungsverfahren angeboten. Aus dieser Palette kann der Investor das Verfahren auswählen, das für seine besondere Situation das optimale ist.
Ich darf das Stichwort „Sonderbeschleunigung nach Wahl" nennen. Das ist eine ganz wesentliche Umgestaltung des bisherigen Verfahrensrechts und der bisherigen Verfahrensregelung; dazu hätten Sie etwas sagen sollen, Herr Körper. Das stellt die Behörden vor ganz neue Herausforderungen. Die Behörden müssen auf Grund dieser neuen Regelung zu Dienstleistern im wahrsten Sinne des Wortes werden.
Sie erhalten die Möglichkeit, auf die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Unternehmen einzugehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das geht bis zu einem gewissen Grad natürlich auf Risiko des Unternehmers. Wenn er ein schnelleres Verfahren wählt, dann geht er natürlich das Risiko ein, daß er zum Beispiel auf einen Widerrufsvorbehalt reagieren muß, daß er den Vorbehalt nachträglicher Auflagen akzeptieren muß. Aber es kann für ihn interessant sein, das Verfahren dadurch entscheidend zu beschleunigen.
Der Bundesjustizminister hat eine ganze Reihe weiterer Beschleunigungsmöglichkeiten vorgetragen.
Ihre Redezeit ist abgelaufen, Herr Kollege.
Zum Beispiel straffen wir die Planfeststellungsverfahren, machen der Verwaltung - das ist ganz entscheidend, meine sehr verehrten Damen und Herren - konkrete Vorgaben und beschleunigen damit das Verfahren.
({0})
An die SPD hier im Bundestag und natürlich auch in den Ländern gerichtet folgendes: Wir brauchen Ihre Mitwirkung
({1})
hier und im Bundesrat. Der Bundesrat muß diesen Gesetzen zustimmen.
({2})
Ich meine, daß es unser aller Aufgabe ist, dafür zu sorgen, daß in diesem Land auf Grund solcher Änderungen rasch neue Arbeitsplätze geschaffen werden können.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt spricht die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute reden wir also auch darüber, wie die Genehmigungsverfahren nach den Vorstellungen der Bundesregierung verkürzt werden sollen. Um es gleich am Anfang zu sagen: Kein vernünftiger Mensch ist für unnötig lange Genehmigungsverfahren. Verwaltungen, die fit sind, haben hierbei auf der Basis des bestehenden Rechts in letzter Zeit große Fortschritte erzielen können, und die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft.
Die kürzesten Genehmigungsverfahren sind im Osten in Sachsen-Anhalt - rot-grün regiert - und im Westen in Hessen, ebenfalls rot-grün regiert.
({0})
In beiden Ländern liegen sie im Durchschnitt deutlich unter dem heutigen Ziel der Bundesregierung in ihren Gesetzesvorlagen. Innerhalb eines Jahres konnte das hessische Umweltministerium die durchschnittliche Verfahrensdauer von sieben auf vier Monate reduzieren.
({1})
Die Grünen-Umweltministerien haben ihren Genehmigungsbehörden eine straffe Organisation verordnet. Die Verfahren werden von Projektmanagern koordiniert, die Fachbehörden müssen ihre Stellungnahmen parallel und nicht mehr hintereinander abgeben, und sie müssen ihre Fristen einhalten. Grüne Minister und Ministerinnen haben mit viel Sachverstand und Engagement die Verwaltung auf Trab gebracht und sind dabei, die Ministerien in moderne Dienstleistungsbehörden umzuwandeln,
({2})
in Behörden, die ihre Türen öffnen, die mit den Bürgern und den Unternehmen konstruktiv zusammenarbeiten und den Bürger nicht als Feind, sondern als Partner betrachten.
({3})
Ohne Wenn und Aber bestätigt dies auch Ulrich Kußmaul - hören Sie sich das an! - von der Hoechst AG. Ich zitiere:
Investitionen kommen im rot-grün regierten Hessen in vernünftigen Zeiten durch.
Das sind die realen Tatsachen.
({4})
Die längsten Genehmigungsverfahren in Deutschland gibt es zur Zeit im Bundesland Bayern. Da sieht man einmal wieder, wie jahrzehntelange Alleinherrschaft die Großparteien träge und selbstgefällig macht. Das gilt im übrigen nicht nur für Bayern. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie Nachhilfeunterricht bei den Grünen, wenn es um die Verkürzung von Genehmigungsverfahren geht!
({5})
Noch bevor überhaupt praktische Erfahrungen mit der letzten Beschleunigungswelle von Ende 1993 vorliegen, wird an den fachkompetenten Behörden der Länder vorbei wieder einmal blinder Aktionismus betrieben. Diese Bundesregierung flattert wie eine aufgescheuchte Henne hilflos mit den Flügeln und produziert Schnellschüsse, die nur zur Verwirrung beitragen. Ihrem Ziel, die Genehmigungsverfahren zu verkürzen, kommen Sie dabei aber keinen Deut näher. Im Gegenteil, Sie produzieren neue Disharmonien im Umweltrecht, neue begriffliche UnMichaele Hustedt
klarheiten, neue Verunsicherung. Selbst die Industrie ist skeptisch. Ich zitiere:
Vieles ist dabei, was die Sache nicht einfacher, sondern komplizierter macht.
So kommentiert Ekkehard Gauch bei der Tochter des Chemiemultis Dow in Stade, der dort für die Genehmigungsverfahren zuständig ist.
Herr Kollege Westerwelle, diese Vorschläge gehen insbesondere zu Lasten der kleinen und mittelständischen Betriebe. Sie legen ihnen dabei weitere Stolpersteine in den Weg. Der Mittelstand ist aber derjenige, der bisher die meisten Arbeitsplätze geschaffen hat. Das nenne ich verfehlte Standortpolitik, meine Damen und Herren.
({6})
Mit ihren undurchdachten Vorschlägen trägt die Bundesregierung zur Verunsicherung der Investoren bei. Verläßliche Genehmigungsverfahren sind nämlich ein Positivum im Standort Deutschland. Sie bedeuten Bestandsschutz für die Fabriken. Das will die Bundesregierung jetzt gefährden. Wenn Unternehmen investieren müssen, ohne zu wissen, ob die Anlage nach Fertigstellung auch betrieben werden darf, dann baut man Investitionsunsicherheit auf. Das soll Ihr Beitrag zum Standort Deutschland sein? Sprechen Sie doch einmal mit der Industrie! Dann werden Sie feststellen, daß ihr zwar kürzere Genehmigungsverfahren am Herzen liegen, aber nicht, wenn dies mit einem hohen Investitionsrisiko bezahlt werden muß.
Ich prophezeie Ihnen: Sie haben die Zustimmung der Industrie zu Ihren Vorschlägen noch lange nicht im Sack. Von dieser Seite werden Sie noch entschiedenen Widerstand zu spüren bekommen.
({7})
Sie reden vom schlanken Staat. Sie meinen damit aber nicht weniger Bürokratie, sondern Sie meinen damit den Abbau von Bürger- und Bürgerinnenbeteiligungsrechten. Das bedeutet einen schweren Anschlag auf den demokratischen Rechtsstaat.
Die frühzeitige Bürgerbeteiligung soll für viele Projekte abgeschafft werden. Da, wo nur noch Anzeigeverfahren vorgesehen sind, kann der Nachbar, der betroffene Bürger nur noch unter hohen Prozeßkostenrisiken auf dem Zivilrechtsweg vorgehen. Die Bundesregierung geht dabei von der fatal falschen Annahme aus, daß Bürger- und Bürgerinnenbeteiligung Genehmigungsverfahren verlängert. Wann geht es endlich in Ihren Kopf hinein: In den allermeisten Fällen führt die Beteiligung der Bürger und der Umweltverbände zur Zustimmung und damit zu höherer Akzeptanz und damit zu Investitionssicherheit.
({8})
Wo dies nicht so ist, nützt Ihnen in einer Demokratie
auch kein schnelles Genehmigungsverfahren. Wer
mit Gewalt die Ängste der Bürger und Bürgerinnen übergehen will, der produziert nicht selten Investitionsruinen.
Haben Sie denn aus Wackersdorf und den anderen Investitionsruinen im Atombereich überhaupt nichts gelernt? Haben Sie aus dem Konflikt um die Entsorgung der Ölplattform „Brent Spar" und den Störfällen bei Hoechst nichts gelernt?
Kluge Manager haben im Gegensatz zu dieser Bundesregierung inzwischen begriffen, daß ein offenes Konfliktmanagement für beide Seiten besser ist als eine Abschottungspolitik.
({9})
Meine Damen und Herren, die Bürger sind nicht doof. Die Bürger sind nicht Ihr Feind. Die Bürger haben das Recht darauf, mitzuentscheiden, wenn es um ihre Gesundheit geht. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Staatsziel Umweltschutz verpflichten den Staat, nicht nur die Interessen der Wirtschaft, sondern auch die der Bürger, der Natur und der zukünftigen Generationen zu vertreten.
({10})
Umweltschutz kann nicht dem freien Spiel der Marktkräfte und den unverbindlichen Selbstverpflichtungserklärungen überlassen werden.
Wenn die Bundesregierung behauptet, ihre Vorhaben würden nicht zum Abbau von Umweltstandards führen, dann lügt sie. Ist es etwa kein Abbau von Umweltstandards, wenn Industrieprojekte völlig unabhängig von ihrem Gefährdungspotential von der generellen Genehmigungspflicht freigestellt werden? Die Anforderungen für Anlagen, die keiner Genehmigung bedürfen, sind nach dem Bundesimmissionsschutzrecht weitaus niedriger als für genehmigungspflichtige Anlagen. Die Abfallvermeidung und -verwertung, die Abwärmenutzung und die regelmäßige Unterrichtung der Behörden über Emissionen wären für diese Anlagen dann keine Pflicht mehr. Darunter fallen Anlagen, in denen mit hochgiftigen und hochexplosiven Stoffen hantiert wird, chemische Anlagen und gentechnische Anlagen. Wenn die Genehmigung erst dann erfolgen soll, wenn schon die Schornsteine rauchen, werden sich weder die Umweltschützer noch die betroffenen Bürger und auch nicht die Behörden gegen die Wirtschaftslobby durchsetzen können.
Ist es etwa kein unverantwortlicher Abbau von Umweltschutzstandards, wenn vereinfachte Planungsgenehmigungsverfahren für Zwischen- und Endlager von radioaktivem Abfall eingeführt werden sollen?
({11})
Atomanlagen unterliegen einem besonders hohen Gefährdungsrisiko. Daher ist hier eine besonders sorgfältige Prüfung vonnöten.
({12})
Es ist völlig unverantwortlich, gerade in diesem Bereich lasch und unvorsichtig zu sein. Die Bundesregierung - das wissen wir schon lange - will ihre Pro-Atompolitik mit Gewalt durchsetzen. Dafür ist Ihnen jedes Mittel recht, auch der Abbau des Rechtsstaates.
Ist es kein Abbau von Umweltstandards, wenn die Genehmigungen durch Öko-Audit ersetzt werden sollen? Da bisher überhaupt keine Erfahrungen mit dem Instrument des Öko-Audits vorliegen, weiß man auch nicht, ob dies wirklich behördliche Genehmigungen ersetzen kann. Im Öko-Audit wird zudem nur bilanziert. Es verpflichtet die Industrie aber zu überhaupt nichts.
Kaschiert mit einem Wust von Fachbegriffen plant diese Bundesregierung einen tiefen Einschnitt in das Umweltrecht. Im Namen der Wirtschaftsförderung startet sie den Generalangriff auf den Umweltschutz. Die behördlichen Genehmigungen dienen der Verpflichtung des Staates, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zu schützen. Sie sind das einzige, auf breiter Front tatsächlich wirksame Instrument für die behördliche Durchsetzung des geltenden Umweltrechts.
In der Schlichter-Kommission war zwar ein Abteilungsleiter der BASF vertreten, aber kein einziger Umweltschützer. Dementsprechend ist auch das Ergebnis ausgefallen.
Rechtsexperten und das Justizministerium haben vereinzelt Bedenken angemeldet. Nicht so das Umweltministerium. Frau Merkel schweigt, ja, begrüßt sogar noch das Kaltstellen der Umweltministerien. Sie von der Koalition würden sich sogar das Umweltministerium wegregulieren lassen, ohne zu protestieren. Sie würden dies sogar noch als Beitrag zur Stärkung des Standortes Deutschland begrüßen. Übrig bleiben dann - wenn es nach Ihnen geht - ein ProAtomministerium und eine unverbindliche Selbstverpflichtung der Industrie, die Aufgaben des Umweltministeriums zu übernehmen.
Ich komme zum Ende. Jeder weiß, Frau Merkel, Sie haben das Amt nur ungern übernommen. Hören Sie endlich auf, am Ausverkauf des Umweltschutzes mitzuwirken! Wenn eine Umweltministerin den Abbau von Umweltschutzstandards noch begrüßt, ist das schlimmer, als wenn der Platz freigelassen worden wäre.
({13})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den Vorrednern möchte ich feststellen: Das, was Herr Gysi hier geboten hat, war ein Sammelsurium ohnegleichen.
({0})
Bei Ihnen, Herr Schily, habe ich einige Ansätze zur
konstruktiven Zusammenarbeit erkannt. Das gleiche
trifft auch für Herrn Körper zu. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
({1})
Was wir zuletzt gehört haben, kann ich natürlich nicht akzeptieren. Frau Kollegin Hustedt, diese Änderungen, die wir vornehmen wollen, dienen vor allen Dingen dem Mittelstand. Ihn wollen wir festigen. Für ihn wollen wir bessere Standortbedingungen schaffen. Darum ändern wir diese Gesetze. Sie müssen dringendst geändert werden.
({2})
Meine Damen und Herren, das Problem, über das wir heute diskutieren, ist viel zu ernst, um darüber Witze zu machen. Manchmal aber beschreiben gerade Scherze oder Witze die Realitäten besser als wohlgesetzte Worte.
Ich möchte daher meine Rede mit einem Witz beginnen, der in der Tat ein Schlaglicht auf die zum Teil groteske Situation im Bereich der Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland wirft.
({3})
Ein deutscher und ein amerikanischer Ingenieur schließen eine Wette darüber ab, wer am schnellsten eine Brücke bauen kann. Nach einem Jahr treffen sich die beiden wieder. Sagt der Amerikaner: Noch zehn Tage, und wir sind fertig. Der Deutsche hingegen: Noch zehn Formulare, und wir fangen an.
Meine Damen und Herren, das beschreibt mehr oder weniger alles. Jedem, der weiß, daß dem Zeitfaktor angesichts der zunehmenden Geschwindigkeit der Marktprozesse und der kürzer werdenden Innovationszeiträume steigende Bedeutung zukommt, vergeht aber das Lachen.
({4})
Herr Kollege Hinsken, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hustedt?'
Gerne, ja.
Herr Hinsken, könnten Sie sich vorstellen, daß der Witz anders weitergeht? Ein Deutscher und ein Amerikaner treffen sich nach Fertigstellung der Brücke wieder. Der Deutsche sagt: Es läuft alles prima. Über die Brücke fahren die Autos oder - besser - die Eisenbahnen. Alles gebongt. Das war ein erfolgreiches Projekt. - Der Amerikaner sagt: So ein Mist aber auch. Die Brücke war nicht optimal geplant; es ist jemand abgestürzt. Ich bin absolut pleite, weil ich haftpflichtmäßig dafür büßen muß. Das bedeutet, daß ich den Konkurs anmelden muß.
({0})
Könnten Sie sich vorstellen, daß dieser Witz so weitergeht?
({1})
Frau Kollegin, das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist eine schlechte Ergänzung des Witzes. Ich habe gedacht, Sie brächten etwas Besseres.
Meine Damen und Herren, es geht darum, die über Jahrzehnte hinweg gewachsene Überforderung seitens des Staates durch immer mehr und immer umfassendere Aufgaben zu beenden. Der Teufelskreis von Betreuungsdenken, Besitzstandssicherung und Überreglementierung war zumindest eine der Ursachen dafür, daß wir heute vor so großen wirtschaftlichen und sozialen Problemen stehen. Die gegenwärtige Krise ist schmerzhaft. Sie bietet aber auch die Chance, Verkrustungen aufzubrechen und neue Wege zu gehen.
({0})
Unsere Vorhaben basieren auf der Einsicht, daß sich der Staat nicht um alles kümmern kann und muß. Er muß sich auf seine eigentlichen Aufgaben und Zuständigkeiten zurückbesinnen.
Herr Westerwelle, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Der Staat ist immer der schlechtere Unternehmer. Von diesem Leitbild lassen wir uns tragen.
Die Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland hat deutlich gemacht: Auch die Verwaltung muß ihren Beitrag zu einem Umdenken leisten. Sie muß beweglicher werden. Sie muß Freiräume für die richtig verstandene Eigenverantwortlichkeit des einzelnen schaffen.
Einige Kollegen vor mir haben bereits auf die langen Planungszeiträume in der Bundesrepublik Deutschland verwiesen. Es kann und darf nicht sein, daß für gleiche Maßnahmen die Planungszeiträume in Belgien drei bis fünf Monate, in Frankreich sechs bis acht Monate, in Spanien sieben Monate, bei uns in der Bundesrepublik Deutschland aber 13 bis 14 Monate oder noch viel mehr betragen.
({1})
- Bayern ist mustergültig, hat hier beste Arbeit geleistet.
({2})
Ich möchte darauf besonders Bezug nehmen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß gerade - das möchte ich insbesondere der Frau Kollegin Hustedt sagen - im Mittelstand die notwendigen Spezialisten fehlen, die den bisherigen Gesetzeswirrwarr überhaupt zu deuten vermögen.
({3}): Wer hat diesen Wirrwarr
denn veranstaltet?)
Im Bereich des Umweltschutzes gilt es zum Beispiel rund 4 000 Bestimmungen der verschiedensten Art zu beachten. Das kann und darf doch nicht weiterhin der Fall sein.
Überregulierungen im Umweltschutz, lange Behördengänge, zeitraubende Genehmigungsverfahren, überhöhte Wettbewerbsregeln und nationale Alleingänge beeinträchtigen die Qualität des Standortes Deutschland.
Deshalb ist zu fordern: Das dichte Regelwerk im betrieblichen Umfeld muß entrümpelt werden. Bei Genehmigungsverfahren ist ein straffes Projektmanagement mit klaren Entscheidungsbefugnissen und kürzeren Entscheidungswegen dringend erforderlich.
({4})
Genehmigungsverfahren sollten generell innerhalb von sechs Monaten, Umweltverträglichkeitsprüfungen innerhalb von zwölf Monaten bearbeitet sein.
({5})
Die Benachteiligungen gegenüber den Standorten im benachbarten Ausland müssen aufhören.
Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an nur einem Beispiel einmal darstellen, wie sich diese Benachteiligungen zeigen. Ich nenne gleich Roß und Reiter. Die Firma Pfleiderer in Neumarkt in Bayern wollte ein Spanplattenwerk in Neumarkt und eines in Frankreich errichten und dafür jeweils an das bisherige Betriebsgelände anbauen. Die Planungen wurden zur gleichen Zeit, nämlich im Oktober/ November 1992, in Frankreich und in Deutschland eingereicht. Seit 3. Juni 1994 wird in Frankreich produziert - dort konnte man einen Anbau einweihen -,
({6})
also vor fast zwei Jahren. Für Neumarkt liegt das Verfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Dafür können die Gerichte nichts; dafür kann auch das Land Bayern nichts. Da sind wir in erster Linie selbst in der Pflicht, Gesetze so zu andern, daß sie praktikabler sind.
({7})
Lassen Sie mich auch darauf verweisen, daß eine jüngst durchgeführte Untersuchung der Fachhochschule Landshut unter Mittelstandsbetrieben ergeben hat, daß 57 Prozent der befragten Betriebe sehr häufig und 36 Prozent manchmal Zeitprobleme als Hinderungsgrund für Investitionen ansehen. Ich denke, diese Zahlen belegen klar und deutlich, daß Handlungsbedarf gegeben ist.
({8})
Die eingesetzte Koalitionsarbeitsgruppe, die die Regierung bei den Gesetzesvorhaben unterstützen wollte, hat gute Arbeit geleistet. Sie war oftmals bis Mitternacht und weit darüber hinaus beisammen, um innerhalb von wenigen Monaten einen akzeptablen Vorschlag vorzulegen. Die Kernelemente dieser Reform sind erstens das Angebotsmodell - die Behörde wird nicht nur auf ein einziges Verfahrensmodell festgelegt; Behörden müssen sich ihrer Rolle als Dienstleister stärker bewußt werden -, zweitens ein gestrecktes Genehmigungsverfahren, drittens die Einschaltung von Projektmanagern und viertens das Anzeige- an Stelle des Genehmigungsverfahrens.
Ich wollte eigentlich noch verschiedenes sagen,
({9})
aber die Zeit drängt - sie ist leider Gottes abgelaufen -, deshalb möchte ich noch auf eines verweisen. Wissen Sie, Herr Schmidt, man kann sich als Grüner natürlich leicht hinstellen und gegen alles sein, wenn man auf der einen Seite keine Sorge um den Arbeitsplatz haben muß und auf der anderen Seite das Schäfchen im Trockenen und den Swimmingpool im Garten hat.
({10})
Wenn man sich aber in die Situation der vier Millionen Arbeitslosen hineinversetzt,
Herr Kollege, jetzt ist Ihre Zeit abgelaufen.
- dann müssen wir meiner Meinung nach auch deren Probleme sehen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland zu festigen und zu stärken. Das ist möglich, wenn wir dieses Planungs- und Genehmigungsvereinfachungsgesetz möglichst bald umsetzen. Ich bin frohen Mutes, daß es dann aufwärtsgehen wird. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß speziell die SPD mitmacht. Auf Sie von den Grünen können wir gegebenenfalls wie angekündigt verzichten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dietmar Schütz.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren als wirtschaftlichen Standortfaktor haben wir auch schon in der vorigen Legislaturperiode ausführlich traktiert. Bei den Klageliedern über die lange Dauer der Verfahren wurde allerdings nicht allzusehr auf die durchaus vorhandenen empirischen Daten der tatsächlichen Dauer in den verschiedenen Bundesländern und auf die spezifische Prüftiefe bei den unterschiedlichen Genehmigungen geachtet.
Vor allem nach den Planungsvereinfachungsgesetzen, die wir in der vorigen Legislaturperiode verabschiedet haben, müssen wir jetzt mehr und mehr aufpassen, daß diese Diskussion und die anschließenden Handlungen nicht zur rein symbolhaften Politik geraten.
({0})
Wir dürfen nicht in Beschleunigungsaktionismus verfallen und mehr und mehr den Kern unserer gemeinsamen politischen Anstrengungen, nämlich ein effektives und effizientes Verfahren zu erhalten, aus den Augen verlieren.
Die fast gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung nach einer Beschleunigung von Genehmigungsverfahren darf nicht dazu verkommen, daß sich das subjektiv als richtig empfundene, aber objektiv irrige Gefühl einstellt, wir seien besonders langsam. Dieses teilweise selbst erzeugte Negativimage wäre dann auf dem Wege einer „self-fulfilling prophecy" plötzlich das allein wahrnehmbare Resultat all unserer Bemühungen. Solche Witze, wie Herr Hinsken sie erzählt hat, tragen zu einem solchen Image bei.
({1})
Die vorliegenden empirischen Daten wurden weder von der Schlichter- oder der Ludewig-Kommission noch von der Bundesregierung ausreichend zur Kenntnis genommen. Die großen empirischen Untersuchungen, zuletzt von Steinberg und anderen, zeigen zweierlei:
Erstens. Es gibt - oder besser: gab - einen Beschleunigungsbedarf, der jetzt aber im Vergleich zu den anderen westeuropäischen Ländern nicht mehr sehr erheblich ist. Bei der Qualität unserer Genehmigungsverfahren, die unbefristet und auf Dauer erteilt werden und Rechtssicherheit schaffen, muß man ernsthaft schon jetzt die Frage stellen, ob die Sorgen über generell zu lange Verfahren - ich meine nicht die Ausreißer, Herr Schlee - wirklich zu Recht bestehen. Weil ich meine Frage, Herr Schlee, nicht stellen konnte, will ich Ihnen jetzt sagen: Ihren Chemieverfahren von 70 Monaten setze ich in Niedersachsen ein Verfahren von 7 Monaten, was ich früher selber gemacht habe, beim ICI-Werk in Wilhelmshaven von der Antragstellung bis zum Genehmigungsbescheid entgegen.
({2})
In dem Gutachten der Kommission, das vorige Woche Frau Merkel vorgelegt worden ist, können Sie die richtigen Daten nachlesen. Ich will das jetzt nicht tun. Ich empfehle das nachhaltig zur Lektüre. Die Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen - wir haben vorhin eine kurze Auslegung dazu gehört - legen Daten vor, wobei die Dauer der Genehmigungsverfahren im Schnitt unter sechs Monaten liegt. Das sollten wir endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
({3})
Zweitens. Die Untersuchungen von Steinberg und anderen zeigen auch, daß die Relevanz der Dauer von Verfahren als Standortfaktor von vielen deutlich
Dietmar Schütz ({4})
überschätzt wurde. Die befragten Unternehmen bewerteten die Verfahrensdauer als standortrelevanten Faktor nicht sehr hoch. Unter zwanzig Kriterien nahm das Kriterium Dauer der Verfahren lediglich Rang 17 ein. Ich glaube, das ist deutlich genug.
Erst vorige Woche hat der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten 1996 hierzu sehr umfangreich Stellung genommen. Auch seine Kernaussage bestätigt: die Ausgangsvoraussetzungen dieser neuen Beschleunigungsdiskussion sind wegen der fehlerhaft bewerteten empirischen Daten und überschätzten Standortrelevanz sehr fragwürdig. Wir sollten, liebe Kolleginnen und Kollegen, diesen Text des Umweltgutachtens jedem, der zu diesem Thema Position beziehen möchte, zur Lektüre empfehlen. Es wäre zumindest die aus dem Bauch heraus argumentierende, subjektive Positionierung aufzuhalten. Es täte uns allen gut, das zu tun.
Ich will aus alledem nicht den Schluß ziehen, die Dauer der Verfahren sei für die Standortentscheidung völlig irrelevant. Ich warne aber davor, mit diesem Thema, mit dieser Phantomdiskussion zu glauben, wir bräuchten nur den Signalmast der Beschleunigung zu bedienen und schon hätten wir ein Wesentliches für den Standort Deutschland getan.
({5})
Dies ist viel zu einfach gedacht und gehandelt. Wir dürfen mit diesem Thema nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland zerreden. Wir müssen in Ruhe, seriös und auf Grund gründlicher Diskussion nach der von uns geplanten Anhörung zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen, das in ein effizientes und zügiges Genehmigungsverfahren mündet.
Ich fürchte, daß wir den Ratschlag von Professor Sendler, der auf diese Diskussion reagiert hat, als er anläßlich der Vorstellung des Entwurfes zum Umweltgesetzbuch dazu Stellung genommen hat, wir sollten als Gesetzgeber ein Sabbatjahr zu diesen Fragen einlegen, befolgen. Ich fürchte, daß wir dies nicht mehr tun können. Der Gesetzgebungszug ist hierzu auf dem Weg, und die Länder haben die Weichenstellung schon vollzogen.
Deswegen, meine Damen und Herren, will ich drei Grundprinzipien erörtern, an denen wir die Gesetze messen werden.
({6})
- Ein Sabbatjahr ist immer etwas Gutes.
({7})
-Ja, auch Herr Waigel braucht ein Sabbatjahr.
Erstens. Sowohl die Vorlagen der Bundesregierung als auch die Gegenäußerungen der Länder stellen in bezug auf die Verfahrensgesetze ausnahmslos auf die Interessen der Antragsteller ab. Dies ist eine wichtige Positionierung. Ich will nicht bestreiten, daß das so sein muß. Denn diese sollen ja schließlich investieren und Arbeitsplätze schaffen, und für sie soll beschleunigt werden. Aber in den Genehmigungsverfahren gibt es zwei weitere Akteure. Wenn man deren Position nicht beachtet, können Verfahren nicht vernünftig durchgeführt werden. Der benachbarte Bürger, der sogenannte Dritte im Verfahren, spielt in allen uns vorliegenden Novellen überhaupt keine Rolle. Ich frage Sie: Will man mit ihm oder gegen ihn oder ohne ihn diese Verfahren durchführen?
Die Rolle des Bürgers, also die Partizipation als Element der Akzeptanzherstellung, war für uns immer ein wichtiges Anliegen.
({8})
Wir haben nie die Auffassung vertreten, daß die Einräumung von Teilhaberechten der Bürger zur Verfahrensverzögerung führt. Dies läßt sich auch empirisch nicht belegen. Eine mir vorliegende Untersuchung legt dar, daß 80 Prozent der Beteiligten in den Vorverfahren die Antragsteller selber sind, die noch um Auflagen und Formulierungen streiten. Nur etwa 20 Prozent der Widersprüche kommen von Dritten. Auf alle Verfahren bezogen - in denen es teilweise gar keine Rechtsstreitigkeiten gibt - legen nur 0,5 Prozent der Beteiligten in Bayern - da muß ich die Bayern loben - oder bis zu 1,4 Prozent der Beteiligten in Baden-Württemberg Rechtsmittel ein. Eine Reduzierung von Partizipation in der Verfahrensbeteiligung bringt also keinen deutlichen Beschleunigungseffekt. Die Angst vor dem Bürger als Störfaktor ist unbegründet, seine Beteiligung in den Verfahren muß erhalten bleiben.
({9})
Zweitens. Die Frage der gesetzlichen Prüftiefe und die Erhaltung der Standards im Umweltschutz dürfen ebenfalls nicht Gegenstand der Änderungsnovellen sein. Es bestand bisher immer Konsens darüber, daß unsere Umweltstandards sich eher positiv auf die Wettbewerbssituation ausgewirkt haben. Die vom Bundesumweltministerium in mehreren Gutachten erhärtete Position, daß Umweltstandards ein Standortplus sind, muß natürlich auch hinsichtlich der umweltrelevanten Verfahren gelten; denn dort werden die Standards ja konkretisiert.
({10})
Deshalb: Keine Abstriche an den materiellen Umweltstandards!
({11})
Drittens. Abstriche an Sicherheit und Nachbarschutz sind ebenfalls nicht hinnehmbar. Dies scheint zwar vordergründig keinen unmittelbaren Bezug zu den Verfahrensgesetzen zu haben, über die wir jetzt reden, aber die beabsichtigte Nichtveröffentlichung bei zahlreichen Anzeigeverfahren sowohl von produzierenden Industrien als auch von Forschungsanlagen provoziert die Frage: Habt ihr nicht doch relevante umwelt- und nachbarschützende Positionen zu verbergen? Hierauf muß die klare Antwort nein lauten. Dies ist an den konkreten Auswirkungen der Verfahrensgesetze zu prüfen.
({12})
Dietmar Schütz ({13})
Die drei Kriterien Partizipation, Umweltstandard, Sicherheit und Nachbarschutz sind meine Meßlatte für die Bewertung der einzelnen Verfahrensteile. Diese Meßlatte möchte ich an einige uns vorliegende Novellen anlegen.
Zum Öko-Audit: Die Schlichter-Kommission hatte vorgeschlagen, denjenigen Unternehmen, die sich den Bestimmungen der Öko-Audit-Verordnung unterziehen, bei den Genehmigungserfordernissen Erleichterungen anzubieten. - Dies ist in Art. 3 Nr. 3 des Artikelgesetzes erfolgt.
Der Bundesrat hat darüber hinaus gefordert, diese Ansätze noch auszubauen, um insbesondere die Melde- und Überwachungsregelungen weiter zurückzudrängen. Dies hat in der öffentlichen Diskussion Kritik erfahren, weil aussagekräftige Erfahrungen im Umgang mit dem Öko-Audit noch gar nicht vorliegen. Darüber hinaus habe ich selbst schon bei der Ausgestaltung des Audits strengere Kriterien haben wollen, um die Auditierung bei eventuellen Änderungsgenehmigungen - nicht bei Neuerrichtungen - nutzen zu können. Diese strengeren Auditierungskriterien sind damals leider von der Regierung abgelehnt worden.
({14})
Es erscheint mir deshalb sehr fraglich, ob die Rechtsqualität und die tatsächliche Prüfqualität des jetzigen Auditmodells dazu genutzt werden können, um Erleichterungen im Genehmigungsverfahren verantworten zu können. Wenn die Personen und Institutionen, die das Audit durchführen, sowie das Audit-Modell selbst hohen Anforderungen genügen, hat die Idee, mit dem durchgeführten Audit Erleichterungen in den Genehmigungsverfahren zu verbinden, einen hohen Reiz. Ob dies aber heute der Fall ist, wird in der öffentlichen Diskussion zu Recht bezweifelt.
Es besteht offenkundig die Gefahr, daß sich Umweltaudits mit sehr geringem Anforderungsniveau auf dem europäischen Markt durchsetzen - Stichwort: „race to the bottom" - und dieses niedrige Niveau dann auch in die Genehmigungsverfahren Einzug hält. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Meßlatte „Umweltstandards" wird hier möglicherweise nicht erreicht.
Zweitens zu den Anzeigeverfahren und Vorverfahren: Die Ersetzung bestimmter immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen durch bloße Anzeigeverfahren verkürzt die Verfahrensdauer natürlich am stärksten. Es gibt dann gar kein Verfahren mehr. Ich halte das Anzeigeverfahren bei typisierten und standardisierten erprobten Anlagen durchaus für akzeptabel. Es kommt dabei meines Erachtens entscheidend auf den Anlagentypus an.
({15})
Nicht in jedem Fall darf der Anzeige eine sogenannte genehmigungsersetzende Wirkung zukommen.
Für mich ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, zu wissen, wer Herr des Verfahrens ist. Ich meine, daß das nur die Genehmigungsbehörde selbst sein kann. Die Genehmigungsbehörde muß von der Anzeige ins Genehmigungsverfahren wechseln können. Deswegen stehe ich auch einer Konstruktion sehr skeptisch gegenüber, die es dem Antragsteller gestattet, selbst zu entscheiden, ob ein Verfahren mit Widerspruchsverfahren und mit sofortiger Klage durchgeführt wird. Das darf nicht der Antragsteller bestimmen, sondern die Genehmigungsbehörde muß die Verfahrenshoheit behalten; sie muß das bestimmen können.
({16})
Der Bundesrat weist zu Recht auf diese Konstruktion hin. Ich glaube, wir sollten dieser Anmerkung des Bundesrates folgen.
Das bisher praktizierte Widerspruchsverfahren, meine Damen und Herren, hat im übrigen nach meinen Kenntnissen einen hohen Beschleunigungseffekt und entlastet die Verwaltungsgerichte.
({17})
Wenn man das ändert, kommen wir zu einer kontraproduktiven Verhaltensweise: Wir beschleunigen nicht, wir verlangsamen.
({18})
Drittens. Zum Austausch einer Anlage will ich noch etwas sagen. Die auf den ersten Blick naheliegende Regelung, dann auf eine Genehmigung zu verzichten, wenn genehmigte Anlagen oder Anlagenteile lediglich ersetzt werden, führt quasi zu einer „Petrifizierung" von Anlagen.
({19})
- Hören Sie einmal zu! - Das dynamisierende Prinzip des jeweiligen Standes der Technik wird mit diesem Verfahren untergraben. Der Anlagenbetreiber wird nicht mehr gezwungen, beim Teilaustausch oder beim Anlagenaustausch den neuesten technischen Stand zu nutzen.
Ich will an dieser Stelle auch einen Witz erzählen, weil Herr Hinsken das eingeführt hat, und zwar den Witz über die armenische Axt: Es kommt jemand in ein armenisches Museum und sieht eine gut erhaltene Axt, die nach der darunter angebrachten Beschriftung 150 Jahre alt sein soll. Auf die Frage, wie das möglich sei, antwortet der Museumswärter: Das ist ganz einfach; wir haben alle zehn Jahre den Schaft ausgewechselt und wir haben alle zehn Jahre das Eisenteil ausgewechselt. Deswegen ist diese Axt so gut erhalten.
Genauso ist es auch bei den Anlagen. Wir haben dann eine völlig andere Anlage mit gleichem - altem Standard - und nicht die dynamisierende Wirkung neuerer Technologien. Das müssen wir berücksichtigen, meine Damen und Herren.
({20})
Dietmar Schütz ({21})
Ich will, bevor Sie weitere Zwischenrufe machen, auch etwas loben. Für sehr unterstützenswert halte ich die Regelungen zum Verfahrensmanagement, zur Antragsberatung, zur Antragskonferenz, zum Sternverfahren und so weiter, die eine höhere Verbindlichkeit erlangen sollen. Ich begrüße dies.
({22})
- Da haben Sie recht, Herr Fischer, das haben wir alles schon gefordert,
({23})
und das steht teilweise in den Ländergesetzen. Das wollen wir jetzt aber auch für den Bund machen. Insofern haben Sie an dieser Stelle unsere große Unterstützung. Hier liegen große Beschleunigungspotentiale.
Aber auch hier würde ich nicht an jeder Stelle jedes Instrument aus dem Werkzeugkasten vorschreiben, sondern auch da muß die Behörde entscheiden können, ob sie in ein Sternverfahren geht oder nicht. Wenn ein Verfahren zu klein ist, wenn es zu kurz ist, brauche ich nicht dieses ganze Instrumentarium zu benutzen. Auch hier kommt es auf tatsächliche Beschleunigungsmomente an.
({24})
Lassen Sie mich zum Schluß nachdrücklich darauf hinweisen, daß wir verpflichtet sind, die Wirkungen der in der vorigen Legislaturperiode auf den Weg gebrachten Beschleunigungsgesetze zu beachten. Wir dürfen - und da stimme ich Herrn Westerwelle zu - ein solches Konvolut nicht wieder auf den Weg bringen, wenn wir nichts damit erreichen. Der Gesetzgeber muß sich auch beschränken können. Wir sollten die Anhörung benutzen, um wirklich zu fragen, was wir von diesen Vorschlägen brauchen und was wir nicht brauchen.
Herzlichen Dank.
({25})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hinsken das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil während meiner Rede vorhin behauptet wurde, in Bayern seien die Planungs- und Genehmigungszeiträume am längsten. Es gibt in der ganzen Bundesrepublik Deutschland keine Statistik, die das untermauern oder unterstreichen würde.
In erster Linie aber habe ich mich gemeldet, um darauf hinzuweisen, daß im Lande Bayern die Bauordnung vor eineinhalb Jahren novelliert wurde und daß zwischenzeitlich diese Führungsrolle Bayerns von den Ländern Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen nachgeahmt worden ist. Dort wurden die Lösungsansätze Bayerns übernommen, weil sie vernünftiger sind. Ich kann nur empfehlen: Ringen Sie sich auch innerhalb der SPD-Fraktion dazu durch, bei der weiteren Fortschreibung des Genehmigungs- und Planungsrechtes mit uns gemeinsam konkrete und vernünftige Lösungen auf den Weg zu bringen, damit der Wirtschaftsstandort Deutschland wieder gefestigt wird und dadurch mehr Arbeitnehmer, die dringend einen Arbeitsplatz brauchen, in Arbeit kommen.
({0})
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Peter Paziorek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich gar nicht einzusehen, Frau Hustedt, warum Sie heute morgen nicht zumindest zu 50 Prozent diesem Gesetzentwurf auch schon in der ersten Lesung Ihre Zustimmung erteilten, da Sie gleichzeitig sagten, daß die von Ihnen eingeforderten schnelleren Verwaltungs- und Genehmigungsverfahren schon da praktiziert würden, wo grüne Minister das Sagen hätten. Ich gehe einmal davon aus, daß Sie vielleicht sogar recht hatten.
({0})
Dann müßten Sie doch eigentlich eine politische Kraft sein, die den Mut hat, hier im Bundestag zu sagen: Das, was in diesem Teilbereich von der Regierungskoalition vorgelegt worden ist, findet unsere volle Unterstützung. Aber hier in Bonn machen Sie weiter Fundamentalopposition und sind nicht in der Lage, über Ihren eigenen politischen Schatten zu springen.
({1})
Herr Schütz und Frau Hustedt, nun kann ich Ihre Argumente zusammenfassen. Was spricht denn eigentlich bei einer Anlagengenehmigung dagegen, daß wir schon mit dem Hochbauteil anfangen, bevor zum Beispiel die Genehmigung für chemische Anlagen endgültig erteilt worden ist? Es ist doch eine Beschleunigigung im Genehmigungsverfahren, wenn, ganz einfach gesagt, der Keller schon ausgebaut wird und die Fundamente gelegt werden. Aber Sie behaupten hier jetzt, wer so etwas zulassen wolle, fahre in diesem Bereich Umweltstandards zurück. Das kann doch wohl nicht ernsthaft behauptet werden.
Dann sagen Sie, da würden Bürgerrechte reduziert. Nennen Sie mir in diesem Gesetzentwurf eine Stelle, an der das Anhörungsrecht der Bürger im Genehmigungsverfahren tatsächlich beeinträchtigt wird. Dieses Recht wird duch den Gesetzentwurf überhaupt nicht tangiert.
({2})
Weil Sie das nicht richtig gelesen haben, haben Sie einen Antrag vorgelegt, der einfach pauschal darauf abstellt. Sie müssen aber zugeben, daß gerade im Bereich des Genehmigungsverfahrens nirgendwo eine Reduzierung der Bürgerrechte vorgesehen ist.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Da ich durch die Beantwortung Redezeit gewinne, bin ich über eine Zwischenfrage immer froh.
Herr Kollege Paziorek, wenn ich in ein Anzeigenverfahren einsteige - ich habe ja gesagt, daß ich, je nach Anlagentypus, grundsätzlich einverstanden bin -, wird der Bürger überhaupt nicht mehr davon Kenntnis erlangen, daß eine solche Anlage kommt. Da stellt sich also das Problem der Partizipation, und wir müssen fragen, welche Anlagentypen wir diesem Verfahren unterwerfen.
Selbstverständlich kann nicht alles Mögliche, zum Beispiel ein großes Kraftwerk, nur mit einem Anzeigeverfahren gebaut werden. Lieber Kollege Schütz, Sie bauen hier doch wieder einen Popanz auf und tun so, als könne in Zukunft ein Atomkraftwerk per Anzeigeverfahren gebaut werden.
({0})
Das kann doch wohl nicht Sinn und Zweck der Sache sein. Schönen Dank für die Möglichkeit, daß ich darauf noch einmal klarstellend hinweisen konnte.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Hustedt?
Selbstverständlich, gerne. Aber die Uhr muß eine Minute zurückgefahren werden.
Die Uhr habe ich sofort gestoppt.
Herr Paziorek, eine chemische oder gentechnische Forschungseinrichtung soll zukünftig auch unter das Anzeigeverfahren fallen. Verharmlosen Sie hier doch nicht so und sagen Sie nicht, es gehe hier nur um irgendwelche Kellerbauten!
Also, zunächst einmal habe ich bei meinem Beispiel mit dem Kellerbau vom vorzeitigen Baubeginn gesprochen, Frau Hustedt. Das hat nichts mit dem Anzeigeverfahren zu tun. Es ist typisch, daß Sie Äußerungen zum vorzeitigen Baubeginn jetzt wieder mit dem Anzeigeverfahren verknüpfen. Das sind zwei Paar Schuhe.
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- Dem stimmen Sie schon einmal zu. - Damit wird deütlich, daß man in der Tat in dem Gesetzentwurf sehr scharf die unterschiedlichen Möglichkeiten auseinanderhalten muß.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es gibt weite Teilbereiche im Genehmigungsverfahren, in denen wir jetzt schon mit dem Anzeigeverfahren operieren, auch bei wesentlichen Änderungen,
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und von denen wir jetzt schon sagen, daß das sinnvoll ist. Warum sollen wir nicht Erfahrungen, die wir 1992 mit dem Investitionserleichterungsgesetz gesammelt haben, jetzt auch in andere Bereiche übernehmen? Das ist kein Schnellschuß, den wir vorhaben, sondern wir wollen Erfahrungen der letzten Jahre für weitere Anlagegenehmigungen nutzbringend anwenden, und das ist ein richtiger Weg, Frau Hustedt.
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Lassen Sie mich noch auf das Argument Öko-Audit eingehen. Wie kommen Sie überhaupt dazu, hier zu erzählen, daß wir das Öko-Audit benutzen wollen, um das Genehmigungsverfahren zu ersetzen?
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- Nein, im Gesetzentwurf steht, daß Angaben, die Unternehmer für das Öko-Audit-Verfahren machen müssen, darauf abgeklopft und überprüft werden sollen, ob sie nicht auch für ein Genehmigungsverfahren verwendet werden können. Was spricht denn dagegen, Angaben, die man auf dem Tisch hat, nicht nur für das Öko-Audit-Verfahren, sondern auch noch für das Genehmigungsverfahren zu verwenden? Das ist doch ein sinnvoller Weg.
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Nur, wenn Sie das im Detail hier nicht sagen, können Sie der Öffentlichkeit vormachen, daß man hier Verfahren ersetzen wolle, was überhaupt nicht zutrifft. Deshalb habe ich die große Bitte: Argumentieren Sie im Interesse des Umwelt- und Wirtschaftsstandorts Deutschland redlich! Schauen Sie in den Gesetzentwurf und argumentieren Sie wirklich detailorientiert, damit die Öffentlichkeit erfährt, was wir mit diesem Gesetzentwurf wirklich vorhaben.
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Meine Damen und Herren, noch eines ganz deutlich: Wir haben den Weg der Vereinfachung von Verfahren - Frau Hustedt, da sind Sie noch nicht im Bundestag gewesen - 1992/93 begonnen, und zwar mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz. Das, was wir jetzt machen, ist eine konsequente Fortsetzung dieses Weges. Ich gestehe in
der ersten Lesung auch ganz offen zu: Die Umweltpolitik kann nicht alle Probleme lösen, die durch defizitäre Rahmenbedingungen in anderen Bereichen, beispielsweise der Steuerpolitik und der Wirtschaftspolitik, für den Wirtschaftsstandort Deutschland hervorgerufen worden sind. Das wird kein Umweltpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hier behaupten. Aber genausogut müssen wir doch umgekehrt sagen, daß viele Argumente - auch solche, die heute hier vorgetragen worden sind -, wir wollten mit einer solchen Politik nur die Umweltstandards senken, deshalb vorgebracht werden, weil man dadurch verkleistern will, daß man in vielen Bereichen völlig überzogene umweltpolitische Forderungen vorbringt, beispielsweise bei der CO2-Reduktion, bei der deutlich wird, daß wir mit einem nationalen Alleingang letztlich nichts für die CO2-Reduktion erreichen können. Sie bauen also oft nur diesen Popanz auf, um in Wirklichkeit in der Öffentlichkeit von völlig überzogenen Forderungen Ihrerseits abzulenken.
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Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
Ja.
Sie reden von überzogenen Forderungen in bezug auf die CO2-Emissionen. Soll ich dem entnehmen, daß die Zielstellung der Bundesregierung, die CO2-Emissionen um 25 Prozent zu reduzieren, die nach Prognos-Gutachten und auch Gutachtenmeinung des Umweltbundesamtes bei weitem verfehlt wird - man geht davon aus, daß höchstens 4,5 Prozent Reduktion erreicht werden können -, eine völlig überzogene Forderung ist?
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Also, Frau Hustedt: Die Zahlen von Prognos, die Sie angeben, reduzieren sich von Sitzungswoche zu Sitzungswoche. Zuerst waren es 10 Prozent, in der Ausschußsitzung sprachen Sie von 6,5 Prozent, und jetzt im Plenum sprechen Sie von 4,9 Prozent; das nur als Einschub.
Die Zielsetzung ist natürlich völlig richtig und findet die volle Unterstützung auch unserer Fraktion. Ihre Forderung aber, die CO2-Emissionen allein über die Ökosteuer im nationalen Alleingang zu senken - das Instrument einer Ökosteuer führt übrigens zu einer Belastung für die Wirtschaft in Deutschland -, ohne daß auch in anderen Staaten effektive Maßnahmen zur CO2-Reduktion getroffen werden, ist doch der völlig falsche Weg, den Sie hier vorstellen. Das können wir nur europaweit und letztlich weltweit angehen. In dem Sinne überziehen Sie. Das ist genau das, was ich Ihnen heute morgen hier vorhalten will.
Ich sage ganz deutlich: Mit diesem Gesetzentwurf wird es keine Absenkung von Umweltstandards geben. Wir werden das Umweltschutzniveau in Deutschland nicht herunterfahren. Der Umweltschutz muß weiterhin ein selbstverständlicher Bestandteil des ökologischen und gesellschaftlichen Strukturwandels sein.
Im „Handelsblatt" vom 12. März heißt es: „Bernrath kritisiert hohe Standards für Umweltschutz". Ihr ehemaliger Kollege Bernrath, der Ende Dezember 1994 freiwillig aus dem Bundestag ausgeschieden ist, sagt: „Wir haben schon fast ein Mißverhältnis von Aufwand und Nutzen im Umweltschutz." Wenn ich das lese, dann frage ich mich: Welche Doppelstrategie fahren Sie überhaupt? Auf kommunaler Ebene sagen die Vertreter der SPD, wir hätten ein viel zu hohes Niveau im Umweltschutz, und hier tun Sie so, als ob wir eine Senkung der Umweltschutzstandards herbeiführen wollten. Das ist doppelzüngig und wird dem Gesetzentwurf, wie er jetzt vorliegt, nicht gerecht, meine Damen und Herren.
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Deshalb ganz klar und deutlich: Herr Schütz, wir können uns im Ausschuß noch lange darüber unterhalten, ob zum Beispiel die Genehmigungsverfahren in Deutschland im Durchschnitt wirklich länger sind als die Genehmigungsverfahren im Ausland. Ich komme aus dem gleichen beruflichen Metier wie Sie und bin durchaus offen für eine solche Diskussion. Aber ich frage Sie: Was ist denn falsch an dem Ziel,
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selbst wenn die Genehmigungsverfahren gleichlang sind, wenn wir sagen: Laßt uns doch versuchen, daß wir die Genehmigungsverfahren in Deutschland noch schneller hinbekommen, damit sie kürzer sind als die Genehmigungsverfahren im Ausland? Dadurch hat unsere Wirtschaft dann die Möglichkeit, die Produkte, die hier entwickelt werden, noch schneller in den Markt zu bringen. Ihre Argumentation ist nicht zwingend. Sie müßten eigentlich sagen: Wir müssen alles tun, damit die Genehmigungsverfahren schneller abgewickelt werden, egal, wie groß die zeitlichen Unterschiede zum Beispiel zwischen Deutschland und Belgien im Augenblick sind.
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Ich habe manchmal den Eindruck, meine Damen und Herren, daß Sie hier versuchen, über viele Schwächen Ihrer Politik von Rot-Grün in den Ländern einfach hinwegzuspielen.
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Ich habe den Eindruck, daß Sie nicht bereit sind, die Entwicklung zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen zur Kenntnis zu nehmen, wo grüne Abgeordnete an TNT, ein im Rheinland angesiedeltes Unternehmen, Schreiben geschickt haben.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist um.
Daran wird klar und deutlich, daß Sie nicht bereit sind, in den LänDr. Peter Paziorek
dern bei einem Bündnis für Arbeit mitzumachen; vielfach befinden Sie sich in einem Bündnis gegen Arbeit. Das wollen wir zukünftig in Deutschland so nicht weiter zulassen.
Umweltschutz mit Rot-Grün ist ein Auslaufmodell, weil es den Umweltschutz beeinträchtigt und weil dadurch Arbeitsplätze wegfallen. Für mich bedeutet Wirtschaftsbelebung Arbeitsplatzschaffung. Das ist eine gute Voraussetzung für einen qualitativ hohen Umweltschutz. Deshalb habe ich die große Bitte, daß Sie die Regierungskoalition und unsere Fraktion bei diesem Gesetzentwurf unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Es spricht jetzt der Abgeordnete Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz vorweg, der nicht zu meinem Thema gehört. Herr Paziorek, wenn Sie in der Vergangenheit einmal etwas in die Bevölkerung hineingelauscht hätten, dann hätten Sie bemerkt, wie beschämend Äußerungen sind, daß bei uns alles schlechter und im Ausland alles besser ist. Die Leute fragen sich mit Recht: Wer regiert hier seit 13 Jahren?
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- Herr Hinsken, zu Ihnen komme ich noch. Jetzt will ich aber erst einmal mit meiner Rede beginnen.
Meine Damen und Herren, wenn man vom modernen und leistungsfähigen Staat redet - wir nehmen das Wort vom „schlanken Staat" nicht so gern in den Mund wie Sie -, dann muß man die Justiz als dritte Säule unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates mit einbeziehen. Dazu gehört auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in den letzten Jahren zunehmend einem enormen Leistungsdruck mit besonderen Erwartungshaltungen ausgesetzt war. Der Staat, die öffentlichen Verwaltungen und die nicht unmittelbar tangierte Öffentlichkeit setzen völlig andere Erwartungen in Verwaltungsgerichte, in die justizförmige Behandlung von Verfahren und vor allem in die materiell-rechtlichen Entscheidungen als die unmittelbar von Verwaltungsentscheidungen oder vom Verwaltungshandeln betroffenen Bürger.
In diesem Spannungsfeld der gegensätzlichen Erwartungen und bei hohem Arbeitsanfall leisten die Richterinnen und Richter an den Verwaltungsgerichten ausgezeichnete Arbeit.
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Sie haben ihre Aufgabe nicht nur in der Lösung von Konflikten gesehen, sondern auch in der Sicherung des Rechtsfriedens. Es war und ist eine der vornehmsten Aufgaben der Justiz, den Schutz der Schwachen zu gewährleisten, die Durchsetzung von Grundrechten zu sichern und die demokratische Rechtsordnung in der Gesellschaft zu wahren.
Wenn wir von „Standards" reden, verehrter Herr Innenminister Kanther - ich wollte eigentlich auch den Herrn Justizminister ansprechen, aber der meint wohl, er habe seine Schulaufgaben schon gemacht -,
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muß man festhalten: Wir wollen diese Standards bewahren, auch wenn wir wissen, daß die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Justiz in einigen Bereichen deutlich sichtbar geworden sind. Wir sind uns einig: Die Justiz muß modernisiert werden. Wir sind uns einig: Wir müssen bald damit beginnen, wenn wir den neuen Herausforderungen, aber auch den alten, bekannten Problemen wirkungsvoll begegnen wollen.
Der Bundestag hat sich in der Vergangenheit an mehreren „Entlastungs- und Beschleunigungsgesetzen" versucht, weil er auf diese Lage reagieren wollte - nicht immer mit dem gewünschten Erfolg.
Nun befassen wir uns heute gleich mit zwei Entwürfen zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, die beide zum Ziel haben, den Standortfaktor im wirtschaftlichen Wettbewerb zu sichern, und gleichlautend, so als habe man voneinander abgeschrieben, als „zentrale Verfahrensvereinfachungen und -verbesserungen" einen fast identischen Maßnahmenkatalog als Lösung anbieten.
Allerdings haben wir in den zurückliegenden Jahren sowohl von der Bundesregierung als auch vom Bundesrat, der uns heute wieder in qualitativ und quantitativ hervorragender Besetzung die Ehre des Zuhörens gibt, schon Gesetze angeboten bekommen, deren Hauptmotive Beschleunigung und Verbesserung von Verfahrensabläufen waren, die sich aber bei näherem Hinsehen nicht als der große Wurf herausstellten; zuletzt das sogenannte Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege. Das macht mißtrauisch und nötigt zu genauer Überprüfung.
Und in der Tat, beide Entwürfe weisen gleich mehrere schwere Mängel auf: Erstens. Es werden ungeheure Kosten verursacht werden. Zweitens. Die Verfahren werden komplizierter, teilweise unverständlicher. Drittens. Die Unabhängigkeit der Gerichte wird in Frage gestellt. Viertens. Die „Reformen" gehen wieder einmal auf Kosten der Rechtsuchenden, der Bürger. Das ist für uns, eingedenk des Satzes unseres verstorbenen Vorsitzenden Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen", in dieser Form nicht annehmbar.
Ich will das in wenigen Sätzen darlegen: Erstens. Vor den Obergerichten soll künftig Anwaltszwang herrschen. Das bedeutet nicht nur für den prozessierenden und rechtsuchenden Bürger zusätzliche Kosten; auch für Kommunen wird es teurer. Sie können sich künftig nämlich nicht mehr durch ihre Verwaltungsbeamten vertreten lassen, wie das bisher der Fall war.
Zweitens. Das Normenkontrollverfahren wird erschwert. Die neue Regelung schafft keinen Deut Erleichterung für die Gerichte. Ein anständiges Normenkontrollverfahren nach bisherigem Recht hat oft hundert weitere Prozesse erledigt. Der bisher als wesentliches Beschleunigungsmerkmal angesehene
Gerichtsbescheid wird durch die Zulassungsberufung entwertet. Die Zulassungsberufung selbst ist für den juristischen Laien völlig unverständlich. Für die Oberverwaltungsgerichte bedeutet sie in aller Regel eine Doppelbefassung, dabei soll doch, so will es der Entwurf, Zeit gespart werden. Schließlich und endlich ist nicht zu erkennen, daß die angeblichen Beschleunigungs - und Vereinfachungsmechanismen auch wirklich dort greifen, wo sie derzeit am dringendsten benötigt werden, nämlich bei den Verwaltungsgerichten der ersten Instanz. Im Gegenteil: Hier werden die Verfahren noch komplizierter, obwohl doch gerade hier die Not am größten ist.
Drittens. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist in Gefahr. Wenn sie künftig den Verwaltungsbehörden den rechten Weg zeigen müssen, wie ein mangelhafter Verwaltungsakt wasserdicht zu machen ist, sind sie nicht mehr unbefangen. Oder was halten Sie von einem Schiedsrichter, der Bodo Illgner neben das Tor stellt, damit Lothar Matthäus ins Tor treffen kann? Genau das ist die Situation.
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- Das glaube ich aber nicht.
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- Matthäus wird mich nicht verklagen.
Gerichte sollen Rechtsstreite entscheiden, am besten durch einen Vergleich, der dem Rechtsfrieden dient. Aber Sie dürfen doch nicht den Stärkeren noch bevorzugen.
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Das Vertrauen des Bürgers in den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Justiz werden dadurch nicht gestärkt. Im Gegenteil: Staatsverdrossenheit wird die Folge sein.
Viertens. Nicht nur dies ist es, was ich als Reform auf Kosten des Bürgers bezeichne. Beschränkung der Rechtsmittel, Einschränkung des Beweisantragsrechts und Beschränkung des Suspensiveffekts - ein wichtiges Instrument zur Vermeidung irreparabler Entscheidungen - kratzen wieder ein Stück Rechtsstaatlichkeit weg. Wenn das so weitergeht, müssen wir uns fragen, wie lange sich die Kleinen und Schwachen überhaupt noch gegen Verwaltungshandeln wehren können und ob sie noch den Mut dazu haben. Ich denke, in der Anhörung werden uns die Fachleute sagen, wie schwach die Entwürfe sind.
Natürlich verschließen wir unsere Augen nicht vor der Realität. Genehmigungen für Investitionen müssen schnell erteilt werden, Verfahrenszüge müssen überschaubar sein, und Entscheidungen müssen zügig getroffen werden.
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Wir brauchen eine Reform, aber, meine verehrten Damen und Herren von der Koalition, nicht auf Kosten rechtsstaatlicher Grundsätze.
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Es geht ja auch anders. Das Land Hessen hat durch untergesetzliche Maßnahmen - das wollen Sie nun in Form eines Gesetzes machen - die Dauer der Genehmigungsverfahren für Anlagen und Bauvorhaben auf wenige Monate gesenkt und liegt damit deutlich besser im Trend als der Freistaat Bayern, Herr Hinsken.
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Eine Konzentration der Behörden schon im Genehmigungsverfahren, eine demokratische Beteiligung aller Betroffenen, die Berücksichtigung der Belange von Mensch, Umwelt und Natur und der wirtschaftlichen Interessen in einem frühen Stadium und in überschaubarer Zeit sind der beste Entlastungseffekt für die Gerichte, weil dadurch Prozesse vermieden werden.
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Die Schlichter-Kommission hat hierfür das Wort vom sternförmigen Verfahren geprägt. Dieses Verfahren soll nun gesetzlich verankert werden. Möge dies zum Sinnbild werden, und möge dieser Stern auch auf die Mächtigen in Bonn scheinen und ihnen die Erleuchtung bringen: Bezeichne nie etwas als Reform, das zwar dem Staat die Arbeit erleichtert, aber den Menschen das Dasein erschwert. Bezeichne nur solche Pläne als Reform, die beiden gleichermaßen dienen: dem Staat und den Menschen.
Danke schön.
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Das Wort hat nun für die Bundesregierung die Ministerin Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik ist ein Land mit hohen Umweltstandards, und das soll auch so bleiben. Weil wir ein Land mit solch hohen Standards sind, müssen wir Investoren ermutigen, so wie es heute schon gesagt wurde, in unser Land zu kommen und hier zu investieren; denn damit dienen wir der Umwelt.
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Deshalb ist es wichtig, daß wir uns fragen, warum wir in vielen Fällen bei vergleichbaren Standards in unseren Nachbarländern länger brauchen, um das gleiche in die Realität umzusetzen. Diese Frage ist legitim, und ihr müssen wir nachgehen. Sie ist ein Mosaikstein in der Gesamtdebatte darüber, was bei uns schneller, zügiger und effektiver geschehen könnte.
Ich weiß natürlich, daß die Änderung von Bundesgesetzen nicht das einzige ist. Den Gesetzen folgen Verordnungen, den Verordnungen folgen VerwalBundesministerin Dr. Angela Merkel
tungsvorschriften, und den Verwaltungsvorschriften folgen Normungen, Arbeitsblätter und vieles andere mehr, was später im Falle des Einspruchs der Bürger als gutachterliche Grundlage benutzt wird und quasi Rechtskraft erlangt, ohne daß wir in diesem Hause das Detailwissen überhaupt aufbringen können.
Sicherlich wird die Frage an uns alle lauten: Was können wir außer Gesetzesänderungen zum Beispiel bei der Ausgestaltung von Honorarordnungen noch tun, um die effektiven Lösungen, die auch wir wollen, Realität werden zu lassen?
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Aber wir diskutieren heute über Gesetzentwürfe, die von der Bundesregierung vorgelegt wurden und mit denen wir versuchen, administrative Spielräume, die notwendig sind, zu öffnen.
Heute ist schon auf die Studie von Steinberg verwiesen worden, die richtigerweise sagt, daß rund 75 Prozent der Genehmigungsverfahren in angemessenen Fristen abgewickelt werden. Aber es bleiben 25 Prozent der Genehmigungsverfahren. Frau Hustedt, es mag schon sein, daß bei Regierungen, in denen auch grüne Minister tätig sind, dieses oder jenes Verfahren schnell geht. Nur, leider gehen bestimmte Verfahren mit Sicherheit nicht schnell.
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Man braucht nur den Namen der Anlage zu hören, um zu wissen, daß es mit Sicherheit ewig dauert. Da gibt es zum Beispiel eine Müllverbrennungsanlage.
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- Aber ganz sicherlich.
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Das ist gerade nicht das Wesen des Rechtsstaats, daß man emotional darüber entscheidet, was schnell gehen darf und was lange dauern muß.
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Deshalb ist es richtig, daß Teil unserer Vorschläge ist, daß Fristen für die Prüfung der Vollständigkeit von Unterlagen festgelegt werden, daß nicht beliebig nachgeforscht und nachgefordert werden kann, sondern daß die Behörde aufgefordert wird, Teilprüfungen vorzuziehen, wenn eine bestimmte Unterlage noch fehlt. Das ist vernünftig, und das kann man ernsthafterweise nicht kritisieren.
Frau Minsterin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer?
Eine Zwischenfrage gestatte ich, aber das war es dann auch.
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Ich darf mich bedanken, Frau Ministerin.
Jenseits der parteipolitischen oder politischen Kontroverse - man mag unterschiedlicher Meinung über die Frage der Geschwindigkeit von Genehmigungsverfahren sein - möchte ich, da Sie die Müllverbrennungsanlagen angesprochen haben, fragen: Stimmen Sie mir zu, daß wir, wenn wir mit einem beschleunigten Genehmigungsverfahren Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre Sondermüllverbrennungsanlagen und Hausmüllverbrennungsanlagen in der beantragten Größenordnung gebaut hätten, wie sie - ich spreche für die Westländer - beantragt wurden, heute auf gewaltigen Überkapazitäten säßen? Gott sei Dank haben andere Gesetze, die einvernehmlich beschlossen wurden, eine segensreiche, reduzierende Wirkung gebracht.
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Herr Kollege Fischer, jenseits aller parteipolitischer Thematik muß ich sagen, daß man zwei Dinge auseinanderhalten muß. Das eine ist die Frage der abfallwirtschaftlichen Planung, die zu Überkapazitäten bei der biologischmechanischen Verwertung und bei der Müllverbrennung führen kann. Das andere ist das konkrete Genehmigungsverfahren vor Ort. Diese beiden Dinge sind ganz genau voneinander zu trennen. Abfallwirtschaftliche Planung ist die Aufgabe der Landkreise und Länder, und die konkrete Genehmigung ist ein Recht, das ich habe, wenn ich mich als Investor zu einer bestimmten Investition entschließe.
({0})
- Das ist kein Rumgeeiere, sondern Herr Fischer hat suggeriert,
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daß man mit Hilfe der dilatorischen Behandlung von Genehmigungen planwirtschaftliches Verhalten fördern könnte oder nicht. Das sind zwei voneinander getrennte Dinge.
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Flexible Genehmigungsverfahren sind die Grundidee der Schlichter-Kommission. Frau Hustedt, wenn Sie den Prozeß gut verfolgt hätten, dann wüßten Sie sehr wohl, daß sich die Umweltpolitiker bei der Umsetzung der Vorschläge der Schlichter-Kommission
energisch eingemischt haben und daß wir sehr wohl hervorragende Kompromisse im Sinne der Umwelt gefunden haben, ebenso wie wir Anregungen aus der Schlichter-Kommission aufgenommen haben; denn manchmal ist ein Blick auf die Dinge von außen ganz gut.
Ein Teil dieses Gesetzentwurfes ist, daß die Investoren über Optionen verfügen. Sie können ein vollständiges Genehmigungsverfahren in Anspruch nehmen, sie haben aber auch die Möglichkeit, das Anzeigeverfahren und damit ein höheres Risiko zu wählen. Ich sage mit allem Ernst: Es ist noch nicht entschieden, für welchen Weg sich die Investoren tatsächlich entscheiden werden. Aber wir als Politiker tun etwas, was man von uns gefordert hat. Wir bieten ihnen die Wahlmöglichkeit an, und dann werden wir die Erfahrungen sammeln
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und erkennen, was gut und was schlecht ist, was angenommen worden ist.
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Ähnliches, meine Damen und Herren, gilt für die Rahmengenehmigung, mit der die Möglichkeit besteht, für unterschiedliche Betriebsweisen schon einmal eine Gesamtgenehmigung zu erhalten, aber später dann bei der Herstellung oder Verwendung verschiedener Stoffe innerhalb der genehmigten Betriebsweise dies immer wieder der Behörde mitzuteilen. Das ist auch eine Erkenntnis, die man vernünftigerweise aus der Praxis gezogen hat.
Eine wichtige Rolle hat jetzt immer wieder die Frage des Öko-Audits im Zusammenhang mit Genehmigungsverfahren gespielt. Herr Schütz, Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß uns der durch die SPD ja mehrheitsmäßig stark beeinflußte Bundesrat ausdrücklich aufgefordert hat,
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die Einbeziehung von Öko-Audits in das Genehmigungsverfahren weiter zu prüfen und in Europa dafür zu sorgen, daß dies auch in der IVU-Richtlinie mehr berücksichtigt wird.
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So ist das, und ich bin als guter Demokrat natürlich aufgefordert, diesen Wünschen des Bundesrates nachzukommen. Das werden wir tun, auch in Diskussionen mit unseren Europaparlamentariern.
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- Dabei geht es gar nicht um Standards.
Ich bitte im übrigen alle, die sich zu dem Thema äußern, einmal nachzulesen, was in dem heute vorgelegten Gesetzentwurf steht. Dort steht, daß Unterlagen, die schon im Rahmen der Zertifizierung zum EG-Öko-Audit eingereicht wurden, nicht noch einmal vorgelegt werden müssen,
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wenn man eine Genehmigung beantragt. Dagegen kann man doch überhaupt nichts haben.
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Man kann auch nichts dagegen haben, noch einmal darüber nachzudenken, ob ein Betrieb, der sich einer permanenten Überwachung bei der Energieverwendung und bei der Verwendung seiner Stoffe unterzieht, nicht auch sonst bei Änderungsgenehmigungen und vielem anderen mehr Erleichterungen bekommt. Das ist doch ganz normal.
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Nun zu dem Anzeigeverfahren. Das Anzeigeverfahren ist in der Novelle erweitert worden. Wir haben auch gesagt, daß in einer Anzeigeverordnung, die noch zu erlassen ist, dann geregelt werden wird, daß nicht nur Anforderungen, die aus Gründen der Gefahrenabwehr notwendig sind
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- hören Sie bitte zu, Frau Hustedt, bevor Sie rufen; Sie haben es vorhin schon falsch gesagt -, gestellt, sondern daß auch aus Gründen der Vorsorge Auflagen ausgesprochen werden können.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Caspers-Merk?
Nein. Ich habe heute zu einer Privilegierung des Abgeordneten Fischer beigetragen und möchte das dabei belassen.
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Meine Damen und Herren, wir haben auch in der Vergangenheit immer wieder Anlagen aus dem Katalog der 4. Bundes-Immissionsschutzverordnung herausgenommen, zum Beispiel Autowaschanlagen, Windkraftanlagen und Strahlanlagen, soweit sie nicht im Freien betrieben werden, und wir beabsichtigen, weitere Anlagen aus dieser Genehmigung herauszunehmen und ins Anzeigeverfahren zu überführen. Das sind zum Beispiel Rauchgasentschwefelungsanlagen, für die künftig keine Änderungsgenehmigungen erforderlich sein sollen. Dagegen, daß das schnell geht, kann doch wirklich auch keiner etwas haben.
Im übrigen sind das alles Anlagen, die bis jetzt schon im vereinfachten Verfahren genehmigt wurden, das heißt bei denen die Öffentlichkeitsbeteiligung auch heute nicht gegeben ist. Es wird also überhaupt kein Recht Dritter in der Öffentlichkeitsbeteiligung beschnitten. Vielmehr bleibt die ÖffentBundesministerin Dr. Angela Merkel
lichtkeitsbeteiligung bei diesen Anlagen so, wie sie bisher war.
Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat sich, wie man aus der Stellungnahme sieht, durch eine bemerkenswerte Uneinigkeit ausgezeichnet und uns zum Beispiel zu § 15 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eine ganze Reihe von Änderungsempfehlungen vorgelegt, die nachher alle kompensiert worden sind, so daß dem Entwurf der Bundesregierung, zumindest was § 15 angeht, auch der Bundesrat zugestimmt hat.
Wir werden die Anregungen, die uns der Bundesrat gegeben hat, weiter prüfen. Die Debatte im Bundesrat ist allerdings im Grundsatz so verlaufen, daß wir hinsichtlich der parlamentarischen Beratungen ermutigt sind. Ich hoffe auf zügige Beratungen, denn wir brauchen mehr Investitionen mit hohem Umweltschutzstandard.
Herzlichen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Caspers-Merk das Wort.
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Frau Ministerin, da Sie sich der Debatte entzogen haben, indem Sie keine Zwischenfragen zugelassen haben, möchte ich hier zumindest noch einmal feststellen, daß Ihr eigener Sachverständigenrat gerade die Teile der Genehmigungsverfahren kritisiert, die Sie eben vehement verteidigt laben.
Wie stellen Sie sich denn dazu, daß Ihr Sachverständigenrat genau hier viele Kritikpunkte anbringt, daß er sagt, daß es zu einer massiven Beeinträchtigung der Umweltstandards kommt, wenn all das, was Sie hier verteidigen, durchgesetzt wird?
Hinzu kommt, daß der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen sagt: Es ist eigentlich schlechte symbolische Politik, wenn immer so getan wird, als seien allein die Umweltstandards für unsere Schwierigkeiten verantwortlich.
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Frau Ministerin, möchten Sie antworten? - Bitte.
Ich möchte kurz antworten.
Wir werden heute nachmittag ja noch die Gelegenheit haben, über das zu debattieren, was der Sachverständigenrat gesagt hat.
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Er hat gesagt - wenn ich Ihnen das einmal kurz zitieren darf -:
Einer Überführung von Genehmigungsverfahren für Anlagen, die typischerweise mit geringfügigen Umweltauswirkungen verbunden sind und mit Standardtechnologie betrieben werden, sowie Änderungsverfahren, die ausschließlich umweltverbessernde Wirkung zeigen, aus den Genehmigungsverfahren in das Anzeigeverfahren steht der Umweltrat grundsätzlich positiv gegenüber.
({1})
Ein entsprechender Entwurf der Bundesregierung wird hier also durchaus positiv gesehen.
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Das Weitere heute nachmittag.
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Liebe Kollegen, bitte etwas Ruhe.
Ich gebe dem Abgeordneten Paziorek zu einer Kurzintervention das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muß natürlich auch darauf hinweisen, Frau Caspers-Merk, daß der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem letzten Gutachten aus dem Jahre 1994 klar und deutlich gesagt hat,
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daß die Bundesregierung bei ihrem Prozeß der Deregulierung des Umweltschutzrechts weitermachen solle und daß das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz nur ein erster Schritt sei, um tatsächlich das komplizierte und teilweise nicht übersichtliche Umweltrecht zu vereinfachen.
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- Die Seiten kann ich Ihnen zeigen; das ist überhaupt kein Thema.
Wenn der Umweltrat im Jahre 1994 dies als konkretes Ergebnis seiner Überprüfung des Genehmigungsrechtes festgehalten hat, dann sollten wir dies meiner Ansicht nach auch einmal positiv nennen und sollten auf diesem Wege weitergehen. Deshalb wäre es schön gewesen, wenn Sie diesen Teil des letzten Gutachtens des Umweltrats hier auch zitiert hätten.
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Herr Kollege Paziorek, nur zu der Form, in der Sie Ihre Rede gehalten haben. Einer meiner Vorgänger hat einmal ge
Was auch immer Sie in den Taschen haben, hier im Hause wird nicht geklaut.
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- Das ist schon okay. Das kann auch mir passieren.
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- Das kann jedem passieren.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Schütz das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Ministerin Merkel, zum Anzeigeverfahren möchte ich Ihnen einen anderen Teil des Gutachtens des Umweltrates vorlesen, der genau die Position unterstreicht, die wir eingenommen haben. In diesem Teil heißt es:
Die Schlichter-Kommission erwägt, bestimmte immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren durch bloße Anzeigeverfahren zu ersetzen. Gegen den Vorschlag bestehen Bedenken. Grundsätzlich lassen die negativen Erfahrungen, die mit baurechtlichen Anzeigeverfahren gemacht wurden, eine Übertragung auf das Immissionsschutzrecht als wenig sinnvoll erscheinen. Nach Eingang der Anzeige nebst den erforderlichen Anlagen hat die Behörde innerhalb von zwei Monaten die Anzeigefähigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Durchführung eines Genehmigungsverfahrens zu fordern. Praktisch läuft dieses Verfahren auf eine extrem kurze Genehmigungsfrist hinaus. Nehmen die Behörden ihre Aufgaben ernst, so werden sie sich auf die Prüfung der angezeigten Vorhaben konzentrieren müssen, wodurch der ohnehin defizitäre Bereich der nachträglichen Kontrolle weiter geschwächt wäre.
Wenn Sie vorhin zugehört hätten, dann hätten Sie festgestellt, daß ich genau das auch gesagt habe. Ich habe in meiner Rede vorhin nämlich darauf hingewiesen, daß man Anzeigeverfahren bei typisierten Anlagen und standardisierten Bereichen machen kann. Genau das ist der Punkt, auf den der Umweltrat in seinem Gutachten hinweist. Es stünde Ihnen gut an, finde ich, das anzunehmen, Frau Ministerin.
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Zu einer weiteren Kurzintervention erhält die Abgeordnete Michaele Hustedt das Wort.
Im Interesse aller, die noch zu weiteren Punkten reden müssen, möchte ich danach diese Runde von Kurzinterventionen beenden.
Bitte.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß es parallel zu dem Schlichter-Vorhaben auch die Bestrebung gibt, ein Umweltgesetzbuch zu erarbeiten. Daran arbeiten inzwischen, über Jahre hinweg, zwei hochdotierte Kommissionen. Diese Vorhaben, Schlichter auf der einen Seite und Umweltgesetzbuch auf der anderen Seite, widersprechen sich. Schlichter will Genehmigungsverfahren à la carte. Die Kommission zur Erarbeitung des Umweltgesetzbuches will ein integriertes Genehmigungsverfahren.
Den Ansatz über das Umweltgesetzbuch halten wir für absolut richtig, weil nämlich das Umweltrecht sehr ursprünglich gewachsen ist, sehr viele Disharmonien enthält und man durch die Harmonisierung des Umweltrechtes durchaus zu schnelleren und effektiveren Genehmigungsverfahren kommen kann, ohne die Umweltstandards abzubauen.
Sie mit Ihren Schnellschüssen aber, mit Ihrem blinden Aktionismus jetzt machen die Arbeit, die Vorschläge dieser beiden Kommissionen, noch bevor sie endgültig auf den Tisch kommen, quasi zu kaum recycelbarem Altpapier.
Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf. Ich habe auch mit denen gesprochen. Sie haben sich fast wöchentlich mit Herrn Schlichter getroffen, während Sie die Leute der Kommission zur Erarbeitung des Umweltgesetzbuches in Ihrer Amtsperiode bisher einmal gesprochen haben. Dieses Projekt werden Sie zwar irgendwann vorstellen, aber dann werden Sie es sozusagen als Altpapier in den Aktenschrank stellen, und das war es dann. Dabei wäre das der richtige und wohldurchdachte Weg gewesen, das Umweltrecht zu harmonisieren und ohne Abbau von Umweltstandards zur Verkürzung von Genehmigungsverfahren zu kommen.
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Jetzt erhält die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung meint, mit der in ihrem Gesetzesbündel - Herr Hinsken, da helfen bayerische Witze auch nicht weiter - vorgesehenen drastischen Beschneidung von Bürgerrechten die Dauer von Genehmigungsverfahren verkürzen zu können. Die Erfahrungen von Behörden, Gerichten und Bürgerinitiativen haben dagegen längst gezeigt, wodurch Verzögerungen tatsächlich verursacht werden, nämlich in erster Linie durch mangelhafte Vorbereitung von Antragsunterlagen der Industrieunternehmen und durch die schlechte Personalausstattung von Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden sowie der mit den Genehmigungsverfahren befaßten Gerichte.
Zum Abbau von Bürgerrechten wurde heute von seiten der SPD und des Bündnisses 90 schon einiges gesagt. Der Grundrechtsartikel 19 des Grundgesetzes bestimmt, daß jedem Bürger der Rechtsweg ofEva Bulling-Schröter
fenzustehen hat, wenn er durch öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem Grundrecht auf Verfahrensbeteiligung.
Ich sage Ihnen jetzt einmal meine Meinung: Mit den geplanten Gesetzesänderungen bereitet die Bundesregierung nichts anderes als Verfassungsbruch vor.
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Ich möchte das kurz begründen.
Erstens. An die Stelle eines Planfeststellungsbeschlusses soll eine sogenannte Plangenehmigung treten. Durch die Aufhebung der strengen Anforderungen an die Qualität des Planfeststellungsverfahrens wird den Bürgern die Möglichkeit genommen, frühzeitig Kenntnis von dem Vorhaben zu erhalten. Wie sollen sich die Menschen dann überhaupt mit den möglichen Gefährdungen auseinandersetzen, wie Informationen erlangen, die sie für eine spätere Klagebegründung brauchen?
Zweitens. Bisher ist die Zulassung eines vorzeitigen Baubeginns auf die Änderung einer bestehenden Anlage beschränkt, und dies auch nur, wenn die Änderung umweltverbessernd ist. Nun soll auch der vorzeitige Beginn der Errichtung von neuen Anlagen zugelassen werden, und zwar schon, wenn ein „berechtigtes Interesse des Antragstellers" an dem vorzeitigen Beginn besteht. Im Klartext heißt das: Wenn der Investor sein Interesse bekundet, kann der Bau ohne Genehmigung beginnen.
Drittens. In zahlreichen Verfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz und anderen Planungsverfahren sollen Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Genehmigung keine aufschiebende Wirkung mehr haben. Bürgerinnen und Bürger, die eine Klage beabsichtigen, stehen damit vor der Tatsache, daß die Anlage längst in Betrieb gegangen sein kann, ehe es zu einem endgültigen Urteil darüber kommt, ob von ihr Gefährdungen ausgehen, die die Anwohnerinnen und Anwohner nicht hinzunehmen brauchen.
Viertens. Die Bundesregierung unterstellt in der Begründung zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, daß Bürger nur deshalb den Rechtsweg beschreiten, um eine möglichst lange Dauer der Prozesse zu erwirken. Jetzt soll nach einer langen Liste von Vorhaben ausdrücklich „die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen Dritter gegen Verwaltungsakte, die der Schaffung von Arbeitsplätzen oder der Förderung von Investitionen dienen, ausgeschlossen" werden. Damit haben wir zwei Klassen von Bürgerinnen und Bürgern: jene, die Arbeitsplätze schaffen und Investitionen tätigen, und andere, die dazu keine Möglichkeiten haben. Meine Damen und Herren, ich denke, das hat etwas mit Klassenjustiz zu tun.
Fünftens. Die zulassungsfreie Berufung vor Gerichten soll abgeschafft und die formalen Hürden für eine Berufung erhöht werden. Dies wird den Schritt in dieses Rechtsmittel für den Rechtsschutzsuchenden ganz erheblich erschweren.
Sechstens. Durch die geplante grundsätzliche Neufassung des § 15 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes soll eine Änderungsgenehmigung nur noch dann notwendig sein, wenn nach Auffassung der zuständigen Behörde nachteilige Auswirkungen hervorgerufen werden können und diese für die Prüfung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 erheblich sein können. Auswirkungen auf das Grundwasser, Konflikte mit dem Landschaftsschutz und der Landschaftsplanung, aber auch Aspekte des Brandschutzes und des Arbeitsschutzes würden nicht mehr zwingend in einem Genehmigungsverfahren berücksichtigt werden.
Siebtens. Zu den Versuchsanlagen möchte ich nur ganz kurz etwas sagen. Natürlich werden in Zukunft viele Unternehmen versuchen, Anlagen als Forschungs-, Entwicklungs- und Erprobungsanlagen zu deklarieren.
Achtens. In der Verordnung über das Genehmigungsverfahren wurden bislang gewisse Anforderungen an den Inhalt und die Qualität von Genehmigungsunterlagen gestellt. In Zukunft muß die Behörde prüfen, ob das antragstellende Unternehmen am Öko-Audit-System - es wurde schon ein paarmal erwähnt - teilgenommen hat und entsprechende Ergebnisse auch im Genehmigungsverfahren verwendet werden können. Das Öko-Audit-System ist jedoch eine freiwillige Veranstaltung unter der Regie der Industrieunternehmen. Solche Öko-Audit-Erklärungen sollen nun mit einem behördlicherseits in Auftrag gegebenen Gutachten verglichen werden.
Kurz und gut: Die PDS lehnt diese Gesetzentwürfe entschieden ab.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jeder weiß: Es ist leicht, dick zu werden, und es ist nicht so leicht, wieder abzuspecken. Das macht viel weniger Spaß, aber es muß sein.
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- Ich spreche aus Erfahrung.
Wir haben 6,5 Millionen Arbeitnehmer in Bund, Ländern und Gemeinden. Mir liegt daran, wenigstens einmal in dieser Debatte zu sagen, daß deren Leistungsbereitschaft und deren Arbeitsbereitschaft nicht geringer ist als die der Arbeitnehmer in der gewerblichen Wirtschaft.
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Sie haben mit dem Regelwerk zu tun, das sie nicht selber erstreben, sondern von der Politik bekommen: vom Bundestag, von den Landtagen, von den Kommunalparlamenten. Darum müssen wir bei uns selber ansetzen, bei dem, was wir aus eigener Entscheidung getan haben, auf Wunsch der Bürger, denen wir das sagen müssen, und zum Teil auch im vorausDr. Burkhard Hirsch
eilenden Gehorsam, wenn man Wohltaten verteilen will.
Ich freue mich, daß der Sachverständigenrat „Schlanker Staat" bei Teilen der Opposition so gerühmt worden ist. Er tagt unter dem Vorsitz des Kollegen Professor Scholz. Wir haben dafür gesorgt, daß die Mehrheit in diesem Sachverständigenrat nicht aus der Verwaltung kommt.
