Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte zunächst eine Erklärung für das Haus verlesen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 8. Dezember 1994 verurteilte das türkische Staatssicherheitsgericht in Ankara acht Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung zu langjährigen Haftstrafen: Levla Zana, Ahmed Türk, Hatip Dicle, Selim Sadak und Orhan Dogan zu je 15 Jahren Haftstrafe, Sedat Yurtas zu siebeneinhalb Jahren, Sirri Sakik und Mahmut Alinak zu je dreieinhalb Jahren. Das Gericht befand die kurdischen Parlamentarier nach §§ 168 und 169 des türkischen Strafgesetzbuches und nach dem Antiterrorgesetz für schuldig, eine bewaffnete Organisation unterstützt oder gebildet zu haben.
Deutsche und Türken verbindet eine traditionelle und lange Freundschaft. Aber gerade deshalb können und wollen wir zu diesen Urteilen nicht schweigen. Nach unserer Auffassung haben sich diese Abgeordneten dafür eingesetzt, die Auseinandersetzung über die Minderheitenrechte der Kurden in der Türkei auf der Grundlage des Dialogs, d. h. gewaltlos, mit rechtsstaatlichen Mitteln zu lösen.
Gemeinsam mit der Türkei haben wir uns auf rechtliche Maßstäbe verpflichtet, die in völkerrechtlichen Abkommen und verbindlichen Übereinkommen der Völkergemeinschaft ihre Grundlage haben. Die Urteile des Staatssicherheitsgerichts widersprechen diesen Maßstäben. Türkische Vertreter saßen noch in der vergangenen Woche am Tisch der Budapester Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die Türkei ist darüber hinaus Mitglied des Europarates und der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Sie ist der Europäischen Union assoziiert und bemüht sich um die volle Mitgliedschaft.
Alle diese Bündnisse und Gemeinschaften sind mehr als nur institutionelle, wirtschaftliche oder soziale Zusammenschlüsse. Sie sind Ausdruck der politischen und moralischen Entschlossenheit der Völker, im Rahmen einer Wertegemeinschaft und auf der Grundlage der Demokratie vor allem die Menschenrechte zu wahren und zu schützen.
Der Deutsche Bundestag hat mit Sorge und Enttäuschung die Urteile des Staatssicherheitsgerichts zur Kenntnis genommen. Wir appellieren eindringlich an die Große Türkische Nationalversammlung, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sich solche Prozesse nicht wiederholen können. Wir appellieren an die Türkei, die Urteile eingehend zu überprüfen und bis dahin die Vollstreckung der Haftstrafen auszusetzen.
In diesem Zusammenhang kommt der Umsetzung der Erklärung von Ministerpräsidentin Çiller besondere Bedeutung zu, die unmittelbar nach der Urteilsverkündung selbst auf das Recht der Angeklagten zur Berufung vor dem Appellationsgericht und auf die weitere Möglichkeit zur Beschwerde bei der Menschenrechtskommission in Straßburg hingewiesen hat. Diese Möglichkeit muß genutzt werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, in dem für den 19. Dezember 1994 einzuberufenden Assoziationsrat der Europäischen Union und der Türkei nicht nur, wie ursprünglich vorgesehen, über die Verabschiedung der Zollunion und des Finanzprotokolls zu beraten, sondern auch über die Lage, die durch die Urteile des Staatssicherheitsgerichts entstanden ist. Wir erinnern an die Erklärung des Vorsitzes der Europäischen Union vom 10. Dezember 1994 in Essen, die von der Türkei eine detaillierte Auskunft über die genauen Gründe für die hohen Haftstrafen gefordert hat.
Wir sind uns im Deutschen Bundestag darin einig, daß sich unser Parlament nach den Beratungen im Assoziationsrat erneut mit der Situation der Kurden in der Türkei befassen wird.
Wir begrüßen es, daß der Bundesminister des Innern in Absprache mit den Innenministern der Länder bis zum 20. Januar 1995 einen Abschiebestopp für Türken kurdischer Volkszugehörigkeit verfügt hat. Der Abschiebestopp soll der Türkei auch signalisieren, daß wir die Menschenrechte und die Ausübung der politischen Rechte dort weiter kritisch beobachten und begleiten werden.
In seiner Entschließung vom 28. April dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag ausführlich zu der Auseinandersetzung über die Minderheitenrechte der Kurden in der Türkei Stellung genommen. Wir haben dabei auch die terroristischen Gewaltakte der PKK
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
verurteilt. Gewalt und Terror sind kein Mittel zur Lösung politischer Konflikte.
Wir bekräftigen heute diese Entschließung. Wir setzen auf die von der türkischen Seite versprochenen Maßnahmen zur Demokratisierung und zum Schutz der Menschenrechte. Wir setzen auf einen konstruktiven Dialog mit der Türkei.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme vor Eintritt in die Haushaltsberatungen noch kurz zu der Mitteilung, daß nach einer interfraktionellen Vereinbarung die verbundene Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Verhinderung der Abschiebung von Flüchtlingen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die dem Kriegsdienst entflohen sind" - Drucksache 13/90 - erweitert werden soll. Der Antrag soll ohne Aussprache im vereinfachten Verfahren an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995 ({1})
- Drucksache 13/50 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998
- Drucksache 12/8001 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft
- Drucksache 13/76 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({2}) Finanzausschuß
Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache acht Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zunächst zu den Geschäftsbereichen Bundeskanzleramt, Auswärtiges Amt, Verteidigung sowie wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erneuerung unserer Kräfte in einem vereinten, handlungsfähigen und bürgernahen Europa - das steht für die Bundesregierung im Zentrum dieser Legislaturperiode. Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Beginn einer einmaligen Kraftanstrengung ist das wiedervereinigte Deutschland in Europa trotz mancher noch ungelöster Probleme politisch und wirtschaftlich wieder ein Hort der Stabilität. Deutschland ist nicht nur die Konjunkturlokomotive in Europa; Deutschland ist zusammen mit Frankreich auch unbestritten einer der Hauptarchitekten der europäischen Einigung.
({0})
Im gesamten Wahlkampf herrschte bei der Opposition in puncto Außenpolitik relatives Schweigen im Walde. Es gab offensichtlich nicht so sehr viel zu kritisieren, was uns ja freuen kann. Jetzt wird die Außenpolitik jedoch plötzlich wiederentdeckt, und es wird insbesondere an der EU-Präsidentschaft herumkritisiert, es wird genörgelt.
Nun läßt sich aber wohl kaum bestreiten, daß Deutschland in den letzten Jahrzehnten außenpolitisch nie in einer so glücklichen Lage war wie jetzt.
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Es läßt sich wohl auch nicht bestreiten, daß das ein Erfolg dieser Koalition und dieser Regierung ist.
({2})
Deutschland ist erstmals in seiner Geschichte nur noch von Freunden umgeben und wie nie zuvor in der Nachkriegszeit ein geachtetes, hochgeachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft.
({3})
Das lassen wir uns nicht kleinkariert zerreden, vor allem auch nicht die positive Bilanz unserer EU-Präsidentschaft und den Erfolg des Europäischen Rates in Essen.
({4})
Hören Sie, was unsere Partner und Freunde dazu sagen, und lesen Sie die ausländische Presse zum Essener Gipfel!
({5})
Niemand bestreitet die deutsche Handschrift bei den Fortschritten, die dort für die wirtschaftliche Erneuerung, das politische Zusammenwachsen und die Handlungsfähigkeit Europas erreicht wurden.
Erstens. Wir haben den Aktionsplan zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung in der Union mit vorzeigbaren Ergebnissen umgesetzt: Das reale Wachstum ist von 0,3 % in 1993 auf 2,6 % in 1994 gestiegen. Die Inflation ist von 3,9 % auf 3,1 % zurückgegangen. Bis September dieses Jahres wurden 500 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, und nach
Schätzungen der Kommission werden es in den nächsten Jahren jeweils 1,5 Millionen sein.
Zweitens. Zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Union wurden die staatlichen Telekommunikationsnetze freigegeben. Multimedia wird einer der Wachstumsmärkte der Zukunft sein. Deutschland hat hier eine ausgezeichnete technische Ausgangsposition zur Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze.
Für Forschung und Entwicklung wurden 20 spezifische Programme mit einem Volumen von 25 Milliarden DM beschlossen.
Mit 14 prioritären Verkehrsprojekten wird jetzt begonnen. Für uns in Deutschland von besonderem Interesse sind die Hochgeschwindigkeitsverbindungen Straßburg-Appenweier-Karlsruhe und über Saarbrücken nach Mannheim sowie Berlin-Prag und Berlin-Warschau.
Drittens. Im sozialen Bereich sind mit der Verabschiedung einer seit 20 Jahren anhängigen Richtlinie die europäischen Betriebsräte endlich Teil des europäischen Standards.
Viertens. Auch für Europol gab es in Essen einen Durchbruch. Bis zum nächsten Rat in Cannes unter französischer Präsidentschaft im Juni 1995 wird es dafür eine verbindliche Rechtsgrundlage geben.
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Bereits vorher wird der Zuständigkeitsbereich der Europol-Drogeneinheit in Den Haag auf Nuklearschmuggel, Schleuserkriminalität und Autoschieberei ausgedehnt. Im Europa der Bürger dürfen mehr Freizügigkeit und Lebenschancen nicht zu Lasten der elementaren Sicherheitsbedürfnisse gehen. Das Europäische Haus darf nicht an den Wünschen und Sorgen, an den Hoffnungen der Bürger vorbeikonstruiert werden.
Fünftens. Der Finanzrahmen der Union bis 1999 wurde nach sehr langer Blockade verabschiedet - ein großer Erfolg für die deutsche Präsidentschaft.
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Sechstens. Die Richtlinie zum Kommunalwahlrecht für alle EU-Bürger an ihrem jeweiligen Wohnort wird noch vor Jahresende verabschiedet werden.
Siebtens. Wir haben zum neugewählten Europäischen Parlament ein sehr gutes Arbeitsverhältnis aufgebaut, und wir werden bis zum Ende unserer Präsidentschaft - der Herr Bundeskanzler und ich haben es gestern vor dem Europäischen Parlament in Straßburg nochmals versprochen - die Fragen, die mit den Untersuchungsausschüssen und der Komitologie zusammenhängen, gelöst haben.
Achtens. In der Außenpolitik haben wir wichtige gemeinsame Aktionen initiiert oder fortgeführt: zur Unterstützung des Nahost-Friedensprozesses, für den die Europäische Union in den Jahren 1994 bis 1998 zweimal 250 Millionen ECU für die Palästinenser zur Verfügung stellen wird; zur Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Nuklearwaffen; zum Stabilitätspakt für Europa. Heute beginnen in Brüssel die Verhandlungen mit den baltischen Staaten über ein Europaabkommen - ein gewaltiger Fortschritt.
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Für die Ukraine, Mazedonien und Albanien wurden Stabilisierungshilfen vereinbart, für Nordirland ein besonderes Maßnahmenpaket. Mit der erfolgreichen Durchführung der SADC- und ASEAN-Konferenz wurde die Grundlage für eine umfassende Kooperation mit diesen Wachstumsregionen Afrikas und im asiatisch-pazifischen Raum gelegt. Wir haben eine gemeinsame Asien- und Lateinamerikastrategie verabschiedet, bei der außerordentliche wirtschaftliche Interessen für uns wie für unsere Partner berührt sind.
Meine Damen und Herren, der Europäische Rat von Essen war ein ganz wichtiger Schnittpunkt der europäischen Einigung. Er hat in einer ganz schwierigen Phase der Europäischen Union den Weg nach vorne gewiesen, und zwar in Richtung neuer Wettbewerbsfähigkeit und vor allem in Richtung des ganzen Europa.
In Essen saßen erstmals die Staats- und Regierungschefs von sechs mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten mit den Fünfzehn am Tisch. Das war für Europa, während unserer Präsidentschaft und durch uns erreicht, eine historische Stunde.
({9})
Ich spreche gar nicht von der überaus herzlichen Atmosphäre dieses Treffens. Die Europäische Union setzte damit ein Zeichen: Die jahrzehntelange Teilung unseres Kontinents geht nun auch wirtschaftlich und vor allem politisch zu Ende.
({10})
Wir haben uns nicht sagen lassen, gerade auch während unserer Präsidentschaft, daß wir uns nur einseitig um die mittel- und osteuropäischen Länder und deren Heranführung an die Europäische Union und schließliche Hineinführung kümmern.
Wir haben ein neues umfassendes Mittelmeerkonzept mit einer unter spanischer Präsidentschaft vorgesehenen Mittelmeerkonferenz entwickelt. Essen hat im wahrsten Sinne des Wortes die Straßenkarte für den Beitritt der MOE-Länder geschaffen. Die wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittenen unserer östlichen Nachbarn werden diesen Schritt in absehbarer Zeit vollziehen. Die Sogwirkung auf die weiteren Kandidaten und ganz Mittel- und Osteuropa wird enorm sein.
Ja, diese „Familienzusammenführung" wird allen viel abverlangen. Die Union hilft in den kommenden fünf Jahren mit jährlich mindestens 1,1 Milliarden ECU auf diesem Weg. Die Eigenanstrengungen der Länder selbst werden jedoch entscheidend sein. Wir haben in Essen wieder die beitrittswilligen Länder aufgefordert, alles zu tun, um den Fortgang von sich aus zu beschleunigen; denn was wir als Europäische Union zur Festigung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen und zur Unumkehrbarkeit dieser Richtung tun können, kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein.
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Ich möchte, wo manches auf dieser Erde so ungeheuer unerfreulich ist, doch drei Punkte erwähnen, bei denen es Fortschritte gegeben hat. Nordirland: eine außerordentlich erfreuliche Entwicklung. Nahost: eine außerordentlich erfreuliche Entwicklung im Friedensprozeß. Und nicht zu vergessen: das südliche Afrika, wo wir auch einen Weg zusammen mit den SADC-Staaten und Südafrika einschlagen können, der doch mehr als erfreulich ist.
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Meine Damen und Herren, der Europäische Rat in Essen war eingebettet in eine Folge von weiteren wichtigen internationalen Konferenzen. Die Bundesregierung hat auf der NATO-Ratssitzung in Brüssel, beim Budapester KSZE-Gipfel wie auch in Essen deutlich gemacht:
Erstens. Der Prozeß des Zusammenwachsens in Europa, der Gestaltung einer neuen Sicherheitsarchitektur nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung ist eine historische Notwendigkeit, die im Interesse aller europäischen Völker liegt.