Ich wünschte mir, daß sich die Länder an dem ganzen Werk der Verwaltungsreform mehr beteiligten. Sie führen die Gesetze aus. Ohne eine intensive Beteiligung der Länder wird das nicht funktionieren. Ihre Beteiligung an dieser Debatte ist enttäuschend gering.
Nächste Bemerkung. Wenn wir die personellen Ressourcen besser nutzen wollen, dann geht das nicht mit einem Verschiebebahnhof zwischen Beamten und Angestellten. Wir müssen vielmehr die Fragen beantworten: Welche Aufgabe muß der Staat selbst lösen? Wo wird sie am besten erfüllt? Wie soll das geschehen, und wie können wir Verantwortung delegieren?
Wer deregulieren will, wird auf den entschlossenen Widerstand aller bisher Begünstigten stoßen. Ein Teil der Debatte ist ein hervorragender Beleg für diese These. Wer bürgernah verwalten will, schafft gleichzeitig eine teure Verwaltung. Hier muß man einen Kompromiß schließen und sagen, daß bürgernah nicht unbedingt bürgerfreundlich ist.
Wer Verantwortung delegieren will, muß von der kameralistischen Buchhaltung weg und zu einer Kostenstellen- und Kostenträgerrechnung, wie auch in der Privatindustrie, kommen, sonst entwickeln wir kein Kostenbewußtsein.
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Wir müssen über die Kosten steuern können. Man kann an die Verwaltung nur dringend appellieren, nicht zu warten, bis die vielen Experimentierklauseln in einzelnen Haushalts- und Gemeindeordnungen einmal ausprobiert worden sind. Es sind vielmehr alle Vorbereitungen zu treffen, um diese Neuerung so schnell wie möglich einzuführen, die ohne Schulungen und drastische Umstellungen in der Verwaltung nicht funktioniert. Hier können Sie - das muß man den Innenministern von Bund und Ländern sagen - nicht warten, bis irgendwelche hehren parlamentarischen Entscheidungen getroffen worden sind. Das ist vielmehr ein Problem der ausführenden Verwaltung und muß mit großer Energie begonnen werden.
Eine weitere Bemerkung. Wir streben eine Reform des Beamtenrechts nicht an, um die Beamten abzuschaffen. Wir haben eine gute Verwaltung. Wir wollen das Berufsbeamtentum erhalten. Gerade deswegen muß es aber reformiert werden. Dazu gehört die größere Durchlässigkeit der Laufbahnen, nicht nur durch Examina, sondern durch Lebensleistung ermöglicht, und die vermehrte Aufnahme von Leistungselementen und Leistungsanreizen in die Besoldungsregelungen, selbst da, wo sie den Dienstvorgesetzten unangenehm sind, weil sie dann personelle Entscheidungen treffen müssen, was sie lange Jahre hindurch nicht tun mußten.
Dazu gehört natürlich die Teilzeitarbeit, die wirklich großzügig geregelt wird, und die Ernennung auf Probe. Wenn jemand in eine Führungsposition ernannt werden soll, dann müssen wir wissen, ob er das kann. Diese Ernennung kann aber nicht auf Zeit erfolgen. Herr Kollege Körper, auch Sie kennen Gesetzentwürfe von einzelnen Ländern, die selbst Schuldirektoren auf Zeit ernennen wollen. Wenn Sie das einführen, dann ist der Politisierung Tür und Tor geöffnet - hemmungslos. Man muß sagen: Das wollen wir nicht. Das wird mit uns nicht stattfinden.
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Letzte Bemerkung. Wir brauchen eine drastische Erleichterung der Versetzungsmöglichkeiten; sonst kommen sie von dem „goldenen Handschlag" und der Frühpensionierung nicht herunter. Das bedeutet, daß der Beamte dort arbeiten muß, wo der Staat ihn braucht, und nicht dort, wo er möchte. Wir führen damit keine übertriebenen Grausamkeiten ein, sondern machen in diesem Punkt dasselbe, was wir von gewerblichen Arbeitnehmern seit Jahren verlangen,
({4})
daß sie nämlich zumutbare andere Arbeiten akzeptieren. Auch im öffentlichen Dienst geht es nicht anders.
Ich sage noch einmal: Das alles macht keinen Spaß. Wer das unternimmt, wird nicht von einer jubelnden Bevölkerung auf den Schultern um das Parlament getragen. Es ist aber notwendig, und es führt kein Weg daran vorbei.
({5})
Jetzt hat der Abgeordnete Erwin Marschewski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die grundlegende Modernisierung des öffentlichen Sektors ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Dies bedeutet zunächst eine Kritik der Staatsaufgaben. Der Staat muß nicht alles, was er heute tut, auch künftig erledigen. Wir müssen dem mündigen Bürger übertragen, was dieser besser selber tun kann.
({0})
Wir wollen Entbürokratisierung, wir wollen Dezentralisierung, wir wollen - Herr Kollege Hirsch, ich stimme mit Ihnen überein - eine Stärkung der individuellen Verantwortlichkeit im öffentlichen Dienst.
Ich möchte mich jetzt kurz auf die Dienstrechtsreform beschränken. Zunächst zu Herrn Kollegen Schily. Wir haben dies mit den Ministerpräsidenten der Länder erörtert. Die Ministerpräsidenten stimErwin Marschewski
men dem zu 95 Prozent, zu 98 Prozent zu. Ich verstehe Ihre Kritik an diesen Reformvorschriften nicht. Die Ministerpräsidenten stimmen deswegen zu, weil sie meinen, daß eine Reform vonnöten sei, und weil sie mit uns der Auffassung sind, daß das, was wir vorgeschlagen haben, die tiefgreifendste Reform des Beamtenrechts in den letzen Jahrzehnten darstellt. Diese ist nötig, meine Damen und Herren.
({1})
Unser Ziel - ich hoffe: unser gemeinsames Ziel - liegt darin, den öffentlichen Dienst für das Jahr 2000 und darüber hinaus fit zu machen.
Ich knüpfe an das an, was Herr Kollege Hirsch vorhin gesagt hat: Der öffentliche Dienst hat sich sicherlich als wesentlicher Eckpfeiler unserer Staatsordnung bewährt. Deswegen sage ich den Mitarbeitern, den Beamten ganz herzlichen Dank. Der öffentliche Dienst wird seine Funktion auch weiterhin erfüllen, wenn wir in der Politik ihn den gewandelten Verhältnissen in Staat und Gesellschaft anpassen.
({2})
Deswegen steht für uns fest: Wir wollen die Reform des öffentlichen Dienstes; denn - das ist der eigentliche Grund, meine Damen und Herren - wir wollen den Standort Deutschland leistungsfähiger machen.
({3}) - Das machen wir auch.
Ich denke aber, das Berufsbeamtentum muß weiter Rückgrat des öffentlichen Dienstes bleiben. Wir wollen nicht, wie es die Grünen wollen, das Beamtentum nahezu abschaffen oder, wie es SPD und OW vorhaben, auf den Kernbereich beschränken. Das Beamtentum hat sich bewährt. Wir wollen eine unparteiische Amtsführung. Wir wollen Gesetzmäßigkeit, Stetigkeit und Gleichheit im Verwaltungshandeln. Darauf muß sich jeder Bürger, jeder Unternehmer, jeder, der in Deutschland investiert, verlassen können.
Wir brauchen mehr Innovationskraft, mehr Effizienz im öffentlichen Dienst. Hauptanliegen ist natürlich, das Leistungsprinzip zu stärken. Deswegen wollen wir Leistungsprämien und Leistungszulagen. Deswegen wollen wir den überkommenen Automatismus des Aufsteigens in Dienstaltersstufen, bisher alle zwei Jahre, beseitigen. Es darf nicht sein, daß allein das Verstreichen von Zeit Einkommenszuwächse garantiert.
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Nötig ist natürlich auch eine sorgfältigere Auswahl des Führungspersonals. Deswegen wollen wir, daß jemand nur dann eine Führungsposition annehmen kann, wenn er sich mindestens bis zu zwei Jahren in dieser Aufgabe bewährt hat.
Ich weiß, daß die SPD Führungspositionen auf Zeit fordert. Herr Kollege Schily, ich habe die Befürchtung, daß dies ein Treibsatz für weitere Ämterpatronage wäre und daß dies zu mehr Politisierung im öffentlichen Dienst führte. Das ist unsere große Sorge.
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Schauen Sie: Ich komme aus dem Ruhrgebiet; da hat die SPD die Mehrheit. Vom Pförtner bis zum Oberstadtdirektor hat dort jeder das rote Parteibuch. Das wollen wir nicht im öffentlichen Dienst.
({6})
Herr Kollege Marschewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Körper?
Bitte schön.
Lieber Kollege Erwin Marschewski, stimmen Sie mit mir darin überein, daß der Hausmeister im Rathaus von Recklinghausen weder Beamter noch Beamter auf Zeit ist?
Das ist richtig. Trotzdem haben alle Leute im Ruhrgebiet, die da irgendeine Funktion haben, das rote Parteibuch. Das wollen wir nicht. Das wollen wir verhindern. Deswegen wollen wir dies anders regeln.
({0})
Ein weiterer Punkt, der Sie, Herr Kollege Dr. Glotz, sehr interessiert. Wer dauernd Hervorragendes leistet - das paßt in Ihren Bereich; ich nehme an, daß es auch zu Ihnen paßt -, der soll auch ungeachtet formeller Bildungsabschlüsse leistungsgerecht befördert werden. Deswegen werden wir den Verwendungsaufstieg im mittleren und gehobenen Dienst verbessern. In bezug auf den höheren Dienst haben wir dies schon getan.
Ein weiterer wichtiger Punkt unseres vorliegenden Gesetzentwurfes ist die Stärkung der Flexibilität und der Mobilität der Beamten. Es ist nötig, daß wir die Versetzung und die Abordnung erleichtern. Es kann doch nicht sein, daß ein Beamter im Postamt überzählig ist, wenn 500 Meter weiter ein Arbeitsamt liegt, in dem jemand fehlt. Er kann nach der im Augenblick geltenden Rechtslage nicht zu diesem Arbeitsamt versetzt werden. Das wollen wir ändern. Die Versetzung soll auch ohne Zustimmung möglich sein.
({1})
Ein ganz wichtiger Punkt ist - ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, was ich jetzt sage, Herr Kollege Fischer, aber Sie sollten es sich merken -, daß wir die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Abordnungen und Versetzungen entfallen lassen.
Wir wollen, daß diese Entscheidungen sofort vollzogen werden.
({2})
Das ist einfach nötig, um die Regelungen zur Anpassung an den Bedarf nicht de facto ins Leere gehen zu lassen. Das ist, denke ich, ein ganz wichtiger Punkt.
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Flexibilisierung der Arbeitszeit ist ein weiteres Stichwort. Die Frau Kollegin Vollmer - im Moment amtierende Präsidentin - hat heute morgen gesagt, wir hätten diesen Bereich gar nicht geregelt. Zunächst einmal haben die Maßnahmen, die wir in der Zwischenzeit getroffen haben, dazu geführt, daß 1 078 000
({4})
Bedienstete im öffentlichen Dienst Teilzeitarbeit leisten. Das ist gut so. Wir müssen den expandierenden Dienstleistungen mit mehr Teilzeitarbeit begegnen. Noch etwas, Herr Kollege Fischer. In 15 Vorschriften - ich habe es gerade nachgeschaut - werden wir die Teilzeit im öffentlichen Dienst erleichtern. Das hat Ihre Kollegin in diesem Gesetzentwurf offensichtlich vollkommen übersehen.
Ein weiterer Punkt, den ich für sehr wichtig halte. Ich meine, daß öffentlicher Dienst und Privatwirtschaft erheblich stärker als bisher miteinander kooperieren müssen, um neue Aufgaben zu bewältigen. Deswegen muß der Personalaustausch zwischen beiden Bereichen erleichtert werden.
Herr Kollege Hirsch, Sie haben auch die Frühpensionierung angesprochen. Es handelt sich um einen sehr großen, umfassenden Gesetzentwurf; man brauchte wirklich zwei Stunden, um alles zu erläutern. Wir haben jetzt nur ein paar Minuten Zeit, dennoch möchte ich ein Wort zu den Frühpensionierungen sagen. Diese werden wir reduzieren müssen. Sie dürfen nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich sein, um die Lebensarbeitszeit nachhaltig zu erhöhen und um Versorgungskosten einzusparen.
Ich möchte allerdings betonen: Eine erforderliche Neuregelung muß von allen Bürgern in gleicher Weise getragen werden. Ich sage ausdrücklich: Sonderopfer nur einer einzigen Gruppe, nur des öffentlichen Dienstes, müssen vermieden werden, weil sie die Bürgerschaft spalten. Es müssen alle an der Fortentwicklung, an der Neugestaltung teilhaben.
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Ein anderer entscheidender Punkt. Wir wollen die Erneuerung des öffentlichen Dienstes mit allen gesellschaftlichen und politischen Kräften betreiben. Ich will, daß die Beamten ihre Intelligenz für und nicht gegen die Reform, nicht gegen den Standort Deutschland, einsetzen. Deswegen sage ich: Die Beamten müssen an dieser Reform beteiligt werden.
Ich gehe davon aus, daß wir alle - Politiker, Gewerkschaften und selbstverständlich auch die SPD - gemeinsam beweisen werden, daß wir fähig sind, überholtes Besitzstanddenken zu überwinden, daß wir fähig sind, die neue wirtschaftliche Situation unseres Landes zu beachten, und daß wir dann fähig sind, dem Gemeinwohl auch unter erschwerten Bedingungen zu dienen. Wenn das gelingt, dann kann der öffentliche Dienst, so meine ich, zum Schrittmacher weiterer Erneuerungen in Deutschland avancieren. Das wollen wir. Das ist das Ziel der Politik von CDU/CSU; das ist das Ziel der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dietrich Sperling.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie der Schein trügt, kann man hier erkennen: Dies ist fast die fetteste Regierung, die Deutschland je hatte. - Wie mager sitzt sie da?
({0})
Der Schein trügt. Wären sie alle da, die in dieser Regierung Minister, Staatssekretäre oder Parlamentarische Staatssekretäre sind,
({1})
die F.D.P. hätte wegen der Nähe ihrer Sitzbänke längst den Saal verlassen müssen, um der Regierung Platz zu machen.
({2})
Und dann sagt ein Sprichwort: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Warum haben Sie denn das Reden vom schlanken Staat, das ein bißchen abgezogen ist vom Begriff des „lean management", nicht erst einmal in den Kreisen der Bundesregierung gelten lassen, um vorzumachen, wie ernst es gemeint ist?
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Warum haben Sie Anträge, die Sie früher eingebracht haben, auf Abschaffung von Stellen in Regierungsämtern nicht längst wahrgemacht und den Platzbedarf der Bundesregierung reduziert? Sie hätten dazu Chancen gehabt, und das Reden vom schlanken Staat würde nicht als große Worte mit begleitender Tatenlosigkeit erscheinen.
Heute morgen im Frühstücksfernsehen ließ sich ein abwesender Minister, Waigel mit Namen, feiern, weil seine Beiträge zur Verschlankung des Staates 1 Milliarde DM sparen würden. Das wurde immer wieder wiederholt. Gleichzeitig sucht dieser Minister 14 Milliarden DM Deckungslücke im geltenden Haushalt, wenn das denn stimmt. Vielleicht hat die Schlankheit seiner Finanzvorstellungen dazu geDr. Dietrich Sperling
führt, daß diese Deckungslücke zu schmal geraten ist. Er ist zugleich der Minister, der viel über Regelungsdichte spricht, aber die Regelungsdichte der Steuergesetze ist das Ärgernis für die Bürger. Wie wäre es, wenn er die Regelungsdichte dort abbauen würde, wo er das Sagen hat, zumal man, wenn man in die Finanzämter geht, erfahren kann, daß die Regelungsdichte an manchen Stellen einer Gestaltungsfreiheit der Einkommensstarken gleichkommt?
({4})
Das heißt, daß diese Regelungsdichte, weil undurchschaubar, zu einer ungeheuren Ungerechtigkeit der Steuerlastverteilung führt, mit dem Ergebnis, daß Sie uns das Sparen als das Schlankmachen des Staates vorführen wollen. Aber in Wirklichkeit leben wir unter Sparzwängen. Unter Sparzwängen entdecken Sie dann sehr freudig das Subsidiaritätsprinzip. In welchem Zusammenhang? Wenn die Wirtschaftspolitik versagt und die Arbeitsplätze fehlen, müssen subsidiär die Sozialhilfebemühungen der Gemeinden eingreifen. So wird Schwarzer Peter gespielt zwischen versagender Wirtschaftspolitik und notwendig werdender sozialfürsorgerischer Kommunalpolitik. Sie reden über den schlanken Staat, aber auf den unteren Ebenen machen Sie ihn dicker, weil Sie mit einer Arbeitsplatzbeschaffungspolitik in Deutschland nicht zurande kommen.
Nun reden Sie auch über den schlanken Staat in einer Art und Weise, die mich mit meiner langen Erfahrung sehr nachdenklich gemacht hat. Es gab einmal einen Innenminister Genscher. Als der sein Amt antrat, war er - das habe ich mit Dankbarkeit in Erinnerung - ein reformfreudiger Minister. Mit ihm begann der Umweltschutz in die Gesetzgebung des Bundes und in die Verordnungen des Bundes einzuziehen. Schon damals hätte man eine Reform des öffentlichen Dienstrechtes gebraucht. Warum? Weil immer deutlicher wurde, daß der Staat unter den Bedingungen der heutigen Wirtschaft und Gesellschaft ein Staat ist, der viel mehr Zielkonflikte zu bewältigen hat, die nicht einfach aufgelöst werden können.
Der Zielkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie durchzieht auch heute einen Teil unserer Debatte und wird auf eine merkwürdige Art und Weise beiseite getan. Der Zielkonflikt besteht doch, weil Naturkreisläufe und Menschen geschützt werden müssen und dieses nicht alles in privatisierten Formen passieren kann, obwohl, wenn Sie es mit der Verringerung der Regelungsdichte ernst meinen, die Frage des Haftungsrechts der Investoren für die von Ihnen gesetzten Risiken eine viel wichtigere Rolle spielen sollte, weil dann erst deutlich würde, wie hoch die Kosten sind, die durch privates Investieren möglicherweise gesetzt würden. Versicherungsfirmen würden es ausrechnen, und an den Prämien würde deutlich werden, wie teuer die Risiken manchmal sind, die so durch staatliche Genehmigungsverfahren auf andere abgewälzt werden.
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Wer daran dächte, den Staat in der Tat zu reformieren, würde sich ohne die Begleiterscheinung des veränderten Haftungsrechts nicht daran machen, ernsthaft eine ganze Reihe von Risiken durch Schnellverwaltung erledigen, abschieben zu wollen.
Machen wir es deutlich: Die Waldbesitzer in Deutschland - und nicht nur in Deutschland - erleiden jedes Jahr Vermögensverluste,
({6})
abgesehen von den durch Naturschäden verursachten. Sie können niemanden für die Vermögensverluste haftbar machen. Diejenigen, die an Allergieerscheinungen leiden, erleiden jedes Jahr Verluste in bezug auf ihre Gesundheit, und sie können niemanden habhaft machen, der für diese Allergieerscheinungen die Verantwortung trüge. Für das Erfinden und das In-den-Handel-Bringen von bisher unbekannten Stoffen, die unkontrolliert miteinander reagieren, reicht nämlich kein Genehmigungsverfahren aus, das das abdecken könnte, was da passiert. Diese Risiken können eigentlich durch keinerlei Genehmigung des Staates abgedeckt werden. Dort gehörte etwas anderes hin.
Daran wird deutlich, daß manches auch nicht durch Haftungsrecht abgedeckt werden kann, sondern schlicht vom Sozialstaat aufgefangen werden muß. Deswegen ist das Weiterexistieren des Sozialstaates eigentlich ein unbedingtes Muß.
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Genscher hat damals durchaus begriffen, daß sich das Berufsbeamtentum und die öffentliche Verwaltung auf das Handhaben von Zielkonflikten würden einstellen müssen. Er wäre damals sehr für Reformen gewesen, auch in der öffentlichen Verwaltung. Damals war die Mehrzahl der von Politikern der rechten Seite dieses Hauses geführten Landesregierungen eine Blockadeeinrichtung gegen jede Art von Reformpolitik.
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Wenn ich auf meine 26jährige Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag zurückschaue, dann muß ich sagen: Ich bin ziemlich erstaunt; Sie reden jetzt fast schon so, wie wir damals geredet haben. Das ist ein erheblicher Fortschritt, aber es hinkt 25 Jahre hinter der Entwicklung her.
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Wir haben also festzustellen: Bei Ihnen bewegt sich etwas, sehr viel zu spät. Was Sie treiben, ist ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen den unterschiedlichen Staatsbereichen. Wie Sie wissen, werden die meisten Bundesgesetze von Landesverwaltungen und Kommunalverwaltungen ausgeführt. Was wäre da notwendiger als ein kooperativer Föderalismus, der begreift, daß das, was auf den unteren Ebenen geschieht, in den Gesetzen oben mehr Berücksichtigung finden müßte?
Das würde aber ebenfalls bedeuten, daß man sich ein Stück weit von einem Staatsverständnis verabschiedet, das immer noch von der Hoheitsverwaltung ausgeht. Zu vieles in den Vorstellungen über DienstDr. Dietrich Sperling
recht und Beamtenschaft orientiert sich eigentlich noch immer an dem Staatsverständnis des vergangenen Jahrhunderts. Im Regelfall ist der Bürger Bittsteller und tritt einem Hoheitsträger gegenüber; er ist nicht ein Bürger, der einem Staatsdiener gegenübertritt. Dieses Verhältnis gibt es nicht. Wenn Sie sich einmal vor Augen führen würden, was „lean management" in der Wirtschaft bedeutet, dann würden Sie begreifen, daß Co-Management durch die Belegschaft in modernen Unternehmen zum stilbildenden Element wird. Wo gibt es dies in der Mitbestimmung des öffentlichen Dienstes? Denken Sie auch daran, daß dies ebenfalls durch Mitbestimmung der Bürger in Verwaltungsverfahren geleistet werden müßte? Bürger immer als lästiges Element bei der Durchführung von Gesetzen zu betrachten reicht halt für eine demokratische Staatsverwaltung nicht aus.
({10})
Deswegen sage ich: Wir haben immer noch so etwas wie KuK-Management, Kohl-und-Kanther-Management, Kohl-und-Kinkel-Management. Das reicht für die Modernisierung des Staates nicht aus. Wir betreiben, mit Ihrer Hilfe, ein bißchen Reform. Aber Sie müssen geradezu in unglaublicher Weise auf den Reformwillen der Mehrheit der Landesregierungen setzen, ganz anders, als das bei Ihren Vorgängern der Fall war. Wir werden also KuK-„business as usual" machen. Aber hören Sie mit den großen Sprüchen für die kleinen „Handwerkeleien", die Sie machen, auf. Dies ist eigentlich nicht die Reform des Staates, die Sie mit großen Sprüchen ankündigen; dies ist das Handwerkern an kleinen Verbesserungen, die hoffentlich zu dem führen werden, was man damit an Erwartungen verbindet. Aber dies würde voraussetzen, daß Sie die Mitarbeiterschaft im öffentlichen Dienst, die eigentlich sehr gern daran mitarbeiten möchte, etwas anders motivieren, als dies in Ihren Vorstellungen zur Mitbestimmung je geschehen ist.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man zum Schluß einer Debatte redet, hat man auf der einen Seite die Chance, auf Vorredner reagieren zu können, auf der anderen Seite ist vieles wiederholt.
Zum Kollegen Schily sage ich: Die Grundsatzüberlegung, die Sie in Ihrer Rede angestellt haben, daß die Privatisierung wohl im Grundsatz nicht das richtige Mittel sei, weil vieles im staatlichen Bereich effektiver und vor allen Dingen wirtschaftlicher gemacht werden könne, widerspricht ein bißchen dem, was man laufend im Verwaltungsleben und im politischen Leben erfährt. Ich glaube schon, daß der
Grundsatz richtig ist, daß private Unternehmungen in der Regel die Dinge effektiver, einfacher und schneller machen können, als dies der Staat tun kann. Dennoch widerspreche ich nicht der Ansicht, daß man im Einzelfall auch umgekehrt prüfen muß.
Kollege Westerwelle hat mich darauf gebracht, was für einen Bundesbeauftragten es noch gibt. Er hat davon gesprochen, daß es einen Regierungsbeauftragten für Mittelstandsfragen gebe. Ich finde, da sollten wir irgendwann anfangen, mit dem Rotstift heranzugehen, weil ich mich frage, ob dieses Beauftragtenwesen wirklich noch zeitgemäß ist.
Wenn Sie, Herr Kollege Westerwelle, die Einführung leitender Positionen auf Zeit kritisieren, dann sage ich Ihnen ganz offen: Ich weiß, daß ich mich damit auch in der Koalition nicht durchgesetzt habe. Die Frage war ja nur, ob wir den Ländern eine Experimentierklausel zugestehen. Da, finde ich, sollte man etwas mutiger sein. Meine Meinung dazu ist auch gespalten. Es gibt Argumente dafür und dagegen. In der Praxis gibt es aber schon sehr viele leitende Positionen auf Zeit. Das betrifft beispielsweise Abgeordnete, Minister, Landräte. Wir haben ja gerade in Bayern gewählt. Warum soll das nicht auch in anderen Bereichen als Experimentiermöglichkeit angedacht werden?
({0})
Bei einigen Äußerungen stellt es einem aber die Haare auf. Ich denke an den Kollegen Gysi, der die Formulierung gebracht hat, daß diese Gesellschaft von uns militarisiert würde. Da fragt man sich wirklich: In welchem Staat lebt dieser Mann?
Recht hat er allerdings, wenn er davon ausgeht, daß wir vielleicht in Zukunft im Interesse der Bekämpfung des Verbrechens etwas mehr aus der Verkehrsüberwachung heraus- und in die Erhöhung der inneren Sicherheit hineingehen müßten. Da gebe ich ihm recht. Nicht jedes Rechtsüberholen sollte gleich den Staat auf den Plan rufen.
Eines will ich aber auch deutlich sagen, und darüber wird heute noch diskutiert: Das darf nicht so weit gehen, daß der Ladendiebstahl und andere kleine Delikte quasi straffrei bleiben, wie das bei Ihnen angedacht wird.
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- Gut, ich sage noch einmal: Darüber, im Straßenverkehr nicht alles staatlich zu regeln, ließe ich mit mir durchaus reden.
Meine Damen und Herren, das Berufsbeamtentum wollen wir erhalten. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht. Die Wiedervereinigung und der Aufbau dieses Staates nach 1945 sind, glaube ich, Zeichen dafür. Wir müssen aber den öffentlichen Dienst modernisieren und effektiver gestalten.
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Ein wesentlicher Punkt dabei scheint mir die Ausdehnung der Möglichkeiten der Teilzeit, des Teilzeitangebots, und zwar ohne Voraussetzungen. Damit wird die individuelle Arbeitszeitvorstellung des einzelnen Beamten berücksichtigt; man geht auf deren Wünsche ein und macht damit, glaube ich, den öffentlichen Dienst um vieles attraktiver.
Ich möchte aber auch sagen, daß die Teilzeitarbeit freiwillig bleiben muß. Herr Kollege Körper, Überlegungen in Ihrer Partei, das eventuell zwangsweise einzuführen, finden mit Sicherheit bei uns keinerlei Zustimmung, weil ich auch glaube, daß Sie die Beamten demotivieren, wenn Sie diese Dinge zwangsweise einführen.
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Wenn Sie motivierte Beamte wollen, dann müssen Sie das im Bereich der Freiwilligkeit belassen.
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Ein weites Feld für uns wird die Frage des Leistungsanreizes sein. Ich glaube, dagegen kann niemand etwas haben. Es wird die Gehaltstabelle verändert. Es wird nicht mehr die Automatik geben, daß der weniger Leistungswillige genauso wie der Fleißige und Leistungswillige bedient wird. Es wird eine Altersverschiebung geben. In den jungen Jahren wird etwas schneller in der Gehaltstabelle aufgestiegen werden, und das Endgehalt wird später erreicht werden. Ferner wird es eine Leistungsprämie geben, die rückwirkend erhebliche, überdurchschnittliche Leistungen honoriert. Daneben wird es eine Leistungszulage geben, die eine gegenwärtige erhebliche, überdurchschnittliche Leistung honoriert. Die beiden zuletzt genannten Anreize sollen sich natürlich ausschließen und nicht zugleich möglich sein.
Meine Damen und Herren, es kommt uns entscheidend darauf an, daß wir in den nächsten Diskussionen im Ausschuß diese Fragen noch einmal mit den Beteiligten durchprüfen. Es kann nur mit den Beteiligten gehen; darüber gibt es gar keinen Zweifel. Eine Verordnung von oben ohne Mitsprache und ohne Anhörung auch der Interessen der Betroffenen ist undenkbar. Wir müssen die Menschen motivieren, damit sie uns helfen, auch in Zukunft einen modernen öffentlichen Dienst mit Berufsbeamten zu haben. Wenn es uns dann noch gelingt, einige Akzente auch in den Bereich des Tarifrechts zu übertragen, dann haben wir ein Zeichen der Zeit, nämlich Reformbedürftigkeit, erkannt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3993 bis 13/3996, 13/4069, 13/4075 und 13/4076 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
3. Innovationspolitik
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Thierse, Michael Müller ({0}), Arne Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Innovative Forschungs- und Technologiepolitik - Bündnis für Arbeit und Umwelt
- Drucksache 13/3979 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Edelbert Richter, Ernst Schwanhold, Dr. Peter Glotz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Risikokapital für junge Technologieunternehmen
- Drucksache 13/3302 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({3})
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft"
- Drucksache 13/4000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({4})
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zum Bericht der Bundesregierung „Info 2000" liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Wolfgang Thierse das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der höchsten Arbeitslosigkeit in der deutschen Nachkriegsgeschichte müssen wir endlich die Standortdebatte vom Kopf auf die Füße stellen und sie von einer KostendeWolfgang Thierse
batte in eine Innovations- und Modernisierungsdebatte umwandeln. Darauf zielt unser Antrag.
({0})
Die Verringerung von Kosten kann selbstverständlich Probleme verringern; das ist unstrittig. Aber ich warne vor der fatalen Verengung der Standortdebatte auf eine Kostensenkungsdebatte, wie sie von Bundesregierung und Arbeitgeberfunktionären in immer schärferer Form geführt wird. Diese Verengung erzeugt die gefährliche Illusion, daß wir auf dem Sektor der Arbeitskosten mit Ländern wie Polen, Rußland, Korea oder Thailand konkurrieren könnten. Es wird doch wohl niemand ernsthaft glauben, daß Deutschland ein Billiglohnland werden könnte. Ja, wir können und dürfen das noch nicht einmal wollen.
({1})
Nein, mit Innovationen sichern wir unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit, nicht allein und vor allem mit Arbeitskostensenkungen. Deshalb müssen wir die Standortdebatte eben vom Kopf auf die Füße stellen und über wirklich zukunftsorientierte und zukunftsorientierende Politik diskutieren.
Eine Politik der Bundesregierung aber, die die Innovationskraft unserer Wirtschaft fördert, unterstützt und anreizt, ist leider nicht zu erkennen. Im Gegenteil: 1994 hat Frankreich Deutschland erstmals aus dem Spitzentrio der Forschungsnationen verdrängt. Noch 1987 waren wir mit 2,88 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf Platz 1 der G-7-Staaten. Jetzt liegt dieser Anteil bei nur noch 2,34 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit unter dem Wert von 1981. Der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist aber anerkanntermaßen wichtigster Indikator der technologischen Innovation.
Zugleich haben Sie auch die Förderung von neuen Projekten drastisch zurückgefahren. 1982 gab der Bundesforschungsminister dafür noch knapp 4,6 Milliarden DM aus. Die 4,17 Milliarden DM von 1995 sind schon nominal ein Rückgang, inflationsbereinigt ist das eine Katastrophe. Denn gerade die Projektförderung ist das politische Instrument, um auf neue Entwicklungslinien in der Spitzentechnologie zu reagieren.
({2})
Bei Innovationspolitik geht es um Menschen, um ihre Arbeitsplätze, um ihre Chancen und ihre berufliche Zukunft. Wir brauchen neue Informationstechnologien, neue Verkehrskonzepte, wir brauchen Biotechnologien und gewiß auch Gentechnologien. Wir brauchen neue Energiespartechniken, wir brauchen die Marktfähigkeit der Solartechnologie.
Es wird Ihnen auf seiten der Regierung nicht gelingen, für mangelnde Innovationskraft oder gar die von Ihnen beklagte Technikfeindlichkeit die SPD verantwortlich zu machen. Im Gegenteil: Es ist eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, daß die Bundesregierung glaubt, sich aus der Forschungsförderung zurückziehen zu können, weil dann die Wirtschaft einspringen würde. Auch hier ist das Gegenteil richtig: Die FuE-Ausgaben der Wirtschaft sind von 1991 bis 1993 um 1,3 Prozent zurückgegangen. In den gleichen Jahren steigerte die französische Wirtschaft ihre Aufwendungen um fast 6 Prozent, in England gab es ein Plus von über 10 Prozent und in Dänemark von fast 12 Prozent. Dort hat man begriffen: Für neue Arbeitsplätze braucht man neue Produkte. Die Bundesregierung hat nichts begriffen; denn sonst würde sie nicht die Forschungsförderung abwürgen, sondern antizyklisch investieren.
({3})
Der Staat muß Anreize schaffen für das nötige konstruktive Zusammenspiel von Wissenschaft und Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.
Herr Rüttgers hat das ja immerhin erkannt, kann sich aber wohl nicht durchsetzen. Gestern hat er in Hannover über den Mangel an Innovationen in der deutschen Wirtschaft geklagt. „Wir leben von der Substanz" hat er gesagt.
({4})
Die neuesten Zahlen des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft belegen, daß diese Selbstkritik viel zu milde ausgefallen ist. Während weltweit die Produktzyklen in atemberaubender Weise immer kürzer werden, gab es in Deutschland einen Rückgang des Umsatzanteils neu eingeführter Produkte von 31 Prozent im Jahr 1987 auf nur noch knapp 28 Prozent.
({5})
Im Jahre 1994 hat die deutsche Wirtschaft 58 Milliarden DM für Forschung und experimentelle Entwicklung ausgegeben. Übrigens: Aufbau Ost bedeutet in diesem Zusammenhang ganze 2,9 Prozent oder 1,7 Milliarden DM von diesem ohnehin nicht großen Kuchen. Eine solche falsche Verteilung der Mittel ist schlicht skandalös.
({6})
Das liegt nicht an den Facharbeiterinnen und Facharbeitern, den Ingenieuren und Wissenschaftlern. Die leisten nach wie vor sehr gute Arbeit, wie man an den Exportzahlen sehen kann. Es mangelt an der Umsetzung von Innovationen in Verfahren und Produkte. Da richten sich die Augen natürlich zuerst auf das Management. Aber gefragt sind auch die politischen Rahmenbedingungen. Keine Regierung kann angesichts dieses Mangels einfach die Hände in den Schoß legen nach dem Motto: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Aber diese Regierung tut dies.
({7})
Nehmen wir zum Beispiel die angebliche Technikfeindlichkeit. Gewiß, es gibt da Moden und Ängste, aber Technikfeindlichkeit ist im wesentlichen eine Erfindung der Regierung zur Denunzierung von Bemühungen, Technikfolgen sozial, gesundheitlich und ökologisch abzuschätzen. Aber gerade dann, wenn
wir solche Fragen ernst nehmen, leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Förderung technischer Innovationen. Dann erst können wir darauf hoffen, daß ein breiter Dialog zustande kommt, der auch davon handelt, daß neue Arbeitsplätze nur geschaffen werden, indem Chemie, Gentechnik, Biotechniken, Solartechnologien usw. neue, marktfähige Produkte entwickeln und erfolgreich anbieten.
Es reicht nicht, den technologiepolitischen Dialog hinter verschlossenen Türen zu führen. Erst dann, wenn die Menschen sehen, daß wir ihre Sorgen ernst nehmen, daß wir beide Seiten der Innovationsmedaille beachten, wenn wir zugeben, daß wir die Bilanz zwischen vernichteten und neu geschaffenen Arbeitsplätzen nach zehn oder zwanzig Jahren heute nicht seriös vorhersagen können, können wir den offenen gesellschaftlichen Dialog bekommen, den wir um der neuen Technologien willen dringend brauchen. Nichts gegen einen Technologierat, den ja die SPD vorgeschlagen hatte, auch nichts gegen mehrere davon, auch noch einen Petersberger Kreis dazu - die ersetzen aber nicht einen wirklich öffentlichen, allgemein zugänglichen Dialog. Mir scheint, die Bundesregierung fürchtet diesen Dialog, weil er ihre Konzeptionslosigkeit entlarven würde.
({8})
Es geht um die Überwindung falscher Gegensätze. Ich nehme als Beispiel den Schiffbau. Es geht dabei nicht darum, daß veraltete Technologien zu überwinden seien; denn es gibt im Schiffbau beides: traditionelle Tätigkeiten und hochmoderne, hochqualifizierte Technologien, die angewandt werden.
({9})
- In verschiedenen Disziplinen.
Wir brauchen beides, klassische Industrie und moderne Technologien, weil es um Arbeitsplätze geht. Genau deshalb muß unserer Überzeugung nach ein Hauptgegenstand von Innovationspolitik die ökologische Modernisierung der Industrie sein. Umweltschonung, Stoffrecycling, Energieeinsparung schon bei der Entwicklung und Gestaltung von Produkten und Verfahren sind auch ökonomisch sinnvoll, sind sinnvolle Ziele von Innovation. Technologische Innovation muß in dieser Hinsicht die Effizienz steigern, die Effizienz von Rohstoffen und Energie. Auf diesem Gebiet werden wir die Exportschlager der Zukunft finden, hat doch Deutschland schon heute den Spitzenplatz bei Umwelttechnologien inne. Wir brauchen dafür aber auch andere Förderungsschwerpunkte bei der Forschungs- und Technologiepolitik. Das Entscheidende wird aber unausweislich die ökologische Steuerreform sein.
Mit der ökologischen Steuerreform wollen wir zuerst Arbeitskosten senken - übrigens auch die Kosten, die die Arbeitnehmer zu tragen haben -, und wir wollen Rohstoffverbrauch, Umweltbelastung und Energieverbrauch schrittweise verteuern, damit wir unsere Wirtschaft endlich darauf einstellen, daß uns diese Mittel nur endlich und nicht unendlich zur Verfügung stehen. Sie sparsam und hocheffizient zu nutzen ist eine technologische Herausforderung ersten Ranges.
({10})
Vergleichsweise klein ist dagegen die Aufgabe, den Transfer von Forschungsergebnissen in ein Produkt zu beschleunigen. Da kann der Staat, da kann die Bundesregierung viel tun; denn Transfer von Forschungsergebnissen zu den Unternehmen in Produkte und Produktionsverfahren ist entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, meinen, daß dieser Transfer nur ganz marginal eine Aufgabe von Forschungs- und Wirtschaftspolitik sei, dann sollten Sie sich konsequenterweise aus der politischen Gestaltung unseres Gemeinwesens ganz zurückziehen.
Damit bin ich bei einem allgemeinen und alarmierenden Befund. Eine Einbindung der Forschungspolitik des Bundes in eine Gesamtstrategie zur Modernisierung der deutschen Volkswirtschaft ist weit und breit nicht zu erkennen. Die Forschungspolitik verzettelt sich in eine Vielzahl von Einzelprojekten mit der Folge wachsender Verwaltungskosten und langer Genehmigungszeiten. Die indirekte Forschungsförderung ist fast vollständig abgebaut worden; dabei ist gerade sie ein Mittel, kreative Prozesse ganz unbürokratisch zu ermöglichen und zu befördern. Kein anderes Land unter den sieben großen Industrienationen verzichtet auf steuerliche Anreize zur Forschungsförderung, nur unser Zukunftsminister.
({11})
Meine Damen und Herren, bei der ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft geht es um nicht mehr und nicht weniger als unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Es geht um Exporterfolge, es geht um Wohlstandswahrung und um Arbeitsplätze. Es ist ein Jammer, daß diese Regierung bei der Verzahnung von Beschäftigungspolitik, internationaler Wettbewerbsfähigkeit, Innovationsförderung und Umweltschutz immerfort versagt, liegt doch nichts näher als eine solche Politik der ökologischen Modernisierung. Lesen Sie doch einmal den Delphi-Bericht, auf den Sie so gern Bezug nehmen.
({12})
Wo bleibt die Wende in der Innovationspolitik, die dort so überzeugend vertreten und begründet wird?
Wir jedenfalls haben ein Konzept für die Einleitung einer solchen innovationspolitischen Wende. Die ökologische Steuerreform ist ein wichtiger erster Schritt dazu.
Meine Damen und Herren, ich wundere mich, daß die Regierung so wenig Aufhebens um den Expertenbericht „Info 2000" macht. Möchten Sie, daß auch der möglichst wenig gelesen wird, weil Sie auch hier den öffentlichen Dialog fürchten? Die Art und Weise, wie Sie, meine Damen und Herren auf den Regierungsbänken, diesen Bericht, der eigentlich der Fahrplan der Bundesregierung in die InformationsWolfgang Thierse
gesellschaft hätte sein sollen, vor der Öffentlichkeit geradezu verstecken, scheint das zu beweisen.
({13})
Wir haben bisher keine wirkliche Debatte darüber geführt. Ich hoffe, wir können sie noch führen. Warum ergreifen Sie nicht die Gelegenheit, wenigstens hier auch eine öffentliche Debatte vom Zaun zu brechen, die über die Enge der wissenschaftlichen Seminare hinausreicht und auch vor den Stammtischen der Nation nicht haltmacht? Ohne eine die ganze Gesellschaft erfassende Debatte über die Leitbilder für die Informationsgesellschaft, über ihre demokratische, kulturelle, soziale Ausgestaltung reduzieren wir auch die öffentliche Wahrnehmung allein auf Wirtschaft und Technik und lassen dabei die Menschen auf der Strecke. So provoziert man Technikfeindlichkeit erst, über die Sie sich dann beklagen.
({14})
Statt eines solchen öffentlichen Diskurses erleben wir eine künstlich erzeugte und ideologisch durchtränkte Deregulierungsdebatte. Von dem kleinkarierten Zuständigkeitsgezänk zwischen Postministerium, Wirtschaftsministerium und Forschungsministerium, das die Entstehung und Veröffentlichung des Berichts immer wieder verzögerte, will ich gar nicht reden.
Die Bundesregierung ist dabei, die Zukunft zu verschlafen. Denn die Informationsgesellschaft ist ja schon längst kein Schlagwort mehr. Über den verbreiteten Einsatz der Informations- und Kommunikationstechniken in Wirtschaft, Verwaltung und privaten Haushalten verändert sich die Gesellschaft jetzt.
Schon heute ist die digitale Informationsverarbeitung eine Schlüsseltechnologie. Bereits heute bauen andere Technologien und Innovationen darauf auf. In absehbarer Zeit werden unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen, Art und Umfang von Beschäftigung, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, aber auch die Innovationsfähigkeit von Unternehmen und der Wirtschaft insgesamt von den Kommunikationstechniken geprägt sein.
Eine Industriegesellschaft, die die informationstechnische Modernisierung verhindert oder verschläft, kann daran auch nichts verdienen, das heißt, sie wird das vorhandene Beschäftigungsniveau nicht halten können, sondern einen enormen Verlust an Arbeitsplätzen hinnehmen müssen. Der Verzicht auf informationstechnologisch gestützte Innovationen ist gleichbedeutend mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und einem Rückgang an wirtschaftlichem Wachstum. Deshalb müssen wir in Deutschland die Innovationsschwäche überwinden, die in einigen Bereichen schon vorhanden ist, zum Beispiel in den Bereichen Mikroprozessorenentwicklung und Computerbetriebssysteme.
Um nicht noch mehr Terrain zu verlieren, müssen kleine, bewegliche, innovationsfreundliche Unternehmen gezielt gefördert werden - nicht nur die Telekom. Dabei liegen insbesondere in der Entwicklung benutzergerechter Software große Wachstumschancen.
Gewiß, die Innovationstechniken werden gegenwärtig vor allem als Rationalisierungs- und Organisationstechniken eingesetzt. Sie wirken als Prozeßinnovation mit produktivitätssteigernden und kostensenkenden Resultaten und bauen deshalb Arbeitsplätze ab. Aber Arbeitsplatzverluste sind kein naturnotwendiges Schicksal; man kann auch gegensteuern.
({15})
Das wäre sinnvolle soziale Gestaltung der Informationsgesellschaft.
Dazu gehört, daß wir die Arbeitnehmer einbeziehen. Ich habe jedenfalls noch keinen Arbeitnehmer protestieren hören, wenn es um Arbeitserleichterungen ging. Im Gegenteil: Wenn die Informationsgesellschaft uns alle mehr als bisher von Arbeit befreit, müssen Arbeitsbedingungen und Arbeitszeiten darauf reagieren. Das ist der Sinn des „Bündnisses für Arbeit". Das „Bündnis für Arbeit" ist auch ein Bündnis für Innovation und nicht gegen Innovation.
({16})
Ich hoffe, daß wir bald Gelegenheit haben, noch einmal ausführlicher über die Fragen der Entwicklung und Gestaltung - der sozialen, kulturellen und politischen Gestaltung - der Informationsgesellschaft miteinander zu diskutieren.
({17})
Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg, meine Damen und Herren von der SPD, ein paar Bemerkungen zu Ihren Anträgen: Als ich sie gelesen habe, bin ich eigentlich davon ausgegangen, daß wir einen Grundkonsens haben bezüglich der Einschätzung der Bedeutung der Innovationspolitik für die Wettbewerbsfähigkeit und die Leistungsfähigkeit unseres Landes und unserer Wirtschaft. Insofern bin ich ein bißchen verwundert darüber, Herr Kollege Thierse, was Sie hier vortragen.
Wir haben die Standortdebatte nie allein unter dem Kostensenkungsaspekt geführt.
({0})
- Sie müssen es wissen, Herr Kollege. - Die Standortdebatte ist immer unter drei Aspekten geführt worden: Erstens. Wir müssen Forschung und Entwicklung stärken und Innovationen verbessern. Zweitens. Wir müssen die Kosten senken. Drittens. Wir müssen Deregulierung erreichen, wir müssen Verkrustungen aufbrechen. Die Debatte am heutigen Vormittag hat es gezeigt.
Lassen Sie mich in aller Ruhe und Sachlichkeit feststellen: Wir brauchen keinen Nachhilfeunterricht in Innovation, Forschung und Entwicklung.
({1})
Wir haben die Förderetats in finanziell schwierigster Zeit gehalten, zum Teil auch aufgestockt. Wir haben sie insgesamt natürlich nicht mehr wachsen lassen können. Es kommt aber nicht nur auf Geld an. Es kommt zwar auch auf Geld an - das sage ich, um nicht mißverstanden zu werden -, aber Projektförderung allein ist es nicht. Es kommt auch auf die qualitative Ausrichtung der Programme an. Es kommt ferner darauf an, daß wir in diesem Lande Technikfeindlichkeit überwinden und eine positive Grundstimmung für die Anwendung und Umsetzung neuer Technologien herbeiführen.
Ich glaube, dabei sind wir gut vorangekommen. Ich will das an unserem Bericht „Info 2000" deutlich machen, der in der Tat mehr ist als ein Bericht. Er ist ein Aktionsprogramm. Herr Kollege Thierse, wir haben die Vorläuferbroschüre zum Info-Bericht in 50 000-facher Ausfertigung vertrieben und den InfoBericht, den es erst seit wenigen Wochen gibt, bereits in tausendfacher Ausfertigung. Er ist ebenfalls im Internet. Er wird nachgefragt. Ich darf sagen: Er wird von allen Seiten, auch von seiten der Opposition, als ein wichtiger und guter Bericht bezeichnet. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das zu erkennen geben.
Deutschland ist auf dem Weg in die Informationsgesellschaft. Das heißt, wir stehen vor einem Quantensprung. Computer, Telekommunikation und die klassischen Nachrichtenmedien wachsen zusammen. Das ist mehr als eine Addition von drei Teilen. Das ist eine neue Qualität für die Gesellschaft, eine Qualität, die vergleichbar ist mit dem, was wir mit der Einführung der Dampfmaschine oder der Elektrizität erlebt haben.
Noch vor wenigen Jahren war undenkbar, was heute Wirklichkeit ist. Gestützt auf die Informationstechnik, sind Unternehmen in der Lage, die Zyklen von Entwicklung, Produktion und Verkauf drastisch zu verkürzen. Information ist ein mobiler Produktionsfaktor geworden so wie Rohstoffe und Kapital. In quasi virtuellen Unternehmen lenken kleine Stäbe weltweit Tausende von Mitarbeitern. Dafür gibt es Beispiele in nächster Nähe. Schauen wir uns die Firma Puma oder ABB in der Schweiz an.
Einkaufen - um auch das zu schildern - kann man in quasi virtuellen Ladengalerien, nebenbei bemerkt auch nach 18.30 Uhr, was die ganze Absurdität dieser Regelung einmal mehr unter Beweis stellt.
({2})
Intelligente Verkehrsleitsysteme - wir haben auf der A 9 einen wichtigen Versuch gemacht - helfen, die Umwelt zu schonen und die Zahl der Verkehrstoten nachweisbar zu verringern. Was wir in manchen Autos - auch und gerade in deutschen Produkten - an Informationssystemen haben, ist wegweisend für diese neue Technologie.
Neue Lehr- und Lernprogramme verändern die traditionellen Formen des Studierens, der Ausbildung und der Weiterbildung. Künftig können in Vorlesungen im Cyber Space Studenten beispielsweise aus Bayreuth mit Professoren aus Harvard, aus Paris oder von sonstwo zusammengeführt werden.
In der Medizin vollzieht sich bereits heute eine Revolution in dem Sinne, daß das Wissen von Spezialisten über Ferndiagnose in der ganzen Welt nutzbar gemacht werden kann. Das alles ist nicht Sciencefiction oder Utopie; das ist alles greifbare Realität.
({3})
Wir müssen diese Veränderungen als Chance und nicht nur als Bedrohung begreifen. Wir müssen wachsam sein, aber wir müssen diese Chance auch nutzen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Chance für die Wirtschaft und die entstehenden Weltmärkte, sondern auch um eine Chance für Demokratie, Pluralität und Individualität.
Wir brauchen ein liberales, ein marktwirtschaftliches Klima. In einer vernetzten Welt sind einzelstaatliche Regulierungen, Dirigismus und Abschottung völlig fehl am Platze.
({4})
Deshalb habe ich nicht umsonst, wie ich meine, auf dem G-7-Treffen in Brüssel zur Informationsgesellschaft gegen Quoten, Abschottung und Marktregulierungen gekämpft. Wir haben erreicht, daß der Vorrang für die Privatinitiative als Grundzug künftiger Politik festgeschrieben worden ist. Das war eine Schlüsselentscheidung, das war gar nicht selbstverständlich.
Es gab auch ganz andere Modelle, Modelle mit Quoten, Zulassungsbeschränkungen, Auflagen, Verboten und anderem mehr. Bei den G-7-Gesprächen in Brüssel ist diese privatwirtschaftliche Orientierung und Liberalisierung durchgesetzt worden.
Wenn ich von Liberalisierung, von der Freigabe der Netze, der Dienste, des Zugangs und anderem mehr spreche, dann wissen wir sehr wohl - deshalb haben wir den Info-Bericht zum Aktionsprogramm gemacht -, daß bei der grundsätzlichen Liberalisierung in vielen Einzelbereichen zu regulieren ist, neue Gesetze zu machen sind und bestimmte Aspekte, die wir in der Vergangenheit gar nicht beachtet haben, einer Regelung zugeführt werden müssen.
Das eine ist das Grundprinzip, das nicht selbstverständlich zu verankern war. Die Liberalisierung zum anderen bedarf der Regulierung in vielen Bereichen.
Wir müssen uns darauf einstellen, daß die Informationsgesellschaft gerade den Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte in eine neue Dimension führt. Wir müssen damit rechnen, daß die neuen Techniken selbstverständlich zunächst an der einen oder andeBundesminister Dr. Günter Rexrodt
ren Stelle zu Arbeitsplatzverlusten führen. Das ist überhaupt keine Frage.
Die Telekom ist beredtes Beispiel dafür. Um einen Telearbeitsplatz einzurichten, braucht man einen PC, ein Modem und einen Telefonanschluß. Das Ganze kostet 10 000 DM, und es ist völlig egal, ob dieser Telearbeitsplatz in Brasilien, in Indien oder in Deutschland entsteht. Das müssen wir beachten.
Sicher ist, daß die neuen Techniken dazu beitragen, ungeheuer viel neue, andere Arbeitsplätze zu schaffen. Wie viele davon in Deutschland entstehen werden, hängt entscheidend von uns selbst ab. Aufgabe der Politik und insbesondere der Wirtschaftspolitik ist es, hierfür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Wir haben das untersucht und sind nach langem Abwägen zu dem Ergebnis gekommen, daß man günstigstenfalls - das ist ein Best-case-Szenario - im Saldo bis 2005 1,5 neue Arbeitsplätze in Deutschland entstehen lassen kann.
({5})
- Entschuldigung, 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze. Das ist Ihnen jetzt zugänglich, herzlichen Dank.
({6})
- Das ist schon viel wert. ({7})
Im günstigsten Fall können 6 Millionen Arbeitsplätze in Europa, davon 1,5 Millionen in Deutschland geschaffen werden. Das ist nicht selbstverständlich, da müssen die Rahmenbedingungen stimmen.
Wir haben mit der Umsetzung dessen, was an Schularbeiten zu machen ist, Herr Kollege Thierse, begonnen. Wir haben unheimlich viel mit der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte, mit der Anpassung von Gesetzen an die digitale Welt
({8})
und einer Neuorientierung unseres Bildungswesens und einem Dialog mit den Bürgern - wir werden ein Forum einrichten, das über drei Jahre bestehen wird - erreicht.
Herr Thierse, Sie haben die Petersberger Gespräche erwähnt. Ich habe erst vor wenigen Tagen mit dem Kollegen Rüttgers eine große Petersberger Runde gehabt, bei der Vertreter sämtlicher medien-
und informationsbezogener Wirtschaftsbereiche und gesellschaftlicher Bereiche in eine wirklich fruchtbare Diskussion eingetreten sind.
Der Dialog mit den Bürgern ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir müssen die Menschen für die neue Informationsgesellschaft gewinnen. Nur dann haben wir eine Chance, daß wir die neuen Arbeitsplätze zu einem Gutteil in Deutschland schaffen können. Wir müssen deutlich machen, daß Informationsgesellschaft eben nicht nur etwas für Experten ist, sondern daß die Veränderungen auf jeden einzelnen Arbeitsplatz zukommen. Wir müssen die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen und Antworten finden.
Lassen Sie mich das am Beispiel der Telearbeit erläutern. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die räumliche und zeitliche Distanz zwischen Wohnen und Arbeiten verliert an Bedeutung oder verschwindet ganz. Familie und Beruf lassen sich besser miteinander vereinbaren. Teilzeitarbeit ist viel besser zu organisieren. Verkehrssysteme werden ebenso wie die Umwelt entlastet.
Zur Akzeptanz der Telearbeit gehört aber auch, daß beispielsweise ihre rechtlichen Bedingungen geklärt sind. Es geht hier um ganz konkrete Bedingungen, und es geht um ganz konkrete Dinge wie etwa die Definition des Betriebes oder der Mitwirkungsrechte der Gewerkschaften und der Arbeitnehmervertreter in Telearbeitsszenarien;
({9})
es geht um Auflagen hinsichtlich gewerberechtlicher Bestimmungen; es geht um eine Berücksichtigung der neuen Arbeitsformen in den Sozialversicherungssystemen und vieles andere mehr.
Die Notwendigkeit, dies aufzugreifen, dies zu diskutieren und gegebenenfalls in Gesetze, in Regelwerke, die das Ganze nicht dominieren und erdrükken dürfen, die aber erforderlich sind, umzusetzen, haben wir begriffen. Wir haben es in das Aktionsprogramm hineingeschrieben, und wir machen es. Das ist nachweisbar; das sind keine Dinge, die irgendwo hintanstehen.
Wir reden über Multimedia, also die Verwischung des Rundfunkbegriffs und die Überschneidungen, die dort anliegen. Wir werden in Kürze - darauf wird hier heute noch einzugehen sein - ein Multimediagesetz vorlegen. Im Datenschutz, im Verbraucherschutz und bei der Kriminalitätsbekämpfung, aber auch bei der Telematik in den Verkehrssystemen ist etwas zu tun.
All das wird gemacht und ist unterwegs. Ich bin sehr froh, dies hier so sagen zu können. Über das Ganze wird das Prinzip der Freiheit und der Liberalisierung als das dominierende Prinzip durchgesetzt, und darunter sind die notwendigen Dinge zu regeln.
Das Prinzip Freiheit hat die Ordnung zu bestimmen, und nicht eine vorgedachte Ordnung hat darüber zu befinden, welche Freiheiten der einzelne gnadenweise vom Staat bekommt.
({10})
Das ist die Orientierung, die wir gefunden haben.
({11})
- Herr Brüderle sagt genau dasselbe. Machen Sie sich sachkundig, ehe Sie dazwischenrufen. Sie haben zwar den jeweils richtigen Sound; aber die Tonlage allein, Herr Kollege, bringt es nicht. Auf den Inhalt, der von Ihnen transportiert wird, warte ich noch;
auf den warte ich aber noch die ganze Legislaturperiode, Herr Kollege; da bin ich sicher.
Meine Damen und Herren, wir brauchen Menschen, die ihre Chancen erkennen und nutzen und dabei nicht auf staatliche Anordnungen und allein auf Förderprogramme starren. Diese Menschen gibt es in Deutschland; aber vielleicht gibt es sie nicht mehr oder noch nicht wieder in ausreichender Zahl. Deshalb setzen die Bundesregierung mit ihrem Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze und die Koalition mit ihrer Offensive für unternehmerische Selbständigkeit darauf, daß es mehr Menschen gibt, die diese Chancen nutzen.
Ich will, weil das Ihre Anträge ausmacht, auch noch ein Wort zum Thema Risikokapital sagen. Wir wissen, daß gerade bei den innovativen kleinen und mittleren Unternehmen die Eigenkapitaldecke zu dünn ist und daß Risikokapital in Deutschland schwer beschaffbar ist. Dagegen muß etwas getan werden.
({12})
- Wir wissen seit langem, daß es keine Risikokapitalkultur in Deutschland gibt; aber diese kann man nicht von Staats wegen erzeugen. Der Staat kann nur die Rahmenbedingungen ein Stück verbessern.
({13})
Das Risikokapital muß nämlich von Privaten und von Unternehmern kommen; sie müssen das zur Verfügung stellen, und das müssen wir fördern. Das gelingt nicht mit Technikfeindlichkeit, und wir dürfen dabei diejenigen, die in risikoreiche Unterfangen investieren wollen, nicht aus dem Land treiben, weil sie Zweifel haben, ob sie in Deutschland noch etwas anfangen können.
({14}) Das beste Beispiel ist die Biotechnologie.
({15})
Meine Damen und Herren, wir sprechen mit den Börsen, damit auch die Aktien kleiner Unternehmen besser gehandelt werden können. Wir wollen Kapitalbeteiligungsgesellschaften durch steuerliche Maßnahmen so auslegen - ich erspare mir jetzt die Details -, daß sie bei Veräußerungsgewinnen für eine bestimmte Zeit eine Freistellung bekommen und sich daher mehr an kleineren und mittleren Unternehmen beteiligen. Wir wollen Anreize dafür schaffen, daß Investmentgesellschaften sich mehr an kleinen und mittleren Unternehmen beteiligen, und wir wollen die Eigenkapitalbasis von kleinen Unternehmen, insbesondere bei Unternehmensgründungen, durch steuerliche Entlastungen verbessern.
({16})
Die intelligente Nutzung der Informations- und Kommunikationstechniken ist ein Schlüssel für unsere gesellschaftliche, für unsere kulturelle und vor allem für unsere wirtschaftliche Entwicklung an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird alles dafür tun, daß die Menschen in Deutschland, daß die Unternehmen in Deutschland diese Chancen nutzen können. Ich sage hier mit allem Nachdruck: Das ist nun einmal kein Stück Routinepolitik oder Routinegeschäft, bei denen man da oder dort Förderprogramme auflegt oder da oder dort eine Initiative startet oder dem einen oder anderen eine Gefälligkeit zugute kommen läßt. Informationsgesellschaft und Multimedia sind kein Routinegeschäft. Das ist etwas, was einen Aufbruch zu neuen Ufern darstellt - wir sind unterwegs -, und das ist Gestaltung der Zukunft.
Ich bin froh, daß unser Land hierbei eine hervorragende Rolle spielen kann auf Grund der Infrastruktur, die wir haben, der technischen Infrastruktur, aber auch der menschlichen Infrastruktur, und ich bin fest davon überzeugt, daß die Bundesrepublik, daß unsere Unternehmen dabei eine Rolle spielen können, die auch darauf hinausläuft, daß wir in absehbarer Zeit per saldo zusätzliche Arbeitsplätze haben werden. Insofern ist unsere Politik in Richtung Informationsgesellschaft, wie ich meine und wie ich hoffe, auch ein Stück überzeugende Standortpolitik.
Schönen Dank.
({17})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Manuel Kiper.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen dem Herrn Bundeswirtschaftsminister dafür dankbar sein, daß er zumindest ein Wort zur Innovationsdebatte verloren hat, nachdem er zur Innovationspolitik im wesentlichen geschwiegen und hier Seifenblasen zur Informationsgesellschaft gepustet hat.
({0})
Der Herr Bundesforschungsminister, der Herr Zukunftsminister, der sich ja viel mehr Gedanken über Innovationen macht, hat am 10. Januar dieses Jahres das Ende des High-tech-Standort Deutschland prophezeit. Deutschland lebe, so seine Worte, technologisch von der Substanz. Das Innovationspotential sei zwar vorhanden - so die zugrunde liegende Studie des niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung -, jedoch nicht die Bedingungen, es auszuschöpfen. - Es kommt also auf die Rahmenbedingungen an. Das hat der Herr Bundeswirtschaftsminister zwar wohl ebenfalls erkannt; er hat sich aber im wesentlichen nicht dazu geäußert.
Im Gegensatz zu dem, was der Zukunftsminister gesagt hat, möchte ich folgendes klarstellen: Die Grundlagenforschung ist in Deutschland hervorragend; die Patentstatistik ist hervorragend, die Nobelpreisstatistik ist blendend; aber die RahmenbedinDr. Manuel Kiper
gungen - dafür ist ja wohl in erster Linie die Bundesregierung verantwortlich ({1})
sind zu schlecht,
({2})
um hieraus wirtschaftliche Prosperität erwachsen lassen zu können. Erinnern wir uns: Zwei Jahrgänge promovierter Chemiker sind jetzt in die Arbeitslosigkeit entlassen worden. Zwei Jahrgänge von Ingenieuren, von gut ausgebildeten Fachleuten, sind ebenfalls auf die Straße geschickt worden.
Nicht die von Ihnen, Herr Rexrodt, gescholtene Technikfeindlichkeit ist das Problem in diesem Lande,
({3}) es ist auch nicht die Verweigerungshaltung
({4})
- ich bin dem Kollegen Thierse dankbar für die Worte, die er hier gefunden hat -, sondern es sind die Rahmenbedingungen, die geändert werden müssen. Sie selber, Herr Rexrodt - das muß man sagen -, und diese Bundesregierung stehen einer Innovation in diesem Lande im Wege.
({5})
Herr Rexrodt, die Bundesregierung - ich höre das ja immer wieder, seitdem ich hier im Bundestag tätig bin, und wir haben es auch vorher immer wieder gehört - klammert sich bei ihrer Innovationspolitik an zwei Strohhalme, nämlich Gentechnik und Multimedia - Sie haben sich jetzt gerade über einen dieser Strohhalme ausgelassen -, das heißt, an die sogenannten Spitzentechnologien. Sie konzentrieren praktisch die ganze Innovationskraft dieses Landes auf diese Art von Spitzentechnologien und vernachlässigen die ganze Breite innovativer Technologien.
Werden Sie damit Erfolg haben? Nein, denn der Boom und die großen Erfolge bei der Gentechnik sind ausgeblieben.
({6})
Herr Rüttgers möchte Deutschland auf dem Sektor Gentechnik zur Nummer eins in Europa machen. Das wird ihm wahrscheinlich sogar glücken - mit den Hunderten von Millionen, die hier über das Land gestreut werden. Nur: Damit werden nicht genug Arbeitsplätze geschaffen. Gucken wir uns das doch in den USA an! Gucken wir uns das hierzulande an! In den USA sind mit 20 Milliarden Dollar Risikokapital 110 000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Das Risikokapital für die Firmengründungen haben wir hierzulande nicht. Wir haben hier immerhin 35 000 Arbeitsplätze in der Gentechnik geschaffen. Aber um welchen Preis? - Um den Preis, daß wir 450 Millionen DM von der öffentlichen Hand, aus dem Bundeshaushalt dafür zur Verfügung stellen mußten. Das sind die Zukunftsarbeitsplätze, die Sie schaffen. Das ist das Ergebnis, wenn man nur auf Spitzentechnologie setzt!
({7})
Meine Damen und Herren, der Bundesforschungsminister sagt: Die Biotechnologie wird in der Europäischen Union direkte Auswirkungen auf 9 Prozent der Bruttowertschöpfung und 8 Prozent der Beschäftigung haben. Dies entspricht 9 Millionen Arbeitsplätzen. - Verglichen mit den 35 000 Arbeitsplätzen, die in diesem Sektor hierzulande tatsächlich geschaffen worden sind, ist diese Zahl blamabel und eine Lüge; denn die Arbeitsplätze werden in diesem Bereich nicht geschaffen werden.
Wenn Sie, Herr Rexrodt, sich hier hinstellen und über Multimedia im Prinzip ganz genau das gleiche sagen - Sie sagen natürlich einschränkend: im Bestcase-Szenario; Sie nehmen das schon zurück -, also von 6 Millionen Arbeitsplätzen durch Multimedia und durch Informationstechnik im Jahre 2000 sprechen, dann liegen Sie genauso daneben. Das sind Seifenblasen, die Sie hier in die Landschaft pusten. Sie machen den Leuten Illusionen. Diese Arbeitsplätze werden nicht geschaffen; denn - Herr Rexrodt, Sie wissen das ebenso, wie es die Fachleute wissen - die Informationstechnologie ist eine Rationalisierungstechnologie, und Arbeitsplätze werden abgebaut. Wenn Sie sich einmal die Prognosen für den Bankensektor der USA angucken, dann stellen Sie fest: Jede zweite Bankenfiliale in den USA wird in den nächsten Jahren dichtgemacht. Da werden 450 000 Arbeitsplätze abgebaut. Hierzulande ist es nicht anders.
Wenn Sie sagen, gerade im Telekommunikationsbereich hätten Sie die Weichen richtig gestellt, da setzten Sie auf Liberalisierung, dann müssen Sie auch hinzufügen: Bei der Telekom werden jetzt 60 000 Arbeitsplätze abgeschafft, und bis zum Jahr 2000 werden nochmal 35 000 Arbeitsplätze abgeschafft. Das ist die Realität Ihrer Innovationspolitik.
Angesichts dessen müssen wir uns fragen: Stimmen dann noch die Rahmenbedingungen dafür, daß hier wirklich neue Arbeitsplätze geschaffen werden? Ich kann nur sagen: Nein, die Rahmenbedingungen stimmen nicht.
({8})
- Zu Multimedia komme ich noch, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Die Folgen von Multimedia sind ganz klar. Die Folgen sind: Arbeit für die Masse der Bevölkerung wird es nicht mehr geben. Es wird mehr Arbeitslosigkeit geben. Es wird mehr Rationalisierung geben. Selbst der Technologierat hat immerhin festgehalten, daß diese Technologie ein Rationalisierungspotential von 20 Prozent aufweist.
Von daher sind grundlegende Strukturänderungen notwendig, ist eine Umverteilung von Arbeit und Einkommen nötig. Diese strukturellen Änderungen können nicht mehr ausgesessen werden, wie es diese Regierung macht. Wenn wir hier Innovationspolitik machen wollen, dann muß dies auch für den Sozialbereich gelten, und dann muß das für den gesamten Gesellschaftsbereich gelten; denn die Arbeitsplätze der Zukunft werden nicht in diesen Spitzentechnologiebereichen geschaffen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen neuen Aufbruch - dieses Land hat einen neuen Aufbruch verdient -, und wir brauchen auch neue Leitbilder, so das Leitbild des nachhaltigen Wirtschaftens. Wir brauchen Technologien für nachhaltiges Wirtschaften. Ich erinnere hier an die Vorreiterrolle der Umwelttechnik. Wir brauchen jetzt den industriellen Umbruch hin zum produktionsintegrierten Umweltschutz. Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, nicht nur hier im Bundestag, sondern im ganzen Land, haben ein Jahrzehnt lang auf uns Grünen herumgehackt, weil wir auf Umwelttechnik gesetzt haben. Wir können heute sagen: Gerade der Umwelttechnikbereich ist in diesem Lande ein hochinnovativer Bereich, in dem tatsächlich Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen worden sind. Dafür hätten Sie uns dankbar sein müssen. Aber Sie haben vor zehn Jahren nicht die Zeichen der Zeit erkannt, und Sie erkennen heute leider immer noch nicht die Zeichen der Zeit auch für andere nachhaltige Technologien, wie es die Solarenergie, wie es die Bionik, wie es neue Verkehrstechnologien und Innovationen zur Weiterentwicklung der RadSchiene-Technik sind. Nein, Sie kaprizieren sich auf den Transrapid, eine Verkehrstechnologie, die überhaupt nicht in die Landschaft paßt. Damit tun Sie nur eine neue Sackgasse auf.
Zur Weiterentwicklung der umweltfreundlichen Energiegewinnung: Durch Energieeinsparung und dezentrale Energiegewinnung könnten Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden. Sie haben es versäumt, dafür die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Sie haben - wir haben das hier im Hause schon mehrfach angesprochen -, insbesondere was die Solarenergie anbelangt, nicht die Voraussetzungen für Innovation und für Arbeitsplätze in diesem Land geschaffen.
Unsere Forderung an die Bundesregierung: Wenn Sie es noch schaffen, reißen Sie doch endlich das Steuer in der Technologiepolitik, in der Innovationspolitik herum! Dafür müßte diese Regierung aber die Kraft haben, neue Instrumente zur sozialökologischen Modernisierung dieser Gesellschaft zu schaffen.
Dazu gehört auch ein Markt für Risikokapital. Zu diesem Thema haben Sie sich, Herr Rexrodt, ein wenig geäußert. Ich bin dem Kollegen Thierse dankbar dafür, daß er hier Wichtiges dazu gesagt hat, wie katastrophal die Situation für den Risikokapitalmarkt hierzulande ist. In Deutschland ist die Risikofinanzierung 1994 auf lächerliche 40 Millionen DM abgesunken. In den USA hingegen haben in den vergangenen 20 Jahren die Risikokapitalfonds über 10 000 High-Tech-Neugründungen mit Milliarden von Dollar finanziert. Hierzulande gibt es eher eine Kreditverweigerung. Da müssen die Rahmenbedingungen geändert werden. Aber sie haben die Rahmenbedingungen so gestaltet, daß die Gelder in Wohneigentum, in Lebensversicherungen, in irgendwelche Anlagen beim Aufbau Ost, die nur Spekulation sind, fließen und nicht bevorzugt in neue Technologien investiert werden.
({10})
Seit 1990 hat es hierzulande nicht einmal 20 Börsengänge pro Jahr gegeben. An die US-Computerbörse NASDAQ dagegen drängten in der gleichen Zeit über 2 000 Börsenneulinge. Das liegt an den Rahmenbedingungen. An denen haben Sie nichts geändert. Sie von seiten des Wirtschaftsministeriums und von seiten der Bundesregierung haben den Gründerboom der 80er Jahre verschlafen. Es sieht so aus, als ob Sie auch den Boom der 90er Jahre verschlafen werden. Treiben Sie die Erfinder nicht weiter ins Ausland!
Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas zu „Info 2000", worüber sich der Bundeswirtschaftsminister ausgelassen hat, sagen. Wir von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen haben unsere Position zur Informationsgesellschaft mit unserem Antrag zur ökologischen, sozialen und demokratischen Gestaltung der Informationsgesellschaft in diesem Haus bereits eingebracht und zur Diskussion gestellt. Ich möchte gar nicht verschweigen, daß es auch gewisse Übereinstimmungen mit den Maßnahmen gibt, von denen die Bundesregierung in dem Bericht „Info 2000" feststellt, daß sie in diesem Lande getroffen werden müssen. Ich möchte meine Befriedigung darüber äußern, daß der Bundesforschungsminister gestern angekündigt hat, daß endlich 10 000 Schulen in Deutschland an die Datenautobahn angeschlossen werden sollen.
({11})
Wir bringen heute einen Entschließungsantrag speziell zum Bericht „Info 2000" mit folgenden Eckpunkten ein: Der Zugang zu Online-Diensten muß verbilligt werden, die Konzentrationskontrolle muß verstärkt werden. Vor allen Dingen muß die Datensicherheit in diesem Lande verbessert werden; das ist eine Grundvoraussetzung dafür, daß Informationstechnologie auch in der Wirtschaft wirklich fruchtbar werden kann. Die Bürgerbeteiligung muß verstärkt werden. Der Arbeitsschutz - darauf haben Sie, Herr Rexrodt, bei den Telearbeitsplätzen nicht hingewiesen - muß natürlich auch bei Telearbeitsplätzen verbessert werden.
Für den Bericht „Info 2000" gilt: Die innovative Umsetzung wurde verschlafen. Die neuen Impulse für Unternehmensgründungen und Arbeitsplätze
kommen zu spät. Die Gründerwelle wurde von Ihnen ausgesessen, statt beflügelt. Die IuK-Technologien in Deutschland hinken der technologischen Leistungsfähigkeit seitens der USA hinterher.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ich stelle fest: Die „Zerrüttgerung" unserer Forschungslandschaft muß gestoppt werden.
({12})
Der Gründerboom der 80er Jahre wurde versäumt. Für die nächste Welle müssen nun endlich die Weichen richtig gestellt werden.
Die Koalition machte sich bisher mangelnde Innovationsbereitschaft zum Prinzip. Sie selber von seiten der Koalitionsfraktionen und dieser Regierung sind das Problem für Innovation in diesem Lande. Statt konservativer Behäbigkeit und Biertischseligkeit, was Technologie anbelangt, brauchen wir endlich die ökologische und soziale Modernisierung. Statt „Rüttwärtsgang" und „Kohldampf" braucht dieses Land Visionen, braucht dieses Land eine Reformperspektive, braucht dieses Land ein Innovationsklima auch auf der Regierungsbank.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Martin Mayer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außer unhaltbaren Vorwürfen hat der Kollege Kiper kaum etwas vorgetragen. Sie haben davon gesprochen, daß durch die neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechniken in Wirtschaftsbereichen Arbeitsplätze verlorengehen. Das stimmt zwar. Aber dann müssen Sie doch auch davon reden, daß uns diese neuen Techniken viele Chancen für neue Arbeitsplätze eröffnen und daß es unser aller Anstrengung - in Wirtschaft und Politik - bedarf, daß diese Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen werden.
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Wenn ich mir allerdings die Presseberichte von gestern zu Ihrem 180-Grad-Schwenk bezüglich der Gentechnologie vor Augen halte, dann gebe ich noch nicht alle Hoffnung auf, daß eines Tages die Grünen auch bezüglich der Informationstechnik auf den vernünftigen Pfad kommen.
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Die Themen Innovationspolitik, Wagniskapital und unser Weg in die Informationsgesellschaft, die wir heute ansprechen, hängen eng zusammen. Der Bundesminister für Wirtschaft hat Ihnen ja den Bericht „Info 2000" heute vorgestellt. Es geht darum, die Möglichkeiten der Informationstechnik optimal zu nutzen, und vor allem darum, mit neuen Dienstleistungen Märkte zu erobern und damit Arbeitsplätze zu schaffen.
Viele schauen dabei mit berechtigter Bewunderung in Richtung USA. Dort sind in wenigen Jahren beispielsweise in der Softwareentwicklung aus Unternehmensgründungen große Unternehmen mit Hunderten von Arbeitsplätzen entstanden - erfolgreiche Weltfirmen. Der Erfolg dieser Unternehmensgründungen hängt einmal damit zusammen, daß dort mehr Wagniskapital zur Verfügung steht. Aber das ist es nicht allein.
Der Tatsache, daß in Deutschland mehr privates Wagniskapital zur Verfügung stehen muß, hat die Bundesregierung einen großen Teil ihres Aktionsprogramms für Investitionen und Arbeitsplätze gewidmet. Ich halte das für einen sehr wichtigen Teil, zu dem es im übrigen in diesem Haus meines Erachtens eine relativ große Übereinstimmung gibt.
({2})
Zu diesem Thema werden hier einige Kollegen noch sprechen.
Beim Thema Unternehmensgründungen ist auch das Meinungsklima zu beachten. Es geht um ein Bündel von anderen Faktoren. Wie ist denn der bei uns angesehen, der den Mut hat, sich selbständig zu machen, der viel arbeitet und viel Geld verdient? Ist er dann ein Besserverdienender, der nach SPD-Meinung nicht genug geschröpft werden kann, oder genießt er bei uns Bewunderung wie ein Spitzensportler? In diesem Bereich können wir in der öffentlichen Diskussion einiges leisten.
Herr Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Ja.
Herr Kollege Mayer, halten Sie es mit dem Meinungsklima, von dem Sie hier sprechen, für vereinbar, daß der - in Anführungszeichen gesagt - „Zukunftsminister" gestern auf der Cebit gefordert hat, man müsse Anbieter von InternetDienstleistungen strafbar machen? Ich habe gestern abend mit zehn Providern, jungen Leuten, die sich selbständig gemacht haben, zusammengesessen. Sie haben Angst, daß morgen zu ihnen der Staatsanwalt kommt. Halten Sie es nicht für notwendig, anstatt in dieser Form Rechtsunsicherheit zu schüren, endlich ein Signal auszusenden, damit Rechtssicherheit auch für die Anbieter hergestellt wird? Die Alternative wäre doch, bei der Telekom Durchsuchungen zu machen, wenn jemand telefoniert, oder den Briefkasten
danach zu durchsuchen, ob sich möglicherweise strafbarer Inhalt darin befindet.
({0})
Herr Kollege Tauss, ich bin der Meinung, daß in Fragen des Internet grundsätzlich die gleiche Rechtslage gilt wie auch bei anderen Medien. Also: Texte, Bilder und Filme im Netz müssen genauso behandelt werden wie Gedrucktes und Videokassetten.
({0})
- Darüber wird man noch diskutieren können.
Man kann nicht den Postboten für den Inhalt eines Briefes verantwortlich machen. Insofern muß bei diesen Anbietern eine ähnliche Rechtslage gelten. Diejenigen, die das ursprünglich erzeugen - nach meiner Kenntnis hat Bundesminister Rüttgers diese angesprochen ({1})
und das letztendlich aus dem Ausland anbieten, müssen wir in der Tat belangen. Wir müssen sehen, daß wir an diese herankommen.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit den Unternehmensgründungen und den Innovationen in der Informationstechnik ist es wie mit den Trecks im Wilden Westen: Wer das Land zuerst erreicht, hat die fettesten Weideplätze. Übersetzt: Nur wer schnell ist, schafft neue Arbeitsplätze.
Wie helfen wir den deutschen Unternehmen, damit sie im Wettbewerb die besten Startchancen haben? Sicher nicht mit einem Buch voller Dienstvorschriften. Sie brauchen vielmehr einen weiten Handlungsspielraum.
Wie sieht nun dieser Handlungsspielraum bei den Online-Diensten aus, einem Wirtschaftszweig, in dem sich viel bewegt und entwickelt? Wir haben erst heute wieder lesen können, daß sich da möglicherweise eine große Veränderung ergibt. Die OnlineDienste bieten Informationen für den Alltag, den Beruf, für Wissenschaft und Forschung und letztlich auch den Zugang zum Internet an.
Nun gibt es in SPD-geführten Ländern starke Bestrebungen, diese Online-Dienste, ähnlich dem BtxStaatsvertrag, gesonderten Zulassungsverfahren zu unterwerfen. Soll sich dann ein Unternehmen wie beispielsweise ein Televersandkanal bei 16 Landesmedienanstalten um die Zulassung bemühen, die
({3})
die dann womöglich abgelehnt wird? Ich meine, das wäre allenfalls ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Landesmedienanstalten. Es ist ein Blockadeinstrument für die Entwicklung der Informationstechnik in Deutschland. Dazu darf es nicht kommen.
Es ist wenig hilfreich für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen der Informations- und Unterhaltungsbranche, wenn SPD-geführte Bundesländer ständig darüber nachdenken, wie man private Fernsehsender in ihrer Entwicklung hemmen kann. Es gibt zum Beispiel den Vorschlag, über die berechtigten Grenzen des Kartellrechts hinaus Fernsehsendern bei einem Zuschaueranteil von über 10 Prozent die Auflage zu machen, Sendezeiten an Dritte abzugeben. Nach dieser Logik müßte man dann auch eine lokale marktbeherrschende Zeitung zwingen, der Meinen Konkurrenz einige Seiten einzuräumen. Das sind doch absurde Gedanken.
In diesem Zusammenhang möchte ich vor einem schlimmen Irrtum warnen, der immer wieder aus der ganzen linken Ecke kommt, nämlich daß es dem Mittelstand dient, wenn man die Großen schwächt. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn Bertelsmann, Burda, Kirch und Siemens stark sind, dann können sich im Umfeld viele Mittelständler halten. Fragen Sie dazu doch einmal die vielen mittelständischen Softwarehäuser im Kölner oder Münchner Raum. Sie werden Ihnen sagen, wie sehr die Mittelständler davon abhängig sind, daß die Großen stark sind.
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- Ich habe von der 10-Prozent-Grenze gesprochen, die ich für absurd halte.
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Über die 30 Prozent, die den Marktanteil insgesamt betreffen, wird man vielleicht reden können.
Statt über neue Hürden für private Fernsehsender und Online-Dienste nachzudenken und eifersüchtig auf Zuständigkeiten zu pochen, sollten alle Länder gemeinsam mit dem Bund an vernünftigen Rahmenbedingungen für einen Weg Deutschlands in die Informationsgesellschaft arbeiten. Der Technologierat beim Bundeskanzler hat die Richtung vorgegeben; er hat die Themen benannt, bei denen Gesetzgebung notwendig ist.
Die Bundesregierung wird in Kürze die Eckwerte eines Multimediarahmengesetzes vorlegen. Dann muß mit den Ländern eine Diskussion mit dem Ziel geführt werden, eine faire Aufgabenverteilung zu finden. Die Gesetzgebung in Deutschland muß sich aber immer vom folgenden Ziel leiten lassen: Die neuen Medientechniken brauchen schöpferische Kräfte, damit wir kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Nutzen aus ihnen ziehen können und damit bei uns viele neue Arbeitsplätze entstehen können.
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Ich erteile dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, ich bitte schon vorab um Entschuldigung, falls ich wieder zu schnell rede. Aber mein Flieger geht in einer Stunde.
Herr Mayer, ich komme aus einem mittelständischen Rechenzentrum mit einem nicht unerheblichen Softwareanteil. Ich kann Ihnen sagen: Die Konkurrenz den Großen gegenüber bedingt ein knüppelhartes Geschäft. Ich teile Ihre Euphorie in diesem Zusammenhang nicht ganz, daß es den mittelständischen Unternehmen in diesem Bereich außerordentlich gut geht. Das aber nur als Angebot für einen Erfahrungsaustausch, um Ihre Sicht ein wenig objektiver zu gestalten.
Eine ganz kurze Bemerkung zu dem, was Herr Rexrodt vorhin gesagt hat: Herr Rexrodt, Ihr kleiner Versprecher mit den 1,5 und 1,5 Millionen - sicherlich entschuldbar, auch wenn das eine sehr große Differenz ist - offenbart für mich, daß Sie an die Zahl von 1,5 Millionen zusätzlichen neuen Arbeitsplätzen selbst nicht richtig glauben. Das wollte ich zumindest einmal bemerkt haben.
Der seitens der SPD vorgelegte Antrag geht in seinem grundsätzlichen Anliegen von einem notwendigen, auch von uns unbestrittenen Zusammenhang zwischen Arbeit und Umwelt aus und folgt damit einem Trend, kurz „Bündnis für Arbeit und Umwelt" genannt.
Der Club of Rome hat in seiner Studie „Grenzen des Wachstums" festgestellt, daß die Industrieländer nicht weiter einen solchen Raubbau an natürlichen Ressourcen betreiben dürfen, wenn sie nicht die Existenz unserer heutigen Welt aufs Spiel setzen wollen. Ansonsten werde die Gesellschaft ihrer natürlichen Grundlage eines wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Handelns beraubt.
Diese Besorgnis - zumindest habe ich das so herausgelesen - spiegelt sich auch in dem vorliegenden Antrag der SPD wider. Mit den darin vorgeschlagenen Zielstellungen - ich verzichte darauf, die Zielstellungen einzeln zu erwähnen - kann sich die Gruppe der PDS - auch wenn ich weiß, Herr Thierse, daß Sie nicht so gerne von uns gelobt werden - inhaltlich voll identifizieren.
Des weiteren müssen wir aber, so unsere Ergänzung, von einem steten Anwachsen der Zahl der Menschen - nicht nur im nationalen Maßstab - ausgehen, denen man keine Möglichkeit gibt, über Erwerbsarbeit ihr Leben selbstbestimmend zu gestalten.
Welche Wege bieten sich nun an, um das eine mit dem anderen zu verbinden, also das eine zu tun, nämlich Arbeitsplätze zu schaffen, und das andere, die Umwelt zu schonen, nicht zu lassen? Als Ausweg hat die Politik nun die Innovation erkannt.
Wir stimmen mit unserem Zukunftsminister dahin gehend überein, daß sich die deutsche Innovationspolitik in der Krise befindet. Wir sind deshalb auch dafür, das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie aufzuwerten und in der Zukunft mit einem größeren Etat auszustatten. Ob sich daraus aber ein Innovationsministerium entwickeln wird und ob sich dieses dann tatsächlich den Umweltinteressen stellt, wage ich zu bezweifeln.
Es muß auch noch bewiesen werden, inwieweit eine ökologische Modernisierung der Industriegesellschaft, deren Notwendigkeit - aus welchem Grund auch immer - keiner mehr bestreitet, mehr Arbeitsplätze schafft. Die im SPD-Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen sind zwar dazu geeignet, neue und auch ökologisch vertretbare Arbeitsplätze zu schaffen; ob es im Saldo aber tatsächlich mehr Arbeitsplätze sein werden, ist zumindest noch nicht schlüssig.
Die PDS steht nicht für eine Verweigerungshaltung gegenüber neuen innovativen Technologien und Technikbereichen, obwohl unsere ethischen Maßstäbe zum Beispiel im Bereich der Gen- und Reproduktionstechnologien deutlich andere sind. Wir stehen aber auch dafür - das ist unser alternativer Ansatz zur Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs -, daß Arbeit einfach ganz anders verteilt werden muß. Das bedeutet Verringerung der Lebensarbeitszeit, der Wochenarbeitszeit und der Überstunden sowie die Bezahlung von bisher unbezahlt geleisteter gesellschaftlich notwendiger oder nützlicher Arbeit. Die Arbeit muß ganz einfach auf mehr Schultern, auf mehr Köpfe oder in mehr Hände verteilt werden.
Das hat natürlich auch etwas mit der gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu tun. Schließlich muß man das ja finanzieren können.
Falls jemand in diesem Zusammenhang an den Verfassungsschutz denkt, wenn ich von umverteilungsgesellschaftlichem Reichtum von oben nach unten spreche, so erinnere ich ihn ganz einfach an die Sozialpflicht des Eigentums, die für uns ein wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes dieser Bundesrepublik ist.
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Nach unserem Innovationsverständnis muß man aufhören, an den End-of-pipe -Technologien herumzudoktern und vorrangig Prestigeobjekte zu fördern. Man sollte auch nicht versuchen, den Eindruck zu erwecken, als wenn die kleinen und mittleren Unternehmen schon die Technologien des 21. Jahrhunderts irgendwie umsetzen werden.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Anteil der originären Forschungsausgaben dieser Bundesregierung rückläufig ist. Vor allem neue, für die ökologische und soziale Zukunftssicherung bestimmte Forschungen werden auf das gröblichste vernachlässigt.
Außerdem läßt sich noch erwähnen: Auch ein Großteil des ostdeutschen kreativen Forschungspersonals wurde in den letzten Jahren ausgeschaltet. Die Antworten der Bundesregierung auf die gegenwärtigen Defizite und Konflikte werden in dem enWolfgang Bierstedt
gen Rahmen der Diskussion um den Wirtschaftsstandort Deutschland hineingezwängt.
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Das ist kurzsichtig und im Kern nationalistisch.
Herr Kollege Bierstedt, ich halte jetzt einmal Ihre Redezeit an. Ich weiß nicht, wann Ihr Flieger geht, aber Sie haben noch fünfeinhalb Minuten Redezeit. Ich nehme an, daß der Flieger unabhängig davon starten wird. Nur, wenn Sie so schnell sprechen, daß Sie keiner mehr versteht, dann ist das so gut, als ob Sie überhaupt nicht sprechen. Deshalb empfehle ich Ihnen doch, sich irgendwie verständlich zu machen.
({0})
Sie haben das Wort.
({1})
Können Sie es denn lesen, wenn ich das aufs Internet gebe?
({0}) Ich bedanke mich sehr, Herr Präsident.
Die Argumentationskette, die oftmals bemüht wird, nämlich Forschungsförderung, Innovation, Aufschwung, Arbeitsplätze, hat sich bisher aus unserer Sicht als eindeutig falsch erwiesen. Die meisten Innovationen ziehen die Einsparung lebendiger Arbeit nach sich und bewirken nur in wenigen Fällen zusätzliche Beschäftigungseffekte. Wir von der PDS ziehen in diesem Zusammenhang den Schluß: Innovation ja, aber begleitend dazu eine notwendige Umverteilung von Arbeit.
Meine Damen und Herren, einige Bemerkungen zu dem vorliegenden SPD-Antrag „Risikokapital für junge Technologieunternehmen" . Die Förderung von neuen oder jungen Technologieunternehmen in dieser Form ist begrüßenswert. Jeder weiß heute, daß die Kosten für die Markteinführung eines neuen Produktes von Fachleuten auf über 100 Prozent der Entwicklungskosten geschätzt werden.
Ich frage Sie: Wer stellt schon in ausreichender Größenordnung Risikokapital in Deutschland zur Verfügung, damit ein junges Technologieunternehmen in der Lage ist, die ersten zwei Jahre zu überleben? Solange es in dieser Bundesrepublik leichter ist, mit Geld und nicht mit Arbeit Reichtum zu erzielen, bleibt dies alles nur eine zwar wünschenswerte, aber hilflose Überlegung.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf unsere Anträge zur Unterstützung von KMU bei der Markteinführung neuer Produkte, Drucksache 13/ 2095, in dem Vorschläge für Fördermittel zur Markteinstiegsförderung unterbreitet worden sind, sowie auf den Antrag „Flexiblere Gestaltung der Förderprogramme", Drucksache 13/1798, verweisen. Hier wurde von uns gefordert, daß man bei der Innovationsförderung von dem starren Prinzip der Jährlichkeit bei der Ausreichung der Fördermittel abkommen muß. Bei einer Förderung junger Technologieunternehmen muß man einen Förderzyklus von fünf bis acht Jahren im Auge behalten, um den Unternehmen in allen Stufen des Innovationsprozesses behilflich zu sein. Ansonsten, so unsere Einschätzung und unsere Erfahrung, wird es für diese Newcomer oft ein Sterben auf Raten geben.
Meine Damen und Herren, uns beschäftigt heute auch noch der Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" . Den im Bericht genannten Aufgaben, Zielen und Empfehlungen für die Errichtung der Informationsgesellschaft - ich verweise auf die Seite 111 - kann ich voll zustimmen. Es heißt dort:
Der Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft hängt entscheidend davon ab, ob und in welchem Maße es gelingt, auch die nichttechnischen Bedingungen für erfolgreiche Innovationen zu beherrschen. Es gilt, die Potentiale und Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen Entwicklungen in Wechselwirkung mit den politischen Zielen, wirtschaftlichen Interessen, sozialen Forderungen, gesellschaftlichen Werten, rechtlichen Regelwerken, kulturellen Prägungen im lokalen und globalen Aktionsfeld zu begreifen und einer breiten Öffentlichkeit deutlich zu machen.
Ich würde noch gerne einfügen: und zu beeinflussen. Ein hehrer Anspruch, der von der Bundesregierung bei der Entwicklung der Informationsgesellschaft verfolgt wird!
Das wesentlichste Element ist aber aus unserer Sicht die Gewichtung der einzelnen Forderungen und Ziele, die hier aufgestellt werden. Ich will einmal ein Beispiel anführen: Wenn die Bundesregierung auf Seite 116 exemplarisch feststellt - ich zitiere -:
Diese Technik hat einen wesentlichen Anteil daran, daß es der Verwaltung gelungen ist, eine zunehmende Zahl von Funktionen und einen nahezu stetig wachsenden Aufgabenumfang bei stagnierendem und rückläufigem Personalbestand zu bewältigen,
ohne aber Konsequenzen für die Beschäftigten, Heim- und Telearbeiter, zu ziehen, dann muß sie sich schon fragen lassen, wie ernst die obengenannten Prämissen gemeint sind.
Eine Regierung, die alle ordnungspolitischen Rahmenbedingungen für die Unternehmen vorbereiten und regulieren will - besser gesagt: dereguliert -, stellt sich bei der sozialen Sicherung der Beschäftigten und Scheinselbständigen an den Rand des Geschehens und will nur eine Beobachterrolle einnehmen ({1})
- ein bißchen müssen Sie sich schon noch gedulden -,
da sie zum Beispiel die Auffassung vertritt, daß
die Rechtsbeziehungen zwischen Auftraggeber und selbständigen Telearbeitern nicht nach dem Arbeitsrecht, sondern nach den Vorschriften über privatrechtliche Verträge geregelt werden sollen. Das widerspricht allen Beteuerungen, die die Bundesregierung in diesem umfangreichen Papier macht, nämlich in die Untersuchungen alle sozialen Risiken einzubeziehen.
Wir fordern für die neu entstehenden Formen der Telearbeit einen neuen gesetzlichen Rahmen. Dabei muß sichergestellt werden, daß Telearbeit nur im 'Rahmen sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse erfolgen kann, in den Geltungsbereich von Tarifverträgen und Arbeitsschutzvorschriften fällt, der Mitbestimmung der betrieblichen Interessenvertretungen unterliegt, nur in Formen erfolgt, die sozialer Isolation entgegenwirken und das Anbinden an den Betrieb ermöglichen, auf Freiwilligkeit beruht und den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - ich weiß, hier gibt es einen kleinen Dissenspunkt - das Recht auf Rückkehr in den betrieblichen Arbeitsplatz einräumt.
Meine letzte Bemerkung zum Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen: Auch wenn dieser Entschließungsantrag nach unserem Verständnis nur Teilbereiche abdeckt - wenn auch sicherlich wichtige -, hat er zumindest den Charakter eines Schnellschusses. Aber wir werden ihm trotzdem unsere Zustimmung nicht verweigern, verehrter Kollege Kiper, denn Retourkutschen sind letztendlich nicht unser Stil.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Professor Karl-Hans Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns mit zwei Anträgen und dem Bericht der Bundesregierung zu befassen. Ich möchte demzufolge meine knapp bemessene Redezeit zunächst einmal dazu nutzen, einige Anmerkungen zu dem Antrag der SPD zu machen, der ja im Duktus und Inhalt weitgehend mit einem sich bereits in der parlamentarischen Beratung befindlichen Antrag übereinstimmt.
Interessiert habe ich den Punkt 6 gelesen, in dem geschrieben steht, daß man von der Natur lernen solle. Aber offenbar lernt bei der Formulierung des Antrags die SPD-Fraktion nicht von der Natur, sondern von der Regierung.
({0})
Der gesamte Antrag, so ist mein Eindruck, ist eine bunt gemischte Aufzählung vieler längst im Geschäftsgang befindlicher Aktivitäten der Bundesregierung. Sie versehen das dann mit dem Präfix „unverzüglich" oder garnieren es mit bekannten Einstellungen aus der Mottenkiste.
({1})
Ich möchte, wie gesagt, einige kritische Anmerkungen machen. Wer beispielsweise jetzt innovative Forschungspolitik und vermutlich in Zukunft ökologische Umweltpolitik oder soziologische Gesellschaftspolitik fordert, dem ist der Erfolg garantiert. Doch diesen Erfolg hätten Sie auch, wenn Ihre Agrarpolitiker beispielsweise die Züchtung weißer Schimmel oder schwarzer Rappen forderten.
({2})
Forschungs- und Technologiepolitik ist per se innovativ. Aber ob der daraus gewonnene Erkenntniszugewinn in marktfähige Produkte und damit in neue Arbeitsplätze umgesetzt werden kann, das hängt von sehr, sehr vielen Faktoren ab. Der wichtigste Faktor dabei ist, daß wir ein Rezept gegen die, wie der Altbundeskanzler Helmut Schmidt es in der „Zeit" dieser Woche nannte, „deutsche Krankheit finden" und die daraufhin verordneten bitteren Pillen gemeinsam schlucken. Ich empfehle dringend die Lektüre dieses Artikels. Er ist ausgesprochen interessant, und ich glaube, wir und insbesondere auch die Kollegen von der SPD-Fraktion sollten daraus die Konsequenzen ziehen. Ich habe den Eindruck, daß Herr Thierse ihn wohl hätte gelesen haben können.
Ich will noch auf einige andere Anmerkungen hinweisen. Auch die SPD gesteht zu, daß wir mit unserer Politik, der Politik der Bundesregierung - das ist eine die Wirtschaft nicht erdrosselnde Umweltgesetzgebung -, die deutschen Umwelttechnikunternehmen bereits zu einem Weltmarktführer gemacht haben. Hier will die SPD draufsatteln. Wo sich positive Entwicklungen abzeichnen, wo wir die Chance haben, Spitzenpositionen zu erreichen, könnten wir mit etwas mehr Mut und Entschlossenheit Konkurrenten auf dem Weltmarkt um Längen zuvorkommen.
Dies gilt zum Beispiel für den Transrapid, der ja übrigens von Ihnen aus der Taufe gehoben worden ist. Hier verstrickt sich die Opposition, leider auch die SPD, mit den ihr auf Länderebene gegebenen Möglichkeiten in endlose Anhörungen und Debatten und verspielt unsere Zeitvorteile.
Sie verlangen auf der einen Seite die Beschleunigung des Ausbaus der transeuropäischen Netze, kritisieren die Regierung dafür, daß das nicht zügig genug gehe, insbesondere auch im Hinblick auf eine frühzeitige Einbindung Osteuropas, und dann torpedieren Sie gleichzeitig auf dem kurzen Teilstück Hamburg-Berlin dermaßen die Zukunftsentwicklung transeuropäischer Verkehrsnetze, daß man an eine Verbindung nach Warschau oder Moskau gar nicht mehr zu denken wagt.
Während Sie unter der Überschrift „Stärkung des technologiepolitischen Dialogs" die Marktchancen durch Bürgergutachten ermitteln wollen und sich in breite öffentliche Dialoge über Risiken und Chancen verzetteln, wollen wir die Marktchancen am Markt erproben. Dieser Markt hat nämlich leider nicht das
bequeme Beharrungsvermögen, sondern entwickelt sich von Woche zu Woche dynamischer.
Aber, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, geradezu abenteuerlich finde ich Ihre Behauptung, daß neue Verkehrstechnologien erst gezielt entwickelt werden könnten, wenn die politischen Rahmenbedingungen eines integrierten Verkehrssystems für das 21. Jahrhundert gesellschaftlich akzeptiert und umgesetzt seien. Meine schlichte Frage: Wie kann etwas gesellschaftlich akzeptiert werden, was es noch gar nicht gibt?
({3})
Wir begrüßen auch die Forderungen nach Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Die Debatte heute morgen hat ja gezeigt, daß die Bundesregierung hier sehr viel weiter ist, als Sie sich das vorzustellen vermögen. Aber wir müssen doch darauf hinweisen, daß es gerade Sie, die Damen und Herren von der Opposition, sind, die sich hier gegen durchgreifende Regulierungen sperren.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben es versäumt, in den Ländern bei den vielfach von Ihnen beherrschten Genehmigungsbehörden vor Ort den schnellen Verzug bisheriger Beschleunigungsmaßnahmen einzufordern.
Herr Thierse hat vorhin deutlich hervorgehoben, wie wichtig die Projektförderung sei. Anschließend hat er allerdings wieder auf die indirekte Projektförderung abgehoben. Den neuen Mitgliedern hier im Hause können Sie vielleicht verkaufen, daß Sie es waren, die 1979 von direkten zu mehr indirekt wirkenden Fördermaßnahmen umsteuern wollten. Ich verfüge über ausreichende Erfahrungen auch aus der sozialliberalen Koalition. Wir von seiten der F.D.P. haben vehement dafür kämpfen müssen, bis wir in der Tat das Instrument der indirekten Forschungsförderung überhaupt durchsetzen konnten.
Ich würde mich mit Ihrem Antrag gern weiter auseinandersetzen, aber dazu reicht leider meine Zeit nicht.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Antrag „Risikokapital für junge Technologieunternehmen" sagen. Ich finde, wir sollten Risikokapital für junge Unternehmen finden, nicht nur für Technologieunternehmen, denn es gibt auch noch etwas anderes, was hier durchaus wichtig und notwendig ist.
({4})
Da finde ich einige gute Ansätze in Ihrem Antrag. Ich finde sie deshalb gut, weil sie sich im Prinzip mit den Forderungen der F.D.P. decken. Diese Forderungen sind weitgehend schon längst im Maßnahmenkatalog des Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung enthalten. Da Sie jetzt dieselben Maßnahmen fordern, denke ich, daß Sie ihre Umsetzung zukünftig auch unterstützen und nicht weiter behindern werden.
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Im Zusammenhang mit der heutigen Debatte steht auch der Bericht „Info 2000". Ich denke, wir sind uns darin einig, daß dies ein ausgezeichneter Bericht ist.
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Die F.D.P.-Fraktion begrüßt nachdrücklichst diesen Bericht, weil er in seiner Interdisziplinarität die Vielfalt der Handlungsfelder über den nationalen Rahmen hinaus erfaßt und auch Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten aufzeigt.
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Ich empfehle dringend, die Beratungen zügig durchzuführen und mit der Umsetzung unverzüglich zu beginnen. Es gilt nämlich, die Chancen der Informationstechnologien in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen zu nutzen. Hier wende ich mich an Herrn Thierse: Wir nehmen Sie beim Wort. Nach dem, was Sie hier gesagt haben, denke ich, daß Sie auch die Bedenkenträger aus Ihren eigenen Reihen im Zaum halten und sich mit um die schnelle Umsetzung der hier vorgesehenen Maßnahmen kümmern werden.
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Manche Ihrer Vorschläge hat die Bundesregierung längst aufgenommen. Sie sind bereits in der konkreten Umsetzung. Ich nehme an, daß Sie den Prozeß jetzt aktiv unterstützen und nicht weiter behindern.
Manche Ihrer Vorschläge werden auch in den Koalitionsfraktionen heftig und heiß diskutiert. Über andere Vorschläge sollten wir miteinander reden und gemeinsame Lösungen anstreben. Denn in der derzeitigen wirklich schwierigen Arbeitsmarkt- und Finanzlage erwarten die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes konkrete Problemlösungen, keine Prinzipienreiterei, keinen parteipolitischen Hickhack.
Ich bin der Meinung, daß wir in diesem Hause allesamt unsere Energie auf das hoffentlich gemeinsame Ziel fokussieren müssen, die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, es mag ungewöhnlich klingen, aber ich möchte George Bernhard Shaw zitieren: „Wir dürfen nicht bleiben, wie wir sind, und nicht nur das tun, was wir immer schon getan haben. Sonst werden wir aus den Schwierigkeiten nie herauskommen. "
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Rainer Jork.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn nicht gerade Wahlkampf wäre, könnte man das Vorgehen der SPD für reine Nachlässigkeit halten. Am 18. Januar dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag über die Große Anfrage der SPD zum Thema „Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" debattiert. In dieser Anfrage wie in dem dazugehörigen Entschließungsantrag war ausführlich von Maßnahmen die Rede, die die SPD jetzt erneut in ihren Anträgen formuliert und vorstellt, wobei sie vor lauter Einfallslosigkeit bereits bei sich selber abschreibt.
Worum geht es? Vielleicht sollte man besser fragen: Worum geht es nicht? Die angesprochenen Themen beziehen sich auf Innovation, auf Arbeit, Umwelt, Finanzen, Steuerpolitik, Informationstechnik usw.
Natürlich ist jeder Antrag förderlich, der der Sache dient. Wenn wir über Innovation sprechen, dann meinen wir doch wohl Leistung, Leistungsfähigkeit, Leistungsmöglichkeit, Leistungsbereitschaft in Deutschland. Wir reden gerade in der gegenwärtigen Situation auch über neue Technologien, über innovative Unternehmen, über Existenzgründungen und Arbeitsplätze. Wir müssen also darüber sprechen, wie wir Leistung bewerten, wie wir Leistungsmöglichkeiten verbessern, wie wir eine größere Technikakzeptanz schaffen, wie wir junge, innovative Unternehmen fördern und damit neue, qualifizierte Arbeitsplätze schaffen.
Dabei ist doch wohl klar, daß Innovation nie abgeschlossen ist, daß das ein fortlaufender, dynamischer Prozeß ist, der an aktuelle Situationen anzupassen ist. Wir brauchen Innovationen im Bildungs- und Hochschulbereich. Innovation beginnt in den Köpfen. Kreative Verhaltensweisen werden in allen Bereichen zuerst von Bildung und Ausbildung geprägt.
Insofern stellt die Aufstiegsförderung, die wir nun endlich auf den Weg gebracht haben, eine Innovation dar, die die Schaffung von Arbeitsplätzen fördert.
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Ich erinnere daran, daß jeder neue mittelständische Betrieb durchschnittlich fünf neue Arbeitsplätze schafft.
Auch bei den Lehrstellen müssen wir neue Wege gehen. Der Freistaat Sachsen hat hier eine Vorreiterposition übernommen. In einem „Bündnis für Ausbildung" wurden mehrere Programme entwickelt, mit denen viele zusätzliche betriebsnahe Ausbildungsstellen geschaffen worden sind. Ich bin gern bereit, auf eine Zwischenfrage hin dieses Programm darzustellen; ich denke aber, in der nächsten Zeit werden wir ohnehin dazu kommen.
Die Hochschulen fordern zu Recht die Sicherung ihrer finanziellen Handlungsfähigkeit. Über deren Finanzierbarkeit müssen Bund und Länder gemeinsam reden. Aber auch die Hochschulen selbst müssen ihren Teil dazu beitragen. Sie müssen die Attraktivität des Studiums und den Praxiskontakt verbessern.
Kreativität hängt auch, aber bei weitem nicht nur vom Geld ab. Es muß doch zu denken geben, wie sehr die Attraktivität des Studienstandorts Deutschland für ausländische Studenten nachgelassen hat.
Vor zwei Tagen sprach ich mit einer Gruppe ausländischer Studenten, die im Rahmen des DAAD hier waren. In der Diskussion, die ich im einzelnen nicht darstellen möchte, kamen wesentliche Hinweise zum Ausdruck, was verbesserungswürdig ist: die Beratung am Anfang des Studiums, die Qualität der Lehrer, der Praxiskontakt. Natürlich, Freiheit der Lehre muß auch Freiheit zur Innovation sein. Möglicherweise können wir hier auch mit einem neuen Hochschulrahmengesetz geeignete Richtlinien und Ziele formulieren.
Es geht in den Anträgen der SPD neben dem ökologischen Umbau der Marktwirtschaft auch um die Förderung von jungen, innovativen Unternehmen. Die SPD ist hier, mit Verlaub, wieder dabei, den Mond zum zweiten Mal zu entdecken. Sie fordert unter anderem die Verbesserung der Eigenkapitalförderung - das hatte vorhin auch Herr Thierse gesagt - und die Bereitstellung von Risikokapital.
Wir von der CDU handeln schon längst entsprechend. Die Regierungskoalition hat im Rahmen des Jahressteuergesetzes zwei neue, übrigens auf die spezifischen Bedürfnisse der meistens noch finanzschwachen ostdeutschen Unternehmen zugeschnittene Förderprogramme in Kraft gesetzt. Sie umfassen ein jährliches Gesamtfördervolumen von 500 Millionen DM und unterstützen nachhaltig den Bereich Forschung und Entwicklung. Es handelt sich dabei erstens um das Eigenkapitalergänzungsprogramm der deutschen Ausgleichsbank und zweitens um den Beteiligungsfonds Ost der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der die eigentliche Risikokapitalförderung darstellt. Drittens ist Anfang März von der EU-Kommission ein neues ERP-Innovationsprogramm genehmigt worden, mit dem die Entwicklung und Vermarktung - und Vermarktung; das war vorhin auch Thema - neuer Produkte gefördert werden soll.
Ich möchte Ihnen einmal etwas aus einem Vorbereitungspapier des Vereins der Ingenieure, Techniker und Wirtschaftler in Sachsen für einen Kongreß vorstellen, der am 11. April in Dresden stattfinden wird. Darin heißt es unter anderem:
Zur Finanzierung von Innovationen existieren zahlreiche Förderprogramme. Sie reichen zur Unterstützung der Finanzierung von Forschung und Entwicklung völlig aus.
Weiter heißt es:
Vielfach bereitet es jedoch noch Schwierigkeiten, ausreichend die Markteinführung und das Marketing finanzieren zu können. Künftige Förderprogramme sollten deshalb mehr den Gesamtzyklus von der Idee bis zum Markteintritt zum Gegenstand haben.
Genau dies tut unter anderem das eben genannte ERP-Programm.
Natürlich ist hier weitere Förderung situationsbezogen und aktualisierend nötig. Die IndustrieforDr.-Ing. Rainer Jork
schung in den neuen Bundesländern ist nur noch in unvertretbar geringem Maß vorhanden, so daß wir uns dringend um die Wiederansiedlung von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in den Betrieben bemühen müssen.
Deshalb denken wir ja auch über neue Maßnahmen nach, zum Beispiel eine Personalförderung Ost, ein Programm zur marktvorbereitenden Industrieforschung, ein Programm zur Unterstützung risikoreicher Forschungen und ein Programm zur Gründung innovativer Einrichtungen.
Es ist aber auch festzuhalten: Es geht um eine bessere Nutzung von vielfach schon vorhandenem innovativem Potential, um die schnelle und marktgerechte Umsetzung neuer Ideen in Produkte.
Der Erfolg junger Unternehmen und neuer Produkte hat aber nicht nur mit staatlicher Förderung zu tun. Genauso erforderlich sind eben markt- und betriebswirtschaftliches Wissen, Akzeptanz von Technik und Anerkennung von Leistung. Diese Qualitäten sind das Gegenteil von rot-grüner Innovationsverhinderung.
Hier ist die Politik gefordert, ebenso wie das Bildungswesen, die Unternehmen und die Medien. Es nützt jedenfalls nichts, von den Unternehmen einen größeren Einsatz zu fordern, die Arbeitgeber aber verbal zu verprügeln und die Betriebe finanziell zu strangulieren.
Es ist auch wenig hilfreich, über die Einrichtung von Stellen zur sozialökologischen Zukunftsforschung - eine Forderung im SPD-Antrag - zu debattieren, wenn am Ende nur eine neue Analyse der Gründe von Handlungsunfähigkeit und fehlendem Erfolg steht. In welche Zielkonflikte man kommt, wenn man die Forderung nach einer, wie es die SPD formuliert, für „uns und die nachfolgenden Generationen lebenswerten Umwelt" - sehr richtig - und nach „Sicherung von Wohlstand und sozialem Frieden im internationalen Wettbewerb" voneinander abkoppelt und gegeneinander ausspielt, erlebt man gerade in Nordrhein-Westfalen.
Ja, reden wir über Umschichtungen im Haushalt des Forschungsministers zugunsten der Förderung innovativer Technologien! Wir dürfen aber nicht vergessen, daß bei Mehrausgaben in Innovationsbereichen anderswo reduziert werden muß. Insgesamt muß für eine Entlastung sowohl der Unternehmen als auch der Arbeitnehmer gesorgt werden.
({1})
Der Weg zu mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung, insbesondere zu mehr Industrieforschung, führt über eine Unternehmensentlastung und eine bessere Wertschöpfung in den Betrieben. Einfach mehr Geld durch den Bund auszugeben ist kontraproduktiv.
Reden wir über Subventionsabbau. Ich meine, wir müssen gemeinsam handeln. Das betrifft Bund und Länder, das betrifft die Tarifparteien, das betrifft die Unternehmen und ihre Investitionen für Forschung und Entwicklung. Soweit die Politik dabei in der Pflicht ist, wollen wir gern das Nötige tun. Das heißt aber, daß zögern, zweifeln und abwarten, daß Besitzstandswahrung und Erbenmentalität keine geeigneten Wege sind.
Ich danke.
({2})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Siegmar Mosdorf.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich muß zunächst sagen, daß ich es ein bißchen traurig finde, in welchem Stil und in welcher Art wir diese wichtige Debatte führen. Ich bedaure, daß erstens nur sehr wenige Abgeordnete da sind.
({0})
Daß zweitens der Forschungsminister selber nicht da ist, finde ich auch nicht gut. Ich glaube, das ist bemerkenswert.
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- Er soll bei der Cebit sein.
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- Entschuldigung, das wußte ich nicht.
Ich finde es auch nicht gut, daß, wenn ich einmal von meinem Kollegen Schwanhold, Herrn Riesenhuber und Herrn Schauerte absehe, obwohl das Thema wichtig ist - denn Innovation ist heute nicht nur Forschungsthema, sondern auch Wirtschaftsthema -, aus dem Wirtschaftsausschuß nur wenige Mitglieder da sind.
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- Doch, der Bundeswirtschaftsminister ist persönlich da. Das ist doch schon die halbe Miete.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ganz wichtig, daß wir, wenn wir uns mit der Wirtschaftskrise, in der wir uns befinden, und mit ihrer Dramatik beschäftigen, erkennen, daß wir natürlich konjunkturelle Probleme haben, die sich auch eher weiter zuspitzen werden; das wird eine gefährliche Gratwanderung sein. Daß wir auch eine Kostenkrise haben, ist ebenfalls nicht zu bestreiten.
Aber wir stecken eben auch in einer Innovationskrise. Ich denke, wir stecken in Deutschland insgesamt in einer Buddenbrook-Krise, und die fängt in den Köpfen an. Wenn man sich das vergegenwärtigt, heißt es für die Wirtschaft, daß wir früher - wenn man mit Unternehmern und mit Managern spricht, merkt man das heute schon - eigentlich mehr Robert
Boschs oder Gottlieb Daimlers der ersten Generation hatten und heute mehr Buddenbrooks der vierten Generation haben. Das heißt, es wird zuwenig bewegt, es wird zuwenig schöpferisch Neues getan. Daran hängen natürlich Arbeitsplätze, und zwar auch neue Arbeitsplätze.
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Daraus resultieren Riesenprobleme für unsere Volkswirtschaft und für unsere Entwicklung.
Hinzu kommt, daß heute viele, die unternehmerisch tätig waren, eher in Finanzanlagen gehen als zum Beispiel in Fertigungsinvestments oder sich der Mühe zu unterziehen, sich wirklich unternehmerisch zu betätigen.
Nun kann man sagen - und das sagt die Wirtschaft auch -: Das liegt auch an den Rahmenbedingungen. Es ist wahr: Wir haben die höchste Staatsverschuldung, wir haben die höchste Steuer- und Abgabenquote, wir haben die höchste Arbeitslosenzahl. Die Frage, wie wir damit umgehen, müssen wir beantworten, wenn wir klären wollen, warum wir in dieser Innovationskrise stecken.
Es ist wahr: Es gab auch eine Reihe von Versäumnissen, die wir nicht vergessen dürfen. Was wir heute erleben, ist ja nicht vom Himmel gefallen, ist ja kein aktueller Tatbestand, sondern es gab dafür durchaus Vorlauf. Wenn die Bundesregierung in den letzten sechs Jahren den Forschungsetat um real 30 Prozent gesenkt hat, dann ist das eine Fehlentscheidung, die dem Standort Deutschland nicht dient.
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Bei Herrn Riesenhuber hatten wir noch einen größeren Etat. Wenn man in einer Zeit, in der es auch um kleine Veränderungen, um kleine Verbesserungen geht, das Arbeitnehmererfindungsgesetz, das dem Facharbeiter, der einen Verbesserungsvorschlag macht, eine kleine Prämie zugesteht und diese nicht auch noch in die Progression hineinfließen läßt, aus kameralistischen, buchhalterischen Gründen, abschafft, dann ist das eine Fehlentwicklung. Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Arbeitnehmer nicht mehr kreativ, nicht mehr schöpferisch sind. Das sind Weichenstellungen, die in die falsche Richtung gehen.
Das gleiche gilt für die alte Diskussion über die Patentgebühren. Es ist ein Fehler zu sagen: Weil das Patentamt beim Justizministerium ressortiert und weil es das einzige Amt ist, das durch Gebühren Einnahmen hat, muß man diese Gebühren erhöhen, damit das Justizministerium seinen Haushalt aufbessern kann. In einer Zeit, in der wir die Patentierung und damit auch den Innovationsprozeß eher erleichtern sollten, sind das Fehlentscheidungen.
Ich habe es mir noch einmal angesehen, Herr Rexrodt. Das ist eine Sache, über die wir ernsthaft reden müssen. Wir haben im Wirtschaftsausschuß darüber schon geredet. Bei Existenzgründern gibt es immer noch erhebliche Defizite - das hat eben auch Herr Laermann gesagt - im Dienstleistungsbereich. Wir haben technologieorientierte Existenzgründungshilfen; sie sind sinnvoll. Aber es gibt im Dienstleistungsbereich eine ganze Reihe von jungen Leuten, die sich engagieren und für die wir einen neuen Akzent im Existenzgründungsprogramm dringend brauchen, den es bisher nicht gibt.
Das gleiche gilt für das Risikokapital. Ich habe letzte Woche mit Existenzgründern zusammengesessen und mir das aufschreiben lassen. Die Programme, die wir heute haben - dabei handelt es sich zum Teil auch um Ergänzungen von Länderprogrammen - sehen wie folgt aus: Ein Existenzgründer - ich habe einen konkreten vor Augen, einen Nachrichtentechniker -, der eine bestimmte Produktidee hat, braucht, um sein Produkt an den Markt bringen zu können, 500 000 DM. Wenn er diese 500 000 DM bekommt - und er bekommt sie; dafür gibt es heute entsprechende Instrumente -, dann muß die Tilgung aber aus versteuerten Gewinnen erfolgen. Die entsprechende Steuer beträgt in diesem Fall 409 000 DM. Somit ergibt sich ein notwendiger Gewinn vor Steuern von 909 000 DM. Die übliche Umsatzrendite bei Existenzgründern etwa im Bereich der Meß- und Regeltechnik beträgt im Durchschnitt 2,3 Prozent.
Hochgerechnet heißt das - diese Rechnung ist durchaus realistisch - für die Rückzahlung der Beteiligung mit einem solchen Risikokapital, daß ein Geschäftsvolumen von rund 40 Millionen DM in zehn Jahren notwendig ist. Wer sich ein bißchen bei Existenzgründern auskennt, der weiß, daß sie im Schnitt in zehn Jahren - das sind die offiziellen Zahlen - etwa einen Umsatz von 30 Millionen DM haben. Nach zehn Jahren bleiben sie also mit einem Batzen Schulden hängen.
Wir haben nicht genügend finanzierbares Risikokapital. Das ist ein echtes Problem. Wir haben einen enormen Nachholbedarf beim „venture capital".
Weil sich da sowenig bewegt, habe ich den Eindruck, daß wir - salopp gesagt - ein Kabinett von „Drei-sechs-drei-Managern" haben: Herr Waigel besorgt sich für 3 Prozent Geld am Kapitalmarkt, für 6 Prozent vergibt Herr Rexrodt das Geld teuer an die Existenzgründer, und um drei gehen sie beide zusammen Golf spielen. So können Sie den Standort Deutschland nicht auf Vordermann bringen.
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Sie habe ich gar nicht mitgerechnet. Ich glaube, Sie fangen ja schon morgens mit Golf an.
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Jetzt ernsthaft: Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir beim „venture capital", beim Risikokapital, wirklich etwas tun müssen, Konditionen finden müssen, die sinnvoll sind und die uns weiterhelfen. Das gleiche gilt auch für die Frage - dazu habe ich ein paar Punkte angesprochen -, wie wir bei Existenzgründungen weiterhelfen können.
Wichtig ist: Das Bündnis für Arbeit und für Wettbewerbsfähigkeit muß auch ein Bündnis für Innovationen werden. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um in diesem Bereich die Kräfte zu fokussieren, auf das zu konzentrieren, was sich im Innovationsbereich tut. Ich denke, wir brauchen so etwas wie ein Sofortprogramm für Existenzgründer und für Innovationen, mit ganz konkreten Maßnahmen. Dies könnten wir, weil wir in vielen Punkten übereinstimmen, durchaus gemeinsam zusammenstellen.
Angesichts der Wirtschaftskrise, in der wir uns befinden, hat die Gewerkschaft dreimal überlegt, bevor sie etwas gesagt hat. Jetzt hat sie etwas gesagt. Sie hat ein „Bündnis für Arbeit" angeboten - ein, wie ich finde, mutiger Vorschlag von Herrn Zwickel, auch wenn man über Einzelheiten reden kann.
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Die Wirtschaft überlegt dreimal, bevor sie nichts sagt: Bisher gibt es leider keine Gegenvorschläge zu dieser konkreten Initiative. Die Regierung hat bisher leider immer nur dreimal geredet, bevor sie angefangen hat zu überlegen.
Jetzt müssen wir überlegen und dann entscheiden. Wenn wir diese Entscheidung getroffen haben, dann bin ich auch nicht ängstlich, was die Zukunft des Standorts Deutschland angeht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort bekommt die Parlamentarische Staatssekretärin beim Minister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Frau Cornelia Yzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir angesichts einiger Zwischenrufe aus der Opposition die Bemerkung: Herr Bundesminister Rüttgers kann heute an dieser Debatte wegen eines Trauerfalls in der Familie nicht teilnehmen. Ich möchte Sie sehr herzlich um Verständnis bitten.
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Meine Damen und Herren, Wettbewerbe gewinnt bekanntlich nicht der, der liebevoll seine Schwäche pflegt. Gewinner kann nur sein, wer sich seiner Stärken bewußt ist und sie auch nutzt. Wir haben in der Tat alle Chancen, den Innovationswettbewerb der Zukunft erfolgreich zu gestalten. Im Jahr 1995 haben Bund, Länder und Wirtschaft insgesamt 81 Milliarden DM für Forschung und Entwicklung aufgewandt. Der Anteil von Industrien mit überdurchschnittlich viel Forschung und Entwicklung ist in Deutschland mit einem Anteil von 13,5 Prozent am Bruttoinlandsprodukt größer als in den USA und auf gleichem Niveau wie in Japan. In manchen Wachstumsindustrien bestehen zugegebenermaßen Defizite; deutsche Unternehmen besetzen aber auf Märkten für höherwertige Technologien dynamische Hochpreissegmente.
Das Systemprodukt Auto zum Beispiel ist ohne Einsatz von Spitzenelektronik und Mikrotechnik nicht denkbar. Auch dank der Forschungspolitik der Bundesregierung verfügen wir über herausragende wissenschaftlich-technische Grundlagen für die Technologien des 21. Jahrhunderts.
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Meine Damen und Herren, es fehlt also nicht an Ideen und Know-how. Wir müssen aber unsere Potentiale für neue Märkte und Arbeitsplätze in der Tat besser nutzen. Deshalb werden wir mit innovativen Konzepten Technologiepolitik zur Innovationspolitik erweitern.
Beispiel 1: Deutschland ist, gemessen an seinen Patentanmeldungen, mit weitem Abstand der drittgrößte Technologieproduzent der Welt. Aber wir müssen diese Basis ausbauen und werden daher in Kürze eine Patentinitiative starten.
Beispiel 2: Junge Technologieunternehmen sind Katalysatoren bei der Entstehung neuer Märkte. Ob wir die Chancen von Multimedia oder Biotechnologie nutzen können, hängt nicht von wenigen Großunternehmen ab, sondern von der Gründungsdynamik in neuen Feldern.
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Wer Ideen, Kompetenz und die Bereitschaft zum unternehmerischen Risiko hat, darf in Deutschland nicht an fehlendem Kapital scheitern.
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Der fehlende Zugang zu Fremdkapital für Sprunginnovationen ist für kleine und mittlere Unternehmen bislang ein zentrales Innovationshemmnis. Viele Banken scheuen das Risiko, weil sie auch die technologische Seite nicht bewerten können. Deshalb haben wir mit dem Innovationsdarlehensprogramm einen neuen Typ der Innovationsförderung geschaffen. Nachdem die Notifizierung durch die Europäische Union erfolgt ist, wird jetzt 1 Milliarde DM an Innovationsdarlehen bereitgestellt werden.
Als ebenso problematisch erweist sich das Fehlen eines leistungsfähigen Beteiligungskapitalmarktes. Hierin liegt eine Bremse für Wachstum und Beschäftigung. Wir haben bereits im letzten Jahr das Programm „Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen" aufgelegt.
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170 Millionen DM Beteiligungskapital wurden bereits im vergangenen Jahr bewegt, davon im übrigen 30 Millionen DM aus dem Ausland. Dieses Programm zeigt: Es ist ein großes Potential vorhanden. Es gibt hier eine exponentielle Entwicklung, wobei allerdings eines richtig ist: Mit Förderprogrammen kann die Bundesregierung die Chancen junger Technologieunternehmen nur demonstrieren. Sie kann auch eine beachtliche Zahl von Unternehmen erreiParl. Staatssekretärin Cornelia Yzer
chen - insgesamt rund 1 000 in den vergangenen zehn Jahren. Aber wir brauchen eine Steigerung der Gründungszahlen bei Technologieunternehmen mindestens um den Faktor 10. Deshalb wollen wir den Venture-capital-Prozeß in Deutschland attraktiver gestalten. Wir brauchen verbesserte Rahmenbedingungen.
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Kapitalreserven sind genügend vorhanden. Allein 4 Billionen DM liegen in Deutschland auf der hohen Kante. 21 Prozent der Ersparnisse fließen in Lebensversicherungen. Bis zu 35 Prozent könnten in Risikokapital angelegt werden. Diese Marge wird bislang nicht ausgeschöpft.
Warum machen wir es nicht wie andere Länder,
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die Pensionsrückstellungen als größte Kapitalsammelstelle nutzen? Auch in Deutschland gibt es Pensionsrückstellungen, die sich auf über 300 Milliarden DM belaufen.
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- Warum, das sage ich Ihnen, Herr Glotz: Da muß man natürlich auch gönnen können. Da muß man den Anlegern auch sagen, daß sie verdienen können. Zu diesem Gönnen sind doch Sozialdemokraten bislang nicht fähig gewesen.
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Wir brauchen spezialisiertes Technologie-Knowhow für Beteiligungsgesellschaften, für Kreditinstitute. Das müssen wir zur Verfügung stellen, um eine bessere Entscheidungsbasis zu ermöglichen. Wir initiieren Kooperationen, die wir inzwischen eingegangen sind, beispielsweise die Fraunhofer-Gesellschaft mit dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband und der Deutschen Bank. Das ist der Ansatz.
Ich freue mich auch, wenn die SPD heute die Bereitschaft zeigt, in einen Wettstreit um das beste Konzept für mehr Risikokapital mit uns einzutreten.
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Ein Ideenwettbewerb um das beste Konzept ist nie verboten. Aber eines sage ich Ihnen: Es muß um die Verbesserung der Kapitalmarktstrukturen gehen, die Sie nicht in dem erforderlichen Ausmaße vorschlagen. Bei Ihnen finde ich vielmehr Zulagenmodelle. Wer angesichts knapper Kassen und internationaler Konkurrenz von den Finanzmärkten meint, daß aufwendig verwaltete Zulagenmodelle Modelle der Zukunft sind, der hat die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt.
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- Ich habe die heutige Debatte verfolgt. Wenn ich aus Ihrem Mund, meine Damen und Herren von der Opposition, höre, eine neue Existenzgründungswelle muß entfacht werden, kann ich Ihnen nur sagen: Diese Forderung klingt aus Ihrem Mund hohl,
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weil Ihr Bekenntnis zu unternehmerischer Leistung fehlt.
Wer hohe persönliche Risiken eingeht und für zwei schuftet
({12})
- von Ihnen zum Beispiel -, wer für drei oder mehr Leute Arbeitsplätze schafft, der hat auch ein Anrecht auf hohe Anerkennung und darauf, daß sich seine Leistung lohnt. Die Neiddiskussion, die Sie immer wieder als Sozialdemokraten entfacht haben, hat manches in diesem Land blockiert.
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Ich nenne Ihnen ein weiteres Beispiel aus Ihrem Antrag. Wir müssen künftig entlasten statt belasten. Ich darf nicht mit einer Hand etwas geben und es mit der anderen wieder nehmen. Sie sagen, wir müssen die Arbeitskosten entlasten. Ja, das ist richtig, aber wir können nicht zur gleichen Zeit eine Ökosteuer einführen, die innovationshemmend sein wird. Glauben Sie eigentlich, eine Ökosteuer belastet nicht die betriebliche Kostenbilanz?
Nationen sind stark in Aktivitäten, die die Menschen bewundern und anerkennen. Wir brauchen ein anderes Klima für das Heranwachsen einer neuen Generation von Unternehmerpersönlichkeiten, und ich kann Sie nur herzlich bitten: Tragen Sie hierzu bei.
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Wir setzen mit konkreten Maßnahmen an. Ein Beispiel dafür ist das Engagement für innovative Ausgründungen aus Forschungseinrichtungen und Hochschulen, das von uns stärker unterstützt wird. Ein zweites Beispiel: Wir wollen mehr Ausbildung zur Selbständigkeit bzw. Heranführung zur Selbständigkeit während der Ausbildung. Hierfür schlagen wir Pilotprojekte vor; allerdings brauchen wir dazu auch die Mitwirkung der Länder.
Das Meister-BAföG, das lange Zeit blockiert worden ist,
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enthält auf Grund unseres Vorschlags eine Existenzgründungskomponente und ist deshalb eine wichtige Basis für Unternehmensgründungen.
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Mit Spitzentechnologien wollen wir die Basis für technologische Leistungsfähigkeit im 21. Jahrhundert
legen. Es geht nicht nur um Gentechnik, nicht nur um Informations- und Kommunikationstechnik, sondern auch um Umwelttechnik, Lasertechnik, Plasmatechnik, Mikrosystemtechnik und neue Werkstofftechnologien. Ich könnte die Liste noch fortsetzen.
Sie, Herr Kiper, haben die Umwelttechnologien angesprochen. Sicher, wir hatten weltweit Platz 1 und sind auf Platz 2 zurückgefallen, aber man darf kein Grenzwertfetischist sein und den Leuten nicht auch noch den Weg zum Ziel im Detail vorgeben, sondern es muß Manövrierspielraum für die Unternehmen bleiben. Das bedeutet, produktionsintegrierten Umweltschutz, auf den wir bei unseren konkreten Fördermaßnahmen setzen.
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- Wenn Sie etwas sagen wollen, dann melden Sie sich und stellen eine Frage. Aber die Antwort darauf wollen Sie hier nicht zu Protokoll gegeben wissen; wir kennen das doch.
Wir wollen Netzwerke bilden. Bio-Regio-Wettbewerb ist ein Stichwort; es ist ein überzeugendes Gesamtkonzept, bei dem wir Regionen auszeichnen, bei dem Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Verwaltungen Hand in Hand arbeiten. Wir haben damit eine Initialzündung regionaler Kooperation in der Biotechnologie entfacht.
Wir werden die Fähigkeiten zur Netzwerkbildung ins Zentrum von Reformen der institutionellen Forschungsförderung stellen. Viele Forschungseinrichtungen können und müssen eine erheblich größere Rolle als technologische Dienstleister übernehmen.
Frau Staatssekretärin, Sie könnten jetzt die gewünschte Frage des Herrn Kiper beantworten.
Sehr gern.
Bitte schön, Herr Kiper.
Frau Staatssekretärin, bevor Sie auf das Bio-RegioProgramm abheben, möchte ich Sie fragen: Was ist das anderes als dicke Luft, die Sie produzieren?
({0})
Sie bewegen mit dem Bio-Regio-Programm keine einzige zusätzliche Mark, sondern Sie versuchen, einen Wettbewerb aus den Ländern in Gang zu bringen, ohne eine müde Mark dafür zur Verfügung zu stellen. Sie sagen gleichzeitig: Wenn in den Ländern 5 000 DM für eine kritische Veranstaltung, für einen öffentlichen Diskurs zur Gentechnik zur Verfügung gestellt wird, dann ist das ein Grund dafür, daß dort in Zukunft keine Förderung mehr aus dem Biotechnologieprogramm stattfindet.
Ich frage Sie: Was wollen Sie mit dem Bio-RegioProgramm Neues in die Welt setzen?
Wir wollen hier, Herr Kollege, wie Sie sicherlich auch aus den Diskussionen im Ausschuß wissen, eine Konzentration der Fördermittel. Wir wollen Stärken weiter ausbauen, wie ich es auch in meinen Eingangsausführungen gesagt habe. Wenn Sie beispielsweise in den amerikanischen Raum schauen, werden Sie feststellen, daß es dort centers of excellence gibt und dort Fördermittel nicht mit der Gießkanne verteilt werden - das ist ein selbstverständliches Erscheinungsbild. Die Mittel werden so gezielt eingesetzt, daß sie möglichst große Wirkung entfalten.
In der Tat, wenn es Landesregierungen gibt - und sie gibt es, wie wir aus den Medien wissen -, die es in dieser Zeit für vorrangig halten, Antigentechnikkongresse zu fördern, die es für ganz selbstverständlich halten, Front zu machen gegen Gentechnik und Biotechnologie, dann frage ich Sie: Wie soll denn der Verwaltungsvollzug pro Biotechnologie in diesen Ländern aussehen? Ich habe den Eindruck, diese Landesregierung hat sich nur deshalb gewehrt, weil sie eine Rechtfertigung haben will, falls nach dem Bio-Regio-Wettbewerb in die Chemieregion in Hessen die Mittel nicht mehr so fließen. Sie will dann sagen können: Wir haben es nicht verursacht. - Wenn man Antigentechnik-, Antibiotechnologiekongresse abhält und gleichzeitig sagt: Wir sind doch offen, wir wollen sogar führendes Land in diesem Bereich in Deutschland sein, dann ist das unglaubwürdig,
({0})
dann will man Menschen in die Irre führen, und das machen wir nicht mit.
Frau Staatssekretärin, der Herr Kollege Kiper möchte eine weitere Frage stellen.
Sehr gern.
Frau Staatssekretärin, Sie haben so schöne Worte für Ihr Konzept und den Dialog mit der Bevölkerung gefunden. Es gibt 17 Regionen in Deutschland, die bei diesem Bio-Regio-Programm mitmachen wollen und Konzepte entwickelt haben. Sie wollen aber nur drei von 17 Regionen fördern und die ganzen Biologietechnologiefördermittel auf diese Regionen „konzentrieren". Sie sprachen eben auch von „konzentrieren" . Ist das der große Aufbruch, die Innovationsoffensive, die dieser Bundesregierung vorschwebt?
({0})
Herr Kiper, ich hatte unterstellt, Sie hätten das Konzept verstanden - aber das macht ja nichts. Wir haben einen Wettbewerb ausgeschrieben.
({0})
Herr Präsident, meine Redezeit läuft nicht weiter, auch wenn der Herr Kollege sitzt?
So ist es.
Sehr schön.
({0})
- Selbstverständlich rede ich mit Ihnen, weil es mir eine Freude ist, Ihnen den Bio-Regio-Wettbewerb hier zu erläutern. Wir werden nämlich die Fördermittel, die in diesem Bereich rund 900 Millionen DM betragen, konzentrieren. Das heißt aber nicht, daß in eine Region, die nicht zu den stärksten zählt, nun null Mark künftig fließen. Was wir erreichen wollen, ist ein Zusammenwirken von Verwaltung, ist ein Zusammenwirken von Unternehmen, ist ein Zusammenwirken auch mit der Öffentlichkeit.
Eine betroffene Region könnte sogar auf die Idee kommen, diesen Wettbewerb zu nutzen, um für Akzeptanz zu werben, um Initiativen pro Gentechnik zu entfachen, statt Antigentechnikkongresse zu fördern. Wer so etwas macht, hat natürlich unsere besondere Unterstützung. Die Auswahl wird, um Sie zu beruhigen, von einer internationalen Expertenkommission vorgenommen.
({1})
Frau Staatssekretärin, der Herr Kollege Mayer möchte eine Frage stellen.
Gerne.
Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß dieser Bio-Regio-Wettbewerb offenbar beim Kollegen Kiper schon Wirkung gezeigt hat, weil er sich nämlich stärker zur Gentechnik bekennt?
({0})
Ich nehme dies mit Freude zur Kenntnis.
Eine Sekunde! Herr Kollege, eine Dreiecksfrage wollen wir hier nicht stellen. Das kann ich nicht zulassen.
({0})
Dann will ich auf die Beantwortung dieser unzulässigen Frage verzichten.
({0})
Was wir natürlich auch brauchen, ist die Umsetzung von Forschung. Dazu müssen wir Schneisen in den Regulierungswald schlagen. Herr Kollege Kiper - ich möchte gerade Sie in dem Zusammenhang noch einmal ansprechen -, in dem Antrag der SPD, der noch zur Debatte steht, nachdem wir heute schon eine Diskussion zu Genehmigungsverfahren hatten, werden ja konkrete Vorschläge für flexiblere Genehmigungsverfahren gefordert. Also bitte: Wir wollen die Bundes-Immissionsschutzverordnung ändern, damit die Verfahren, die der Erprobung neuer Produkte vor Markteinführung dienen, genehmigungsfrei gestellt werden.
Der Bundesrat hat auf Vorschlag der nordrheinwestfälischen Umweltministerin Höhn eine Empfehlung verabschiedet, die nicht nur diesem Weg nicht folgt, sondern die auch hinter geltendem Recht zurückbleibt. Das kam also von einer Vertreterin der Grünen. Die SPD - Teil der NRW-Landesregierung - meldet sich gar nicht zu Wort. Aber wir werden sehen. Wenn es um den Erhalt der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen geht, kann derzeit bekanntlich manche inhaltliche Position zurückgestellt werden. Jedenfalls ist das ein Beleg dafür, daß konkrete Vorschläge nicht aufgegriffen werden.
Meine Damen und Herren, der Startschuß in die Informationsgesellschaft ist längst gefallen. Wir müssen alles daransetzen, vorn mit dabeizusein.
Der Rat für Forschung, Technologie und Innovation kann der Nukleus für ein technologisches Zukunftsbündnis sein. Wir haben die Empfehlungen des Rates zum Anlaß genommen, die Initiative Informationsgesellschaft Deutschland" zu starten.
Das ist mehr als ein plakativer Slogan. Unter dieser Headline läuft die Initiative der Bundesregierung für ein Multimediagesetz ebenso wie der Bericht „Info 2000", über den wir heute diskutieren, oder die Medienkompetenzoffensive des BMBF im Bildungsbereich. Dabei geht es uns nicht um neue Reglementierungen, sondern um die Wiederherstellung von Freiräumen.
Folgendes ist besonders wichtig: Wir brauchen einen national einheitlichen Rechtsrahmen für Multimedia in Deutschland; denn ein florierender Markt für neue Informationstechnologien entsteht nur dann, wenn sich die Anbieter eines bundeseinheitliParl. Staatssekretärin Cornelia Yzer
chen Dienstes nicht mehr an mehr als ein Dutzend Landesmedienanstalten wenden müssen.
({1})
Wenn, wie geschehen, eine Landesmedienanstalt heute eine Genehmigung erteilt, auf Grund des Einspruchs von Mitbewerbern die Genehmigung morgen durch einstweilige Verfügung gestoppt wird und das Verwaltungsgericht übermorgen entscheidet, daß Teleshopping kein klassisches Fernsehangebot ist und deshalb nicht der rundfunkrechtlichen Genehmigung zu unterliegen hat, dann sind das nicht Rahmenbedingungen, mit denen Millioneninvestitionen in Deutschland ermöglicht werden.
({2})
Es ist absurd, wenn sich ein Presseverlag, der seine Zeitung auch elektronisch publizieren möchte, dies nach Landesrundfunkrecht genehmigen lassen muß. So, wie wir bei dem neuen Telekommunikationsgesetz sicherstellen wollen, daß kein kommunaler Wegezoll von privaten Unternehmen erhoben wird, so müssen wir auch sicherstellen, daß nicht Partikularinteressen den Weg in die globale Informationsgesellschaft verhindern.
({3})
Wir werden deshalb in Kürze Eckwerte für ein Multimediagesetz des Bundes vorlegen. Darin wird der Grundsatz der Gewerbefreiheit im Multimediabereich festgeschrieben. Es werden eindeutige Kriterien für die Abgrenzung neuer Dienste vom Rundfunk damit festgelegt. Außerdem schaffen wir Rechtsklarheit für Investoren.
({4})
Natürlich wird es auch darum gehen, Datenschutz zu gewährleisten. Wir wollen vertrauenschaffende Regelungen, weil die Akzeptanz Schlüsselfrage für Multimedia und Datenkommunikation in Deutschland überhaupt ist. Aber probieren wird auch hier vor regulieren gehen. Es muß möglich sein, daß wir unterschiedliche Wege erproben. Beispielsweise sind private Trust-Center als Notare der Datennetze vorstellbar.
Wir müssen uns vor allem davor hüten, Techniken festzuschreiben. Das ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers. Technik darf man nicht verordnen, sondern Technik muß sich am Markt bewähren.
({5})
Abschließend möchte ich jetzt noch auf Ihre Anmerkung, Herr Kollege Tauss, zu den Äußerungen von Minister Rüttgers gestern bei der Eröffnung der Cebit eingehen.
({6})
Die Informationsgesellschaft ist eine freiheitliche Gesellschaft. Freiheitliche Gesellschaften verlangen mehr Verantwortung als ein Betreuungsstaat. Deshalb müssen wir Medienkompetenz über Schulen,
über Hochschulen, über Weiterbildung und Fortbildung vermitteln, damit sich der einzelne mit dem Medienangebot auseinandersetzen kann. Aber daß es auch Schranken geben muß, Herr Tauss, ist doch wohl hoffentlich unbestritten. Jugendgefährdung, verfassungswidrige Inhalte, Gewaltverherrlichung - das kann doch nicht geduldet werden! Sie haben sich doch vorhin auch dagegen gewehrt, Herr Tauss. Sie wollen doch nicht, wie ich hoffe, die letzte wilde Sau im Internet schützen. Deshalb werden Sie es doch begrüßen, wenn es hier Reglementierungen geben wird. Dabei würden wir einer Selbstkontrolle durch die Anbieter Vorrang geben, was - um auch Ihren Zwischenruf aufzunehmen, Kollege Kiper - nicht Kontrolle durch Landesmedienanstalten bedeutet; Selbstkontrolle läßt sich auch anders organisieren. Denken Sie einmal an den Deutschen Werberat!
({7})
Das Wort bekommt nun der Abgeordnete Ernst Schwanhold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir fällt bei der Staatssekretärin Yzer ein Zitat von Thomas Mann ein: Wenn du in die eigene Tasche greifst, stellst du fest, daß die öffentliche Hand schon drin gewesen ist. Und die öffentliche Hand sitzt da!
({0})
- Thomas Mann hat diesen Ausspruch vermutlich im Vorgriff auf Ihre segensreiche Tätigkeit als Koalition getan.
Die Kollegin Yzer stellt sich hierher und sagt, dies sei alles nicht so problematisch; man habe alles in die Wege geleitet; man sei auf dem besten Wege; alles, was die SPD geschrieben habe - Risikokapital und solche Dinge -, habe man längst auf die Strecke gebracht. Frau Yzer, Sie müssen sich einmal ein paar Tage lang die Mühe machen, mit dem einen oder anderen Unternehmer zu reden, der sich von diesem Standort verabschiedet und einen anderen Standort sucht. Der wird Ihnen als allererstes sagen: Ich habe die Nase voll von den Sprüchen, die hier gemacht werden. Es wird nicht gehandelt. Ich habe das Vertrauen in diese Regierung verloren. Deswegen gehe ich woandershin.
({1})
Das habe ich gestern beim DIHT gehört. Wenn der Kollege Doss da wäre, dann könnte er das bestätigen. Das habe ich abends bei der IHK in Köln gehört. Überall an der gleichen Stelle die gleichen Aussagen! Da können Sie auch mit dem Verband der Chemischen Industrie reden. Die Leute da regen sich wirklich nicht über Ökosteuer auf, sondern die regen sich darüber auf, daß sie hier kaum Chancen für neue Produkte, für neue Investitionen bekommen.
Sie reden über die Informationstechnologie. Ich werde Ihnen einen anderen Punkt nennen, weil Sie glauben, die Informationstechnologie sei der eigentliche Weg, um Arbeitsplätze zu schaffen. - Wer den Brundtland-Bericht richtig gelesen hat und wer sich auch die Firmenphilosophien, deren sich die Firmen bedienen, einmal verinnerlicht hat, der kann das Stichwort von der nachhaltigen zukunftsverträglichen Art des Wirtschaftens nicht vergessen.
Wenn wir uns die chemische Industrie als eine relativ solide in diesem Lande anschauen, stellen wir fest: Wir müssen nach einer neuen Basis für die chemische Industrie suchen. Dies wird in aller Regel auf dem Gebiet der enzymatischen Produktion und des enzymatischen Abbaus dieser Produkte nach der Nutzung möglich sein.
({2})
Da liegt die Verbindung zwischen Produktion, Ressourcenschonung, Energieschonung und Umwelt evident auf dem Tisch. Sie haben in Ihrem Etat - wenn ich das richtig gesehen habe - nicht eine müde Mark dafür ausgewiesen.
({3})
Sie haben noch nicht einmal das Programm der nachhaltig zukunftsverträglichen Art des Wirtschaftens für die chemische Industrie durchbuchstabiert. Dies ist nicht etwas, was nur mit Gentechnologie und großer Eindringtiefe zu tun hat, sondern diese Enzyme sind in freier Umwelt überhaupt nicht lebensfähig, sondern können nur in geschlossenen Systemen produzieren und nur in geschlossenen Systemen abbauen. Da werden nicht Grenzen überschritten, um die wir erst mühsam ringen müßten, die es uns auch mit der Akzeptanz bei der Bevölkerung so schwer machen. Dies ist eine neue Basis einer neuen Technologie. Das haben Sie überhaupt nicht erkannt. Statt dessen kommen Sie mit Sprüchen wie: Wir machen dieses, oder wir machen jenes.
Ich will Ihnen einfach einmal sagen: Dies ist über und über in den Köpfen der Unternehmer und insbesondere auch in den Köpfen der jungen Menschen, die sagen: Mit dieser Regierung und mit diesem Staat bekommt man die Ideen, die man hat, nicht verwirklicht.
Bei uns bleiben jene 70 oder 80 Prozent der Hochschulabgänger, die am liebsten in den öffentlichen Dienst hineingehen. Jene, die risikobereit sind, und jene, die neue Wege gehen wollen, bekommen nicht die Chance geboten. Die gehen woandershin - nicht deshalb, weil die Hochschulen hier schlechter sind oder weil die Unternehmen hier schlechter sind, sondern deshalb, weil sie einfach kein Vertrauen darin haben, daß sie diesen Weg - bei aller Notwendigkeit des Einziehens von Grenzen - ein Stück gehen können.
Ich will Ihnen einen zweiten Punkt sagen. Sie reden von Risikokapital, von venture capital. Ich habe manchmal den Eindruck: Sie wissen gar nicht, wovon Sie reden. Im Grunde reden Sie von Krediten, die sofort nach der Kreditgewährung zurückgezahlt werden müssen und verzinst werden müssen. Genau dies ist die Phase, in der junge Technologieunternehmen eigentlich nicht in der Lage sind, Kredite zu verzinsen und zurückzuzahlen, weil sie schon den nächsten Kapitalschub brauchen, um in der Wachstumsphase dann auch tatsächlich am Markt Platz finden zu können.
Das ist eine andere Art des Kapitals, das man anlocken muß. Dies wird man nicht nur mit öffentlichen Mitteln machen können. Man müßte aber den Rahmen dafür schaffen, daß privates Kapital, das in ausreichendem Maße vorhanden ist, in diese Art der Finanzierung gelenkt wird. Da sind steuerliche Anreize hilfreich.
Herr Minister Rexrodt, ich widerspreche Ihnen. Natürlich kosten Steuervergünstigungen Geld. Das ist durch die Ticker gegangen. Das war so eine Äußerung wie: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. Sie sind eben immer für ein Bonmot gut, auch wenn es falsch ist.
Man muß diese Art der Finanzierung viel mehr ins Visier nehmen. Man muß von Investitionen in Beton und Boden umdenken in Investitionen in Technologie, Köpfe und Risikokapital, welches als Eigenkapitalersatz in den Jahren des Wachstums ohne Verzinsung bereitgestellt werden muß. Wenn dieses Kapital an der Börse oder wo auch immer erlöst wird, Muß natürlich auch ein Anreiz vorhanden sein. Es muß sich auch rentieren. Hierzu ist eine veränderte steuerliche Rahmensetzung erforderlich. Das hat nichts mit Eigenkapitalhilfeprogrammen und anderen Dingen zu tun, die notwendig sind und die Sie erst vor wenigen Jahren abgebaut und auf unseren Druck hin wieder aufgebaut haben. Ich finde, auch dies sollten Sie der Ehrlichkeit halber einmal eingestehen. Risikokapital ist also wichtig.
Warum denken Sie nicht, wie dies in anderen Ländern geschieht, zum Beispiel in Amerika, auch über die Null-DM-Aktie nach, mit der nur auf eine gute Idee hin Kapital gesammelt wird? Dies geht mit Ihrer Philosophie, daß man eine möglichst große Börse in Frankfurt braucht, aber nicht. Nein, da müssen Börsen auch in regionalen Bezügen arbeiten, und da brauchen wir eine Stärkung der regionalen Börsen. Ich finde, das gehört zusammen und muß miteinander verknüpft werden. Wenn Sie diese Verknüpfung nicht leisten und diesem Problem nur mit schnoddrigen Antworten gerecht werden wollen, dann, finde ich, treffen manche Leute die richtige Entscheidung: entweder anders zu wählen oder in ein anderes Land zu gehen. Ich kann nur appellieren, anders zu wählen.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollege Jörg Tauss.
Frau Staatssekretärin, Sie haben mir praktisch unterstellt, ich würde dafür plädieren, verfassungswidrige Inhalte, gar „Schweinkram" oder, wie Sie es ausgedrückt haben, „die letzte wilde Sau" im Internet zu tolerieren. Auch das ist nicht gerade parlamentarisch, aber darum geht es nicht.
Wir sind uns einig, daß es schon heute möglich ist, Réchtsverstöße im Internet zu verfolgen. Ich hoffe, diese Einigung haben wir in diesem Raum. Zumindest wissen das die Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion, die dieses Thema schon einmal bearbeitet haben. Es geht aber um die Frage: Wen mache ich für Inhalte im Internet verantwortlich? Ich sage Ihnen: Wenn der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie sagt, wir müssen die Anbieter verantwortlich machen, dann bleibe ich dabei, daß dies so ist, als ob ich sagte, der Briefträger ist für das verantwortlich, was er an Briefen transportiert, oder die Telekom ist verantwortlich für das, was in ihren Netzen telefonisch erledigt wird.
Ich habe gestern abend mit Anbietern, mit zehn jungen Leuten, die sich als Provider selbständig gemacht haben, zusammengesessen. Sie überlegen sich im Moment in der Tat, ins Ausland zu gehen, weil im Moment auf Grund der Rechtsunsicherheit, die Sie nicht beseitigen, Staatsanwälte auftauchen, die schon heute eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten beabsichtigen, weil jemand den Zugang zum Internet vermittelt. Das Internet ist aber das Backbone dieser künftigen Informationsgesellschaft. Zugänge vermitteln nicht nur Provider, Zugänge vermitteln Universitäten. Wann kommen die Staatsanwälte in die Unis, weil dort Zugänge zum Internet vermittelt werden? Darum geht es. Schaffen Sie Rechtssicherheit!
Ich bedaure sehr, daß der Bundesminister mit seinen fahrlässigen Äußerungen auf der Cebit, daß man die Vermittler der Wege verantwortlich machen sollte, von den Staatsanwälten praktisch fordert, daß sie 14 000 Usegroups auf Inhalte durchsuchen müssen. Parallel dazu behauptet der Datenschutzbeauftragte, dies könne man nicht leisten. Damit hat er recht. Diese Widersprüche müssen Sie aufklären.
Sehen Sie sich das Interview von Herrn SchmidtJortzig im „Spiegel" dieser Woche an! Es ist eine Kapriole nach der anderen. Ich war der erste, der in diesem Hause Fragen in dieser Sache an den Bundesminister für Wirtschaft gestellt hat. Das können Sie im Protokoll nachlesen. Herr Rexrodt hat mir versprochen - im Rahmen der G 7 habe man darüber diskutiert -, ich bekomme Unterlagen. Ich warte seit Wochen darauf. Gestern sagte Herr Rüttgers, wir werden das im Rahmen der G 7 behandeln. Was ist denn nun? Ist es drin oder nicht?
Beantworten Sie diese Fragen. Sagen Sie, wie Sie die Rechtsunsicherheit behandeln wollen, und treiben Sie diejenigen, die sich heute in dieser Informationsgesellschaft selbständig machen, nicht aus dem Land, indem Sie nicht handeln. Das tun Sie bedauerlicherweise im Moment.
({0})
Gegenrede? - Dies ist nicht der Fall.
Dann hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Schwanhold, es ist richtig, daß viele Unternehmer das Vertrauen verlieren oder verloren haben, auch in unsere Regierungskunst.
({0})
Genauso richtig ist aber, daß sie nicht einen Funken von Hoffnung haben, daß es an irgendeiner Stelle mit Ihrer Regierungkunst besser würde.
({1})
Das haben Ihnen die gleichen Herren bestätigt.
Ich sage das in aller Nachdenklichkeit. Denn ich meine: Wir kommen mit dieser Art der Politik nicht viel weiter. Wir befinden uns in einer unserer schwierigsten wirtschaftspolitischen Situationen und müssen jetzt versuchen, dies zu verändern, und zwar miteinander.
Herr Mosdorf, es ist ja sehr schön, daß das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, über weite Strecken identisch ist mit dem, was im Bericht der Bundesregierung steht. Das heißt: Hier in dieser Runde sitzen sehr wahrscheinlich sowieso nur die Vernünftigen, jedenfalls zum größten Teil.
Können Sie aber das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, mit Herrn Dreßler durchsetzen? Können Sie das, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben, im Bundesrat durchsetzen? Können wir das mit den Ministerpräsidenten durchsetzen?
Es ist wirklich hochspannend, daß wir diese Debatte jetzt einmal am Beispiel des Medienbereichs führen. Denn der Medienbereich ist ja wahrscheinlich - wie ein Vergrößerungsglas - unser schwierigster, verletzlichster, am meisten internationalisierter Wirtschaftsbereich. Wenn einer schon wirklich global antworten muß, dann ist das die Medienpolitik.
Wie antworten wir in der Verknüpfung von Rundfunk- und Medienrecht? Ich antworte auf diese Frage einmal etwas überspitzt: über weite Strecken provinziell.
Deswegen bitte ich Sie, jetzt einfach einmal auf die folgenden Fragen, die sich damit beschäftigen, ob wir das gemeinsam bewegen können, zu antworten. Es handelt sich ja nicht nur uni ein sozialdemokratisches Problem. Ich will einmal einige Fragen stellen.
Was die Konzessionsabgabe anbelangt, ist es vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte wirklich intelligent, klug oder verantwortlich, jetzt eine Sondergemeindesteuer für Durchleitungsrechte von Kabeln erheben zu wollen? Schaffen wir damit nicht möglicherweise und unzulässigerweise eine Wettbewerbslage, die schädlich ist? Kommt dann nicht eines Tages das, was wir gerne über Kabel gesendet hätten, über Satellit? Ist das nicht idiotisch, was wir da machen?
Reden Sie mit Ihren Kommunalpolitikern, reden wir mit unseren Kommunalpolitikern. Es darf diese
Konzessionsabgabe nicht geben. Dies ist eine neue Sondersteuer.
({2})
Können wir darüber reden, daß die Masse der neuen Technologien - das, was eben möglich ist - nicht dem Rundfunkrecht unterworfen wird?
({3})
Laßt uns das gemeinsam versuchen. Es handelt sich um ein ganz zentrales Problem, das nicht in die Provinzialität heruntergleiten darf. Es paßt nicht in das alte Schema der Rundfunkgesetzgebung. Es muß aus diesem Bereich herausgehalten werden. Laßt uns werbend bei den Ministerpräsidenten etwas tun. Das wäre wichtig für die zukünftige Gestaltung.
Sie haben in irgendeinem Ihrer Papiere das Insolvenzrecht angesprochen. Das ist für mich signifikant. Sie sagen dort: Wir begrüßen, daß es im Jahre 1999 kommt. Wissen Sie, was mein Problem ist? - Ich ärgere mich schwarz, daß es erst 1999 kommt. Darf ich Ihnen einmal sagen, warum es erst 1999 kommt? Nachdem wir es 1993 beschlossen haben, haben uns Ihre Länder mitgeteilt, sie könnten ihre Rechtspfleger nicht so schnell umerziehen, daß sie mit dem neuen Insolvenzrecht arbeiten könnten. Deswegen dürfe es erst 1999 anfangen.
So antworten wir auf Dinge, die heute mit einer Geschwindigkeit ablaufen, daß es uns schwindelig werden kann, wenn wir genau hinsehen. Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Ich fordere Sie also auf: Laßt uns eine gemeinsame Initiative in Richtung Bundesrat starten und einen Versuch unternehmen. Jedes Jahr, in dem das moderne, nicht auf Zerstörung, sondern auf Erhalten angelegte Insolvenzrecht früher in Kraft tritt, ist ein gutes Jahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Laßt uns das gemeinsam versuchen. Dann kommen wir weiter.
({4})
Herr Kollege Schauerte, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blunck.
Ja, gerne.
Bitte.
Würden Sie mir zugestehen, daß das Insolvenzrecht auf der Bundesratsebene deshalb zu Schwierigkeiten geführt hat, weil Sie in Ihrer Eigenschaft als Mehrheitsfraktion leider nicht bereit waren, den vereinfachenden Vorschlägen, die wir eingebracht haben, seinerzeit zuzustimmen, und daß durch die Kompliziertheit dieses Gesetzes die Erfordernisse an die Länder so gravierend sind, daß sie diese Notbremse gezogen haben?
Ich gebe zu, daß mich das genauso ärgert wie Sie. Wenn Sie vorher aber ein bißchen klüger gewesen wären und auf uns gehört hätten, dann wäre das etwas einfacher gewesen. Dann müßten Sie dies jetzt nicht beklagen.
Liebe Frau Kollegin, irgendeinen Grund gibt es immer. Ich habe mich nur konkret auf Ihren Antrag bezogen. In diesem Antrag begrüßen Sie das neue Insolvenzrecht ohne jede Einschränkung.
({0})
- Das stimmt. Schlagen Sie nicht die alten Schlachten!
Wenn es stimmt, daß Sie das begrüßen, dann lassen Sie es uns beschleunigen. Alles andere bedeutet, sich wieder hinter alten Argumenten zu verstecken. Das hilft in dieser Situation nicht.
({1})
Ich kann einige kritische, nachdenkliche Fragen an die SPD stellen. Wir wissen ja noch, wie es bei Einführung der Verkabelung in Deutschland gewesen ist. Wer hat denn damals Verkabelungsstopps verlangt? Wer hat sich denn gegen die Einführung von privaten Rundfunkgesellschaften gewehrt? Wer hat in einer Weise reglementiert, wie es in Nordrhein-Westfalen der Fall ist? Dort gibt es das ZweiSäulen-Modell, das bewirkt, daß diese nichts mehr dürfen. Daß dort überhaupt Wirtschaft stattfindet, wundert mich an dieser Stelle. Sie behindern das über weite Gesetzgebungsmaßnahmen.
Das Landesrundfunkgesetz von 1987 ist in Nordrhein-Westfalen mittlerweile achtmal novelliert worden. Dennoch ist die Geschwindigkeit der Entwicklung im Medienbereich schneller, als wir es überhaupt mit Novellen sein können. Deswegen meine Frage: Können Sie sich unseren Grundsätzen anschließen, wenn wir sagen: Wir wollen dieses Gesetzeswerk, das nun entwickelt wird, so schlank wie möglich halten.
Wir haben heute morgen eine Debatte geführt. Ich vermute, daß alle Punkte, die wir heute morgen angegriffen haben, irgendwann einmal entstanden sind, weil eine Mehrheit in diesem Parlament der Meinung war, das sei unbedingt nötig. Jetzt stehen wir vor einem neuen Quantensprung - so hat dies heute jemand ausgedrückt - und fangen mit neuen Gesetzen an, dies wieder zu reglementieren, in ein Korsett zu packen, es einzuschnüren und zu behindern. Laßt uns den Grundsatz fordern, das wirklich so frei wie möglich zu lassen.
Ich muß hier leider sagen: Die Liberalisierung, die wir bis heute in diesem Markt erreicht haben - Herr Mosdorf, ich setze auf Ihre wachsende Vernunft -, haben wir in den weitesten Streckenabschnitten gegen Ihren Widerstand durchsetzen müssen.
Ich sehe auch die Position der Grünen. Die Grünen legen in ihren Grundsätzen zunächst einmal eine
Umweltverträglichkeitsprüfung für alles, was in den neuen Medien läuft, fest.
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Traumhaft! Das ist eine Ihrer Forderungen.
Dann steht noch drin, daß Sie die Konzessionsabgaben wollen. Sie wollen also diese neuen Technologien, die umweltfreundlich sind und die Umwelt schützen helfen können, zunächst einmal mit einer neuen Steuer belegen: Konzessionsabgabe für die Gemeinden.
Damit Sie einmal sehen, wie technikfreundlich Sie sind, Herr Kollege, möchte ich Ihnen sagen, was hier noch drinsteht: Bis 1998 finden keine weiteren vorgezogenen Liberalisierungsmaßnahmen im Bereich von Post und Telekommunikation statt. Das ist ein Liberalisierungsstopp. Das heißt: Die Entwicklung läuft, die Welt atmet durch, und die Grünen sagen: Bis 1998 wollen wir gar nicht mehr darüber nachdenken, was wir tun. So kann man sich doch nicht diesen Herausforderungen stellen. Wir müssen das doch gemeinsam bekämpfen. Solch ein Unsinn darf doch nicht Methode werden.
({3})
Wissen Sie, welcher Vergleich sich mir hier aufdrängt? Sie behandeln die Einführung von Pilotprojekten bei neuen Medien wie Freilandversuche in der Biotechnologie. In beiden Fällen haben Sie bitter unrecht. Eines Tages werden Sie noch darüber wachen lassen, daß da nichts passiert. So können wir uns einer beschleunigten Entwicklung nicht stellen. Ich halte das für ein Armutszeugnis.
Wir wollen Politik und Gesellschaft bei dieser revolutionären Veränderung konstruktiv begleiten, die Chancen nutzbar machen - das werden wir sehr schnell gemeinsam unterschreiben können -, den Menschen Mut machen, die Möglichkeiten, die damit verbunden sind, zu ergreifen, den Wettbewerb intensivieren, Monopole brechen und neue verhindern.
Wir müssen uns aber auf einen Rahmen beschränken. Ich bin ganz sicher: Kein Produktionsgut, kein Wirtschaftsteil ist so sensibel gegen zuviel Reglementierung wie der, der mit der Informationsgesellschaft zusammenhängt. Schließlich gilt auch in diesem Bereich der alte Satz: Die Gedanken sind frei. Am nähesten an den Gedanken ist die Informationsgesellschaft. Sie ist hochsensibel. Laßt uns deshalb gemeinsam den Fehler -vermeiden, hier wieder zu streng heranzugehent
Wir wollen einige Grundsätze beachtet sehen, die hoffentlich im Multimediarahmengesetz, das wir nun bekommen, beachtet werden.
({4})
Das erste ist: so viel inhaltliche und wirtschaftliche Freiheit wie möglich. Das zweite ist: so viel nationale und europäische und, wo es erforderlich ist, weltweite Einheitlichkeit wie möglich.
Die Zeit, Herr Kollege!
- Ich komme zum Schluß. - Des weiteren also: so viel Vielfalt und Existenzgründung wie möglich; so wenig Regelung wie möglich; so wenig Provinzialismus wie möglich; und so wenig steuerliche Belastung wie möglich. Wenn wir entlang diesen Richtlinien versuchen, nun Dampf zu machen, dann laufen wir der Entwicklung nicht länger hinterher, sondern können sie möglicherweise an der einen oder anderen Stelle positiv beeinflussen und begünstigen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Glotz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schauerte hat einige berechtigte Fragen gestellt.
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Ich möchte zuerst zu dem Thema „Bund und Länder" etwas sagen. In der Tat reden wir im Rundfunkstaatsvertrag noch über die „Veranstaltung und Verbreitung einer Darbietung in Wort, Ton und Bild unter Benutzung elektrischer Schwingungen" . Damit haben wir noch eine Regelung, die technisch eigentlich überholt ist. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, daß es auf die Dauer keinen Sinn macht, zu 15 Medienanstalten gehen zu müssen, um etwa eine Genehmigung für Teleshopping zu bekommen. Deshalb müssen wir zu einem Ergebnis kommen.
({1})
Zu einem solchen Ergebnis kommt man allerdings nur durch vernüftige Verhandlungen mit den Ländern - vielleicht sogar zu dem Ergebnis einer Gemeinschaftsaufgabe durch eine Verfassungsänderung. Ich weiß es nicht. Jedenfalls erreicht man das nur durch vernünftige Verhandlungen und nicht durch gegenseitige Beschimpfungen.
({2})
Damit kommt man nicht zu einem Ergebnis. Herr Kollege Schauerte, lassen Sie uns mit den ollen Kamellen aufhören. Natürlich hat es in den 70er Jahren SPD-Äußerungen zu Medien gegeben, die Sie mir vorhalten können; auch ich kann irgend etwas finden, was ich Ihnen vorhalten kann. Aber die Wirtschaft hat es endgültig satt, daß sich die Parteien gegenseitig Vorwürfe aus der Vergangenheit machen. Sie will, daß jetzt etwas passiert und jetzt etwas geregelt wird.
({3})
- Wenn das hervorragend ist, dann kann ich nur sagen, lieber Herr Laermann: Sie haben ja recht, vieles ist im Geschäftsgang. Sorgen Sie endlich einmal dafür, daß es aus dem Geschäftsgang herauskommt und in die Wirklichkeit transplantiert wird. Das ist doch entscheidend.
({4})
Auch mir haben die Vorstellung und die Rede der Kollegin Yzer - Herr Dregger hat immer freundlichväterlich geschmunzelt - Vergnügen bereitet. Aber es gab auch Teile, in denen sie so richtig Klassenkampf im Armani-Schal betrieben hat. Lüdenscheider Hinterzimmer! Als ob die SPD nicht begriffen hätte, daß Unternehmen Gewinne machen müssen! Das ist wirklich dummes Zeug.
Riskieren wir doch einmal einen konkreten Vorschlag. In Deutschland wird viel über die Änderung des Erbschaftsrechts diskutiert. Dabei geht es, wie Sie wissen, bei einigen um gewaltige Beträge. Warum lassen Sie den Erben nicht die Möglichkeit, sich ein Stück vor dem Fiskus zu drücken, wenn sie einen Teil des Erbes in junge Technologiefirmen investieren? Warum entlassen wir junge Technologiefirmen nicht nach israelischem Muster für eine begrenzte Zeit aus der Körperschaftsteuer? Warum senken wir nicht die Steuer auf Veräußerungsgewinne von institutionellen Anlegern, die geduldig über einen längeren Zeitraum in junge Technologiefirmen investiert haben?
Ich kenne die Argumente der Experten genauso wie Sie. Ich vermute, unsere Haushaltsleute werden dann auf allen Seiten Bedenken erheben. Ich glaube, die Deckung, die die Haushaltsleute zu Recht anmahnen, liegt in den Wachstumschancen für künftige Steuerzahler. Es wird allmählich Zeit für die Erkenntnis, daß niemand Steuern von Unternehmen erwarten kann, die es gar nicht gibt, weil ihnen unser Steuersystem keine Chance läßt.