Zweitens. Europa auf Integrationskurs zu halten bleibt für uns absolut vorrangig, und zwar in beiden Dimensionen: Vertiefung, vor allem auf der Regierungskonferenz 1996, und Erweiterung. Das muß unsere Linie bleiben.
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Drittens. Gerade in einer Zeit ständig neuer Verwerfungen gilt es, die bewährten und soliden Instrumente zu festigen, allen voran die Europäische Union und die NATO, unseren wertvollsten Sicherheitsanker.
Viertens. Ohne das Bündnis und damit das Engagement unserer amerikanischen Freunde auf dem Kontinent kann es kein Vertrauen und keine neue Ordnung geben, die hält.
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Die deutsch-amerikanische Freundschaft bleibt so wie die deutsch-französische ein Eckstein unseres Selbstverständnisses als Deutsche und Europäer. Wir lassen uns auch nicht einreden, daß es im deutschfranzösischen Verhältnis irgendwelche Trübungen gibt, die dazu beitragen könnten, daß nicht mehr das gilt, was bisher gegolten hat, nämlich daß die deutschfranzösische Freundschaft Achse und Motor für Europa und für die weitere Integration bleibt.
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Meine Damen und Herren, Wirtschaft, Politik und militärische Sicherheit lassen sich in einer Gemeinschaft auf Dauer nicht trennen. Deshalb war es richtig, daß nach Abschluß von 21 Abkommen zur Partnerschaft für den Frieden die Außenminister der Allianz am 1. Dezember im Bündnis eine gründliche Prüfung des Wie einer NATO-Erweiterung eingeleitet haben.
Ich möchte von hier aus unseren russischen Partnern sagen: Wir verstehen Besorgnisse, auch innenpolitische Zwänge, aber wir bitten um das Vertrauen, das gerade die Mitgliedstaaten der NATO verdient haben. Vor allem sie sind es doch, die Rußland auf
seinem neuen Weg unterstützen. Die NATO ist Partner Rußlands und nicht Gegner.
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Genau das kommt im Abkommen über die Partnerschaft für den Frieden zum Ausdruck.
Ich fordere deshalb die russische Regierung auf, die im Rahmen des Abkommens über die Partnerschaft für den Frieden getroffenen Vereinbarungen zu akzeptieren und nicht davon auszugehen, daß das Kommuniqué des NATO-Rates in Brüssel in irgendeiner Form geändert wird.
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Das Bündnis will die Trennung Europas überwinden, ohne neue Gräben oder Trennungen an anderer Stelle zu schaffen. Das setzt aber auch auf russischer Seite Vertrauen voraus und die Einsicht: Ein Veto Rußlands gegen die NATO-Erweiterung kann und darf es nicht geben, auch kein Veto Rußlands gegen das, was wir bei der WEU und auch bei der Europäischen Union vorhaben.
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Wir Deutsche waren es, die in all diesen Organisationen und bei all diesen Verhandlungen ganz besonders stark darauf hingewiesen haben, daß wir gut daran tun, Rußland, die große übriggebliebene Dimension aus der früheren Weltmacht, in ganz besonderer Weise zu berücksichtigen, wenn es um die politische und wirtschaftliche Architektur und vor allem um die neue Sicherheitsarchitektur in Europa geht. Dann müssen wir aber auf der anderen Seite auch das Recht haben, Rußland das zu sagen, was ich soeben versucht habe, klar und unmißverständlich auszudrücken.
Vertrauen braucht Zeit; das wissen wir. Dieser Faktor wird eine Rolle spielen. Die Bundesregierung hat die NATO-Erweiterung von Anfang an in einem gewissen Kontext mit der EU-Erweiterung gesehen. In Brüssel ist dies vom Bündnis bestätigt worden - ein weiterer Erfolg für unsere Außenpolitik.
Die enge Zusammenarbeit in der KSZE - oder OSZE, wie diese Organisation in Zukunft heißen wird - muß die Sicherheitspartnerschaft mit der NATO additiv ergänzen. Der Ablauf und die Ergebnisse des KSZE-Gipfels in Budapest waren - daraus will ich überhaupt keinen Hehl machen - nicht befriedigend. Aber es hat Fortschritte gegeben, und die OSZE bleibt ein ganz wichtiges Instrument für die neue Sicherheitsarchitektur.
Diese Organisation wird auch in Zukunft dort keine Rolle spielen können, wo bereits geschossen wird. Aber im Vorfeld, bei der Konfliktvorbeugung, zur Förderung von Menschen- und Minderheitsrechten, bei der Einbindung der GUS-Staaten sowie bei der Abrüstung bleibt sie unentbehrlich.
Das heißt nicht, daß sie die NATO ersetzen oder in irgendeiner Form überwölben könnte. Eine solche Vorstellung ist für uns unrealistisch. Wir wissen, was
wir an der NATO haben. Sie bleibt für uns der Nukleus dieser europäischen Sicherheitsarchitektur.
({19})
({20})
Ich habe mich persönlich sehr darum bemüht, das Zusammenwirken von KSZE und UNO-Sicherheitsrat und damit die Konfliktvorbeugung auf eine neue effektive Grundlage zu stellen. Das ist in Budapest wegen des Einspruchs Armeniens nicht geglückt. Das zeigt die Problematik auf, in einer Organisation von 53 Staaten, im Konsens vorgehen zu müssen.
Unsere Vorstellung, mit den Niederländern zusammen entwickelt, war: KSZE first im KSZE-Gebiet; Befassung mit Konflikten seitens der UNO erst dann, wenn die KSZE mit den Problemen nicht fertig wird. Ich bin zuversichtlich, daß wir uns mit dieser Idee noch durchsetzen werden.
Meine Damen und Herren, Herr Verheugen hat in der letzten Debatte zur Regierungserklärung gesagt: Der Frieden ist die Aufgabe der Politik und nicht des Militärs. - Richtig. Ich glaube, es gibt niemanden in diesem Hause, der sich die Welt nicht so wünschen würde. Wie froh wären wir alle, wenn die Drohung mit diplomatischem Vorgehen genügte. Wir alle wissen aber, daß es leider nicht so ist. Ja, unsere Politik muß versuchen, Konflikten soweit irgendwie möglich vorzubeugen; das versuchen wir auch. Politik ist aber öfter, als ihr lieb sein kann, letztlich auf die Flankierung durch glaubwürdige militärische Optionen angewiesen.
Dieses Problem beherrscht auch die Diskussion über den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. Die Forderung, bis zum letzten UNO-Soldaten zu kämpfen, steht uns Deutschen nicht gut an. Auf der anderen Seite fällt es angesichts des erschütternden täglichen Leidens schwer, der Ohnmacht der UNPROFOR-Truppen, der Blauhelme, zuzuschauen. Es ist bedrükkend zu sehen, wie humanitäre Transporte einfach nicht durchgelassen oder Tanklastzüge im Handstreich übernommen werden. Die UNO-Blauhelme, 20 000 an der Zahl, von unseren Freunden und Partnern gestellt, sind in einer nicht beneidenswerten Lage. Sie müssen täglich mit Gefahr für ihr Leben rechnen, sitzen dabei noch zwischen allen Stühlen und ernten auch Vorwürfe. Die Soldaten unserer Freunde und Partner verdienen Respekt.
({21})
Es sind über 20 000 UNO-Blauhelme; sehr viele haben im Friedenseinsatz ihr Leben gelassen.
Felipe Gonzalez hat uns erzählt, daß er allein beim Einsatz der spanischen Truppen 34 tote Soldaten zu beklagen hat. Uns blieb das erspart. Trotzdem sind wir der Meinung - darin sind wir uns mit unseren Partnern und Freunden einig -, daß die UNPROFOR-Truppen so lange, wie es sicherheitsmäßig vertretbar ist, vor Ort bleiben sollten.
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Ich persönlich bin der Überzeugung, daß der Abzug die Lage der verzweifelten Menschen nur noch verschlimmern würde.
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Meine Damen und Herren, was immer zu Beginn dieses unseligen Konflikts vielleicht militärisch möglich gewesen wäre: In der jetzigen Lage gibt es keine erfolgversprechende Alternative zu der Strategie, die wir gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden in der Kontaktgruppe fahren, nämlich die möglichst baldige Vermittlung eines Waffenstillstandes - dafür ist die UNO zuständig; die Verhandlungen laufen -, parallel dazu alle politischen Bemühungen, die bosnischen Serben zu überzeugen, daß sie sich doch noch dem Friedensplan anschließen - das ist die Aufgabe der Kontaktgruppe, in der wir eine wesentliche Rolle spielen -, und vor allem humanitäre Hilfe gerade vor einem schlimmen Winter.
({24})
Unser deutsches politisches und humanitäres Engagement in diesem Konflikt muß fortgesetzt werden. Wir haben inzwischen mehr als 800 Millionen DM als humanitäre Hilfe zur Verfügung gestellt. Angesichts unserer Teilnahme an der Kontaktgruppe, unseres Engagements in Mostar, der Hilfsflüge, AWACS, der Adria- und Donauüberwachung und der Aufnahme von über 400 000 Flüchtlingen aus diesem Gebiet in der Bundesrepublik - der Bundeskanzler hat es gestern im Europäischen Parlament noch einmal gesagt: das ist mehr als doppelt so viel wie alle anderen Länder Europas zusammen - wird deutlich: Deutschland braucht sich mit seinem Engagement im ehemaligen Jugoslawien nicht zu verstecken.
({25})
Die NATO hat nun auch bei der Bundesregierung angefragt, welchen Beitrag Deutschland zur Absicherung eines eventuellen Abzugs der Soldaten unserer Partner und Freunde leisten könnte. Ob es dazu kommt, wissen wir nicht. Sie wissen, in Amerika ist der Druck auf die Exekutive stark, das Waffenembargo aufzuheben. Unsere europäischen Partner und Freunde, die Truppen vor Ort haben, sind massiv dagegen, weil sie eine Fürsorgepflicht für ihre Soldaten haben und weil sie zusammen mit uns glauben, daß eine Aufhebung des Waffenembargos jetzt - früher vielleicht nicht - wahrscheinlich zu weiteren schlimmen militärischen Handlungen führen würde. Wenn es bei einer eventuellen Abzugsaktion um den Schutz von Soldaten aus eng befreundeten Partnerländern, um das Leben von französischen, britischen, belgischen, niederländischen, kanadischen oder spanischen Blauhelmsoldaten geht, dann sind wir der Meinung, daß wir uns nicht verweigern dürfen
({26})
Die Bundesregierung hat von Anfang an und mit guten Gründen erklärt, daß in das ehemalige Jugoslawien keine Bodentruppen entsandt werden sollten. Nichts darf und sollte geschehen, was die Situation - ich sage es ganz vorsichtig und zurückhaltend, weil ich einen bestimmten Aspekt in der Öffentlichkeit
nicht ansprechen möchte - eher verschlimmern als verbessern würde.
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Im übrigen aber müssen wir für Logistik und sonstige Hilfe offen sein. Ich füge jetzt hinzu - das ist meine Meinung; wir werden es noch in der Bundesregierung besprechen und haben selbstverständlich vor, das im Bundestag, wo es hingehört, zu erörtern, und zwar mit den Fraktionsvorsitzenden, den Parteivorsitzenden -: Das gilt auch für den Rückzug deckende Flugzeugeinsätze.
Meine Damen und Herren, im Zeitalter weltweiter Verflechtung muß Deutschland auch weiter seinen Beitrag zur globalen Zukunftssicherung leisten, wie er von einem führenden Industrieland mit 80 Millionen Einwohnern verlangt wird. Hier geht es weder um milde Gaben noch um den Wunsch, Weltpolizist zu spielen. Nach dem Wegfall der Ost-West-Auseinandersetzung sind als zweite große Weltgeißel die gigantischen Nord-Süd-Probleme übriggeblieben, Armut, Not, Überbevölkerung, Migration, Umweltprobleme. Wir müssen versuchen, mit einer wertorientierten Außenpolitik, über eine Interessenpolitik hinausgehend, unser Engagement auch für diese Bereiche so weit wirken zu lassen, wie es uns finanziell und auch mit sonstigen Mitteln irgendwie möglich ist.
({28})
Die Bundesregierung sagt ja zu mehr Mitverantwortung, aber sie wünscht sich dann auch mehr Mitsprache, und zwar dort, wo die wichtigsten Entscheidungen fallen, in der UNO und auch im Sicherheitsrat. Was die Frage bezüglich des Sicherheitsrates anbelangt, weiß man bei der SPD nie so richtig: Will sie jetzt, oder will sie nicht?
({29})
- Ja, von Ihnen kam ja die erste Idee.
Die Bundesregierung will es ruhig und gelassen, ohne zu drängeln. Das hält ganz offensichtlich in der Zwischenzeit auch eine überaus große Mehrheit in der deutschen Bevölkerung für richtig und notwendig.
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Wir sind jetzt mit übergroßer Mehrheit und Unterstützung für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt worden. Dies spricht auch für das große Vertrauen, das die Staatengemeinschaft und besonders die Länder der Dritten Welt unserer Politik entgegenbringen. Daran muß sich auch ein wenig die Behauptung der Opposition messen lassen, die Bundesregierung vernachlässige den Nord-SüdDialog. Unsere Partner in der Dritten Welt kennen die Fakten etwas besser und sind uns jedenfalls für unser
Engagement - ich erlebe es ja immer wieder - sehr, sehr dankbar.
({31})
Frieden und Entwicklung sind auf Dauer selbstverständlich nicht ohne Achtung der Menschenrechte möglich. Wir sagen das auch gegenüber einem traditionell befreundeten Partner wie der Türkei. Die Umstände der Verurteilung der kurdischen Abgeordneten sprachen europäischem rechtsstaatlichen Denken Hohn.