Wenn das so ist, dann können Sie nicht sagen: Die SPD, die SPD, die Opposition! Ich bedauere es ja, aber Sie sind doch inzwischen fast 14 Jahre an der Regierung. Sehen Sie also, Herr Kollege Laermann, zu, daß es aus dem Geschäftsgang herauskommt und daß etwa zu den steuerlichen Lösungen ein Vorschlag auf den Tisch kommt. Wenn die SPD den dann ablehnt, dann prügeln Sie uns. Aber machen Sie die entsprechenden Vorschläge! Daß wir die gemeinsame Rhetorik haben, hilft uns nicht mehr weiter. Wir müssen jetzt zu Handlungen kommen, sonst geht dieser Staat mit seiner Wirtschaft langsam nach unten.
({5})
Ich habe gestern wie Herr Rüttgers die Eröffnung der Cebit miterlebt. Der Tatbestand ist allen Leuten klar: Serien von Studien aus den letzten Jahren zeigen, daß wir in Deutschland in zunehmendem Maße von den technischen Errungenschaften der Vergangenheit leben. Diese sind in Wirtschaftszweigen enthalten, die etabliert sind und typischerweise jährliche Umsatzwachstumsraten haben, die kleiner als zehn Prozent sind, Herr Kollege Kiper. Junge Hochtechnologien etwa auf der Basis der Mikroelektronik haben typischerweise jährliche Umsatzwachstumsraten von 30 Prozent. Diese sind in Deutschland im internationalen Vergleich schwach vertreten.
Wie die Lage, mit der wir uns nicht abfinden dürfen, ist, hat Hans Weinerth, der Chef von Sican, einer der besten Kenner der Mikroelektronik in Deutschland, gestern in einer großen Rede gesagt. Ich zitiere wörtlich:
Deutschland hat ausgesprochen schlechte Ausgangsbedingungen für Firmengründungen. Dies ist seit Jahren wohlbekannt. Alle bisherigen Lösungsansätze waren aber nicht durchschlagend. Schon die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel behindert häufig das Entstehen von Unternehmen.
Das ist die Situation. Die müssen wir gemeinsam ändern, sonst werden wir alle miteinander unglaubwürdig, meine Damen und Herren.
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Jetzt sage ich zum Schluß: Dazu gehören auch ein Stück symbolische Politik und Einsatz von oben. Daß Herr Rexrodt kein Mittelstürmer ist - er ist gerade gegangen; er hat uns das vorher gesagt -, ist bekannt. Leider ist der Herr Kollege Rüttgers zu konfliktscheu, zu schmierseifenhaft glatt und zu pflegeleicht.
({7})
Man kann in der jetzigen Situation nur mit Konflikten weiterkommen.
In den Vereinigten Staaten haben vor wenigen Tagen Clinton und Gore gemeinsam eine Aktion - wie „Schulen ans Netz' - betrieben und symbolisch eröffnet. Der Präsident und der Vizepräsident haben es gemeinsam getan. Da müßte auch bei uns, meine Damen und Herren, von der Spitze der Regierung die entsprechende Vermittlungskompetenz der Regierung gegenüber der Wirtschaft eingesetzt werden. Aber der Bundeskanzler ist eher ein Symbol des erdenschweren Status quo, als daß er etwas in Bewegung setzt.
({8})
Helmut Kohl symbolisiert auf vitale Weise die Stabilität, aber er symbolisiert den Stillstand und nicht das Weitergehen. Wenn Sie das nicht ändern, dann werden wir die 16 Gesetze, die wir gemeinsam ändern müssen, und die vielen Bedenken der Haushaltsexperten nicht wegwischen. Wenn wir es nicht wegwischen, dann werden wir auch das Problem der Arbeitslosigkeit mit schon 4,3 Millionen registrierten Arbeitslosen nicht bewältigen, und dann versagt dieser Bundestag. Wir sollten gemeinsam schauen, daß wir nicht versagen, meine Damen und Herren.
({9})
Das Wort hat der Kollege Erich Maaß, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Glotz! Viele Passagen, die Sie soeben geäußert haben, möchte ich mit unterschreiben, und ich werde sie bei passender Gelegenheit einfordern. Ich erinnere aber auch an Ihre Appelle, daß wir mit gegenseitigen Beschimpfungen aufhören sollten. Und ich finde es nicht gerade angebracht, in dieser Situation eine unflätige Bemerkung über Jürgen Rüttgers zu machen. Das paßt nicht in diese Debatte. Ich finde das nicht gut, Herr Glotz.
({0})
Wir können nicht auf Schmusekurs gehen und in gleichem Atemzug wieder austeilen. So etwas läuft nicht.
Jetzt möchte ich an folgendes erinnern: Ich versetze mich in die Lage der Bürger, die auf der Besuchertribüne sitzen, die partiell die Nase von einem solchen Debattenstil voll haben. Die fragen: Was macht ihr eigentlich da unten? Die Probleme sind offenkundig. Wir wollen sie korrigiert haben, und dann geht es in eine ekelhafte Beschimpfung über.
Meine Damen und Herren, ich werde jetzt einmal konkret. Wenn wir gemeinsam nach vorne arbeiten wollen - dazu sind Sie herzlich eingeladen -, dann sorgen Sie bitte dafür, wie gestern morgen im Ausschuß für Forschung und Technologie, als das Thema Transrapid anstand, daß Innovation, eine Spitzentechnologie, von Ihnen nicht gekippt wird. Sie sprechen sich gegen diese Spitzentechnologie aus. Sie sprechen sich damit gegen die Arbeitsplätze aus. Sie sprechen sich damit gegen Umweltschutz aus, meine Damen und Herren. Das ist eine flacksche Technologie. Ich lade Sie ein, sich dazu zu äußern.
({1})
Ein wenig lernfähiger zeigt sich Herr Kiper in dieser Situation. Ich wünsche Ihnen viel Glück, daß Sie endlich die Kraft haben, sich in Ihrer Partei so durchzusetzen, daß auch positive Zeichen für Gentechnologie herüberkommen.
Meine Damen und Herren, jetzt bleiben wir einmal beim Tagesgeschehen: Es nutzt doch nichts, wenn wir hehre Worte reden und die Realität ganz anders aussieht.
({2})
Ich nehme Ihr Verhalten und Ihren Antrag. Herr Glotz, ich nehme Sie beim Wort. Was haben wir vor drei Jahren gemacht? - Wir haben gefordert: Technologie- und Innovationspolitik muß Chefsache werden. Wir haben den Rat für Technologie und Innovation beim Bundeskanzler installiert; Siegmar Mosdorf hat es unterstützt. Dann wurde geunkt und gesagt: Nein, da kommt ja sowieso nichts; da passiert nichts. Jetzt gibt es diesen Rat; er hat endlich vernünftige Beschlußempfehlungen zustande gebracht. Das muß doch einmal anerkannt werden.
Was lese ich in Ihrem Antrag unter Punkt 3?
Strategische Innovationsentscheidungen ... dürfen heute nicht mehr allein einer kleinen und exklusiven Elite von Beamten, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Managern überlassen werden .. . Erforderlich ist dagegen ein breiter öffentlicher Dialog über Risiken und Chancen neuer Technologien .. .
Allein die Reihenfolge, erst Risiken, dann Chancen, ist bemerkenswert.
Ich würde mich freuen, Herr Mosdorf, wenn Sie diesen Rat unterstützen würden. Oder wollen Sie etwa in dieser Republik Innovationspolitik mit basisdemokratischen Zügen machen?
({3})
Das ist doch eine Sackgasse, in die wir hineingeführt werden.
Ich darf einen weiteren Punkt anführen. Welchen Blödsinn haben wir denn in der Vergangenheit gemacht? Davon spreche ich mich gar nicht frei. Wir waren glücklich, das tollste Gentechnikgesetz geschaffen zu haben. Wir haben gesagt: Am deutschen Wesen muß alles genesen. Die europäischen Partner haben gesagt: April, April; wir machen das überhaupt nicht mit. Laßt die Deutschen doch das Gesetz durchführen. - Wir werden über die Europäische Union verklagt. Die anderen europäischen Partner werden noch aufgefordert, ein Gesetz zu erlassen. Wir leiden darunter, daß wir unsere Wettbewerbsfähigkeit selbst beschnitten haben. Das hatte die Konsequenz, daß wir in bezug auf die Gentechnologie den Wissenschafts- und den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtgemacht haben.
({4})
Jetzt beginnen wir die riesige Aufholjagd. Ich bitte Sie, das einmal zu akzeptieren und zu honorieren.
Natürlich wollen wir „Bio-Regio" durchführen. Wir brauchen die Breitenwirkung in den Regionen. Darin unterscheiden wir uns, Herr Kiper. Wir Christdemokraten unterscheiden uns hier auch von Sozialdemokraten, wie wir denken. Die Regierung des Freistaats Bayern hat den Mut, sich hinzustellen und zu sagen: Der gesamte Freistaat Bayern ist eine BioRegion. Was erlebe ich in Niedersachsen? Man konzentriert sich nur auf das Dreieck Göttingen-Hannover-Braunschweig. Die gesamte Region an der Küste wird von der Landesregierung nicht mehr unterstützt. Daran sehen Sie, wie hasenfüßig Technologie- und Innovationspolitik von den Roten und den Grünen betrieben wird.
({5})
Eine weitere Frage, die ich stellen möchte: Wie sieht es denn mit den Freisetzungen aus? Es ist doch blamabel, wenn man uns in öffentlichen Diskussionen vorhält: Ihr Deutschen habt drei oder vier oder fünf Freisetzungen; ihr seid auf dem Stand von Zaire, einem Entwicklungsland. - Das muß uns doch zu
Erich Maaß ({6})
denken geben. Überwinden Sie bitte Ihre Scheu; helfen Sie mit! Dabei handelt es sich um Innovationspotentiale, die wir gemeinsam erschließen können und müssen.
({7})
Ein weiterer Punkt ist, daß Sie bitte anerkennen müssen - was Sie leider nicht immer getan haben; das hat mich furchtbar gestört -, daß wir in den letzten Jahren dafür Sorge getragen haben, daß der Forschungshaushalt aus den bekannten Gründen zumindest nicht weiter beschnitten wurde. Er hat leider nicht die Zuwächse erhalten, die wir uns gewünscht haben. Das ist mit der Maßgabe geschehen, daß wir großen Wert auch darauf legen müssen, innerhalb dieses Forschungshaushaltes gewaltig umzustrukturieren. Das tun wir zur Zeit. Wenn man uns heute vorhält und der Öffentlichkeit vorgaukelt, daß das nur mit Geld zu machen ist, kann ich nur sagen: April, April; das läuft nicht, das kommt nicht rüber.
({8})
- Doch. - Wir müssen versuchen, das mit innovativen Ideen und durch die Setzung von Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist genau der Punkt; da sind wir ja auch nicht auseinander, wenn wir über Risikooder Venture-Capital sprechen.
Nur, meine lieben Freunde, Sie müssen auch bitte eines sehen: Teilweise handelt es sich um Fragen der deutschen Mentalität, die auch durch die Politik nicht korrigiert werden können. Gehen Sie einmal in die USA: Wenn dort ein Jungunternehmer auf die Nase fällt und pleite macht, dann ist er nicht sein Leben lang stigmatisiert. Vielmehr heißt es, wenn er etwas Neues anfängt: Jawohl!
({9})
In bezug darauf können wir von der Politik doch kaum etwas machen; hier in diesem Haus können wir nur Vorbild sein.
({10})
Ich will noch einmal den Unterschied .zwischen Wahrheit und dem Schein, der hier erweckt wird, am Beispiel Niedersachsen deutlich machen. Die Ergebnisse rot-grüner Politik sind: Der Haushalt in Niedersachsen ist heruntergefahren, kaputtgefahren. Im Herbst letzten Jahres wurde das Hochschulstrukturgesetz verabschiedet. 840 Stellen sollen dort gestrichen werden. Das bedeutet: 54 Millionen DM müssen jährlich aufgebracht werden, weil man dieses Geld braucht.
({11})
Uns wirft man das vor. Dagegen sage ich: Dort wird mit Kahlschlagpolitik Zukunft vernichtet.
Liebe Freunde, wer selbst im Glashaus sitzt, sollte bitte nicht mit Steinen werfen. Sorgen Sie bitte dafür, daß in den SPD-regierten Ländern tatsächlich auch das getan wird, was Sie hier in hehren Reden im
Deutschen Bundestag von sich geben. Lassen Sie uns wieder zu mehr Wahrhaftigkeit kommen, damit wir Wege in die Zukunft aufzeigen können. Das begreift auch der Bürger. Dann haben wir in dieser Demokratie einen guten Beitrag geleistet.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3979, 13/3302 und 13/4000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 13/4089 soll an dieselben Ausschüsse wie der Bericht überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({0}), Halo Saibold, Gila Altmann ({1}), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit im internationalen Luftverkehr
- Drucksache 13/4080 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, diesen Antrag an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt kommen die Tagesordnungspunkte 12a bis 12j. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rolf Schwanitz, Jelena Hoffmann ({3}), Hans-Joachim Hacker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Bergrechts nach der deutschen Einheit
- Drucksache 13/3625 - ({4})
- Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten, Vera Lengsfeld und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einVizepräsident Hans-Ulrich Klose
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der fortgeltenden Rechtsvorschriften des Berggesetzes der Deutschen Demokratischen Republik
- Drucksache 13/3489 - ({5})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({6})
- Drucksache 13/4003 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold Jelena Hoffmann ({7})
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({8})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Dr. Susanne Tiemann, Christian Lenzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jürgen Türk, Paul K. Friedhoff, Ulrich Heinrich, Günther Bredehom und der Fraktion der F.D.P.
Anpassung des Bergrechts
- zu dem Antrag der Abgeordneten Vera Lengsfeld und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Neuregelung des Bundesbergrechtes
- Drucksachen 13/2359, 13/787, 13/4003 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold Jelena Hoffmann ({9})
Der Ausschuß empfiehlt einvernehmlich, die Gesetzentwürfe auf Drucksachen 13/3625 und 13/3489 sowie die Anträge auf Drucksachen 13/2359 und 13/787 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 12c:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag des Abgeordneten Manfred Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz über Reisen des Bundestages gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern ({10})
- Drucksachen 13/1014, 13/3682 Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/3682 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Beschlußempfehlung des Ältestenrates zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Drucksache 13/3682 Nr. 2. Der Ältestenrat empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1014 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 12d:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Verbesserung der Schiffssicherheit und der Gefahrguttransporte auf See
- Drucksachen 13/1279, 13/1616 Nr. 1, 13/3440 -
Berichterstattung: Abgeordneter Konrad Kunick
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltungen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkte 12e bis 12i:
e) Beratung der 12. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 111 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/3924 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Erika Simm
f) Beratung der 13. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 110 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/3925 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm Clemens Schwalbe
g) Beratung der 14. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 85 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/3926 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Schwalbe Norbert Geis
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
h) Beratung der 15. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 47 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/3927 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier
Jörg van Essen
Erika Simm
Clemens Schwalbe
Norbert Geis
i) Beratung der 16. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu 43 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 13/3928 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier
Jörg van Essen
Erika Simm
Clemens Schwalbe
Norbert Geis
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 12j:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 108 zu Petitionen
- Drucksache 13/3999 Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksachen 13/4094 bis 13/4096, Sammelübersichten 110 bis 112, zu erweitern. Über die Vorlagen soll jetzt gleich ohne Aussprache abgestimmt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen jetzt also zu den soeben aufgesetzten Zusatzpunkten 15a bis c:
ZP15 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({13})
Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 15 a auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 110 zu Petitionen
- Drucksache 13/4094 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 15b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 111 zu Petitionen
- Drucksache 13/4095 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion sowie der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 15c auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 112 zu Petitionen
- Drucksache 13/4096 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen?
- Die Sammelübersicht 112 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Strafrechtlicher Schutz des Eigentums und des Vermögens
- Drucksache 13/4064 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({17}) Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
ZP5 Beratung des Antrags des Abgeordneten Volker Beck ({18}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Entkriminalisierung des Ladendiebstahls, Schwarzfahrens und der Fahrerflucht bei Sachbeschädigung
- Drucksache 13/2005 - Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({19}) Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({20}), Gerald Häfner, Kerstin Müller ({21}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Idee des Täter-Opfer-Ausgleichs stärken und Effizienzsteigerung der Justiz bei der Verbrechensbekämpfung durch Konzentration auf schwerwiegende Rechtsverletzungen entlasten
- Drucksache 13/4078 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Schutz vor Kriminalität, der Schutz der Rechtsgüter des einzelnen-- Leben, Leib, Freiheit, Eigentum - zählt zu den Kernerwartungen, die die Bürger an ihren Staat haben.
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Das ist übrigens auch ein ganz wesentlicher Sinn der Debatte um den schlanken Staat, die wir heute morgen geführt haben: den Staat von unnötigen Aufgaben zu befreien, damit er bei den Aufgaben, für deren Erledigung er unverzichtbar ist und die er dringend zu erledigen hat, um so wirksamer handeln kann. Darum geht es uns auch bei der jetzigen Debatte.
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Die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger, die Bekämpfung der Kriminalität zählt ganz sicher an vorderster Stelle zu den unverzichtbaren Aufgaben des Staates. Wir wollen den schlanken Staat, der stark ist, wenn es um die Freiheit und die Sicherheit der Bürger in diesem Land geht, meine Damen und Herren.
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Hier verläuft auch die Trennlinie zu Rot-Grün. Sie fordern an jeder Stelle Handeln des Staates, Verantwortung des Staates. Der Staat soll sich um alles kümmern und sorgen, alles regulieren und kontrollieren. Aber ausgerechnet bei der Aufgabe, den Bürger vor Massenkriminalität zu schützen, fordern Sie, daß der Staat zurückstehen und sich nicht des Mittels des Strafrechts bedienen soll.
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Meine Damen und Herren, dies ist gleichzeitig eine groteske Über- und Unterforderung des Staates an der jeweils falschen Stelle, die wir nicht mitmachen.
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Sie wollen, daß der Staat wegschaut, wenn gestohlen wird.
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Wir wollen das Eigentum uneingeschränkt schützen.
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Dazu gibt es ein flexibles Instrumentarium im geltenden Recht - Sie wissen das -: verschiedene Formen der Einstellung, beschleunigtes Verfahren, Strafbefehlsverfahren bis zur ordnungsgemäßen Anklage. Damit kommt die Praxis auch gut aus. Von der Praxis her besteht kein Bedürfnis nach Entkriminalisierung, meine Damen und Herren.
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Ich möchte aber genauso sagen, daß wir uns durchaus kritisch dafür einsetzen, das Eigentum noch wirksamer zu schützen, als es bislang der Fall ist. Wir fordern erstens, daß endlich Schluß sein muß mit der faktischen Entkriminalisierung, die Sie in den Ländern betreiben, in denen Ihre Justizminister die Staatsanwaltschaften anweisen, bei bestimmten Formen der Kleinkriminalität überhaupt nicht mehr einzuschreiten, wie es beispielsweise in NordrheinWestfalen gehandhabt wird. Damit muß Schluß sein!
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Zweitens, meine Damen und Herren, müssen wir das Ziel verfolgen, daß insbesondere geständige Täter, die auf frischer Tat erwischt werden, möglichst schnell vor den Richter kommen und hier keine langen Verfahren durchgeführt werden. Das kann die Praxis im Grunde auch,
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aber es hakt daran, daß schnell verfügbare Daten über die Täter, beispielsweise Daten über mögliche Vortaten, nicht vorhanden sind. ({10})
Das wirkt sich natürlich bei der Reaktion des Staates, der Strafzumessung, aus. - Deshalb hat die Koalition im Jahr 1994 im Verbrechensbekämpfungsgesetz ein besonderes Instrument eingeführt,
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das sogenannte länderübergreifende Staatsanwaltschaftliche Informationssystem, meine Damen und Herren. 1994 wurde dieses Instrument eingeführt, weil es wichtig ist, Informationen und Daten über den Täter zu haben, um schnell handeln zu können. Jetzt haben wir 1996, und dieses Informationssystem gibt es in der Praxis immer noch nicht.
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Wenn man fragt, wie lange es noch dauern wird, dann hört man, erst 1998, 1999 werde es kommen.
Woran liegt es, daß dieses wichtige Instrument nicht kommt?
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Das liegt daran, daß in manchen Ländern, in sozialdemokratisch regierten Ländern, an der Justizpolitik in unverantwortlicher Weise gespart wird, meine Damen und Herren.
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Es fehlt an der EDV-Ausstattung der Gerichte. In Bayern läuft es vorbildlich; das Saarland gibt auch an dieser Stelle wieder das Schlußlicht ab. Hier drückt sich der Stellenwert der Justizpolitik aus, wie man klar sehen kann. Sie sparen an der falschen Stelle, meine Damen und Herren.
Wenn es Ihnen wirklich um Effektivität der Justiz geht, dann fordere ich Sie auf: Handeln Sie dort, wo Sie handeln können, wo Sie Verantwortung tragen! Wenn Sie dort weiterhin versagen, wie Sie es seit Jahren tun, dann haben Sie nicht das Recht, hier über die Entlastung und die Effektivität der Justiz zu sprechen.
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Es ist diese fatale Kombination von unverantwortlichem Sparen am Rechtsstaat und Abbau strafrechtlicher Schutzvorschriften, die wir nicht mitmachen.
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Es wird ein zweiter Begründungsversuch unternommen. Sie sagen, man müsse sich auf die schwere Kriminalität konzentrieren; deshalb brauche man es bei der kleinen Kriminalität nicht so genau zu nehmen. Meine Damen und Herren, ich frage im Ernst: Wie soll der Staat glaubwürdig schwere Kriminalität verfolgen, wenn er nach Ihren Vorstellungen bereits beim Ladendiebstahl kapitulieren soll? Das ist nicht möglich.
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Es ist im Ansatz verfehlt, die eine Kriminalität gegen die andere Kriminalität auszuspielen. Kriminelle Karrieren fangen nicht alle bei Mord und Totschlag an.
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Die Gesellschaft wird auch im kleinen geprägt. Auch im kleinen werden Maßstäbe von Recht und Unrecht ausgeprägt, wird das Klima der Gesellschaft geschaffen. Wir wollen verhindern, daß es beim Ladendiebstahl anfängt und beim bewaffneten Raubüberfall aufhört, meine Damen und Herren,
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und darum brauchen wir die general- und spezialpräventive Wirkung des Strafrechts, auf die Sie verzichten wollen.
Im übrigen betreiben Sie eine völlig deplazierte Bagatellisierung dieser Massenkriminalität. Natürlich sind das im einzelnen kleine Fische - das will kein Mensch bestreiten -, aber Bedeutung gewinnt diese Kriminalität dadurch, daß sie ein Massenphänomen ist.
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Im Jahr 1993 hat allein der Ladendiebstahl 10 % der erfaßten Kriminalität insgesamt ausgemacht. 10 % der gesamten Kriminalität allein Ladendiebstahl! Der Einzelhandelsverband schätzt den jährlichen Schaden, der eintritt, auf 4 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, was Sie hier vorschlagen, ist eine unverantwortliche Verharmlosung dieser Kriminalität. Sie wollen diese Kriminalität so behandeln, wie wenn jemand falsch geparkt hat. Auf diesem falschen Wege machen wir nicht mit.
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- Das wird nicht bestraft; das ist eine Ordnungswidrigkeit. Mit dem geltenden Recht kennen Sie sich offenbar nicht so gut aus.
Ich komme jetzt zu dem für meine Begriffe entscheidenden Gesichtspunkt, der eigentlich jenseits der engeren Justizpolitik liegt. Das ist die Frage nach der gesellschaftspolitischen Wirkung der Entkriminalisierung. Welchen Effekt hat das denn, meine Damen und Herren?
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Was heißt es denn, wenn Ladendiebstahl, Schwarzfahren und andere Delikte so um sich greifen, daß man von einem Massenphänomen sprechen muß? Darin drückt sich doch der gesellschaftliche Trend aus, daß es in unserer Gesellschaft immer mehr akzeptiert wird, daß sich der einzelne auf Kosten anderer und auf Kosten der Gesellschaft seinen Vorteil einfach nimmt.
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Dem müssen wir entgegentreten. Sie sagen: Weil dies ein Massenphänomen ist, soll sich der Staat darum nicht kümmern. Wir sagen: Gerade weil es ein Massenphänomen ist, müssen wir uns diesem Trend mit den Mitteln des Staates entgegenstemmen und dürfen nicht einfach hinnehmen, was sich dort tut.
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Das Fatale an der Entkriminalisierung ist, daß sie einen Verzicht auf Veränderung der Wirklichkeit bedeutet. Sie verhindern nicht eine einzige Straftat!
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Sie verzichten darauf, die Veränderung der Gesellschaft und der Wirklichkeit herbeizuführen. Sie wollen über die Wirklichkeit nur anders reden. Sie wollen Statistiken beschönigen. Wir wollen die WirklichNorbert Röttgen
keit verändern. Das ist der entscheidende Unterschied zu Ihnen.
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Insgesamt, meine Damen und Herren, finden die Vorschläge von SPD und Grünen, Frau DäublerGmelin,
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bei dem ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung keine Zustimmung. 85 Prozent der Bevölkerung sagen nach einer Allensbach-Umfrage, daß sie diese Vorschläge von SPD und Grünen ablehnen. Mehr als zwei Drittel Ihrer Wählerschaft sagen das genauso, meine Damen und Herren. Es ist Ihnen noch nicht gelungen, das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung zu irritieren, obwohl Sie immer wieder Vorstöße zur Entkriminalisierung machen. Die Bevölkerung lehnt diese Vorschläge ganz überwiegend ab. Die Bevölkerung ist der Auffassung, daß nicht nur die Themen Wirtschaft und Arbeit, sondern auch die Themen des Rechtsstaates, die Themen von Freiheit und Sicherheit bei Rot-Grün in schlechten Händen sind.
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Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je näher der Wahltag, desto dümmer manche Anträge. Die Koalition auf Bundesebene wird immer handlungsunfähiger. Deshalb verlegt sie sich inzwischen darauf, in ihren Anträgen die Länder anzuweisen, was sie zu tun und zu lassen haben.
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Dreimal innerhalb von sieben Tagen erleben wir das gleiche Spiel: letzte Woche Verkehrspolitik, morgen Religionsunterricht; heute ist die Justiz dran.
Bei der F.D.P. ist das verständlich, Herr van Essen. Mangels Vertretung in den Landtagen bleibt Ihnen für die Landespolitik tatsächlich nur noch das Forum des Deutschen Bundestages. Aber dieser Schabernack ist ein Mißbrauch des Parlaments zu Wahlkampfzwecken.
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Worum geht es Ihnen heute? Die Union und ihr rechtsliberaler Arbeitskreis fordern die Länder auf, Ladendiebstahl und Beförderungserschleichung mit allen „zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln nachdrücklich zu verfolgen" .
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Kleine Ladendiebe und Schwarzfahrer massenhaft in
den Knast - darauf sollen sich Polizei und Justiz stürzen, sonst ist der Rechtsstaat in Gefahr. So ein bodenloser Unsinn!
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Was Sie fordern, heißt im Volksmund: Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen.
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Niemand will, daß bei der sogenannten Bagatellkriminalität eine Verletzung des Rechts auf Eigentum oder Vermögen sanktions- oder straflos bleibt. Aber wir wollen die Arbeit von Justiz und Polizei nicht wegen geklauter Zahnpastatuben oder geklauter Lippenstifte lahmlegen; sonst bekommen sie die Schneiders und ähnliche Kaliber zu spät oder gar nicht mehr zu fassen.
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Wir wollen eine Konzentration auf die wirklich schwerwiegenden Rechtsgüterverletzungen: auf Gewaltverbrechen, auf Umwelt- und Wirtschaftskriminalität. Nur durch Konzentration auf das Wichtige werden wir zu einer Effizienzsteigerung bei der Verbrechensbekämpfung kommen.
Wir wollen in einigen Rechtsbereichen den Gedanken „Wiedergutmachung vor Strafe" in den Vordergrund stellen. Das nützt dem Opfer der Straftat und setzt Ressourcen bei der Justiz frei.
Nun zum Ladendiebstahl bis 250 DM: Bei Ersttätern soll man ohne Strafverfahren auskommen, wenn der Täter die Sache zurückgibt und noch einmal die gleiche Summe als Schadensersatz drauflegt. Der Diebstahl kommt den Dieb so also teuer zu stehen. Davon haben das Kaufhaus und besonders der Tante-Emma-Laden allemal mehr, als wenn der Bursche eine kleine Bewährungsstrafe aufgebrummt bekommt.
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Herr Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?
Gerne.
Herr Kollege, ist Ihnen eigentlich bekannt, wieviel Prozent der Ladendiebstähle Waren im Wert von mehr als 100 DM betreffen? Und wie hoch schätzen Sie die Summe, die der Ladendiebstahl den deutschen Einzelhandel neben der Tatsache, daß Waren im Wert von 4 Milliarden DM gestohlen werden, dadurch kostet, daß zum Beispiel Sicherungsmaßnahmen ergriffen werden müssen?
Erstens. Drei Viertel der Ladendiebstähle, Frau Kollegin, beziehen sich auf Waren mit einem Wert von unVolker Beck ({0})
ter 100 DM. Es handelt sich also zum großen Teil um Lappalien.
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- Lassen Sie mich bitte ausreden!
Zweitens besteht das Problem, daß die Leute beim Ladendiebstahl zum Teil eine geringere Hemmschwelle haben, weil ihnen, anders als früher, in der Kaufsituation kein Mensch gegenübersteht, sondern sie anonym in einem Supermarkt kaufen und es dort keine ausreichende Kontrolldichte gibt. Der Einzelhandel wälzt die Kosten für notwendige Sicherungsmaßnahmen und Personal auf den Rechtsstaat ab. Die Leute sind nicht schlechter geworden; die Situation im Einzelhandel hat sich einfach verändert. Ich sehe nicht ein, daß der Staat die Kontrolle in Läden übernehmen
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und das bezahlen soll, was eigentlich von den Unternehmen selber zu leisten ist.
Ich befürworte in keiner Weise, daß man im Laden klaut; das ist selbstverständlich.
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- Sie unterstellen uns ja, wir wollten dafür Akzeptanz schaffen. - Aber man sollte einfach nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen.
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Deshalb rate ich Ihnen, sich ernsthaft zu überlegen, ob das, was Sie hier vorschlagen, wirklich realitätstauglich ist. Prüfen Sie einmal nach, auch bei den Staatsanwaltschaften in Baden-Württemberg und Bayern, wann das Verfahren nach § 153 StPO eingestellt wird und ob die Praxis in rot-grün regierten Ländern wirklich so sehr von der in Ländern mit anderen Regierungen abweicht.
Ich glaube, die Länder haben alle das gleiche Problem: daß sie in der Justiz realitätstaugliche Konzepte verfolgen müssen, weil die Arbeitsbelastung durch Bagatellkriminalität sonst nicht zu bewältigen ist. Ich meine, wir müssen für diese Bagatellkriminaiität andere, intelligentere, die Opfer schützende Maßnahmen durchsetzen. Das Strafrecht ist eine der primitivsten Keulen.
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Deshalb sollten wir in diesem Bereich davon lassen, wenn uns intelligentere Vorschläge einfallen. Wir haben einige davon auf den Tisch gelegt, und die werde ich im weiteren erläutern.
Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß Sie mit der Beantwortung fertig sind. - Jetzt muß ich Sie fragen, ob Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Lippold beantworten wollen.
Wenn er nicht Statistiken abfragt: Ich habe nicht alle Zahlen mitgebracht.
Ich weiß nicht, was er fragt, und Sie wissen es auch nicht. Sie können nur ja oder nein sagen.
Ich lasse sie zu.
Herr Kollege, ich werde Sie nicht mit Statistiken behelligen. - Gehe ich recht in der Annahme, daß ich Ihre Aussage, so wie Sie sie gerade dargestellt haben, richtig zusammenfasse in dem Satz: Der beklaute Einzelhändler ist selbst schuld?
Nein, das ist völliger Quatsch. Aber wir müssen für diesen sozialen Konflikt ein intelligenteres Lösungsmodell vorschlagen. Wenn er schuld wäre, würden wir keine Wiedergutmachungsregelung vorschlagen. Es ist einfach infam, wegen einer zivilrechtlichen Wiedergutmachungsregelung, die das Absehen von Strafe ermöglichen soll, zu behaupten, wir wollten dem Einzelhändler die Schuld am Diebstahl geben.
Aber ich muß den Einzelhandel an seine Verantwortung erinnern: Er kann die Läden nicht ohne Personal dastehen lassen. Sonst sinkt für Teile der Bevölkerung in der Tat die Hemmschwelle, sonst wird das Unrechtsbewußtsein geringer. Sie wissen genau, daß der Grund dafür, daß der Unrechtsgehalt bei der Beförderungserschleichung kein Strafrecht mehr rechtfertigt, darin liegt, weil es heute keine Kontrolleure mehr gibt. Man kann den Fahrschein doch auch einmal vergessen. Sie müssen sich einfach auf die neue Realität einstellen. Dieser veränderten Realität muß auch das Recht Rechnung tragen.
Jetzt möchte ich in der Darstellung unserer Vorschläge fortfahren und keine Zwischenfragen mehr zulassen.
Unser zweiter Vorschlag betrifft die Fahrerflucht bei Sachbeschädigung. Wir wollen die Fahrerflucht bei Sachschäden um einen Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue ergänzen. Hierdurch wollen wir Unfallverursachern, die sich nach einem Blechschaden in einer Kurzschlußhandlung vom Unfallort entfernen, einen Anreiz schaffen, sich doch noch bei dem Geschädigten oder der Polizei zu melden. Wer das spätestens 24 Stunden nach einem Unfall tut, den wollen wir nicht mehr wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort bestrafen. So kann das Unfallopfer wenigstens seinen Schaden ersetzt bekommen. Das ist eine echter Gewinn für die Opfer.
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- Nur, wenn Sie eine Vollkaskoversicherung haben. Ansonsten ist der Schaden doch nicht versichert.
Volker Beck ({1})
Die Lander sehen in ihrem Entwurf eines zweiten Rechtspflegeentlastungsgesetzes den Täter-OpferAusgleich als Anknüpfungspunkt zur Einstellung von Verfahren vor. Wir verankern hier bei zwei Delikten diesen Gedanken im materiellen Recht. Der Anstoß für diese Bundesratsinitiative ging von den Ländern Baden-Württemberg, Thüringen und Bayern aus. Meine Damen und Herren von der Union, wissen Sie, wer dort die Ministerpräsidenten stellt?
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Warum also diese künstliche Aufregung, wenn wir im materiellen Recht nichts wesentlich anderes vorschlagen?
Schwarzfahren wollen wir wie der Bundesrat nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit ahnden. Herr Röttgen, auch das Ordnungswidrigkeitenrecht wird vom Staat umgesetzt. Deshalb ist das kein rechtsfreier Raum. Es ist ein anderes und passenderes Instrument für dieses soziale Problem.
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Können Sie mir einmal erklären, worin heute der Unterschied zwischen Schwarzfahren und Schwarzparken besteht?
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Wer sein Auto quer auf dem Bürgersteig parkt, so daß Behinderte oder Mütter mit Kinderwagen nicht vorbeikommen und womöglich sogar eine Gefährdung auftritt, der kommt mit einem Knöllchen davon. Wenn jemand eine Straßenbahn betritt und vergißt, seinen Fahrschein zu lösen,
({5}) dann ist das für Sie ein Krimineller.
Ich kann hier nur den für linke Kapriolen hoffentlich unverdächtigen sächsischen Justizminister, Herrn Heitmann, zitieren. Er sagte kürzlich zu mir: „In der DDR war Schwarzfahren eine Ordnungswidrigkeit. Das hat dem Rechtsbewußtsein der DDR-Bürger nicht geschadet. "
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Wird er für diese Äußerung jetzt bei Ihnen ausgeschlossen? Und Sie tun so, als ginge das Abendland unter, wenn wir beim Schwarzfahren die Ordnungswidrigkeit einführen. Das ist doch absurd!
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Eine Konzentration auf schwerwiegende Kriminalität ist eine Stärkung und keine Kapitulation des Rechtsstaats. Beim Ladendiebstahl liegen dreiviertel aller Fälle bei einem Schadenswert von unter 100 DM. Deshalb fordern Strafverteidigervereinigungen, Richter, Staatsanwälte, angesehene Professoren und Reformkommissionen den Rückzug des Strafrechts aus diesem Bereich.
Unser Vorschlag zur Behandlung des Ladendiebstahls geht auf eine Initiative des Deutschen Anwaltvereins zurück. Herr Geis, ich glaube, Sie sind in dieser Organisation sogar Mitglied.
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- Tun Sie es nur. Sie werden sich mit Ihrer Art von Rechtspolitik in dieser Gesellschaft immer weiter isolieren.
Meine Damen und Herren, Sie fordern, daß die Staatsanwaltschaften bei jedem noch so geringfügigen Rechtsverstoß eine Einzelfallprüfung vornehmen. Das ist ein gewaltiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für Staatsanwaltschaften und Gerichte. Wo sind denn die Mittel, die Sie den Ländern für einen solchen Unfug zur Verfügung stellen?
In den meisten Ländern gibt es Richtlinien und Rundschreiben, mit denen eine gleichmäßige Einstellungspraxis geregelt werden soll. Die Länder sind zu diesem Verfahren gezwungen, weil Sie sich nicht trauen, im Bereich des materiellen Rechts eine vernünftige Vorabentscheidung zu treffen.
Es kann nicht so weitergehen, daß man in Bayern für die Entwendung eines Lippenstiftes vor den Strafrichter gezerrt wird, während die Staatsanwaltschaft zehn Kilometer weiter, jenseits der Landesgrenze, in Baden-Württemberg ohne mit der Wimper zu zucken das Verfahren nach § 153 StPO einstellt.
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Zum Schluß ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen von der CSU. Sie spielen sich immer als Helden der Gerechtigkeit und des Rechtsstaates auf. Ich fände es ganz prima, wenn Sie sich mit gleichem Eifer darüber empört hätten, daß bei der Münchener CSU Spendengelder in irgendwelchen Käseschachteln verschwinden,
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daß Alkohol am Steuer zu den gewohnheitsmäßigen Delikten von CSU-Politikern gehört. Ich habe hier eine ganze Liste von Delinquenten dabei. Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, lese ich sie Ihnen gerne vor. Aber solche Fragen sind für Sie seit Franz Josef selig viel zu ver-Zwickt. Sie sind ja für einfache Lösungen.
Die Redezeit, Herr Kollege.
Zum Schluß sei mir noch ein Vorschlag für die Rechtspolitik der CSU gestattet.
Ja, aber ganz kurz.
Führen Sie doch auf dem Chiemsee die Galeerenstrafe wieder ein! Nehmen Sie allein den CSU-Ortsverband München! Damit bekommen Sie locker ein, zwei Bötchen voll.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU.
Herr Kollege Beck, nachdem Sie meine Fragen - sicherlich aus Unkenntnis - nicht beantworten konnten, werde ich Ihnen etwas erzählen: Die Kosten der Ladendiebstahisbekämpfung liegen bei 1,5 Milliarden DM. Dazu kommen noch die Kosten des Ladendiebstahls; sie liegen bei zirka 4 Milliarden DM. Also betragen die Kosten insgesamt 5,5 Milliarden DM. Sie sind angesichts der Dunkelziffer sicher noch höher. Diese Kosten schlagen sich auf die Preise des deutschen Einzelhandels, also auf die Verbraucher nieder.
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Das zweite: Im Bereich der alten Bundesländer einschließlich Gesamtberlin lag die durchschnittliche Schadenshöhe bei einfachem Ladendiebstahl bei 135 DM, und nur bei 5 Prozent aller Ladendiebstähle lag der Wert der gestohlenen Ware bei über 100 DM.
Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung stellt daher für den potentiellen Ladendieb einen Freibrief dar, und zwar solange, wie er im Wert unter 250 DM stiehlt und bis fünfmal entdeckt worden ist und/oder einmal bei einem Ladendiebstahl im Wert von über 250 DM entdeckt und verurteilt wurde.
Das ist die Situation im deutschen Einzelhandel. Nehmen Sie sie bitte zur Kenntnis.
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Herr Kollege Beck, bitte.
Ich bemühe mich immer, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Das ist bei Ihnen leider nicht immer der Fall.
Ich muß sagen, daß die Zahlen, .die Sie nannten, die ein gesellschaftliches Problem darstellen
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und die wir gemeinsam senken müssen, offensichtlich durch die gegenwärtige Rechtspolitik nicht gesunken sind. Diese Malaise ist entstanden, während Sie die Politik der Kriminalisierung um jeden Preis verfolgen. Ich glaube, das zeigt das Scheitern Ihres Weges. Es zeigt auch, daß man intelligentere Wege suchen muß.
Über die Wiedergutmachungsregelung erhalten die Geschädigten einen Schadensersatz. Es gibt Hochrechnungen von Verkehrsbetrieben für den Bereich des Schwarzfahrens, die aussagen, daß der Schaden fast völlig ausgeglichen würde, wenn man solche Regelungen einführte.
Ich bitte Sie, diese Frage in Ihren Arbeitskreisen ernsthaft zu erörtern, darüber nachzudenken und nicht nur im Wahlkampf Schaum zu schlagen; denn Sie kommen mit Ihrem Konzept offensichtlich zu keiner Lösung des Problems. Also müssen wir darüber nachdenken, ob es bessere Lösungen gibt. Ich glaube, wir haben dazu einen Vorschlag gemacht, der sich sehen lassen kann.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer, PDS.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier ist heute ein gewisser Entschließungskrieg ausgelöst worden, in dem eine Entschließung gegen eine andere gestellt wurde. Glücklicherweise hat Bündnis 90/Die Grünen noch eine inhaltliche Vorlage nachgeschoben. Das Problem dieser Entschließungen liegt darin, daß einfach nur bestimmte, sehr allgemeine Grundthesen aufgestellt und in der Debatte noch etwas lauter durch die Gegend gerufen werden.
Herr Röttgen hat erklärt: Wir brauchen den starken Staat, und zwar dort, wo es um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geht. Wodurch wird die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bedroht? Durch Ladendiebstähle und Beförderungserschleichung? Das ist doch absurd.
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- Sie haben doch die großen Töne gebraucht. Das ist doch eine absurde Situation: Wir stehen vor dem Untergang der Bundesrepublik wegen Ladendiebstählen und Beförderungserschleichungen.
Anschließend hat Herr Röttgen etwas Zweites, besonders Hübsches gesagt: Bei dem, der Ladendiebstahl begeht - und, das möchte ich hinzufügen, die Beförderung erschleicht -, besteht auch die Gefahr des bewaffneten Raubüberfalls. Das ist doch eine Absurdität.
Das zeigt, daß der liebe Kollege Röttgen keine Ahnung von Kriminologie hat.
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Sie wissen doch überhaupt nicht, was die Ursache
von Verbrechen ist. Sie sagen: Wer das eine macht,
der macht auch das andere und wird eines Tages den
bewaffneten Aufstand in der Bundesrepublik Deutschland durchführen. Das ist doch absoluter und horrender Blödsinn.
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- Nein, Herr Röttgen hat es erzählt.
Das eigentliche Problem, wenn wir über die Dinge ernsthaft reden wollen, sind die sozialen Ursachen.
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Niemand hier im Hause ist für Ladendiebstahl. Aber wir müssen untersuchen, woran das liegt und was geschieht. Jetzt wird gesagt: In dieser Gesellschaft wächst der Egoismus. Was muß man tun? Strafen. Sie müssen doch überlegen, was da los ist.
Viele reden über die Armut. Es gibt ein sehr gutes Papier der Kirchen zu Fragen der Armut: Aufruf an alle Parteien. Die CDU hat am längsten gebraucht, um sich mit den Kirchen darüber zu unterhalten. Denken Sie doch darüber nach, warum die Menschen so etwas machen.
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- Nein. Man muß darüber nachdenken, warum das geschieht. Es gibt eine ganze Reihe guter Kriminologen. Fragen Sie die. Machen Sie eine Anhörung darüber. Machen Sie Vorschläge, was zu tun ist. Aber erklären Sie nicht einfach nur in diesem hervorragenden Papier: Wir fordern Sie auf, Ladendiebstähle und Beförderungserschleichung nachdrücklich zu bekämpfen. Das ist doch etwas Absurdes. Die einzige Antwort eines seriösen Bundestages, der das beschließen soll, auf das Problem der Kriminalität lautet: nachdrücklich bekämpfen.
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Sie wissen, im Mittelalter haben die Menschen die Diebe aufgehängt. Wir könnten das ja auch wieder einführen. Was ist geschehen? Anläßlich dieser Demonstration haben die Taschendiebe weiter geklaut, weil sich eine Menge Publikum einfand. Also denken Sie über die Ursachen von Kriminalität nach.
Noch ein Gedanke. Herr Professor Michael Walter hat in der „Neuen Kriminalpolitik" im Januar 1994 geschrieben, es gebe real eine „schleichende Entkriminalisierung durch die Praxis:
Entkriminalisiert wird von Banken, die sich darum mühen, daß steuerhinterziehende oder Geld „waschende" Kunden möglichst ungeschoren davonkommen; entkriminalisiert wird von Versicherungen, die von einer Strafverfolgung ihrer Kunden nichts halten; von Polizeibeamten, die ihre Wahrnehmungen begrenzen und einen Konflikt ... erfolgreich entschärfen; von mit Akten überhäuften Staatsanwälten, die ihre Erledigungsstrategien immer mehr rationalisieren und durchroutinieren; .. .
Das heißt, es wird in hohem Maße bei den Whitecollar-Leuten entkriminalisiert. Das wissen wir alle.
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- Aber natürlich wissen wir das. Wir wissen alle, was bei Steuerhinterziehungen passiert oder vielmehr nicht passiert.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Kriminalität, die man bekämpfen muß. Da ist noch sehr, sehr viel zu tun. Also denken Sie über die Ursachen der Kriminalität nach. Sie haben uns an Ihrer Seite, wenn Sie sich mit den Ursachen auseinandersetzen. Das muß aber auf eine vernünftige, rationelle, demokratische und humane Weise geschehen und nicht mit dem einfachen und primitiven Satz: nachdrücklich strafen, strafen, straf en.
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Das Wort für die Bundesregierung hat Herr Bundesminister Professor Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute zur Debatte stehende Entschließung der Koalitionsfraktionen wendet sich gegen die in letzter Zeit immer wieder, auch von den Grünen, vorgebrachten Vorschläge, Massendelikte wie Ladendiebstahl oder Beförderungserschleichung - zu deutsch Schwarzfahren - zu entkriminalisieren, wie man so schön sagt.
Die Bundesregierung - das gilt insbesondere für den Justizminister - hält solche Maßnahmen für äußerst problematisch und lehnt sie deshalb ab. Denn muß eine Entkriminalisierung dieser Delikte nicht den für das Rechtsbewußtsein der Bürger verheerenden Eindruck erwecken, daß verbotene Verhaltensweisen toleriert werden, wenn sie sich erst einmal in großem Umfang durchgesetzt haben?
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Außerdem würde eine isolierte Entkriminalisierung des Ladendiebstahls zu Wertungswidersprüchen innerhalb des Strafrechts führen. Der Unrechtsgehalt einer Tat kann schwerlich unterschiedlich bewertet werden, wenn eine Sache im Laden oder beim Nachbarn gestohlen wird. An die Forderung nach Entkriminalisierung des Ladendiebstahls müßte sich deshalb konsequent die Forderung nach Entkriminalisierung des Diebstahls geringwertiger Sachen überhaupt, überall anschließen. Dieser Weg führt in die Irre.
({1})
Der Staat würde den Diebstahl im alltäglichen Leben, vom Ladendiebstahl bis hin zum Taschendiebstahl in der U-Bahn, letztlich aus dem Bereich des Strafrechts ausnehmen, weil und solange die Beute von geringem Wert ist. Dahinter steht wohl die Philosophie, daß so etwas eben zum modernen Leben gehört, daß man das akzeptieren muß. Das macht diese Bundesregierung nicht mit.
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Eine solche Entkriminalisierung würde zudem die grundgesetzliche Eigentumsgarantie in Art. 14 des Grundgesetzes in Frage stellen. Diese Eigentumsgarantie gehört zu den Grundpfeilern unseres Gemeinwesens, ist sie doch untrennbar mit der Freiheit verknüpft. Eigentum ist die wirtschaftliche Basis für Freiheit; nicht nur für unternehmerischen Gestaltungswillen, sondern auch für Entfaltungswünsche des einzelnen.
Es kann - wenn Sie mir diesen Exkurs erlauben - kein Zufall sein, daß schon in den Anfängen parlamentarischer Demokratie in Europa, nämlich bei der englischen Magna Charta von 1215, der Kampf um Freiheit mit dem Kampf um Eigentum verknüpft war.
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Die englischen Bürger lehnten sich nicht nur gegen willkürliche Verhaftungen auf, sondern auch gegen unkontrollierte Besteuerung als Eingriff in ihr Eigentum.
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Dieses Beispiel zeigt im übrigen, daß die Diskussion um Steuern damals so aktuell war, wie sie es heute ist. Vor allem zeigt das Beispiel, daß Liberale seit fast 800 Jahren den Kampf um Freiheit und Eigentum der Bürger führen
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und daß diese Werte eben zusammengehören, daß heißt, daß sich die Liberalen insoweit auch nicht in Bürgerrechtsliberale und Wirtschaftsliberale auseinanderdividieren lassen.
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- Daß Sie diese 800 Jahre Geschichte der Liberalen beeindrucken muß, akzeptiere ich.
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Mit der Achtung des Staates vor dem Eigentum seiner Bürger geht eine Pflicht einher, das verfassungsmäßig garantierte Eigentum auch im Verhältnis der Bürger untereinander zu schützen, und zwar eben auch mit den Mitteln des Strafrechts. Neulich war in einer Zeitung die Überschrift zu lesen: „Strafrecht ist das Spiegelbild der Gesellschaft".
Die Folgen eines Staatsversagens bei der Erfüllung dieser Aufgabe des Schutzes des Eigentums der Bürger vor Übergriffen von anderer Seite kann man nur allzuoft in den Medien verfolgen, wenn von Stadtvierteln aus anderen Ecken der Welt berichtet wird, in denen die Staatsmacht vor dem Verbrechen kapituliert hat. Deshalb ist es unsere vordringliche Aufgabe, gegenüber allen Erscheinungsformen der Kriminalität das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat
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und das Funktionieren seiner Institutionen zu stärken.
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Die sogenannten Bagatelldelikte weisen zwar hohe Fallzahlen auf. Beim einfachen Ladendiebstahl sind 1994 rund 580 000 Fälle und damit 8,9 Prozent aller Straftaten registriert worden.
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- Lieber Herr Fischer, können Sie nicht einmal eine Sekunde ohne Geplapper auskommen?
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Es wäre doch schön, wenn man seine Gedanken in Ruhe vortragen könnte.
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Daneben sind, und zwar unter Einbeziehung aller Tatbestandsalternativen, also auch der des Schwarzfahrens, rund 108 000 Fälle von Leistungserschleichung nach § 265 a StGB polizeilich bekanntgeworden.
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Nach diesen Zahlen werden dort sicherlich auch erhebliche polizeiliche Kapazitäten gebunden. Aber statt darauf zu starren und wohlfeile Personaleinsparungen einzukalkulieren, kommt es vorrangig darauf an, daß der Staat schnell und effektiv auf deliktisches Handeln reagiert und so die generalpräventive Wirkung des Strafrechts stärken kann.
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Bereits das geltende Recht - Herr Kollege Röttgen hat darauf hingewiesen - stellt eine ausreichende Flexibilität der Mittel zur Verfügung: Die Einstellungstatbestände nach §§ 153, 153a StPO eröffnen
die Möglichkeit, abgestuft zu reagieren, indem je nach Unrechtsgehalt der Tat von Strafverfolgung abgesehen werden kann. In Anwendung dieser Normen führen übrigens beim Schwarzfahren sogenannte Einmal-Fälle regelmäßig nicht zu einer Bestrafung. Eine Entkriminalisierung ist also völlig unnötig.
Daneben erscheint ein verstärkter Einsatz des mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz neu geregelten sogenannten beschleunigten Verfahrens durch Staatsanwaltschaften und Strafgerichte erfolgversprechend. In geeigneten Fällen könnte die Sanktion der Straftat also auf dem Fuße folgen.
Eine raschere, unaufwendige Reaktion ist weiter durch die neugeschaffene Möglichkeit einer vereinfachten Beweisaufnahme zu erreichen. Das ist die Bilanz.
Meine Damen und Herren, die Entkriminalisierung im Bereich des Eigentumsschutzes ist nach allem ein Irrweg, auf den sich die Bundesregierung nicht einzulassen gedenkt. Wir sind im Dialog mit den Ländern allerdings bereit,
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das Instrumentarium weiter zu verbessern, mit dem Strafverfolgungsbehörden und Gerichte auf Massendelikte wie Ladendiebstahl oder Beförderungserschleichung rasch, angemessen und flexibel reagieren können.
({16})
Daher: Nicht wegducken vor Kriminalität, sondern wirksam und entschieden dagegen vorgehen. Das ist die Devise. Alles andere schädigt auch den Sicherheitsstandort Deutschland gravierend.
Danke sehr.
({17})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Volker Beck.
({0})
Meine Damen und Herren! Gerade der Sicherheitsstandort Deutschland ist natürlich uns allen ein wichtiges Anliegen.
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Ich war sehr beeindruckt von den Ausführungen des Ministers, nach denen sich die Bundesregierung gegenüber allen Erscheinungsformen der Kriminalität so engagiert.
Das wirft für mich eine Frage auf. Wir haben in dieser Woche im Rechtsausschuß beantragt, die Bundesregierung möge uns doch erklären, wie es sich mit der Strafverfolgung im Fall Steinmetz verhält.
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Ich meine, da geht es einmal nicht um Petitessen. Da geht es nicht um die Kleinen, die man hängt,
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sondern um die Großen, die man laufen läßt.
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Es ist doch ein ziemlich einzigartiger Vorgang, daß der Generalbundesanwalt gegen jemanden ermittelt wegen des Verdachts eines Sprengstoffanschlages auf ein Gefängnis, also eines Anschlages auf den Rechtsstaat, das Bundesinnenministerium aber untätig bleibt und das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht anweist,
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die Identität und den Aufenthaltsort des Gesuchten preiszugeben.
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Wie verträgt sich das mit Ihrem Engagement dafür, alle Erscheinungsformen der Kriminalität ernsthaft zu bekämpfen?
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Das ist alles sehr unehrlich, und das zeigt, wie doppelbödig das ist.
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Der Vorwurf, den ich Ihnen vorhin gemacht habe, nämlich daß Sie bei der Strafrechtspflege die Kleinen hängen und die Großen laufen lassen, scheint sich dadurch zu erhärten.
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Herr Minister, Sie haben die Möglichkeit der Gegenrede. - Sie wollen die Möglichkeit nicht wahrnehmen.
Dann hat jetzt die Kollegin Dr. Herta DäublerGmelin, SPD, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß die Bekämpfung der Alltagskriminalität, insbesondere des Ladendiebstahls und des Schwarzfahrens, hier im Bundestag viel mehr Aufmerksamkeit und ErnsthafDr. Herta Däubler-Gmelin
tigkeit verdient hat als dieses Wahlkampfgetümmel, das Sie bisher veranstaltet haben. Es ist wirklich unglaublich.
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- Herr Röttgen, ich komme gleich auf Sie zu sprechen. - Wir haben keinen Antrag eingebracht, weil wir es für eine unglaubliche Mißachtung der Interessen der Geschädigten - ob es nun die der Einzelhändler oder auch die der Kunden sind - halten, mit diesem Thema in der zynischen Art und Weise umzugehen, wie Sie das tun.
Ich darf mit dem Antrag der CDU/CSU anfangen. Da legen Sie einen hingeschluderten Antrag auf den Tisch, obwohl die Kolleginnen und Kollegen auch der CDU/CSU im Rechtsausschuß wissen, daß wir in der Diskussion seit Jahren sehr viel weiter sind. Ihr Antrag beginnt mit dem tollen Satz, Sie wendeten sich gegen die Forderung, den Eigentums- und Vermögensschutz usw. aufzuweichen. Jawohl, dem könnte man zustimmen. Ein starker, kerniger Spruch!
Aber wie enden Sie dann, nachdem Sie angefangen haben, wie ein Löwe zu springen? Sie enden als Bettvorleger, indem Sie sagen: Die Lander werden aufgefordert, mit den zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln das nachdrücklich zu verfolgen. Eine größere Blamage, wenn es Ihnen um die Einzelhändler oder die Bekämpfung der Alltagskriminalität geht, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
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hätten Sie eigentlich nicht erzeugen können.
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Herr Röttgen, ich fand Ihre Rede wirklich toll. Aber wenn Sie sich das nächste Mal einen Popanz heraussuchen, dann lesen Sie bitte schön vorher wenigstens durch, was Sache ist. Es redet heute außer dem einen oder anderen von Ihnen, der das für seine Wahlkampfpropaganda gerne mag, doch niemand davon, daß man Leute straflos lassen soll, die ganz genau wissen, daß Ladendiebstahl verboten ist, oder daß zum Beispiel Schwarzfahren ein Verstoß gegen geltendes Strafrecht ist. Was soll denn das? Es tut mir ja leid, wenn Sie sich für Ihre zukünftigen Reden ein bißchen mehr anstrengen müssen. Erstens könnten Sie dies. Zweitens. Lassen Sie einmal einen Einzelhändler, zum Beispiel die Buchhändler meiner Familie, eine so sagenhaft dumme Rede wie Ihre hören.
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Die sagen sich dann: Um Gottes willen, das sind doch alles Leute, die keine Ahnung haben, um welche Probleme es uns geht.
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Sie hatten es auch leicht, konkreter und stärker auf die Sorgen der Leute einzugehen. Deswegen sind Sie nämlich hier, nicht um irgendwelches Wahlkampfgetöse an Hand von albernen Behauptungen von sich zu geben.
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- Tun Sie das!
Jetzt würde ich ganz gerne auf das eingehen, was Frau Blank sagte.
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- Gleich, Frau Blank. - Sie war nämlich die erste, die auf die Schäden hingewiesen hat und damit heute den ersten Hinweis darauf gegeben hat, warum die Massenkriminalität und Alltagskriminalität so unerträglich sind: einfach deswegen, weil die Einzelhändler, weil die Angestellten und die Kunden dies alles bezahlen müssen.
Der zweite Grund, warum das so ärgerlich ist und auch ein bißchen mehr Gedankenschmalz von Ihnen als Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU braucht, ist - das wissen Sie ganz genau -, daß die Selektivität der Strafverfolgung, wie wir sie heute überall bei der Massenkriminalität haben, das Rechtsbewußtsein wirklich schädigt. Das heißt, wir müssen gegen die Selektivität der Strafverfolgung, gegen die Auswahl vorgehen, aber nicht solche albernen Popanze aufbauen, wie Sie das hier wieder getan haben.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Noch einen ganz kleinen Moment, Frau Blank.
Der dritte Punkt, warum wir etwas dagegen tun müssen, ist noch ernster. Wenn Sie sich die Statistiken ein einziges Mal angeschaut hätten, dann würden Sie zwei Behauptungen nicht mehr aufstellen können, Herr Röttgen. Sie würden dann nämlich feststellen, daß zum Beispiel die Zahl der Ladendiebstähle in Sachsen steigt. Dort ist Justizminister Herr Heitmann, CDU. Der würde sich bedanken, von Ihnen in der Weise beleidigt zu werden, wie Sie es heute mit Justizministern getan haben. Die Zahl der Ladendiebstähle steigt in Mecklenburg-Vorpommern. Dort wird der Innenminister von der CDU gestellt. Da gibt es erst seit kurzer Zeit eine große Koalition. Zu dem Zeitpunkt, ab dem die Zahl der Ladendiebstähle gestiegen ist, gab es sie noch gar nicht. Da würden sich Ihre CDU-Kollegen Landesminister genau wie die aus Baden-Württemberg bedanken, von Ihnen so beleidigt zu werden.
Wenn Sie einen Blick auf die Tatsachen geworfen hätten, dann hätten Sie schnell festgestellt, daß der Anstieg der Zahl der Ladendiebstähle mit dem Parteibuch der verantwortlichen Innen- oder Justizminister gar nichts zu tun hat, sondern ein Ergebnis aus vier Faktoren ist: Politik der sozialen Spaltung, beDr. Herta Däubler-Gmelin
sonders bei randständigen Jugendlichen, Ostarmut, Jugendabenteuerlust und große Verdichtungsgebiete.
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- Herr Hornung, ich weiß, daß es Ihnen mehr ums Polemisieren geht. ({1})
Das sind alles Faktoren, die Sie, wenn Sie wirklich gegen Ladendiebstahl vorgehen wollen, zur Kenntnis nehmen müssen.
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- Das kommt noch. ({3})
Sonst werden Sie nämlich die ganze Zeit so dämlich weiterreden, wie das heute der Fall ist. Wir machen hier nicht mit.
Bitte schön, Frau Blank.
Frau Kollegin Blank hat das Wort zu einer Zwischenfrage.
Frau Kollegin, meinten Sie mit Ihren polemischen Eingangsworten auch mich, als Sie sagten, wir hätten vom Ladendiebstahl keine Ahnung? Ich darf Sie vielleicht daran erinnern, daß ich Einzelhändlerin bin und trotz Personals vom Ladendiebstahl geplagt werde. Das war eine Feststellung.
Jetzt kommt meine Frage. Sind Ihnen die Vorschläge des Justizministers aus Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Eggert, SPD, zur Entlastung der Justiz bei der Bekämpfung des Ladendiebstahls bekannt?
Ja.
Der Minister schlug nämlich in einem Interview vor, neue Formen der Strafverfolgung hinsichtlich des Ladendiebstahls einzuführen. Dabei hielt er es für denkbar, zur Entlastung der Gerichte den Ladendiebstahl künftig nicht mehr als Straftat, sondern als eine Art Ordnungswidrigkeit zu behandeln und durch die Polizei sanktionieren zu lassen. Als Vorbild schwebt dem Minister eine Regelung aus der ehemaligen DDR vor, die dem damaligen Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei die Möglichkeit gab, „einfache Verfehlungen" ohne Einschaltung der Staatsanwaltschaft zu verfolgen. Das Justizministerium von MecklenburgVorpommern hat dann allerdings das Ganze abschwächen wollen.
Meine Frage lautet: Sind Ihnen diese Vorschläge bekannt?
Liebe Frau Blank, ich beantworte zuerst Ihre erste Frage: Ich habe Sie gerade in meinen Ausführungen ausdrücklich ausgenommen, und zwar deshalb, weil ich Ihnen sehr dankbar war, daß Sie als einzige auf die Schäden und Probleme hingewiesen haben. Die Einzelhändler in meiner Familie tun das auch. Das tun alle - wenn Sie so wollen - ernsthafte Leute, die sich mit dem Problem auseinandersetzen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Mir sind die Vorschläge bekannt. Ich darf noch einmal festhalten, was Sie vielleicht auch Ihrem Kollegen Röttgen gelegentlich sagen sollten: daß Entkriminalisierung in diesen Vorschlägen gerade nicht verlangt wird, sondern daß es um eine andere Form der Strafverfolgung geht, um eine, die wirksamer ist, die flächendeckend greift, die nicht selektiv wirkt und die tatsächlich das, was man gegen Ladendiebstahl und Schwarzfahren tun kann, auch durchsetzt. Dazu sage ich gleich etwas. Ich würde Sie bitten, meine weiteren Ausführungen einmal anzuhören.
Ladendiebstahl verursacht erstens extrem viele Schäden, frustriert zweitens die Polizei, weil die feststellt, daß sie ermittelt und dann meistens für den Papierkorb der Justiz arbeitet. Drittens verärgert er die Einzelhändler, weil die feststellen: Es passiert gar nichts, wenn sie einen Ladendieb erwischt haben und anzeigen.
Diese Umstände fordern uns alle zum Handeln auf. Deswegen, nachdem das jetzt schon zum drittenmal so ist, auch der Vorwurf an die Kollegen im Rechtsausschuß, soweit sie der CDU/CSU oder auch der F.D.P. angehören: Wir alle sind wirklich gefordert; wir müssen wirklich etwas dagegen tun. Ihre dummen Polemiken haben überhaupt keinen Wert.
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- Nein, Sie haben in diesem Punkt meines Erachtens wirklich unrecht. Das werden Sie aber auch wissen. Sie haben ja nicht umsonst Ihren schwachen Wahlkampfantrag hier mit eingebracht.
Jetzt lassen Sie mich noch einmal wiederholen, wie es bei der Polizei aussieht. Damit Sie wissen, worum es hier geht, greife ich jetzt die Zahlen aus BadenWürttemberg auf. Das wird Ihnen, Herr Hornung, recht sein, weil Sie wissen, daß dort der jüngere Bruder Ihres Fraktionsvorsitzenden Justizminister ist und weil Sie dann vielleicht auch einsehen, daß es Probleme gibt.
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Die Probleme sind folgende: Der Innenminister Birzele hat sich bei der Einsetzung des Polizeidirektors von Pforzheim vor 14 Tagen darüber beschwert,
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daß die Polizei frustriert sei, weil sie keine Lust mehr habe, für den Papierkorb der Justiz zu arbeiten. Warum hat er dieses gesagt? - Er hat die Zahlen angeführt und hat gesagt: Alleine im Jahr 1994 sind in Baden-Württemberg von der Justiz 84 000 von der Polizei ausermittelte Verfahren wegen Ladendiebstahls eingestellt worden. In Prozentzahlen - das ist übrigens die Statistik des Justizministers von BadenWürttemberg - heißt das: 25 Prozent dieser Ladendiebstähle wurden ohne jeden Strafbefehl und ohne Anklageerhebung, 33 Prozent durch die Staatsanwaltschaft ohne eine Auflage eingestellt. Das heißt auf deutsch: Zwei Drittel der von der Polizei mit Hilfe der Einzelhändler ermittelten Straftäter sind nicht verfolgt worden.
Herr Hornung, auch Sie werden dann zustimmen, daß man dagegen etwas tun muß.
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- Natürlich steckt da etwas dahinter. Darauf komme ich gleich zu sprechen. Mir wäre es schon recht, wenn Sie endlich einmal mit mir der Meinung wären, daß man einen solchen Antrag, wie Sie es getan haben, nicht formulieren kann, wenn man sich mühsam für die Einzelhändler und gegen die Ladendiebe einsetzen will. Dann muß man zusammen mit den Justizministern und mit den Fachkollegen, die davon etwas verstehen, vernünftige Änderungsvorschläge machen.
Alles auf die Landesjustiz zu schieben geht nicht. Auch die Justizminister sagen: Es tut uns furchtbar leid, wir bekommen keine Stelle mehr. Das stimmt. Deswegen habe ich es nicht ganz verstanden, daß Sie sich, Herr Bundesjustizminister, soeben darauf beschränkt haben, den Ländern zu raten, sie sollten weniger Leute einsparen. Es dürfte doch gerade hier im Bundestag nicht unbekannt sein, daß gespart werden muß, und zwar auch in jedem einzelnen Land, in jedem einzelnen Behördenbereich, auch auf Bundesebene. Das heißt: Die Frage der Stellenvermehrung stellt sich nicht. Sie verbreiten schon wieder eine Illusion, indem Sie sagen: Die Justiz könnte konsequent verfolgen, wenn sie mehr Leute einstellte. - Das wird nicht gehen.
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Hinzu kommt noch etwas anderes - das hat Herr Beck sicherlich gemeint; jedenfalls nehme ich das an -: die Schwerpunktressourcen, die Mittel für die Kriminalitätsbekämpfung, wenn schon nicht die Stellenzahlen vergrößert werden können, dürfen nicht schwerpunktmäßig im Bereich der Kleinkriminalität angesetzt werden, sondern sind bei der Gewaltbekämpfung und bei der Bekämpfung von Vermögenskriminalität anzusetzen.
Wenn Sie das wie auch wir durchsetzen wollen und zustimmen, daß es dafür nicht mehr Leute gibt, dann müssen Sie die Frage beantworten: Was können wir im Bereich der Kleinkriminalität rechtlich verändern, damit hier Rechtssicherheit und zusätzlich die Strafverfolgung im Bereich der Schwerpunktkriminalität möglich wird? Das ist doch keine Frage der Ideologie, sondern eine schlichte Frage des Nachdenkens, Herr Röttgen.
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Das heißt ganz konkret, daß Sie aufgerufen sind - aus dieser Verpflichtung werden wir Sie nicht entlassen, ganz egal, ob Ihre Kollegen Ihnen den Rücken stärken; Sie werden selber darauf kommen -, gemeinsam mit dem Einzelhandel wirksame Konzepte vorzulegen, die den Leuten dort nicht Steine statt Brot geben und nicht nur Wahlkampfgeklingel veranstalten.
Die Entlastung durch staatsanwaltliche Einstellungsmöglichkeiten haben wir schon längst ausgereizt. 1993 schon hat es diese Entlastungsgesetze gegeben. Und wie wirken sich diese aus? - So, wie ich es Ihnen gesagt habe.
Ich kann Ihnen auch noch einmal die Zahlen in bezug auf das Schwarzfahren im Bundesgebiet vortragen: Im Jahr 1994 sind über 110 000 Täter ermittelt worden. Unabhängig von den jeweiligen Parteibüchern sind durch die Gerichte noch nicht einmal 15 000 verurteilt worden. Und da gehen Sie her und sagen, das sei ein Problem von Rot-Grün oder von Ideologie! Es ist ein Problem der Überlastung der Justiz, ein Problem des nicht sinnvollen Einsatzes von Ressourcen und ein Problem von Denkfaulheit Ihrer Seite in diesem Haus, weil wir neue Formen der Bekämpfung dieser Art der Kriminalität brauchen und Sie uns daran hindern.
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Diese Formen, Herr Hornung, können Sie sich von Kollegen, die davon etwas verstehen, nochmals vortragen lassen.
Jetzt will ich erklären, warum einige der Landesjustizminister darauf verfallen sind, zu sagen, daß eine Bußgeldregelung heute besser wäre als das, was wir jetzt an Strafverfolgung haben. Das ist deswegen so - das können Sie nachprüfen, weil hier, wenn Sie zum Beispiel falsch parken oder gegen einen sonstigen Bußgeldtatbestand verstoßen oder heute bei Verkehrsdelikten erwischt werden, sofort ein Bußgeld bekommen. Wenn Sie heute als Ladendieb oder als Schwarzfahrer erwischt werden, haben Sie zu zwei Dritteln die Chance, zu überhaupt keiner Sanktion im Rahmen der Strafverfolgung herangezogen zu werden,
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- Strafbefehle eingeschlossen. Wenn das nicht zu verändern ist - und mehr Leute kriegen Sie nicht -, dann ist der Ruf nach einem Bußgeld vernünftiger, weil die erwischten Ladendiebe dann zumindest alle sofort eine Strafe aufgebürdet bekommen.
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Das ist besser, als zu sagen, wie Sie es jetzt tun: Wir lassen alles beim alten und tun nichts.
Ich persönlich - das weiß Herr Röttgen - habe dazu im Rechtsausschuß auch in dieser Legislaturperiode schon einige Male vorgetragen - unsere Anträge befinden sich seit Jahren dort; wir machen auch eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema -, würde mich lieber für ein Strafgeld entscheiden, eine in der Tat bürokratieärmere Sanktion, die in jedem Fall bezahlt werden muß.
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- In jedem Fall, Herr Hornung. Das wissen Sie aber alles selbst.
Ich hätte gerne die Zustimmung der CDU, der CSU und der F.D.P., diese Form rechtsstaatlich sauber auszugestalten, anstelle dieses Zeugs, das Sie uns in Zeiten des Wahlkampfs in die Augen streuen.
({10})
Diejenigen, die sich für Änderungen einsetzen, diskutieren heute, ob Bußgeld oder Strafgeld besser wäre. Ich kann Ihnen noch eine Alternative nennen: eine neue Form der Übertretung, die bürokratieärmer, aber in jedem Fall flächendeckend greifend ausgestaltet sein muß. Die könnte abschreckend wirken, weil sie nicht selektiv wirken würde. Das wäre gut für den Rechtsstaat und das Rechtsbewußtsein. So könnte man auch die Abenteuerdiebstähle, die so vielen Einzelhändlern Schwierigkeiten machen, besser in den Griff kriegen.
Ich habe mich gewundert, daß Sie darauf nicht konkret eingegangen sind. Das hätte ich erwartet, und ich erwarte es weiter. Wir werden Sie aus dieser Verantwortung nicht mehr entlassen.
Jetzt kommt noch ein weiterer Punkt, den ich Ihnen nahezu übel nehme, Herr Röttgen. Es ist der Punkt, den Sie eingangs erwähnt haben. Lesen Sie noch einmal nach; dann werden sie feststellen: Sie sind bei der Wortwahl Ihrer Definition der Staatsaufgaben schlicht beim Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts angekommen.
({11})
- Ja, das tue ich doch. Wenn Sie mir einen Moment zuhören, dann werden Sie mir sogar recht geben.
({12})
- Ja, ich weiß, Herr Marschewski. Ich will jetzt zu Ihnen nichts sagen, sondern konzentriere mich auf Herrn Röttgen. Da lohnt es sich hoffentlich.
({13})
Herr Röttgen, der Punkt ist folgender: Sie haben den Staat praktisch auf den Bereich des Nachtwächterstaats zurückgenommen. Wenn Sie sich jedoch die Statistiken über den Anstieg der Kleinkriminalität anschauen, dann werden Sie feststellen, daß das, was ich vorher als Abenteuerkriminalität - das heißt Ladendiebstähle oder Schwarzfahren - bezeichnet habe, heute längst nicht mehr den Anstieg bedingt. Wenn man diese Zahlen aus der Statistik rausrechnet
- das kann man, dazu gibt es Untersuchungen -, stellt man fest, daß der Anstieg im Osten, in großen Städten, bei Kindern, bei Jugendlichen und in Armutsbereichen zu verzeichnen ist. Das ist leider so. Das gleiche haben Sie bei anderen Randgruppen wie Aussiedlern und nichtseßhaften Ausländern. Das wird - nehme ich an - auch Herr Kanther Ihnen schon berichtet haben. Ihm liegt eine Untersuchung vor, die besagt, daß der Anstieg mit dem Zusammenschneiden sozialer Leistungen stark korreliert. Sie können das selbst feststellen.
({14})
- Ich weiß, Herr Marschewski, Sie möchten das nicht hören. Das genau ist der Ärger mit Ihrer Politik. Deswegen werden Sie auch nichts ändern und nichts erreichen.
({15})
Ab dem Zeitpunkt, in dem Sie die finanziellen Integrationsleistungen bei den Aussiedlern zusammengestrichen haben - genau das können Sie feststellen -, steigen die Zahlen dieser Formen der Armuts-
und Kleinkriminalität.
({16})
Nochmals: Wenn Sie das nicht hören wollen, werden Sie niemals in der Lage sein, vernünftige Dinge dagegen zu tun. Wir fordern Sie auf, genau das zu machen! Nochmals, Herr Röttgen: Sie müssen Ihren Staatsbegriff wieder ausdehnen. Es ist nicht alles, was nicht liberaler Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts ist, dummes Zeug.
Das Grundgesetz geht vielmehr davon aus - ich hoffe, daß Sie daran inhaltlich festhalten -, daß die soziale Sicherung, die Gerechtigkeit und die Rechtsgebundenheit der Politik selbstverständlich eine Verpflichtung darstellen, der Sie sich auch in Wahlkampfzeiten nicht entziehen können.
({17})
- Nein, wir tun das auch nicht - Gott sei Dank.
Das zweite, was Sie sehen sollten, ist folgendes. Es hat viel mit der Vorbildfunktion von Politik zu tun. In diesem Zusammenhang hat der Kollege Beck - wie ich finde - einen weiteren nachdenkenswerten Punkt getroffen. Wenn man mit der Regierung jahrelang darum raufen muß, daß zum Beispiel Schmiergelder nicht mehr als Betriebsausgaben steuerlich angesehen werden, wenn man mit Ihnen jahrelang darum raufen muß, daß Steuerhinterziehung bzw. das InsDr. Herta Däubler-Gmelin
Ausland-Schieben von Geldern in Milliardenhöhe - also am Finanzamt vorbei ({18})
strafbar sein muß
({19})
- wir mußten bei Ihnen sogar erstreiten, auch wenn ich gerade mit großem Vergnügen gelesen habe, daß Sie in diesem Bereich endlich, wenn auch zu langsam einlenken, daß man Geldwäsche vernünftig verfolgt -,
({20})
dann dürfen Sie sich nicht wundern, daß über Ihrer Regierungspolitik mittlerweile nicht mehr das Motto steht, mit dem Sie angetreten sind.
({21})
Ich darf Sie noch einmal daran erinnern: Bundeskanzler Kohl ist vollmundig mit dem Satz angetreten: Wir schaffen die geistig-moralische Wende. Was Sie heute von den Leuten hören, auch von denen, die durchaus eher Ihrem Lager angehört haben, klingt ganz anders. Die sind nämlich der Meinung, daß der Satz „Der Ehrliche und der Schwächere sind die Dummen„ besser zu Ihrer Politik paßt. Das müßte Ihnen doch zu denken geben.
({22})
Gerade wenn Sie über schwindendes Rechtsbewußtsein und Rechtsgefühl klagen, müssen Sie doch auch überlegen, ob Sie denn bei Einsparungen und bei Umgestaltungen in schweren Zeiten ein Vorbild an Solidarität und an Gerechtigkeit sind. Und Sie sollten von den Leuten nicht mehr verlangen, als Sie von sich selber verlangen.
({23})
Das ist doch die Frage der Werte. Dagegen verstoßen Sie ständig.
Hören Sie also auf, auch mit der Alltagskriminalität Wahlkampf zu machen! Sie wissen ganz genau, daß Ladendiebstahl nicht durch Ihren hingeschluderten Antrag und auch nicht dadurch verhindert werden kann, daß Sie den Ländern - übrigens allen Ländern - irgendeine Schuld aufbürden.
({24})
Sie wissen vielmehr ganz genau, daß wir gemeinsam bürokratieärmere Formen einer flächendeckenden, greifenden Strafverfolgung finden müssen, damit die heutigen Justizressourcen nicht nur gegen die Kleinkriminalität, sondern schwerpunktmäßig gegen die große Kriminalität eingesetzt werden können.
({25})
Wir werden Sie, wie gesagt, jedes Vierteljahr dazu herausfordern, bis Sie Ihre Politik ändern.
Herzlichen Dank.
({26})
Das Wort hat der Abgeordnete van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Däubler-Gmelin hat der Koalition die ganze Zeit Wahlkampfgetöse vorgeworfen und hat sich insbesondere darin erschöpft, Anklagen gegen die hervorragende Rede des Kollegen Röttgen und die ebenso hervorragende Rede des Bundesjustizministers vorzutragen.
({0})
Daß offensichtlich die Kollegen der SPD von der Kollegin Däubler-Gmelin nichts anderes erwartet hatten, kann man daran erkennen, daß nur zwei von zwölf Rechtspolitikern der SPD im Rechtsausschuß diesen Ausführungen gelauscht haben.
({1})
Herr Präsident, 2,70 DM für einen Fahrschein, 4,90 DM für einen Kosmetikstift: Was sind das für Beträge? Was kümmert es deshalb den Staat, wenn nichts dafür bezahlt wird? Man kann sich natürlich dem Thema so nähern, wie es der Kollege Beck getan hat. Aber man wird ihm dadurch nicht einmal andeutungsweise gerecht.
({2})
Denn im letzten Jahr stieg die Zahl der angezeigten Ladendiebstähle - diese Zahl ist hier noch nicht genannt worden - in Deutschland um fast 5 Prozent. Während die Schadenssumme bei Ladendiebstählen 1984 schon bei beträchtlichen 36 Millionen DM lag, geht die polizeiliche Kriminalstatistik für 1994 - die Kollegin Blank hat dankenswerterweise darauf hingewiesen - von annähernd 87 Millionen DM aus. Darin ist nicht die hohe Dunkelziffer eingerechnet. Nach Schätzungen der HDE beträgt der wirkliche Gesamtschaden etwa 4 bis 4,5 Milliarden DM. Deshalb kann man natürlich überhaupt nicht, wie es die Grünen tun, von unwichtigen Straftaten sprechen.
({3})
Dies ist wahrlich keine Bagatelle und deshalb für uns Liberale Verpflichtung, mit wirksamen Maßnahmen zu handeln.
Diesen immensen Schaden übernimmt im übrigen letzten Endes der Käufer über den Kaufpreis. Das bedeutet - es ist interessant, daß die Grünen überhaupt keinen Gedanken daran verschwendet haben -, daß
die einkommensschwachen Schichten davon in besonderer Weise betroffen sind. Ihnen gegenüber - im schönsten Soziologendeutsch - vom Bewußtsein des hohen Wertes einer humanisierten rationalen Kriminalpolitik zu reden, wie es im Antrag der Grünen geschieht, ist deshalb eine Verhöhnung der Menschen, die sich an Recht und Gesetz halten.
({4})
Es muß in die Beurteilung der Lage mit einbezogen werden, daß nicht nur die Tendenz zum Ladendiebstahl immer mehr steigt, sondern die Täter aggressiver werden bis hin zur räuberischen Erpressung und eine besondere Zunahme bei Kindern und Jugendlichen festzustellen ist. In unserem Staat darf nicht der ehrliche Bürger zum Dummen werden.
({5})
Auf eine andere Frage gibt es keine wirkliche Antwort. Die durch den Antrag der Grünen versprochene Entlastung der Justiz ist doch völlig illusorisch. Die Grünen wollen auch Wiederholungstäter feststellen. Ich frage mich nur: Wie? Es gibt keinerlei Vorschlag in dieser Richtung. Es müßte eine neue Bürokratie aufgebaut werden. Auch dazu gibt es bei den Grünen keinerlei Vorstellungen. Dies zeigt, Herr Beck, Ihr Widerspruch liegt völlig daneben. Dies zeigt, daß Ihr Vorschlag nicht gerade intelligent ist. Deshalb kann aus der Sicht der F.D.P. die Reaktion auf die steigende Zahl von Ladendiebstählen und den immensen Schaden eben nicht Entkriminalisierung, Bagatellisierung und Verharmlosung sein.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat vorgeschlagen, daß wir neue Wege gehen. Wir sind diese Wege schon gegangen, und wir hätten uns als Koalition sehr gewünscht, wenn die SPD dabei mitgemacht hätte.
({6})
Denn die wirksamste Vorbeugung ist eine sofortige Reaktion.
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Wir haben deshalb dafür gesorgt, daß der Staat flexible Möglichkeiten hat. Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz vor zwei Jahren ist gegen die Stimmen der SPD und der Grünen das beschleunigte Verfahren neu geregelt worden.
({8})
- Genauso ist es, gegen die Stimmen der Opposition ist das beschleunigte Verfahren neu geregelt worden. Es soll dann durchgeführt werden, wenn ein Täter auf frischer Tat ertappt worden ist und der Sachverhalt einfach ermittelt werden kann.
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Gerade bei auf frischer Tat ertappten Ladendieben oder Schwarzfahrern erzielt allein die Tatsache, daß die Hauptverhandlung dem Vorfall schnell auf dem Fuße folgt, eine durchschlagende erzieherische Wirkung. Ich füge hinzu: Dies ist gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden von besonderer Bedeutung.
({10})
Wir haben für eine andere wirksame Grundlage gesorgt. Mit dem von der Koalition eingebrachten und seit Dezember 1994 geltenden Verbrechensbekämpfungsgesetz wurden auch die notwendigen gesetzlichen Grundlagen für ein zentrales staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister geschaffen. Ziel dieses Registers ist es, eine schnelle und wirksame Bestrafung insbesondere von Mehrfachtätern sicherzustellen. Noch immer kann nach geltender Praxis ein reisender Mehrfachtäter in dem Bezirk jeder Staatsanwaltschaft mit einer Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit rechnen, weil die jeweiligen anderen Behörden von den schon durchgeführten Verfahren nichts wissen.
({11})
- Die gibt es. Jawohl, Herr Kollege, insbesondere in den Ballungsräumen.
Aber ich bin über den augenblicklichen Sachstand außerordentlich unzufrieden. Bei der Verabschiedung war ich noch guter Hoffnung, daß es ab 1997 wirksam würde. Jetzt erleben wir, daß der schlanke Staat gerade in diesem Bereich überhaupt nicht wirksam ist: Es gibt eine Errichtungsanordnung; es gibt Gruppen, die das ganze ausarbeiten; es wird damit bis 1997 und voraussichtlich noch sehr viel länger dauern, unter anderem deshalb - das muß gesagt werden -, weil die EDV-Ausstattung der Justiz in den Ländern völlig rückständig ist. Deshalb geht auch eine andere innovative Möglichkeit nicht. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, daß wir über neue Möglichkeiten nachdenken müssen.
({12})
Für den Gedanken zum Beispiel, den Sie angesprochen haben, ob wir möglicherweise eine Ebene zwischen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten einziehen sollten, bin ich offen. Wir können uns gerne darüber unterhalten. Ich bin durchaus dafür offen, darüber nachzudenken.
({13})
Aber eins ist klar, Frau Kollegin: Eigentumsschutz ist auch Grundrechtsschutz. Der Weg einer Entkriminalisierung des Ladendiebstahls ist deshalb der falscheste Weg, den man gehen kann.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Beck, Sie können mit Recht sagen: Au, au! Denn das, was Sie gebracht haben, war reine Wahlpropaganda. Frau Herta Däubler-Gmelin, Sie haben auch nicht viel mehr gebracht.
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Der Rechtsstaat hat nämlich nur so lange Bestand, wie seine Organe dafür sorgen, daß die Gesetze eingehalten werden und daß diejenigen, die sie übertreten, mit den dafür vorgesehenen Strafen belegt werden. Bei der Bagatellisierung von Straftaten hat sich bisher die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen besonders hervorgetan, insbesondere bei den verantwortungslosen Vorschlägen zur Freigabe von Hasch und Marihuana, die leider auch von einigen linken Rechtspolitikern der SPD unterstützt wurden.
({1})
Nun verlangt die vereinigte linke Seite, SPD und Grüne, unterstützt von der PDS,
({2})
unter Federführung des baden-württembergischen Innenministers Birzele, den Eigentumsschutz quasi aufzuheben und zum Beispiel Ladendiebstähle zur bloßen Ordnungswidrigkeit - wie Falschparken - herunterzusetzen.
({3})
Diese abenteuerlichen Vorschläge führen dazu, daß das Rechtsempfinden vor allen Dingen junger Leute in unerträglicher Weise geschmälert wird. Der Ladendiebstahl würde zum Sport und zur nicht mehr geahndeten Mutprobe - ohne großes Risiko übrigens - von jungen Leuten, die sich systematisch an die Grenze der Möglichkeiten herantasten,
({4})
vielleicht den Computer mit Einkaufspreisen füttern, bis dieser automatisch ein Signal gibt: Bei der SPD in Baden-Württemberg vielleicht bei 249 DM und bei den Grünen in Nordrhein-Westfalen bei 499 DM. So sieht die Reform aus, die Sie wollen.
({5})
Mit diesem gestörten Rechtsbewußtsein wird dann als nächstes das Auto gestohlen, in die Villa eingebrochen und werden andere Straftaten begangen.
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- Ja, das könnte sein, Herr Fischer, wenn Sie dazu auffordern. Brandstifter sind ja gefährlich! Dies ist genau der falsche Weg, Herr Fischer. Den Anfängen muß gewehrt werden, und junge Leute müssen den Unterschied zwischen mein und dein haarscharf kennenlernen.
({7})
Herr Kollege von Stetten, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte.
Herr Kollege von Stetten, wir haben jetzt Herrn Röttgen gehört, wir haben den Herrn Justizminister gehört, wir haben den Herrn van Essen gehört, und seit fünf Minuten hören wir Sie. Sie alle haben uns bisher erzählt, was sie nicht wollen. Würden Sie uns in den nächsten fünf Minuten erzählen, was Sie wollen?
Ja, ich bin dankbar, daß Sie mir noch etwas mehr Redezeit geben, dann kann ich das besser ausführen.
Ich bin der Meinung, daß wir deutlich, klar und schnell handeln müssen. Dazu gehört, daß Strafen auf dem Fuße folgen und nicht erst lange psychologische und sonstige Gutachten gemacht werden, sondern insbesondere schnelle Verfahren und, wenn notwendig, die Verfahrenshaft eingeführt werden; denn das sind die Strafen, die sich die Leute merken. Außerdem bin ich dafür, daß jemand, der als Asylbewerber oder Bürgerkriegsflüchtling Straftaten begangen hat, sofort ohne Wenn und Aber ausgewiesen wird. Dann würden diese Straftaten bei dieser Gruppe - und Sie wissen, die Prozentzahlen sind hier bei Ladendiebstählen sehr hoch - von heute auf morgen aufhören; denn das wäre eine Strafe, die wirken würde.
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- Nein, er muß jetzt nicht mehr stehenbleiben. Jetzt komme ich wieder zu meinen eigentlichen Ausführungen.
Zu diesem merkwürdigen Verständnis gehören im Zusammenhang mit Kaufhausdiebstählen auch immer wieder das törichte Geschwätz, es treffe ja keinen Armen, und der Hinweis auf Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes - Eigentum verpflichtet, sein GeDr. Wolfgang Freiherr von Stetten
brauch soll zugleich zum Wohle der Allgemeinheit dienen -, so daß man als weniger Reicher durchaus klauen könne. Dies erhält durch das Vorpreschen Birzeles gewollt oder ungewollt Unterstützung und gibt Diebstähle schlichtweg frei. Das kann doch wohl nicht richtig sein.
Wenn dann in Deutschland - lassen Sie mich das so polemisch sagen - ein Reisetourismus der Diebe wie früher die Butterfahrten in die Länder mit der höchsten Grenze für Nichtstrafbarkeit von Diebstählen einsetzt, wollen wir in Baden-Württemberg nicht dabeisein, und soweit wir es von der CDU/CSU-Fraktion und von der F.D.P.-Fraktion hier in Bonn verhindern können, werden wir dies tun.
Wir sind der Meinung, daß die Kaufleute, die arbeiten und Steuern zahlen, vor Rechtsbrechern geschützt werden müssen und Rechtsbrecher durch unverantwortliche Vorschläge von Herrn Birzele, von der SPD und von den Grünen nicht geradezu ermuntert werden dürfen, Geschäfte und Kaufhäuser auszuplündern. Wir kennen doch alle die Diebesbanden jugendlicher, strafunmündiger Täter, die die Minderjährigkeit oder Strafunmündigkeit ausnutzen, um immer wieder scharenweise, geschickt operierend, Märkte und Geschäfte heimzusuchen. Dies wollen wir bekämpfen und nicht erleichtern.
({1})
Geradezu scheinheilig finde ich die Argumentation der Grünen, daß damit die Gerichte entlastet würden, „Schlanker Staat" als Schlagwort, um mehr Zeit für die Ahndung verwerflicher Taten zu haben. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ladendiebstahl ist nun einmal der Einstieg in die Kriminalität.
({2})
Sie, meine Damen und Herren von den Grünen und von den Sozialdemokraten, sollten, statt zu bagatellisieren, Ihre Blockade gegen vereinfachte, schnelle Verfahren und gegen die Hauptverfahrenshaft, die abschrecken soll, aufgeben.
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Gerade jetzt, da wir gemäß dem im vergangenen Jahr verabschiedeten Verbrechensbekämpfungsgesetz das staatsanwaltschaftliche Informationssystem SISY aufbauen - mir geht das übrigens auch viel zu langsam, Herr van Essen hat das schon gesagt -, um reisenden Mehrfachtätern die Chance auf die heute leider schon viel geübte Einstellung für sogenannte Ersttäter zu nehmen, fallen uns Herr Birzele und die SPD aus wahlkampftaktischen Gründen in den Rükken.
Wer die ohnmächtige Wut, Verzweiflung und Staatsverdrossenheit mancher Ladenbesitzer erlebt hat, die trotz Hausverbots und anderer Gegenmaßnahmen immer wieder von oft denselben Dieben heimgesucht werden, wird den Vorschlägen der rotgrünen Wahlkampfkoalition nur mit Unverständnis gegenüberstehen.
Völlig unverständlich ist es auch, wenn Herr Birzele, der zugleich Polizeiminister ist und für die innere Sicherheit im Lande die Verantwortung trägt, nicht entschieden genug dafür sorgt, daß diejenigen, die sich strafbar gemacht haben, abgeschoben werden.
({4})
Wer das Gastrecht mißbraucht - ich habe es eben schon gesagt -, hat es verwirkt. Sie können versichert sein, daß das ein wirksames Mittel wäre.
Ganz schlimm geht es in Hessen zu, Herr Fischer, wo der .erste grüne Justizminister Deutschlands als oberster Rechtshüter Dienstanweisungen an die Staatsanwälte des Landes herausgibt, sich bei der Strafverfolgung aus Sparsamkeitsgründen - wohl auf Kosten der Ladenbesitzer! - tunlichst zurückzuhalten. Das zeigt, wie heruntergekommen der Rechtsstaat Hessen durch Rot-Grün bereits ist. Da brauchen wir uns über die Szene in Frankfurt nicht mehr zu wundern.
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Wir sind in der Koalition auf gutem Wege dabei, daß die Korruption im Großen hart verfolgt und bestraft wird und die organisierte Kriminalität in Zukunft keine Chance mehr hat.
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- Es ist schwierig, Herr Präsident, sich Gehör zu verschaffen. Ich habe diese Zurufe einmal als Geschwätz bezeichnet; das darf ich ja nicht mehr. Aber. Herr Fischer möchte doch einmal etwas ruhiger sein.
Er hat es schon gemerkt. Machen Sie weiter.
({0})
Es kann nicht sein, daß Deutschland zum Operations- und Lebensmittelpunkt von kriminellen Drogenhändler- und Geldwäscherbanden wird. Wir werden diesen das Handwerk legen.
Darüber hinaus verlangt der Bürger verstärkt, daß er vor sogenannter kleiner Kriminalität geschützt wird, angefangen von den Ladendiebstählen über Handtaschendiebstähle bis hin zu Serien von Einbrüchen in Häusern und Wohnungen. Ebenso verlangt er, daß er auch nachts durch die Straßen unserer Städte und Dörfer gehen kann und dabei nicht Angst haben muß, von enthemmten Süchtigen und Berufskriminellen angegriffen und beraubt zu werden.
({0})
- Das ist unsere Aufgabe, Herr Fischer, nicht die Verniedlichung von Straftaten und die Sorge um die Täter, sondern die Sorge um die Opfer.
({1})
- Wenn es so war, ist es ein paar hundert Jahre her, Herr Fischer. Darüber können wir uns ja einmal unterhalten.
({2})
- Herr Fischer, ich könnte jetzt eine Stunde lang darauf antworten. Aber da es leider keine Zwischenfrage war, würde es von meiner Redezeit abgehen.
Herr Fischer, Sie fordern einen verbesserten Tater/ Opfer-Ausgleich. Den gibt es bereits, wenn wir die Vorschriften voll ausschöpfen. Über § 153 StPO und über § 56 StGB gibt es die Wiedergutmachungspflicht. Nach dem Jugendgerichtsgesetz gibt es sehr viele Möglichkeiten, Auflagen und Weisungen zu erteilen. Ein wirksames, leider selten gebrauchtes Mittel ist das Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO, das viele Juristen gar nicht mehr kennen. Hiervon wird selten Gebrauch gemacht - wahrscheinlich, weil die Anwälte nicht viel Gebühren bekommen.
({3})
Zur wirksamen Erziehung gehören aber auch konsequente, schnelle und notfalls harte Maßnahmen wie Kurzzeitarrest und zusätzliche Wiedergutmachung, die insbesondere bei Jugendlichen wirken. Der kurzzeitige Freiheitsentzug über ein Wochenende ist auch nicht unmenschlich, sondern heilsam.
Lieber Kollege Hartenbach, auch ich weiß, wovon ich rede. Ich war zehn Jahre lang Richter, davon acht Jahre lang Jugendrichter, und habe dabei festgestellt, daß das dümmlichste aller Mittel ist, einen Jugendlichen, der in der Regel nicht zum erstenmal geklaut hat, sondern nur zum erstenmal erwischt wurde, richterlich zu ermahnen. Die jungen Leute lachen sich hinterher halbtot, weil sie auch schon von Großmutter, Mutter, Vater, Lehrer und Pfarrer ermahnt wurden. Nun ermahnt sie der Richter auch noch. Die Folge: Ab ins nächste Kaufhaus, auf ein neues.
({4})
- Lieber Kollege, hinterher, nicht im Gericht.
({5})
Nicht wesentlich intelligenter ist die Auflage, hundertmal zu schreiben „Ich darf nicht stehlen", und die gemeinnützige Arbeit ist auch nur dann wirksam, wenn sich der Richter um die Stellen und die Überwachung persönlich kümmert. Kartenspielen und Biertrinken sind keine erzieherischen Maßnahmen.
Wer wie die Hamburger Justiz jungen Straftätern Erlebnisurlaube in aller Welt spendiert, muß sich nicht wundern, wenn diese jungen Leute kein Rechtsgefühl erhalten. Gerade gestern stand in der „Bild"-Zeitung
({6})
ein Fall mit der Überschrift: „Wer hat alles bei ihm versagt?" Es geht um einen 13jährigen jungen Mann namens Dennis. Die Mutter klagt:
Diese Betreuer haben völlig versagt. Man setzte 19jährige Praktikanten auf ihn an. Dabei hätte mal ein gestandenes Mannsbild auf den Tisch hauen und Dennis mit harter Hand führen müssen.
Die Kosten dieser Reisen: 100 000 DM. - Wer die „Bild"-Zeitung liest? Alle distanzieren sich von „Bild", aber lesen tut sie jeder.
({7}) Also seien wir doch ehrlich: Sie ist eine Zeitung.
Ich habe selbst erlebt, daß manche Mutter, die zunächst in Tränen aufgelöst war, weil ihre Tochter einen Wochenendarrest bekommen hat, später gesagt hat, das sei gut gewesen und habe eingeschlagen, weil ihrer Tochter erstmals Grenzen gesetzt worden seien.
Ich möchte aber noch einen Punkt erwähnen, der anscheinend vergessen wurde. Bis heute kann man einen Ladendieb nach § 127 StPO dingfest machen. Wäre es eine Ordnungswidrigkeit, könnte man das nicht mehr. Dann würden der Ladeninhaber oder der Ladendetektiv unrechtmäßig handeln, der Dieb könnte sich rechtmäßig dagegen wehren und den Laden lachend verlassen. Auch diese Folgen sollte man dabei bedenken.
({8})
Meine Damen und Herren, die SPD und Birzele wollen die Rechtsordnung auf den Kopf stellen, und diese rot-grüne Vorstellung vom Rechtsstaat machen wir nicht mit. Wir wollen das Opfer und nicht den Täter schützen. Deswegen bitte ich Sie, dem Antrag zum Schutz des Eigentums und des Vermögens zuzustimmen.
Danke schön.
({9})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin DäublerGmelin.
Herr Kollege von Stetten, zwei Punkte Ihrer Rede möchte ich gerne aufgreifen.
Der erste Punkt ist, daß Sie nicht korrekt wiedergeben, wenn Sie sagen, Herr Birzele habe sich dafür ausgesprochen, den Ladendiebstahl zu entkriminalisieren. Ihnen ist es leicht möglich, den Sachverhalt nachzuvollziehen. Zwischen dem Innenminister, dem Finanzminister und dem Ministerpräsidenten wurden Briefe gewechselt. Sie haben es deswegen nicht nötig, einer Falschmeldung aus der „Bild"-Zeitung aufzusitzen. Ich wäre Ihnen ja sehr dankbar, wenn Sie zur Kenntnis nehmen würden, daß Herr Birzele den der CDU angehörenden Justizminister aufgefordert hat, entweder mit den Mitteln, die dieser hat, dafür zu sorgen, daß Ladendiebstähle bestraft werden, oder - wenn er das nicht kann - wenigstens dafür zu sorgen, daß ein Ladendieb eine Geldbuße nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz bekommt.
({0})
Es wäre, glaube ich, ganz gut, Sie würden das noch einmal auf sich wirken lassen, bevor Sie hier falsche Dinge behaupten.
({1})
Jetzt zum zweiten Punkt: Baden-Württemberg streitet sich zur Zeit, Herr Geis, mit Bayern darum, wer das Schlußlicht beim Anstieg der Kriminalität ist.
({2})
Deswegen kann Herr Birzele gar nicht so schlecht sein, wie sich das im Augenblick bei Ihnen anhört. Ich muß Ihnen auch als Schwäbin sagen: Ich habe es satt, daß Sie die ganze Zeit meinen, unsere BadenWürttemberger hier vorführen zu müssen. Das können Sie nicht.
Wie dumm allerdings Ihre Vorwürfe gegen RotGrün oder Rot sind, das bitte ich Sie einfach aus den Statistiken zu entnehmen, und zwar den Statistiken zum Ladendiebstahl. Ich lese Ihnen jetzt die fünf Länder vor, in denen die Zahl der Ladendiebstähle im letzten Jahr am stärksten gestiegen ist, und dann die fünf Länder, in denen die Zahl am stärksten gesunken ist.
Zu den Ländern, in denen die Zahl der Ladendiebstähle am stärksten gestiegen ist, gehört SachsenAnhalt.
({3})
Insgesamt befindet sich Sachsen-Anhalt in der Statistik aber zum Beispiel weit unter Bayern, wenn Sie die Zahlen auf 1 000 Einwohner umrechnen. Gestiegen ist die Zahl in Sachsen,
({4})
gestiegen ist sie in Mecklenburg-Vorpommern,
({5})
gestiegen ist sie in Thüringen,
({6})
und gestiegen ist sie in Schleswig-Holstein.
({7})
Auch hier muß man dazusagen: Auf 1 000 Einwohner gerechnet, liegen diese Länder damit noch unter den westlichen Durchschnittsfallzahlen.
Gesunken, meine Damen und Herren, ist die Zahl der Ladendiebstähle in folgenden fünf Ländern: in Hamburg,
({8})
in Bremen,
({9})
in Brandenburg,
({10})
in Baden-Württemberg und im Saarland.
({11})
Ich wünsche mir, daß Sie das zur Kenntnis nehmen, bevor wir uns dann alle - Herr von Stetten, mit Ihnen, und mit Herrn van Essen, der das auch will, wie er mir sagte - im Ausschuß darum bemühen, nicht ein Wahlkampfgetöse zu machen, sondern wirkliche Hilfen auch für die Einzelhändler zu verabschieden. Ihre albernen Wahlkampfäußerungen sollten Sie aufgeben.
Danke schön.
({12})
Eine Sekunde, Herr von Stetten. Eine zweite Kurzintervention zu Ihrer Rede möchte Frau Grießhaber machen. Ich schlage Ihnen vor, daß Sie auf beide gemeinsam antworten.
Frau Grießhaber, bitte schön.
Herr Kollege von Stetten, Sie haben vorhin gesagt, daß Jugendliche nicht mehr reagieren, wenn Pfarrer, Richter, Lehrer und Eltern sich schon vergeblich bemüht haben. Wenn der Richter nicht hart zugreife, dann habe das alles gar keinen Sinn mehr. Andererseits ist doch bekannt, daß Sie bei dem Problem Vergewaltigung in der Ehe meinen, der Staat müsse nicht so sehr in die Familien hineinregieren,
({0})
die Familienmitglieder könnten das ja sozusagen untereinander ausklamüsern, und da müsse man doch nicht so genau sein. Dabei handelt es sich - das wissen Sie doch ganz genau - bei der Vergewaltigung in der Ehe nicht nur um eine wirklich beträchtliche Straftat, sondern sie ist das Vorbild, bei dem Kinder und Jugendliche direkt erleben, wie man mit Gewalt umgeht. Ich verstehe nicht .ganz, wie Sie diese beiden Großzügigkeiten zusammenführen wollen.
({1})
Herr von Stetten, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.
Zunächst zu der Frage von Frau Grießhaber, die hiermit sicherlich nichts zu tun hat. Wenn Sie meinen, daß Vergewaltigung in der Ehe nicht bestraft werden muß, dann ist das Ihre Sache. Das ist eines der scheußlichsten Verbrechen!
({0})
Wenn man das mißverstehen will, will man das eben. Die Vergewaltigung, das heißt Geschlechtsverkehr mit Gewalt, ist eines der schlimmsten Verbrechen, die es gibt, ob außerhalb oder innerhalb der Ehe. Das ist doch gar keine Frage.
({1})
Die Frage ist nur, was in der Ehe Gewalt ist und was nicht.
Ich will gar nicht weiter auf Ihre Ausführungen eingehen, weil Vergewaltigung in der Ehe mit Ladendiebstahl sicher nicht zu vergleichen ist, weder in dem Grad der Kriminalität noch in der Ausführung, noch in dem, was wir hier diskutiert haben.
Aber eines ist klar, Frau Herta Däubler-Gmelin: Es ist schlimm, wenn Straftaten nicht geahndet werden. Wir müssen darauf hinwirken, daß sie alle geahndet werden. Das können wir nur durch Beschleunigung und durch Abschreckung. Durch Ihre Verniedlichung werden die jungen Leute und andere geradezu ermutigt.
({2})
Wir sind heute zum Beispiel bei Ausländern großzügig. Sie geben ihren Namen und ihre Adresse an und sind ganz erstaunt, daß sie nicht einsitzen müssen, und am Abend sind sie - Frau Blank wird das bestätigen - im selben Laden und klauen wieder. Dagegen muß man hart vorgehen. Nur durch Abschrekkung und die konsequente Haltung, daß dies eine Straftat ist und nicht bagatellisiert werden darf, werden Sie die Ladendiebstähle in den Griff bekommen - sonst nicht.
Was Herr Birzele gesagt hat, kann ich in der Tat nur der Zeitung entnehmen, nicht nur der „Bild''-Zeitung. Herr Birzele hat einen Brief von Herrn Ministerpräsident Teufel bekommen. Daraufhin hat er geschrieben, er habe diese Äußerung nicht als Regierungsmitglied getan, sondern als Privatperson. Was ist er nun, Innenminister oder Wahlkämpfer oder Herr Birzele? Wenn er der Meinung ist, daß das zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden sollte, dann ist das ein falsches Signal an die falsche Adresse. Damit werden wir die Diebstähle nicht eingrenzen. Das ist das Problem, und das haben Sie nicht begriffen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/4064, 13/2005 und 13/4078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
zur parlamentarischen Behandlung des Jahresgutachtens '96 des Sachverständigenrates für Umweltfragen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({0})
Es wäre gut, wenn die Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Unterhaltung woanders fortsetzten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tage hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen sein jährliches Gutachten vorgestellt. Die Kritik an der Umweltpolitik der Bundesregierung ist absolut vernichtend. Der Rat attestiert der Umweltministerin Merkel Versagen auf der ganzen Linie.
Dies ist kein Routinegutachten, sondern ein Alarmschrei von angesehenen Wissenschaftlern, die von der Bundesregierung selbst berufen wurden. Die Kritik wiegt um so schwerer, weil dieser Umweltrat mit Kritik an der Bundesregierung normalerweise sehr vorsichtig ist. Auch sitzen bei der Erstellung des Berichts Experten aus dem Umweltministerium mit am Tisch. Diesmal konnten sie nicht schweigen; denn der Umweltschutz wird von der Bundesregierung auf dem Altar der Wirtschaftslobbyisten geopfert.
({0})
Einige Beispiele - ich zitiere aus dem Gutachten -: „Stagnation„ und „deutliche Verschlechterung" in der Naturschutz- und Bodenschutzpolitik; „schleichende Absenkung" des Schutzniveaus beim Gewässerschutz; Verpackungsverordnung und Grüner Punkt geben Anlaß zu fragen, „ob eine Kosten-NutMichaele Hustedt
zen-Analyse über die Vorteilhaftigkeit des Systems durchgehend positiv ausgehen würde"; beim Lärmschutz herrscht Funkstille; bei der Forderung nach Kerosinbesteuerung für Flugzeuge wurde Frau Merkel innerhalb kurzer Zeit von Kohl zurückgepfiffen; bei der Ozonverordnung ist sie eingeknickt und hat ein bürokratisches Monster durchgesetzt; der Umweltrat warnt vor dem Ausbau von Elbe und Saale.
Im Klartext: Nach Einschätzung des Umweltrates hat Frau Merkel gestaltende Umweltpolitik durch Selbstverpflichtungserklärungen ersetzt, die die Wirtschaft zu gar nichts verpflichten.
({1})
Ihre Tatenlosigkeit versucht diese Bundesregierung dadurch zu vertuschen, daß sie die Selbstverpflichtungserklärung der Wirtschaft zu einem originellen und unbürokratischen Instrument der Umweltpolitik hochstilisiert.
Umweltschutz kann aber nicht dem Spiel der freien Marktkräfte überlassen werden. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Staatsziel Umweltschutz in der Verfassung verpflichten den Staat, nicht nur die Interessen der Wirtschaft zu vertreten, sondern auch die der Bürger, der Natur und der zukünftigen Generationen.
({2})
Deutlich legen die Sachverständigen den Finger in die Wunde: Die Bundesregierung fällt zurück in das prähistorische Denken, daß Ökonomie und Ökologie ein Widerspruch seien. Das Gegenteil aber ist der Fall. Der ökologische Strukturwandel ist ein Anreiz für Innovationen. Nur durch neue Produkte, neue Produktionsverfahren, neue Branchen werden auch neue, dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen.
({3})
Die ausgereiften Industriezweige setzen auf Produktivitätssteigerung und damit auf die Herstellung der Produkte mit immer weniger Arbeitskräften. Hier wird es in Zukunft zu weiterem Arbeitsplatzabbau kommen. Die Bundesregierung aber latscht weiter auf alten Trampelpfaden; sie konzentriert sich lediglich auf den Erhalt der alten Großindustrie und ist nicht in der Lage, dem Lobbydruck zu widerstehen und die Interessenverquickung zwischen Politik und Großkapital zu überwinden.
Innovationspolitik bedeutet eine Strukturpolitik, die auf die Zukunftsmärkte von morgen ausgerichtet ist. Durch den Einstieg in das Solarzeitalter, durch eine zweite Eisenbahnrevolution, durch eine ressourcenschonende Abfallvermeidung können neue und vor allem zukunftsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden.
({4})
So hat die Bundesrepublik - hören Sie genau zu durch ihre umweltpolitische Untätigkeit inzwischen
ihren Spitzenreiterplatz in der Umwelttechnologie an
die USA abgeben müssen, und Japan holt sehr schnell auf.
({5})
Die Liste der Versäumnisse im Umweltschutz der Bundesregierung ist lang, besonders eklatant im Klimaschutz. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen stellt fest, daß das Klimaschutzziel bei Fortsetzung ihrer Politik nicht zu erreichen ist. Statt der versprochenen Reduktion der CO2-Emissionen um 25 Prozent werden höchstens 4,6 Prozent erreicht.
({6})
„Von nun an geht's bergauf" - aber nur bei den CO2-Emissionen.
Ziehen wir Bilanz: Die Strategie, auf Selbstverpflichtungserklärungen der Industrie zu setzen, ist gescheitert.
({7})
Sie waren zu niedrig angesetzt, sie werden nicht kontrolliert, und die Umweltministerin verzichtet im Gegenzug auf jegliches staatliches Handeln. Vor allem die ökologische Steuerreform wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, und Frau Merkel hat wieder einmal geschwiegen.
({8})
Bei der Förderung von regenerativen Energiequellen und effizienzsteigernden Maßnahmen haben wir den absoluten Tiefstand erreicht. Bei der Bahn wird gespart, bei dem Bau von Autobahnen und Fernstraßen geklotzt, und jetzt plant die Bundesregierung, kaschiert durch einen Wust von Fachbegriffen, einen tiefen Einschnitt ins Umweltrecht.
Der Umweltrat hält es für unverantwortlich, daß die Diskussion um den Standort Deutschland genutzt wird, um den Stillstand im Umweltschutz oder gar eine Senkung der ökologischen Anforderungen zu begründen.
({9})
Das, was der Umweltrat jetzt laut und deutlich einfordert, hätten wir von der Umweltministerin erwartet. Doch sie schweigt. Ja, sie unterstützt sogar noch die Vorhaben der Bundesregierung. Mit Frau Merkel als Umweltministerin hat der Schutz der Gesundheit der Menschen vor Umweltverschmutzung keine Lobby.
({10})
Mit Frau Merkel als Umweltministerin bleibt der Platz des Umweltschutzes am Tisch dieser Regierung leer. Der Umweltrat hat mit seinem Gutachten Mut bewiesen. Wir danken ihm dafür. Der Umweltrat hat sich ein Verdienst erworben. Er hat gerufen: Die Kaiserin ist nackt. - Jetzt stehen Sie da, Frau Merkel, und jeder sieht es.
Wir erwarten jetzt von Ihnen, daß Sie Ihren Kurs ändern. Mit dem Gutachten des Umweltrates im Rükken muß eine Umweltministerin in die Offensive gehen. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie uns nach Ostern einen detaillierten Plan vorlegen, wie Sie die Mängel Ihrer Arbeit beseitigen wollen. Ab jetzt werden Sie Ihr Versagen nicht mehr unter den Teppich kehren können. Handeln sie endlich wie eine Umweltministerin, und reduzieren Sie Ihr Amt nicht auf eine umweltfeindliche Pro-Atom-Politik, die Sie mit Gewalt gegen die Bürger durchsetzen! Ich sage Ihnen: Ihre Schonzeit ist jetzt endgültig vorbei.
({11})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Klaus Lippold das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Hustedt, den Satz, daß die Schonzeit für Frau Merkel vorbei sei, haben wir schon direkt zu Beginn ihrer Karriere gehört. Das, was Sie hier vorgebracht haben - das muß ich ganz offen sagen -, begründet genau das, was ich damals gesagt habe: Solange wir auf der einen Seite solch eine verschlafene Opposition haben, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt und die Akzente nicht richtig setzt, und solange wir auf der anderen Seite jemanden wie Sie haben, der das Gutachten des Sachverständigenrats nicht zur Kenntnis nimmt, aber hier polemisiert, so lange brauchen wir uns diese Vorwürfe nicht gefallen zu lassen.
({0})
Warum soll Frau Merkel denn ihre Politik ändern?
({1})
Der Sachverständigenrat sagt ganz deutlich, daß wir in den verschiedensten Bereichen der internationalen Umweltpolitik eine Vorreiterrolle haben. Sollen wir das ändern? Der Sachverständigenrat sagt ganz deutlich, daß wir in den neuen Bundesländern so viel Umweltschutz durchgesetzt haben, daß man sich das wirklich ansehen muß und daß das international vorzeigbar ist. Sollen wir das ändern, Frau Hustedt? Ich weiß wirklich nicht, was Sie wollen.
Hier wird etwas getan. Hier wird deutlich akzentuiert, daß wir in der Umweltschutzpolitik vorne sind, daß wir uns vor niemandem zu verstecken brauchen. Eine solche erfolgreiche Politik sollen wir ändern? Wo sind wir denn überhaupt?
({2})
- Nein, ich will jetzt erst einmal weiterreden.
Sie haben immer wieder gefordert, marktwirtschaftliche Instrumente einzusetzen und nicht mit den veralteten ordnungsrechtlichen Vorstellungen die Sache anzupacken. Dieser Steinzeitansatz von
Umweltpolitik, dem Sie immer noch anhängen, ist doch der Punkt.
({3})
Seit die Ministerin dies aufgegriffen hat und infolgedessen der Vorwurf, wir arbeiteten nicht mit marktwirtschaftlichen Instrumenten, nicht mehr greift, kehren Sie um und sagen: Hier wird nur noch mit diesen Instrumenten gearbeitet. Seien Sie doch froh, daß wir diese Selbstverpflichtungen haben, weil wir Umweltschutzziele in einer Art und Weise realisieren können, wie es früher nicht gegeben war.
Nun sagt der Sachverständigenrat völlig zu Recht, daß dies kontrolliert werden müsse. Es müsse ein Umweltmonitoring her. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das ist unser Ziel. Mitte dieses Monats wird es auf den Tisch gelegt werden. Ein Umweltschutzmonitoring ist in Vorbereitung; es wird gemacht. Das heißt, das, was hier gefordert wird, wird von uns umgesetzt.
Die Vorstellungen des Sachverständigenrates werden verwirklicht. Und da, Frau Hustedt, soll Frau Merkel ihre Politik ändern? Warum denn? Genau das, was andere fordern, wird hier vollzogen. Das ist nicht wie in Ihren internen studentischen Diskussionskreisen, wo man sich müde diskutiert, wo aber nicht gehandelt wird. Hier wird gehandelt, hier wird etwas gemacht. Das ist die Position, die ich hier noch einmal ganz deutlich hervorhebe.
({4})
Ich gehe jetzt konkret auf Ihre Positionen ein. Das Öko-Audit ist verabschiedet worden. Das haben Sie seinerzeit gewollt. Heute höre ich hierzu gar nichts von Ihnen. Die Sommersmogverordnung ist gemacht worden;
({5})
Selbstverpflichtungen wurden vorgelegt.
Sie haben auch gesagt, das laufe alles nicht in die richtige Richtung. Der Sachverständigenrat für Umweltschutzfragen sagt: Wir müssen den Weg erfolgreich weitergehen, den diese Bundesregierung mit Frau Merkel begonnen hat: Förderung beim Niedrigenergiehaus, Förderung bei der Energieeinsparung im Altbaubestand.
({6})
Der Sachverständigenrat sagt, dies seien entscheidende Schritte in die richtige Richtung. Wir können auf Ordnungsrecht verzichten, wenn diese marktwirtschaftliche Politik der Anreize weiter fortgeführt wird. Das müssen Sie lesen, Frau Hustedt.
({7})
Sie können nicht einfach Ihre Standardkritik ablassen und sagen, dies habe der Sachverständigenrat
Dr. Klaus W. Lippold ({8})
gesagt. Sie müssen sich schon ein bißchen mehr Mühe machen und darauf eingehen.
Es gibt andere Positionen: Das Kreislaufwirtschaftsgesetz ist verwirklicht. Es wurde von Ihnen eingefordert, daß die untergesetzlichen Regelungen vorgelegt werden. Frau Ministerin Merkel hat diese untergesetzlichen Regelungen vorgelegt. Wir werden vor der Sommerpause die Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes behandeln, wir werden an das Naturschutzgesetz herangehen - alles Punkte, die eindeutig positiv sind und bei denen wir auch von den Verbänden ganz deutlich unterstützt werden.
({9})
- Herr Fischer, die Häufigkeit Ihrer Zwischenrufe erhöht nicht deren Originalität und erst recht nicht die Wahrscheinlichkeit, daß sie zutreffen. Das wird langsam so mittelprächtig langweilig, daß es sich noch nicht einmal mehr lohnt, darauf einzugehen.
({10})
Aber gehen wir doch auf einen weiteren Schwerpunkt ein. Das ist die Frage der Nichtregierungsorganisationen und der Umweltschutzorganisationen. Hierzu sagt der Sachverständigenrat: Umweltschutzorganisationen sollen stärker in die Politik eingebunden werden. Das ist genau das Konzept, nach dem die Umweltministerin handelt: intensive Kontakte zu den Umweltschutzorganisationen und Abstimmung mit ihnen, Beteiligung der Umweltschutzorganisationen, wenn es um Umweltschutzaktivitäten im Ausland geht.
Wir stimmen uns mit ihnen intensiv ab. Die Ministerin macht das vorbildlich. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt in ganz hervorragender Weise Umweltschutzorganisationen im Ausland. Ich kenne kein Land, das sich nicht nur um inländische Umweltschutzorganisationen kümmert, sondern auch ausländische in dieser Form fördert.
Ich möchte eines sagen: Bei der Vertragsstaatenkonferenz in Rio wäre die Konferenz der NGOs zusammengebrochen, wenn diese Bundesregierung ihr nicht finanziell unter die Arme gegriffen hätte.
({11})
Das sind Positionen, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen. Hier wird realisiert, was im Sachverständigengutachten steht.
({12})
Nehmen wir das Kreislaufwirtschaftsgesetz - ich habe das bereits erwähnt - und die Abfallpolitik. Wir sind doch mittlerweile so weit, daß ein bedeutender Verband auf seinem Kongreß in Düsseldorf im Hinblick auf die Entsorgungstechnik eine Diskussion angesetzt hat, in der er sich darüber beklagt, daß er nicht mehr die Abfallmengen wie früher zur Verfügung hat, daß er kein Wachstum zu verzeichnen hat und daß er nicht weiß, wie er damit fertig werden soll.
Es ist das erste Mal, daß jemand, weil wir erfolgreich waren, in diesem Lande fragt: Wo bleibt der Müll, den ich verarbeiten soll? Ich sage ganz deutlich: Kein Verband, auch nicht die Entsorger, hat einen Anspruch darauf, daß ihm ein gleichbleibendes Müllaufkommen garantiert wird, nicht in diesem Staat und nicht mit dieser Bundesregierung.
Im Umkehrschluß ist das der Beweis dafür, daß diese Bundesregierung in dieser Frage nicht geredet, sondern gehandelt hat. Das ist der Unterschied.
({13})
Ich sage das in Richtung Sozialdemokraten: Die Sozialdemokraten haben seinerzeit Vereinbarungen mit der Wirtschaft geschlossen. Ich erinnere an das Gymnicher Abkommen. Man muß das einmal in Erinnerung rufen.
({14})
Damals wurde gesagt: Wegen der wirtschaftlichen Situation frieren wir den Umweltschutz für zehn Jahre ein. Das ist der Punkt, das geschieht hier nicht. Auch in einer wirtschaftlich schwierigen Situation wird der Umweltschutz von uns vorangetrieben.
Die Bilanz, die wir vorlegen können, ist positiv. Der Sachverständigenrat sieht das. Wenn wir Einzelpunkte als Kritik begreifen, werden wir das tun, was wir in den Bundesländern von Ihnen vielfach nicht erleben. Wir werden der Einzelkritik nachgehen und sie konstruktiv aufgreifen. Unsere Erfolgsbilanz wird beim nächsten Mal noch besser sein als die, die die Ministerin schon diesmal vorgelegt hat.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich gebe nun der Abgeordneten Ulrike Mehl das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold, ich habe heute die Presseerklärung von Frau Merkel ausführlich gelesen. Ihre Rede kam mir sehr bekannt vor. Sie haben anscheinend die Presseerklärung von Frau Merkel vorgetragen.
({0})
So hörte es sich jedenfalls an. Aber sie war auch ausführlich.
Die Bundesumweltministerin erklärte sich nach der Überreichung dieses Gutachtens dankbar, weil dieses Gutachten die Richtigkeit ihrer Politik erkläre.
Als ich das gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob wir vom selben Gutachten reden; denn nach meiner Auffassung hat der Rat doch ganz heftige Kritik an der Politik der Bundesregierung geübt.
Der Rat drückt das recht freundlich, aber doch deutlich aus. Dort steht geschrieben, daß sich Tendenzen in Richtung auf eine gewisse Zurückhaltung, wenn nicht gar auf eine Reduktion des Anforderungsniveaus im Umweltschutz abzeichnen. Es kann doch wohl keiner sagen, daß das eine Erfolgsmeldung gewesen ist.
({1})
Seit der Konferenz in Rio hat das Thema zwar an Bedeutung gewonnen. Der Sachverständigenrat sagt aber auch, daß Politik und Gesellschaft unbedingt zum Handeln angehalten werden müssen. Das klingt nicht nach „Weiter so", sondern das klingt nach einem Faustschlag auf den Tisch.
Frau Merkel, ich will Ihnen gerne unterstellen, daß Sie guten Willens sind - das war Herr Töpfer auch -, nur reicht guter Wille nun einmal nicht aus. Ich fordere Sie auf, damit aufzuhören, dieses Gutachten des Sachverständigenrates umzudeuten oder zu ignorieren.
({2})
Nutzen Sie lieber die Unterstützung! Das sind doch Leute, die an diesem Thema interessiert sind. Nutzen Sie das, nehmen Sie das als Rückenwind, nehmen Sie die Fakten, und hauen Sie selber einmal auf den Tisch, und zwar auf den Kabinettstisch!
({3})
Bewegen Sie etwas in der Umweltpolitik und für die Umwelt selbst, damit Ihre Politik glaubwürdiger wird!
Umweltschutzpolitik kann nicht an Datenmengen oder Papierbergen gemessen werden, sondern daran, wie sie tatsächlich wirkt, was tatsächlich umgesetzt wird. Der Sachverständigenrat stellt dazu eindeutig fest, daß sämtliche Alarmglocken läuten.
({4})
Wir brauchen zwar durchaus noch viele Daten, zum Beispiel in der Ökosystemforschung, und wir brauchen die Verknüpfung dieser Daten, um daraus weitere Handlungsmöglichkeiten ableiten zu können. Wir kommen aber keinen einzigen Millimeter weiter, wenn damit nur die Computer gefüttert werden und die handelnden Personen in der Politik und Wirtschaft dies überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen und etwas ganz anderes machen,
({5})
nach dem Motto: Wir sind ganz modern, wir machen Umweltschutz im Cyberspace.
({6})
Der Sachverständigenrat stellt ausdrücklich fest, daß es von entscheidender Bedeutung ist, interdisziplinär auf eine dauerhaft umweltgerechte Entwicklung hinzuarbeiten. Jetzt frage ich Sie: Wo geschieht denn das in der Bundesregierung? Etwa bei der Finanzierung des Transrapid,
({7})
für den Herr Wissmann 44 Prozent der benötigten 7,5 oder offiziell 5,6 Milliarden DM aus allen Ministerien herausquetschen will, unter anderem auch aus dem Umweltministerium?
Frau Merkel, wo wollen Sie das eigentlich einsparen, beim Komplex Reaktorsicherheit oder beim Naturschutz? - Das würde mich schon sehr interessieren.
({8})
Ein bedeutender Themenkomplex des Gutachtens ist die Naturschutzpolitik. Der Erhaltung der biologischen Vielfalt mißt der Rat eine besondere Bedeutung bei. Dieses Thema fällt ja regelmäßig in der Politik unter den Tisch.
Daß es aber Bedeutung hat, ist auch daran zu erkennen, daß es ein Sondergutachten für das Konfliktfeld Landwirtschaft und nachhaltige Nutzung ländlicher Räume gibt. Angesichts der Tatsache, daß 68 Prozent der Biotoptypen in Deutschland gefährdet sind, mahnt der Rat dringendst Handeln an.
Wir brauchen ein modernes Naturschutzgesetz, auf das wir schon zehn Jahre warten; wir brauchen mindestens 10 Prozent Vorrangflächen für den Naturschutz; wir brauchen darüber hinaus flächendekkend naturverträgliches Wirtschaften, insbesondere in der Landwirtschaft; wir brauchen Finanzierungsinstrumente, um zu einer umweltverträglichen Landwirtschaft umsteuern zu können. Dies fordern wir seit Jahren, und dies fordern nicht nur wir.
({9})
Dies fordern wir nicht nur aus Lust am Streiten, sondern weil uns die hohen Umweltziele der nationalen und internationalen Abkommen unter den Händen zu zerrinnen drohen.
Wenn aber Herr Borchert noch weiter darüber nachdenkt, wie er denn den Umweltschutz möglichst umgehen kann, und dieses Kabinett nicht bereit ist, wenigstens Konzepte für eine ökologische Wende zu erarbeiten, bleibt Ihre Umweltpolitik weiterhin eine virtuelle Politik im luftleeren Raum.
({10})
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen fordert dringend ein Bodenschutzgesetz, das endlich regelt, wie man Bodenbelastungen und Altlasten zu handhaben hat. Wenn Sie ständig davon reden, daß Investitionshemmnisse zu beseitigen sind, dann schließen
Sie nicht die Öffentlichkeit von den Planungen aus, sondern schaffen Sie mit diesem Gesetz Rechtssicherheit für potentielle Investoren.
Der Sachverständigenrat vermittelt den Eindruck, er hat die Hoffnung bereits aufgegeben, daß dieses Gesetz überhaupt kommt, und es wird vermutlich den Weg des Bundesnaturschutzes gehen.
Wir wollen von Ihnen wissen, Frau Merkel: Wann kommt dieses Gesetz? Kommt es überhaupt, und wenn es kommt, was wollen Sie darin regeln?
({11})
Beim Stichwort Öffentlichkeitsarbeit - das ist eben schon gesagt worden - möchte ich noch auf das Kapitel Verbände eingehen.
({12})
Der Sachverständigenrat schreibt zwar auch den Verbänden einiges Lesenswerte ins Stammbuch; er stellt aber auch klar, daß Umweltverbände eine entscheidende Rolle bei der notwendigen öffentlichen Diskussion und damit bei der Bewältigung der Umweltprobleme spielen. Er fordert ausdrücklich dazu auf, diese gesellschaftliche Kraft bei der Realisierung von Umweltpolitik weitreichend einzubeziehen.
Deshalb ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, warum Sie, Frau Merkel, die Verbandsklage nicht in das Bundesnaturschutzgesetz hineinschreiben wollen.
({13})
Die Verbände wollen Verantwortung übernehmen. Warum geben Sie ihnen die Verantwortung nicht?
Das Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber der Politik ist inzwischen so groß geworden - das gilt für die Politik insgesamt -, daß die Politik - und damit wir alle - in wachsendem Maße Schwierigkeiten hat, Projekte überhaupt noch umzusetzen. Deswegen ist der Ausweg daraus nicht der, die Öffentlichkeit auszuschließen; der Ausweg kann vielmehr nur der sein, die Öffentlichkeit frühzeitig in Planungen einzubeziehen.
({14})
Dadurch werden die Verfahren nicht verlangsamt, sondern im Gegenteil werden Konflikte bereits im Vorfeld gelöst und langwierige Streitereien hinterher vermieden.
({15})
- Reden Sie, wenn Sie dran sind!
({16})
Wenn wir die massiven Probleme der Gegenwart für die Zukunft lösen wollen, dann müssen die vorliegenden Erkenntnisse und die daraus resultierenden Handlungsansätze für die Menschen nachvollziehbar sein. Das setzt Grundwissen um die Probleme und Transparenz in der Politik voraus. Diese Transparenz kann ich bei der Bundesregierung wahrhaftig nicht erkennen.
Ich bin davon überzeugt, daß die fehlende Bereitschaft zu konsequentem Handeln in Gesellschaft und Politik wesentlich damit zusammenhängt, daß Umweltbildung lange Zeit als nettes Schmuckwerk weniger Engagierter angesehen wurde. Ich schlage Ihnen vor: Machen Sie doch einmal für das Bundeskabinett eine Woche lang eine Klausur zur Umweltbildung! Dann kommen wir mit diesem Thema vielleicht etwas weiter.
({17})
- Das resultiert auch daraus, daß hier entsprechend agiert wird. Hören Sie sich doch einmal die Reden Ihrer Minister da an!
({18})
Wenn wir auch nicht mit allen Vorschlägen des Sachverständigenrates einverstanden sind - in dem Gutachten gibt es eine Reihe von Vorschlägen, bei denen wir grundsätzlich anderer Meinung sind, zum Beispiel bei der einseitigen Ausrichtung der Müllverbrennung -,
({19})
so stimmen wir doch mit dem überwiegenden Teil der Vorschläge überein.
Ich meine, dieses Gutachten bestätigt auch unsere jahrelange Kritik an Ihrer Politik, Frau Merkel. Sie werden uns sicherlich gleich erzählen, wie wichtig und wirksam Ihre Umweltpolitik ist, und werden sagen, daß der Sachverständigenrat Ihnen nur freundliche Verbesserungsvorschläge gemacht hat.
Ich möchte Ihnen folgendes vorschlagen: Wenden Sie das, was Sie für andere für so wirksam halten, nämlich das Öko-Audit, doch einmal bei sich selbst an. Das haben Sie für Ihr Haus bisher abgelehnt.
({20})
Machen Sie mit Ihrem Haus einmal kraftvoll vor, wie das zu managen ist, wie man Umweltmanagement, Umweltbetriebsführung und Umweltpläne machen kann. Ihre Kabinettskollegen warten bestimmt schon
ganz begierig darauf zu sehen, wie das alles zu regeln ist. Dann können Sie zusammen mit der Bundesregierung vielleicht auch dem Ziel näherkommen, daß man Ihnen abnimmt, daß Sie mit Umweltschutz überhaupt etwas anfangen wollen.
({21})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seitdem diese Koalition in der Regierungsverantwortung steht, wird sie in Sachen Umweltpolitik von der Opposition kritisiert.
({0})
Immer ist alles zuwenig, zu langsam, zu lasch.
Von dem Sachverständigengutachten, das uns vorgelegt worden ist, konnte ich bisher leider nur die Kurzfassung lesen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist. Ich bezweifle, daß Sie das ausführliche Gutachten, das am letzten Freitag gekommen ist und 670 Seiten umfaßt, schon durchgelesen und durchgearbeitet haben.
({1})
Jedenfalls zeigt mir die Kurzfassung des Gutachtens und das, was ich in dem ausführlichen Gutachten schon lesen konnte, daß der Sachverständigenrat ein sehr unabhängiges Gutachten abgegeben hat.
({2})
Das ist richtig so, und das finde ich auch gut. Deswegen hat es der Sachverständigenrat auch verdient, daß wir mit dem Gutachten vernünftig umgehen und eine saubere Diskussion darüber führen. Das werden wir natürlich tun.
({3})
Wenn Ihnen immer alles zu langsam geht und alles nicht genug ist, dann schauen wir uns doch einmal an, wie es denn in der Wirklichkeit aussieht.
Die Luftqualität hat sich gewaltig verbessert; die Staubemissionen sind reduziert worden; das Schwefeldioxid ist gegenüber 1980 halbiert worden. Wir haben bei der Abwasserreinigung das höchste Niveau in Europa. Das „Aktionsprogramm Rhein" mit der Halbierung der Schadstoffeinträge wurde 1995 übererfüllt; Sie haben uns vor ein paar Jahren noch nicht einmal zugetraut, daß wir das überhaupt erreichen würden. Die Phosphateinträge in die Nordsee wurden halbiert, die Einträge von Stickstoff um ein Viertel gesenkt.
({4})
Die Abfallmengen in Deutschland sind so gesunken, daß wir zwischenzeitlich bei der Deponierung sowohl von Hausmüll als auch von Sondermüll Überkapazitäten haben. Wir brauchen etwa 50 geplante Müllverbrennungsanlagen also gar nicht mehr zu bauen. Wir ersparen den Kommunen
({5})
und letztlich den Gebührenzahlern Investitionen in der Größenordnung von 25 Milliarden DM.
({6})
Wir haben in Deutschland auch den FCKW-Ausstieg vorangetrieben. - So könnte man die Aufzählung fortsetzen.
Das ist erfolgreiche Umweltpolitik, die sich nicht zu verstecken braucht. Ihr Katastrophenszenario ist schlichtweg falsch; es hat mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun.
({7})
Frau Hustedt, Sie haben dann noch gesagt, wir hätten mit der Vorsorgepolitik schon gar nichts am Hut, und die Gefahrenabwehr habe auch gelitten. Dazu zitiere ich aus dem Gutachten:
Der Umweltrat ist der Auffassung, daß auch in den letzten Jahren vieles auf den Weg gebracht wurde, insbesondere hält er es für einen Fortschritt, daß sich in den vergangenen Jahren die Umweltpolitik erkennbar von einer Politik der bloßen Gefahrenabwehr zu einer Vorsorgepolitik entwickelt hat.
({8})
Nun will ich aber nicht bestreiten - das haben wir alle miteinander nicht abgestritten -, daß es auch noch Probleme gibt. Es gibt Handlungsbedarf - das Gutachten weist teilweise völlig zu Recht darauf hin -, beispielsweise - Frau Mehl hat es schon gesagt - beim Thema Naturschutzgesetz. Der Artenschwund in Deutschland ist besorgniserregend. Die Tier- und Pflanzenwelt verarmt, weil ihre Lebensräume verschwinden.
({9})
Das heißt, Natur- und Artenschutz müssen in die Besiedlungspolitik und in die Landbewirtschaftung
stärker integriert werden. Dafür benötigen wir auch
das neue Bundesnaturschutzgesetz. Dabei sind aber nicht nur wir hier in der Verantwortung, sondern für die Umsetzung - auch darauf weist das Gutachten hin - sind natürlich vor allen Dingen die Länder und Kommunen verantwortlich.
Der Sachverständigenrat hat natürlich auch recht, wenn er das Bundesbodenschutzgesetz samt untergesetzlichem Regelwerk anmahnt. Wir wollen ja nichts anderes. Nur, Sie wissen so genau wie wir, daß die jüngsten Verzögerungen auf Verfassungsänderungen zurückzuführen sind und darauf, daß der Bund nicht mehr alles so regeln kann, wie er es gern regeln wollte. Diese Verfassungsänderungen sind vor allem von den Ländern durchgesetzt worden.
({10})
Handlungsbedarf besteht mit Sicherheit auch weiterhin beim Klimaschutz. Darüber haben wir hier immer und immer wieder Übereinstimmung festgestellt. Hierbei kommen wir - auch das stellt dieses Gutachten völlig zu Recht fest - mit den alten Rezepten des Ordnungsrechts, mit Verboten und Grenzwerten nicht weiter.
Wir brauchen nicht nur die moderne Technik; wir brauchen auch die Menschen. Wenn wir das Verkehrsverhalten ändern wollen, müssen wir beispielsweise auch das Verbrauchsverhalten der Menschen ändern. Hier ist die Lücke zwischen Umweltbewußtsein und Umweltverhalten groß.
({11})
Sie muß geschlossen werden.
({12})
Deswegen brauchen wir andere Lenkungsinstrumente, zum Beispiel - das haben wir oft genug diskutiert - auch finanzielle Anreize.
({13})
Das sagt das Gutachten, und das sagen wir auch.
Sie reden die ganze Zeit von der Beschäftigungswirkung.
({14})
Dazu sagt das Gutachten ganz klar - ich zitiere -:
Die von Umweltschutzmaßnahmen ausgehenden positiven Beschäftigungseffekte dürfen nicht überschätzt werden.
Genau das machen Sie die ganze Zeit, indem Sie durch die Gegend laufen und betonen, die ganze Arbeitsmarktproblematik könnte nur mit einer ökologischen Steuerreform überwunden werden.
({15})
Das Umweltgutachten ist keine Bibel, kein Buch der absoluten Wahrheiten. Wir müssen uns mit den
Vorschlägen und mit der Kritik der Gutachter auseinandersetzen. Wir werden das in den nächsten Wochen intensiv tun. Zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ist das, was Sie machen, nur ein selektives Herausgreifen, und das ist auch nicht in Ordnung.
Sie müssen weiterhin zur Kenntnis nehmen, daß das Umweltgutachten auch eine Ohrfeige für die Umweltpolitiker der SPD und der Grünen ist. Dazu gibt es einige Beispiele.
Sie haben vorhin die Selbstverpflichtung angesprochen. In dem Gutachten wird von den Sachverständigen ausdrücklich ausgeführt - ich zitiere -:
Selbstverpflichtungen der Wirtschaft werden grundsätzlich als Möglichkeit zur Stärkung der Eigenkräfte der Unternehmen im Dienst umweltgerechter Produkt- und Verfahrensinnovation angesehen.
({16})
- Ja, als eine der Möglichkeiten. Etwas anderes sagen wir doch auch nicht, Frau Hustedt.
({17})
Weiter im Zitat:
Sie können der Praxis eines lediglich nachsorgenden Umweltschutzes entgegenwirken und stehen für die Erwartung, daß die Unternehmen freiwillig mehr an Umweltschutz leisten sollen, als der Staat ihnen gegenwärtig abzuverlangen vermag.
Das müssen Sie doch einfach zur Kenntnis nehmen!
({18})
Was ist beispielsweise damit? Die Umweltpolitiker der SPD ziehen unter Protest aus dem Umweltausschuß aus, weil sie die Verfahren der kalten Rotte der Müllverbrennung gleichstellen wollen. Was sagen die Gutachter dazu? Sie bescheinigen der Bundesregierung, daß es richtig ist, an der Verbrennung von Hausmüll festzuhalten und die TA Siedlungsabfall nicht zu ändern.
({19}) Da muß ich Sie fragen: Übernehmen Sie das?
({20})
Ein weiteres Beispiel: Bei der Verabschiedung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes diffamierten Sie uns als Verbrennungsfetischisten, weil wir die energetische Verwertung dort, wo sie ökologisch sinnvoll ist, neben der stofflichen Verwertung zugelassen haben. Was sagen die Gutachter? - Die plädieren jetzt sogar für eine Verbrennung von Kunststoffverpackungen in modernen Müllverbrennungsanlagen mit Abwärmeverwertung und wollen da verheizen.
({21})
Übernehmen Sie das? So gibt es x Beispiele.
Die steuerliche Gleichstellung öffentlicher und privater Entsorger wird von den Gutachtern befürwortet.
({22})
Der Privatisierung werden Effizienzsteigerungen bescheinigt. Frau Kastner läuft dagegen Sturm. Ich fordere Sie auf: Ändern Sie Ihre Position dazu! Man könnte das noch in einigen Punkten fortsetzen.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. SPD und Grüne mißbrauchen das Umweltgutachten für billige Wahlkampfpolemik.
({23})
Sie arbeiten selektiv, suchen Wahlkampfmunition. Das, was ihnen nicht in den Kram paßt, verschweigen sie.
({24})
Ich habe aus dem Gutachten nicht nur das vorgetragen, was unsere Politik bestätigt, sondern auch die Punkte, bei denen Kritik geäußert wird. Das ist eine saubere Auseinandersetzung, meine Damen und Herren. Eine solche erwarte ich auch im Umweltausschuß. Dort sollten wir sie dann führen.
Danke.
({25})
Ich erteile nun der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort.
({0})
Danke für das Kompliment.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Woche vor der ersten Lesung der sogenannten Beschleunigungsgesetze meldete sich der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen deutlich zu Wort. Standorterhebliche Fragen dürften nicht als Begründung für andere Ziele, vor allem nicht für die Senkung des Umweltschutzniveaus, mißbraucht werden. Vorschläge, die mittels der weiteren Beschleunigung von Genehmigungsverfahren umweltrelevante Schutzstandards und Beteiligungsrechte weiter abbauen helfen, werden vom Wissenschaftlichen Beirat entschieden abgelehnt. Mit anderen Worten: Stopp mit dem umweltpolitischen Rollback zugunsten der Unternehmen und zu Lasten von Natur sowie von Bürgerinnen und Bürgern.
Heute morgen haben wir gerade darüber debattiert. Ehrlich gesagt, sieht es eigentlich nicht danach aus, als hätten Argumente von Wissenschaftlern nennenswerten Einfluß auf die Koalition. Da wird wohl auch die Forderung des Umweltrates nach einer umfassenden und frühzeitigen Beteiligung von Umweltverbänden auf taube Ohren stoßen. Interessant ist, daß sich der Umweltrat der Bundesregierung in der
Bewertung der Problemfelder in fast allen Fragen auf die Seite der Opposition schlug.
({0})
Oder richtiger: Die Opposition in diesem Hause scheint bei aller Unterschiedlichkeit etwas näher an den Sachthemen zu sein als die andere Seite.
({1})
- Ich meine, Sie müssen alle Wahlkampf machen, und bei der F.D.P. sieht es ein bißchen schwierig aus. Sie muß ja immer in dieser Richtung reden.
({2})
Es wird die schon überfällige Novellierung des Naturschutzgesetzes mit der Abschaffung des Agrarprivilegs genauso gefordert wie ein Bundesbodenschutzgesetz. Bei letzterem haben augenscheinlich selbst die Sachverständigen schon die Hoffnung aufgegeben, es noch in dieser Wahlperiode zu Gesicht zu bekommen.
({3})
Angesichts der gerade verabschiedeten zahnlosen Düngemittelverordnung blieb den Gutachtern nichts anderes übrig, als auf die hohe Schadstoffbelastung von Nord- und Ostsee sowie der Fließgewässer und auf das Instrument der Mineraldüngerabgabe zu verweisen, genau wie die Opposition sie immer forderte und die Koalition sie immer ablehnte.
Daß der Umweltrat den Ausbau der relativ naturnahen Flüsse wie Elbe und Saale zu hochleistungsfähigen Wasserstraßen nachdrücklich ablehnt, liegt wohl auf der Hand. Allein die Koalition hält an diesen Wahnsinnsprojekten weiter fest,
({4}): Und Frau Merkel schweigt!)
genauso wie an dem ebenfalls ökologisch und ökonomisch schwachsinnigen Transrapid.
Auch in der CO2-Problematik scheint die Bundesregierung niemanden mehr zu überzeugen. Vielleicht läßt sie sich wenigstens von ihrem Beirat dazu überreden, daß Umweltlenkungsabgaben und ähnliche Instrumente zur Verteuerung des Naturverbrauchs endlich ernsthaft auf die Tagesordnung gehören.
Das Ziel der Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent bis zum Jahr 2005, bezogen auf das Jahr 1990, steht noch immer in den Sternen. Wir diskutieren zwar immer darüber, aber es passiert halt nichts, Frau Merkel. Allein mit der weiteren Zerstörung der Ostindustrie können wir dieses Ziel nicht erreichen. Irgendwann müßte auch gegen den Widerstand verschiedener Lobbygruppen beispielsweise die Wärmenutzungsverordnung verabschiedet werden. Im Entwurf stehen schon so nützliche Sachen wie das gesetzliche Gebot der Nutzung industrieller AbEva Bulling-Schröter
wärme. Aber da sei wohl Gott, eher aber die Selbstverpflichtung vor: Selbstverpflichtung als die Zauberformel der Umweltpolitik, als Ersatz für konsequentes staatliches Handeln. Ob mit diesen Götzen die Reduktionsziele zu erreichen sind, zweifelt wohl auch der Sachverständigenrat an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundestagsgruppe der PDS unterstützt die Forderungen des Sachverständigenrats nach einer Vereinheitlichung und Transparenz bei der Setzung von Umweltstandards. Eine solche Reform würde nicht nur die Vollzugsdefizite eindämmen, sondern bei Entscheidungs- und Konfliktregelungsverfahren auch bessere Voraussetzungen für die vom Umweltrat geforderte stärkere Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Umweltgruppen schaffen.
Die besten Umweltstandards werden aber nichts nützen, wenn nicht endlich eine Abkehr vom allgegenwärtigen Wachstumsgedanken gelingt. Die Hinweise des Umweltrats auf die Defizite bei der politischen Umsetzung des Leitbilds einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung deuten akademisch an, was eigentlich des Pudels Kern ist: Die Logik der Kapitalverwertung stellt einer tatsächlichen und nachhaltigen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung immer wieder ein Bein. Daran wird selbst eine fortschrittliche Umweltpolitik, sollte es sie jemals geben, kaum etwas ändern.
({5})
Ich erteile dem Abgeordneten Max Straubinger das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Wenn Frau Hustedt der Bundesregierung Versagen vorwirft, dann hat sie meines Erachtens das Gutachten nicht gelesen.
({0})
- Das ist doch nicht wahr.
Denn gerade dieses Gutachten führt in seinem Vorwort auch aus, daß Deutschland in den vergangenen 25 Jahren zum umweltpolitisch fortschrittlichsten Land geworden ist. Wir - vor allen Dingen die Bundesregierung und Bundesministerin Angela Merkel - haben hier eine fortschrittliche, den ökologischen Erfordernissen angepaßte und gerecht werdende Umweltpolitik betrieben. Das Gutachten zeigt dies mit auf.
Das Gutachten fordert aber auch, daß auf manchen Gebieten Verschärfungen im Bereich des Umweltrechts eingeführt werden sollen und daß diese bei den Diskussionen über den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht geopfert werden sollen.
Erstens stelle ich fest, daß es derzeit keine Bemühungen gibt, die Anforderungen nach unten zu setzen, wie es die Opposition teilweise immer wieder kritisiert. Zweitens möchte ich hier auch feststellen, daß hochwertiger Umweltschutz für Mensch und Natur nur mit einer gut florierenden Wirtschaft zu haben ist
({1})
und nicht mit Nullwachstum - wie es die Vorrednerin angesprochen hat -, weil ein hochwertiger Umweltschutz bezahlt werden muß. Diese finanziellen Mittel müssen erwirtschaftet werden.
({2})
- Das ist ein Nebeneinander.
({3})
Ökonomie und Ökologie müssen hier in Einklang gebracht werden. Das bedeutet aber auch, daß zukünftig bei uns Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Die Verbesserung von Lebensbedingungen für die Menschen in manchen Regionen darf nicht vorgeschobenen Umweltgesichtspunkten geopfert werden.
Ich stimme deshalb Forderungen aus dem Umweltgutachten, den Ausbau der Donau und anderer Wasserstraßen nicht zu vollziehen, nicht zu. Denn diese gehören - das wird nicht bestritten - zu den ökologisch sinnvollsten Verkehrsverbindungen, und zwar unter dem verkehrlichen Gesichtspunkt der Zunahme des Güterverkehrs insgesamt.
Ich glaube aber auch, daß wir in der Vergangenheit bewiesen haben - auch beim Bau des RheinMain-Donau-Kanals -, daß den ökonomischen Erfordernissen die ökologische Grundlage beigefügt wurde, und daß wir über zahlreiche Ausgleichsmaßnahmen viel Positives für die Natur erreicht haben.
({4})
Eine weitere Bemerkung. Es wird in dem Gutachten die Forderung aufgestellt, bei der bevorstehenden Novellierung des Naturschutzgesetzes vor allen Dingen die Landwirtschaftsklausel aufzuheben. Ich möchte hier als bayerischer Abgeordneter und praktizierender Kleinlandwirt feststellen, daß die Bäuerinnen und Bauern über Jahrhunderte hinweg die Kulturlandschaft gepflegt, mitgestaltet und geschaffen haben.
({5})
Dies darf bei dieser Diskussion hier nicht vergessen werden.
({6})
Ich glaube, daß die Landwirtschaft im Rahmen der Agrarreform schon den Bedürfnissen nachgekommen ist. Die Statistiken zeigen, daß der Betriebsmitteleinsatz von Düngemitteln, Pestiziden und Spritzmitteln vehement zurückgegangen ist. Dies belegt,
daß sich die Landwirtschaft den Erfordernissen des Naturschutzes nicht verschließt.
Verehrte Damen und Herren, vielfältigste Vorschläge der Sachverständigen aus dem Umweltgutachten lehne ich ab. Da die einzelnen Interessen der Bürgerinnen und Bürger den größtmöglichen Schutz haben, ist es nicht notwendig, den Umweltverbänden eine Verbandsklage zuzugestehen.
({7})
Außerdem bringen uns sogenannte Ökosteuern bei entsprechenden Ausnahmetatbeständen, die in diesem Gutachten ebenfalls beschrieben werden, meines Erachtens keinen oder nur marginalen ökologischen Nutzen. Ich bin deshalb der Meinung, daß wir darauf verzichten sollten. Eine Einführung machte nur auf europäischer Ebene Sinn.
Eines möchte ich positiv unterstreichen: Es ist wichtig, die Elemente zu unterstützen, die bewirken, daß die Menschen immer daran denken, daß sie durch ihr eigenes Handeln dazu beitragen können, unsere Umwelt zu schützen. Dies ist meines Erachtens hier herauszustellen. Wir sollten dies unterstützen.
({8})
In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile dem Abgeordneten Christoph Matschie das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann Ihre Verdrängungsmechanismen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ganz gut verstehen.
({0})
Zunächst einmal bleibt aber festzuhalten: Die Bundesregierung muß insgesamt mit einer schlechten Note in Umweltpolitik in die Osterpause gehen.
({1})
Das ist keine Erfindung der bösen Opposition im Bundestag. So hat es vielmehr die Presse weitgehend kommentiert.
({2})
Ich glaube, es macht wenig Sinn, dies hier nur ganz selektiv zu betrachten. Es ist richtig: In dem Umweltgutachten finden sich Anstöße für alle Seiten dieses Hauses. Wir sollten diesen Anstößen nachgehen.
({3})
Zentrales Anliegen dieses Gutachtens ist die Umsetzung des Leitbildes einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung in konkrete Politik. Dies ist ein Anliegen, das in Rio zum erstenmal so dezidiert formuliert worden ist,
({4})
von über 150 Staaten anerkannt wurde und auch von der Bundesregierung immer wieder betont wurde.
({5})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, allein wohlige Worte beeindrucken die Situation der Umwelt leider nicht. Deshalb mußte der Sachverständigenrat feststellen - ich zitiere -:
Im Regierungsprogramm der 13. Legislaturperiode fehlen aber Leitlinien und deutliche Zielsetzungen, die eine Perspektive zur Überwindung einer noch vielfach defensiven und sektoral ausgerichteten Umweltpolitik eröffnen und weitere Schritte zur Verwirklichung des langfristig angelegten Konzeptes einer dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung aufzeigen.
Das ist eine klare Defizitbeschreibung. Dieses Fehlen von klaren Zielsetzungen und Konzepten hat - so beobachte ich das - zu einer ziemlichen Kopflosigkeit und Kurzatmigkeit in der Umweltpolitik geführt.
({6})
- Herr Kollege, Sie sagen „falsche Schlußfolgerung" . Ich werde Ihnen ein Beispiel dafür bringen. Nehmen wir die ökologische Steuerreform oder, wie es der Umweltrat nennt, die umweltgerechte Finanzreform. Im vergangenen Sommer war das der große Hit. Es erfolgten Ankündigungen im großen Stil. So schrieb die „Süddeutsche Zeitung" am 8. Juni: „Rexrodt für Öko-Steuer-Alleingang". Da heißt es weiter:
Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt hat sich für einen nationalen Alleingang bei der Einführung einer CO2-/Energiesteuer ausgesprochen,
({7})
falls es nicht zu einem international abgestimmten Vorgehen kommt: „Ich will den Einstieg in eine ökologische Weiterentwicklung des Steuersystems ... "
Es ging weiter: Auch die FAZ
({8})
titelte am 14. Juli: „Rexrodt: Energiesteuer 1997 notfalls im Alleingang".
Auch der Kollege Schäuble erklärte im „Spiegel" -Interview im September 1995:
Wir haben verabredet, noch in diesem Herbst über die Verstärkung ökologischer Elemente in der Steuerpolitik zu reden und auch die notwendigen Entscheidungen zu treffen.
({9})
Wie dann weiter? In der Debatte im Januar diesen Jahres, als die Anträge von der SPD und den Grünen iur ökologischen Steuerreform eingebracht wurden, macht Rexrodt den Salto rückwärts und sagt, auf die Ökosteuerdiskussion eingehend:
Das wird uns noch mehr verwirren, die Unternehmer noch mehr verwirren und auch die Arbeitgeber, meine Damen und Herren.
Da kann ich nur sagen: Ganz schön verwirrend unser Wirtschaftsminister.
({10})
Der Kollege Repnik, der für die Union einen Vorschlag zur Ökosteuer ausgearbeitet hat, stellt sich in der gleichen Debatte hierher und spielt die Wirtschaftspolitik gegen den Schutz der Umwelt aus.
Meine Damen und Herren von der Koalition, so kann man die langfristigen Herausforderungen zum Erhalt der natürlichen Umwelt nicht bewältigen.
({11})
- Ich weiß, daß es auch in unserer Partei Diskussionen über die Ökosteuer gibt. Aber wir haben in diesem Hause ein Konzept auf den Tisch gelegt.
({12})
Wir warten immer noch auf das, was Sie hier auf den Tisch legen. Weder die Koalitionsfraktion noch die Bundesregierung haben bisher etwas vorgelegt, über das wir mit ihnen konstruktiv ins Gespräch kommen können.
Ich sage Ihnen: Wer sich so feige weigert, notwendige Veränderungen anzupacken, und statt dessen die Probleme immer weiter in die Zukunft verschiebt, hat auch die junge Generation nicht mehr auf seiner Seite.
({13})
Die junge Generation läßt sich nämlich in dieser Frage zunehmend weniger gefallen. Im Dezember haben junge Abgeordnete parteiübergreifend, wie einige hier wissen, gemeinsam mit jungen Unternehmern, gemeinsam mit Umweltschützern den schnellen Einstieg in eine ökologische Steuerungsreform gefordert, und zwar nicht, weil es schick ist, öko zu sein, sondern weil wir nicht mehr zusehen können, wie die Umweltgefährdung immer weiter zunimmt.
Es ist doch klar, das sagt auch der Sachverständigenrat: Unsere jetzige Entwicklung ist nicht unbegrenzt fortführbar, weil sie langfristig die eigenen Grundlagen zerstört. Nicht die Ökonomie setzt die Grenzen für das, was wir im Umweltschutz tun können. Vielmehr setzt uns das Ökosystem Erde die Grenzen für unser wirtschaftliches Handeln.
({14})
Damit bin ich gleich bei der gegenwärtigen Debatte zur Beschleunigung von Verfahren.
({15})
Da werden eilig Einschnitte beim Umweltschutz gefordert, weil angeblich nur so der Wirtschaftsstandort gerettet werden kann.
Der Umweltrat bemängelt in seinem Gutachten das Fehlen empirischer Belege für den behaupteten Zusammenhang der Dauer von Genehmigungsverfahren und Standortentscheidungen. Er warnt uns vor voreiligem legislativen Aktionismus. Ich denke, wir sollten uns sehr genau ansehen, was wir da machen.
Oder nehmen wir - das ist auch angesprochen worden - die Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, die inzwischen schon fast zum Ersatz für Umweltpolitik geworden sind. Frau Homburger und Herr Lippold, das ist nicht nur eine böswillige Unterstellung der Opposition;
({16})
vielmehr schreibt auch die FAZ am 9. März 1996:
Skeptisch steht der Umweltrat den Selbstverpflichtungen der Industrie gegenüber.
Der Umweltrat empfiehlt, dieses Instrument äußerst selektiv und äußerst befristet zu erproben. Er äußert außerdem schwerwiegende Befürchtungen, daß im Geleitzug der Beteiligten derartiger Verpflichtungen das jeweils schwächste Glied das Tempo bestimmt und die Wirtschaft sich nur zu Zielen verpflichtet, die sie ohnehin ansteuert. Man sollte also wirklich genau hinhören, was der Umweltrat hier aufgeschrieben hat.
Die Kette der Mängel in der gegenwärtigen Umweltpolitik, die angesprochen werden, läßt sich fortsetzen: Kritik am Umwelthaftungsgesetz, Kritik am Umweltinformationsgesetz, Kritik wegen noch immer fehlender Rechtsverordnungen zum Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz,
({17})
Kritik in bezug auf den Verkehrsbereich.
Die Frage, die gestellt werden muß, bleibt natürlich, auch wenn Sie das nicht gerne hören: Welche
nächsten Schritte sollen jetzt gegangen werden? Dazu möchte ich von Ihnen Vorschläge hören.
({18})
Die Bilanz ist nicht besonders schmeichelhaft. Das ist kein Grund zur Schadenfreude auf seiten der Opposition. Es ist Grund zur Sorge.
Es nützt am Ende nichts, Herr Lippold, darauf zu verweisen, daß die Bundesrepublik zum Kreis der ökologisch fortschrittlichen Staaten gehört. Die wirkliche Herausforderung nämlich, die hier auch benannt wird, eine auf Dauer ökologisch tragfähige Entwicklung, ist noch längst nicht bewältigt. Die Gefahr einer Stagnation oder gar Rückwärtsentwicklung in diesem Bereich ist groß.
Nicht zuletzt mahnt uns der Umweltrat auch: Die Durchsetzung einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung bedarf der Bündelung und der Mitwirkung aller gesellschaftlichen Kräfte. Wir haben, gerade weil die Umweltpolitik existentiell ist, in der Vergangenheit immer wieder die Zusammenarbeit angeboten. Leider wurde, wie zuletzt bei den Beratungen zu den Klimaschutzanträgen, ein solches Angebot häufig nicht angenommen. Ich wünschte mir, daß wir häufiger dazu kämen, solche Fragen, die der Anstrengung der Gesamtgesellschaft bedürfen, auch gemeinsam anzugehen, anstatt daß Sie sich weigern, Vorschläge vorzulegen, und Sie das, was wir vorlegen, einfach in Bausch und Bogen ablehnen. So kann es in der Umweltpolitik keine Weiterentwicklung geben.
Herr Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Aber natürlich.
Herr Kollege, da Sie der Koalition und der Bundesregierung vorwerfen, mit den umweltpolitischen Aufgaben nicht ehrgeizig genug umzugehen, insbesondere auch mit Blick auf Änderungen im Steuersystem, und dringend die Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens empfehlen, würde ich gerne wissen, wie Sie diese präzise Empfehlung des Sachverständigengutachtens beurteilen. Es steht in Nummer 144 der Kurzfassung des Gutachtens:
Die Umgestaltung des öffentlichen Finanzsystems im Hinblick auf die Erfordernisse einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung läßt sich nicht in einer einmaligen Anstrengung bewältigen, sondern stellt eine langfristige Aufgabe dar. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Einerseits erfordert eine umweltgerechte Finanzreform - neben der Einführung neuer Lenkungsabgaben und der Schaffung finanzieller Anreize für ökologisch richtiges Handeln -, daß jede Einnahmen- und Ausgabenposition in den öffentlichen Haushalten auf ihre Eignung zur Lenkung des Verhaltens von Haushalten und Unternehmen in die umweltpolitisch gewünschte Richtung beziehungsweise auf unerwünschte ökologische Effekte hin untersucht und gegebenenfalls verändert wird. Andererseits muß bei solchen Anderungen beachtet werden, daß sich die Steueradressaten in vielfältiger, oft nicht ausreichend bekannter Weise an das gewachsene Steuer- und Staatsausgabensystem angepaßt haben und deshalb die Wirkungen großer Veränderungen dieses Systems immer nur unzureichend abgeschätzt werden können.
Teilen Sie die Schlußfolgerung der Sachverständigen, mit der diese Passage endet? Beides legt eine Politik der kleinen Schritte nahe.
({0})
Ja, natürlich, Herr Kollege, aber auch bei kleinen Schritten muß man einmal den ersten Schritt gehen.
({0})
Gerade die Langfristigkeit der Aufgabe - ich habe vorhin darauf hingewiesen - läßt es nicht zu, daß man das Sommerloch damit füllt, daß man sagt: „Wir wollen den Einstieg in die ökologische Steuerreform", daß man verspricht, im Herbst etwas auf den Tisch zu legen, und wenige Monate später das alles für Unsinn erklärt. Gerade die Langfristigkeit dieser Probleme läßt ein solches Vorgehen nicht zu.
({1})
Ich gestehe zu, daß wir vorsichtig vorgehen müssen, Schritt für Schritt vorgehen müssen und das weiterentwickeln müssen. Aber das entbehrt doch nicht der Notwendigkeit, auch einmal einen Schritt zu gehen, statt ständig nur Schritte anzukündigen, lieber Herr Kollege.
({2})
Wir haben einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der einen ersten Schritt zum Einstieg in eine ökologische Umgestaltung des Steuersystems darstellt.
({3})
Sie haben bisher nichts auf den Tisch des Hauses gelegt, über das wir miteinander reden könnten. Das finde ich wirklich schade, denn eine Diskussion ist dringend notwendig. Das hat uns auch der Umweltrat noch einmal deutlich gemacht.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirche?
Aber natürlich.
Herr Kollege Matschie, Frau Mehl hat vorhin für die SPD festgestellt, daß die SPD viele Schlußfolgerungen der Gutachter nicht teilt, also dem Gutachten an dieser Stelle kritisch gegenübersteht. Erstens: Wie bewerten Sie das nach Ihrer Kritik, daß auch die Regierung an verschiedenen Stellen die Dinge anders sieht? Zweitens: Könnten Sie dem Plenum sagen, welche Punkte Sie nicht teilen, damit der Dialog, den Sie zu Recht einfordern, geführt werden kann?
({0})
Zunächst einmal möchte ich festhalten, daß auf allen Seiten des Hauses betont worden ist, daß es ein Gutachten eines Sachverständigenrates und keine Bibel ist. Es ist wichtig, was uns der Sachverständigenrat aufgeschrieben hat. Er hat wichtige Anstöße gegeben. Er hat viele Defizite in der Umweltpolitik benannt. Darüber müssen wir diskutieren.
Sie müssen die Kollegin Mehl selbst fragen, welche Punkte sie gemeint hat. Wir werden sicher im Ausschuß die Gelegenheit haben, das ausführlich zu diskutieren. Ich habe zu Beginn gesagt: Das Gutachten enthält Anstöße für alle Seiten des Hauses, über bisherige Positionen nachzudenken. Dann sollten wir es auch als einen solchen Anstoß betrachten, darauf eingehen und es nicht vom Tisch wischen und sagen: Wir haben schon alles gut gemacht, und wir haben keine weiteren Hinweise nötig.
Ich denke, das Gutachten macht deutlich, daß es erhebliche Defizite in der Umweltpolitik gibt. Ich habe jetzt noch einmal angeboten, verstärkt gemeinsam auf diesem Feld zu handeln, weil wir Umweltpolitiker ja alle wissen, wie schwer es ist, in diesem Bereich politisch voranzukommen, und weil der Sachverständigenrat noch einmal betont hat, daß es nicht nur um den engeren Bereich der Umweltpolitik geht, sondern daß Umweltpolitik Bestandteil aller Politikbereiche sein muß, wenn wir zu einer auf Dauer tragfähigen Entwicklung kommen wollen.
Deshalb möchte ich Sie noch einmal bitten, die Mahnung des Sachverständigenrates zur Zusammenarbeit ernst zu nehmen; denn hier zählt nicht nur kurzfristiger politischer Vorteil, sondern in erster Linie die Verantwortung für heutige und für zukünftige Generationen.
({0})
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verlauf der Debatte, die mit einem polemischen Donnerschlag von Frau Hustedt begann, hat doch gezeigt, daß wir uns ganz offensichtlich langsam auf eine sachgerechte und eine aus meiner Sicht dem Gutachten angemessene Diskussion hinbewegen, die hoffentlich noch in intensiver Weise fortgesetzt wird. Denn ich bin zwar voller Bewunderung für alle diejenigen, die den Eindruck erweckt haben, daß sie in wenigen Tagen 697 Seiten lesen konnten.
({0})
Aber mir fehlt ein wenig der Glaube, ob Sie das dann auch wirklich geistig verarbeiten konnten. Ich würde dafür in meinem Fall die Hand nicht ins Feuer legen.
({1})
Weil wir aber dieses Gutachten für so wichtig gehalten haben, haben wir es gleich am letzten Freitag, also noch am Tage der Überreichung, dem Bundestag zugeleitet und den umweltpolitischen Sprechern der Fraktionen zugänglich gemacht.
({2})
Ich denke, das war auch angemessen.
({3})
- Ja, es ist ja schön, daß Sie das lesen. Lesen allein reicht aber nicht.
Deshalb glaube ich: Umweltpolitik braucht eine kritische Begleitung. Sie habe ich in diesem Sachverständigengutachten gefunden. Dieses Sachverständigengutachten ist an vielen Stellen substantieller und sachgerechter als das, was ich hier aus den Reihen der Opposition gehört habe,
({4})
obwohl wir uns ja langsam einer vernünftigeren Diskussion nähern.
Das Gutachten macht für mich erst einmal deutlich, daß wir von dem Weg einer sektoralen Umweltpolitik auf eine Gesamtpolitik einschwenken müssen, die von dem Gedanken der nachhaltigen Entwicklung geprägt ist. Das ist ein wirklicher Wandel und ein wirklicher Wechsel.
Frau Mehl, Sie sagen jetzt, relativ gelassen in der ersten Reihe sitzend, daß das doch wohl eine Trivialität sei. Der Deutsche Bundestag hat fraktionsübergreifend zu diesem Zweck eine Enquete-Kommission eingesetzt, die sich ernsthaft damit beschäftigt, wie der Gedanke und die Leitbilder einer nachhaltigen Entwicklung vorangebracht werden können.
({5})
Ich kann Ihnen versprechen, daß wir aus dem Bundesumweltministerium hierzu einen Beitrag leisten werden. Aber gaukeln Sie den Menschen doch nicht vor, daß wir eine Politik hätten, die sektoral übergreifend auf dem Gebiet des Umweltschutzes diesem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung bereits überall
Rechnung trägt. Das sagt uns ja auch der Sachverständigenrat. Es ist klar, daß wir erst auf dem Wege zu diesen Leitbildern sind. Sie wollen wir gemeinsam miteinander entwickeln.
({6})
Frau Ministerin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rochlitz?
Ja, bitte.
Frau Ministerin, ich bin etwas verblüfft. Sie haben eben gesagt, daß dieses neue Leitbild einer nachhaltigen, dauerhaften und umweltgerechten Entwicklung etwas Neues sei.
Nun verhält es sich aber so, daß derselbe Sachverständigenrat für Umweltfragen vor ziemlich genau zwei Jahren Ihrem Vorgänger, gewissermaßen kurz bevor Sie seinen Schreibtisch übernommen haben, genau zu diesem Thema ein Gutachten vorgelegt hat, in dem ebenso wie in dem jetzigen außerordentlich kritisch zur Umweltpolitik der Bundesregierung Stellung bezogen worden ist.
Es ist nämlich sehr deutlich gesagt worden, daß wir uns seit 1990 in einer umweltpolitischen Gegenreformation befinden. Ich fürchte, daß Sie auch dieses Gutachten, obwohl es zwei Jahre alt ist, noch nicht richtig gelesen haben.