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Die Bundesregierung stellt sich voll hinter die Erklärung, die Sie, Frau Präsidentin, eben im Namen des Deutschen Bundestages verlesen haben. Es ist ein Abschiebestopp für Kurden verfügt worden. Die Europäische Union wird diese in unseren Augen wirklich gravierende Menschenrechtsverletzung nicht nur in Ankara, sondern selbstverständlich auch - wie Sie es vorgeschlagen haben; es war vorher schon vorgesehen - bei der Tagung des Assoziationsrates am 19. Dezember zur Sprache bringen. Ich darf darauf hinweisen, daß es sehr, sehr schwierig werden wird, diese Tagung des Assoziationsrates überhaupt zustande zu bekommen und sie positiv abzuschließen. Ich füge hinzu und wende mich dabei an die türkische Adresse: Wenn die Türkei nach Europa will, dann darf sie all dem, wofür Europa steht, nicht die kalte Schulter zeigen.
({33})
In unserem Land leben an die 2 Millionen Türken als geschätzte Mitbürger. Wir wollen sie als Freunde und Partner, und wir sind uns der großen politischstrategischen Bedeutung der Türkei wohl bewußt. Aber ich füge hinzu: Wir wollen der Türkei, der wir seit Jahrzehnten eng verbunden sind, in schwierigster Zeit aus freundschaftlicher Gesinnung heraus helfen, soweit es nur irgend möglich ist. Aber die Türkei muß dazu natürlich auch ihren eigenen Beitrag leisten.
({34})
Meine Damen und Herren, als 80-Millionen-Volk in der Mitte Europas tragen wir, ob wir das nun wollen oder nicht, eine besondere Verantwortung für das Gelingen des europäischen Bauwerks. Nur wenn Deutschland sein volles Gewicht in die Waagschale einer gemeinsamen europäischen Zukunft legt, ist dem Nationalismus auf unserem Kontinent auf Dauer ein Riegel vorgeschoben.
({35})
Mit der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Union haben wir klare Auskunft auf das „Quo vadis, Germania?" gegeben. Deutschland sieht seine Zukunft in der Familie mit dem Namen Europa. In Brüssel, in Budapest und in Essen haben wir zu ihrem Wohl nach Kräften beigetragen.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Situation bei der Einbringung des Haushaltes vor der Bundestagswahl betrachtet und die Debatte bis hierhin verfolgt hat, der wird einen erheblichen Unterschied feststellen. Es hat sich etwas erkennbar verändert. Die Koalition ist nicht nur deutlich schwächer geworden, sondern der Koalitionspartner leidet auch an selbst erzeugter Schwindsucht.
({0})
Wenn ich nun die Bemühungen betrachte, Herrn Kinkel wenigstens etwas Angenehmeres als Parteitage zu verschaffen, dann habe ich den Eindruck: Das ist auch nicht besonders gut gelungen.
Wenn ich mir die Reden vergegenwärtige, die der Herr Bundesfinanzminister bei der ersten Einbringung dieses Haushaltes und bei der zweiten Einbringung gehalten hat, dann wird erkennbar, daß mittlerweile ein Stück Realitätssinn in diese Koalition eingekehrt ist, jedenfalls insofern, als sie erkennbar weiß, daß sie in zentralen Fragestellungen nicht nur die Kooperation mit der parlamentarischen Opposition braucht, sondern sich auch mit bestimmten Vorhaben nicht durchsetzen können wird. Das ist auch außerordentlich gut so.
({1})
Wenn dieser Zustand im Zusammenhang mit dem angeblich hohen internationalen Ansehen der Bundesregierung ein wenig bemäntelt wird, ({2})
dann fallen mir dazu ein paar Fragen ein; denn wenn es um mehr geht als um wohlfeile Worte, dann wird man sich den Realitäten zuwenden müssen. Das ist innerhalb dieser Bundesregierung auch auf außenpolitischem Feld hier und da dringend geboten.
Ich beginne mit dem Stichwort der globalen Entwicklung. Wenn hier der Bundesaußenminister sagt, daß z. B. die globalen Umweltprobleme von zentraler Bedeutung seien, dann kann man dem in dieser Allgemeinheit zustimmen. Die Bundesregierung war wie viele andere Staaten bei der Rio-Konferenz vertreten.
Sie hat sich verpflichtet, ein bestimmtes Werk zu vollbringen. Das soll in Berlin geschehen. Wenn man sich aber fragt, ob die Allgemeinheit, die Schönheit und die Größe der Worte auch nur einigermaßen mit dem übereinstimmen, was Sie praktisch tun, dann muß ich Ihnen sagen: Hier ist totale Fehlanzeige. Man kann nicht die globalen Umweltprobleme beschwören und dann in Berlin für die Nachfolgekonferenz überhaupt nichts zu bieten haben.
({3})
Ich betrachte mir das Stichwort Bevölkerungsentwicklung und stelle die Frage, was die freundlichen Bekundungen eigentlich mit der traurigen Rolle zu tun haben, die die Bundesrepublik Deutschland durch diese Bundesregierung leider auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo gespielt hat.
({4})
Wenn man die große Frage der Bevölkerungsexplosion im Verhältnis zu den Migrationsproblemen sieht, die wir auf der Erde - auch in Europa - haben, dann frage ich mich auch mit Blick auf die deutsche Ratspräsidentschaft: Was haben Sie dazu beigetragen, daß es in Europa eine gemeinsame Migrationspolitik gibt, daß es zu einer Verbindung der Interessen angesichts der Schwierigkeiten kommt, die sich aus der Situation des Mittelmeerraumes ergeben, mit dem, was sich aus der Erweiterung durch die mittelosteuropäischen Staaten ergibt? Der Beitrag dazu ist schlicht Null.
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Wenn Sie die Bedeutung der Menschenrechte und ihres Schutzes anmahnen, wird Ihnen in dieser Allgemeinheit auch niemand widersprechen. Dennoch wird dem aufmerksamen Betrachter des Jahres 1994 der Besuch von Herrn Li Peng in Bonn nicht ganz aus dem Gedächtnis verschwinden.
Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung mit der Frage von Menschenrechten im Zusammenhang mit der Abschiebeproblematik gegenüber Kurden umgeht, spricht auch nicht für eine klare Linie.
Herr Bundesinnenminister, auch vor drei, vier Wochen wußte schon jeder, daß es diesen Prozeß in Ankara geben würde. Das einzig Überraschende an seinem Ausgang ist doch, daß es kein Hochverratsurteil geworden ist. Es ist aber ein Urteil, das einen ebenso eklatanten Verstoß gegen Menschenrechte, Menschenrechtskonventionen, Zivilisation und demokratischen Rechtsstaat darstellt.
Die Frau Präsidentin hat mit Einverständnis aller Fraktionen hierzu etwas gesagt. Ich füge allerdings hinzu: Es macht keinen besonderen Sinn, es signalisiert nicht Verantwortlichkeit, es signalisiert allenfalls eine gewisse Sturheit, möglicherweise sogar ein wahlkampfbedingtes Interesse, wenn man vor drei, vier Wochen bei einer im übrigen gegenüber heute ganz und gar unveränderten Situation den Abschiebestopp gegenüber bedrohten kurdischen Türken ablehnt, um jetzt im Lichte des Urteils eine Befristung des Abschiebestopps zu ermöglichen, von der wir heute schon wissen, daß sie vermutlich gar nicht halten kann angesichts der Menschenrechtssituation in der Türkei.
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Natürlich sind wir alle daran interessiert, daß diese Debatte nicht gegen die Türkei oder gegen das türkische Volk gewendet wird. Natürlich sind wir daran interessiert, daß die politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten genutzt werden. Aber es wäre sehr gut, wenn die Deutlichkeit beim Einsatz für die Bewahrung von Menschenrechten in diesem Land nicht so klar hinter dem zurückbliebe,
was man beispielsweise aus dem amerikanischen Parlament und von der amerikanischen Regierung hören kann.
({7})
Dann sagt die Bundesregierung, sie habe neben ihren angeblichen Erfolgen bei der Lösung dieser globalen Probleme - Umwelt, Bevölkerung, Migration und Bewahrung der Menschenrechte natürlich auch noch eine gute Bilanz ihrer Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union vorzulegen.
Am 20. Juli 1994 hat der Bundesaußenminister dem Europäischen Parlament fünf Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft erläutert. Das erste Ziel war der Abbau der Arbeitslosigkeit, das zweite Frieden und Sicherheit in ganz Europa, das dritte Stärkung der inneren Sicherheit, das vierte, ein Europa der Bürger zu schaffen und das fünfte die Vertiefung und Erweiterung. Dem kann man sich ja zuwenden.
Herr Bundesaußenminister, Herr Bundeskanzler, wenn Sie mit derselben Präzision, mit der Sie damals Ihre Ziele beschrieben haben, jetzt auf den Unterschied zwischen den außerordentlich hohen Erwartungen an Ihre Ratspräsidentschaft und den Ergebnissen, die tatsächlich auf dem Tisch liegen, eingegangen wären, dann wäre das eine ehrliche Bilanz geworden. Was Sie uns hier vorgelegt haben, ist die beschönigende Bilanz einer ziemlich großen Enttäuschung.
({8})
Ich will gar nicht darauf eingehen, was Ihnen gestern in Straßburg widerfahren ist.
(
Da ist mir gar nichts widerfahren! - Gegenruf von der SPD: Doch!)
- Herr Bundeskanzler, da Sie sagen, da sei Ihnen gar nichts widerfahren - ich war nicht dort,
({0})
aber ich kann einiges hören und lesen; man kann mit Leuten telefonieren -: Diese hochnäsige, leicht arrogante Position, die jede Kritik des Europäischen Parlamentes an Ihrer Ratspräsidentschaft und ihren Ergebnissen als „Mir ist da gar nichts widerfahren" bezeichnet, wird für das Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Regierungen alles andere als gut sein.
({1})
Im übrigen können wir uns die Ergebnisse entlang Ihrer Ziele anschauen. Abbau der Arbeitslosigkeit war Ihr erstes Ziel. Was ist denn in Europa in den letzten sechs Monaten erreicht worden? Sind irgendwelche Weichen gestellt worden, die uns dem Ziel des Abbaus der Arbeitslosigkeit näherbringen?
({2})
Ich kann das leider nicht erkennen. Ich sage ausdrücklich „leider"; denn es hätte auf der Grundlage des Weißbuches der Europäischen Kommission wahrlich eine gute Gelegenheit gegeben, die Lücke an Investitionen und die Schwäche an Innovationen in Europa zu überwinden und eine aktivere Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, die Regionalpolitik in Europa zu verstärken und die Strukturpolitik zu verbessern. Es gibt viele Vorschläge des Weißbuches, die auf dem Tisch liegen.
Es ist doch ganz unverkennbar, daß insbesondere die deutsche und die britische Regierung eine Bremserrolle übernommen haben angesichts von Vorschlägen, die im internationalen Bereich höchste Wertschätzung genießen als das einzig brauchbare, zusammenfassende Konzept zur Überwindung der Strukturschwächen und der Arbeitslosigkeit in Europa.
({3})
Auch die Tatsache, daß man mit relativ kleinen Schritten den transeuropäischen Netzen näherkommt, ändert an dieser Beurteilung nichts.
Sie haben gesagt, Sie wollten ein Europa der Bürger schaffen. Ich will jetzt nicht auf die Frage der „Komitologie" und diese schönen Dinge eingehen, aber auf eines mit Blick auf die Volksabstimmungen, die stattgefunden haben, aufmerksam machen: Wenn sich der Trend fortsetzen sollte, daß die europäischen Institutionen zugunsten des Rates geschwächt werden, und wenn sich der Trend fortsetzen sollte, daß das Europäische Parlament um seine Rechte so kämpfen muß, wie es das zum Teil jedenfalls tut, die nationalen Regierungen aber den Willen haben, die Rechte des Parlamentes nicht so auszuweiten, wie wir es brauchen, damit man von einem Parlament reden kann, dann wird es mit dem Europa der Bürgerinnen und Bürger, mit der demokratischen Verankerung und mit der Akzeptanz nichts. Dann gehen wir ein immer größeres Risiko ein, daß Volksabstimmungen nicht nur knapp positiv ausgehen, sondern eher knapp negativ, wie uns das in Norwegen leider widerfahren ist.
({4})
- Wenn Sie sagen, ich werfe das der Bundesregierung vor, dann darf ich Sie, Herr Kollege, darauf aufmerksam machen: Ich ziehe eine Bilanz zwischen den erklärten Zielen und den Ergebnissen. Ich habe die Ziele nicht formuliert; das war diese Bundesregierung. Also muß sie sich daran auch messen lassen.
({5})
Sie haben davon gesprochen, Europa müsse seine innere Sicherheit stärken. Selbst wenn ich, was ich gerne tun will, respektiere, daß es in Mitgliedstaaten der Europäischen Union Widerstände gibt: Fortschritte haben wir auch auf diesem Gebiet nicht nur wegen Europol nicht erreicht. Eine Bundesregierung wird auf diesem Gebiet im europäischen Konzert auch nur schwer argumentationsfähig, wenn sie in sich selbst in einem so hohen Maße uneinig ist,
({6})
daß sie am Ende nur noch im eigenen Verantwortungsbereich lächerliche Ergebnisse produzieren kann.
({7})
Schließlich haben Sie von Vertiefung und Erweiterung gesprochen. Ich stimme zu, daß die Einladung - so belastet das alles im Vorfeld gewesen sein mag - an die sechs übrigen Regierungschefs ein wichtiges politisches Signal ist.
({8})
Ich stimme auch zu, daß der Wille zur Erweiterung der Europäischen Union wie übrigens auch zur Erweiterung der NATO, wenn man das in einem politisch klugen Sinne versteht sowie mit berechtigten und legitimen Sicherheitsinteressen anderer Staaten in Übereinstimmung bringt, ohne ihnen ein Veto zuzugestehen wie beispielsweise Rußland, einen für Europa fruchtbaren und für die dauerhafte Sicherung des Friedens in Europa auch unverzichtbaren Prozeß einleiten kann.
Was allerdings die Erweiterung nach Mittelosteuropa und beispielsweise auch um Zypern oder Malta angeht, warne ich davor, diese Fragen ausschließlich unter den Schwierigkeiten zu betrachten, die sich aus den Regeln der europäischen Kohäsion, ihrer Fonds und aus dem Stand der Agrarpolitik in der Europäischen Union ergeben. Das würde ungewöhnlich hohe finanzielle und am Ende übrigens auch politische Barrieren aufbauen. Vor diesem Hintergrund wird man sich um eine Reform bestimmter in der Europäischen Union geltender Regelungen bemühen müssen, um die Gemeinschaft überhaupt erweiterungsfähig zu machen,
({9})
was mit ihren Institutionen und der Integration ihrer Politiken zu tun hat.