({0})
Ich möchte Sie jetzt fragen, wann Sie diese schon zwei Jahre alten Erkenntnisse endlich zur Kenntnis nehmen und in Politik umsetzen wollen. Auch das ist noch nicht geschehen. Um so schwieriger wird es für Sie sicherlich sein, jetzt auf das neue Gutachten entsprechend einzugehen.
Frau Minister, eine Sekunde.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier eine Debatte eingeschoben und dafür eine Stunde vereinbart. Wir haben jetzt bereits einen Tagesordnungsablauf, der dazu führt, daß die heutige Sitzung bis weit nach Mitternacht dauern wird. Ich bitte daher im Interesse der Kollegen, die zu den anderen Tagesordnungspunkten gemeldet sind und sprechen wollen, wenn es irgend geht, Herr Kollege, auf rein rhetorische Fragen zu verzichten und darauf zu achten, daß wir diese Debatte nicht künstlich verlängern.
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Ich will mich in meiner Antwort kurz fassen. Selbstverständlich kenne ich diese Gutachten, und selbstverständlich ist es nicht das erste Mal, daß auf die nachhaltige Entwicklung hingewiesen wird.
Lassen Sie uns doch gemeinsam zur Kenntnis nehmen, daß die Gutachter beschreiben, daß sich die Umweltpolitik richtigerweise auf einem neuen Weg und in einem Umbruch befindet und daß dieser Umbruch genau der Weg von der sektoralen Betrachtungsweise hin zu einer medienübergreifenden Gesamtbetrachtungsweise ist!
Ich halte es für eine wichtige Sache, daß uns das noch einmal aufgeschrieben wird und daß wir so ermutigt werden, auf diesem Weg weiterzugehen. Er wird von allen mehr oder weniger mühselig beschritten, weil wir erst lernen müssen, Vergleiche zwischen Luft, Wasser und Boden, zwischen Energieverbrauch und Abfallwirtschaft hinzubekommen. Deshalb glaube ich, daß es eine sinnvolle Sache ist, uns hier auf dem Weg zu einem medienübergreifenden und gesamtheitlichen Umweltschutz noch einmal zu bestärken.
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Meine Damen und Herren, es wurde hier gesagt, daß dieses Gutachten nicht schmeichelhaft sei. Ich muß Ihnen sagen, daß die Bundesregierung Schmeicheleien nicht nötig hat.
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Wir brauchen Aufforderungen zu neuem Handeln; aber dieses Gutachten ist an vielen Stellen ermutigend, denn es sagt uns, daß - wie das heute schon herausgestellt wurde - zum Umweltschutz in Deutschland viel Positives zu sagen ist.
Dies ist nicht nur, aber auch von der Bundesregierung geschafft worden. Anteil daran haben Länder, Kommunen, Umweltverbände. Jeder der Betroffenen wird in diesem Gutachten kritisiert, aber auch in bestimmten Ansätzen bestärkt. Das ist das, was wir in der Umweltpolitik brauchen. Glauben Sie doch nicht, daß dieses Parlament etwas gegen den Willen und gegen die Gefühle der Menschen tun kann. Deshalb ist es richtig, daß hier alle eingereiht werden.
Der Umweltbeirat stellt fest, daß wir in den neuen Bundesländern Erhebliches geschafft haben. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Feststellung, weil überall noch das Vorurteil grassiert, daß gerade dort das Umweltbewußtsein schwächer ausgeprägt sei.
Der Umweltbeirat stellt fest, daß wir internationale Verantwortung übernommen haben, und ich habe Sie an dieser Stelle immer wieder eingeladen, diese internationalen Verpflichtungen mit uns gemeinsam weiter voranzutreiben.
Ich glaube auch, daß der Umweltbeirat uns darin bestärkt hat - und das halte ich in der augenblicklichen Situation, in der sich viele Menschen um ihren Arbeitsplatz sorgen, in der manchmal auch kurzfristige Überlegungen sinnvoll erscheinen, für besonBundesministerin Dr. Angela Merkel
ders wichtig -, daß Entwicklung nur dann zukunftsfähig sein kann, wenn sie nachhaltig ist, und daß Umweltpolitik sich in alle Bereiche hineinmischt. Das sehen wir zum Beispiel im Bereich der Forschung, im Bereich der Entwicklung und im Bereich der Umwelttechnologien, und das müssen wir immer wieder herausstreichen.
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Meine Damen und Herren, ich denke, daß uns der Umweltbeirat an einigen Stellen natürlich auch Nachdenkenswertes sagt. Das, was er zum Beispiel zum Naturschutzgesetz sagt, habe ich hier immer wieder beteuert, und ich habe auch gesagt, daß dieses Naturschutzgesetz vorgelegt wird. Es ist jetzt in der Ressortabstimmung.
Das, was wir genauso wie beim Bodenschutzgesetz an verfassungsrechtlichen Fragen zu überwinden haben, sollte uns auch einmal darüber nachdenken lassen, was für Folgen bestimmte Grundgesetzregelungen haben. Das führt nämlich dazu, daß es sehr schwer wird, an wichtigen Stellen überhaupt noch gesamtstaatliche Regelungen festzulegen. Das heißt dann, daß wir in manchen Bereichen bestimmte Dinge vielleicht nur noch unter großen Schwierigkeiten bundeseinheitlich regeln können. Das muß im Umweltschutz aber nicht immer ein Nachteil sein. Das will ich hier ganz deutlich sagen.
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Meine Damen und Herren, Interessantes und viel Bedenkenswertes hat der Beirat auch zu den Fragen der Abfallwirtschaft gesagt. Wenn hier über mangelndes ordnungsrechtliches Instrumentarium gesprochen wird, kann ich Ihnen sagen, daß Sie in Kürze eine ganze Skala von Verordnungen sehen werden, die sich mit der Umsetzung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes befassen. Diese Verordnungsentwürfe haben wir sehr intensiv mit den Ländern vordiskutiert, damit wir dann im Bundesrat vielleicht einen gemeinsamen Weg gehen können. Ich hoffe dies sehr.
Die Verordnungsentwürfe enthalten in erheblichem Maße Ordnungsrecht, und ich hoffe, daß wir dann auch mit diesem Ordnungsrecht klarkommen.
Aber der Umweltbeirat hat uns auch gesagt, daß wir darauf achten sollen - das ist nachhaltige Entwicklung und Denken über die Mediengrenzen hinweg -, daß sinnvolle Materialkreisläufe in der Abfallwirtschaft erforderlich sind, und daß wir uns einmal die energetischen Bilanzen anschauen müssen. Es ist nämlich unsinnig, bestimmte roh- und werkstoffliche Verwertungen zu forcieren, wenn dabei der Energieverbrauch sehr viel höher als bei der thermischen Verwertung ist. Auch dies müssen wir miteinander diskutieren, und auch da müssen Sie sich vielleicht an manchen Stellen ein Stück weit bewegen, wenn Sie diese Argumentation, die ich als sehr vernünftig und pragmatisch empfinde, richtig nachvollziehen.
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Meine Damen und Herren, eine wichtige Rolle haben in der heutigen Debatte immer wieder die Selbstverpflichtungen gespielt. Der Umweltbeirat sagt auch hierzu manches Nachdenkenswerte. Ich selber glaube, daß es ganz klar ist - in unserer Umweltpolitik besteht auch gar kein Zweifel daran -, daß Selbstverpflichtungen ein Instrument sind, dem man nachgehen kann, das man natürlich aber auch kritisch begleiten muß. Ich weiß, welche Gefahren in den Selbstverpflichtungen liegen; aber ich weiß auch, welche Chancen darin liegen.
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Ich möchte Ihnen am Beispiel der CO2-Reduzierung, hinsichtlich derer ich die Selbstverpflichtung der deutschen Industrie im Vorfeld der Klimakonferenz für eine gute Sache halte, auch deutlich sagen, was uns der Beirat an dieser Stelle in sein Gutachten hineinschreibt. Er sagt, er werde die Wirksamkeit dieser CO2-Verpflichtung weiter kritisch beobachten, und erinnert daran, daß damit die technologische Innovationsfähigkeit und die Ernsthaftigkeit der abgegebenen Zusagen hinsichtlich der investiven Anstrengungen auf die Probe gestellt sind. Der Umweltrat empfiehlt der Bundesregierung, einen konkreten Umsetzungspfad mit der Wirtschaft zu vereinbaren und, wenn dies nicht gelingt, über ordnungsrechtliche Maßnahmen nachzudenken.
Genau dies ist Inhalt der Selbstverpflichtung gewesen. Wir werden noch im Monat März mit der Industrie den nächsten Schritt vorstellen, bei dem es um ein nachvollziehbares branchenbezogenes Monitoring geht.
Genau diese kritische Begleitung erwarte ich; aber die gibt mir dieses Gutachten auch. Deshalb glaube ich auch, daß man hiergegen nicht einfach polemisch anrennen kann. Vielmehr muß man sagen, daß man hierauf ordentlich achten muß, daß hier aber auch gleichzeitig dazu ermutigt wird, auf einem umweltpolitisch glaubwürdigen Weg voranzugehen.
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Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den Ausführungen des Umweltrates zur umweltgerechten Finanzreform. Auch hierzu ist schon einiges gesagt worden. Der Beirat sagt hier ganz klar, daß die Diskussion differenziert geführt werden muß. Er ist auch mit uns einer Meinung, daß man auf verschiedene Facetten achten muß, wie es auch bei uns diskutiert wurde: Abbau umweltungerechter Subventionen, Stimulierung von umweltgerechtem Verhalten und die Überlegung, ob an bestimmten Stellen neue Abgaben und Lenkungseffekte eingeführt werden müssen. Die „Politik der kleinen Schritte" ist hier schon hervorgehoben worden, weil es um den Eingriff in wichtige Mechanismen geht.
Der Umweltrat stellt ferner fest, daß es nicht Ziel von steuerlichen Maßnahmen sein kann, umweltverträgliche Produktionen aus Deutschland zu verdrängen, um dann im Ausland unter stärkerer Umweltinanspruchnahme hergestellte Güter zu importieren. Auch dies ist natürlich Teil der Diskussion, die wir führen, wenn es um finanzpolitische Instrumente im Umweltbereich geht.
Wir haben eine ganze Reihe von guten Erfahrungen mit umweltgerechten Besteuerungen gemacht. Wir müssen aber mit weiteren Eingriffen auch vorsichtig sein. Aus diesem Grunde haben wir immer gesagt - das steht im übrigen auch in unserer Koalitionsvereinbarung -, daß die CO2-/Energiesteuer EU- weit einzuführen und diesem Weg der Vorrang zu geben ist.
Ich sage Ihnen: Dies wäre das allerbeste, und die Bundesregierung bemüht sich, in den verschiedenen Gremien Fortschritte zu erzielen. Gerade vor wenigen Tagen - das kann ich Ihnen hier berichten - hat im Ecofin-Rat die italienische Präsidentschaft einen neuen Auftrag an die Kommission gegeben, in einem Parallelschritt von Harmonisierung der Verbrauchsteuern und zusätzlichen CO2-gelenkten steuerlichen Instrumenten einen neuen Vorschlag vorzubereiten. Genau dies betreibt die Bundesregierung mit dem Bundesfinanzminister, der Bundesumweltministerin und anderen in der Europäischen Kommission. Ich bitte, auch das einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({7})
Herr Matschie, wenn Sie jetzt hier sagen, Sie hätten einen Vorschlag auf dem Tisch, dann ist das ja richtig. Ich habe Herrn Scharping - mit großer Bewunderung, muß ich sagen - 20 Minuten lang zugehört, und zwar in einer Debatte, die genau Ihren Antrag behandelte. Herr Scharping hat - ich möchte mich auf die Zahl der Sätze nicht festlegen, aber es waren unter fünf - weniger als fünf Sätze für diesen Antrag verwendet und hat ansonsten über die Arbeitsplätze, die wirtschaftliche Lage und vieles andere mehr gesprochen, nur nicht über die Anträge.
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- Das Thema haben wir nicht gesetzt, sondern Sie haben Anträge eingebracht, und dann haben Sie zu den Anträgen nicht gesprochen, jedenfalls hat es Herr Scharping nicht getan. Dann hat es Frau Fuchs machen dürfen.
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Das zeigt, in welcher Situation Sie sich zur Zeit befinden.
({10})
- Ich habe nichts gegen Frau Fuchs. Frau Fuchs weiß, daß ich nichts gegen sie habe.
Aber ich denke, daß Herr Scharping zu wichtigen Anliegen der Fraktion noch ein Wörtchen zu sagen hat. Zumindest bei uns ist es so, daß der Fraktionsvorsitzende zu den wichtigen Themen spricht, und das habe ich an dieser Stelle vermißt.
({11})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun habe ich nur über den Bundestag gesprochen. Wenn wir uns die Spagate zwischen Herrn Clement, Herrn Schröder und Herrn Lafontaine in dieser Frage anschauen, dann kann ich nur sagen: Wir werden mehr ökologische Elemente im Steuersystem brauchen. Das ist für mich keine Frage. Es gibt aber in allen Fraktionen aus gutem Grund erhebliche Diskussionen darüber, und da müssen wir weitermachen.
Ich teile in dieser Frage auch nicht alle Hinweise des Beirats - das muß ich ganz deutlich sagen -, weil wir sonst zu einem sehr komplizierten Abgabensystem kämen. Insgesamt wünsche ich mir, daß die Diskussion über dieses Gutachten fortgesetzt wird. Die Sachverständigen haben es verdient.
({12})
Ich schließe die Aussprache. Eine Beschlußfassung ist nicht vorgesehen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen"
- Drucksache 13/3867 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Renate Rennebach.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Sekten und Psychogruppen brennt unter unseren Nägeln. Es ist allerhöchste Zeit, daß wir uns hier im Deutschen Bundestag damit beschäftigen und damit die öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Problemfeld endlich auch dorthin bringen, wo sie im Grunde genommen schon wesentlich früher hingehört hätte.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über den Antrag der SPD-Fraktion, eine EnqueteKommission zum Thema „Sogenannte Sekten und Psychogruppen" beim Deutschen Bundestag einzusetzen. Ich möchte Ihnen gern nochmals die Gründe erläutern, warum wir eine solche Kommission für das einzig vernünftige und richtige Gremium auf der bundespolitischen Ebene halten. Zugleich möchte ich mit diesen Argumenten nachdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen dafür werben, diesem Antrag zuzustimmen.
({0})
Es darf nicht passieren, daß dieses Thema - hier appelliere ich eindringlich an alle Kolleginnen und
Kollegen -, bei dem es unter Demokraten in der Zielsetzung eigentlich keinen Dissens geben kann, in die parteipolitischen und parteitaktischen Tretmühlen gerät. Denn niemand - das muß uns allen klar sein - außer den Sekten und Psychogruppen selbst würde davon profitieren.
Wir alle wissen, daß eine Enquete-Kommission immer dann das richtige Instrumentarium ist, wenn wir es mit einem Problemfeld zu tun haben, das erstens grundlegende und gesellschaftliche Bedeutung sowie ebenso grundlegende und gesellschaftliche Ursachen hat, bei dem zweitens neben kurzfristigem Handlungsbedarf auch hinsichtlich der perspektivischen Entwicklung Regulierungsnotwendigkeiten bestehen
({1})
und bei dem schließlich drittens externer Sachverstand - in weit größerem Maße als bei dem Zwischenrufer - hinzugezogen werden muß, und zwar bei der Erstellung einer fundierten Problemanalyse und der darauf aufbauenden Erarbeitung von Handlungsempfehlungen für den Gesetzgeber.
Diese drei Punkte, meine Damen und Herren, sind beim Thema Sekten und Psychogruppen unzweifelhaft gegeben. Wir stehen vor der Situation, daß Menschen in psychische und finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse getrieben werden, daß Kinder stundenlang mit Silikonstöpseln in den Ohren und mit verbundenen Augen meditieren müssen, daß schlimmste Ängste geschürt werden und Menschen übelsten Praktiken der psychischen Indoktrination ausgesetzt sind, die dann zum Beispiel dazu führen, daß sie sich prostituieren oder gar ihre Kinder für sexuelle Abartigkeiten zur Verfügung stellen. Wir stehen vor der Situation, daß Menschen notwendige medizinische Hilfe verweigert wird, daß Familien zerstört werden, daß ganze Wirtschaftszweige unterwandert und Betriebe in den Konkurs getrieben werden
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und - das sage ich vor allem im Hinblick auf das Jahr 2000 und vor dem Hintergrund entsprechender Informationen, die uns vorliegen - daß sogar Massenmorde oder Massenselbstmorde, von denen unser Land bisher glücklicherweise verschont geblieben ist, zu befürchten sind.
All dies kann und darf unseres Erachtens nicht geschehen - auch nicht, wenn es angeblich oder tatsächlich Teil einer Religionsausübung ist.
Meine Damen und Herren, wer Verantwortungsbewußtsein für sich reklamiert, dem muß klar sein, daß wir dem nicht länger tatenlos zusehen dürfen. Wir müssen endlich Abschied nehmen von der Haltung, wir hätten es nur mit einem größer gewordenen Markt der Religionen und Weltanschauungen zu tun und daher mit einer Entwicklung, die den Staat nichts angehe, sondern nur die Kirchen. Uns geht es wohlgemerkt nicht darum, uns in religiöse Angelegenheiten einzumischen, etwa in der Form, daß wir zwischen guten und schlechten Religionen unterscheiden. Es wird auch nicht in jedem Falle leicht sein, zwischen tatsächlichen und angeblichen Religionen und Weltanschauungen zu unterscheiden. Es muß aber klar sein, daß wir Kriterien dafür finden müssen, wann bestimmte Praktiken für den einzelnen gefährlich sind und wann, wie zum Beispiel bei Scientology, als Religionsgemeinschaft getarnte Organisationen mit ihren totalitären und faschistoiden Zielsetzungen eine Gefahr für unsere demokratische Grund- und Werteordnung darstellen.
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Deshalb geht es uns auch nicht darum, als verlängerter Arm der Kirchen deren Geschäft zu betreiben und ihnen dabei zu helfen, lästige Konkurrenz auszuschalten. Nein, meine Damen und Herren, uns geht es darum, eben diese in Art. 4 unseres Grundgesetzes verbriefte Religionsfreiheit zu schützen. Wir können und wollen es nicht zulassen, daß mit diesem wertvollen Grundrecht, einem zentralen Element unserer demokratischen Gesellschaftsordnung, Schindluder getrieben wird, daß es mißbraucht wird und daß sein wahrer Sinn und Zweck quasi durch die Hintertür immer weiter ausgehöhlt wird. Nicht die Religionsfreiheit ist das Problem, sondern ihr Mißbrauch, meine Damen und Herren. Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich betonen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich unseren Antrag ansehen, dann erkennen Sie vier wesentliche Auftragselemente für die von uns beantragte Enquete-Kommission:
Erstens. Erstellung einer grundlegenden, umfassenden und bewertenden Analyse der in der Bundesrepublik agierenden sogenannten Sekten und Psychogruppen, und zwar unter Einbeziehung der verstreut bei staatlichen, kirchlichen und privaten Stellen vorhandenen Informationen und Materialien. Eine solche Analyse fehlt schlichtweg. Aber ohne eine Definition des Problembereichs, ohne eine Auflistung der Einzelprobleme werden wir über das Stadium des Troubleshootings oder des Kaffeesatzlesens nicht hinauskommen bzw. mit Schnellschüssen operieren, die niemandem helfen.
Bei geschätzten 600 Sekten und Psychogruppen mit etwa 2 Millionen Anhängern reicht es eben nicht, nur über die Gefährlichkeit von Scientology zu lamentieren und nach dem Verfassungsschutz zu rufen, wie die Minister Blüm und Frau Nolte es tun. Da muß mehr her, nicht nur in bezug auf diese Organisation, sondern auch in bezug auf die 599 anderen mit den von ihnen verursachten Problemen; denn diese fühlen sich in der Zwischenzeit pudelwohl im Windschatten der öffentlichen Aufmerksamkeit von Scientology.
Der zweite Arbeitsschwerpunkt für die Kommission muß nach unserer Vorstellung sein, die Gründe für die Mitgliedschaft in einer Sekte oder Psychogruppe herauszuarbeiten und damit auch die
Gründe für das stetige Ausbreiten dieser Organisationen. Es reicht eben nicht, nur mit den Begriffen „Orientierungslosigkeit" und „zunehmende Individualisierung " zu jonglieren. Das erklärt nämlich nichts. Es impliziert zudem, daß nur Menschen mit einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur in die Fänge solcher Gruppierungen geraten können, und das ist eben falsch.
Was wir statt dessen dringend brauchen, ist eine fundierte, eine vor allem soziologische Antwort auf die Frage: Welche Bedingungen sind dafür verantwortlich, daß immer mehr Menschen in die Fänge von solchen Organisationen geraten, und zwar nicht nur Jugendliche, liebe Frau Ministerin Nolte, sondern Menschen aller Altersklassen und sozialer Schichten? Das Thema ist heute nämlich kein vorwiegend jugendpolitisches Problem mehr, als das es noch vor etwa 20 Jahren angesehen werden konnte, und die Gruppen, mit denen wir es zu tun haben, sind auch keine Jugendsekten. Allein die immer noch und nicht zuletzt auch von der Bundesregierung immer wieder verwendete Bezeichnung „Jugendsekten" zeigt schon, wie überfällig eine solche von uns geforderte Analyse ist. Wenn Sie ein Beispiel brauchen, dann sage ich Ihnen: Scientology interessiert sich für jeden, der Geld bringt, und dazu gehören in der Regel die Jugendlichen nicht.
Den dritten Schwerpunkt unseres Auftrags für die Enquete-Kommission sollen die unterschiedlichen Probleme bilden, die eine Mitgliedschaft in einer Sekte oder Psychogruppe mit sich bringt, und zwar sowohl für die Mitglieder selbst als auch für deren Angehörige - ich denke zum Beispiel an die vielen Sorgerechtsfälle - und für Unternehmen, Verbände und andere Institutionen. Dort reichen die Probleme von Werbeaktivitäten einzelner Mitglieder bis hin zu systematischen Strategien zur Unterwanderung ganzer Unternehmen oder gar Wirtschaftszweige.
Zu diesem Arbeitsschwerpunkt zählt aber auch die in der öffentlichen Diskussion bislang fast gänzlich vernachlässigte Frage der Regelung bzw. Bereitstellung eines Angebotes für Beratung und Information, für Ausstiegshilfen, für Hilfen zur Wiedereingliederung und auch der psychologischen und psychosozialen Betreuung.
Uns ist die verfassungsrechtliche Problematik bei einem staatlichen Engagement durchaus bewußt. Uns ist aber auch bewußt, daß wir dringend eine Lösung finden müssen. Denn es kann nicht länger angehen, daß wir diese Aufgaben auf private Initiativen abwälzen, die sich eher zufällig irgendwo gebildet haben und nicht selten auch überfordert sind.
({5})
Auch das bestehende kirchliche Angebot darf und kann ein staatliches Engagement nicht ersetzen. Hier sind wir und - ich muß mich da nochmals kritisch an die Regierung wenden - auch der Bund in der Pflicht. Der Bund kann sich nicht länger aus der Verantwortung in der Sektenpolitik stehlen. Es sind eben nicht immer nur die Länder, Kommunen oder Kirchen, die die Probleme lösen sollen. Es handelt sich vielmehr um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der alle an einem Strang ziehen müssen und die wir nicht gelöst bekommen, wenn einer, nämlich der Bund, permanent ausfällt und nicht mitzieht.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, den vierten Arbeitsschwerpunkt in unserem Antrag haben wir mit „Aufarbeitung der bisherigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung und Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen" überschrieben. Damit soll die Aufgabe umrissen sein, ohne Vorbehalte, ohne politisch-ideologische Brille, sachlich, aber auch kritisch - durchaus auch selbstkritisch - und vor allem unter Einbeziehung aller notwendigen Institutionen zu Empfehlungen an den Deutschen Bundestag zu kommen, die dem vielschichtigen Problemfeld und dem ebenso vielfältigen Handlungsbedarf angemessen und auch wirkungsvoll Rechnung tragen.
Ich sage nochmals: Wir halten eine Enquete-Kommission für das einzig sinnvolle parlamentarische Gremium; denn nur diese kann die skizzierten Aufgaben angemessen angehen. Nur eine EnqueteKommission - das sage ich in Richtung der Kolleginnen und Kollegen, die zumindest in der Vergangenheit alternativ einen Unterausschuß gefordert haben - hat einen Auftrag, der erstens klar definiert, zweitens zeitlich begrenzt und drittens auch das notwendige Maß an Transparenz bei der anstehenden Arbeit hat.
Wer sogar glaubt - auch davon soll es in diesem Haus Verfechter geben -, durch die Vergabe von Gutachten zu gleichen, aber kostengünstigeren Ergebnissen zu kommen, der muß nicht nur bereits über das notwendige umfassende Grundlagenwissen verfügen, sondern auch eine ebenso umfassende Konzeption haben, bei der nur noch die Fragen der Umsetzung zu klären sind. Dann frage ich, warum uns die ganze Zeit all diese wichtigen Informationen vorenthalten worden sind. Wer das, was wir brauchen, schon hat, nämlich eine substantielle Analyse und eine umfassende Konzeption, der möge sie doch bitte hier und heute auf den Tisch legen und sie erläutern.
Meine Damen und Herren, zum Abschluß möchte ich Sie noch einmal alle auffordern, unserem Antrag auf Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission zuzustimmen. Lassen Sie uns versuchen, aus einer gemeinsamen Aufgabe auch eine gemeinsame Sache zu machen!
Wenn Sie für die Enquete stimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen - dies ist mein letzter Hinweis -, dann bleibt Ihnen in Zukunft auf jeden Fall das erspart, was nun der Bundesregierung auf Grund ihrer, ich sage es einmal sehr höflich, nicht sonderlich aktiven und erfolgreichen Sektenpolitik widerfahren ist, nämlich daß Sie in einem Schreiben von Scientology, das heute allen Mitgliedern des Deutschen Bundestages zugegangen ist, für deren Zwecke mißbraucht werden. Denn Scientology führt unter anderem Ergebnisse von Studien an, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben haben soll, um uns alle von der Harmlosigkeit dieser Organisation und der Unbegründetheit des SPD-Antrages zu überzeugen. Ich
bin davon überzeugt, daß wir alle uns so etwas ersparen sollten, und hoffe, Sie stimmen zu.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile der Abgeordneten Ortrun Schätzle das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages hat im Oktober letzten Jahres verschiedene Eingaben von Bürgern behandelt, die sich mit den Folgeschäden bei Mitgliedern sogenannter Sekten und Psychogruppen befaßten. Ein Petitionsanliegen möchte ich Ihnen kurz schildern, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, welcher gesellschaftspolitische Sprengstoff in diesen Fällen liegen kann.
Eine der sogenannten Sekten und Psychogruppen beschäftigt zahlreiche Mitglieder, ohne sie sozialversicherungsrechtlich abzusichern. Diese Gruppierung ist der Auffassung, daß kein arbeitsrechtliches Dienstverhältnis bestehe, obwohl die Mitglieder ganztägig über Jahre beschäftigt werden, Zuwendungen für ihren Lebensunterhalt, aber kein Leistungsentgelt erhalten. Es ist zu befürchten, daß der Lebensunterhalt der Mitarbeiter dieser Gruppierung im Alter aus öffentlichen Mitteln, aus Steuermitteln bestritten werden muß, da die Betreffenden ohne Alterssicherung bleiben.
Der Petitionsausschuß regte in seiner Beschlußfassung an, den gesetzgeberischen Handlungsbedarf im Rahmen einer Enquete-Kommission zu klären. Heute liegt uns nun der Antrag der SPD zur Einsetzung einer Enquete-Kommission vor. Eine EnqueteKommission könnte das schon vorhandene Fach- und Erfahrungswissen bündeln und grundsätzlichen Fragen der in der Öffentlichkeit stark diskutierten Sektenproblematik nachgehen.
Es muß aber auch darüber nachgedacht werden, ob die Enquete-Kommission wirklich das geeignete politische Instrumentarium darstellt, die vorhandene Problematik zu bearbeiten, oder ob es andere geeignete Instrumente gibt, die dies ebenso effizient erledigen können.
({0})
Seit Mitte der 70er Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir in Deutschland mit dem Phänomen und Problemfeld neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen und sogenannter Psychogruppen konfrontiert. Die Vielfalt der neuen Bewegungen hat in den letzten Jahren zugenommen - Frau Rennebach hat es erwähnt -; ihre Zahl wird zur Zeit auf 600 geschätzt.
Vielfalt, Unübersichtlichkeit und zunehmende Aktivitäten dieser neuen Gruppierungen, vor allem die wachsenden Konflikt- und Gefährdungspotentiale beunruhigen die Bevölkerung. Wurden nämlich vor 20 Jahren schwerpunktmäßig junge Menschen von neuen Heilsbringern bewogen, ihre Schul- und Berufsausbildung oder ihr Studium abzubrechen, um den sogenannten Sekten und Psychogruppen voll und ganz zu folgen, so werden heute Menschen jeden Alters, jeder Berufszugehörigkeit, jedes Bildungsabschlusses als Alleinstehende oder als Familienangehörige aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zwecken und Zielen umworben und angeworben.
Die Gefährdungen, die von diesen neuen Gruppierungen ausgehen, gleichen sich: materielle, finanzielle Schäden bis zum Ruin, Bruch mit bestehenden sozialen, besonders familialen Bindungen, radikale Persönlichkeitsveränderungen, persönlichkeitsbedingte Abhängigkeiten, Unselbständigkeit, Kommunikationsschwierigkeiten, Realitätsverlust.
Häufig werden Anhänger und spätere Mitglieder der sogenannten Sekten und Psychogruppen über alltagsnahe Seminarangebote gewonnen. Die Seminare geben vor, Fähigkeiten zu vermitteln, mit denen eine bessere, glücklichere und sinnerfülltere Lebensführung möglich ist und vor allem Krisen gemeistert werden.
Zu Anfang mag die Zugehörigkeit zu sogenannten Sekten und Psychogruppen noch unproblematisch sein, aber mit zunehmender Dauer der Mitgliedschaft, bei unvorhergesehenen Vorfällen wie Krankheit oder Alter oder gar in dem Fall, aussteigen zu wollen, offenbaren sich Schwierigkeiten in aller Härte. Die sogenannten Sekten und Psychogruppen zeigen in diesen Momenten ihre gesamte Intoleranz und ihr sozialdarwinistisches Verhalten gegenüber Schwächeren.
Man kann an dieser Stelle natürlich fragen, welche Verantwortung in Angelegenheiten dieser Problematik der Deutsche Bundestag trägt. Ich glaube, er trägt eine Verantwortung.
({1})
Kriminologische, juristische, psychologische und psychiatrische Studien bestätigen, daß viele der sogenannten Sekten und Psychogruppen keineswegs so harmlos, hilfreich und friedliebend sind, wie sie vorgeben. Lebenshilfeangebote oder Einstiegsseminare zur beruflichen Weiterbildung verschleiern oftmals totalitäre antidemokratische Strukturen, Absolutheitsansprüche, völlige Abschottung nach außen, Erpreßbarkeit, Illoyalität und Wirtschaftsspionage bis hin „zur politisch motivierten Strategie der Unterwanderung und Infiltration", wie es Dr. Hans-Gerd Jaschke in seinem Gutachten beschreibt.
Allein aus seinem originär existentiellen Interesse heraus muß dem Deutschen Bundestag daran gelegen sein, zu erfahren, was sich auf diesem Psycho-und Heilsbringermarkt tut. Die Grundrechte des einzelnen Bürgers müssen vor diesen Bedrohungen geschützt werden.
({2})
Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine EnqueteKommission, wie es der vorliegende Antrag der SPD fordert, in der Lage sein kann, „eine grundlegende, umfassende und bewertende Analyse der in der Bundesrepublik Deutschland agierenden sogenannten Sekten und Psychogruppen durchzuführen" , wie es im Antrag heißt. Das würde bedeuten, daß wir bis zum Frühjahr 1998, also innerhalb von nur zwei Jahren, zirka 600 sogenannte Sekten und Psychogruppen unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Verflechtungen, der verfassungsrechtlichen Grundlagen und der bislang ergangenen Rechtsprechung zu untersuchen hätten.
({3})
Ich meine, eine Enquete-Kommission darf nicht überfrachtet werden.
({4})
Es erscheint mir dagegen unverzichtbar, erstens die gesellschaftlichen Ursprünge und Hintergründe für die Ausbreitung und Zunahme der sogenannten Sekten und Psychogruppen aufzuarbeiten, zweitens die Gründe für eine Mitgliedschaft und die Auswirkungen und Folgen der Mitgliedschaft zu analysieren, drittens die potentiellen Gefahren für Staat und Gesellschaft durch die Aktivitäten dieser Gruppierungen und Organisationen herauszuarbeiten und viertens die Bedrohung staatlicher Strukturen, insbesondere durch antidemokratische und totalitäre Bewegungen, deutlich zu machen.
Wir müssen mehr über die Gefährdung durch offene oder verdeckte wirtschaftliche Unterwanderung durch sogenannte Sekten und Psychogruppen, über den Charakter der gewerblichen Lebensbewältigungshilfeangebote, über die Gefährdungspotentiale für Familien einschließlich der Sozialisationsprobleme von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Angehörige solcher Gruppierungen und Organisationen sind, und über die Konflikte, die bei Scheidung oder Erbfall auftreten, erfahren.
Wir müssen Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Maßnahmen ausloten und den gesetzgeberischen Handlungsbedarf auf wissenschaftlicher Grundlage definieren. Die Notwendigkeit des Ausbaus der Informations- und Aufklärungsarbeit muß überprüft werden.
Was aber den Titel der zukünftigen Enquete-Kommission angeht, so ist sehr sorgfältig auszuwählen. Warum? Er wird ein Aushängeschild in der Öffentlichkeit sein. Über die von der SPD vorgeschlagene Bezeichnung bin ich nicht ganz glücklich; denn der Begriff „Sekten" kann - er wird es auch zeitweise schon - als ideologischer Kampfbegriff benutzt werden.
({5})
Zudem wird der Begriff „Sekten" zwar umgangssprachlich benutzt, aber es gibt keine wissenschaftlich anerkannte Definition dieses Begriffes, keine Kriteriologie.
Der Begriff Sekten ist nur ein Hilfsmittel, ein Sammelbegriff,
um sehr verschiedene Arten von sogenannten religiösen oder Weltanschauungsgemeinschaften oder ähnlichen Vereinigungen schlagwortartig zusammenzufassen.
- Dies war ein Auszug aus einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 20. Oktober 1987.
Weil der Begriff „Sekten" keine klaren Konturen hat, plädiere ich für einen Gebrauch dieses Begriffs mit gebotener Vorsicht, vor allem dann, wenn sich daraus die Aufgaben einer möglichen Enquete-Kommission ableiten lassen.
Eine klare Zuständigkeitsabgrenzung staatlichen Handelns zwischen Bund, Ländern und Gemeinden muß erfolgen. Diese Zuständigkeitsabgrenzung ist wichtig, weil Bund, Länder und Gemeinden unterschiedliche Eingriffsmöglichkeiten haben und diese auch weiterhin wahrnehmen sollen.
Seit Jahren sind die interministerielle Bund-Länder-Arbeitsgruppe sowie ein Bund-Länder-Gesprächskreis Plattform für einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch und für die Abstimmung von Aktivitäten in dem genannten Problemfeld. Weiterhin ist im Sommer 1994 ein Referat „Sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen" beim Bundesverwaltungsamt eingerichtet worden, das sich noch in der Aufbauphase befindet, aber mittlerweile mit sieben Mitarbeitern ausgestattet ist.
Dieses Referat hat im Auftrag der Bundesregierung im Januar die erste Informationsbroschüre zur Scientology-Organisation aufgelegt. Die Broschüre hat eine unglaubliche Nachfrage in der Bevölkerung ausgelöst. Weitere Broschüren sind in Vorbereitung.
Die Arbeit der Ministerien, die in dieser Legislaturperiode gut angelaufen ist, darf keineswegs durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission aufgehalten werden. Ich wünsche deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sich mit der notwendigen Sensibilität und Ernsthaftigkeit in die Aufarbeitung der Sektenproblematik einbringen und den Erfolg garantieren, den sich Bürgerinnen und Bürger, insbesondere die Betroffenen, von uns, dem Deutschen Bundestag, erhoffen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Gerald Häfner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein für viele Menschen großes und sehr alltägliches Problem.
Ich selbst habe mit 14 Jahren miterlebt, daß mein damals bester Freund in den Hare-Krishna-Tempel
gezogen ist und dann ein Jahr nicht mehr wiederkam. Als die Eltern wollten, daß er wieder nach Hause kommt, wurde er außer Landes gebracht und war dann ein Jahr lang verschollen; es wurde international nach ihm gesucht.
Ich könnte viele ähnliche Geschichten hier erzählen. Sie selbst kennen sicher weitere aus dem persönlichen Bereich, aus den Medien.
Das heißt, es ziehen Rattenfänger durch unser Land, die junge Menschen zu fangen versuchen, überall in unseren Städten, und wir alle wissen und erleben, daß junge Menschen gerade auch in labilen Zeiten, in der Krise dafür ansprechbar sind. Wir wissen auch, daß sich die Methoden heute gegenüber damals außerordentlich verfeinert haben.
Bei mir hat das damals das entgegengesetzte Ergebnis gehabt. Das heißt, ich habe mich dann intensiv mit den Problemen der sogenannten Jugendreligionen und Jugendsekten befaßt. Aber wir müssen feststellen, nicht jeder kann dem widerstehen, und wir müssen auch feststellen, daß inzwischen viele dieser Gruppen zu einem massiven Faktor im Staat und in der Wirtschaft geworden sind. Sie unterwandern - oder sollte man vielleicht besser sagen: sie überwandern - die gesellschaftlichen Einrichtungen bis hin zu Sportvereinen, zu politischen Parteien und anderen. Darüber gibt es auch Schätzungen. Allerdings muß ich sagen, daß ich gegenüber diesen Schätzungen außerordentlich skeptisch bin, weil die Kriterien, die davon ausgehen, daß bis zu 2 Millionen Menschen heute unmittelbar davon betroffen sind, wenig trennscharf sind.
Wenn Sie sich an das erinnern, was wir in den letzten Jahren in anderen Ländern beobachtet haben - ob es damals Jim Jones mit dem Massenselbstmord war, ob es Shoko Asahara mit der Sekte in Japan war oder ob es die Sonnentempler waren -, dann müssen Sie erkennen, daß hier ein ernstes Problem liegt, das meines Erachtens zu untersuchen berechtigt und auch notwendig ist.
Allerdings sollten wir nicht so tun - darin stimme ich meiner Vorrednerin ausdrücklich zu -, als wäre hier noch nichts untersucht worden. Es ist eine ganze Menge untersucht und publiziert worden. Auch im Bundestag ist schon eine ganze Menge zu diesem Thema beraten und verhandelt worden. Im Jahre 1991 hat es eine Anhörung gegeben, und zuletzt hat sich der Petitionsausschuß intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
Wenn mit dem heutigen Antrag tatsächlich intendiert ist, daß in der Sache etwas geschehen soll, dann wären all diejenigen, die sich diesem Thema zuwenden, gut beraten, nicht wieder von vorn anzufangen, sondern die Frage zu stellen: Gibt es Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten, und wenn ja, wo?
Ich denke, daß zum Beispiel in dem Beschluß des Petitionsausschusses, der den Fraktionen seinerzeit zur Beratung und zur Berücksichtigung übermittelt worden ist, die konkreten Bereiche sehr deutlich aufgeführt sind, bei denen gesetzgeberischer Handlungsbedarf, gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten gesehen werden.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, und zwar auch vorsichtig in kritischer Weise.
Auch mir scheint der Titel der hier vorgesehenen Enquete-Kommission denkbar unglücklich zu sein.
({0})
„Sekten" und „Psychogruppen" sind in dem uns beschäftigenden Zusammenhang doch eher fragwürdige Begriffe. Mit dem Begriff „Sekte" ist ja zunächst einmal einfach eine Abspaltung von einer traditionellen Glaubensgemeinschaft gemeint. Das ist nicht das, was uns zu interessieren hat. Auch Psychogruppen gibt es, angefangen von Körpererfahrungs- bis hin zu Selbsthilfegruppen, in großer Zahl. Es sollte nicht die Gefahr entstehen, daß sich diese Gruppen durch eine so gewählte Überschrift durch den Bundestag diskriminiert fühlen.
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Ich glaube, man muß sehr viel deutlicher beschreiben, was hier gemeint ist; andernfalls wird man eher Schaden anrichten als Sinnvolles tun.
Es ist eben nicht der Charakter einer Psychogruppe, auch nicht der Charakter einer Sekte, das heißt, einer kleineren religiösen Gemeinschaft, der uns hier zu beschäftigen hat; vielmehr geht es um Gruppierungen mit einem besonderen totalitären Anspruch. Ich glaube, daß dies das entscheidende Kriterium ist.
Es geht um Gruppen, die Abhängigkeit erzeugen, die ihre Mitglieder ausbeuten. Es geht um Gruppen, die ihre Mitglieder unter Druck setzen, die eine selbständige, eigenverantwortliche Entscheidung bei ihren Mitgliedern nicht fördern, sondern diese ausschalten und unmöglich machen wollen, und zwar gerade, wenn es um den Ausstieg aus der Gruppe geht. Es geht um Gruppen, die versuchen, Institutionen dieser Gesellschaft gezielt zu unterwandern und sich unter Anwendung pseudospiritueller Praktiken wirtschaftliche und politische Macht zu verschaffen. Es geht um Gruppen, die unter fälschlicher Verwendung des Etiketts „Kirche" oder „Religionsgemeinschaft" wirtschaftliche und politische Interessen verfolgen. Das ist bekannt.
Daraus ergibt sich, so glaube ich, im wesentlichen auch der Handlungsauftrag.
Es ist also der totalitäre und bis hin zu - wie es bei der Anhörung des Bundestages damals der Sachverständige Abel ausgeführt hat - faschistoiden Strukturen reichende Charakter, der uns hier zu interessieren hat.
Dieser Charakter ist nicht das, was vom Grundgesetz geschützt ist. Was vom Grundgesetz geschützt wird, sollten wir hier allseits ausdrücklich bestätigen. Das Grundgesetz garantiert ausdrücklich die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des religiösen und
weltanschaulichen Bekennntnisses und gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. Dies darf, kann und soll vom Deutschen Bundestag auch im Rahmen der Beratungen einer Enquete-Kommission, deren Einsetzung hier beantragt wird, nicht angetastet werden.
({2})
In einer offenen Gesellschaft muß allerdings auch Offenheit nachdrücklich eingefordert werden, so meine ich. Die Offenheit der Gesellschaft droht in Gefahr zu geraten, wenn unter Ausnutzung dieser Prinzipien abgeschottete, geschlossene, autoritäre und hierarchisch strukturierte Gruppen mit allen Methoden, die sogar Elemente der Seelen- und Gehirnwäsche beinhalten, die Macht über andere Menschen und die Herrschaft in der Gesellschaft anstreben. Hier liegt der Untersuchungsauftrag. Hier werden wir genauer hinschauen müssen.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines deutlich ansprechen. Ich kann nicht ganz verstehen - darüber werden wir ja gleich anschließend noch zu diskutieren haben -, daß die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Bundestag zwar eine EnqueteKommission für sogenannte Sekten und Psychogruppen fordert, eine Enquete-Kommission zum gegenwärtig größten Problem dieses Landes überhaupt, nämlich zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit, aber ablehnt.
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Das geht mir schon deshalb nicht in den Sinn, weil ich hier einen unmittelbaren Zusammenhang sehe. Wir würden allzu kurz springen, wenn wir hier nur an Symptomen herumkurierten.
Ich meine, daß viele Menschen, gerade junge Menschen, zu Recht auf der Suche sind nach Sinn, nach Orientierung, auch nach einer angemessenen Rolle in dieser Gesellschaft. Wenn wir diesen Menschen nicht die Orientierung und die Perspektive bieten, mit dem, was sie an Fähigkeiten und an Anliegen ins Leben mitbringen, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden, ihre Fähigkeiten, ihre Arbeit zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl des Ganzen sinnvoll einsetzen zu können, dann werden wir das, was wir hier sozusagen symptomkurierend beenden wollen, weiter fördern. Ich glaube, daß eine Gesellschaft, die einem Gutteil der jungen Menschen keine Perspektive mehr bietet, eine Gesellschaft, die, wie Horst Stern einmal gesagt hat, von allem den Preis kennt, aber von nichts den Wert, eine Gesellschaft, in der Egoismus und Konkurrenz gefördert werden, aber soziales Verhalten für den einzelnen eher schädlich ist, hierarchische, autoritäre, totalitäre Strukturen und Antworten, wie wir sie hier beklagen, eher fördert als verhindert.
Deswegen: Lassen Sie uns nicht nur über Symptome, lassen Sie uns auch über die Ursachen reden! Alles andere macht wenig Sinn.
Ich danke Ihnen.
({5})
Frau Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, daß wir im Bundestag bald eine Debatte über die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Koalitionsfraktionen führen, die sich nämlich zum großen Teil mit den Fragen auseinandersetzt, die nach dem Antrag der SPD Gegenstand der Aufgabe der Enquete-Kommission sein sollen.
({0})
Deshalb ist meiner Meinung nach das richtige Vorgehen, auch von seiten des Parlaments, das, zunächst einmal auch die Bundesregierung nicht aus ihrer Verpflichtung zu entlassen, dem Deutschen Bundestag umfassend ihre Erfahrungen, Erkenntnisse, auch Ergebnisse aus Gutachten und Ausarbeitungen vorzulegen. Danach kann in den zuständigen Ausschüssen mit Experten zu diesen Fragen eine ausführliche Diskussion stattfinden.
Deshalb glaube ich, daß der Weg, jetzt hier eine Enquete-Kommission einzusetzen, doch nicht der ganz richtige ist. Ich meine, daß wir uns auf der Grundlage des Verfahrens, das schon am 1. Februar mit der Drucksache 13/3712 eingeleitet worden ist, weiter auseinandersetzen sollten.
Was sind denn die wesentlichen Fragen? Wir haben sie in dieser Kleinen Anfrage festgehalten. Sie lauten: Welche Gruppierungen sind denn überhaupt zu sogenannten Sekten und Psychogruppen zu zählen? Das ist ja eine Frage nicht nur der Definition, wie eben schon in der Debatte angedeutet, sondern natürlich auch eine Frage danach: Welche Organisationen, Institutionen verfolgen welche Zielsetzungen? Was wollen die verschiedenen Gruppierungen, die man vielleicht religiösen, weltanschaulichen, aber auch ganz anderen Inhalten zuordnen kann? Wie sehen wir vor allem die Gefährdungen für den einzelnen Bürger, für die einzelne Bürgerin und dann möglicherweise auch für unsere Gesellschaft? Das sind die zwei ersten und wesentlichen Fragen, die wir im Zusammenhang mit dem Thema sehen und die behandelt werden müssen, bevor man sich mit den Fragen auseinandersetzt, ob Handlungsbedarf besteht und, wenn ja, auf welche Art und Weise.
Ich kann mich den Vorrednern und der Vorrednerin Frau Schätzle nur anschließen in dem Punkt, daß wir hier mit sehr großer Ernsthaftigkeit, Sorgfalt und auch Differenzierung an das Problem herangehen müssen; denn hier gibt es keine einfachen Lösungen. Hier gibt es nicht die Möglichkeit, ein Gesetz zu erlassen und das Problem so in den Griff zu bekommen. Hier gibt es nicht die Möglichkeit, mit Verboten
zu versuchen, Jugendliche und auch Erwachsene vor möglicherweise kriminellen Machenschaften zu bewahren, die manche Organisationen und solche Gruppierungen verfolgen. Wenn es denn Anhaltspunkte dafür gibt, dann ist das selbstverständlich eine Aufgabe für die Polizei, die dann tätig werden muß: bei wirtschaftlicher Ausbeutung, bei Mißbrauch, bei Mißhandlung.
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Wir alle wissen, daß die Aufklärung solcher Sachverhalte natürlich nicht leicht ist. Aber es ist auch nicht Aufgabe zum Beispiel von Verfassungsorganen in Deutschland,
({2})
das Innenleben von Organisationen, denen wir möglicherweise so etwas zurechnen würden, durch Überwachung, durch Kontrolle, durch Telefonabhörmaßnahmen festzustellen. Meine Damen und Herren, zu meinen, auf diese Art und Weise mit diesen Problemen fertig werden zu können, ist wirklich zu kurz gesprungen, hieße auch auf die falschen Behörden setzen statt darauf, was wirklich das Entscheidende ist.
Das Entscheidende ist für uns als allererstes, daß eine umfassende Aufklärung erfolgen muß, und zwar gerade tatsächlicher und inhaltlicher Art. Deshalb haben wir das von der Bundesregierung erbeten. So wie ich informiert bin, werden wir in Kürze die Antwort auf die Kleine Anfrage erhalten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rennebach?
Ja, bitte schön, Frau Rennebach.
Frau LeutheusserSchnarrenberger, wenn wir denn alle diese Erkenntnisse haben, wenn nach Ihrer Hoffnung die Bundesregierung Ihnen auf die Kleine Anfrage die richtigen Antworten geben wird, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ({0}): Das weiß ich nicht.
- wenn wir 1992 die An-honing gehabt haben, wenn wir das alles schon wissen und wenn, wie Sie eben gesagt haben, die Polizei schon handeln könnte, dann frage ich Sie, warum wir in den letzten Jahren eine Eskalation der entsprechenden Probleme gehabt haben, warum wir zuhauf Menschen haben, die von diesen Organisationen kaputtgemacht werden, warum die Bundesregierung in dieser Frage bisher noch nicht gehandelt hat. Sie sagen, Sie wüßten schon alles, und Sie bzw. die Bundesregierung - Entschuldigung, Sie sind nicht mehr dabei - müsse nur antworten und es lägen genügend Gutachten vor. Trotzdem ist in den letzten Jahren nichts passiert. Sie sagen, wir brauchen keine Enquete, wir haben die Antworten schon. Ich frage Sie: Wie kommen Sie dazu?
Frau Rennebach, ich darf doch bitten, daß man mir dann auch genau zuhört und es richtig wiedergibt.
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Ich habe nicht gesagt, daß wir alle Antworten haben. Aber ich habe gesagt, daß wir schon, und zwar vor einigen Wochen, einen Weg beschritten haben, Informationen und Erkenntnisse zu versuchen zu bekommen. Der richtige Weg ist, das durch eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zu tun. Wir alle wissen - das ist hier schon mehrmals angesprochen worden -, daß es unterschiedliche Stellen, interministerielle Arbeitsgruppen, Beauftragte von staatlicher Seite, auf Länderebene, von Kirchen und anderen Organisationen gibt. Deshalb ist es wichtig, diese Informationen einmal gebündelt in einer Kleinen Anfrage zu bekommen.
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- Nein, dazu brauchen wir eben keine Enquete-Kommission, Frau Rennebach, denn die Erkenntnisse und Informationen, die gerade durch die Bundesregierung beschafft werden können, sind die Grundlage, um sich hier im Bundestag mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich meine nicht, daß es der richtige Weg ist, eine Enquete-Kommission einzurichten, in der die Experten, die auf andere Art und Weise sowieso befragt werden, dann auch tätig sind. Vielmehr haben wir uns mit den Antworten in den Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen zu befassen haben, auseinanderzusetzen.
Außerdem, Frau Rennebach, glaube ich, sollten wir nicht versuchen, den Eindruck zu erwecken, als wäre mit einem Paket von vielleicht einzelnen Empfehlungen an den Gesetzgeber dann alles Notwendige und Erforderliche getan. Mein Schwerpunkt liegt hier wirklich bei der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger und gegebenenfalls auch noch bei anderen Schritten, die einzuleiten sind. Aber das erste ist das Entscheidende. Das ist für mich auch der Imperativ einer modernen, einer offenen Gesellschaft. Das gilt auch in diesem Fall.
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Das Wort hat Kollegin Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich hatte eigentlich gehofft, so hörte sich das jedenfalls bei Ihrer Koalitionspartnerin an, daß dieses Thema wenigstens ernsthaft diskutiert wird. Aber ganz offensichtlich haben Sie vor, den Antrag abzulehnen. Nach dem, was man von der Bundesregierung an Antworten auf Kleine Anfragen kennt, glaube ich nicht, daß von der Bundesregierung eine Aufklärungsarbeit tatsächlich gewollt ist.
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Die Gruppe der PDS wird dem Anliegen der SPD jedenfalls zustimmen, eine Enquete-Kommission einzurichten. Auch ich meine, es muß darüber diskutiert werden, wie eine solche Untersuchung aussehen sollte. Auch wir sind der Meinung, daß in der Vergangenheit die Ausbreitung von Sekten und sogenannten Psychogruppen mehr und mehr zu einem allgemeingesellschaftlichen Problem geworden ist.
Zum Teil können diese „spirituellen Sinnanbieter" bei der Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen beachtliche Erfolge aufweisen, zum Teil ist es ihnen aber auch gelungen, in beachtlichem Maße mit bestimmten gesellschaftlichen Kreisen zusammenzuarbeiten.
Wie meine Vorredner und -rednerinnen bereits dargestellt haben, haben wir es hier beileibe nicht nur mit der Scientology-Sekte zu tun, sondern mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher okkulter Sekten, neuheidnischer Religionsgemeinschaften, Geheimlogen und Orden wie die „Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem".
Zum weiteren möchte ich hier den „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis" nennen, der sich zu Beginn seiner obskuren Tätigkeit vor allem an Multiplikatoren wie Psychologen, Lehrer und Ärzte wandte und im Verlauf seiner Entstehung mehr und mehr Bündnisse mit alt- und neurechten Kräften einging.
Heute arbeiten Angehörige der VPM beispielsweise mit der Einrichtung des Studienzentrums Weikersheim zusammen. Gemeinsam werden hier der Kampf gegen die neue Linke und die Aufweichung der Werte wie Familie und Volksgesundheit gepflegt.
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Es ist kein Wunder, daß man hier auf Tagungen und Kongressen mit dem Thema „Mut zur Ethik" die Zusammenarbeit mit Anhängern rechtsextremer und konservativer Kreise pflegte und entwickelte, auch mit Kräften aus dem Umfeld der „Evangelischen Notgemeinschaft Deutschland" und rechtskatholischer Kreise.
Dieser Schulterschluß des VPM mit konservativen Persönlichkeiten und Rechtsextremisten wie Dieter von Glahn kam besonders deutlich zum Ausdruck, als die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, den VPM in eine staatliche Sektenliste aufnahm. Allein die geplante Aufnahme in diese Sektenliste führte zu stürmischen und wütenden Protesten aus dem konservativen Lager. Man lese dies in dem sehr interessanten Buch zum VPM nach, das Ingolf Elfer und Holger Reile herausgegeben haben.
Neben dieser Zusammenarbeit von Sekten und Kräften aus dem neurechten und konservativen Spektrum scheint mir als zweiter Bereich, in dem sich das Sektenunwesen herausbildet, die Hinwendung von Menschen zur Mystik und zu den Naturreligionen sehr wichtig. In den 80er Jahren bildete sich hier eine neue Spiritualität heraus.
Ein neues Denken und die Mythologie sollten gegen die Technisierung und Modernisierung der Gesellschaft gesetzt werden. Die Abkehr von den Staatskirchen fand hier in der Hinwendung zu einem neuheidnischen Denken ihren Ausdruck.
Antifaschistische Publizisten wiesen mit Recht darauf hin, daß es vor allem die extreme Rechte in den 70er und 80er Jahren war, die sich diese Mythologie in Verbindung mit dem Neuheidentum für ihre Politik zunutze machte. Im neofaschistischen „ThuleSeminar" und anderen Zirkeln wurde unter dem Arbeitstitel „Heide sein" ein ganz altes Denken für die Zukunft wieder neu hergerichtet und nutzbar gemacht. Völkisch-rassistische Sekten und deren Propagandisten und Theoretiker griffen die Thesen der klassisch-faschistischen Ideologen wie Paul de Lagarde, Ernst Krieck und Chamberlain wieder auf.
Die Thesen von der „Rückkehr zur Natur" und von der „Welt- und Allfrömmigkeit", was allgemeinhin auch unter dem Begriff „New age" zusammengefaßt wird, werden im Gefolge von neurechten Zeitungen wie „Mut" und „Criticón" aufgegriffen und auch hier deutschnational eingefärbt propagiert. Über die Respiritualisierung erhofften sich die Neofaschisten ein weiteres Politikfeld, um hier unter dem Deckmäntelchen der Religion eine Massenbasis zu finden.
Gerade diese Tätigkeit der Sektenbildung und ihr Einfluß auf Jugendliche ist bisher kaum untersucht und in die Öffentlichkeit gebracht worden. Ich meine, daß gerade in diesem Bereich bezüglich der Aufklärung ein Schwerpunkt gesetzt werden müßte.
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wie gesagt, wir unterstützen den Antrag der SPD, allerdings nicht, daß uns die SPD nur eine beratende Stimme in dieser EnqueteKommission zugestehen will. Deswegen werden wir noch einen eigenen Antrag stellen.
({0})
Herr Kollege Eckart von Klaeden, Sie haben das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Notwendigkeit, sich diesem Thema grundsätzlich und mit aller Ernsthaftigkeit zu widmen, ist heute schon vieles gesagt worden. Dem will ich mich anschließen, möchte es aber nicht wiederholen.
Der Antrag der SPD-Fraktion, über den wir heute sprechen, bedarf meiner Ansicht nach einer erheblichen Konkretisierung, wenn die Enquete-Kommission zu Ergebnissen kommen soll, die insbesondere den Betroffenen weiterhelfen und dem Gesetzgeber Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe.
Der eine Grund liegt in der Zeit; denn wir haben, wenn wir es genau betrachten, nur noch zwei Jahre. Wenn unsere Arbeit nicht Gefahr laufen soll, der DisEckart von Klaeden
kontinuität zum Opfer zu fallen, sollten wir den Aufgabenbereich so bestimmen, daß zum Ende der Legislaturperiode greifbare Ergebnisse vorliegen.
({0})
- Frau Kollegin, wir führen die Debatte gerade aus dem Grund, uns auszutauschen. Oder nicht?
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Der zweite Grund ist jedoch der gewichtigere und ergibt sich aus den grundgesetzlichen Bestimmungen der Art. 4 und 2 für alles staatliche Handeln, also der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit. Hier stellen wir fest, daß sich aus dem Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates gerade bei der Behandlung dieses Themas besondere Schwierigkeiten ergeben.
Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein in unserer Rechtsordnung besonders wertvolles Gut,
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was auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß Art. 4 Abs. 1 GG keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt. Nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch wegen des besonderen Bezuges zum Schutz der Menschenwürde in Art. 1 stellt sie in unserem Staat ein hohes Schutzgut dar, das nicht in Frage gestellt werden darf.
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Das wird vor dem Hintergrund einer sich mehr und mehr säkularisierenden Gesenschaft immer schwieriger.
Man mag von bestimmten religiösen Bewegungen auch innerhalb der katholischen oder der evangelischen Kirche, von Anthroposophen oder anderen Weltanschauungsgemeinschaften halten, was man will. Ihnen unter dem Zeichen des Jugendschutzes oder anderer erkannter Ziele zu Leibe rücken zu wollen, würde das Gebot des Grundgesetzes in seinem Kern verletzen. Die Grundsätze der Neutralität und Parität verbieten nämlich jede Bevorzugung und Benachteiligung bestimmter Bekenntnisse und gebieten damit gleiche Entwicklungschancen aller Gemeinschaften. Daran gilt es festzuhalten. Ohne sie ist ein freiheitlicher Rechtsstaat nicht denkbar.
In eine bedenkliche Richtung weisen daher Vorschläge, wie der der Sektenbeauftragten des Senats der Hansestadt Hamburg, Frau Caberta, Art. 4 des Grundgesetzes mit einem Gesetzesvorbehalt zu versehen. Ein solcher Gesetzesvorbehalt träfe nämlich nicht nur die freie Religionsausübung, sondern gleichermaßen die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Dieses reine „forum internum" der Glaubensfreiheit muß indes von jedem Zugriff staatlichen Rechts freigestellt bleiben, solange sie nicht die Schwelle des manifestierten Bekenntnisses nach außen überschreitet. Die Bekenntnisfreiheit ist allerdings untrennbar mit der Glaubensfreiheit als auch mit sämtlichen Formen der Religionsausübung verbunden.
Weiterhin wäre mit einem solchen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt praktisch nichts gewonnen. Entsprechend der sogenannten Wechselwirkungslehre würde bei einer Kollision zwischen den Grundrechten des Art. 4 und anderen zur Verfügung stehenden verfassungsunmittelbaren Schranken eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene Interessen- und Rechtsgüterabwägung nach wie vor notwendig.
Aus dem Fehlen eines Gesetzesvorbehaltes kann auch nicht geschlossen werden, daß die Ausübung der Religions- und Bekenntnisfreiheit keinen Schranken unterliegt. Grund- und Menschenrechte sind universale Angelegenheiten und stehen weder zur Disposition auswärtiger Kulturkreise noch inländischer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften.
({4})
An diesen Grenzen ergeben sich eine Vielfalt von Konfliktsituationen im Umkreis der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Art. 4 Abs. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes bieten keine Grundlage, beliebige wirtschaftliche, politische und sonstige Aktivitäten als religiös zu deklarieren und so den verstärkten Schutz in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich nicht um ein bloßes Auffanggrundrecht für alle irgendwie einschlägig drapierten Verhaltensweisen.
Das Grundgesetz bietet selbstverständlich nicht Sektierern und weltanschaulichen Gesinnungsethikern alle Freiheiten, gegen im Verfassungsrang stehende Grundrechte zu verstoßen. Ebensowenig läßt sich dem Grundrecht ein generelles Mandat für religiös oder weltanschaulich motivierte Sonderrechte mit der Folge einer Suspendierung von der allgemeinen Rechtsordnung entnehmen. Das gilt übrigens auch für die Beihilfe zur Fahnenflucht oder für das Kirchenasyl.
Zusammenfassend läßt sich daher sagen, daß viele verbundene Teilaspekte, vor allem die Grundsätze der personalen Würde des Menschen, seiner Freiheit, der Parität und Toleranz zusammengenommen, die Grenze ergeben, gegen die die Religionsausübung nicht verstoßen darf. Auf dieser Grundlage gilt es, der Gefahr des Mißbrauchs, der zur Religion wie zu allen ganzheitlichen Lebensvollzügen gehört, entgegenzutreten. Unser Augenmerk sollte daher denjenigen Gruppen gelten, die in ihren eigenen Strukturen nicht über Selbstregulierungs- bzw. Selbstkorrekturmechanismen verfügen.
Ich wäre dankbar, wenn eine entsprechende Konkretisierung des Auftrags der Enquete-Kommission im Geschäftsordnungsausschuß gelingen könnte.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Mertens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reaktion der Umwelt auf die
Mitteilung, man beschäftige sich politisch mit Sekten, läuft ziemlich genau nach folgendem Muster ab:
Die einen fragen kurz und knapp, ob man denn nichts Wichtigeres zu tun habe. Die anderen klopfen einem mitleidig auf die Schulter und meinen, das sei nun auch höchste Zeit; aber: herzliches Beileid. Die dritte Gruppe wendet den relativ lange andauernden, prüfenden und einordnenden Blick an, um festzustellen, ob der Überbringer dieser Nachricht nicht vielleicht ähnlich strukturiert sei wie das Objekt seiner Beobachtung, zu deutsch: ob man eventuell auch ein bißchen durchgeknallt sei.
Die voreilige Einordnung: alles Psychopathen, ist genauso unrichtig wie die Feststellung, es handele sich lediglich um ein Randproblem. Jedenfalls bei den Scientologen trifft das nicht zu.
({0})
Eine Sekte sind sie eigentlich nicht, schon gar keine Kirche, eher eine Gruppe mit wirtschaftskriminellen Elementen. Die Kirche wurde praktisch nachgeschoben. In Hamburg ging das so: Man gründet ein sogenanntes Bildungsinstitut. Das wird überprüft, und man flüchtet unter Art. 4 des Grundgesetzes. Das garantiert dann nicht nur steuerliche Vorteile, sondern gibt auch eine hervorragende Möglichkeit, alle Kritik mit dem Hinweis auf die Glaubensfreiheit als unzulässig zu erklären. Scientology ist übrigens nirgends auf der Welt als Kirche anerkannt, auch wenn deren Vertreter das immer wieder behaupten.
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Wir haben heute morgen alle einen Brief der Scientologen bekommen. Es macht sie also nervös. Das freut mich sehr. Es ist ein sicheres Zeichen für uns, das Richtige zu tun. Es ist schon sehr komisch, wenn eine Organisation, die sich selbst für Übermenschen und uns für antisoziale Persönlichkeiten hält, den dringenden Appell gibt, nicht zu diskriminieren.
Vieles von dem, was L. Ron Hubbard zu Papier gebracht hat, erinnert doch sehr an rassistisches und faschistisches Gedankengut vom Ober- und Untermenschen, so etwa die Einteilung von Aberrierten und Nichtaberrierten oder der Zweck der scientologischen Ethik, Gegenabsichten und Fremdabsichten aus der Welt zu entfernen. Sich zum Kronzeugen für Toleranz zu machen, das ist nun wirklich zum Brüllen komisch.
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Mit besonderer Freude habe ich übrigens heute vernommen, daß der Versuch der Scientologen, mit einer einstweiligen Verfügung gegen einen Bericht der Hamburger Innenbehörde vorzugehen, gescheitert ist. Es darf weiter behauptet werden, daß Leute, die sich aktiv gegen Scientology wenden, zum rechtlosen Freiwild erklärt werden, daß innerhalb der Organisation die Meinungsfreiheit nicht gewährleistet ist und daß die Rädelsführer der Scientologen kriminell sind. Davon steht in den scientologischen Presseerklärungen natürlich nichts.
Wenn die SPD-Fraktion die Einsetzung einer Enquete-Kommission beantragt, dann tut sie das nicht aus Jux und Dollerei. Auch wir hätten gut darauf verzichten können, wenn die Bundesregierung in der Vergangenheit einfach nur gehandelt hätte.
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Alles, was wir bisher gehört haben, da entschuldigen Sie bitte, waren Mickymaus-Erklärungen: Viele Sprechblasen und eine vage Aussicht auf ein HappyEnd, weil Herr Blüm unerschrocken ziemlich nichtssagende Interviews gibt und Frau Nolte bunte Broschüren verteilt.
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Ich spreche den Koalitionsfraktionen nicht den Willen ab, sich ernsthaft mit diesem Thema zu beschäftigen, aber Sie machen schon wieder Ausflüchte. Ich frage Sie ganz ernsthaft: Wovor haben Sie Angst?
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An Herrn Häfner: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wenn Sie einen besseren Vorschlag für die Überschrift haben - das vielleicht auch an die CDU und die F.D.P. -, dann sind wir gerne bereit, darüber zu diskutieren. Uns ist auf jeden Fall kein besserer eingefallen.
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An Frau Leutheusser-Schnarrenberger: Sie springen zu kurz. Sie wissen, entschuldigen Sie bitte, glaube ich, nicht ganz genau, was Sie sagen, wenn Sie behaupten: Wir müssen noch alles mögliche abwarten.
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Ich möchte noch einmal auf das Thema Scientology zurückkommen. Es brennt uns ziemlich auf den Nägeln. Profitorientierte Sekten und Organisationen werben keine Menschen mit ernsthaften emotionalen und psychologischen Problemen an. Sie würden nämlich ein unkalkulierbares Risiko darstellen.
Es ist deshalb nur logisch - vor allem, wenn man Geld verdienen und Macht erlangen will -, sich mit den gesellschaftlich relevanten Bereichen zu beschäftigen. Das ist die Wirtschaft, und das geht so: Die Leute suchen sich eine Wachstumsbranche und werben in einer Firma, die sie sich gezielt ausgesucht haben, oft erfolgreich in den Chefetagen an. Es sind die Jüngeren, Dynamischeren, Aufstrebenden, die noch erfolgreicher werden wollen, die angesprochen werden. Scientology bietet kapitalistische und rücksichtslose Durchsetzungsstrategien, die das Profitmachen vereinfachen sollen. Scientologe zu sein wird für viele zum Argument, letzte soziale und moralische Hemmungen aufzugeben. Ist ein Repräsentant angeworben, werden innere und äußere Gegner ausgeschaltet und die Scientology-Praxis des Auditierens eingeführt. Der Kreis hat sich damit geschlos8498
sen. Es wird Geld verdient. Geht darüber eine Firma pleite, so sucht man sich die nächste aus.
Selbständige, zum Beispiel Rechtsanwälte oder Steuerberater, selbst Notare, merken oft gar nicht, wie sie in die Fänge geraten, wie sie praktisch mit der Mandantenschaft unterwandert werden. Man steht dann vor der Wahl: raus oder rein, mit der Konsequenz, wenn man sich weigert, in den Ruin getrieben zu werden.
In vielen Bereichen sind die Scientologen auch äußerst erfolgreich, etwa in Werbeagenturen, in Unternehmens- und Personalberatungen oder im Immobilienbereich, so zum Beispiel bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. Dieses Geschäft ist bei anhaltender Wohnungsnot praktisch eine „Lizenz zum Gelddrucken" . Mit rüden Methoden, ständigen Besuchen und nächtlichen Anrufen sollen die Mieter vertrieben werden, weil eine freie Wohnung allemal ein besseres Geschäft ist als eine belegte. Mietervereine können, wenn sie ihren Auftrag, nämlich den des Verbraucherschutzes und der Information, wahrnehmen, ziemlich sicher sein, von der jeweiligen Firma auf Unterlassung der Behauptung, es handle sich um eine Firma, die nach scientologischen Grundsätzen arbeite, verklagt zu werden.
Konzertierte Aktionen, also Zusammenschlüsse von Mietervereinen, Wohnungswirtschaft, Handwerkskammern, Immobilienmaklern, sind praktisch Notgemeinschaften gegen Scientology. Es wäre sehr schön, wenn die Bundesverbände der Wirtschaft diese Möglichkeit stärker nutzen würden. Das ist auch ein offener Appell, besonders an die Makler, die nicht gerade zu den Sympathieträgern dieser Republik gehören. Hier bestünde eine gute Möglichkeit, das Image zu verbessern. Lassen Sie Scientologen nicht rein, und schmeißen Sie Scientologen raus. Und das machen Sie bitte öffentlich.
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Überhaupt kann festgestellt werden, daß es kaum eine Organisation gibt, die soviel prozessiert, wie die Hubbard-Truppe. Auch wenn man einen Prozeß nicht gewinnt, so schadet er doch auf jeden Fall dem Gegner und bindet ihn in seiner Zeit. Wenn dann noch ein ordentlicher Jurist bei einer Verhandlung sagt, wenn man Brötchen kaufe, interessiere man sich ja auch nicht für die religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen des Verkäufers, so kann ich nur sagen: Die interessieren auch mich nicht, aber ich habe ein Recht darauf, zu wissen, was in diesen Brötchen ist und ob ich sicher sein kann, daß sich der Verkäufer, wenn er von der Toilette kommt, auch die Hände gewaschen hat. Auf Scientology bezogen, heißt das: Wo Scientology drin ist, muß Scientology auch draufstehen.
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Ich muß also auch boykottieren können. Es kann nicht angehen, daß Verbraucherschutz derart ausgehöhlt wird, daß für Produkte und Dienstleistungen, für die man schließlich viel Geld ausgibt, das Deckmäntelchen der Religionsfreiheit herhalten kann.
Wer sich dann für ein Produkt entscheidet, tut es auf eigene Verantwortung.
Scientologen und auch andere Gruppen gehen mit ihren Kritikern nicht gerade zimperlich um. Es gibt viele Beispiele dafür. Wenn also bei Ihnen jemand in der Mülltonne sammelt, dann kann es der Müllmann sein, muß es aber nicht. Wenn sich jemand beobachtet fühlt, kann es der Anfang einer wunderschönen Freundschaft sein. Es kann aber auch sein, daß Ihnen ein scientologischer Detektiv an den Fersen klebt, weil aktive Kritiker von Scientology Freiwild sind. Wenn Sie wegen einer Behauptung verklagt werden, kann es sich um einen Volltreffer handeln, muß es aber nicht.
Damit komme ich zu einem entscheidenden und, wie ich finde, äußerst wichtigen Punkt: Panik und Hysterie sind schlechte Ratgeber. Aber das, was sich zur Zeit in diesem Bereich abspielt, hat mit Panik und Hysterie zu tun. In kaum einem anderen Bereich liegen nämlich begründeter und unbegründeter Verdacht so nahe beieinander wie in diesem. Hast du einen Konkurrenten, sag doch einfach: Er ist Scientologe. Bist du Scientologe, sag doch einfach, dein Kritiker ist es auch.
Neulich traf es eine bekannte Brauerei. Zur Zeit steht 1860 München unter Verdacht, die ich hiermit als St.-Pauli-Anhängerin herzlich grüße.
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Ich bin gleich fertig. - Ich hoffe sehr, daß die Sache schnell aufgeklärt wird, im Interesse der Institution Fußballverein.
Es ist deshalb höchste Zeit, daß wir eine EnqueteKommission einsetzen, daß wir letztlich die Spreu vom Weizen trennen. Ich bin schon gespannt, was sich Scientology einfallen lassen wird. Auf den Brief von heute - das sage ich Ihnen ganz ehrlich - können die sich jedenfalls einen Hubbard backen.
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Das Wort hat der Kollege Helmut Jawurek.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sogenannte Sekten und Psychogruppen sind an sich nichts Neues. Dennoch haben diese Gruppierungen - das ist heute schon festgestellt worden - gerade in den letzten Jahren stark an Zulauf gewonnen; Kollegin Schätzle hat darauf hingewiesen. Die Erfahrungen zeigen, daß es - nicht nur, aber auch - gerade junge Menschen sind, die diesen falschen Propheten auf den Leim gehen, junge Menschen, die Halt und Autoritäten suchen. Nicht selten spielen auch zerrüttete Familienverhältnisse dabei eine große Rolle. Es ist wichtig, dieses Umfeld mit zu untersuchen.
Opfer von Sekten sind häufig auch Kinder. Fehlgeleitete Eltern vergehen sich durch Mißhandlungen an den ihnen Schutzbefohlenen. Ich begrüße es, daß
im letzten Jahr gegen Mitglieder der „Sant Kripal Singh"-Vereinigung in Bayern Ermittlungen eingeleitet und zum Teil auch abgeschlossen wurden. Als Hinweise auf Fälle von Kindswohlgefährdung durch die Aktivitäten dieser Gemeinschaft bekannt wurden, hat das Bayerische Staatsministerium für Familie ein Gutachten zu den Erziehungspraktiken dieser Vereinigung eingeholt. Dieses Gutachten stellt in mehrfacher Hinsicht erhebliche Eingriffe in die natürlichen Entwicklungsbedingungen des Säuglings und Kleinkindes fest, wenn die „Empfehlungen zur spirituellen Erziehung der Kleinsten" angewandt werden. Die Beeinflussung der psychosozialen Entwicklung von Kindern durch derartige Vereinigungen muß genau beobachtet und untersucht werden, um gegensteuern zu können.
Im Auge muß man aber auch die zahlreichen wirtschaftlichen Betätigungen dieser Organisation haben. Unter dem Deckmantel „e.V." werden nicht selten Bücher verkauft und Veranstaltungen von Seminaren, Kursen etc. durchgeführt; darüber hinaus wird noch manches andere angeboten. Zugleich gilt es zu prüfen, welche Möglichkeiten bestehen, bereits jetzt ausgeübte gewerbliche Tätigkeiten zu untersagen. Interessant - aber das ist wohl kaum feststellbarwäre es auch, zu erfahren, in welchem Maße bereits heute derartige Vereinigungen, zum Beispiel Scientologen - die Kollegin Mertens hat darauf hingewiesen -, über Mitglieder Einfluß in deutschen Wirtschaftsunternehmen haben.
Unter dem Deckmantel „Religionsfreiheit, Toleranz und Pluralismus" - hier die Scientologen - gegen „religiöse Intoleranz, Diskriminierung und Hexenjagden" - das belegt der SPD-Antrag; wir haben ein diesbezügliches Pamphlet ja heute gelesen - wird Stimmung gemacht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen uns dies als Parlamentarier nicht gefallen lassen.
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Ich begrüße es ausdrücklich, daß die Bayerische Staatsregierung im Herbst letzten Jahres bereits Schritte gegen die Scientologen unternommen hat. Das gesichtete Material reicht laut Innenstaatssekretär Hermann Regensburger für ein Vereinsverbot aus. Er sagt sogar, es würde für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz ausreichen und diese rechtfertigen. Diese „höchst gefährliche" und „kriminelle Organisation" stellt eine Gefährdung für die Bürger, für die Gesellschaft und auch für den demokratischen Rechtsstaat dar, was gegebenenfalls sogar eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz rechtfertigen würde.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß die Bayerische Staatsregierung im letzten Herbst ein Zwölf -PunkteProgramm mit Maßnahmen gegen die Scientologen initiiert und auf den Weg gebracht hat. Die rechtlichen Instrumente zur Bekämpfung solcher Vereinigungen sind dennoch vollkommen unzureichend, im Gegenteil: Wer es wagt, solche Vereinigungen kritisch zu hinterfragen, der muß mit der geballten Macht der Rechtsabteilungen dieser Organisationen rechnen. So zum Beispiel auch der Kollege Markus
Sackmann, Abgeordneter im Bayerischen Landtag, der im letzten Jahr in zweiter Instanz bis vor das Oberlandesgericht Nürnberg gehen mußte, um sich für eine parlamentarische Anfrage zu einer Sekte, die er gestellt hatte, zu rechtfertigen. Ich finde dies traurig. Wir dürfen uns dies wirklich nicht gefallen lassen.
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- Es war die Sekte „Sant Thakar Singh".
Ich habe darauf hingewiesen, daß die rechtlichen Maßnahmen erweitert werden müssen, und dies sollte auch untersucht werden. Es sollten dabei, wenn möglich, auch Beurteilungskriterien erarbeitet werden, die eine Abgrenzung zwischen Kirche und Religionsfreiheit einerseits und Psychogruppen und sogenannten Sekten andererseits ermöglichen. Ich weiß, daß dies sehr schwierig und ein Grenzbereich ist. Aber es wäre dennoch sehr hilfreich, wenn dies möglich wäre. Es muß dabei auch untersucht werden, wie Menschenrechtsverletzungen, Verstöße gegen die Menschenwürde und ähnliches zu quantifizieren sind.
Es wurden heute viele Fragen aufgeworfen, denen ich mich anschließen möchte. Das Problem, wie wir sogenannten Sekten und Psychogruppen wirksam begegnen können, bedarf in jedem Falle einer genauen Untersuchung. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich dem nicht verschließen und gern mitwirken.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3867 an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({0}), Matthias Berninger, Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Neugestaltung der Arbeit"
- Drucksache 13/1621Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Hans Klein
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Marieluise Beck das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist vielleicht gut, daß wir über diese beiden Anträge auf Einsetzung von Enquete-Kommissionen heute hintereinander diskutieren.
Viele von Ihnen wissen nicht, daß die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ganz zu Beginn der Legislaturperiode einen Antrag auf eine Enquete „Neugestaltung der Arbeit" eingebracht hatte. Damals ist uns im Verfahren, in den Verhandlungen gesagt worden, die Geschäftsführer hätten sich darauf geeinigt, daß die Zahl der Enqueten während dieser Legislaturperiode aus Kostengründen auf vier beschränkt sein sollte. Wir haben deswegen die Enquete im Verfahren gelassen, aber sie nicht auf die Tagesordnung setzen lassen, weil wir davon ausgegangen sind, daß innerhalb der Legislaturperiode eine der Enqueten zum Abschluß kommen würde und wir dann dieses Thema erneut aufrufen könnten.
Die Tatsache, daß die Fraktion der SPD von sich aus eine fünfte Enquete fordert, nämlich die Enquete „Sekten", bedeutet, daß das Feld offensichtlich wieder geöffnet ist, daß die Maxime, es solle nur vier Enqueten geben, nicht mehr gilt. Deswegen bringen wir unseren Antrag jetzt hier ein, damit er im Geschäftsordnungsausschuß noch einmal verhandelt werden kann.
Unseren Antrag auf Einrichtung einer Enquete hatten wir eingebracht - und ich möchte noch einmal betonen, daß das zu Beginn der Legislaturperiode, vor dem „Bündnis für Arbeit", war -, weil wir zu der Einschätzung gekommen waren, daß die Arbeitswelt vor dramatischen Veränderungen steht, die wir gar nicht alle überblicken und bei denen wir zum Teil nicht übersehen können, was an gesetzgeberischen und ordnungspolitischen Initiativen dieser veränderten Arbeitswelt folgen müßte. Niemand von uns - ich glaube, wenn wir ehrlich sind, können wir uns das zugestehen - weiß wirklich genau, wie, in welche Richtung sich Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnisse, Arbeitsstrukturen und Arbeitsorganisationen in den kommenden Jahren verändern werden.
Wir wissen alle, daß es rasante Veränderungen gibt, wir wissen aber zum Beispiel nicht einmal, wie sich das viel beschworene Verhältnis von Dienstleistungssektor und industriellem Sektor in unserer Gesellschaft verschieben wird. Eines jedenfalls ist klar: Das Normalarbeitsverhältnis der klassischen, alten Form, das sich um die Jahrhundertwende herausgebildet hat, ist dabei, zu erodieren. Von konservativer Seite und auch von seiten der Unternehmerverbände ist diese Erosion auch politisch gewollt. Sie ist die Antwort auf die hohe Erwerbslosigkeit. Die Antwort erfolgt im Bereich Deregulierung, Absenkung der Standards, Flexibilisierung, auch im Bereich der Modelle des Längerarbeitens. All das ist in der Debatte.
Dem wird von der anderen Seite des Hauses ein anderer Gesellschaftsentwurf entgegengehalten, der vor allen Dingen fordert, daß Arbeit gerade dort, wo sie sich im Erwerbsbereich offensichtlich reduziert und zu einem knappen Gut wird, neu und umverteilt wird. Das brauchen wir nicht nur wegen der Erwerbslosen; das brauchen wir auch, weil sich das Geschlechterverhältnis ändert und Frauen es nicht mehr hinnehmen, daß sie in so starkem Maße vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, wie dies nach wie vor der Fall ist. Darüber haben wir in der vergangenen Woche hier debattiert.
({0})
Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses - man kann es auch positiv als Ausdifferenzierung bezeichnen - führt zu vielen Formen von Beschäftigungsverhältnissen, für die es bis heute keine korrespondierende Gesetzgebung gibt. Ich nenne nur die ungeschützte Beschäftigung - damit quälen wir uns bis zum heutigen Tage herum -, die Heim- und Telearbeit, die Leiharbeit sowie Scheinselbständigkeiten als vier Beispiele für diese Erosion, der wir politisch wenig entgegenzusetzen haben.
Außerdem hat diese Erosion weitreichende Auswirkungen auf die Einkommensverhältnisse und die soziale Sicherung. Hinsichtlich der Einkommensverhältnisse wird nach wie vor davon ausgegangen, daß das Normalarbeitsverhältnis, die Vollerwerbstätigkeit, der Einkommenssicherung dienen muß. Wenn aber genau dieses Normalarbeitsverhältnis erodiert, nimmt die Zahl der Menschen, die ihr Einkommen nicht mehr über Lohnerwerb sichern können, stetig zu. Das ist in der Gesellschaft auch zu beobachten und erfordert eine korrespondierende gesellschaftspolitische Tätigkeit zur Gestaltung von Transferabkommen und zur Absicherung von Existenzen.
Das gilt auch für das gesamte soziale Sicherungswesen, das an eine Vollerwerbsbiographie angelehnt ist, die sich 40 Jahre lang durchgängig durch das Leben zieht. Darauf bauen die Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung und alle anderen sozialen Sicherungssysteme auf. Wir reden alle vom Umbau des Sozialstaates; wenn wir aber ehrlich sind, wissen wir nicht, wie nun dieser Umbau des Sozialstaates, wenn er kein Abbau sein soll, mit dieser Ausdifferenzierung wirklich korrespondieren müßte und welche Maßnahmen anzustreben sind, um das soziale Sicherungssystem, das sich tendenziell vom Erwerbssystem löst, neu zu stricken, damit die Menschen, die auf dieses System angewiesen sind - sei es in Erwerbsunterbrechungen, sei es im Alter -, nicht in Armut fallen.
Die Ausdifferenzierung der Arbeitsverhältnisse bringt auch die Notwendigkeit mit sich, das Arbeitszeitrecht neu zu regeln. Flexibilisierung ist ja schön und gut. Aber es kann hier niemand bestreiten, daß Flexibilisierung auch eine Gefahr für die Arbeitnehmer mit sich bringt, wenn sie ihre Zeit vollkommen den Bedürfnissen der Unternehmen unterwerfen sollen, wenn also nicht den Flexibilisierungsbestrebungen der Unternehmen auf der einen Seite das Recht auf Zeitsouveränität auf seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entgegengestellt wird. Auch hier brauchen wir ein modernes Arbeitszeitrecht, das den veränderten Verhältnissen entspricht.