Schließlich, meine Damen und Herren, ist die Frage zu stellen, was im Zusammenhang mit der Bilanz dieser Bundesregierung bei dem Stichwort der Stärkung des Friedens und der Sicherheit in ganz Europa herauskommt.
Meine Damen und Herren, wenn man sich betrachtet, welche Debatte in den letzten Tagen hier in Deutschland entstanden ist, und wenn man weiß, daß es diese Art der Debatte in keiner anderen Hauptstadt der beteiligten oder interessierten Staaten gibt, dann mutet das etwas eigenartig an.
Zunächst will ich gegenüber der Bundesregierung sehr deutlich sagen: Wenn auf der politischen Agenda ein Verbleiben der UNO-Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien berechtigterweise die höchste Priorität hat, dann sollten wir etwas mehr politische Phantasie und öffentliche Aufmerksamkeit in die Stärkung der Anwesenheit der Blauhelme in dieser Region stecken, anstatt hier dauernd über Abzug zu reden.
({10})
- Sie, Herr Bundesaußenminister, fragen: Wie? Das
wird die berühmte Frage dieser Bundesregierung. Sie
stellen sich hin und sagen: Wir haben Ziele. Dann
fragen Sie: Wie macht man das? Ich dachte, die Deutschen hätten sich eine Regierung gewählt, die weiß, wie man Probleme löst, die aber nicht in das Parlament kommt und die Opposition danach fragt, wie man das denn machen könnte.
({11})
Ich will Ihnen gerne den einen oder anderen Hinweis darauf geben, wie man das machen könnte.
({12})
- Entschuldigung, war Ihre Frage ernst gemeint, oder war sie rhetorisch gemeint?
({13})
- Sie war ernst gemeint. Gut. Ich kann ja verstehen, daß die Unionsfraktion über Ihre ernst gemeinten Fragen lacht. Das kann ich nachvollziehen.
({14})
Das ist aber eine Frage des Binnenverhältnisses. Das muß uns hier jetzt nicht interessieren.
({15})
Aber wenn es dort beispielsweise Schutzzonen gibt - wobei wir ja wissen, daß die Formulierung „Schutzzone" zwar in den Köpfen vieler Menschen die Waffenfreiheit dieser Zone nahelegt, tatsächlich das aber nicht meint -, dann wäre doch die Frage zu stellen, warum es mit Blick auf bestimmte Konfliktgebiete und auf Orte, wo die Bürgerkriegsauseinandersetzungen sehr belastend und grausam und menschenverachtend geworden sind, dann nicht eine Initiative gibt, die sagt: Wir wollen bestimmte waffenfreie Zonen und nicht nur Schutzzonen im ehemaligen Jugoslawien eingerichtet wissen.
({16})
Warum gibt es dann beispielsweise nicht auch in dieser Diskussion die klare Feststellung, Herr Bundesaußenminister, daß ein Teil der Schwierigkeiten, die wir jetzt aktuell haben,
({17})
dadurch entstanden sind, daß die Schutzzone um Bihac herum ja auch von der moslemischen Bürgerkriegsseite für eine sogenannte Offensive mißbraucht worden ist?
({18})
Warum gibt es dann von Ihrer Seite keine Feststellung darüber, daß jeder Abzug der Vereinten Nationen und ihrer Blauhelme fast zwanghaft in eine Eskalation der Bürgerkriegsauseinandersetzungen münden muß?
({19})
Vor diesem Hintergrund wäre politische Unterstützung und im Zweifel auch Stärkung des Mandates die erste wesentliche Voraussetzung. Ich mache darauf aufmerksam, daß z. B. der EU-Administrator in Mostar, Hans Koschnick, genau dieses auch fordert.
Herr Scharping, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Gerne.
Herr Scharping, ist Ihnen im Verlaufe der letzten drei Jahre dieses Krieges entgangen,
({0})
daß der Krieg gegen die Bosnier nicht möglich gewesen wäre, wenn nicht ständig auf seiten der serbischen Republik gegenüber der völkerrechtlich anerkannten Republik Bosnien die Kriegsmaschinerie am Laufen gehalten worden wäre,
({1})
und ist Ihnen entgangen, daß auch die UNO bestätigt hat, daß bei der Zerstörung von Bihac serbische Elitesoldaten und Truppen eingegriffen haben?
Das, Frau Kollegin Beck, ist mir genausowenig entgangen, wie die Tatsache, daß man um das Linsengericht der scheinbaren Garantie einer Blockade durch Serbien gegenüber den bosnisch-serbischen Konfliktparteien am Ende ja wieder wirtschaftliche und andere Beziehungen zu Serbien hat aufleben lassen.
({0})
- Vor diesem Hintergrund ist die Frage nicht - das bestreitet doch niemand -, daß es ein völlig skrupelloses Verhalten auf der serbischen Seite, insbesondere auf der bosnisch-serbischen Seite gibt. Das ändert überhaupt nichts an dem mühseligen, unverzichtbaren Versuch, mit dieser als skrupellos und grausam erkannten Konfliktpartei dennoch den Versuch zu machen, zu politischen Regelungen zu kommen. So schwer das ist, so belastend das ist, es gibt überhaupt keine Alternative dazu, es sei denn, man wollte hinausgehen.
({1})
Wer das in Deutschland mit dem Hinweis darauf vorbereitet, die UNPROFOR sei doch ein völlig wirkungsloses Instrument geworden, dem möchte ich doch einmal die Frage stellen, was denn in diesen Kriegsgebieten mit gewaltigen Belastungen für die Zivilbevölkerung eigentlich noch geschehen würde,
({2})
wenn diese Truppen jetzt das ehemalige Jugoslawien verlassen würden.
({3})
Es ist unbestritten, daß man sich auf den Fall eines Rückzugs einrichten muß, so schlimm das ist. Es ist auch unbestritten, daß dies zunächst im politischen Raum erörtert werden sollte, daß diese politisch notwendige, äußerst schwierige und mit hoher Verantwortung beladende Entscheidung nicht vom Militär angestoßen werden kann.
Sosehr ich auch zu dem Ergebnis komme, daß jetzt in dieser Frage kein Entscheidungsbedarf besteht, sosehr komme ich auch zu dem Ergebnis, daß jetzt, beim gegenwärtigen Stand der Debatte, ein hoher Bedarf an Konsultation besteht: innerhalb des Bündnisses, innerhalb der Vereinten Nationen
({4})
und möglicherweise auch hier in diesem Parlament.
({5})
- Ich sage das Wort „möglicherweise" deshalb, weil ich es für eine unverantwortliche Verhaltensweise halte, daß der Bericht eines NATO-Botschafters zuerst in einer großen deutschen Zeitung veröffentlicht wird,
(Beifall bei der SPD -
Da haben Sie recht! Da sind wir einig!)
weil ich es für unverantwortlich halte, daß der Oberbefehlshaber der NATO beginnt, der Politik und der politischen Führung der NATO öffentlich Fragen zu stellen, von denen dann manche glauben, sie müßten sie beantworten,
({0})
und weil ich es für unverantwortlich halte, daß der Generalinspekteur der Bundeswehr in einem großen Interview mit einer deutschen Zeitung der Politik glaubt Vorgaben machen zu können, nach denen sie sich dann verhalten soll.
({1})
Wenn wir das schon einmal offen austragen, dann vermeiden Sie gefälligst jeden Eindruck, daß diese Bundesregierung beginnt, nach den Fragen des Militärs zu tanzen, und zeigen Sie, daß sie eine eigenständige Linie verfolgt.
({2})
Wenn das alles zutrifft, was der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister in Zwischenrufen bestätigen, daß diese Kritik am Verhalten des Generalinspekteurs, am Verhalten des SACEUR und anderer zutreffend ist, dann, meine ich, wäre es auch ganz gut, wenn diese Bundesregierung das im Zweifel für die Öffentlichkeit wahrnehmbar und nicht mit Zwischenrufen alleine deutlich machen würde.
({3})
Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Herr Bundesaußenminister, daß wir diesen Teil unserer Politik nur in einer festen Einbettung im Bündnis betreiben können und daß wir bei der konkreten Entscheidung die
Wirkung auf die Einbettung im Bündnis auch zu beachten haben werden. Das ist absolut richtig. Das wird auch von uns geteilt. Welche Grenzlinie wir als sozialdemokratische Fraktion zu ziehen haben, das haben wir mehrfach gesagt. Deshalb will ich noch einmal darauf hinweisen: Es wird klug sein, Konsultation zu haben und nicht nach der Methode zu verfahren: Am Montag steht alles in den Zeitungen, am Dienstag kommt dann der Bundesminister beim Bundeskanzler und erzählt Herrn Fischer oder Herrn Scharping, was sie zuvor in den Zeitungen gelesen haben.
Ich nehme das Bemühen ernst und sehe darin ein Signal, daß es in Zukunft eine etwas engere Konsultation geben sollte. Das sage ich vor allen Dingen deshalb, weil ich daran festhalten will und weil die sozialdemokratische Bundestagsfraktion daran festhalten will, daß in außenpolitischen Grundfragen im Sinne der Berechenbarkeit und Verläßlichkeit der Politik eines Landes Konsens immer besser ist als Streit
({4})
und weil ich daran festhalten will, daß in einer so schwierigen, mit vielerlei Implikationen und Wirkungen verbundenen Frage der Prozeß der Erosion, mindestens der Glaubwürdigkeit von Bündnissen und Engagements bis hin zu den Vereinten Nationen, von uns mit unseren bescheidenen Möglichkeiten nicht noch fahrlässig gefördert wird.
({5})
Soweit das eine außenpolitische Debatte ist - ({6})
- Entschuldigung. Wissen Sie, Ihr Spaß sei Ihnen gegönnt. Aber an den Grundorientierungen der Einbettung in das Bündnis, des Treffens außenpolitischer Entscheidungen im Rahmen des Bündnisses und mit Rücksicht auf seine Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit, an der Bereitschaft, humanitäre Aktionen mitzutragen und sie zu schützen, an der Bereitschaft, das UNO-Mandat im ehemaligen Jugoslawien im Interesse eines nicht noch schlimmeren Vernichtungskrieges gegen einen bestimmten Teil der Zivilbevölkerung zu stärken, muß festgehalten werden. Ich finde, es gibt Gegenstände, an denen man seine Späßchen machen kann. An diesen Gegenständen würde ich sie nicht machen.
({7})
Deshalb komme ich auf den Ausgangspunkt meiner Bemerkungen zurück. Ich hatte bei der Aussprache über die Regierungserklärung darauf hingewiesen, daß wir daran interessiert sind - Streit in einzelnen Fällen und unterschiedliche Bewertungen in einzelnen Fällen völlig unbenommen - an dieser gemeinsamen außenpolitischen Grundorientierung festzuhalten.
({8})
Ich halte im Interesse eines Landes und völlig unbeschadet der ganz verschiedenen Rollen die Wahrnehmung der internationalen Verantwortung
Deutschlands für eine Aufgabe, die nicht von vornherein parteipolitisch oder nach Regierung und Opposition unterschieden werden kann - nicht von vornherein. Wenn Sie darin zustimmen,
({9})
dann dürfte es keine besonders große Schwierigkeit mehr sein, dafür zu sorgen, daß das auch sichtbar wird. Dann müßte es auch möglich sein, daß eine aus mehr innenpolitischen Motiven nach dem Motto „Vielleicht können wir diese oder jene Partei oder Gruppierung mit ihrer angeblich unsicheren, angeblich ungeklärten, angeblich in sich selbst geteilten Haltung einmal vorführen" geführte Debatte verzichtbar wäre. Denn ein solches Motiv wäre angesichts der Verantwortung, der Gegenstände und der Fragen, die wir zu beantworten haben, ein sehr kümmerliches Motiv.
({10})
Meine Damen und Herren, ich will zum Schluß sagen, daß die deutsche Ratspräsidentschaft für die Europäische Union Ziele reklamiert hat, die nur in wenigen Kleinigkeiten eingelöst worden sind, beispielsweise bei der Frage der europäischen Betriebsräte. Die Ratspräsidentschaft Deutschlands in der Europäischen Union ist zu einer Enttäuschung geworden, insbesondere deshalb, weil Sie viel mehr Phantasie
in das Marketing Ihrer Politik gesteckt haben als in die Substanz Ihrer Politik,
({11})
weil Sie vielmehr Gelegenheiten gesucht haben, in Ludwigsburg oder im Westfälischen oder sonstwo irgendwelche Ministerratssitzungen abzuhalten, in der Hoffnung, das hätte eine gewisse Wirkung auf den Wahlkampf. Ich fürchte, daß Sie damit ein Beispiel gesetzt haben. Hoffentlich setzt sich das in anderen Ländern, die auch Wahlen haben, nicht fort.
({12})
Der Mißbrauch einer Ratspräsidentschaft für Wahlkampfzwecke ist ein Schaden für die europäische Integration.
({13})
Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen - das wird so wie in vielen anderen Bereichen auch sein -: Wir werden uns vermutlich über die hehren Ziele, die großen Worte nicht weiter zu streiten haben. Die Strategie nach der Methode „Entwaffnung der Opposition durch Übernahme ihrer Begriffe" ist nur sehr begrenzt tauglich.
({14})
Deshalb will ich Sie deutlich darauf aufmerksam machen: Wir werden uns in der Sache zu streiten haben. Dann werden wir im nächsten Frühjahr sehen, was Sie für Berlin und für die Rio-Nachfolgekonferenz zustande gebracht haben. Wer hier mit großen Worten und viel heißer Luft die globalen Umweltprobleme beschreibt, der hat eine besondere Verantwortung, im Klimaschutz und an anderer Stelle zu wirksamen Ergebnissen zu kommen. Was Sie uns bisher
geboten haben, ist an Kümmerlichkeit nicht mehr zu überbieten.
({15})
Dasselbe gilt für viele internationale Probleme auch.
Herr Bundeskanzler, ich weiß: Es gibt ein gewisses Vertrauen in die Stabilität Deutschlands. Das sollte aber nicht unbedingt mit der Stabilität der Regierung verwechselt werden.
({16})
Es gibt ein, wie ich finde, in manchen Bereichen sogar zutreffendes und gut begründetes Vertrauen darin, daß Sie, Herr Bundeskanzler, ein Garant dafür sind, daß Deutschland an der europäischen Integration ein existentielles Interesse behält.
({17})
Das bedeutet aber im Gegenzug, daß ein Wechsel aus den Reihen der Union - gleichgültig, zu wem - dieses Vertrauen nicht mehr so fest dastehen lassen wird, weil unsere ausländischen Freunde und Partner natürlich sehr genau wissen, was innerhalb der Union über Europa wirklich gedacht und von der großen Gestalt des Bundeskanzlers manchmal verdeckt wird.
({18})
Vor diesem Hintergrund: Die Ratspräsidentschaft war kein besonders großer Erfolg. Die Substanz der Politik gegenüber den globalen Problemen ist zu gering. Vielleicht gelingt es uns ja, den konkreten Streit zu führen. Dann wird er nämlich fruchtbarer als mit den schönen allgemeinen Formulierungen.
Herr Kinkel, ich hoffe, Sie haben sich bei dieser Rede wenigstens ein bißchen von Ihrem Parteitag erholen können.
({19})
Aber ich muß Ihnen ehrlich sagen: Es war erkennbar nur ein bißchen.
({20})
Denn daß Sie die deutsche Außenpolitik im Griff haben, das glaubt Ihnen genausowenig jemand wie, daß Sie die F.D.P. im Griff haben.
({21})
Herr Kollege Karl Lamers, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Scharping, das war wirklich eine Mischung von hilfloser Polemik und außenpolitischem Dilettantismus,
({0})
der einen noch im nachhinein glücklich sein läßt, daß die Wähler am 16. Oktober so entschieden haben, wie sie entschieden haben.
({1})
Ich darf darauf hinweisen, daß das, was der Außenminister heute hier gesagt hat, ein klarer Beweis für das ist, was ich feststellen will: Diese Regierung ist und bleibt handlungsfähig, während Sie vollkommen regierungsunfähig sind.
({2})
Sie sind regierungsunfähig, weil bei Ihnen weder die Richtungs- noch die Machtfrage entschieden ist.
Darüber will ich heute aber nicht viel reden, sondern ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie hier - worin ich Ihnen zustimme - zwar einen Grundkonsens der Demokraten in diesem Hause im Bereich der Außenpolitik gefordert, aber keinen einzigen konkreten Beitrag dazu geleistet haben.
({3})
Wozu haben Sie denn wirklich etwas gesagt? Wo haben Sie denn Ihre Vorstellungen entwickelt? So einfach können Sie es sich nicht machen, daß Sie die Fragen stellen und die Regierung die Antworten zu geben hat.
({4})
Nehmen wir doch das Beispiel der Türkei, das Sie auch angeschnitten haben. Daß das ein ganz außergewöhnlich schwieriger Fall ist, Herr Kollege Scharping, darüber müßten Sie sich jedenfalls im klaren sein.
({5})
- Moment. Sie haben gefragt: Was hat die Regierung getan, um den Menschenrechten in der Türkei zum Durchbruch zu verhelfen?
({6})
Wenn Sie einmal mit dem Bundeskanzler reden würden, in wie vielen ungezählten Gesprächen er das getan hat, nicht auf dem offenen Markt, was auch nicht seine Rolle sein kann, dann frage ich Sie: Wann haben Sie denn als neugebackener Vorsitzender der Sozialistischen Internationale auf den Regierungspartner in der Türkei eingewirkt,
({7})
auf Ihre sozialdemokratischen Genossen? - Entschuldigung, die gehören doch auch zur SI. Das ist doch wohl eine Tatsache!
Und dann, Herr Kollege Scharping, zum zweiten Punkt. Sie haben in völliger Übereinstimmung mit uns, in völliger Übereinstimmung mit dem Gipfel in
Essen gesagt: Wir müssen alles tun, um die Präsenz der UNPROFOR-Truppen in Bosnien nicht nur zu ermöglichen, sondern ihre Bedingungen zu verbessern.
Jetzt frage ich Sie erstens: Wissen Sie, daß genau dieserhalb derzeitig Überlegungen zwischen den Staaten, die dort Truppen stationiert haben, stattfinden, sehr intensive Überlegungen? Wenn Sie gestern im Auswärtigen Ausschuß gewesen wären oder wenn Sie sich von einem Mitglied Ihrer Fraktion hätten unterrichten lassen, dann wüßten Sie, daß genau das geschieht, und das mit voller Unterstützung und Beteiligung der Bundesregierung, auch wenn sie nicht unmittelbar beteiligt ist, weil sie keine Truppen entsendet.
Zweitens haben Sie gesagt, Kollege Scharping
- und da bin ich nun wirklich erschüttert -, man müßte waffenfreie Zonen schaffen. Wissen Sie denn nicht, wie oft das absolut vergeblich - jedenfalls hinsichtlich schwerer Waffen - versucht worden ist?
({8})
- Entschuldigung, wie soll es denn durchgesetzt werden? Das ist doch das Problem. Das Problem ist, Sie stellen hier Forderungen, die man x-mal durchzusetzen versucht hat, die auf Schwierigkeiten gestoßen sind, die Sie alle kennen, jedenfalls kennen müßten, und die, wenn man sie beheben wollte, Kollege Scharping, nichts anderes bedeuteten als einen Krieg unter Beteiligung der UNPROFOR-Truppen. Zu dem Zweck sind sie, wie Sie wissen, nicht da.
Ich weiß gar nicht, was eine solche Forderung soll. Sie hat mich eben dazu veranlaßt, festzustellen, daß sich Ihre Rede durch ein bemerkenswertes Maß an außenpolitischem Dilettantismus ausgezeichnet hat.
({9})
Zu der Polemik, Kollege Scharping, möchte ich nur eine Anmerkung machen. Ihre Aussage, daß die deutsche Regierung nach der Pfeife der deutschen Militärs tanze, hat ein unglaubliches Maß an Unsinn erreicht.
({10})
- Kollege Verheugen, daß ausgerechnet Sie diese Zwischenbemerkung machen! Ich erinnere mich noch gut, wie Sie mir und der Unionsfraktion insgesamt in der letzten Legislaturperiode „Kanonenbootpolitik" vorgeworfen haben.
({11})
- Mit Recht?
({12})
Das zeigt, daß Sie bis heute nichts gelernt haben.
({13}) Zum europäischen Gipfel.
({14})
Ich finde, daß der Außenminister die Erfolge dieses Gipfels, der der erfolgreiche Abschluß der deutschen EU-Präsidentschaft war, sehr eindrucksvoll dargestellt hat. Nun bitte ich Sie doch wirklich, bei aller berechtigten Kritik, die die Opposition natürlich führen muß - auch ich will nicht leugnen, daß nicht alle Schritte in Europa so schnell gegangen werden, wie ich mir das wünsche -, zumindest einen Augenblick den Versuch zu unternehmen, die historische Perspektive zu sehen, sich daran zu erinnern, daß Ceausescu erst 1989 in Rumänien gestürzt wurde
(
Ja!)
und heute dort in Essen sein Nachfolger am Tisch sitzt. Václav Havel, der lange in kommunistischen Gefängnissen gesessen hat, sitzt heute an einem Tisch mit François Mitterand, mit Helmut Kohl, mit John Major und anderen. Müssen wir angesichts dieses Bildes nicht sagen: Das ist die Erfüllung eines Traumes, an den wir, wenn wir ehrlich sind, lange nicht mehr geglaubt haben?
({0})
Natürlich wissen wir sehr gut, daß unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn eine konkretere zeitliche Perspektive wünschen. Aber, Kollege Scharping, wir wissen doch auch, welche unglaublichen Schwierigkeiten - und zwar nicht nur für unsere westlichen und südlichen Nachbarn - damit verbunden sind.
({1}) In einem stimme ich Ihnen übrigens zu:
({2})
Nicht nur die künftigen Beitrittsländer, sondern auch die Europäische Union in ihrer heutigen Form muß sich anpassen. Es wird nicht ohne schmerzhafte Revision in manchen Politikbereichen gehen. Ich wäre schon dankbar, wenn wir einen Konsens fänden, der auf konkreten Vorstellungen Ihrerseits beruht. Konkrete Vorstellungen können nicht konkrete Vorstellungen von diesem oder jenem in der SPD sein, sondern nur die konkreten Vorstellungen der SPD.
({3})
- Wir haben unsere gerade vorgelegt, Herr Kollege Verheugen.
({4})
Aus Ihren Reihen hat es dazu nur eine ganz dümmliche Reaktion gegeben.
({5})
- Ja, bitte. Ich bin gespannt. Sie müssen das Mikrophon hochziehen, wenn Sie mich fragen wollen.
({6})
Bitte, Herr Kollege Verheugen.
Herr Kollege Lamers, würden Sie uns bitte erläutern, wie die Vorstellungen der Unionsparteien zur Reform des europäischen Agrarmarktes aussehen für den Zeitpunkt, an dem es zur Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft kommt?
({0})
Herr Kollege Verheugen, ich habe nicht vom Agrarmarkt gesprochen, sondern davon, daß wir insgesamt für die Weiterentwicklung und die Erweiterung der Europäischen Union eine Vorstellung haben müssen.
({0})
Dazu haben wir immerhin 14 Seiten veröffentlicht, die in ganz Europa ein ungewöhnliches Echo hervorgerufen haben.
({1})
- Wer anders als die Autoren, die auf dem Papier stehen, soll sie denn geschrieben haben?
({2})
Und was haben Sie, Kollege Verheugen, und andere aus Ihrer Fraktion daraus gemacht? Sie haben behauptet, wir wollten ein Europa aus mehreren Klassen schaffen, eine erstklassige und eine zweitklassige Reihe von Ländern. Sie haben sich auf einen einzigen Punkt konzentriert.
Ich möchte Ihnen übrigens in Erinnerung rufen, daß bereits 1974 Ihr zu Recht verehrter ehemaliger Parteivorsitzender Willy Brandt in Paris eine Rede gehalten hat, in der er dieselben fünf Länder genannt hat, von denen wir auch gesprochen haben. Damals hat man ihm vorgeworfen, er wolle Italien und Großbritannien abkoppeln.
({3})
Das war genauso Unsinn wie der Vorwurf, den Sie uns heute machen. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie sich einmal die Mühe machen würden, eigene Vorstellungen, alternative Vorstellungen zu denen, die wir haben, zu entwickeln.
({4})
Zurück zum europäischen Gipfel. Es liegt mir daran, eines ganz besonders als großen Erfolg herauszustellen. Der Bundeskanzler hat völlig zu Recht die innere Sicherheit zu einem der Kernthemen für den weiteren Fortgang des europäischen Einigungsprozesses gemacht, da die Bürger berechtigterweise erwarten, daß das übernational organisierte Verbrechen auch übernational durch Europol bekämpft wird.
Sie haben, gottlob, eingeräumt, Kollege Scharping, was für unglaubliche auch ideologisch bedingte Widerstände es dagegen gibt. Nun haben wir in Essen die verbindliche Zusage des französischen Präsidenten bekommen, daß das im Laufe des nächsten halben Jahres von Frankreich revidiert wird. Das ist ein Erfolg, über den wir uns alle außerordentlich freuen können. Es ist ein Erfolg für die Bürger unseres Landes. Es ist ein Erfolg, und ich stehe nicht an zu sagen, daß wir denen, die daran beteiligt waren, dem Außenminister und dem Bundeskanzler, wirklich danken müssen.
({5})
Weniger erfolgreich war leider der KSZE-Gipfel in Budapest. Das liegt nicht zuletzt daran, meine Damen und Herren, daß wir es hier mit dem Einstimmigkeitsprinzip zu tun haben, und alle auf Konsens angewiesenen Institutionen sind nicht besonders handlungsfähig. Die Bemühungen des Außenministers, auch schon initiiert von seinem Vorgänger, zumindest einen Ansatz zur Durchbrechung des Konsensprinzips zu erreichen, indem das betroffene Land nicht gerechnet wird, sind leider gescheitert.
In dieser Lage hat der Bundeskanzler, auch wenn er dafür zum Teil kritisiert worden ist, das einzig Richtige getan. Er hat in einer bewunderungswürdigen Weise
({6})
alles in seinen Kräften Stehende getan, den letzten persönlichen Einsatz geleistet, um zumindest eine Resolution durchzusetzen, die die humanitäre Hilfe in Bosnien sichert.
({7})
Herr Bundeskanzler, daß das nicht erfolgreich war, müssen wir alle bedauern; aber ich muß Ihnen sagen: Es war dennoch richtig. Die Menschen hier wie vor allen Dingen in Bosnien haben gesehen, daß der deutsche Regierungschef alles in seinen Kräften Stehende unternimmt, um zumindest das wenige, das wir noch tun können, zu tun.
Bedenklich war auf diesem Gipfel das Aufeinanderprallen des amerikanischen und des russischen Präsidenten. Hier gibt es einen offenen Dissens. Die erste Konsequenz, die wir daraus ziehen müssen, ist ein noch viel ernsthafterer, intensiverer Versuch, eine gemeinsame westliche Strategie zu entwickeln. Denn Tatsache ist ja, daß weder zwischen den Westeuropäern noch zwischen ihnen und den USA, noch innerhalb der USA eine ausreichende Übereinstimmung in dieser Frage vorhanden ist.
({8})
- Ja, es geht um die Osterweiterung der NATO.
({9})
Es ist vollkommen richtig, was der Herr Bundesaußenminister hierzu gesagt hat: Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, um in Rußland wieder sehr virulent gewordene Einkreisungsängste zu überwinden. Das ist ein historisches Phänomen, ich bin geneigt zu sagen, ein russisches Syndrom. Wir müssen darauf Rücksicht nehmen.
Wir müssen aber auch sehen, daß im Zuge dieser Einkreisungsängste Rußland seine Grenzen immer weiter vorgeschoben hat. Und die Grenzenlosigkeit Rußlands - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - ist nach meiner Überzeugung eines der russischen Grundprobleme. Wer nicht weiß, wo er endet, weiß auch nicht, wo er beginnt. Wer sich seiner Grenzen nicht sicher ist, ist sich seiner selbst nicht sicher.
In dieser schwierigen und ambivalenten Lage müssen wir zwei Eigenschaften miteinander zu koppeln versuchen: Festigkeit, Freundschaft, Partnerschaft, aber auch die Fähigkeit, Widerpart zu sein.