Marieluise Beck ({1})
Auf das Geschlechterverhältnis bin ich eben kurz eingegangen. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in der Praxis eher ein Mythos. Die Neuverteilung der Arbeit auch zwischen Männern und Frauen bedeutet, daß die Arbeitsstrukturen und die Arbeitszeitverhältnisse ganz einschneidend verändert werden müssen, damit für Männer und Frauen ein Leben mit Kindern und Beruf auch wirklich möglich ist, damit Optionen dafür eröffnet werden, damit Ein- und Ausstiege hergestellt werden, damit Unterbrechungen und Wiedereinstiege möglich werden, ohne daß dies mit Erwerbslosigkeit bezahlt werden muß.
Auch das Arbeitsvertragsrecht steht vor neuen Anforderungen. Die Arbeitswelt verändert sich in ihrer Organisation extrem. Das hat viel mit den Informations- und Kommunikationsmedien zu tun. Der alten tayloristischen Fertigung haben als Schutzrechte für die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerseite vor allen Dingen gewerkschaftliche, also kollektivrechtliche Ansätze entsprochen. Diese werden aufgeweicht, weil die Arbeitsorganisation immer stärkere Individualisierungen mit sich bringt. Dem muß auch eine Zunahme von individualisierten Schutzrechten auf seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entsprechen, und diese neuen Schutzrechte müssen neben die kollektivrechtlichen Schutzrechte gestellt werden, damit nicht diejenigen durch die Maschen fallen, die eben nicht mehr von diesen Kollektivrechten geschützt werden können.
({2})
Es geht also um Reregulierung statt Deregulierung.
All das sind große Regelungsbereiche. Die Wissenschaftler, die in diesem Bereich forschen, sagen, daß diesem Hause eigentlich riesige Gesetzesnovellierungen gut anstünden, daß aber im Parlament und in den Fraktionen nicht die erforderlichen Kapazitäten vorhanden seien, zumal noch nicht vollkommen klar sei, wie diese denn tatsächlich in der Ausdifferenzierung aussehen müßten.
Ich möchte nur ganz kurz auf die Entsenderichtlinie verweisen. Die Entsenderichtlinie ist ein winziger Ausschnitt des europäischen Arbeitsrechts, das wir eigentlich bräuchten. Wir alle haben gesehen, wie schwer sich die Regierung und das Parlament getan haben, um nur diesen kleinen Bereich so zu regeln, daß er den realen Veränderungen in der Gesellschaft entspricht.
Das alles führt uns zu der Schlußfolgerung, daß wir - ich erwarte, daß das gleich als Argument kommt - nicht behaupten können, wir wüßten, wo die Probleme auf dem Arbeitsmarkt lägen; jetzt sei Handeln angesagt. Eine Enquete-Kommission widerspricht nicht der Notwendigkeit, gegen millionenfache Erwerbslosigkeit jetzt tätig zu werden. Trotzdem müssen wir uns, wenn wir nicht blind von einem Stöckchen zum nächsten hüpfen wollen, in diesem Haus Zeit für Reflexion nehmen, für die Auseinandersetzung darüber, wo die Arbeitswelt hingeht und was geleistet werden muß - auch im ordnungspolitischen Raum -, um der sich verändernden Arbeitswelt ein modernes Recht gegenüberzustellen.
({3})
Herr Kollege Wolfgang Meckelburg, jetzt haben Sie das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Forderung nach einer Enquete-Kommission zum Thema „Neugestaltung der Arbeit" wird von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen damit begründet, daß sie parlamentarische Entscheidungen vorbereiten soll, und zwar zu Maßnahmen zur Reregulierung des Arbeitsmarkts und zu gesetzgeberischen Initiativen zur langfristigen Bekämpfung der Erwerbslosigkeit. Wir werden zwar der Überweisung zustimmen, aber ich möchte einige kritisch - begleitende Töne mit auf den Beratungsweg geben, weil ich meine, daß es nicht darauf ankommt, jetzt Reregulierung zu machen, sondern es in der jetzigen Zeit, wenn wir über den Arbeitsmarkt reden, darauf ankommt, Deregulierung und Flexibilisierung zu erreichen,
({0})
weil wir das Thema Arbeit, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, nicht auf die lange Bank schieben wollen. Handeln ist angesagt, Handeln im „Bündnis für Arbeit".
({1})
Es wäre möglicherweise das falsche Signal, wenn wir über dieses Thema in einer Enquete-Kommission diskutieren und es dort vielleicht ablagern würden.
Lassen Sie mich ein paar Gründe nennen, die mich eher zu einer kritischen Haltung bringen: Eine Enquete-Kommission 'ist, meine ich, in der jetzigen Situation zu theoretisch. Eine solche Kommission soll Entscheidungen vorbereiten und umfangreiche Sachkomplexe untersuchen. Ich meine aber, jetzt muß etwas anderes geschehen; jetzt müssen wir handeln. Damit ist nichts gegen eine Enquete-Kommission generell gesagt. Sie hat natürlich ihre Funktion.
Was hätten wir aber - ich will die Frage wirklich stellen - mit einer Enquete gewonnen? Zum Ende der Legislaturperiode - wir sprechen über das Jahr 1998 - gibt es möglicherweise einen umfangreichen Bericht, der dann - ich habe das im Bildungsbereich einmal miterlebt - stückweise in der nächsten Legislaturperiode diskutiert und dann möglicherweise umgesetzt würde. Wir wären dann im Jahr 2002. Aller Wahrscheinlichkeit nach gäbe es Mehrheits- und Minderheitsmeinungen, möglicherweise sogar Vorschläge, die da lauten könnten: Senkung der Lohnnebenkosten, Existenzgründungen, Flexibilisierung der Arbeitszeit, also Themen, die wir zur Zeit auf der Tagesordnung haben.
Deswegen meine ich, daß es wichtiger ist, jetzt stärker auf das „Bündnis für Arbeit" zuzugehen und dem Aktionsprogramm der Bundesregierung für InWolfgang Meckelburg
vestitionen und Arbeitsplätze die volle Arbeitskraft zu geben.
({2})
- Sie können ja Gegenentwürfe einbringen.
({3})
Sie sind herzlich aufgefordert, auch ein bißchen mitzutun, damit wir wissen, was Sie wollen. Das wäre sicherlich hilfreich.
({4})
Wir brauchen also, meine ich, zur Zeit keine Szenarien - das ist ein Wort, das im Grünen-Antrag vorkommt -, die theoretisch entwickelt werden, sondern wir brauchen praktische Programme. Wir brauchen nicht das Erarbeiten von Theorien - klassische Aufgabe einer Enquete-Kommission -, sondern wir brauchen Praxis und Handeln.
({5})
Unser Handeln muß in der jetzigen Situation Sofortwirkung haben.
({6})
Beim „Bündnis für Arbeit" sitzen Praktiker aus Politik, Wirtschaft und den Gewerkschaften an einem Tisch. Wenn sie handeln, geschehen Veränderungen - heute und morgen und nicht übermorgen.
({7})
- Das ist das alte Argument, das sogar eine Beleidigung für den Stammtisch wäre, Herr Andres.
({8})
- Das sage ich ja; aber das Argument ist wirklich abgegriffen.
Was glauben Sie eigentlich, was die Bevölkerung sagt, wenn wir angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen jetzt umfangreiche Untersuchungen in Gang setzen? Wir brauchen ein „Bündnis für Arbeit". Wir müssen uns bei unserem Handeln auf wesentliche Punkte konzentrieren. Diese Punkte sind im Aktionsprogramm der Bundesregierung als eine Art Regieanweisung enthalten: Offensive für Selbständigkeit, Existenzgründungen, Senkung der Staatsquote, Beteiligungskapital für Betriebe, Begrenzung der Lohnzusatzkosten. Das ist ein weites Feld; ich will nicht alles wiederholen; wir haben hier schon häufig darüber diskutiert.
({9})
- Jawohl, Sie sind alle miteinander eingeladen, hier mitzuarbeiten.
Der Antrag der Grünen setzt darauf, Szenarien zu entwickeln, das Aufzeigen von Regelungsdefiziten zu erarbeiten, Möglichkeiten zur Reregulierung, Beschreibung von. Zielkonflikten und mögliche Entwicklungsalternativen für das soziale Sicherungssystem aufzuzeigen. Ich finde, eine Enquete-Kommission ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt möglicherweise das falsche Instrument. Die Forderungen gehen in die falsche Richtung.
Unser Handeln braucht Zusammenwirken und Breitenwirkung. Wir brauchen das Zusammenarbeiten von Politikern, Unternehmern und Arbeitnehmern, die an einem Strang ziehen, und nicht - wie in diesem Fall - zwölf Abgeordnete und ebenso viele Sachverständige. Damit habe ich nichts gegen Sachverständige gesagt.
({10})
- Gegen Abgeordnete auch nicht; das habe ich vorausgesetzt, daß Sie da nicht protestieren würden. - Wir haben gerade im Bereich Arbeit und Soziales eine Fülle von Anhörungen mit Sachverständigen. Ich weiß wirklich nicht, ob wir uns die Arbeit in einer Enquete-Kommission auch noch antun sollten. Wir haben Arbeit genug. Das Besondere an dem „Bündnis für Arbeit" - das zeichnet es gegenüber einer Enquete-Kommission aus - ist, daß nicht Staat und Politik allein für Arbeitsplätze zuständig gemacht werden, sondern daß auch die Tarifpartner mit im Boot sind. Noch wesentlicher ist, daß alle das erkannt und anerkannt haben und ein Bündnis vereinbart haben. Das ist eine Chance, die es jetzt zu nutzen gilt.
({11})
Ich möchte nach den Erfahrungen mit den vielen Anhörungen und Sonderterminen unseres Ausschusses dafür plädieren, daß wir unsere Zeit als Abgeordnete gezielt einsetzen, zum Beispiel - was ich versuche - vor Ort. Eine Enquete-Kommission würde zusätzliche Sitzungen und zusätzliche Arbeitsgruppen mit sich bringen. Ich finde, es ist hilfreicher, vor Ort für neue Arbeit zu werben und das Bonner Vorbild „Bündnis für Arbeit" mit in die Wahlkreise zu nehmen. Dort müssen alle politischen Ebenen beteiligt werden. Die Kommunalpolitik kann etwas tun. Bei den Tarifpartnern muß man es auf die Ebene der Betriebsräte holen; da gibt es auch Ansätze. Ich glaube, es lohnt sich, an der Stelle konkret tätig zu werden.
Dennoch, meine Damen und Herren, kommen Theorie, Analyse und langfristige Entscheidungsvorbereitung nicht zu kurz. Wenn wir schriftliche Orientierung suchen, so gibt es da inzwischen eine ganze Menge. Es gibt nicht nur das Aktionsprogramm der Bundesregierung. Es gibt darüber hinaus den Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft", der heute mittag beraten worden ist. In Vorbereitung sind Untersuchungen des Bundesministeriums für Arbeit zum Themenbereich Scheinselbständigkeit. In wenigen Wochen wird ein entsprechender Bericht vorliegen. Es gibt die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel", in die die Themen, die hier angesprochen worden sind, ebenfalls einfließen können. Wir werden Anhörungen zu vielen Maßnahmen haben; ich nenne nur das Stichwort Arbeitsförderungsgesetz. Die Theorie kommt also nicht zu kurz.
Ein großer Teil der Aufgaben, über die die Enquete-Kommission nach dem Antrag beraten soll, ist allerdings auch schon erfüllt bzw. auf dem Weg. Ich nenne nur einige Stichworte: Wir haben im Bereich Arbeitszeitrecht einige Neuerungen verabschiedet und die Voraussetzungen für flexible und individuelle Arbeitszeit geschaffen. Der Gesundheitsschutz ist erst vor kurzem wirksamer und praktikabler gestaltet worden. Und was die Transferleistungen angeht, Frau Beck, die ebenfalls als Beratungspunkt angesprochen worden sind, so gibt es dafür eine Regierungskommission, die systematisch eine Durchleuchtung vornimmt. Ein Bericht darüber soll im Herbst 1996 vorliegen. Auch das kann zur Grundlage der weiteren Beratungen gemacht werden.
Ich will ein weiteres Argument anführen, das wir auch ernst nehmen sollten: Wir würden durch eine Enquete-Kommission die Tarifpartner möglicherweise aus dem Verantwortungsdruck nehmen, in den sie sich selbst hineingebracht haben. Tagtäglich müssen wir den Tarifpartnern deutlich machen, welche Verantwortung sie für die Zukunft des Standortes Deutschland haben. Mich ärgert es - ich schätze, Sie auch -, daß man eigentlich täglich kritische Bemerkungen von der einen und von der anderen Seite hört, die das Ganze wieder in Frage stellen.
Es könnte durch eine Enquete-Kommission der Eindruck entstehen, wir seien in der Politik noch nicht so weit, ein Bündnis einzugehen. Man könnte auch manche Frage, die es jetzt in diesem Bündnis zu klären gilt, in die Enquete-Kommission abschieben. Ich glaube, es wäre hilfreicher, wenn wir auch hier die Problemlösung direkt angehen.
Konzentrieren wir also unsere Kräfte; lassen Sie uns die Zeit, die Energie, die wir gemeinsam aufbringen müssen, für das „Bündnis für Arbeit" einsetzen! Denn das „Bündnis für Arbeit" wird nur in der Praxis verwirklicht und nicht durch Aufarbeitung, Analyse und Theorie.
({12})
Herr Kollege Adolf Ostertag, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines gleich vorweg: Heutzutage ist die Schaffung von Arbeit wichtiger als die Neugestaltung der Arbeit. Es ist wichtiger, die vorhandenen Konzepte einer wirksamen Arbeitsmarktpolitik - damit meine ich natürlich nicht die der Regierung ({0})
umzusetzen, als jahrelange Diskussionen in einer Enquete-Kommission zur Arbeitsmarktpolitik zu führen.
Damit ist nicht gesagt, daß die SPD-Bundestagsfraktion die Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen, internationale Erfahrungen oder neue Herausforderungen ignoriert. Im Gegenteil: Wir registrieren sie nicht nur; wir sind ständig bemüht, unsere politischen Vorstellungen an diesen harten Realitäten der Arbeitswelt und ihrem Wandel zu messen.
({1})
Eine ganze Reihe parlamentarischer Initiativen belegt dies. Ich komme darauf noch zurück.
Zur Zeit ist nichts wichtiger als die Erhaltung und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das gilt für Politikerinnen und Politiker, das gilt für die Parteien. Vollbeschäftigung muß die Aufgabe Nummer eins sein.
({2})
Angesichts der offiziell 4,3 Millionen Arbeitslosen - berücksichtigt man die versteckte Arbeitslosigkeit, kommt man sogar auf 6 Millionen - sprechen die Zahlen für sich. Diese Zahlen dokumentieren, daß die politischen Rezepte der Kohl-Regierung Gift für den Standort Deutschland sind. Ihre Politik ist verantwortlich für das Drama auf dem Arbeitsmarkt - darüber kann nichts hinwegtäuschen -, für explodierende Nebenkosten und Steuern in Rekordhöhe, für den Rückgang der Binnennachfrage und für einen aus den Fugen geratenen Staatshaushalt. Wir haben darüber erst gestern diskutiert.
({3})
Auf dem Arbeitsmarkt brennt es in der Tat. Der Sozialstaat ist damit in seinen Grundfesten erschüttert. Diese Koalition zündelt weiter mit ihrer Politik des Sozialabbaus.
({4})
Die beste Strategie gegen die Krise unseres Sozialsystems ist eine aktive Beschäftigungspolitik.
({5})
Das erwartet die Bevölkerung: entschlossenes Handeln und nicht nur Reden. Weitere wissenschaftliche Analysen brauchen wir nicht, genausowenig wie leere Versprechungen. Seit 13 Jahren verspricht diese Regierung, die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Statt Arbeitslosigkeit bekämpfen Sie die Arbeitslosen.
({6})
Wir brauchen politischen Willen zur Umsetzung der Konzepte und nicht schöne Reden von Ihnen im Parlament, wie wir sie eben gehört haben.
({7}) Die Konzepte liegen ja vor.
Wichtiger als die Analyse, die in dem von den Grünen eingereichten Antrag gefordert wird, sind mir die Antworten auf die Fragen: Welche praktischen Konsequenzen ziehen wir heute für unsere aktuelle politische Arbeit? Wie können wir jetzt die ausufernde Massenarbeitslosigkeit bekämpfen? Wie können wir den Sozialstaat in der aktuellen Situation stabilisieren? Was tun wir heute gegen die selbsternannten Umbauer und Modernisierer des Sozialstaates, die doch in Wirklichkeit nur weiter dessen Strangulierung betreiben wollen?
1996 geht es in erster Linie um praktisches politisches Handeln. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir fraglich, ob die Einrichtung einer Enquete-Kommission hier hilfreich sein kann. Die im Antrag genannten Aufgaben dienen dazu, wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln. Dabei geht es um eine langfristige Arbeitsmarktanalyse, um qualitative Veränderungen, die durch die technischen Entwicklungen zu verzeichnen sind, um Veränderungen der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsorganisation. Es sollen Handlungsmöglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik, des Arbeitsrechts, der Arbeitszeitpolitik im Zusammenwirken mit der Wirtschafts- und Umweltpolitik untersucht und aufgezeigt werden.
Nachdrücklich unterstreiche ich, daß wir diese Fragestellungen nicht ablehnen. Es ist selbstverständlich sinnvoll, sich theoretisch und konzeptionell mit dem Problembereich der Neugestaltung der Arbeit zu befassen. Nur bezweifeln wir, ob die Einrichtung einer Enquete-Kommission zur Zeit das richtige Instrument ist.
({8})
Die Koalitionsparteien würden diese Möglichkeit wahrscheinlich ausschließlich als willkommenes Alibi nutzen, um ihre verhängnisvolle Politik zu rechtfertigen. Mit ihrer Mehrheit würden sie noch weitergehendere Deregulierungsvorschläge einbringen und damit den Abbau von Arbeitnehmerrechten beschleunigen.
({9})
Die Opposition könnte schöne Minderheitengutachten formulieren, die aber nichts ändern.
Eine Enquete-Kommission ist bei mittel- und langfristigen und parteiübergreifenden Konzeptionsentwicklungen sinnvoll. Ich sehe aber hier in der Tat keine solche Übereinstimmung. Deswegen halten wir eine Enquete-Kommission nicht für sinnvoll.
Die Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen sollen im Mittelpunkt stehen und nicht die langfristigen Diskussionen. Ich nenne beispielhaft, was alles schon vorliegt: Die Hans-Böckler-Stiftung hat eine Studie vorgelegt; die Begründung des Antrages der Grünen beruft sich teilweise darauf. Der Landtag von NRW hat eine Enquete-Kommission zum Thema Zukunft der Erwerbsarbeit eingesetzt.
({10})
Ein Teil der zu bearbeitenden Fragestellungen wird in der Enquete-Kommission zum demographischen Wandel bearbeitet, wie zum Beispiel die Veränderung der Erwerbsbevölkerung, Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit der Frau oder Migrationsbewegungen.
Die EU-Kommission wird in ihrem mittelfristigen sozialpolitischen Aktionsprogramm Untersuchungen durchführen zur Arbeitsorganisation, zur Produktivitätsentwicklung, zur Arbeitszeit sowie zur Arbeitszeitverkürzung, zur Mobilität der Arbeitnehmer, zur Sicherheit am Arbeitsplatz usw.
Es liegen vor die jüngste Studie der EKD „Gemeinsame Initiative - Arbeit für alle! ", das gemeinsame Positionspapier der SPD und des DGB, das Memorandum für ein Arbeitsförderungsgesetz, die Berliner Erklärung zur Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000, der Vorschlag „Bündnis für Arbeit" von der IG Metall und dem DGB.
Im breiten Diskurs und im Konsens mit diesen Positionen aus dem außerparlamentarischen Bereich haben wir als Sozialdemokraten parlamentarische Initiativen und Alternativen zur Politik der Regierung vorgelegt. Ich verweise auf die wichtigsten: Wir haben bereits im Dezember 1995 einen Antrag „Bündnis für Arbeit" eingebracht. Der Antrag enthält zentrale Aussagen, die wir nicht erst jetzt, sondern schon vor und während dieser Legislaturperiode erarbeitet haben.
Im Gegensatz zur Bundesregierung wollen wir Sozialdemokraten, daß die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik produktiv eingesetzt werden und ein einheitliches AFG erhalten bleibt. Ich verweise auf unseren Gesetzentwurf für ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz.
Wir haben einen Gesetzentwurf zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung eingebracht. Wir haben schon vor längerer Zeit ein Arbeitszeitgesetz eingebracht, das die vorhandene Arbeit gerechter verteilen und Chancen für Arbeitslose eröffnen soll. Wir haben ein Sofortprogramm zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit vorgelegt.
Ich glaube, es ist genug untersucht, geprüft, geschrieben und geredet worden.
({11})
Ginge es nach uns, so würden wir sofort aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in den Mittelpunkt der Politik stellen. Wir würden Überstunden in Arbeit umwandeln, Teilzeitarbeit fördern, um vor allem Frauen mehr Chancen zu eröffnen. Wir wollen die illegale Arbeit und Billiglöhne bekämpfen. Wir wollen durch Senkung der Lohnnebenkosten die Arbeitgeber entlasten und auch die Kaufkraft der Arbeitnehmer stärken.
({12})
- Die Anträge lagen in den letzten Wochen vor. - Wir wollen Steuersubventionen abbauen und Steuerhinterziehung nachhaltig bekämpfen.
({13})
Phrasen und schöne Versprechungen der Regierung kennen wir zur Genüge. 13 Jahre
({14}) sind eine unerträglich lange Zeit.
({15})
Vor allen Dingen für das Millionenheer der Arbeitslosen sind diese 13 Jahre schon viel zu lang. Mit den von uns aufgezeigten Alternativen haben wir konzeptionelle und praktische Vorschläge erarbeitet.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolfgang Meckelburg?
Ich komme zum Schluß.
Wir werden im Ausschuß darüber diskutieren. Sie kennen zum Teil die Initiativen; bisher haben Sie dazu nein gesagt. Vielleicht besinnen Sie sich eines Besseren, damit wir wirklich zu schnellem politischen Handeln kommen; denn darauf kommt es an.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile der Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Brauchen wir eine Enquete-Kommission zur Neugestaltung der Arbeit? Herr Ostertag meinte nein, er bräuchte eher Arbeitsplätze. Ausnahmsweise stimme ich dem Kollegen Ostertag zu.
Enquete-Kommissionen sind natürlich Möglichkeiten des Parlaments, sich Fragen langfristig, gründlich, unter Hinzuziehung all dessen, was an Geist, Witz und Einsicht in diesem Staat und in dieser Gesellschaft versammelt ist, zu widmen. Eine EnqueteKommission einzusetzen, heißt, ein hohes Maß an Betroffenheit und an Engagement zu zeigen. Die Fülle der intelligenten Fragen, Frau Beck, die Sie gestellt haben, sind natürlich alle außerordentlich erforschungswürdig.
Nur frage ich mich, wieso Ihr Antrag zwei merkwürdige Auslassungen hat. Wenn man ihn liest, hat man den Eindruck, Arbeit sei ein Vertragsverhältnis zwischen dem Staat und dem Arbeitnehmer. Eine Figur kommt in Ihrem Antrag nicht vor - das ist fast ein Kunststück -: Das ist der Arbeitgeber. Es kommt kein Unternehmer und kein Handwerker vor, es kommt keiner vor, der Arbeit anbietet oder macht.
({0})
Sie sind alle nicht vorhanden.
Wir gestalten die Arbeit mit grünen Ideen einfach abstrakt über die Betriebe hinweg. Dann wird sich das schon alles wundervoll fügen.
({1})
Das zweite, das Sie ausgelassen haben, sind die Tarifvertragsparteien. Die sind nach unserer Verfassung diejenigen, die sich über Bedingungen von Arbeit, Lohn und Freizeit zu einigen haben. Nach unserer Verfassung ist das in erster Linie deren Aufgabe. Davon ist überhaupt nicht die Rede. Nein, das ist eine wundervolle und tiefgründige Aufgabe, die der Staat übernehmen soll.
In dieses Bild paßt sehr gut, daß der Herr Fraktionsvorsitzende der Grünen, Herr Fischer, nun auch ganz offen von einem gesetzlichen Verbot von Überstunden geredet hat, wenn die Tarifparteien nicht zu einer Einigung finden. Es war kein Wort davon, daß Überstunden oft die einzige Möglichkeit sind, kranke Mitarbeiter oder kurzfristige Nachfragespitzen auszugleichen,
({2})
kein Wort davon, daß dies allein Sache der Tarifpartner ist.
Wahrscheinlich sind Sie der Auffassung, daß der Gesetzgeber auch die Löhne nach seinen Maßstäben festlegen sollte - so etwas Ähnliches war auch schon bei der Entsenderichtlinie zu hören -, wenn sich die Tarifpartner nicht in einer angemessenen Frist einigen.
Bei der wöchentlichen Arbeitszeit - da sind Sie ja ganz vorne - wollen die Grünen Tarifvertragsparteien ersetzen und schlugen auf ihrer letzten Delegiertenversammlung vor, daß durch die Bank 30 Stunden pro Woche gearbeitet werden soll, nicht mehr - das kann man verstehen -, aber auch nicht weniger. Das wird sich auch noch ändern. Auch hier gibt es die staatliche, grüne Ersatzvornahme.
Selbst die Gewerkschaft hat hinsichtlich einer weiteren Arbeitszeitverkürzung einen Umdenkungsprozeß eingeleitet. Die IG Metall hat sich die 30-Stunden-Woche bewußt und nach reiflicher Überlegung nicht auf die Fahnen geschrieben. Mit nur etwas mehr als 1 500 Stunden pro Jahr leisten die Industriearbeiter in Deutschland schon heute die geringste Jahresarbeitszeit weltweit.
Dies ist auch eine der Ursachen dafür, daß Tag für Tag Arbeitsplätze ins unmittelbar benachbarte Ausland verlagert werden; denn dort wird mehr gearbeitet. Sie können nicht immer so tun, als sei die deutsche Arbeitnehmerschaft eine isolierte Experimentiergruppe in einem sozialwissenschaftlichen Labor.
Ihr Antrag ist ein Beleg dafür, daß die Realität der Arbeitswelt, des Marktes und des Wettbewerbs in der Gedankenwelt der Grünen überhaupt keinen Platz findet.
({3})
Die Wirkungen Ihrer Politik auf Unternehmen und Arbeitsplätze werden von Ihnen nicht hinterfragt. Allein die Sprache ist entlarvend. Fragen Sie doch einmal einen kleinen oder mittelständischen Betrieb im Sauerland oder im Westerland, welche Möglichkeit er hat, in einem harten und weltweiten Wettbewerb
zu bestehen, und sagen Sie ihm doch einmal folgenden Satz:
Wir wollen Modelle entwickeln,
({4})
die sich an den Eckpunkten Demokratie im Betrieb, ökologisch orientierte Mitbestimmung, Gleichberechtigung der Geschlechter im Erwerbsleben, neue betriebliche Arbeitszeitmodelle und Beschäftigungsformen orientieren.
({5})
Dann werden Sie gefragt werden, was die Grünen eigentlich in diesem Parlament tun.
Und dann wollen Sie uns alle mit einer EnqueteKommission noch mit in diesen Dialog zwingen! Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie haben ein Einsehen mit uns, daß wir uns dieser Zumutung verschließen wollen.
({6})
Wir wollen nicht in einer Enquete-Kommission verschlissen werden, sondern wir wollen Gesetze machen und Haushaltsentschlüsse treffen, mit denen wir dafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen für die Entstehung und Erhaltung von Arbeitsplätzen in Deutschland verbessert werden.
Ich bedanke mich.
({7})
Ich muß für die Kollegen, die durch das Piepsgeräusch irritiert werden, zwischendurch schnell sagen: Es handelt sich weder um irgend jemandes Mißfallenskundgebung, noch hat jemand sein Handy dabei, sondern der Stuhl, auf dem der Kollege Günther, F.D.P., sitzt, macht dieses Geräusch.
({0})
Es ist erkannt, Herr Kollege Weng, es wird bereits morgen früh wieder in Ordnung sein.
({1})
Ich erteile das Wort dem erst im November nachgerückten Kollegen Hanns-Peter Hartmann zu seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen. und Kollegen! Sie werden verstehen, daß ich mich mit dem Thema Neugestaltung der Arbeit ein wenig anders beschäftige als meine Vorrednerinnen und Vorredner. Als Arbeiter, der direkt aus der Arbeitslosigkeit in den Bundestag gewählt wurde, bin ich nämlich so eine Art Ausnahmefall.
Angesichts der über 4 Millionen registrierten Arbeitslosen in diesem Lande finde ich allerdings, daß ich nicht der Ausnahmefall bin, sondern die Zusammensetzung dieses Bundestages die Ausnahme ist. Mir scheint, daß so manche Debatte über Arbeitslosigkeit sicher anders geführt werden würde, wenn insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der Koalition das Thema nicht nur aus der Statistik kennen würden.
({0})
- Ich gehöre zu dieser Gruppe.
Leider muß ich sagen, daß ich auch im vorliegenden Antrag nur einen schwachen Hinweis darauf finde, daß diesem Hohen Haus bewußt ist, was draußen vorgeht. Angesichts der dramatischen Entwicklung der Arbeitslosenzahlen müßte heute eine ganz andere Debatte stattfinden.
({1})
Man kann doch nicht akademisch über die Neugestaltung der Arbeit theoretisieren, wenn es in erster Linie darauf ankäme, ein Sofortprogramm und keine Langzeitstrategie zu entwickeln.
({2})
Natürlich ist auch die Neugestaltung der Arbeit kein nebensächliches Thema, aber erklären Sie doch einmal den 4,3 Millionen registrierten Arbeitslosen und den tatsächlich über 6 Millionen Beschäftigungslosen draußen im Land, was Sie sofort tun wollen, was Sie unternehmen wollen, um in diesem Jahr mindestens zu verhindern, daß noch mehr Menschen ihre Arbeit verlieren.
Der DIHT hat kürzlich erst mitgeteilt, daß er bis zum Ende des Jahres mit der Vernichtung einer weiteren halben Million Arbeitsplätze rechnet, und das nicht - wie die Bundesregierung gebetsmühlenhaft wiederholt -, weil die Lohnnebenkosten oder die Löhne zu hoch sind, und auch nicht wegen der Konkurrenz mit Billiglohnländern, sondern weil diese Arbeitsplätze der ganz normalen Rationalisierung zum Opfer fallen.
Erstens kann dieses Argument nicht überzeugen, weil es durch den gewaltigen deutschen Exportüberschuß Lügen gestraft wird. Zweitens sollten Sie doch wissen, daß jedes deutsche Exportunternehmen in den vergangenen Jahren mit Leichtigkeit dreimal so hohe Lohnsteigerungen verkraftet hätte, wenn nicht der Dollar so billig geworden wäre. Das hat überhaupt nichts mit zu hohen Lohn- oder Lohnnebenkosten zu tun.
({3})
Das entscheidende Problem ist doch die mangelhafte Binnennachfrage und die simple Tatsache, daß immer weniger Menschen immer mehr produzieren.
Die einzige Antwort darauf kann nur eine radikale Verringerung der Arbeitszeit sein.
({4})
Solange Sie da nicht ran wollen, gibt es auch keinen Weg aus der Massenarbeitslosigkeit. Dazu braucht man keine Enquete-Kommission.
Die Redezeit!
Einen letzten Satz noch.
Wir werden dem Antrag der Grünen trotzdem zustimmen.
({0})
Solange sich eine Wahrheit noch nicht durchgesetzt hat, darf man nichts unversucht lassen, diese Wahrheit zu wiederholen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Drucksache 13/1621 dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu überweisen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Regelung der kommunalen Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen, Drucksache 13/4098, und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung der Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen, Drucksache 13/4115, zu erweitern. Die Anträge sollen jetzt gleich in verbundener Beratung mit Tagesordnungspunkt 7 behandelt werden. Besteht damit das Einverständnis des Hauses? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a und 7 b, Zusatzpunkt 8 und die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 16 und 17 auf:
7. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Christine Lucyga, Rolf Schwanitz, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erblastentilgungsfonds-Gesetzes
- Drucksache 13/3895 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({0}) Innenausschuß
Rechtsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes und den Fortgang der Wohnungsprivatisierung in den neuen Bundesländern
- Drucksache 13/2501 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
Haushaltsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Steffi Lemke, Werner Schulz ({2}), Helmut Wilhelm ({3}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Wohnungsprivatisierung an Mieter, Genossenschaften und Mietergemeinschaften
- Drucksache 13/4077 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4})
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß
ZP16 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Regelung der kommunalen Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen
- Drucksache 13/4098 ZP17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz ({5}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Antje Hermenau, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Streichung der Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen
- Drucksache 13/4115 Zum Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 13/4081 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Christine Lucyga das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits in der 12. Legislaturperiode ist im Deutschen Bundestag das Problem der sogenannten Altschulden auf Gesellschaftsbauten der DDR behandelt worden, leider ohne Ergebnis. Ergebnislos sind bisher auch in der 13. Legislaturperiode alle Versuche geblieben, zu einer politischen Lösung zu kommen.
({0})
Ich erspare mir und Ihnen eine nochmalige Darlegung des Problems, das aus mehrjähriger öffentlicher
Auseinandersetzung allgemein bekannt ist. Entscheidend ist - deshalb hat die SPD-Fraktion diesen Antrag heute eingebracht -, daß dringend etwas geschehen muß, um diese Last endlich von den ostdeutschen Ländern und Kommunen zu nehmen, die im sechsten Jahr der deutschen Einheit von der Bundesregierung immer noch mit systembedingten Erblasten aus der Vergangenheit zur Kasse gebeten werden sollen.
({1})
Geradezu beschämend ist, daß das Problem seit Jahren auf dem Tisch der Bundesregierung liegt und es dieser offensichtlich nicht gelungen ist, sich zu der Einsicht durchzuringen, daß es sich für einen Rechtsstaat eigentlich verbietet, willkürliche Entscheidungen im nachhinein für Recht zu erklären. Genau das aber tut die Bundesregierung mit ihrem Beharren auf ihren Altschuldenforderungen.
({2})
Dabei kümmert die Bundesregierung weder die Tatsache, daß für viele dieser Altforderungen keine konkreten Nachweise zu erbringen sind, noch die Tatsache, daß die gesamten Altforderungen auf etwa 16 Prozent der ostdeutschen Städte und Gemeinden konzentriert sind, daß also der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird, denn 84 Prozent der ostdeutschen Städte und Gemeinden wurden so willkürlich wieder entschuldet, wie sie einmal belastet worden waren -, noch die Tatsache, daß durch eine verhängnisvolle Fehlentscheidung des BMF diese sogenannten Altschulden nach der Währungsunion mit saftigen Zinsen belegt wurden, wodurch die ursprüngliche Forderung von 4,9 Milliarden DM inzwischen auf fast die doppelte Höhe getrieben worden ist.
({3})
Wir alle kennen die Beispiele ostdeutscher Kommunen - Sie übrigens auch, meine Damen und Herren der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion -, deren Haushalte schlagartig zusammenbrechen würden, sollten die gegen sie erhobenen Forderungen tatsächlich mit Brachialgewalt durchgesetzt werden. Das Beispiel meiner Heimatstadt Rostock, die für Altschuldenforderungen allein 10 Prozent ihres Haushaltes aufbringen und sämtliche kommunalen Investitionen streichen müßte, habe ich wiederholt angeführt. Ebenso geht es weiteren 1 400 altschuldenbelasteten Kommunen im Osten Deutschlands.
Wenn die Bundesregierung weiter entschlossen ist, ihre Forderungen durchzusetzen, dann wird für diese Kommunen die kommunale Selbstverwaltung außer Kraft gesetzt, weil dann eine völlige Überschuldung einträte. Der Verfassungsgrundsatz, daß die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfaßt, würde gröblichst verletzt.
Die Altkredite wurden den Kommunen zugeteilt, ohne daß sie ein Mitspracherecht hatten. So willkürlich wie die Zuordnung, so willkürlich erfolgte auch die Entschuldung. Wenn nun aber die Bundesregierung ebenso willkürlich versucht, diese Vorgänge als normales Kreditgeschäft auszulegen, dann tut sie so, als hätte es in der DDR schon immer eine kommunale Selbstverwaltung gegeben, nur um einen eigenen Fehler nicht zugeben zu müssen.
({4})
Ihren Rechtsstandpunkt begründet die Bundesregierung im Prinzip einzig und allein mit dem Recht des Stärkeren. Und das kann ja wohl nicht hingenommen werden.
({5})
Hinzu kommt, daß eine Vielzahl der strittigen Objekte heute gar nicht mehr existiert. Uns liegen Beispiele für Millionenforderungen der Firma Waigel an ostdeutsche Kommunen für Einrichtungen vor, die schon längst nicht mehr vorhanden sind oder so nie existiert haben. Das bisher absurdeste bekanntgewordene Beispiel ist die Gemeinde Grabow im Müritzkreis, das ich in einer früheren Debatte genannt habe. Dieses Beispiel, an Absurdität nicht zu überbieten, macht doch deutlich, daß der BMF schon gar nicht mehr Herr des Verfahrens ist. Das kann er so lange nicht sein, wie die Bundesregierung an einer unehrlichen Position festhält, an der auch die bisherigen Verhandlungen im Kanzleramt gescheitert sind.
({6})
Was da scheibchenweise als Vorschlag des Bundes auf den Tisch gekommen ist - vom Zinsverbilligungsprogramm der KfW über Angebote von Zinsnachlässen bis hin zum letzten Angebot einer hälftigen Übernahme -, wird der Problematik nicht gerecht. Ich möchte an dieser Stelle zitieren, was dazu der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf, CDU, am 9. Februar im Bundesrat angemerkt hat:
... der Bund übernimmt nicht die Hälfte der Schulden, sondern der Bund hat die Schulden ...
({7})
hat der Bund ganz offensichtlich entschieden, ..., daß er einen guten Vergleich abschließen würde, wenn er nur die Hälfte bekäme. Das ist die eigentliche Rechtslage ... Ich lege darauf Wert,
- so Professor Biedenkopf weil in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist,
({8})
der Bund würde den Ländern einen Gefallen tun, wenn er diesen Kompromiß eingeht.
Von anerkannten Staats- und Verfassungsrechtlern vorgelegte Gutachten stützen die Position der ostdeutschen Länder und Kommunen, indem sie nicht nur eine für die Betroffenen ruinöse Rückzahlungsforderung des Bundes, sondern auch die VerfasDr. Christine Lucyga
sungswidrigkeit einer Auferlegung von Rückzahlungspflichten feststellen.
Als äußerst interessant empfinde ich aber auch, daß noch am 30. November 1995 der jetzige Bundesminister der Justiz, F.D.P., im Plenum des Deutschen Bundestages ausführte, die seinerzeitigen Finanzeinsätze der DDR in den betreffenden Kommunen seien „keine rechtswirksam begründeten Verbindlichkeiten oder auch nur drittgerichtete Lastenzuteilungen im Sinne des Kreditrechts" gewesen, und an anderer Stelle feststellte, es widerspreche dem schlichten Gerechtigkeitsempfinden, die Kommunen damit zu belasten. So ihr jetziger Justizminister, als er noch nicht Justizminister war.
({9})
Es bleibt die Frage, warum die Bundesregierung, wenn es denn so ist, nicht endlich handelt und sich zu der Konsequenz Erblastentilgungsfonds bekennt, sondern unter Prozeßandrohungen die finanzielle Hängepartie für die betroffenen Kommunen unzumutbar verlängert, und das bei einem Prozeßrisiko, das letztlich die Steuerzahler tragen müssen. Schon jetzt kostet jeder Tag des Zauderns und Hinausschiebens 1 Million DM allein an Zinsen. Eine schnelle Entscheidung tut also not. Oder, um es noch einmal mit dem Bundesrechnungshof zu sagen: Hätte der Bund die Altschulden gleich im Jahre 1990 als Schulden des Bundes anerkannt und sie in den Bundeshaushalt übernommen, wäre dies für die Steuerzahler um Milliarden günstiger gewesen.
Als sachgerechte und ehrliche Lösungsmöglichkeit für die kommunalen Altschulden kommt letztlich nur eine Übernahme in den Erblastentilgungsfonds in Frage. Dieser Forderung des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, haben sich die CDU-geführten ostdeutschen Länder am 9. Februar 1996 im Bundesrat angeschlossen.
({10})
Der heute von der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages eingebrachte Antrag wird dieser Forderung in vollem Umfange gerecht.
Mit Kopfschütteln müssen wir jetzt allerdings zur Kenntnis nehmen, daß es hierzu einen gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU/CSU und F.D.P. gibt, der weit hinter der gemeinsamen Forderung der ostdeutschen Ministerpräsidenten - auch der CDU-Ministerpräsidenten - zurückbleibt und ihnen damit in den Rücken fällt. Vollends ein Stück aus dem Tollhaus ist der Satz in Ihrem Entwurf:
Der Bund stellt sicher, daß die Refinanzierung des von ihm zu übernehmenden Schuldendienstes nicht überproportional bei den Transfers an die neuen Länder erfolgt.
Da hätten Sie Ihre Ministerpräsidenten einmal vorher fragen sollen, denn das ist kein Antrag, sondern eine Ergebenheitsadresse in Richtung Kanzleramt
({11})
und eine Beleidigung der ostdeutschen Politiker, die auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene um eine gerechte Lösung kämpfen. Dieser Antrag kommt von genau denselben CDU-Abgeordneten, die noch vor vier Wochen, sinnigerweise genau zur Karnevalszeit, ein tolles Strategiepapier zur Schärfung des Profils der Ost-CDU vorgelegt haben,
({12})
die einen knallharten Einsatz für ostdeutsche Interessen angekündigt haben und nun wie so oft als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet sind - im Kanzleramt.
({13})
Ich möchte den Verfassern des CDU/CSU-F.D.P.Antrages deutlich sagen: Hören Sie auf, ausschließlich in Bonner Kategorien zu denken! Denken Sie in den Kategorien von Neubrandenburg, Leipzig und Magdeburg! Denn dafür sind Sie dort von Ihren Wählern gewählt worden.
({14})
- Sie können noch so zetern, deshalb haben Sie trotzdem nicht recht.
({15})
Was das Altschuldenproblem der ostdeutschen Kommunen angeht, so kann keine Lösung gerecht sein, die hinter den gemeinsam und parteiübergreifend formulierten Forderungen der ostdeutschen Ministerpräsidenten zurückbleibt. Diese sogenannten kommunalen Altschulden sind eine Staatsschuld aus DDR-Vergangenheit, die in den Erblastentilgungsfonds gehört.
({16})
Herr Kollege Manfred Kolbe, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Problematik der kommunalen Altschulden stellt eines der zentralen finanzpolitischen Probleme im Osten unseres Landes dar. Deshalb ist es gut, daß sich der Deutsche Bundestag heute mit dieser Frage beschäftigt.
({0})
Angesichts der Vorgeschichte muß auch jedermann klar sein, daß es hier keine einfachen Lösungen gibt, Frau Lucyga, wie Sie sie vorgetragen haben; daß es auch keine prozessualen Lösungen gibt,
Herr Hauser, sondern daß wir eine differenzierte politische Lösung brauchen.
({1})
Ein Prozeß bis zum Bundesverfassungsgericht dauert Jahre. Am Ende wäre niemand Gewinner eines Prozesses. Insbesondere wir Bundestagsabgeordneten aus den östlichen Bundesländern haben uns deshalb seit dem letzten Jahr immer für eine politische Lösung eingesetzt. Ein guter Vergleich ist immer besser als ein schlechter Prozeß.
({2})
Bedauerlicherweise wurde die Verhandlungslösung zunächst vom Bundesfinanzministerium durch eine kompromißlose Haltung blockiert. Im Herbst letzten Jahres erkannte dann der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Schäuble, die politische Dimension des Problems,
({3})
und schlug eine Drittellösung vor.
Bei den sich anschließenden Verhandlungen unter Federführung von Kanzleramtsminister Bohl begann sich ein Kompromiß abzuzeichnen. Beim Spitzengespräch am 4. Dezember letzten Jahres im Bundeskanzleramt war ein Kompromiß greifbar nahe, der vorsah, daß der Bund die Hälfte der kommunalen Altschulden in Höhe von 8,73 Milliarden DM übernimmt. Länder und Kommunalvertreter sprachen sich danach, Frau Lucyga, positiv zu dem sich abzeichnenden Kompromiß aus.
({4})
Verzögert wurde der Kompromiß, als im Januar der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Höppner die Bundesratsinitiative einleitete und den bis dahin erzielten Verhandlungsstand außer acht ließ mit der Forderung der völligen Einstellung der kommunalen Altschulden in den Erblastentilgungsfonds und damit einer alleinigen Lastentragung des Bundes.
Als Opposition ist es natürlich immer einfach, einen Gesetzentwurf abzuschreiben und alles zu fordern. Damit machen Sie es sich etwas zu einfach. Es ist kein Kunststück, alles zu fordern, ohne dann für die Finanzierung sorgen zu müssen.
({5})
Sie setzen damit auch Ihre wirklich ungute Doppelstrategie fort, in Ost und West völlig unvereinbare Forderungen zu stellen. Während die Ostkollegen Ihrer Fraktion hier die völlige Übernahme der kommunalen Altschulden fordern, fordern Bürgermeister im Ruhrgebiet: Wir müssen weg von der generellen Förderung in Ostdeutschland. Das paßt nicht zusammen.
({6})
Ich denke da auch an ein Beispiel aus Ihrer Heimatstadt Rostock, Frau Lucyga. Wir erleben da dieselbe Doppelzüngigkeit. Während der niedersächsische Wirtschaftsminister Fischer, SPD den Aufbau von Werftkapazitäten im Osten ohne Rücksicht auf den Westen beklagt, beklagt der SPD-Landesvorsitzende von Mecklenburg, Herr Ringstorff, genau das Gegenteil, daß der Bund nämlich zuwenig leiste.
({7})
Eine solche Doppelstrategie zu Lasten der Einheit ist unzulässig.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Ja.
Verehrter Herr Kollege Kolbe, Sie sprechen hier über Doppelstrategie und führen die Werften an. Das Werftenthema steht ja in einer Stunde auf der Tagesordnung. Dann können wir über das Thema vielleicht vertieft sprechen. Wenn Sie hier über Doppelstrategie sprechen, frage ich Sie: Wie bewerten Sie denn die Tatsache, daß die Landes-CDU von Mecklenburg-Vorpommern eindeutig fordert, daß die Altschulden, über die wir jetzt diskutieren, in den Erblastentilgungsfonds übernommen werden sollen und daß Vertreter des gleichen CDU-Landesverbandes hier im Deutschen Bundestag genau das Gegenteil sagen?
({0})
Natürlich habe ich Verständnis, wenn kommunale und Landesvertreter fordern, daß der Bund alles übernimmt. Das ist in gewisser Weise auch logisch. Wenn wir aber das Ganze gesamtstaatlich betrachten - dazu sind wir als Bundestagsabgeordnete verpflichtet, dann müssen wir uns, Herr Hacker, um einen sachgerechten Kompromiß bemühen.
({0})
Genau um diesen Kompromiß haben wir uns als Bundestagsabgeordnete der Koalitionsparteien bemüht. Ergebnis dieser harten Verhandlungen - auch innerhalb unserer Fraktionen und mit der Bundesregierung - ist der heute vorliegende Antrag, der eine sachgerechte Grundlage zur Lösung der Problematik der kommunalen Altschulden bildet. Intensive Diskussionen sind ihm vorausgegangen. In der heute vorliegenden Fassung ist er erst Dienstagnacht ausformuliert worden.
Er enthält fünf Kernaussagen - die sollten Sie sich einmal anhören -, die wesentliche Verbesserungen insbesondere für die östlichen Länder und Kommunen gegenüber der bisherigen Haltung des Bundesfinanzministeriums bringen.
Erstens. Bund und Länder sollen eine akzeptable und ausgewogene Regelung treffen, die insbesondere
die Überforderung einzelner Gemeinden durch Altschulden ausschließt. Der Antrag läßt ausdrücklich offen, ob dies durch Gesetz oder Vertrag erfolgen kann.
Zweitens. Die Problematik der kommunalen Altschulden wird endlich auf Schulden, „soweit diese den Kommunen zugeordnete Grundstücke betreffen," eingegrenzt. Schulden im Zusammenhang mit anderweitig zugeordneten Grundstücken fallen heraus und sind alleine von den dortigen Eigentümern zu tragen. Dadurch reduziert sich der Gesamtbetrag, um den es hier geht, von 8,7 Milliarden auf rund 8 Milliarden DM.
Drittens. Der Bund übernimmt die Hälfte dieser kommunalen Altschulden. Offen läßt der Koalitionsantrag, ob der Bundesanteil in den Erblastentilgungsfonds übernommen wird oder nicht. Dazu ist keine eindeutige Aussage enthalten. Die CDU-Abgeordneten aus den östlichen Ländern plädieren nach wie vor für eine Einstellung in den Erblastentilgungsfonds. Die Bundesregierung ist anderer Ansicht. Erstmals aber stellt der Bund sicher - diese Äußerung, Frau Lucyga, sollten Sie nicht abwerten; das ist nicht in unserem Interesse, daß eine Refinanzierung, sofern erforderlich - es ist nicht gesagt, ob sie erforderlich ist -, gesamtstaatlich erfolgen muß, also nicht überproportional zu Lasten des Transfers in die östlichen Länder.
({1})
Ich weiß wirklich nicht, was da aberwitzig sein soll. Damit haben wir zum erstenmal die Formulierung in einem Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages, daß die Refinanzierung gesamtstaatlich zu erfolgen hat.
Viertens. Die Länder übernehmen neben ihren jeweiligen Kommunen gleichrangig die Haftung für die andere Hälfte der kommunalen Altschulden in Höhe von noch rund 4 Milliarden DM. Eine neue Forderung des Bundes gegen die östlichen Länder wird nicht begründet.
({2})
Fünftens. Den einzelnen Ländern bleibt es hinsichtlich ihrer Hälfte überlassen, welche interne Regelung sie mit ihren jeweiligen Kommunen treffen. Der Deutsche Bundestag geht davon aus, daß die Länder neben dem Bund einen Eigenbeitrag zur Finanzierung der kommunalen Altschulden leisten und unausgewogene Lastenverteilungen zwischen ihren Gemeinden vermeiden.
({3})
Wirtschaftlich bedeutet dieser Entschließungsantrag folgende Lastenverteilung: Von der bisher zur Diskussion stehenden Gesamtsumme von 8,73 Milliarden DM tragen rund ein Zehntel davon diejenigen, die die nichtkommunalen Grundstücke zugeordnet bekommen. Bei nicht möglicher Zuordnung trägt der Bund das Zuordnungsrisiko. Von den verbleibenden 90 Prozent tragen 45 Prozent der Bund und 45 Prozent die Länder. Damit ist der Bund den Ländern und Kommunen im Osten ein weiteres Stück entgegengekommen.
Es gibt auch erste positive Reaktionen aus den Ländern, so zum Beispiel aus Sachsen und Thüringen.
Wir müssen von Maximalforderungen wegkommen. Da haben Sie recht, Frau Lucyga. Jeden Tag, an dem die Problematik nicht gelöst wird, wird sie teurer und eine Lösung schwieriger. Deshalb brauchen wir schnell Verhandlungen. Wir sollten nicht abwarten, Herr Hauser, bis über den Gesetzesantrag des Bundesrates abgestimmt worden ist, sondern sofort, parallel dazu, in Verhandlungen treten, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen, die nach ersten Reaktionen, die wir von den Ländern und von kommunaler Seite im Osten haben, auf dieser Basis durchaus möglich ist.
Der Entschließungsantrag der Koalition bietet eine gute Grundlage, weshalb ich um Ihre Zustimmung bitte.
Danke.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tut mir leid, aber ich muß doch sehr deutlich anfangen, Herr Kolbe.
Der Rechnungshofbericht vom 27. September bestätigt der Regierung von vorne bis hinten, daß sie schlicht Bockmist gebaut hat.
({0})
Jetzt kommen Sie her und erklären, daß die Länder und Kommunen, auf der anderen Seite die Wohnungsbaugesellschaften und die Landwirtschaft - das wissen wir ja -, das anteilig bezahlen sollen. Ich denke, das kann es doch wirklich nicht sein.
Ein paar Zitate aus diesem wunderbar vertraulichen und verschwiegenen Rechnungshofbericht; das alles ist in der Presse schon dargestellt worden.
Erster Satz:
Es ist nicht auszuschließen, daß durch die ... entstandenen Belastungen der verschiedenen Wirtschaftsbereiche eine wesentliche Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Aufbauprozesses in den neuen Bundesländern verbunden war und immer noch ist.
Ich denke, diesen Satz sollte man sich anhören. Zweiter Satz:
Westdeutsche Banken erlangten infolge der Vereinbarungen mit ehemaligen Banken der DDR erhebliche Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Mitbewerbern, indem ihnen der Zugang zu Filialen und Kundenstamm der DDR-Banken noch vor der Vereinigung ermöglicht wurde.
Ein weiterer Satz:
Dennoch erscheinen die Verkaufserlöse sehr niedrig. Vertragliche Nachverhandlungsklauseln oder sonstige Korrekturmöglichkeiten waren in den meisten Fällen nicht vorgesehen.
Wieder ein Fehler der Regierung. Noch ein Satz:
Zwar sind bei der Übertragung der Forderungen auch die entsprechenden Passiva übergegangen, die Übernahme des beträchtlichen und durch Ausgleichsforderungen gesicherten Geschäftsvolumens ist jedoch bei der Kaufpreisermittlung nicht berücksichtigt worden.
Das Fazit:
Nach dem derzeitigen Stand der Abwicklung der Altkredite in den vier Bereichen Unternehmen, Landwirtschaft, Wohnungswirtschaft und gesellschaftliche Einrichtungen zeichnet sich ab, daß der überwiegende Teil der Altschulden letztlich wieder vom Bund übernommen wird.
Wir haben eine Große Anfrage zu dem Thema gestellt. Wir sind gespannt, ob die Regierung uns bessere Antworten geben kann, als die, die der Rechnungshofbericht bereits dargestellt hat.
Das Fazit ist erschreckend. Erstens. Den auserwählten Banken ist ein dickes Geschäft zugeschoben worden. Die Berechtigung der Umwandlung der Staatskredite in marktwirtschaftliche Kredite ist nach wie vor strittig. Sie wissen, daß das beim Bundesverfassungsgericht aussteht.
Zweitens. Die besagten Banken haben sich in der Zwischenzeit mit dreisten Zinsforderungen zusätzlich bereichert. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Berliner Bank erhob bis Mitte 1993 10,75 Prozent Zinsforderungen, die allein in dieser Zeit von 1990 bis 1993 deren Schulden von 6,5 auf 9 Milliarden DM anwachsen ließen. Genauso ist das mit den Bundesforderungen bei den kommunalen Gesellschaftseinrichtungen.
Drittens. Kurzum: Durch die zinspolitische VogelStrauß-Politik ist das Altschuldenproblem soweit angewachsen, daß es heute wie ein unbezwinglicher Berg erscheint. Davon müssen wir runter, und zwar schnellstens.
({1})
Der nächste Punkt, der heute konkret ansteht: die Schulden für die berühmten gesellschaftlichen Einrichtungen. Wir wissen, daß sie besonderer Willkür in der DDR unterlagen, daß sie willkürlich gewährt oder auch nicht gewährt wurden und daß die Städte sehr unterschiedlich betroffen sind.
Die Aufblähung der Schulden - es ist ja jetzt schon so, daß 80 Prozent zusätzlich überhaupt reine Zinsen sind; das hat der Bund an dieser Stelle nachträglich gefordert ({2})
ist wirklich unglaublich.
({3})
Darum haben wir eine ganz schlichte Forderung - noch schlichter als die Kollegen von der SPD und vom Bundesrat: Warten Sie nicht erst auf einen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, sondern erkennen Sie jetzt an, daß Sie diese Schulden zu Unrecht umgewandelt haben und daß Sie einem Phantom hinterherrennen. Verzichten Sie auf die Eintreibung der Schulden. Buchen Sie sie aus. Verhalten Sie sich schlicht wie ein Kaufmann, der eine nicht einbringbare Forderung ausbucht. Das ist die einzige wirklich vernünftige Lösung.
({4})
Die Schulden werden sowieso bei Ihnen landen.
({5})
Den Umweg über den Erblastentilgungsfonds können wir uns nämlich sparen; denn das heißt nur: von der rechten Hand in die linke.
Leider habe ich jetzt nur noch sehr kurz Zeit, weil das hier alles zusammengepackt werden muß. Der Osten ist ja immer nur eine Stunde der Debatte wert, und man muß da alles hineinpacken.
Zu dem Problem Privatisierung der Altschulden im Wohnungsbereich. Ich sage ganz kurz, weil meine Zeit knapp ist: Unsere wichtigen Forderungen sind nach wie vor dieselben, die wir schon vor einem Jahr eingebracht haben. Wir sind erschrocken darüber, daß sich die Koalition und die Regierung in der Zwischenzeit eigentlich nur ins Negative bewegen. Unsere Forderungen lauten: erstens lineare Erlösabfuhr von 30 Prozent und keinen Pfennig mehr. Zweitens - darüber sollten die Kollegen auch endlich einmal nachdenken -: Es ist mit der ständigen Privatisierungsdebatte soviel Zeit vertan worden, daß wir dringend eine Verlängerung der Privatisierungsfrist bis zum Jahre 2006 fordern; denn sonst kommt der Druck von den Gesellschaften und von den Mietern einfach nicht weg.
Drittens. Wir sagen mit großer Deutlichkeit - gerade weil Sie so für Zwischenbewerber schwärmen und für die Sonderabschreibungen, die Sie denen hinterherschmeißen -: keine Veräußerung an Dritte, sondern ausschließlich an Mieter, Mietergemeinschaften und Bewohnergenossenschaf ten.
({6})
Bei einem Punkt sind wir gerne bereit, in die Diskussionen einzusteigen, daß nämlich die Ausgründungen als Alternative zur Einzelprivatisierung und zur Privatisierung an Genossenschaften als gleichwertige Privatisierungsform anerkannt werden, um ein Stück weit eine Dezentralisierung zu erreichen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin, in Ihrem Antrag analysieren Sie die Situation der Zwangsprivatisierung sehr gut. Sie kommen zu dem Ergebnis, daß die Zwangsprivatisierung von Wohnungen gescheitert ist. Insofern meine Frage: Warum kommt Bündnis 90/Die Grünen aus dieser Erkenntnis heraus nicht auch wie wir zu der Entscheidung, daß die Zwangsprivatisierung ersatzlos gestrichen werden muß. Für meine Begriffe wäre das die einzig vernünftige Konsequenz aus den Erkenntnissen, die Sie hier zu Recht so beschrieben haben.
Herr Kollege Warnick, das kann ich Ihnen beantworten. Ich halte es in diesem Fall schon für die weitestgehende und richtige Forderung. Ich finde es sehr richtig, wie Sie sie gestellt haben. Aber wir haben doch inzwischen soviel Politikerfahrung, daß wir wissen, wann diese Fraktionen und diese Regierung nur über die niedrigste Hürde springen. Das ist bei dem Thema Osten überhaupt nie zu erwarten.
Insofern hoffen wir, daß wir durch Kompromißangebote und Kompromißlösungen wenigstens einmal ein kleines Treppchen bei den lieben Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion und der F.D.P.-Fraktion erklimmen können. Insofern haben wir einfach nicht mehr die Illusionen, die Ihre Fraktion nach wie vor hat.
({0})
Zum Schluß ein wichtiger Punkt, und das ist dann auch ein Stück mehr Diplomatie: Wir fordern Sie dringend auf, sich im Bereich der wohnungswirtschaftlichen Altschulden endlich auch soweit zu bewegen, daß Sie mit den beiden Banken, um die es geht, der Deutschen Kreditbank und der Berliner Bank, Nachverhandlungen um Teilerlasse und Zinssenkungen anfangen. Es bleibt ein Skandal, daß Sie denen das dicke Geschäft zugeschoben haben, und Sie sich bis heute noch nicht einmal die Mühe machen, mit denen in Nachverhandlungen über günstige Zinsen oder über einen Teilerlaß der Schulden einzutreten.
({1})
Insofern kommen Sie endlich von Ihrem hohen Roß herunter.
Ich möchte die nullste Minute nur noch für eine persönliche Schlußbemerkung nutzen. Ich bin seit fast eineinhalb Jahren Mitglied dieses Hauses. Ich habe noch nie erlebt, daß die Regierung und die Koalitionsfraktionen in Sachen ostdeutsche Politik wirklich nachdenklich geworden sind und sich überlegt haben, was sie für Instrumente ergreifen müssen, um den Menschen, um den Gesellschaften, um der Wirtschaft dort wirklich zu helfen. Ihre ganze Politik und auch das, worüber wir heute reden, ist nichts anderes, als den Osten als Immobilie zu benutzen und den Immobilientransfer von Ost nach West zu organisieren. Das ist ein ganz gemeiner Zynismus, den Sie betreiben.
({2})
Sie sollten es endlich begreifen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Weil Frau Eichstädt-Bohlig so wenig Zeit für die Wohnungen hatte, möchte ich es umdrehen und mit den Wohnungen beginnen, damit dieses Thema nicht zu kurz kommt. Ich kann die Schlagworte, die Sie eben gebraucht haben, nachvollziehen, denn sie wurden in den letzten Jahren ständig genannt. Privatisierung oder - wie die Opposition sagt - Zwangsprivatisierung, Erblastentilgungsfonds, Abführung: all diese Schlagworte haben uns ständig begleitet. Sie haben darüber gesprochen, wir sollen nicht nur reden, wir sollen handeln. Ich glaube, es müssen andere vor Ort zu handeln beginnen und begreifen, wohin der ganze Weg führt und nicht eine Blockadehaltung einnehmen, die uns auf diesem Weg ständig behindert.
({0})
Nein, meine Damen und Herren, die Ausgangssituation sollten wir schon einmal nennen. Wir waren damals dafür, eine breite Eigentumsstreuung zu erreichen. Wir waren dafür, vernünftige Verkaufspreise zu erreichen, einen finanziellen Spielraum für die Wohnungsgesellschaften, für die Genossenschaften zu schaffen. Ich muß einfach sagen, wenn jetzt dargestellt wird, daß wir diese Privatisierung überhaupt nicht brauchen, so muß ich Ihnen sagen, daß wir die sozialistischen Eigentumsverhältnisse, wie sie im Osten bestanden, abschaffen. Wir wollten den Bürgern die Chance geben, mehr Eigentum zu erreichen. Deshalb sind wir diesen Weg gegangen, und er hat sich als der richtige bestätigt.
({1})
Meine Damen und Herren, das Hauptanliegen dieses Einigungsvertrages und auch des Altschuldenhilfe-Gesetzes war klar: Wir wollten mehr Privatisierung. Wir wollten, daß Bürger mehr Wohnungen kaufen. Daß es dort gescheitert ist - das muß man einmal sagen -, liegt daran, daß dort, wo die Privatisierung als politisch negativ hingestellt wurde, wo Ihre Agitatoren durchs Land gezogen sind, wo sie zum Kampf gegen die Privatisierung aufgerufen haben, ohne überhaupt örtliche Begebenheiten zu prüfen oder nachzuvollziehen, für den einzelnen Mieter die günstigeren Lösungen vergeben worden sind.
({2})
Verunsichert auch durch den ständigen Ruf, das Altschuldenhilfe-Gesetz weiter zu ändern und anzupasJoachim Günther ({3})
sen, haben viele Unternehmen erst einmal abgewartet, haben eine Lauerstellung eingenommen. Vielleicht kommt es unter dieser Auflage doch noch zum Erlaß der Privatisierung.
Die Koalition wollte und will gezielt, daß der Bürger zu günstigen Konditionen Eigentum erwerben kann. Weil viele Unternehmen nicht über den notwendigen Umfang für das Beratungs-Know-how, über finanzielle Möglichkeiten und über Flexibilität verfügen, wurden im Zuge des Altschuldenhilfe-Gesetzes weitere Formen eingeführt und zugelassen, wie die mieternahen Privatisierungsformen. Ja, auch die Abführung an den Erblastentilgungsfonds spielte dabei eine Rolle. Aber ökonomischer Zwang ist manchmal notwendig, wenn etwas bewegt werden soll. Wir kennen die Beispiele, wir kennen vor allem die Unterschiede, die es zwischen den Ländern und den Kommunen gibt, und sie sind extrem hoch.
In Sachsen ganz konkret sind 1995 8 083 Wohnungen direkt an die Mieter privatisiert worden und 18 115 Wohnungen an Zwischenerwerber gegangen. Ich glaube, das ist eine entwicklungsfähige Zahl. Der Verkauf an diese Zwischenerwerber hat dazu geführt, daß zirka 550 Millionen DM für die Unternehmen als finanzielle Mittel zur Verfügung stehen und daß durch die Vertragsgestaltung im Endeffekt für die nächsten zwei Jahre aus diesen Modernisierungsverträgen heraus rund 1 Milliarde DM an Investitionen im Baubereich getätigt werden können. Ein wichtiges Signal für die jetzige Baukonjunktur. Deshalb sollte dieser Weg konsequent weiter beschritten werden.
({4})
Sie haben vorhin gesagt, daß es den Zwischenerwerbern nur um Steuervorteile geht. Nein, keiner kann ausschließen, daß es auch in dieser Sparte schwarze Schafe gibt. Das will ich ganz deutlich sagen. Aber wir haben gestern zum Beispiel eine Runde durchgeführt, zu der wir alle Zwischenerwerber aus dem Freistaat Sachsen eingeladen hatten. In dieser Gesprächsrunde war der positive Eindruck eindeutig zu spüren, daß durch die Verträge, die wir uns angeschaut haben und die vorlagen, im Regelfall günstige Lösungen für den Mieter erreicht wurden. Von Verkaufspreisen zwischen 1 490 DM und 2 180 DM für Wohnungen im sanierten Zustand können Bürger in den alten Bundesländern nur träumen.
({5})
Wenn die Länder in dieser Frage auch noch die richtige Position einnehmen, wenn sie die Förderprogramme in dieser Richtung gestalten - so wie das zum Beispiel in Sachsen der Fall ist -, dann wird damit heutzutage eine günstige Fördermöglichkeit erreicht, die man über verschiedene Komponenten verstärken kann. Das bedeutet - es ist mir in der Zeit leider nicht möglich, diese Zahlen für einen Einzelfall anzuführen -, daß der Käufer einer solchen Wohnung weniger abzuzahlen hat, als er Miete für eine solche renovierte Wohnung zahlen müßte.
({6})
Der Kollege Warnick und die Kollegin Eichstädt-Bohlig würden Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte.
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht ebenfalls der Meinung, daß es Erkenntnisse gibt, daß im Prinzip nur drei Prozent der Bürger finanziell in der Lage sind, diese Wohnungen zu kaufen, und daß das daran liegt, daß viele arbeitslos sind und daß es sich oftmals um ältere Menschen handelt, die über diese materiellen Mittel überhaupt nicht verfügen.
({0})
({1})
Das liegt jedenfalls nicht daran, daß PDSler von Haus zu Haus gehen und den Leuten sagen, daß sie die Wohnung nicht kaufen sollen.
Herr Kollege Warnick, ich bin bereit, mit Ihnen diese Zahlen einmal konkret durchzugehen. Ich habe versucht, mit wenigen Sätzen zu beweisen, was die günstigere Variante ist. Ich glaube, daß man im Endeffekt die Wohnungen dann kaufen kann, wenn die Förderbedingungen eines Landes gezielt in diese Richtung gehen. Das ist in einigen Ländern der Fall, und in Berlin und Brandenburg ist das eben noch nicht der Fall. Deswegen muß das dort geändert werden.
({0})
Frau EichstädtBohlig, bitte.
Herr Staatssekretär Günther, zum einen warte ich immer noch auf die Antwort darauf, ob das, was den Immobiliengesellschaften als Zwischenerwerbern an Sonderabschreibungen gewährt wird, nicht wesentlich höher ist, als das, was an Rückflüssen in den Erblastentilgungsfonds zu erwarten ist.
Zum zweiten wüßte ich gern Ihre Antwort darauf, ob es nicht viel sinnvoller wäre, wenn diese vielen Fördergelder direkt an die ostdeutsche Wohnungswirtschaft gingen, statt sie ständig westdeutschen Kapitalanlegern oder westdeutschen Immobiliengesellschaften zugute kommen zu lassen.
({0})
Ist Ihnen die Kritik an dieser Vermögensbildung West im Osten noch gar nicht zu Ohren gekommen, die Sie auch jetzt hier wieder mit diesem Instrument betreiben?
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, zu Ihrem zweiten Punkt: Nicht alle
Joachim Günther ({0})
Zwischenerwerbermodelle werden von Unternehmen aus den alten Bundesländern genutzt. Es gibt inzwischen in kleineren Tranchen - das sage ich bewußt - bodenständige Unternehmen in den neuen Bundesländern, die dies durchführen. Es wird in Zukunft mit Sicherheit dann für ostdeutsche Unternehmen und auch für neue mittelständische Unternehmen günstiger, sich daran zu beteiligen, je kleiner die Tranchen durch die Unternehmen gestaltet werden. Das liegt an den Unternehmen selbst; sie können das beeinflussen. Das ist nicht Sache des Bundes; hier muß man vor Ort reagieren.
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Zur ersten Frage, zu den Abschreibungsmöglichkeiten: Natürlich werden im Endeffekt auch in diesem Bereich die Zwischenerwerber tätig, um zu verdienen. Ohne einen finanziellen Anreiz wird niemand etwas unternehmen. Aber unser Ziel ist es, daß sie nicht als Zwischenerwerber im wörtlichen Sinne auftreten, die dann alle Wohnungen an Dritte verkaufen. Vielmehr sollen sie den überwiegenden Teil - damit gehen die Wohnungen ja an die Ostdeutschen zurück - den Mietern zu günstigen Preisen anbieten und den Rest im sanierten Zustand in ihrem Bestand halten. Das ist eine günstige Konstellation, die beiden auf dieser Seite nützt.
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Gestatten Sie mir, weil meine Redezeit fast zu Ende ist, einige Sätze zu den kommunalen Altschulden. Wir als F.D.P. begrüßen den Lösungsansatz, der heute gefunden wurde. Wir gehen davon aus, daß Bund und Länder je die Hälfte dieser Schulden übernehmen und daß die Länder in ihrer ureigensten Verantwortung dafür sorgen, daß es zu keiner ungerechten Verteilung zwischen den Kommunen kommt und daß keine Kommune überproportional an diesen Altschulden beteiligt wird. Hier sind auch die Länder in die Pflicht genommen.
Wir werden über einzelne Formulierungen sicherlich noch zu diskutieren haben. Aber wir können auf keinen Fall einer Maximalforderung folgen, wie sie im gegenwärtigen SPD-Antrag vorliegt. Die F.D.P. lehnt diesen Antrag ab.
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Das Wort hat der Kollege Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne meine Ausführungen zu den kommunalen Altschulden mit einem Zitat aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 19. Januar dieses Jahres. Dort heißt es:
Man sah den Abgeordneten den Ekel ins Gesicht geschrieben, als sie ihre Hände hoben, um einem PDS-Antrag zuzustimmen. Das war noch nie vorgekommen. Hatte man in einem Moment der
Schwäche die deutsche Einheit verraten? Manch einem CDU-Abgeordneten wurde übel bei der Vorstellung ... Aber die PDS hatte recht, daß selbst die CDU ihr zustimmen mußte.
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Originalzitat aus der großbürgerlichen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", liebe Kolleginnen und Kollegen.
Dieser Parlamentsbericht kam doch nicht aus dem Deutschen Bundestag, sondern er kam aus dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Dieser hatte sich nämlich erstmals in seiner noch nicht langen Geschichte einstimmig - einstimmig, möchte ich sagen! - zu einem PDS-Antrag, und zwar zu dem Antrag auf Übernahme der sogenannten kommunalen Altschulden in den Erblastentilgungsfonds, bekannt.
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Die Bundestagsgruppe der PDS wird daher natürlich dem Antrag der SPD-Fraktion zustimmen. Die Einstellung der sogenannten kommunalen Altschulden in den Erblastentilgungsfonds ist in der Tat die reelle Lösung und muß nun endlich nach vielen Worten beschlossen werden. Geschieht das nicht, so stehen mindestens 1 400 ostdeutsche Städte und Gemeinden vor dem finanziellen und damit auch wirtschaftlichen und sozialen Kollaps.
Dagegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnert der vorliegende Antrag der Koalition - ich will es so betiteln - an einen altbackenen Kuchen: Nichts Neues, obendrauf ein Sahnehäubchen.
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Bund, Länder und Kommunen könnten sich die trokkenen Reste ja gütlich teilen. Genau das aber hat das politische Schmierentheater der letzten Wochen in dieser Frage geprägt und eben zu keiner Lösung geführt. Auch deshalb folgen wir nicht dem Antrag der Regierungskoalition.
Anfangs - ich erinnere daran - drohte der Bund mit der Verschickung von Mahnbescheiden, danach mit Klagen gegen alle zahlungsunwilligen ostdeutschen Kommunen und schließlich mit der Kanzlermehrheit.
„Insofern" - so schrieb die großbürgerliche „Welt" am 20. Januar dieses Jahres sehr zutreffend - „gibt das Problem der kommunalen Altschulden auch Auskunft über den Zustand der Gesellschaft insgesamt." - Deutliche Worte in Richtung Regierung!
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Bereits Ende November 1995, Herr Weng, erfolgte bekanntlich in diesem Hohen Hause die erste Lesung eines PDS-Antrages, der den Ausweg aus dem kommunalen Altschuldendilemma aufzeigte. Keine andere Bundestagspartei wollte sich damals dazu bekennen. Als aber zu Jahresbeginn 1996 Sachsen-AnDr. Uwe-Jens Rössel
halts Ministerpräsident Höppner diesen PDS-Antrag vollinhaltlich als Bundesratsinitiative aufgriff,
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bemerkte der brandenburgische Landesvater Stolpe euphorisch, das sei der Stein des Weisen. Auch vom Ei des Kolumbus sprach er. Aber daß die PDS-Bundestagsgruppe diesen Stein der Weisen entdeckt hatte, wird von Herrn Stolpe und heute auch von anderen leider verschwiegen. Geschenkt, meinen wir.
Eine Lösung, die sich an den tatsächlichen Realitäten bezüglich der Entstehung der kommunalen Altschulden orientiert, ist überfällig. Insoweit weist auch der Antrag der SPD in die Richtung, die von uns aufgezeigt wurde.
Die Bundesregierung argumentiert gern, die betroffenen Kommunen hätten keinen realen Gegenwert erhalten. Fakt ist: Viele Gebäude sind nicht einmal errichtet worden. Außerdem: Wer in der alten Bundesrepublik vergleichbare öffentliche Bauten errichtet hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat dafür Fördermittel erhalten, die er nie und nimmer zurückzahlen muß. Das muß auch für die kommunalen Altschulden in Ostdeutschland gelten.
Deshalb kann es nur eines geben: Altschuldenstreichung und Übernahme in den Erblastentilgungsfonds des Bundes. Bitte unterstützen Sie dieses Vorgehen!
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Für die Bundesregierung Herr Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beschränke mich auf den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung des Erblastentilgungsfonds. Einen gleichlautenden Entwurf hat der Bundesrat bereits am 9. Februar 1996 beschlossen.
Für die Bundesregierung ist dieser Gesetzentwurf kein akzeptabler Weg zur Lösung des Altschuldenproblems. Er stellt den untauglichen Versuch dar, das Problem der kommunalen Altschulden vollständig und ausschließlich zu Lasten des Bundes zu lösen. Dies ist für den Bund nicht hinnehmbar. Die Bundesregierung hat sich in den bisherigen Gesprächen mit Ländern und Kommunen immer für eine faire und sachgerechte Lösung eingesetzt.
Die gesellschaftlichen Einrichtungen sind durch den Einigungsvertrag auf die Kommunen übertragen worden. Zusammen mit den Objekten, also den Schulen, Kindergärten, Sportstätten usw., sind auch die Verbindlichkeiten, die zur Finanzierung des Baus dieser Einrichtungen eingegangen wurden, auf die Kommunen übergegangen. Ich vermag in diesem Vorgang im Rahmen des Einigungsvertrages auch keinen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu erkennen, wie dies von der SPD behauptet wird.
Selbst die Länder bestätigen in der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf, daß in den Staatsverträgen und in der Gesetzgebung „der Fortbestand von Altkreditverpflichtungen bei schrittweiser Anpassung an marktwirtschaftliche Kreditverhältnisse angeordnet" wurde.
In der Regel übersteigen die den Gemeinden übertragenen Vermögenswerte die darauf lastenden Altverbindlichkeiten. Die Kommunen nutzen diese Einrichtungen zur Erfüllung ihrer Aufgaben. Eine vollständige Übernahme der kommunalen Altschulden in den Erblastentilgungsfonds würde die Gemeinden benachteiligen, die in der DDR nicht die Möglichkeit zum Bau gesellschaftlicher Einrichtungen hatten und die es heute bei sehr viel höheren Baukosten nachholen müssen.
Als Begründung für eine Übertragung der Altschulden in den Erblastentilgungsfonds wird häufig eine angeblich willkürliche Verteilung der Altschulden zwischen den Kommunen angeführt, wie wir es auch heute wieder gehört haben. Von bestimmten Ausnahmen abgesehen, besteht jedoch ein enger Zusammenhang zwischen den in einer Gemeinde vorhandenen gesellschaftlichen Einrichtungen und der Altschuldenbelastung der Gemeinde. Entschuldungen in einzelnen Bezirken auf den DDR-Zentralstaat Mitte der 80er Jahre rechtfertigen es nicht, den Bund generell für die Finanzierung kommunaler Einrichtungen in den neuen Ländern in die Pflicht nehmen zu wollen.
In den bisherigen Gesprächen mit Ländern und Gemeinden schien sich eine Lösung des Altschuldenproblems bereits abzuzeichnen; Herr Kolbe hat darauf hingewiesen. Mit dem Versuch, die Kosten für die Altschulden allein dem Bund anzulasten, werden die Länder ihrer Verantwortung für die Kommunen nicht gerecht. Um langwierige juristische Auseinandersetzungen und verwaltungsaufwendige Zuordnungsprobleme zu vermeiden, hat der Bund in den Verhandlungen weitgehende Zugeständnisse gemacht. Der Bund bekräftigt sein Angebot aus den Verhandlungen mit Ländern und Gemeinden, die Hälfte der kommunalen Altschulden zu tragen, wenn die Länder die andere Hälfte der auf ihr Land entfallenden Schulden übernehmen. Dies entspricht voll dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Entschließungsantrag.
Die von den Ländern und Gemeinden zusammen aufzubringenden Zinsen in Höhe von jährlich 260 Millionen DM bedeuten keine Überforderung der Finanzkraft der östlichen Länder und Gemeinden. Dies gilt insbesondere, wenn man die großzügigen Regelungen des Föderalen Konsolidierungsprogramms in Rechnung stellt.
Soweit einzelne, insbesondere kleinere Gemeinden in besonderem Maße von den Altschulden betroffen sind, können nur die Länder im Rahmen des
kommunalen Finanzausgleichs durch eine breitere Lastenverteilung zwischen den Gemeinden eine Lösung herbeiführen. Dazu sind sie auch verfassungsrechtlich verpflichtet.
Aus Sicht des Bundes kann es keine Lösung der Altschuldenfrage geben, die die gesamten Lasten allein dem Bund aufbürdet. Nur auf dem Weg, der im Entschließungsantrag der Koalition vorgezeichnet ist - hälftige Teilung der Altschulden zwischen Bund und Ländern - kann es eine einvernehmliche Regelung geben.
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Das Wort hat die Kollegin Iris Gleicke, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst im Mai des vergangenen Jahres hat die Koalition mit ihrer Mehrheit die von uns geforderte Reform des Altschuldenhilfe-Gesetzes verhindert, übrigens mit den Stimmen der ostdeutschen CDU-Abgeordneten,
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die sich in der Öffentlichkeit, wie auch schon heute abend zu hören war, immer wieder gern zu Sachwaltern ostdeutscher Interessen aufblasen.
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Was von diesen Versprechungen zu halten ist, merkt man spätestens dann, wenn es zum Schwur kommt. Da wandeln sich die aufgeblasenen Riesen wieder in politische Zwerge, und da werden aus den selbsternannten Helden wieder treue Gefolgsleute. Nebenbei: Ich fürchte, wir werden dieses traurige Schauspiel auch demnächst bei der Abstimmung zu den kommunalen Altschulden erleben.
Herr Kolbe, es ist schon peinlich, daß Sie es hier als Großtat preisen, daß das Nichtstun der Bundesregierung, das zum Aufwuchs dieser Altschulden geführt hat, nun zur Hälfte von den Ländern und den Kommunen getragen werden soll. Ich finde das absolut furchtbar.
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Herr Kollege Kriedner, zu Ihrem Zwischenruf von vorhin: Genau da liegen die Parallelen, genau das ist auch in anderen Bereichen schon passiert, wie zum Beispiel in der Wohnungswirtschaft.
Nun möchte ich gern zum Bericht der Bundesregierung kommen.
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Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hatten die Chance, gemeinsam mit uns das Altschuldenhilfe-Gesetz zu novellieren. Statt dessen haben Sie es vorgezogen, ein teures Forschungsprojekt zur
Wohnungsprivatisierung in den neuen Ländern in Auftrag zu geben und damit sinnlos Steuergelder zu verpulvern, als ob diese Studie den Mietern und der Wohnungswirtschaft helfen könnte. Was ist denn aus Ihrem Anspruch geworden, den Mietern die Bildung von Eigentum zu ermöglichen?
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Die 40 000 in Ihrem Bericht ausgewiesenen Wohnungen, bei denen der Verkauf an die Mieter im Berichtszeitraum gefördert wurde, sind doch bloß ein Tropfen auf den heißen Stein.
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Denn es warten noch jede Menge Wohnungen bis jetzt vergeblich auf die Kauflust ihrer Mieter. Das belegen die Angaben des Gesamtverbandes der Wohnungswirtschaft.
Bislang sind erst 63 000 von insgesamt 333 000 zu verkaufenden Wohnungen privatisiert worden. Nur ein geringer Teil dieser verkauften Wohnungen ist heute im Besitz von Mietern. Daß nur so wenige Wohnungen verkauft worden sind, das bedeutet ja nicht nur, daß die Privatisierung an die Mieter insgesamt schlicht gescheitert ist. Das heißt doch auch, daß die Wohnungsunternehmen auf den sanierungsbedürftigen und damit kostspieligen Wohnungen sitzenbleiben und daß ihnen deshalb jetzt und in der Zukunft wichtige Investitionsmittel fehlen.
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Die Privatisierungsverpflichtung hat noch ganz andere Konsequenzen. Wenn die Unternehmen Wohnungen verkaufen wollen, müssen sie diese Wohnungen zunächst für teures Geld sanieren. Wenn sie Wohnungen verkaufen wollen, müssen sie Privatisierungskonzepte erarbeiten. Wenn sie Wohnungen verkaufen wollen, müssen sie eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Das kostet alles Geld, und das bindet die Arbeitskraft der Mitarbeiter. Das ist ein Fakt, Herr Kollege Günther, der auch in Ihrem Bericht steht und der ganz deutlich macht, daß Sie all die hehren Ziele, die Sie uns heute abend vorgestellt haben, nicht erreicht haben.
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Wie sollen die Unternehmen unter diesen Bedingungen denn eigentlich ihren Aufgaben nachkommen?
Frau Kollegin Gleicke, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß in meinem Wahlkreis, in der Stadt Görlitz, von 92 mit Altschulden belasteUlrich Petzold
ten Wohnungen 100 Prozent, also 92 Wohnungen, schon im Jahre 1992 an die Mieter verkauft wurden?
Herr Kollege, ich nehme das gern zur Kenntnis, und ich streite nicht ab, daß es erfolgreiche Wohnungsprivatisierungen gegeben hat. Aber Sie müssen sich einmal vorstellen, daß allein der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft - ich nenne Ihnen die Zahl gern noch einmal - 333 000 Wohnungen zu privatisieren hat und daß davon bisher nur 63 000 privatisiert worden sind. Nehmen Sie doch einfach zur Kenntnis, daß das nicht überall funktioniert.
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Herr Kollege, wir haben Ihnen in unserem Novellierungsentwurf gesagt, daß es regionale Unterschiede gibt. Das heißt, daß es positive Beispiele und negative Beispiele gibt. Ich bestreite nicht, daß das, was Sie gesagt haben, ein positives Beispiel ist. Verkennen Sie aber bitte nicht die Situation, daß es reihenweise negative Auswirkungen gibt!