Es kann in der Tat, wie der Außenminister gesagt hat, nicht angehen, daß es ein Vetorecht bei der Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Union oder in die NATO gibt. Ich glaube, daß wir gut daran tun, als Kriterium für die Aufnahme in die NATO die Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu nennen. Aber es kann natürlich nicht so sein, daß die Europäer gewissermaßen die Tür zur NATO aufmachen und hinter der NATO die Vereinigten Staaten querschreiben müssen; das geht ebenfalls nicht.
Deswegen komme ich auf das zurück, was ich gesagt habe: Wir brauchen eine gemeinsame westliche Strategie, die im Konkreten schwer zu entwickeln sein wird. Aber da wir dieselben Grundüberzeugungen haben, müßte es möglich sein. Die eine Voraussetzung, von der ich gesprochen habe, ist eben, daß die Europäer untereinander ihre Schwäche überwinden. Dazu ist es ohne jeden Zweifel unerläßlich, daß sie ihre Zusammenarbeit anders gestalten als bislang.
Hier bin ich bei einem konkreten Projekt, nämlich der Revisionskonferenz 1996. Da müssen wir insgesamt die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in allen Bereichen stärken, im ersten, im zweiten und im dritten Pfeiler. Wir müssen Blockademöglichkeiten und Vetopositionen abbauen. Wir brauchen mehr Mehrheitsentscheidungen auch im ersten Pfeiler, und wir müssen die zarten Ansätze für Mehrheitsentscheidungen auch im zweiten Pfeiler ganz entschieden stärken. Ich will es einmal etwas polemisch sagen: Intergouvernementale Zusammenarbeit ist, wenn Sie so wollen, institutionalisierte Palaverdemokratie auf höherer Ebene. Ein starkes und handlungsfähiges Europa kann es aber nur geben, wenn wir immer mehr Mehrheitsentscheidungen in der Europäischen Union haben.
({10})
Aber wir brauchen auch - darüber können wir ja einmal konkret reden - im zweiten Pfeiler der Europäischen Union, im Pfeiler gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine von den nationalen Außenämtern unabhängige europäische Informations- und Planungskapazität.
Herr Kollege Lamers, der Kollege Lippelt würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, wenn ich das noch hinzufügen darf: Wir brauchen meinetwegen auch
einen Generalsekretär für die Außen- und Sicherheitspolitik.
({0})
- In Frankreich, Kollege Fischer, gibt es sehr wohl ebenfalls Überlegungen in diese Richtung.
Bitte sehr.
Herr Kollege Lamers, es ist nur eine stilistische Frage. Aber da ich nun schon mehrfach von Ihnen den Begriff der Palaverdemokratie gehört habe, möchte ich wissen: Kennen Sie die Bedeutung dieses Begriffs in der Weimarer Republik, und würden Sie seinen Gebrauch vielleicht in Zukunft nicht besser unterlassen?
({0})
Herr Kollege Lippelt, ich habe diesen Begriff im wissenschaftlichen Sinne gebraucht. Ich glaube, das hat auch jedermann verstanden.
Ich meine, wir sind uns doch einig - ich hoffe das jedenfalls -, daß wir ein starkes Europa nur mit starken Institutionen bekommen. Ich frage auch alle meine französischen Freunde, Kollege Fischer, und die Briten, die sagen: „ Wir brauchen ein starkes Europa": Wie kommt es denn, daß kein einziges demokratisches Land seine Institutionen, seinen Entscheidungsprozeß und seine Willensbildung auf dem Konsensprinzip aufbaut? Niemand tut das. Wie sollten wir es in Europa tun, wo wir vor Aufgaben stehen, die an Bedeutung und Schwere nicht zu übertreffen sind? Ich glaube, das war nicht gerade eine gute Frage. Was soll's? Das hat jeder verstanden.
({0})
Unsere Bereitschaft zu einer gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik und unser Beitrag zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigung sind im Augenblick konkret gefragt. Bevor ich zu unserer Antwort komme, möchte ich auf eines aufmerksam machen. Als der Golfkrieg begann, hatten wir eine Umfrage in Deutschland, nach der 72 % der Befragten sagten: Es ist ganz richtig, was die Alliierten mit Saddam Hussein machen; man muß ihm entgegentreten. Gleichzeitig sagten 75 %: Aber ohne uns. Das ist eine doppelte Moral. Jetzt haben wir eine Umfrage, nach der 54 % sagen: Man muß in Bosnien militärisch mehr tun. Aber ebenso viele sagen: Ohne uns. Die Zahl ist zurückgegangen; aber die Grundstruktur ist dieselbe geblieben. In einer solchen Lage kommt es sehr darauf an, daß Führung deutlich wird, und zwar Führung von allen: von der Regierung so gut wie vom Parlament.
Nun muß ich sagen: Nach der gestrigen Debatte im Auswärtigen Ausschuß, bei der uns der Außenminister und der Verteidigungsminister berichtet haben, bin ich zuversichtlicher, als ich es wäre, wenn ich nur Ihre Rede gehört hätte, Kollege Scharping, daß wir hier eine gute und ernsthafte Debatte miteinander
führen. Ich halte es für unerläßlich, daß wir das tun. Aber wir haben noch keine Antwort auf die Frage gegeben. Ich glaube nicht, Kollege Scharping, daß wir damit so lange warten können. Wie könnte das sein? Das kann gar nicht sein. Wenn Sie die Anfrage kennen, dann wissen Sie auch, daß eine Antwort bald gegeben werden muß, nicht übereilt, aber schnell. Deswegen möchte ich sagen, wonach wir uns bei dieser Antwort richten sollten. Zunächst müssen wir die konkreten Einzelheiten des Auftrages kennen. Das ist notwendig; aber das zeichnet sich jetzt ab.
Unser Entscheidungsrahmen - darauf möchte ich aufmerksam machen - ist durch unsere Integration in die westlichen Strukturen bestimmt. Das heißt, wir können gar nicht allein darüber entscheiden, was sinnvoll ist und was nicht. Einfluß nehmen können wir aber nur, wenn wir mitwirken.
Integration bedeutet eben auch militärische Integration, die wir aus allerbesten Gründen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes noch mehr als vorher betrieben haben, weil wir eine Renationalisierung der Außen- und Verteidigungspolitik unbedingt verhindern wollten. Eine solche Renationalisierung aber würden wir herbeiführen, wenn wir unsere Mitwirkung verweigerten, sobald integrierte Streitkräfte, an denen auch Deutsche beteiligt sind, eingesetzt werden sollen.
Wir dürfen nicht länger über das Gemetzel in Bosnien jammern oder unseren Bündnispartnern, wie das ja zum Teil geschieht, eine fehlgeleitete Politik oder sogar Feigheit angesichts des Aggressors vorwerfen, wenn wir selber nicht zu solidarischem Handeln bereit sind.
({1})
Es gibt einen Ausnahmegrund. Der Bundesverteidigungsminister definiert ihn immer so: Wir dürfen nicht zum Teil des Problems werden, anstatt zu Problemlösungen beizutragen. Ob aber ein solches Risiko gegeben ist oder nicht, kann wiederum Deutschland nicht allein entscheiden. Wenn es in Bosnien solch ein erhöhtes Risiko durch die Teilnahme deutscher Tornados an Luftoperationen überhaupt gäbe, dann doch für die dort auf dem Boden operierenden Streitkräfte unserer Alliierten viel mehr als für die deutschen Soldaten in den Flugzeugen.
Zur moralischen Frage hat der Kollege Klose alles Notwendige gesagt. Auch ich kann nicht sehen, wieso es moralisch nicht vertretbar wäre, wenn wir dem kriegerischen und mörderischen Treiben von Herrn Karadzic an der Seite unserer Alliierten entgegenträten.
({2})
Ich füge hinzu: Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, daß jemand, der wie Karadzic Krieg und Mord betreibt, die deutsche Vergangenheit gegen die Bündnisfähigkeit Deutschlands und damit zugleich gegen die Partner Deutschlands zynisch instrumentalisiert. Das dürfen wir nicht zulassen!
({3})
Wenn wir bald eine Entscheidung treffen müssen, dann sollten wir uns an das erinnern, was der amerikanische Senator Cohen gesagt hat - ich habe ihn hier schon einmal zitiert -: „Deutschland kann weder vor seiner Geschichte fliehen noch sich hinter ihr verstecken. " Es ist schon eine merkwürdige Koinzidenz, wenn - mit anderen Worten - ausgerechnet Daniel Cohn-Bendit dasselbe gesagt hat.
Sie können sich darauf verlassen: Die CDU/CSU-Fraktion wird sich weder hinter der Geschichte verstecken noch vor ihr fliehen. Wir werden uns ihr stellen.
({4})
Herr Kollege Joseph Fischer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen heute eine außenpolitische Debatte, und es gibt in der Tat viele besorgniserregende Anlässe, sie mit allem Ernst zu führen. Nur, wer heute morgen die Erklärung des Bundesaußenministers gehört hat, der kommt natürlich nicht umhin, zu sehen, daß Sie, Herr Kinkel, nicht nur der Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland sind, sondern - in Personalunion - auch der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei Deutschlands.
({0})
- Da klatschen nur noch vier; der Rest hält sich zurück, wie Sie gesehen haben.
({1})
Meine Damen und Herren, das ist normalerweise für die Opposition ein Grund, sich zu freuen. Aber wenn man die Dinge einmal zu Ende denkt und den Zusammenhang zwischen Außenpolitik, der außenpolitischen Repräsentanz durch den Bundesaußenminister und seiner massiven Schwächung durch die eigene Partei herstellt, dann stellt sich schon die Frage, welche Konsequenzen Gera für Ihre Handlungsfähigkeit als Bundesaußenminister hat.
({2})
Wenn der Bundesaußenminister und Vorsitzende der F.D.P. von Ihrem Parteitag höhnisch ausgelacht wird, weil er die Koalitionsvereinbarungen preist, und Sie dann sagen, das hätte keine Konsequenzen, dann sage ich Ihnen: Das glauben Sie selbst nicht!
({3})
Denn Sie wissen so gut wie ich: Er ist nur deshalb noch Ihr Vorsitzender, weil es keine Alternative gibt. Ihr Parteitag lacht den Bundesaußenminister aus - und die Partner Deutschlands sollen ihn ernst nehmen? Glauben Sie im Ernst, daß das noch möglich ist? Das ist eine Frage, die man stellen muß.
({4})
Joseph Fischer ({5})
- Jetzt wirft Glos mir Unverschämtheit vor und nicht dem F.D.P.-Parteitag. Das soll mal einer verstehen!
Meine Damen und Herren, das wird bedeuten - Herr Kinkel, ich meine das in allem Ernst -, daß jetzt offensichtlich nur noch der Bundeskanzler allein die außenpolitische Kompetenz hat. Das ist so in unserer Verfassung zu Recht nicht vorgesehen. Gerade auf dem Hintergrund der jüngsten außenpolitischen Entwicklungen kommt bei mir - auch wenn es einen Oppositionspolitiker normalerweise freut, wenn die Regierung in Schwierigkeiten kommt - nur maßvolle oder gar keine Freude auf. Denn es zeichnet sich ab, Herr Bundeskanzler, daß Sie in den beiden zentralen strategischen Fragen Ihrer Politik, was die europäische Ordnung nach dem Ende des Kalten Krieges und die Einbindung des vereinten Deutschlands in diese Friedensordnung betrifft, offensichtlich zu scheitern drohen.
Erster Punkt: Osterweiterung der NATO. Es ist offensichtlich geworden - Herr Lamers hat schön darum herumgeredet -, was wir immer prophezeit haben: Die NATO als Instrument des Kalten Krieges wird nicht dazu taugen können, die Sicherheitsbedürfnisse Gesamteuropas in einer Friedensordnung zu organisieren, und zwar nicht nur, weil Rußland hier erhebliche Bedenken hat und diese auch mobilisiert, sondern auch, weil es darüber im westlichen Lager keine Einigung gibt. Das wissen Sie doch ganz genau!
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Meine Damen und Herren, Sie setzen bei der Osterweiterung der NATO auf ein Instrument, bei dem Sie sich ähnlich verheben werden wie bei dem Bemühen um einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat. Sie werden nach einigen Jahren feststellen, diese Osterweiterung wird nicht kommen, mit der Konsequenz allerdings, daß wertvolle Zeit, eine europäische Friedensordnung jenseits des Instrumentes des Kalten Krieges, der NATO, zu entwickeln, vertan wurde.
({7})
Meine zweite große Sorge, Herr Bundeskanzler: Sie haben auf die Erweiterung und Vertiefung der EU gesetzt. Sie haben zu Recht auf die Erweiterung gesetzt mit dem Argument, es dürfe in Mitteleuropa keine Zone der Unsicherheit entstehen, es dürften sich dort nicht nationale Aggressionen Raum schaffen, wie es heute leider auf dem Balkan bereits auf blutige Weise der Fall ist. Deswegen müsse es eine Integrationsperspektive für die neuen ost- und mitteleuropäischen Demokratien geben. - Ich finde das richtig. Nur, Sie sagten zu Recht: Die im deutschen Interesse liegende Vertiefung, daß es also nicht bei einer Wirtschaftsgemeinschaft bleibt, hängt an der Irreversibilität, der Unumkehrbarkeit der europäischen Integration. Da frage ich Sie, Herr Bundeskanzler, ob Sie angesichts der Absage von Delors, daß er nicht als französischer Staatspräsident kandidiert, ob Sie angesichts der Töne, die alle bürgerlichen Kandidaten im französischen Präsidentschaftswahlkampf gegenüber einer vertieften europäischen Integration in Frankreich artikulieren, nicht in höchster Sorge sein müssen, daß aus der Vertiefung nichts wird, sondern daß wir im wesentlichen auf der Ebene bleiben, die wir heute schon haben.
Das ist doch der entscheidende Punkt, wenn wir zur Bewertung von Konferenzen kommen, Herr Bundesaußenminister. Die kleinen Erfolge seien Ihnen wirklich gegönnt. Das ist doch nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, daß wir von Ihnen keine Antwort auf die zentralen Herausforderungen bekommen. Sie haben dazu nicht Stellung bezogen. Statt dessen erleben wir, meine Damen und Herren, in diesem Land eine Debatte über die Frage, wie wir es mit Kriegsbeteiligung halten, wie wir es mit militärischen Einsätzen der Bundeswehr auf dem Balkan halten. Da können Sie es sich nicht so einfach machen, Herr Lamers, daß Sie jedesmal, wenn der Name Naumann fällt, die Ohren auf Durchzug stellen; das gleiche gilt auch für die Bundesregierung.
Herr Bundeskanzler, mich würde schon interessieren, wie es zu dieser ersten formlosen Anfrage gekommen ist. Sie haben sich - ebenso wie der Bundesaußenminister - dankenswerterweise am Wochenende, bevor die ersten Tornados angefordert wurden - informell, das Wort „informell" wurde nachgeschoben; das wissen Sie so gut wie ich -, weit aus dem Fenster gehängt und gesagt: deutsche Kampfverbände, deutsche Soldaten in Bosnien - nein! Dann kam diese Anfrage, und da frage ich Sie, Herr Bundeskanzler: War das eine Eigenmächtigkeit der Hardthöhe? - Da mögen Sie die Backen blasen, wie Sie wollen. Die Antwort müssen Sie schon noch geben, Herr Bundeskanzler!
({8})
Da nützt es nichts, hier die Backen aufzublasen, sondern wir wollen eine klare Antwort haben. Ist es in dieser Frage so, daß die Generalität, daß der Generalinspekteur oder am Ende gar der Bundesverteidigungsminister den Bundeskanzler und den Bundesaußenminister über die Vorbande NATO-Anfrage des SACEUR bei den ersten informellen Anfragen bezüglich deutscher Tornados vorführen und die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Politik auf eine militärische Beteiligung in Bosnien festlegen wollte? Ja oder nein - diese Antwort sind Sie dem Deutschen Bundestag schuldig. Sie ist bis heute nicht gegeben worden.
({9})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: Ich kann all diejenigen verstehen, die zerrissen sind - mir geht es genauso - bei der Frage: Wie kann man dieses barbarische Morden und Vergewaltigen, wie kann man diese ethnischen Säuberungen - ein furchtbares Wort! - endlich beenden? Ich jedenfalls bin permanent in mir zerrissen. Einerseits würde man als elementare menschliche Reaktion den Mördern gerne das Handwerk legen, und sei es mit Gewalt, andererseits, wenn der Kopf eingeschaltet wird, weiß
Joseph Fischer ({10})
man, daß diese Option, zumindest für Deutschland so nicht existiert.
Wir wissen doch heute, wenn wir uns den Somalia-Einsatz und die gegenwärtige Lage in Somalia anschauen - das meine ich jetzt nicht als Vorwurf -: Die Lage ist wie vor der UN-Intervention oder sogar schlimmer. Es hat sich durch diese Intervention nichts geändert. Wenn die Truppen dort herausgezogen würden, befürchte ich eine „Afghanisierung". Dann erleben wir eine Eskalation des Krieges schlimmster Art.
Das heißt, wir werden hier, wenn Entscheidungen zu treffen sind, wirklich Grundüberzeugungen abzuwägen haben - aber nicht nur Grundüberzeugungen. Gleichzeitig geht es um eine Hintergrundfrage, die den Bosnien-Konflikt von Anfang an mitbestimmt hat: Was ist die zukünftige Rolle des vereinten Deutschlands in Europa?
Da, Herr Lamers, möchte ich gerade an Sie nochmals appellieren: Bedenken Sie doch, welche Isolierung die Bundesrepublik Deutschland zum erstenmal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt hat, weil sie in der Frage der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens gegen die Interessen der westlichen Bündnispartner gestanden hat.
({11})
Deswegen kann ich nur zu äußerster Zurückhaltung raten.
({12}) meldet sich zu
einer Zwischenfrage)
- Den Satz möchte ich noch zu Ende bringen. - Wer heute sagt, die Geschichte ist kein zureichendes Argument, daß deutsche Soldaten in Kampfverbänden in Bosnien nichts zu suchen haben, der unterschätzt meines Erachtens massiv die Wirkung der Geschichte in die Aktualität hinein.
(
Wer schickt denn Kampfverbände?)
- Unter Kampfverband fällt auch ein für den Kampf ausgerüstetes Flugzeug, Herr Bundeskanzler; das wissen Sie so gut wie ich. Das ist nicht nur eine Frage von Bodentruppen. Sie kennen so gut wie ich das große Risiko, daß die Herren Karadzic und Mladic gerne bereit sein werden, in dem Moment, in dem Bundeswehr-Tornados im Luftraum über Bosnien bewaffnet eingesetzt werden, ohne Rücksicht auf Opfer den Propagandaerfolg zu suchen.
Ich frage Sie: Warum sind wir bereit, darauf einzugehen, obwohl wir wissen, daß damit dieser Krieg nicht um eine Sekunde verkürzt und dieser Krieg nicht um ein Opfer weniger schrecklich wird?
({0})
Herr Kollege Fischer, wenn Sie jetzt schnell die Zwischenfrage zulassen, liegen Sie noch in der Redezeit.
Bitte.
Herr Kollege Fischer, befürchten Sie nicht auch, daß wir uns ebenfalls
isolieren, wenn wir uns jedweder Art der Beteiligung an militärischen Maßnahmen, die unsere Alliierten im Auftrag der Vereinten Nationen dort unternehmen, verweigern?
Nein, Herr Lamers, ich befürchte das nicht. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, die heute schon genutzt werden. Ich darf Sie nur daran erinnern, daß es nie streitig war, daß Angehörige der Bundesluftwaffe bei hochriskanten Einsätzen im Rahmen der Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, mit Brennstoffen oder mit Medikamenten eingesetzt werden. Das war in diesem Hause, das war mit unserer Partei niemals streitig.
Deswegen sage ich Ihnen, Herr Lamers: Wenn wir uns dort mit Kampfverbänden beteiligen werden, ob am Boden oder in der Luft, dann wird das - das ist meine Überzeugung - nicht konfliktdämpfend und schon gar nicht konfliktlösend wirken, sondern es wird - das ist unsere große Furcht - konflikteskalierend wirken. Deswegen sagen wir zu einem solchen Einsatz klar nein.
({0})
Genauso halten wir nichts davon - da stimme ich dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu -, jetzt den begonnenen Einsatz von UNPROFOR durch einen Rückzug abzubrechen, weil dies auf eine massive Eskalation des Konfliktes hinauslaufen würde.
({1})
Lassen Sie mich zum Schluß, Herr Bundeskanzler, nochmals an Sie appellieren: Wir können hier ganz unmittelbar etwas tun. Meine Fraktion hat einen Antrag eingebracht, endlich damit aufzuhören, Deserteure und Kosovo-Albaner in das Kriegsgebiet abzuschieben.
({2})
Deswegen am Schluß mein Appell an Sie, Herr Bundeskanzler: Machen Sie es möglich, daß die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern einen Beschluß faßt, daß wir, solange dieser Krieg, dieser Konflikt andauert und es dort zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, keine Deserteure mehr in dieses Kriegsgebiet abschieben. Ein Antrag liegt vor, und ich würde mich freuen, wenn Sie dem zustimmen könnten.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außenpolitik ist immer auch mit Asyl-, mit Flüchtlings- und mit Entwicklungshilfepolitik verbunden. Wenn man sich den geplanten Haushalt 1995 diesbezüglich ansieht, dann bin zumindest ich entsetzt.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die Asyldebatte in diesem Bundestag. Ich erinnere mich an ein Versprechen von Bundesverteidigungsminister Rühe, das bis heute nicht eingelöst ist. Sie, Herr Rühe, haben
damals in diesem Haus um Zustimmung zur faktischen Abschaffung des Asylrechts gebeten, u. a. mit der Begründung, daß die dadurch freiwerdenden Mittel dann viel lohnender eingesetzt werden könnten, um die Ursachen der Fluchtbewegung in dieser Welt zu bekämpfen, d. h. um die Entwicklungshilfe aufzustocken.
Ich habe schon damals gesagt, daß ich an dieses Argument nicht glaube. Tatsächlich sind die Kosten für Asylbewerberinnen und Asylbewerber drastisch reduziert worden, nämlich dadurch, daß Sie das Asylrecht faktisch abgeschafft haben. Aber nicht eine D-Mark dieser eingesparten Mittel ist zur Bekämpfung der Ursachen der Fluchtbewegung in dieser Welt eingesetzt worden. Im Gegenteil, für 1995 planen Sie eine Reduzierung der Entwicklungshilfe von über 100 Millionen DM. Das ist die Realität! Es bleibt also dabei: Wir „produzieren" Flüchtlinge in dieser Welt täglich mit.
Herr Gysi, lassen Sie mich Sie einen Moment unterbrechen! - Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wer nicht zuhören will oder andere Beschäftigungen vorhat, der möge das bitte außerhalb des Saals tun, damit sich der Redner Gehör verschaffen kann.
({0})
Vor allen Dingen deshalb, weil die große Mehrheit gestern entschieden hat, daß wir sowieso nur ganz kurz zu reden haben, weil Sie - entgegen dem Argument von Herrn Schulz, daß doch nur SED-Hülsen kommen, die uns entlarven - offensichtlich befürchten, es könnten inhaltliche Argumente kommen, halte ich es für selbstverständlich, dann wenigstens diese wenigen Minuten zuzuhören.
Ich behaupte: Wir partizipieren von der Armut in der sogenannten Dritten Welt. Wir beteiligen uns täglich an der Schaffung der Fluchtursachen, leisten immer weniger Entwicklungshilfe, schüren gleichzeitig im eigenen Land die Angst vor Flüchtlingen und schaffen das Asylrecht immer stärker ab.
In diesen Zusammenhang gehört auch das, was wir heute schon mehrfach diskutiert haben, nämlich das Verhalten gegenüber den kurdischen Flüchtlingen. Wieso braucht es eigentlich erst eines Urteils eines Staatssicherheitsgerichts in der Türkei? Wer will denn in diesem Hause erklären, daß nicht schon seit Jahren feststeht, daß die Kurden in der Türkei unterdrückt und verfolgt werden? Wieso braucht es erst eines solchen Urteiles, damit der Bundesinnenminister für eine kurze Zeit die Abschiebung der Kurden stoppt, um sie danach wieder fortsetzen zu wollen? - Nein, das richtige Signal wäre gewesen: Bis zur Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei werden Kurden aus Deutschland überhaupt nicht mehr abgeschoben! Das hätte die Antwort der Bundesregierung sein müssen.
({0})
Wenn wir hier über Außenpolitik sprechen, reden wir immer auch über Verteidigungs- und Kriegspolitik. Ich weiß gar nicht, ob Ihnen das auffällt, Herr
Außenminister. Sie haben heute eine Rede gehalten, die mindestens zu zwei Dritteln Militärpolitik enthielt. Das allein ist doch schon der Beweis dafür, daß Außenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland immer stärker zur Militärpolitik verkommt. Das ist etwas, was nicht sein darf.
({1})
- Hören Sie einmal zu! Sie haben über Jahrzehnte hinweg gesagt: Die eigentliche Gefahr in Europa geht vom Warschauer Vertrag, vom sogenannten Ostblock aus. Den Warschauer Vertrag gibt es nicht mehr, auch den Ostblock gibt es nicht mehr. Schauen Sie sich aber einmal den Verteidigungshaushalt an: Er ist so gut wie gar nicht reduziert worden,
({2})
obwohl es die strukturellen Veränderungen ermöglicht hätten, ihn in einen ersten Schritt wenigstens um 10 Milliarden DM zu kürzen.
Es ist über das ehemalige Jugoslawien gesprochen worden. Die Situation dort ist fürchterlich; das ist, glaube ich, übereinstimmende Auffassung in diesem Hause. Ich komme aber nicht umhin, darauf hinzuweisen, daß der Beginn des Konfliktes auch in der verfrühten Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch die Bundesrepublik Deutschland begründet liegt. Wir wußten doch aus der Erfahrung mit der ehemaligen Sowjetunion, daß zuerst eine politische Lösung erfolgen muß. Das haben Sie bei den ehemaligen Republiken der Sowjetunion durchaus eingehalten. Auf dem Balkan aber wurde der Konflikt bewußt geschürt.
Herr Gysi, Frau Kollegin Beck würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Gysi, ist Ihnen bekannt, daß die Stadt Vukovar in Kroatien ein halbes Jahr vor der Anerkennung Kroatiens durch Deutschland und die EG zerstört wurde, daß also der Krieg in Kroatien tobte, bevor die Anerkennung vollzogen war?
({0})
Das ist mir bekannt, Frau Beck.
({0})
Sie werden mir aber einräumen müssen, daß die vorzeitige Anerkennung durch Deutschland den Konflikt beachtlich hat eskalieren lassen,
({1})
aus einem Bürgerkrieg einen völkerrechtlichen Konflikt gemacht hat und sich dann die berühmte internationale Gemeinschaft als völlig unfähig erwiesen hat, irgendwelche wirksamen Mittel dagegen einzusetzen.
({2})
Auch dazu will ich etwas sagen. Wie wäre es mit einem wirklichen vollständigen Embargo für alle Seiten im ehemaligen Jugoslawien, selbstverständlich und gerade auch für Serbien, gewesen, bevor man irgendwelche militärischen Lösungen anstrebt? Außer Heizmaterial, Medikamenten und Lebensmitteln hätte nichts mehr dorthin ausgeführt werden dürfen. Aber Sie wissen: Einen Mangel an Waffen hat es dort noch nie gegeben. Ich frage: Woher kommt eigentlich der tägliche Nachschub an Waffen? Warum funktioniert dieses Embargo nicht? Dieser Krieg wäre längst beendet, wenn man das Embargo konsequent durchgesetzt hätte.
({3})
In diesem Zusammenhang muß ich das unterstützen, was der Kollege Fischer gesagt hat. Gerade die serbische Armee und Serbien wurden ganz oft als Kriegsverbrechen beschuldigt und als Kriegstreiber bezeichnet, und zwar von diesem Haus. Gleichzeitig werden Serben, die sich weigern, sich an diesem Krieg zu beteiligen, und die deshalb desertieren, aus diesem Land nach Serbien zurückgeschickt, wo sie dann verurteilt werden. Das ist eine unerträgliche Doppelmoral!