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Frau Kollegin Gleicke, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin Gleicke, können Sie sich vorstellen, daß die 92 Wohnungen dort unter günstigen Bedingungen genauso hätten verkauft werden können, wenn man diese Zwangsprivatisierung nicht gemacht hätte?
Herr Kollege Warnick, ich denke, daß die Wohnungen sicherlich auch verkauft worden wären, weil es von Anfang an ein Interesse der Wohnungswirtschaft gab, Wohnungen zu veräußern, um Eigenkapital zu erhalten. Sie haben absolut recht, Herr Kollege Warnick. Deshalb stimmt auch der Vorwurf des Herrn Staatssekretärs Günther nicht, daß es eine Blockadehaltung vor Ort gibt; denn die Wohnungsunternehmen haben ein großes Interesse an Veräußerungen, aber nicht dann, wenn die Abführung aus den Privatisierungserlösen an den Erblastentilgungsfonds ständig steigt.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin, können Sie bestätigen, daß von den in dem Bericht der Bundesregierung zitierten 68 000 privatisierten Wohnungen nur 24 000 an Mieter privatisiert worden sind und der ganze Rest an Dritte, sprich überwiegend an Kapitalanleger und überwiegend an westdeutsche Immobiliengesellschaften?
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Frau Kollegin, das hatte ich vorhin gemeint, daß nämlich bei den Privatisierungen, die bisher vorgenommen worden sind, der allergrößte Teil, mehr als zwei Drittel, an Dritte veräußert worden ist und daß deshalb der Mietervorrang des Altschuldenhilfe-Gesetzes schon ausgehöhlt ist.
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Wie sollen die Unternehmen unter diesen Bedingungen ihre eigentlichen Aufgaben erfüllen? Wie sollen sie sich darum kümmern, daß ihr Bestand an Mietwohnungen attraktiver wird, damit die Leute gern dort wohnen bleiben und damit nicht noch mehr Leerstände entstehen? Spätestens da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn wer um alles in der Welt wird eine Wohnung in einer Wohnanlage kaufen, die die Mieter verlassen, weil ihnen ihre Mietwohnung und das Wohnumfeld nicht mehr gefallen?
Sie tragen die Eigentumsbildung durch die Mieter wie eine Monstranz vor sich her und haben in Wahrheit geradezu verhindert, daß es zu dieser Eigentumsbildung kommen konnte. Sie verwandeln die Wohnungsunternehmen in Maklerbüros und hoffen, daß es dadurch in der Bundeskasse klingelt. Durch Ihr Festhalten an der progressiven Erlösabfuhr an den Erblastentilgungsfonds haben Sie die Unternehmen und die Mieter unter unerträglichen Zeitdruck gesetzt.
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Wir haben von Anfang an genau auf dieses Problem hingewiesen und gefordert, die Erlösabfuhr linear zu gestalten. In Ihrem Bericht leugnen Sie dieses Problem und fabulieren, eine zügige Privatisierung bedürfe eines ökonomischen Anreizes. Sie behaupten allen Ernstes, von der progressiven Erlösabfuhr gingen keine sozial unverträglichen Druckwirkungen aus. Das ist doch der blanke Hohn. Ihr sogenannter ökonomischer Anreiz macht die Wohnungsunternehmen handlungsunfähig und verunsichert die Mieter. Das ist die Wahrheit.
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In Ihrem Fazit zum bisherigen Verlauf der Mieterprivatisierung heißt es, auf Grund der Zielsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes ergebe sich für die Privatisierung eine bestimmte Prioritätenfolge, die auch mit einer zeitlichen Priorität verbunden sei. An erster Stelle, so heißt es weiter, stehe die Bildung individuellen Wohneigentums durch den direkten Verkauf von Wohnungen an Mieter. Dafür müsse von den Wohnungsunternehmen ausreichend Zeit verwandt werden.
Sie erwarten also allen Ernstes von den Wohnungsunternehmen, ausreichend Zeit auf die Mieterprivatisierung zu verwenden, wenn die Erlösabführung an den Bund mit jedem Jahr steigt? Ihr sogenannter
ökonomischer Anreiz führt zum genauen Gegenteil, weil die Wohnungsunternehmen natürlich versuchen, ihre 15prozentige Privatisierungspflicht noch in diesem Jahr so weit wie möglich zu erfüllen. Das ist nur zu verständlich; denn spätestens vom nächsten Jahr an werden sie bei der Privatisierung Verluste machen. Das führt zwangsläufig dazu, daß nach dem Zwischenerwerbermodell verstärkt an Dritte verkauft wird, weil - das können Sie in Ihrem eigenen Bericht nachlesen - viele Mieter bis jetzt auf Grund ihrer finanziellen Situation überhaupt nicht in der Lage sind, ihre Wohnung zu erwerben.
Herr Minister, was Sie uns mit Ihrem Bericht verkaufen wollen, ist nichts anderes als die Quadratur des Kreises: Zum einen behaupten Sie, mit dem Zwischenerwerbermodell zu erreichen, daß die Wohnungswirtschaft aus der Privatisierung zügig Verkaufserlöse erzielt, die zur Stärkung ihrer Kapitalkraft und Investitionsfähigkeit nötig seien. Zum anderen versichern Sie ganz treuherzig, mit dem gleichen Zwischenerwerbermodell die Chancen der Mieter auf künftigen Eigentumserwerb wahren zu wollen.
Was für ein Quatsch! In Wahrheit haben Sie sich doch vom Vorrang der Mieterprivatisierung längst verabschiedet.
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Ich mache Ihnen das an einem Beispiel klar: Ein Wohnungsunternehmen kann nachweisen, daß die direkte Privatisierung an die Mieter nicht zu erreichen war, verkauft 15 Prozent seines Bestandes an einen Zwischenerwerber und kommt damit seiner Privatisierungspflicht nach. Von diesen 15 Prozent muß der Zwischenerwerber jedoch nur einen Teil, nämlich 40 Prozent, an die Mieter veräußern.
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Für den Rest kann er dann Sonderabschreibungen nach dem Fördergebietsgesetz in Anspruch nehmen. Das ist ganz legal, der Lenkungsausschuß macht es möglich.
Und jetzt kommt das Tollste: Die Kreditanstalt für Wiederaufbau weist in ihrem entsprechenden Merkblatt darauf hin, daß ein Zwischenerwerber, der seiner Verpflichtung zur Privatisierung an die Mieter nicht nachkommt, keinerlei Sanktionen zu befürchten hat. Ich will Ihnen sagen, was das konkret bedeutet: Sie lassen den Wohnungsunternehmen keine Chance, sich angemessen um die Privatisierung an die Mieter zu kümmern, und Sie lassen einem großen Teil der Mieter keine Chance, jemals ihre Wohnung zu kaufen. Das also ist Ihre Privatisierungspolitik.
({5})
In diesem Zusammenhang habe ich dann noch ein paar Fragen an Sie, Herr Töpfer: Wie stehen Sie eigentlich dazu, daß es im Bericht heißt, der Zwischenerwerber müsse einen möglichst großen Teil des übernommenen Wohnungsbestandes an Mieter veräußern? Liegt dieser „möglichst große Teil" jetzt bei 40 Prozent? Und wie stehen Sie dazu, daß es im Merkblatt der KfW heißt, der Zwischenerwerber habe keinerlei Sanktionen zu befürchten, wenn er nicht einmal dieser Minimalverpflichtung nachkommt? Da wird doch den Spekulanten der rote Teppich ausgerollt.
({6})
Was ist eigentlich aus Ihrem Modell zur Genossenschaftsneugründung geworden, einmal abgesehen davon, daß wir diesem Modell immer sehr kritisch gegenübergestanden haben, weil es dem eigentlichen Genossenschaftsgedanken nicht entspricht? Wollen Sie ernsthaft leugnen, daß es auch hier die progressive Erlösabfuhr ist, die es den Genossenschaftsunternehmen in vielen Fällen so gut wie unmöglich macht, aus der Altschuldenfalle herauszukommen?
Folgen Sie unseren Forderungen nach der Einführung der linearen Erlösabführungsquote von 40 Prozent bei Verkäufen an Mieter oder Genossenschaften. Folgen Sie unserer Forderung nach einer linearen Erlösabführungsquote von 50 Prozent bei Veräußerung an Dritte.
Meine Damen und Herren, nehmen Sie endlich den unerträglichen Zeitdruck von den Mietern und den Wohnungsunternehmen. Berücksichtigen Sie auch die gesamtwirtschaftliche Lage. Denn die Wohnungsunternehmen sollen investieren. Wenn sie investieren, dann schaffen sie auch Arbeitsplätze, was der derzeitigen wirtschaftlichen Situation und dem Arbeitsmarkt sehr gut täte. Haben Sie ein Einsehen, und beseitigen Sie gemeinsam mit uns den Kardinalfehler des Altschuldenhilfe-Gesetzes, die progressive Erlösabfuhr.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Arnulf Kriedner, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser seltsam verschränkten Debatte - ich möchte anregen, so etwas nicht wieder zu machen: zwei Themen in dieser Weise zu verschränken ({0})
spreche ich zu den kommunalen Altschulden und überlasse es dem vom Vertrauen des ganzen Hauses getragenen Minister, zu dem anderen Thema etwas zu sagen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde es intellektuell nicht ganz redlich, wenn die Vertreter der Oppositionsfraktionen - wenigstens einige von ihnen - hier so tun, als ob wir, die Ostabgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, bisher ein Hundert-Prozent-Modell gefordert hätten. Das war nie der Fall. Wir haben, im Gegensatz zu Ihnen, immer gesagt: Wir wollen eine solidarische Lösung. Uns kommt das entgegen, was jetzt offenbar möglich scheint, nämlich die Regelung, daß der Bund 50 Prozent übernimmt und daß die Länder 50 Prozent übernehmen. Unterstellen Sie uns also bitte nicht, daß wir eine Forderung gestellt haben, die Sie jetzt populistisch erheben! Das haben wir nie getan, ganz im Gegenteil.
({2})
Wir haben um eine solidarische Lösung gerungen. Lassen Sie mich das in den Mittelpunkt stellen.
Frau Lucyga, all die Argumente, die Sie vorgetragen haben, treffen nur zum Teil zu, keineswegs hundertprozentig. Das wissen Sie so gut wie ich. Die Argumentationskette, die Sie aufgebaut haben, läßt sich natürlich genausogut umkehren: Wieso soll eigentlich für kommunale Einrichtungen, die der damalige Staat ebenso gebaut hat und für die keine Schulden gebucht sind, plötzlich die Bundesregierung für die bezahlen, die das ganz normale kommunale Geschäft getätigt haben? Frau Lucyga, wie machen Sie den westdeutschen Gemeinden klar, daß sie Kindergärten, Schulen usw. gegen Schuldenleistungen bauen müssen und diese auch ganz normal verzinsen müssen? Wie bringen Sie diesen Vergleich zwischen Ost und West zustande? Ich halte es nicht für ganz redlich, mit größter Selbstverständlichkeit so zu tun, als wären diese Schulden Schulden des Bundes.
({3})
Herr Kollege Kriedner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lucyga?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie der Ansicht, daß die Argumentationen, die ich gebraucht habe, auch dann unwahr sind, wenn sie in gleicher Weise von ostdeutschen CDU-Ministerpräsidenten gebraucht werden?
Frau Kollegin, ich habe in den sechs Jahren, die ich hier sitze - ({0})
- Ich muß wirklich sagen, Herr Kollege: Das ist eine böse und eine miese Art, Zwischenrufe zu machen.
({1})
Sie sollten sich für einen solchen Zwischenruf wirklich schämen. Sie sollten sich dafür auch entschuldigen.
({2})
Lassen wir das mal! Solche Zwischenrufe sprechen für sich. Ich weiß, daß die Kollegin, die mich eben etwas gefragt hat, mit Sicherheit nicht hinter diesem Zwischenruf steht.
Frau Lucyga, ich möchte gern Ihre Frage beantworten. Ich habe es in den sechs Jahren, in denen ich hier sitze, noch nicht ein einziges Mal erlebt, daß ein Bundesland oder eine Vielzahl von Bundesländern, die glaubten, beim Bund 100 Prozent zu holen, auf ein einziges Prozent freiwillig verzichtet haben. Das habe ich hier noch nie erlebt.
({3})
Völlig unabhängig davon, welche Parteien in den jeweiligen Bundesländern regieren, fordern sie vom Bund immer alles.
({4})
Ich finde es nicht gut, wenn der Deutsche Bundestag, der für die Bundesangelegenheiten zu sorgen hat, solche Forderungen aufnimmt und so tut, als hätten wir hier nicht die Finanzen des Bundes zu besorgen. Ich finde, Sie sollten sich einmal mit Ihren Fraktionskolleginnen und -kollegen im Haushaltsausschuß unterhalten, ob in dieser Frage alle Ihrer Meinung sind.
({5})
Herr Kollege Kriedner, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Aus den Reihen der SPD ist der Zwischenruf „Viel zu lange!" gemacht worden. Ich habe nicht mitbekommen, von wem er kam.
({0})
- Seien Sie doch einmal einen Augenblick ruhig! Im Augenblick rede ich.
Ich würde gerne an denjenigen der den Zwischenruf gemacht hat appellieren, jetzt aufzustehen und zu sagen, daß es unpassend war. Dann ist die Sache erledigt. So haben wir es hier schon einmal gehandhabt. Kann das so geschehen?
Ich stelle nicht das Recht jedes Deutschen in Frage, Mitglied dieses Parlamentes zu sein, egal wie lange. Aber Abgeordneten, die
draußen „Hül" sagen und hier „Hott!" abstimmen, muß man auch einmal etwas sagen können.
Danke schön.
({0})
Nein, Herr Kollege, das kann ich nicht akzeptieren. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung.
Herr Kollege Kriedner, fahren Sie bitte fort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin Lucyga, ich will auch noch zu Ihrem Argument hinsichtlich eines Gutachtens etwas sagen. Wir alle wissen, wer das Gutachten eingeholt hat. Für mich gilt die Aussage, die der Tübinger Rechtsprofessor Möschel gemacht hat: Mit Gutachten ist es wie mit der Liebe: Wenn dafür bezahlt wird, verändert sich die Sicht.
({0})
Das ist in der Tat so, und für dieses Gutachten ist bezahlt worden. Deswegen glaube ich nicht, daß man Gutachten gegen Gutachten aufrechnen sollte.
Ich sage noch einmal: Wenn die Regelung 50:50 - Herr Kollege Hauser, das ist der einzige Punkt, über den wir uns mit Ihnen auseinandergesetzt haben - vor anderthalb Jahren angeboten worden wäre, hätten wir alle, einschließlich der Gemeinden, die Kirchenglocken geläutet. Das ist der Fehler, den ich der Bundesregierung anlaste.
({1}) Aber das ist auch der einzige.
Ansonsten glaube ich, in Wahrnehmung der Interessen des Bundes haben wir dafür zu sorgen, daß auch unsere Kasse und nicht unbedingt nur die Kassen der Länder stimmen. Wir alle wissen - Sie haben das vorhin erwähnt -, daß bei den Verhandlungen um das Konsolidierungsprogramm zwischen Bund und Ländern vor zwei Jahren auch die Frage der Altschulden eine Rolle gespielt hat. Damals haben die Länder kassiert, und zwar allesamt und kräftig. Ich fand das auch gut.
Aber die Länder müssen auch zu ihren Verpflichtungen stehen. Kommunale Behörden und Regelungsbehörden in den Ländern sind die Länder selbst und nicht der Bund. Ich warne den Bund davor, sich in dieser Angelegenheit zu tief einzumischen, weil ich glaube, daß wir aus guten Gründen unsere Verfassung so aufgebaut haben, wie sie nun einmal ist.
Aus diesem Grund fordere ich die Länder auf - es scheint ein Umdenken zu geben; ich fordere auch ein Land wie Sachsen-Anhalt dazu auf - umzudenken und die Regelungsnotwendigkeiten, die nur das Land betreffen, vorzunehmen. Wenn eine Gemeinde besonders hoch verschuldet ist und eine andere überhaupt nicht, dann kann der Bund das nicht durch Zuweisungen regeln. Wir würden damit in unzulässiger Weise und grundgesetzwidrig in die Angelegenheiten der Länder eingreifen.
Frau Kollegin, ich weiß, daß es eine Reihe von Gemeinden gibt, die besonders hoch belastet sind. Aber ich kann mich doch dem Chor derer nicht anschließen, die so tun, als ob die sogenannten kommunalen Altschulden jede betroffene Gemeinde umbringen würden. Sie wie ich kennen aus unseren jeweiligen Bundesländern Gemeinden, die das, was sie vom Bund erhalten haben, längst weiterverkauft und damit zum Teil einen ganz beachtlichen Profit erzielt haben. Ich könnte Ihnen vertraulich auch die Beispiele nennen, damit Sie das wissen.
({2})
- Ja, das mache ich gern. Darüber können wir uns noch einmal unterhalten.
Ich will nur sagen: Es schreien hier nicht diejenigen, die positiv betroffen sind, sondern nur diejenigen, die negativ betroffen sind. Aber es gibt beide. Deshalb, glaube ich, ist eine Regelungsnotwendigkeit gegeben. Dieser Notwendigkeit sollten sich die Länder stellen.
Meine Damen und Herren, denken Sie um, denken Sie auch an die Bundesfinanzen. Ein letzter Satz: Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß Frau Matthäus-Maier den Zustand der Bundesfinanzen beklagt und gleichzeitig ihre Fraktion zusätzliche Lasten für den Bund fordert,
({3})
die der Bund meines Erachtens nicht tragen muß. Diesen Widerspruch sollten Sie den Bürgern nicht zumuten. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig.
Herr Kollege Kriedner, Sie haben soeben die Pöbelei - so will ich das nennen - von Herrn Schöler zu Recht zurückgewiesen. Solange wie ich diesem Haus angehöre, erlebe ich ständig und wiederholt wirklich äußerst unangenehme Pöbeleien gegenüber den Kolleginnen und Kollegen von der PDS, und zwar systematische.
({0})
Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mit derselben Entschiedenheit, mit der Sie für sich eingetreten sind - das erwarte ich auch von den anderen Kollegen der CDU-Fraktion -, auch dafür eintreten, daß diese Art von Pöbeleien endlich aufhören.
({1})
Ich denke, es ist höchste Zeit.
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Herr Kollege Kriedner, möchten sie darauf erwidern?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann dazu wenig sagen. Ich verurteile jede Pöbelei in diesem Haus, jede, egal gegen welches einzelne Mitglied in diesem Haus sie sich richtet.
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Das Wort für die Bundesregierung hat Herr Minister Töpfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute hier mit Recht sehr intensiv über das Altschuldenhilfe-Gesetz gesprochen worden. Wer sich die Bedeutung dieses Gesetzes klarmacht, kann über die damit verbundenen auch emotionalen Argumente nicht hinwegsehen.
Obwohl ich - lassen Sie mich das hinzufügen - glaube, daß man, wenn man sehr, sehr wohlwollend ist, an vielen Stellen davon ausgehen kann, daß aus Unkenntnis falsch gesprochen wird, so wird in manchen Bereichen wirklich aus Kenntnis falsch gesprochen. Ich muß das wirklich einmal so ganz deutlich und klar sagen.
Worum handelt es sich denn beim Altschuldenhilfe-Gesetz? - Da sind mit der Zustimmung aller im Rahmen des föderalen Konsolidierungsprogramms Schulden der Wohnungswirtschaft in Höhe von 29,3 Milliarden DM in den Altschuldenhilfefonds übernommen worden.
({0})
Es sind darüber hinaus 5,4 Milliarden DM Zinshilfen in den Erblastentilgungsfonds übernommen worden. Das ist eine, wie ich meine, faszinierende und großartige Maßnahme, die die Kredit- und Handlungsfähigkeit der Wohnungswirtschaft in den neuen Ländern überhaupt erst hergestellt hat. Das ist doch der Hintergrund.
({1})
Meine Damen und Herren, das Ergebnis besteht darin, daß die Fremdkapitalbelastung in der Wohnungswirtschaft der neuen Bundesländer auf 150 DM pro Quadratmeter zurückgeführt worden ist. Jeder, der sich in der Wohnungswirtschaft etwas auskennt, muß doch sagen: Suchen Sie bitte einmal im Westen Wohnungsunternehmen, die ihr Unternehmen mit
Fremdkapital von 150 DM pro Quadratmeter führen können.
({2})
- Ich komme ja sofort darauf.
Ich weiß natürlich, daß andere dafür gesorgt haben, daß diese Wohnungsbestände beste Beispiele für den Satz „Ruinen schaffen ohne Waffen" sind. Das ist wahr.
({3}) Also, es sind andere Bestände als die im Westen.
Um dort zu helfen, um die Maßnahmen der Sanierung und Modernisierung voranzubringen, ist in der Zwischenzeit ein 60-Milliarden-DM-Programm aufgelegt worden.
({4})
- Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, nicht für irgendwelche Spekulanten des Westens. Wahrscheinlich denken Sie, wenn Sie Wirtschaft hören, immer nur an Spekulanten. Versuchen Sie doch einmal, dieses Brett aus Ihrem Kopf herauszuziehen und zu verstehen, daß es in einer Marktwirtschaft auch Gewinne geben muß, wenn jemand etwas investieren soll. Das wäre doch faszinierend.
Diese Mittel sind eben nicht Spekulanten zugute gekommen, sondern diese 60 Milliarden DM, die Haushaltsmittel von rund 14 Milliarden DM erforderlich machen, sind für die Modernisierung der Wohnungswirtschaft, der Wohnungsunternehmen und der Genossenschaften in den neuen Bundesländern und kommen unmittelbar den Menschen dort zugute. Nichts mit Spekulanten, nichts damit! Das sollte man also ein bißchen objektiv darstellen.
Ich unterstelle Ihnen immer noch, daß Sie es besser wissen.
({5})
Um so ärgerlicher ist es, daß Sie es, obwohl Sie es besser wissen, jedesmal, wenn Sie an dieses Pult kommen, umgekehrt darstellen. Ich empfinde das als nicht gut; das finde ich wirklich nicht gut.
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Ich muß Ihnen auch noch sagen - und ich meine, man sollte das insgesamt unterstreichen -: Ja, wir sind der Überzeugung, daß alles getan werden sollte, um die Privatisierung für die Mieter voranzubringen.
Es gab in der ehemaligen DDR einen Eigentumsanteil an Grund und Boden von 22 Prozent. Daher ist es eine Herausforderung, dieses jetzt aufzuarbeiten und durch eine wirklich nachhaltige Privatisierung in Mieterhand dazu beizutragen, daß dieser Anteil ansteigt.
({7})
In der Zwischenzeit sind wir bei 26 Prozent. Das ist immer noch viel zu wenig.
Damit wir da vorankommen, Frau Eichstädt-Bohlig, haben wir keine Zwangsprivatisierung durchgeführt. Man achte immer auf Begriffe; denn mit Begriffen, meine Damen und Herren, werden viel mehr Emotionen ausgelöst, als jeder von uns glaubt. Diejenigen, die diese Emotionen auslösen, müssen sich fragen, ob sie hinterher in der Lage sind, die damit verbundenen Ängste und Sorgen von Menschen wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.
({8}) Auch Sie müssen sich das einmal fragen.
Was haben wir getan? Wir haben gesagt: Wenn diese Entlastung auf 150 DM Fremdkapital pro Quadratmeter vorgenommen wird, dann haben wir auch die Möglichkeit, 15 Prozent der Bestände zu privatisieren. Hochverehrte Frau Kollegin Gleicke, wenn man 15 Prozent privatisiert, werden 85 Prozent davon nicht betroffen.
({9})
Jetzt gehen wir einmal diesen Weg ein Stückchen weiter, in aller Ruhe, in aller Sachlichkeit. Da muß man sich fragen: Gibt es objektive Probleme, die Mieter jetzt daran hindern, diese Wohnungen zu kaufen? Eines dieser objektiven Probleme ist das Einkommen, ein anderes die Struktur derer, die dort wohnen. Da gibt es ältere Menschen; da gibt es Menschen, die auch mit Privateigentum noch nicht umzugehen gelernt haben, sage ich einmal ganz schlicht;
({10})
da gibt es Arbeitslose. Dabei muß man sich fragen, ob diese gerade die 15 Prozent ausmachen. Das ist die erste Frage.
Die zweite Frage ist, ob wir alles darangesetzt haben, um denen zu helfen, die kaufen wollen.
Es wird überhaupt nicht gesagt, daß wir in der Zwischenzeit 320 Millionen DM Bundesmittel eingesetzt haben, um Erwerbern Zuschüsse zu zahlen. Glücklicherweise haben auch die Länder dies weiter unterstützt. Da ist also geholfen worden.
Heute wurde auch nicht einmal darauf hingewiesen, daß wir gemeinsam mit der SPD, Herr Kollege Großmann, eine neue Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums vorgenommen haben, so daß jede Familie mit zwei Kindern - ich nenne dieses Beispiel - bei dem Kauf aus den Beständen 44 000 DM Zuschuß bekommt. Das muß man doch einmal hervorheben, damit die Menschen es hören und dann möglicherweise sagen: Wenn das möglich ist, dann kaufe ich meine Wohnung auch.
({11})
Manchmal kommt mir das wirklich so vor - ich wundere mich auch darüber -, als wenn jemand mit dem Wasserschlauch im Garten steht, um seine Rosen zu begießen, und sich darüber ärgert, daß kein Wasser vorn aus dem Schlauch kommt, aber gar nicht merkt, daß er selber mit dem Fuß auf dem Schlauch steht.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herzlich gern, Herr Kollege Großmann.
Herr Großmann, bitte.
Herr Minister, können Sie nachvollziehen, daß ich heute abend in den Bundestag gekommen bin, um von Ihnen zu hören, was Sie zu unserem Antrag zu sagen haben, Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Dazu komme ich sofort, Herr Kollege.
- das heißt, zu der Frage, ob Sie bereit sind, ganz spezielle Probleme in dem Altschuldenhilfe-Gesetz - wir stellen ja gar nicht das Gesetz insgesamt in Frage -, die seit Monaten, seit Jahren ungelöst sind, auf die Sie vor zehn Tagen noch die ostdeutschen Bundesminister hingewiesen haben und auf die Sie die Wohnungswirtschaft hingewiesen hat, zu lösen, indem Sie ein paar Ecken und Kanten aus diesem Gesetz herausnehmen, die betreffenden Teile novellieren, dafür sorgen, daß der Erlösabfuhrdruck weggenommen wird, daß wir eine lineare Erlösabfuhr bekommen, daß wir eine wirklich mieternahe Privatisierung bekommen statt einer Privatisierung, die in völlig dunkle Kanäle geht, und daß das KfW-Programm, das auch wir begrüßen, weitergeführt wird, wobei, wenn ich Gespräche aus dem Kanzleramt mit anderen Kanzleichefs der neuen Bundesländer richtig verstanden habe, die Bundesregierung dieses Programm nach 1997 nicht fortführen will?
Recht herzlichen Dank, Herr Kollege Großmann, für die Frage.
Es ist aber doch so: Ich sitze eine Stunde hier und höre mir die Ausführungen an. Sie müssen doch verstehen, daß ich in meinem eigenen Debattenbeitrag dann zunächst einmal auf das eingehe, was ich in den Beiträgen der Vorredner als unrichtig ansehe, und daß ich das korrigiere. Das ist doch das erste, was ich machen muß.
({0})
Andernfalls kommt jemand, der das hier mitverfolgt, womöglich sogar auf die Idee zu glauben, daß
das, was bisher hier gesagt worden ist, tatsächlich stimmt.
({1})
Darum habe ich mich also zunächst einmal gekümmert.
Jetzt komme ich auch gern auf das Gesetz zu sprechen. Ich trage Ihnen dazu ein Zitat vor:
Der Bund wird aufgefordert, seine bisher restriktive Gesetzesinterpretation insbesondere bei der Erfüllung der Privatisierungspflichten aufzugeben. Es sollen Veräußerungen an neugebildete Genossenschaften bisheriger Mieter, Käufe von Häusern durch Mietergemeinschaften sowie Zwischenerwerbermodelle ebenfalls als anerkennungsfähige Privatisierungen akzeptiert werden.
({2})
Ich sage Ihnen jetzt auch, woher dieses Zitat stammt. Das stammt aus meiner ersten Begegnung mit dem Thema der Altsschuldenhilfe. Das war ein Zitat aus dem Protokoll der ARGEBau-Sitzung am 1. und 2. Dezember 1994. Die ARGEBau hat den Bund damals aufgefordert, seine restriktive Haltung aufzugeben. Jetzt tun wir das; aber wir bekommen permanent den Vorwurf, daß wir Zwischenerwerber zulassen wollen. Das kann doch nicht richtig sein.
({3})
- Warten Sie doch einmal ab!
Also haben wir uns gesagt: Wir müssen Zwischenerwerber und mieternahe Genossenschaften zulassen. - Beides tun wir.
Dann sehen wir, was ja nachvollziehbar ist: Ein Zwischenerwerber wird dies nur tun, wenn er auch die Möglichkeit hat, die Segnungen des Sondergebietsgesetzes zu nutzen. Deswegen sind wir in den Lenkungsausschuß gegangen und haben gesagt: Können wir dann, wenn durch die Beratung hier festgestellt wird, daß eine Privatisierung von den Mietern gegenwärtig nicht gewünscht wird, nicht eine Aufteilung im Verhältnis von 40 Prozent zu 60 Prozent vornehmen, und zwar so, daß 60 Prozent ins Anlagevermögen genommen werden und deswegen dem Sondergebietsgesetz und den Abschreibungsmöglichkeiten unterliegen. Was ist denn dagegen zu sagen?
({4})
- Ich habe genau zugehört. Ich erkläre Ihnen ja nur, warum wir das so machen.
Dann muß ich mich natürlich auch fragen, ob es weitere objektive Probleme gibt.
Eines dieser objektiven Probleme ist folgendes: Es gibt viele Wohnungsgenossenschaften und Wohnungsgesellschaften, die Bestände haben, bei denen die Grundstücke noch nicht zugeordnet sind. Sie können diese nicht privatisieren, weil sie noch gar nicht die im Gesetz geforderte Voraussetzung für die Eigentumsumschreibung erfüllen können. Hierzu sage ich Ihnen: Darüber, Herr Kollege Großmann, werden wir zu entscheiden haben. Ich kann nicht einer Wohnungsgenossenschaft etwas anlasten, was sie objektiv jetzt nicht leisten kann. Damit kommen wir schon ein Stück in die Richtung, die Sie angedacht haben. Ich bin doch gern bereit, darüber zu diskutieren. Wenn mir vorher schon einmal eine solche Diskussion sachlich vorgetragen worden wäre, wären wir doch ein ganzes Stück weitergekommen.
Deswegen noch einmal: Die Bundesregierung hält nachhaltig an ihrem Ziel der Mieterprivatisierung fest. Sie wird alles daransetzen, gleichzeitig die Liquiditätsprobleme der Wohnungswirtschaft, wo immer dies möglich ist, abzubauen, indem sie auch mieternahe Privatisierungsformen fördert. Ich hoffe, daß wir die gegenwärtigen Arbeiten an dem Merkblatt über eigentumsorientierte Genossenschaften und deren Gründung im Lenkungsausschuß gemeinsam verabschieden können und daß wir dies auch als Erfolg unserer gemeinsam beschlossenen Förderung solcher Genossenschaften beim Eigentum-ZulagenGesetz hier umsetzen können. Das sind doch nun wirklich vernünftige Weiterentwicklungen einer schwierigen Materie. Wir alle täten besser daran, wenn wir nicht immer nur sagten, der andere habe die Zeit verschlafen oder verstehe die Materie nicht, sondern wenn wir uns darüber unterhielten, wo wir auf diesem Gebiet auch für die Menschen in den neuen Bundesländern Besseres erreichen können.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3895 und 13/2501 sowie 13/4077 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/4081 soll an dieselben Ausschüsse wie der Bericht der Bundesregierung überwiesen werden.
Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Regelung der kommunalen Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen - das ist die Drucksache 13/4098 - soll zur federführenden Beratung dem Haushaltsausschuß und zur Mitberatung dem Innenausschuß sowie dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung der Altschulden auf gesellschaftliche Einrichtungen auf Drucksache 13/4115 soll zur federführenden Beratung dem Haushaltsausschuß und zur Mitberatung dem Innenausschuß und dem Rechtsausschuß überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Schulz ({0}), Marieluise Beck ({1}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Krise der Bremer Vulkan und Zukunft der maritimen Industrie
- Drucksache 13/3975 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({2}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß
ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Sofortige politische Konsequenzen aus dem Umgang mit Subventionsmitteln beim Bremer Vulkan-Verbund
- Drucksache 13/4079 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({3}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß
Vereinbart ist für die Aussprache eine halbe Stunde, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist noch nicht sehr lange her, daß wir in diesem Haus über den Zusammenbruch des VulkanVerbundes diskutiert haben, und die Situation vor Ort hat sich auch nur wenig entspannt. Sowohl in Mecklenburg-Vorpommern als auch in Bremen, in Hamburg und Schleswig-Holstein sind die Unruhe und die Unsicherheit darüber, wie es mit der Küstenregion weitergehen wird, nach wie vor extrem groß. Die Menschen sind zutiefst besorgt - zu Recht, weil sich Perspektiven bisher noch nicht aufgetan haben. Bisher ist lediglich - mehr konnte vielleicht im Augenblick auch nicht erreicht werden - über Liquiditätssicherung im ersten Durchgang das Weiterarbeiten an den Werftstandorten ermöglicht worden.
Die drängende Frage, wie die Zukunft der Küste aussieht, bleibt weiterhin im Raum. Es ist ganz eindeutig - das hat auch die Tagung der Ministerpräsidenten gestern noch einmal ergeben -, daß die Länder objektiv überfordert sind, wenn sie das, was jetzt an Unterstützung notwendig ist, um noch irgend etwas Neues aus diesem Verbund entstehen zu lassen, wirklich auf eigene Rechnung leisten wollen und sollen.
Es geht darum, die Bundesregierung noch einmal daran zu erinnern, daß zur Standortpolitik gehört, daß sie die maritime Technologie, den Schiffbau und alles, was als Folge daranhängt, zu ihrer Aufgabe erklärt und diese Aufgabe nicht wie eine heiße Kartoffel an die Länder weiterreicht, weil deren finanzielle Möglichkeiten für eine solche Politik nicht ausreichen.
({0})
- Wie bitte? Ich habe es akustisch nicht verstanden. Vielleicht können Sie eine Zwischenfrage stellen.
Die Konturen, wie es weitergehen wird, zeichnen sich erst sehr langsam ab. Es ist wohl ziemlich eindeutig, daß sich die Ostteile des Verbundes zunächst einmal auf eigene Füße stellen werden. Es bleibt aber natürlich auch für sie die Frage, woher die Investitionsmittel kommen sollen, um die Modernisierung, um den weiteren Ausbau zu finanzieren. Hier muß der Bund ganz massiv unterstützen, damit - wir haben heute morgen darüber diskutiert, daß das sehr schwierig sein wird - bei der EU überhaupt noch einmal durchgesetzt werden kann, daß erneut Beihilfen für die Ostwerften gewährt werden.
Sehr schwierig wird dabei sein, in einem zweiten Schritt, auch wenn der Verbund jetzt erst einmal ökonomisch getrennt wird, wieder ein Kooperationsmodell für den Osten und den Westen zu schaffen. Auch wenn der Ärger im Osten über das, was durch Westpolitik, durch Politik von Westkonzernen über sie gekommen ist, im Augenblick verständlicherweise groß ist, bleibt eine Kooperation auch für die Oststandorte unabdingbar, weil es Synergieeffekte gibt, von denen die Ostwerften profitieren.
Die zweite Aufgabe, vor der das Parlament steht, ist, sehr deutlich der Frage nachzugehen, welche Lücken es bei der Subventionskontrolle gegeben hat und wie es passieren konnte, daß Fördermittel - um es einmal vorsichtig auszudrücken - so umgeleitet werden konnten, wie es geschehen ist.
Das sind Fragen, die sich auch die Bundesregierung stellen lassen muß. Das sind Fragen, die sich an die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben richten. Wenn wir, gerade auch im OstWest-Verhältnis, Schaden abwenden wollen, muß alles getan werden, um nicht eine politische Schlammschlacht zu führen, aus der jeder, dem es gefällt, Honig saugt. Es muß nachdrücklich für Aufklärung gesorgt werden, damit im Osten nicht das Gefühl übrig bleibt, daß es niemanden interessiert, wenn unsere Gelder im Westen versacken. Es dient der politischen Kultur und auch dem Frieden zwischen dem Osten und dem Westen, wenn man dem Verbleib der Gelder mit allem Nachdruck nachgeht.
Dies sind im wesentlichen die Punkte, die in unserem Antrag enthalten sind. Wir gehen nicht so weit wie Sie und sagen nicht, daß man jetzt einen Untersuchungsausschuß braucht. Aber die Aufklärung
Marieluise Beck ({1})
wirklich ernsthaft voranzutreiben ist für die politische Hygiene in diesem Land sehr wichtig.
({2})
Das Wort hat Kollege Michael Teiser, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zu den beiden Anträgen, die vorliegen, in der mir zur Verfügung stehenden Zeit Stellung nehme, lassen Sie mich zwei Dinge herausgreifen, die in der heutigen Debatte für mich sehr wichtig sind.
Wenn ich eine kurze Rückschau auf die Debatte der letzten Woche und auch auf die Fragestunde, die wir gestern durchgeführt haben, halte, dann stelle ich fest, daß die Intention immer gewesen ist: Wie kann ich von seiten der Opposition nachweisen, daß schuldhaftes Verhalten bei der BVS und damit - konstruiert - schuldhaftes Verhalten bei der Bundesregierung vorliegt? Nach dem, was wir durch die Berichte, die uns von der BVS vorliegen, durch die Ergebnisse der Fragestunde und die Stellungnahmen der Bundesregierung wissen, empfinde ich es - an die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und die Gruppe der PDS gerichtet - als eine schlichte Unverschämtheit, daß Sie heute in Ihren Anträgen wieder wahrheitswidrige Behauptungen aufstellen, die schuldhaftes Verhalten der BVS oder der Bundesregierung unterstellen, ohne daß Sie auch nur im Ansatz deutlich machen, woher Sie diese Schuldzuweisungen nehmen oder womit Sie sie untermauern können. Meine Damen und Herren, ich weise das ausdrücklich zurück.
({0})
Weil das so ist, liebe Kollegin Beck, müssen Sie sich letztendlich fragen lassen, was Sie mit diesem Antrag eigentlich bezwecken. Ich sage Ihnen: Wer diesen Antrag so stellt und dann so begründet - Sie sind ja in Ihrer Begründung von dem abgewichen, was Sie hier in den Antrag hineingeschrieben haben -, muß sich fragen lassen, ob es ihm tatsächlich um die Sache und die Betroffenen geht oder ob er hier auf Grund seines Verhältnisses zur Bundesregierung und aus seiner Oppositionsrolle heraus eigentlich nur versucht, sein politisches Süppchen zu kochen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich will zu den Anträgen kurz Stellung nehmen. Liebe Kollegin Beck, Sie haben Ihren Antrag überschrieben mit: „Krise der Bremer Vulkan und Zukunft der maritimen Industrie". Wenn das alles ist, was Sie zur maritimen Industrie in Deutschland zu sagen haben, dann nehmen Sie sich einmal ein Beispiel an dem, was die Sozialdemokratische Fraktion und die CDU/CSU-Fraktion zu diesem Thema ausgearbeitet hat.
({2})
Das, was Sie hier vorgelegt haben, ist in diesem Punkt mehr als dünn. Was Ihre hektische Reaktion von vorhin anbelangt: Sie haben ja soeben in Ihrem Beitrag die Forderung gestellt, man müsse der Frage nachgehen, ob es möglicherweise irgendwo ein Verschulden gebe. In Ihrem Antrag schreiben Sie:
Es wirft ein Licht auf die mangelhafte Kontrolle von Treuhand-Geldern durch die Bundesregierung.
Dies ist eine Behauptung, die Sie aufstellen und von der Sie sicherlich nicht erwarten, daß wir Sie hier so beschließen.
Sie haben auch ein bißchen Lyrik in Ihren Antrag hineingebracht und sind auf das Thema des Tankerbaus übergegangen. Sie haben dann noch ein falsches Beispiel gebracht, indem Sie das aktuelle Tankerunglück angeführt haben. Ich sage Ihnen nur als Hinweis: Selbst bei einer Ausstattung mit einem dreiwandigen Boden wäre dieses Tankerunglück auf Felsboden geschehen. Insofern haben Sie hier das falsche Beispiel gewählt. Es ist in dieser Form nicht zulässig.
Sie fordern dann, daß die Landesregierungen und die Bundesregierung Sanierungskonzepte vorlegen. Ich glaube, auch Ihnen dürfte klar sein: Konzepte vorzulegen ist Aufgabe der Firmen, eventuell noch Aufgabe der Vergleichs- oder Konkursverwalter. Landesregierungen und Bundesregierung können erarbeitete Konzepte politisch begleiten; sie haben aber nicht die Aufgabe, sie zu erstellen.
({3}) Insofern geht Ihr Antrag auch hier ins Leere.
Da wir Ihren Antrag an mehrere Ausschüsse überweisen, möchte ich mich jetzt dem Antrag der PDS zuwenden, die ihn mit der Überschrift „Sofortige politische Konsequenzen aus dem Umgang mit Subventionsmitteln beim Bremer Vulkan-Verbund" versehen hat. Sie haben letztendlich nichts anderes gemacht als eine Zusammenfassung der gestrigen Fragestunde, in der ein Dutzend PDS-Abgeordnete mit vorher schriftlich formulierten Nachfragen versucht haben, sich in diesem Bereich zu profilieren. Sie haben hier ebenfalls Behauptungen aufgestellt. Sie verlangen von uns, von diesem Haus, daß wir beschließen, daß es um den größten Subventionsbetrug in der Geschichte der EU geht. Sie versteigen sich nach der gestrigen Fragestunde, in der die Staatssekretärin Karwatzki ausdrücklich und deutlich zu diesen Punkten Stellung genommen hat, dann zu der Unverschämtheit, wiederum von Irreführung des Parlaments zu sprechen und zu unterstellen, daß unsere Parlamentarische Staatssekretärin dieses Haus bewußt irregeführt hat. Ich weise diesen Vorwurf ausdrücklich und deutlich zurück.
({4})
Ihnen von der PDS geht es um ganz andere Dinge; diese werden an zwei Punkten ganz besonders deutlich. Sie fordern in Ihrem Antrag:
... die Möglichkeiten der betroffenen Belegschaften zur Teilhabe an wichtigen betriebswirtschaftlichen und strukturellen Entscheidungen der Unternehmen zu verbessern.
Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß im Aufsichtsrat des Bremer Vulkan Verbundes nicht nur paritätische Mitbestimmung herrschte, sondern daß durch die besondere Konstellation der Besetzung dieses Aufsichtsrates die Arbeitnehmerseite im Prinzip sogar ein Obergewicht hatte?
({5})
Ich stelle hier einmal in den Raum: Möglicherweise ist dieser Umstand sogar mit ein Grund für diese Katastrophe, weil nämlich nicht das Interesse des Unternehmens im Vordergrund stand, sondern insbesondere das Interesse des Personalstandes und des Betriebsrates
({6})
und dann eventuell auch die Interessen dieses Verbundes vernachlässigt wurden. Das paßt aber nicht in Ihre Denkweise.
({7})
- Sie nehmen es mir fast vorweg, Herr Kollege. Ich wollte darauf nicht anspielen, weil ich diese Debatte in freundlicher Atmosphäre führen möchte.
Wenn Sie hier aber unter anderem schreiben - um bei der Sache zu bleiben ... Vorschläge zu unterbreiten, wie militärische Aufträge für die Vulkan-Werften ...
und dann zur Arbeitsplatzsicherung übergehen, dann müßten Sie mir schon einmal erklären, warum das Ihrer Ansicht nach - die ich im übrigen natürlich nicht teile - nur bei den Vulkan-Werften geschehen sollte. Ich sage hier für mich und aus Bremer Sicht: Genau das Gegenteil ist der Fall. Es müßte vielmehr die Frage aufgeworfen werden, ob nicht deutsche Weilten dadurch benachteiligt werden, daß beispielsweise U-Boote von Frankreich und den USA geliefert werden statt von unseren Werften.
({8})
Denn das würde Arbeitsplätze schaffen. Möglicherweise ist das aber auch für Sie nicht nachvollziehbar.
Die Zeit, Herr Kollege. Sie wollten daran erinnert werden.
Vielen Dank.
Sie haben in Ihrer Begründung all das wiederholt, was Sie schon in der Fragestunde angesprochen haben, und schreiben zum Schluß - hier wird Ihre Intention wieder deutlich; allein die Wortwahl überführt Sie schon -:
Ein Krebsschaden des bundesdeutschen Wirtschaftssystems - das die Beschäftigten als unmittelbar Betroffene .. .
Meine Damen und Herren, allein das verrät Sie schon. Sie akzeptieren nicht, daß es in jedem Wirtschaftssystem auch zu Fehlverhalten einzelner kommen kann. Sie versuchen vielmehr, die These zu verfestigen, daß dies dem hier herrschenden Wirtschaftssystem immanent ist, dem Sie erstens nie vertrauen, das Sie zweitens nicht gewollt haben und das Sie drittens wahrscheinlich lieber wieder abschaffen würden.
({0})
Insofern wäre es mir eigentlich lieber gewesen, wenn wir diesen Antrag gleich hätten ablehnen können. Es ist aber vereinbart worden, beide Anträge an den Wirtschaftsausschuß zu überweisen. Mögen sie dort in der Beratung mit diesen beiden Anträgen glücklich werden!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Christine Lucyga.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Krise um den Bremer Vulkan wird seit drei Wochen intensiv vom Parlament behandelt. Das ist gut und richtig. Nur, das Erwachen kommt spät - hoffentlich nicht zu spät; denn nach unserem aktuellen Kenntnisstand sind Warnsignale wesentlich früher eingegangen und viel zu lange überhört worden.
Wenn wir das Thema jetzt erneut und sehr kurzfristig auf der Tagesordnung haben
({0})
- lassen Sie mich doch weiterreden; ich sage Ihnen nachher alles, was Sie wissen wollen -, dann auch deshalb, weil wir wissen wollen, wie solche Fehler und Versäumnisse in Zukunft vermieden werden können und wie es mit dem deutschen Schiffbau und seinen Zulieferern in Ost und West weitergehen soll.
Wir in Mecklenburg-Vorpommern wollen wissen, wem die zweckentfremdeten Beihilfen zugeflossen sind und wer sie den ostdeutschen Werften, für die sie bestimmt waren, zurückgibt. Wir wollen wissen, wie die Überlegungen bei BVS und Bundesregierung zur Zukunftssicherung der Schiffbaustandorte in Mecklenburg-Vorpommern aussehen.
Um in Zukunft zu verhindern, daß die gleichen Fehler, die im Fall des Bremer Vulkan gemacht wurden, wiederholt werden, müssen wir aufklären, wie es überhaupt dazu kam, daß gewissermaßen unter den Augen von Treuhandanstalt und BVS und damit auch der Bundesregierung derart mit öffentlichen
Geldern in solcher Höhe umgegangen werden konnte.
In diesem Sinne verstehe ich die hier zur Debatte stehenden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und PDS, deren Anliegen sich nicht von den Forderungen der SPD nach Sicherung der maritimen Industrien, nach umfassender Aufklärung der Vorgänge beim Bremer Vulkan und nach der Verantwortung, die Treuhandanstalt, BVS und Bundesregierung dafür tragen, unterscheiden. Diese haben nämlich frühzeitige Warnzeichen allzulange nicht zur Kenntnis genommen.
Die Begründungen, die wir bis jetzt dafür erhalten haben, daß BVS und Bundesregierung nicht früher reagiert haben, können nicht überzeugen. Die gestrige Fragestunde dazu hat mehr Fragen offengelassen als beantwortet, ebenso erste Gespräche in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe beim Wirtschaftsausschuß.
Wir haben aber keine Zeit zu verlieren; denn es geht darum, Schaden abzuwenden. Ohne Klärung dessen, was war, geht dies nicht; denn es gibt viele, und zwar längerfristige Versäumnisse, von denen sich weder Treuhandanstalt noch BVS, noch Bundesregierung so ohne weiteres freimachen können. Damit stehen sie für ihren Teil mit in der Verantwortung.
Daß Bundesregierung und BVS sich nicht ausreichend informiert haben und ihrerseits das Parlament falsch und auch zu spät in Kenntnis gesetzt haben,
({1})
wurde inzwischen festgestellt. Warum allerdings darauf verzichtet wurde, auf die spätestens seit 1993 mit der Auflösung der Hanse Holding erkennbaren Warnzeichen zu reagieren, bleibt mir ein Rätsel und das Geheimnis der BVS. Die hierzu eingegangenen Erklärungen können nicht überzeugen.
Geradezu peinlich aber ist die Schutzbehauptung, die Vertragsgestaltung bei der Privatisierung der ostdeutschen Werften hätte kein effektives Controlling zugelassen, um den einzigen Kaufinteressenten nicht zu verprellen.
Wer so argumentiert, verschweigt, daß es sehr wohl eine Alternative gab: das Sanierungskonzept der DMS.
({2})
Das hätte allerdings bedeutet, daß sich die Treuhandanstalt um jeden Preis von der Strategie der raschen Privatisierung zugunsten einer vorrangigen Sanierung hätte verabschieden müssen.
Politischer Druck, woran auch der damalige Verkehrsminister Krause Anteil hatte, und parteipolitische Machtspiele haben derzeit die Durchsetzung des DMS-Konzeptes verhindert. Die Entscheidung für die Vulkan-Verbundlösung fiel in einer Nachtund-Nebel-Aktion, ohne daß der erfahrene und hochangesehene DMS-Vorstand mit Dr. Krackow an der Spitze überhaupt gefragt oder angehört worden wäre.
({3})
In der gestrigen Fragestunde wurde klar ausgesprochen: Es ging um rasche Privatisierung. Das war vor allem eine politische Entscheidung. So sind die vielzitierten Zwänge bei der Vertragsgestaltung wohl eher der Hast der Privatisierung geschuldet.
Es lohnt sich, den Bericht des Treuhanduntersuchungsausschusses aus der 12. Legislaturperiode zu lesen, der klar belegt: Es gibt nicht nur den einen Fall Vulkan, es gibt viele kleine Vulkane. Jeder Abgeordnete kennt sie zur Genüge aus seiner eigenen Region. Nur, kennt sie auch die Bundesregierung, oder nimmt sie sie zur Kenntnis? Ich habe da so meine Zweifel, die auf Erfahrung beruhen.
({4})
Es muß auch die Frage erlaubt sein, warum der seinerzeit für die Privatisierung der ostdeutschen Werften verantwortliche Staatssekretär im BMF, Grünewald - jetzt bei der BVS in verantwortlicher Position -, sich nicht zu Wort gemeldet hat, als der Verdacht einer zweckwidrigen Verwendung von Treuhandanstaltsgeldern der Ostwerften durch den Bremer Vulkan immer mehr zur Gewißheit wurde. Mir scheint, hier wurde Vogel-Strauß-Politik betrieben, statt rechtzeitig Flagge zu zeigen.
Fragen über Fragen, auf die wir rasch eine Antwort brauchen. Ob die Arbeitsgruppe beim Wirtschaftsausschuß das geeignete Gremium ist, muß sich zeigen. Andernfalls werden wir andere Schritte prüfen. Worauf es aber jetzt vor allem ankommt, das ist rasches Handeln, um den in Bedrängnis geratenen ostdeutschen Werften und den Werften in Bremen zu helfen.
Es geht nicht um Polemik, sondern um konkrete Hilfe. Das bedeutet, daß die den ostdeutschen Werften entzogenen Beihilfen ihrem eigentlichen Zweck zugeführt und ihrem Adressaten zurückgegeben werden; denn nicht sie müssen für den entstandenen Schaden geradestehen, sondern der Verursacher. Dazu müssen sich BVS und Bundesregierung bekennen; denn hier liegt Ihre moralische und politische Verantwortung.
Daß das Vertrauen zu Deutschland in Brüssel durch den Fall Vulkan Schaden genommen hat, ist bedauerlich. Es darf aber nicht dazu führen, daß die ostdeutschen Werften benachteiligt bleiben und die ihnen entzogenen Mittel nicht in voller Höhe bekommen oder sich diese über Kredite beschaffen müßten; denn damit wären sie eindeutig überfordert, und die Zukunft einer ganzen Region bliebe gefährdet.
({5})
Herr Kollege Koppelin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Vorrednerin, ich glaube, Ihre Rede kann man so einfach zu den Akten tun; denn eine Rede, die Sie halten, ohne die Namen Teichmüller oder Hennemann zu erwähnen, gehört einfach so zu den Akten gelegt.
({0})
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann man im Zusammenhang mit der Krise um den Bremer Vulkan auch über die Zukunft der maritimen Wirtschaft sprechen, wie vom Bündnis 90/Die Grünen gefordert. Nur, wir sollten einen Fehler nicht begehen, nämlich die Krise beim Vulkan zu einer Krise beim deutschen Schiffbau zu machen oder sie herbeizureden. Das ist nämlich nicht der Fall.
Es gibt viele Unternehmen und Werften im Schiffbau, die vernünftig wirtschaften und nicht in Schwierigkeiten sind wie der Bremer Vulkan. Ich bin gerne bereit, Ihnen alle Namen zu nennen, Herr Kollege Gysi.
Wir Freien Demokraten halten eine Diskussion um die Zukunft der maritimen Wirtschaft durchaus für angebracht. Deshalb haben wir aus der Koalition heraus in diesen Tagen eine Große Anfrage eingereicht und die Bundesregierung um Beantwortung gebeten. Auf die Diskussion freue ich mich sehr. Wir wollen einmal sehen, wer in diesem Hause wirklich zur maritimen Wirtschaft und zu den Zukunftschancen der Werften steht.
Aber ich bitte noch einmal: Keine Diskussion um den Vulkan, um dann vielleicht noch die Krise der gesamten deutschen Werften herbeizureden! Das in einen Topf zu werfen, paßt einfach nicht.
({1})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bremer Vulkan ist daran gescheitert, daß die Genossen Hennemann und Teichmüller Visionen von einem Riesenschiffbauverbund hatten. Der Bremer Vulkan ist daran gescheitert, daß es keine Visionen, sondern Illusionen waren. Das habe ich bereits in meiner letzten Rede gesagt.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist, so meine ich, mit sehr heißer Nadel gestrickt worden - darauf werde ich gleich einmal eingehen -; denn er hat erhebliche Mängel. Er fordert zum einen die Bundesregierung auf, zusammen mit den Landesregierungen und den Hausbanken ein Sanierungskonzept für den Bremer Vulkan vorzulegen. Da sage ich Ihnen nur: Das ist nicht die Aufgabe der Bundesregierung.
({2})
Ich begrüße jedoch ausdrücklich, daß die Bundesregierung bereit ist - auch Wirtschaftsminister Rexrodt hat es in der Debatte kürzlich gesagt -, zu hellen und alles zu unternehmen, um Arbeitsplätze zu retten. Es ist unser Wille - der ist in der letzten Diskussion, die wir hier geführt haben, deutlich geworden -, daß der Ausbau der ostdeutschen Werften weiter vorangehen muß und daß es dort leistungsfähige Werften geben muß.
Wenn die Grünen jedoch in ihrem Antrag schreiben, es solle auch dafür Sorge getragen werden, daß die westdeutschen Standorte des Vulkan-Verbundes in ihrem Kern erhalten bleiben und modernisiert werden, dann hat man den Eindruck, die Grünen haben sich überhaupt nicht mit dem Vulkan und seinem Unternehmen beschäftigt.
Ich nenne einmal ein Beispiel:
({3})
Zum Vulkan gehört auch das wehrtechnische Unternehmen STN. Es wäre mir allerdings neu, Herr Kollege Fischer, daß Bündnis 90/Die Grünen dieses Unternehmen stärken wollen. Ich würde es von seiten der F.D.P. begrüßen. Dann bekennen Sie sich aber auch dazu.
Sie haben auch noch eine weitere Gelegenheit: Morgen tagt der Bewilligungsausschuß, bei dem es um drei Fregatten für die Bundeswehr geht. Ich kann nur sagen: Ich erwarte dann von den Grünen, wenn Sie sich schon dafür aussprechen - das hat nämlich etwas mit Vulkan zu tun -, daß Sie morgen dieser Vorlage zustimmen. Dann haben Sie etwas für die Arbeiter auf der Werft und für den Vulkan getan.
({4})
Die PDS fordert in ihrem Antrag sofortige politische Konsequenzen aus dem Umgang mit Subventionsmitteln beim Bremer Vulkan-Verbund. Wer das fordert, muß natürlich auch bereit sein, über die Ursachen der Schwierigkeiten beim Vulkan zu sprechen.
Dazu habe ich bisher zuwenig gehört. Deswegen erlauben Sie mir einmal mit Genehmigung des Präsidenten ein Zitat, das etwas länger ist. Ich bitte dafür aber um Verständnis. Ich zitiere wörtlich:
Jahrelang wurden mit der Rückendeckung des Vorstandes, Teilen des Aufsichtsrates und des IG Metall-Bezirksleiters Frank Teichmüller Hunderte von Millionen der öffentlichen Hand in die Kassen des Vulkan geleitet ...
Die Ahnungslosigkeit der Bankenvertreter im Aufsichtsrat über die Risiken im Schiffbau wird nur noch überboten durch den Einfluß, den die IG Metall und der Bremer Senat auf die Unternehmenspolitik ausgeübt haben.
Weiter heißt es im Zitat:
Der Vulkan setzte die Politik unter Druck, Geld zu beschaffen, und war gleichzeitig zu einem fatalen Abhängigkeitsverhältnis zur IG Metall im Bündnis mit der Stadtpolitik. Die Behauptung der IG Metall . . ., die Aufsichtsräte hätten zuwenig Einfluß, wird durch den herausragenden Einfluß des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden
Jürgen Koppeln
- Frank Teichmüller auf die Unternehmenspolitik widerlegt. Es ist der Versuch, sich nicht zur maßgeblichen Verantwortung der IG Metall und ihres zuständigen Bezirksleiters zu bekennen.
Weiter heißt es im Zitat:
Das Konzept war im Ergebnis gegen die Werftbelegschaften in Mecklenburg-Vorpommern gerichtet. Es war der Versuch, einen „Gegenkonzern" zu den der IG Metall nicht willfährigen Werften aufzubauen, der so groß ist, daß die Politik ihn stützen mußte.
Das, was ich hier zitiert habe, stammt vom Staatssekretär Alfred Tacke, SPD, in einem Papier an die SPD-Landesregierung in Niedersachsen, im „Spiegel" vor einer Woche nachzulesen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Noch ein Satz: Herr Tacke war übrigens jahrelang DGB-Funktionär. - Nun haben Sie die Möglichkeit zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Koppelin, ich glaube, Sie schlagen den Sack Gewerkschaften oder auch Niedersachsen und meinen damit den Bremer Senat. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich der Bremer Senat seit 1991 trotz einer Beteiligung Bremens an dem Vulkan nicht mehr am Aufsichtsrat beteiligt hat, und zweitens, daß er sich in dieser Legislaturperiode, unter anderem unter Mitwirkung des von Ihrer Partei gestellten Wirtschaftssenators, vollständig von seiner Beteiligung am Vulkan zurückgezogen hat?
Wir wissen, wer beim Bremer Vulkan das Sagen gehabt hat. Die Herrschaften dort kommen mir alle sehr bekannt vor. Die haben fast alle ein und dasselbe Parteibuch.
Ich kann nur, wenn Sie erlauben, einen Rat austeilen: Wenn ich in einem Landesparlament in Bremen oder in Mecklenburg-Vorpommern sitzen würde, hätte ich dort längst einen Untersuchungsausschuß gefordert, um die Mißstände beim Bremer Vulkan aufzudecken. Das ist jedenfalls meine Auffassung dazu.
({0})
Wenn man über die Zukunft des Vulkan redet, meine ich, muß man die Vergangenheit natürlich aufarbeiten. Das machen wir jetzt zum Beispiel im Haushaltsausschuß. Wir haben gestern eine intensive Diskussion auch über die Finanzierung der BVS gehabt.
Lassen Sie mich abschließend zum Thema maritime Wirtschaft und zum Vulkan sagen: Wir werden zukünftig, wenn wir über maritime Wirtschaft sprechen, nicht allein über Handelsschiffbau reden dürfen. Vielmehr müssen wir auch davon reden, daß die Werften in Deutschland nur existieren können, wenn sie auch Marineschiffbau betreiben dürfen. Darin muß der Export mit eingeschlossen sein. Das ist jedenfalls meine Auffassung dazu. Wer über den Bremer Vulkan und über die Werften spricht, sollte ohne Scheu, ohne Scheuklappen und ohne Ideologie über diese Dinge sprechen.
Lassen Sie mich abschließend
({1})
eine Bitte an die Sozialdemokraten äußern. Wir können gemeinsam - dazu sind wir bereit - zum Thema Vulkan noch einiges auf den Weg bringen, damit Arbeitsplätze gesichert und gerettet werden. Nur, was ich diese Woche im „Spiegel" gelesen habe,
({2})
finde ich, schlägt dem Faß den Boden aus:
Friedrich Hennemann, 59, geschaßter, aber mit zwei Millionen Mark Abfindung, einer Sekretärin und einem Dienst-Mercedes für fünf Jahre versehener Vorstandschef des Bremer Vulkan-Verbunds macht Parteikarriere. Der Bremer SPD-Ortsverein Lüssum-Bockhorn wählte den gescheiterten Manager zum Delegierten für Landes- und Unterbezirksparteitage, ohne Gegenstimme bei nur 2 Enthaltungen. Unter den 30 Ortsvereinsgenossen waren auch die ehemalige Arbeits-Senatorin Sabine Uhl und der Betriebsratsvorsitzende der Vulkan-Werft Hasso Kulla. Beide gaben Hennemann ihre Stimme. Uhl: „Warum soll er das auch nicht werden? Er hat politische Weitsicht und kann gut argumentieren."
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- So war es diese Woche im „Spiegel" zu lesen.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, ich denke, das Ding sollten Sie ins reine bringen. Dann sind wir auch weiter bereit, mit Ihnen über das Thema Vulkan und die Sicherung der Arbeitsplätze zu sprechen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
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Das Wort hat der Kollege Rolf Kutzmutz, PDS.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Noch in der vergangenen Woche war das Thema für Herrn Hörster - er sprach hier für die CDU/CSU - nicht wichtig genug, um es überRolf Kutzmutz
haupt auf die Tagesordnung zu setzen. Heute fragt Herr Teiser nach den Zielstellungen. Ich will ganz klar sagen: Es gibt zwei. Die erste ist: Es geht um den Erhalt von Tausenden von Arbeitsplätzen.
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Ich glaube, bei aller Strategie ist es wichtig, das hier zu sagen.
Zweitens geht es um eine Untersuchung, wieso eigentlich 800 und mehr Millionen DM in einem schwarzen Loch verschwinden können, ohne daß einer etwas davon merkt.
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- Ich komme noch zu den Farben; Sie können sicher sein.
Drittens lassen wir uns kein schlechtes Gewissen einreden, weil wir Fragen stellen. Ich habe noch nie erlebt, daß so reagiert wurde wie auf die gestrige Fragestunde. Heute morgen wurde uns dauernd erzählt, mit diesen Fragen würden wir die Werftenstandorte gefährden und wir wollten die Bundesregierung und die BVS nur vorführen. Ich muß sagen: Wer vorgeführt werden will, der zieht sich das Jackett an.
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Ich sage noch etwas: Für die Glaubwürdigkeit unseres Parlaments ist diese Frage wichtig.
Herr Teiser, ich gebe Ihnen zwei Hinweise. Ich bin gern bereit, Ihnen eine Dokumentation der PDS über die Vorgänge um Vulkan und den Werftenverbund zu übergeben.
Ich zitiere einmal folgendes:
„Entgegen den ursprünglichen Zusicherungen von seiten der Bremer Vulkan" seien Gelder der Ostwerften auch im Westen verwendet worden, schrieben die Treuhand-Vorstände Klaus-Peter Wild und Wolf Klinz am 20. Dezember 1993 - „vertraulich" - an Hennemann. Grundsätzliche Einwände „gegen ein derartiges Cash-Management" hatten die Treuhänder aber nicht ... Die Gelder müßten den ostdeutschen Unternehmen auf Anforderung sofort ... zur Verfügung gestellt werden.
Man kann das im „Spiegel" 10/96 nachlesen. Ich führe das nur deshalb an, weil Sie immer nur so tun, als ob die BVS nicht Bescheid wüßte. Wenn sie nicht einmal den „Spiegel" lesen kann, weiß ich nicht, wie sie ihren Kontrollpflichten nachkommt.
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Ich verweise auf den Zwischenbericht der KPMG. Ich sage, weil er vertraulich ist: Lesen Sie ihn sich bitte durch, Herr Koppelin und Herr Teiser, und zwar die Seiten 20 und 21. Dort werden Sie finden, seit wann die Banken wußten, daß dort etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Das ist wichtig zu sagen.
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Die norddeutschen Ministerpräsidenten haben gestern an den Bund appelliert, den wettbewerbsrechtlichen Hilfsrahmen für die Werftindustrie endlich auszuschöpfen, regionale Sonderprogramme aufzulegen. Eine Novellierung des vergangenen Mittwoch vom Bund-Länder-Planungsausschuß beschlossenen 25. Rahmenplanes der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" tut also not. Damit noch ein ganzes Jahr zu warten ist angesichts der Tausenden persönlichen Schicksale nicht einzusehen.
Die Werftarbeiter forderten gestern eine langfristige industriepolitische Strategie zur Absicherung der maritimen Industrie. Für die Entwicklung der Küstenregionen und einer zukunftsfähigen Werftindustrie muß ein Küstenprogramm ausgearbeitet werden, das auch konkrete beschäftigungspolitische Maßnahmen aufweist.
Wenn es noch eines Beweises bedurfte, daß der Aufbau von Zukunftsindustrien nicht dem Markt, dem Management und den Banken allein überlassen werden kann - die Vulkan-Affäre hat ihn erbracht.
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Jetzt, Herr Koppelin, komme ich zu den Farben. Auf einen Aspekt unseres Antrags bezüglich der Veränderungen im Aktiengesetz möchte ich hier noch ausführlich eingehen, verfolgen Sie doch mit Leidenschaft seit zwei Wochen immer wieder den Vulkan-Aufsichtsrat Klaus Teichmüller, Klammer auf: IG Metall, SPD, Klammer zu -, um Ihren Sprachgebrauch aufzugreifen.
Ich frage Sie an dieser Stelle, ob Sie auch mit Ihren Parteifreunden und Kollegen Lambsdorff und Genscher schon einmal darüber geredet haben. Ich frage Sie deshalb, weil meines Wissens Herr Genscher gemeinsam mit Herrn Dr. Joachim Theye ein Anwaltsbüro betreibt. Herr Theye ist langjähriges Aufsichtsratsmitglied des Vulkan-Verbundes.
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Das mag erst seit dem streng vertraulichen KPMG-Zwischenbericht, den ich deshalb hier nicht zitieren werde, möglicherweise ehrenrührig sein. Fragwürdig ist es aber - hören Sie gut zu! -, wenn zum bunten Aufsichtsratsmandatsreigen von Herrn Theye auch die Deutsche Babcock AG gehört, die wiederum unmittelbarer Konkurrent des Vulkan-Verbundes im Bereich Maschinenbau ist.
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Zu fragen ist, ob der Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e. V., Graf Lambsdorff, schon einmal mit seinem Bremer Landesgeschäftsführer Dr. Hans-Jürgen Nölle gesprochen hat - der sitzt nämlich für den e. V. im VulkanAufsichtsrat - oder mit seinem Vizepräsidenten Dr. Gerold Bezzenberger über dessen Erfahrungen mit Dr. Bernd W. Voss, Vorstand der Dresdner Bank.
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Voss und Bezzenberger dürften sich gelegentlich bei Preussag-Aufsichtsratssitzungen sehen. Der
Preussag gehört die HDW Kiel, härtester deutscher Konkurrent der Vulkan. Dr. Bernd Voss sitzt aber zugleich im Aufsichtsrat vom Vulkan!
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Die personellen Verflechtungen ließen sich auch noch zu Thyssen, neben Preussag der andere große deutsche Konkurrent des Vulkan, fortsetzen.
Ich will hier sagen, daß ich keineswegs unterstelle, daß über diese Herren eventuell eine „Marktbereinigung„ betrieben worden sei. Es gibt aber dringenden Bedarf zur Novellierung des Aktiengesetzes, damit sich Manager durch die eben beschriebenen Konstellationen künftig gar nicht erst solchen Verdächtigungen aussetzen müssen;
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denn dem unvoreingenommenen Leser des bewußt vorsichtig formulierten KPMG-Zwischenberichtes drängen sich schon ganz abenteuerlich anmutende Gedanken auf.
Gleiches gilt für die Banken.
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- Es geht nicht um Ihre Großmutter. Sie interessiert mich wenig. Mir geht es darum, daß Sie ständig Herrn Teichmüller zitieren und nicht sehen wollen, in welchem Sumpf Ihre eigenen Parteimitglieder sind,
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und mir geht es darum, nachzuweisen, daß man unterschiedliche Strategien verfolgen kann, wenn man in unterschiedlichen Unternehmen tätig ist. Und in diesem Sinne bin ich auch der Meinung, daß ein Untersuchungsausschuß genau das Richtige ist.
Danke schön.
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Für die Bundesregierung Herr Staatssekretär Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst folgendes sagen: Wenn wir hier über die Vorgänge beim Bremer Vulkan diskutieren, sollten wir dies in verantwortungsbewußter Weise und auch mit Blick in die Zukunft tun. Den betroffenen Arbeitnehmern in Bremen und in Mecklenburg-Vorpommern ist nämlich nicht damit gedient, wenn wir hier extensiv Vergangenheitsbewältigung betreiben und uns gegenseitig Schuld zuweisen. Es geht vielmehr darum, daß hier das Schlimmste verhindert wird; denn unser gemeinsames Ziel muß es sein, möglichst viele Arbeitsplätze an möglichst vielen Standorten zu erhalten.
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind Maßnahmen in drei Bereichen vordringlich.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Bitte, Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, Sie geben mir doch sicher recht, wenn ich sage, daß man aus der Vergangenheit lernen muß. Man muß also sehen, wo Fehler gemacht worden sind, damit nicht in Zukunft solche Fehler gemacht werden, und man muß sehen, wer sie gemacht hat, damit die Betreffenden nicht weiter in Verantwortung bleiben.
Ich gebe Ihnen da durchaus recht, Herr Kollege Koppelin, aber wir stehen ja unter einem gewissen Zeitdruck. Ich sagte, daß es darum geht, das Schlimmste zu verhüten. Danach können wir uns gerne und auch intensiv, extensiv - wie Sie wollen - der Vergangenheitsbewältigung zuwenden. Ich schließe das nicht aus.
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Also, es sind Maßnahmen in drei Bereichen wichtig. Erstens ist das die Sicherstellung der kurzfristigen Liquidität. Hier wurden in den letzten Tagen und Wochen erhebliche Fortschritte erzielt. Nach langwierigen, teilweise äußerst schwierigen Verhandlungen gelang es der Bundesregierung, in Brüssel die Genehmigung für die Fortführung der Bauzeitbürgschaften durchzusetzen. Die BVS ist dabei, den Ostwerften durch einen Grundstücksrückkauf dringend benötigte Mittel zuzuführen. Knapp 50 Millionen DM Investitionszuschuß für MTW liegen noch auf einem Sperrkonto. Wir bemühen uns derzeit intensiv um die Freigabe dieser Mittel durch die Europäische Kommission.
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Die vorläufigen Vergleichsverwalter in Bremen haben ein Massedarlehen beschafft und die Vorfinanzierung des Konkursausfallgeldes gesichert. Durch all diese Maßnahmen haben die Unternehmen des Bremer Vulkan eine Atempause bekommen.
Es geht jetzt zweitens um die Entwicklung langfristig tragfähiger Konzepte für den Konzern und die Tochterunternehmen. Bei den langfristigen Überlegungen können wir die Vulkanstandorte im Westen und die Standorte im Osten aber nicht über einen Kamm scheren; denn - das muß man klar sehen - aus
dem Osten wurden unrechtmäßig Gelder abgezogen. Es wäre keineswegs akzeptabel, wenn deswegen in Mecklenburg-Vorpommern Investitionsruinen stehenblieben.
Vor konkreten Entscheidungen muß allerdings eine saubere Bestandsaufnahme erfolgen, also die Frage beantwortet werden, wie die aktuelle Liquiditätslage ist, wie die Investitionen stehen und welche Strukturen sich langfristig am Markt behaupten können. Wenn in wenigen Wochen die Bestandsaufnahme fertig sein wird, müssen alle Verantwortlichen, die Banken, die Unternehmen, die Länder, auch die BVS und der Bund, gemeinsam die nötigen Schlußfolgerungen ziehen.
Eines kann man heute schon mit großer Wahrscheinlichkeit sagen: An eine Herauslösung der Osttöchter aus dem Vulkan-Verbund wird wohl kein Weg vorbeiführen. Nach den bisherigen Analysen und Gesprächen zeichnet sich ab, daß die Neptun Industrie und wohl auch das Dieselmotorenwerk in Rostock gute Chancen haben, mit neuen Partnern die Zukunft zu meistern.
Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Bitte sehr.
Ich habe zwei Fragen. Die erste: Gibt es für den Fall, daß sich herausstellen sollte, daß die Beihilfen, die für den Osten gedacht sind, wirklich richtig weg sind - wofür auch immer -,
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Überlegungen der Bundesregierung, wie dann der Ersatz für die Weilten im Osten beschafft werden könnte, damit dort keine Investitionsruinen bleiben? Ich frage nur, ob es für diesen Fall Überlegungen gibt. Es kann ja sein, daß man es noch realisieren kann. Aber mir geht es um den Fall, daß es nicht geht.
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- Ja, das hat die Treuhand. Wenn man das dafür nimmt, bitte schön! Ich bin mit dem Vorschlag einverstanden.
Sie haben das Wort für eine Fragestellung, Herr Kollege Gysi, und im Prinzip nur für eine Frage. Aber ich will einmal nett sein und auch die zweite zulassen.
Die zweite Frage bezieht sich darauf, ob Sie angesichts der gesamten Unklarheit nicht auch für einen Untersuchungsausschuß sind, damit wir all diese Fragen klären können.
Herr Kollege Gysi, zum ersten: Es gibt nicht nur Überlegungen der Bundesregierung, sondern es ist ganz klar, wie das geschehen müßte. Wenn wir erneut Beihilfen - das wäre dann ja wohl der Fall - in die Werften in den neuen Bundesländern geben wollten, dann wäre in engem Kontakt mit Brüssel ein neues Verfahren auf den Weg zu bringen; das liegt ganz klar auf der Hand.
Im übrigen: Ob ein Untersuchungsausschuß eingerichtet wird oder nicht, ist nicht Sache der Bundesregierung, sondern wohl dieses Hohen Hauses.
Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Die Situation der beiden Werften ist schwieriger als die von Neptun Industrie und des Dieselmotorenwerkes einzuschätzen. Es wird eine große Kraftanstrengung nötig sein, um diese wieder in sicheres Fahrwasser zu bringen. Dabei wäre es falsch, alleine auf den Bund oder die BVS zu blicken.
Wer die aktuelle Beihilfediskussion in Brüssel nur ansatzweise kennt, der weiß, daß Genehmigungen für neue Subventionen äußerst zurückhaltend gewährt werden - um es vorsichtig auszudrücken. Ich kann Ihnen aber versichern, daß wir im Rahmen des EU-rechtlich Zulässigen alles unternehmen werden, um den Unternehmen in Wismar und Stralsund Perspektiven aufzuzeigen.
Die Entwicklung vernünftiger Zukunftskonzepte für die Vulkan-Betriebe in Bremen ist in allererster Linie Aufgabe - so sehe ich es - des Vorstandes und natürlich der vorläufigen Vergleichsverwalter. Aber die Bundesregierung wird auch dort im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfestellungen leisten, insbesondere soweit beihilferechtliche Fragestellungen angesprochen sind.
Ein dritter Punkt, die Flankierung des unausweichlichen Strukturwandels in den betroffenen Regionen: Unabhängig vom Ausgang des Vergleichsverfahrens sind Arbeitsplatzverluste insbesondere in Bremen und Bremerhaven wohl nicht zu vermeiden. Der Bund wird hier die Bemühungen des Senats um sozialverträgliche Lösungen unterstützen. Das gilt insbesondere für die Anstrengungen zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen.
Der Bundesminister für Wirtschaft ist bereit, einen Antrag Bremens auf ein Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" zu unterstützen und auch zügig dem Planungsausschuß zur Beratung vorzulegen. Daneben stehen natürlich die bekannten arbeitsmarktpolitischen Instrumente des Bundes zur Verfügung.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung wird in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten alles tun, um zur Sicherung bestehender und auch zur Schaffung neuer Arbeitsplätze an allen Vulkan-Standorten beizutragen.
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Ich denke, diese Maxime sollte für alle Verantwortlichen gelten. - Ich freue mich über Ihren Beifall, Herr Kollege Fischer.
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Noch einmal: Hören wir mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen auf, und gehen wir an die Arbeit!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Konrad Kunick, SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen ist in der Presse ein für die Debatte durchaus bemerkenswertes Bild aufgetaucht, nämlich das Bild eines gestrandeten Tankers. Ich will das Bild einmal nehmen und etwas fortführen.
Der Tanker ist also aufgelaufen, Kapitän und Offiziere wurden von der Brücke gespült, und die Notbesatzung funkt SOS. Was machen die auf dem Lande versammelten Retter? Es gibt eine heftige Diskussion darüber, wie groß die Schuld des Kapitäns am Unglück ist. Hat er vielleicht eine falsche nautische Beratung gehabt? Oder konnte das Schiff auf diesem Kurs eigentlich gar nicht aufgelaufen sein?
({0})
Kluge Leute debattieren darüber, man möge es erst zerbrechen lassen, um dann die beiden Teile einzeln zu sichern, an Land oder vielmehr in einen sicheren Hafen zu bringen und dort erneut zusammenzufügen und dabei natürlich zu verändern, damit Fehler, wenn es am Schiff welche gegeben hat, sich nicht wiederholen können.
Solche Debatten finden gegenwärtig statt,
({1})
Debatten über Schuld, statt zunächst einmal die Rettung zu organisieren und dann selbstverständlich die Schuldfragen zu klären.
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- Herr Abgeordneter Koppelin, ich respektiere ja, daß Sie Mitglied und sogar Vorsitzender Ihres Landesverbandes in Schleswig-Holstein sind. Trotzdem könnten Sie Ihre vom Wahlkampf angekratzten Nerven einmal etwas beruhigen und feststellen, daß Sie weder in einem F.D.P.-Ortsverein noch in einem SPD-Ortsverein, sondern im höchsten deutschen Parlament sind,
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und da sind bestimmte Äußerungen ein bißchen auch unter Ihrem Niveau.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Uldall?
Bitte sehr.
Herr Kollege, stimmt die Angabe im Handbuch des Deutschen Bundestages -13. Wahlperiode -, wo unter Kunick, SPD, steht: „Mitglied des Senats der Freien Hansestadt Bremen, Senator für Häfen, Schiffahrt und Verkehr" in den Jahren von 1987 bis 1991?
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Stimmt die Annahme, daß Sie zu der Zeit Senator waren, als der Hauptgesellschafter diese Pleite mit herbeigeführt hat?
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Das stimmt nicht.
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Im übrigen war ich nicht Senator für Schiffbau und Verkehr, sondern für Schiffahrt, und Schiffahrt findet mit bereits gebauten Schiffen statt.
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Meine Damen und Herren, vorrangig muß es uns um die Rettung dieser Industrie gehen. Zunächst muß es uns darum gehen, die Zukunft zu sichern.
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Denn die Aussage, die der Kollege Lambsdorff gern mit sich herumträgt, der deutsche Schiffbau habe keine Zukunft mehr, ist falsch.
Jetzt kommt es auf folgendes an: Erst retten, dann die Schuldfrage stellen und in aller Ruhe diskutieren. Vorwürfe in der Öffentlichkeit sind wahrhaftig schon reichlich erhoben worden, Verdachtsmomente beschäftigen die Staatsanwaltschaft, Beweise aber liegen bisher nicht vor.
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Insofern kann ich auch nicht die kräftigen Rügen der PDS an die Adresse der Bundesregierung und der BVS teilen. Beweise liegen bisher nicht vor.
Man ergeht sich allerdings mächtig in Vorverurteilungen und nutzt dazu den Zwischenbericht, den die BVS zum Gegenstand ihrer Anzeige gemacht hat, der aber von Formulierungen wie „müßte", „wäre", „ob und wann, können wir zur Zeit nicht beurteilen", „die Vermutung besteht" und „Prüfungen des Rechnungswesens haben wir bisher nicht vorgenommen" nur so strotzt.
Für meine Fraktion halte ich fest: Geprüft haben den Vulkan regelmäßig zwei hochrenommierte Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, nämlich die C &L Treuarbeit Deutsche Revision und die renommierte Warth & Klein. Den Berichten dieser Gesellschaften haben sowohl die drei Vertreter der Großbanken im Aufsichtsrat - zwei von der Commerzbank und einer von der Dresdner Bank - als auch die Arbeitnehmer,
auf denen Sie in dem Zusammenhang gern herumtrampeln, vertraut.
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Konnte die BVS nicht auch davon ausgehen, daß die Ostwerften des Verbundes die Interessen ihrer Betriebe im Vorstand der Konzernmutter wahrnehmen, wo sie doch Mitglieder des Gesamtvorstandes waren?
Es geht, meine Damen und Herren, zu schnell mit den Vorverurteilungen. Wenn man sieht, wieviel Vertrauen jetzt in dem vorläufigen Zwischenbericht der KPMG als angeblich letzter Wahrheit zum Gegenstand von Vermutungen und Forderungen gemacht wird, dann kann man den Beteiligten nur zurufen: Wartet erst einmal den Schlußbericht der KPMG ab, und kümmert euch inzwischen lieber um Hilfen für Mecklenburg-Vorpommern und für die Werften an der Weser. Oder - um beim Bilde des gestrandeten Tankers zu bleiben -: Ziehen wir ihn doch erst in den Hafen zur Reparatur und zum Umbau, und beschäftigen wir mit seinem Fall dann das Seeamt.
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Meine Damen und Herren, es geht hier um etwas Wichtigeres. Der Schiffbau geht uns alle an. Der deutsche Schiffbau ist nämlich der schwimmende industrielle Warenkorb aus deutscher Elektronik und deutschem Maschinen- und Anlagenbau. Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und nicht um irgendwelche Sonderprobleme der Küste, die man hier karikieren könnte.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ich gestatte noch eine Zwischenfrage, und dann nehme ich mir die restliche Zeit.
Die Zeit für die Zwischenfrage rechne ich auch nicht an. Aber Sie müssen danach relativ schnell zum Schluß kommen.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß im mitteldeutschen Raum, speziell in Thüringen, im Rahmen des Bremer Vulkan Verbundes Maschinenbaustandorte niedergemacht worden sind, und hätten Sie sich für diese Maschinenbaustandorte auch so eingesetzt wie für die Küste?
Selbstverständlich, Herr Kollege. Das ist ja überhaupt der Ärger in vielen Debatten, in denen es um die Nöte von Regionen geht, daß man die Regionen geschickt gegeneinander ausspielt, um dann nicht zu helfen.
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Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Da Deutschlands Schiffbau auf Kostensenkung, Rationalisierung und modernste Produktionsformen angewiesen ist, kann die gegenwärtige miserable Konstellation nicht zu der verkürzten Schlußfolgerung genutzt werden, Verbünde seien falsch. Ich erinnere daran, daß Kvaerner in Oslo mit der Warnow-Werft in einem erfolgreichen Produktionsverbund arbeitet, und ich erinnere die Damen und Herren der Regierungsparteien auch daran, daß der bundeseigene Salzgitter-Konzern als Eigentümer der HDW-Werft in Kiel einen Verbund mit derselben bildet.
Herr Kollege Kunick, ich muß Sie daran erinnern, daß ich Sie eben schon einmal gebeten habe, aufzuhören.
Meine Damen und Herren, diese Debatte ist nicht zu Ende. Die Überweisung der Anträge ist der richtige Weg. Es geht um 20 000 Leute und ihre Familien.
Herr Kollege Kunick, so geht das nicht. Ich habe Sie schon zweimal aufgefordert; das können Sie nicht machen.
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Ich schließe jetzt die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3975 und 13/4079 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. März 1996, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.