({4})
Jeder Bürger des ehemaligen Jugoslawien, der sich an diesem Krieg nicht beteiligt, muß Schutz in der Bundesrepublik Deutschland genießen und darf nicht zurückgeschickt werden, ganz egal, ob er Serbe, Kroate, Moslem oder was auch immer ist.
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Ich mache mir ebenfalls große Sorgen, wenn ich an Tschetschenien denke. Ich meine, die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker sollte immer auf der Tagesordnung stehen, nicht nur dann, wenn es einem gefällt. Daß hier sofort auf eine militärische Lösung gesetzt wird, macht das ganze veränderte Klima in der Welt und in Europa deutlich. Immer mehr geht man dazu über, die militärische Lösung als die erste anzusehen, nicht etwa die politische oder die diplomatische. Deshalb meine ich, daß ein energisches Wort der Bundesregierung erforderlich ist, wenn der russische Präsident Truppen nach Tschetschenien schickt, um die Menschen dort zu disziplinieren. Das kann nicht der Weg zur Lösung dieses Konflikts sein.
({6})
Ich betone auch für unsere Abgeordnetengruppe ganz eindeutig, daß wir gegen jegliches militärische Abenteuer der Bundesrepublik Deutschland auf dem Balkan eintreten werden. Wie sich die diesbezügliche Haltung der Bundesregierung verändert hat, zeigt sich an den Äußerungen von Bundesverteidigungsminister Rühe. Am 22. Juli 1992 sagte er: Eine militärische Option in Jugoslawien kommt für mich nicht in Frage. - Das hat er hier im Bundestag erklärt. Am 21. April 1993 klang das schon anders. Da sagte er: Für uns bleibt es dabei, keine deutschen Truppen in Bosnien einzusetzen, auch keine deutschen Kampfflugzeuge. - Da war es schon nicht mehr jede
militärische Option, die ausgeschlossen wurde. Und am 1. Dezember 1994 meldete Reuter: Rühe sagte, Deutschland müsse offen sein, einen stärkeren Beitrag in der Nato zu leisten, sonst verlieren wir das Recht, zum Thema Bosnien-Herzegowina kluge Bemerkungen zu machen. Einen Einsatz deutscher Bodentruppen schloß Rühe aus. Die Anforderung des NATO-Hauptquartiers werde geprüft. Er sagte, die angeforderten Flugzeuge sollten dem Schutz der Bevölkerung wie auch dem der Versorgungsflugzeuge und der UNO-Truppen am Boden dienen. - Das heißt, immer mehr werden wir daran gewöhnt, daß eine militärische Beteiligung Deutschlands letztlich doch unabdingbar ist. Das Argument, man werde sich sonst isolieren, ist doch absurd. Über Jahrzehnte hat sich Deutschland an solchen militärischen Operationen nicht beteiligt und war doch deshalb in dieser Welt nicht isoliert. Man kann sehr wohl die Lehren der Geschichte berücksichtigen, und man kann auch anders und wirksamer helfen, Konflikte in dieser Welt zu beseitigen oder ihnen vorzubeugen, als mit militärischen Mitteln.
Um diesen Gedanken deutlich zu machen, sage ich jetzt etwas zu einem anderen Thema. Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan war doch mit Sicherheit politisch, moralisch und völkerrechtlich zu verurteilen.
({7})
Das ändert nichts an der Tatsache, daß nach dem sowjetischen Abzug dort entsetzliche Konflikte entstanden sind. Aber würde das nun rechtfertigen, zu sagen: Dann hätten die sowjetischen Truppen lieber dableiben sollen, weil hinterher solch entsetzliche Konflikte entstanden sind? Das kann doch nicht die Lösung sein. Ich habe das Gefühl, eine derartige Politik greift um sich. Man schafft erst militärische Fakten, und dann wird erklärt: Wenn man sie jetzt beseitigen würde, würden die Konflikte noch schärfer werden. Das zeigt, daß der militärische Weg falsch ist.
({8})
- Nein, warten Sie doch! Beim Beispiel in Somalia ging es mir nicht um die UNO, sondern darum, daß die Konflikte hinterher noch stärker werden, nachdem eine militärische Operation beendet ist.
Ich stimme Ihnen übrigens zu, daß man die UNO-Truppen aus Bosnien-Herzegowina jetzt nicht abziehen kann. Das wäre wirklich eine Katastrophe. Ich bin ganz und gar dagegen und hoffe, daß die Bundesregierung ihren diesbezüglichen Einfluß geltend macht; denn die Auswirkungen wären ganz erheblich.
({9})
- Die Lösung würde in einem wirklich komplexen, umfassenden Embargo bestehen; ich habe darauf vorhin schon hingewiesen.
Lassen Sie mich nur noch ganz wenige Bemerkungen machen.
Das einzige wirklich positive Beispiel einer friedenssichernden Außenpolitik gibt es im Nahen Osten. Die Verständigung zwischen Israel und seinen Nachbarn macht wirklich Hoffnung. Ich frage mich, warum dieser Politikstil nicht weltweit eingeführt werden kann, warum überall sonst auf militärische Lösungen gesetzt wird.
Ich füge hinzu: Die NATO wird nicht das zukünftige Sicherheitssystem in Europa sein. Viel zu früh haben Sie die KSZE abgeschrieben, und deshalb funktioniert sie jetzt auch nicht mehr. Auch die WEU kann die Lösung nicht bringen. Wir müssen uns für Osteuropa öffnen; sonst erleben wir eine Spaltung, die ökonomisch, sozial, in bezug auf die Flüchtlingspolitik und auch militärisch höchst gefährlich ist.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zur Europäischen Union sagen.
Ihre Redezeit ist schon abgelaufen.
Ich bin sofort fertig; der letzte Satz, Frau Präsidentin.
Wer die Europäische Union wirklich will, der muß dafür sorgen, daß sich nicht die Institutionen in ihr wohlfühlen, daß nicht die Bürokratie wächst und blüht, sondern daß auch die Menschen etwas von ihr haben. Das bedeutet in erster Linie Erweiterung nach Osteuropa, aber es bedeutet auch wesentlich mehr Demokratie in der Europäischen Union selbst. Das fängt in der eigenen Gesellschaft an. Ohne Volksentscheide und Volksinitiativen wird es uns nicht gelingen, die Europäische Union zu demokratisieren. Das hat zur Folge: Sie wird immer bürokratischer werden, und die Ablehnungsfront wird zunehmen. Das nutzt letztlich - leider - den Nationalisten und Rechtsextremisten in den verschiedenen europäischen Ländern. Deshalb sind hier eine Kehrtwende und eine Kurskorrektur in der Politik dringend erforderlich.
({0})
Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es ist richtig, und Sie erwarten das auch, daß ich in dieser Debatte wenigstens ein paar Bemerkungen zu einigen Gegenständen der Aussprache mache.
Zunächst einmal ist es mir neu, daß mir direkt oder indirekt der Vorwurf gemacht wird, ich würde meine Richtlinienkompetenz als Bundeskanzler nicht wahrnehmen. Das ist eine neue Erfahrung nach zwölf Jahren. Sonst habe ich immer das Gegenteil gehört.
Denjenigen, die so tief beunruhigt sind wie der Abgeordnete Fischer, dem man die Unruhe auch im Gesicht ansieht, will ich sagen: Ich werde mich nicht mehr ändern.
({0})
Die Richtlinienkompetenz steht dem Bundeskanzler zu. Da es Ihnen nicht gelungen ist, den Bundeskanzler Kohl zu beseitigen, sitzt er noch da und bestimmt wie bisher die Richtlinien der Politik.
({1})
- Jetzt hören Sie doch wirklich auf, diese Schimäre eines Komplotts von Generälen an die Wand zu malen!
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Meine Erfahrung mit Generälen der Bundeswehr besteht nicht darin, daß sie besonders eckig sind, sondern ich wünschte mir, daß manche mehr Ecken und Kanten hätten, um das einmal bildlich auszudrücken.
({3})
Ich denke, wir haben uns ganz gut verstanden.
Sie sollten nicht auch einen der bewährten Soldaten so darstellen, als wolle er die Verfassung aushöhlen. Das ist doch alles purer Unsinn. Ich finde, eine solche Debatte hat nicht die nötige Würde, wenn wir auf diese Art und Weise miteinander reden. Das ist wirklich Unsinn.
({4})
Zweitens. Wir werden jetzt einmal mehr mit der Frage konfrontiert: Was werden die Bundesregierung, der Bundestag und die Bundesrepublik angesichts denkbarer Herausforderungen und Entscheidungen tun, die sich nach Lage der Dinge im früheren Jugoslawien ergeben werden?
Dazu will ich ein paar Bemerkungen machen. Das ist unsere Meinung, und es hat keinen Sinn, sie immer wieder umdeuten zu wollen.
Erstens. Wir werden die Entscheidung, die wir zugesagt haben, wenn sie konkret zu treffen ist - es geht für mich immer nur um konkrete Entscheidungen und nicht um Vorratsbeschlüsse -, in aller Ruhe und in Kenntnis aller Tatsachen, die wir dabei berücksichtigen müssen, zu treffen haben.
Wir haben darüber hinaus eine klare Absprache mit dem Deutschen Bundestag. Diese Absprache wird auch eingehalten. Es kann keine Rede davon sein, Herr Abgeordneter Scharping, daß Sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden. In einer Bemerkung Ihrer Rede war das wohl so gemeint, daß Sie im nachhinein informiert werden. Von meiner Seite ist das immer in korrekter Weise geschehen.
Sie werden nicht morgens aufwachen und Entscheidungen von uns in der Zeitung lesen. Aber ebenso klar ist, daß wir erst entscheiden, was die Bundesregierung vorschlägt, und Sie erst dann informieren können.
({5})
Das ist der konkrete und verfassungskonforme Ablauf.
Daß darüber hinaus, Herr Kollege Scharping, Nachrichten an die Presse durchgestochen werden, das müssen Sie doch wissen. In den paar Tagen, die Sie jetzt in Bonn sind, stehen Sie jeden zweiten Tag mit irgendwelchen Sachen, die durchgestochen werden, in der Zeitung. Warum erregen Sie sich eigentlich darüber.
({6})
Herr Bundesgeschäftsführer, Sie haben ja Erfahrung beim Durchstechen in zwei Parteien.
({7})
Insofern sind Sie Experte. Wenn Sie jetzt die Gesichter Ihrer Kollegen in der SPD-Fraktion sehen würden, dann würden Sie sagen: Die denken, der Kohl hat diesmal wirklich recht. Und das ist auch wahr.
({8})
Drittens. Herr Fischer, es ist wirklich selbstverständlich, daß wir die Geschichte - im nächsten Jahr ist das Ende des Zweiten Weltkrieges 50 Jahre her - stets mit bedenken. Wir werden uns in der Woche um den 8. Mai in vielfältiger Weise in Deutschland an das Ende der Nazi-Barbarei, an das ganze Elend, das in deutschem Namen über andere gebracht wurde, erinnern. Daher können wir nicht im Dezember oder Januar oder Februar, oder wann immer das sein wird, so tun, als hätte es diese geschichtliche Erfahrung nicht gegeben.
Aber, meine Damen und Herren, auch wenn ich dies alles bedenke, fehlt ein Punkt, nämlich der unserer moralischen Pflicht gegenüber unseren Freunden. Ich bin mit allen der Auffassung: Es ist und bleibt unser elementares Interesse, daß die UNO-Soldaten, die im ehemaligen Jugoslawien Friedensdienst leisten, dort bleiben. Aber ich als Deutscher kann weder Felipe Gonzalez noch John Major, noch François Mitterrand, noch anderen etwas vorschreiben, wenn sie in einer gegebenen Situation möglicherweise die Entscheidung treffen, auch im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen, dort nicht mehr bleiben zu wollen.
Dann - das bitte ich Sie ganz ruhig zu erwägen; das alles steht ja nicht heute zur Entscheidung an - kommen wir Deutschen möglicherweise in folgende Situation. Man wird uns sagen: Wir haben Verständnis dafür gehabt, daß ihr in der konkreten Situation im früheren Jugoslawien nicht irgendwelche Einsätze leisten könnt. Aber wenn es darum geht, unseren Soldaten, den Armeen unserer Söhne, zu helfen, könnt ihr dann sagen: „Wir tun gar nichts"?
Wir werden natürlich keine Bodentruppen und schon gar keine Kampftruppen, wie Sie es genannt haben, dorthin senden. Aber es kann sehr wohl möglich sein, daß wir zur Abschirmung des Abzugs unserer Freunde und Verbündeten die Frage zu beantworten haben: Sind wir hilfreich oder nicht? Ich sage jedem Mitglied des Hohen Hauses, nicht zuletzt denen aus den neuen Ländern: Dabei geht es für mich und für viele andere hier immer auch um die Frage der Bündnissolidarität: Wer hat denn eigentlich 40 Jahre lang Friede und Freiheit im freien Teil Deutschlands bewahrt? Es waren doch unsere amerikanischen, britischen und französischen Freunde!
({9})
Meine Bitte an alle ist: Lassen Sie uns diese Frage wirklich ruhig und mit der notwendigen Würde, die dieser wichtigen Entscheidung angemessen ist, beantworten! Hören wir auf, so zu reden, als ginge es hier um eine Remilitarisierung der deutschen Politik!
({10})
- Herr Abgeordneter, wenn ich Sie und Ihr politischgeistiges Herkommen betrachte, sind Sie der allerletzte, der uns über Remilitarisierung etwas sagen darf.
({11})
Herr Abgeordneter Scharping, natürlich haben Sie sich Sorgen um die Zukunft der Regierung gemacht. Das ehrt Sie.
({12})
Ich habe aber den Eindruck, daß Ihre Formulierung etwas verunglückt war. Sie sprachen von den Reden vor der Wahl und nach der Wahl. Wir haben vor der Wahl gesagt: „Wir sind eine gute Koalition", und wir sagen das auch nach der Wahl.
({13})
Herr Kollege Scharping, es hat sich nichts geändert.
({14})
- Sie können noch soviel schreien, Sie sitzen noch immer frustriert auf Ihren Oppositionsbänken, und wir sind noch immer Regierungskoalition.
({15})
Herr Scharping, Sie haben sich viele Sorgen um die F.D.P. und die Zukunft des Kollegen Kinkel gemacht.
({16})
Das ist ein ganz vorzüglicher Außenminister. Das möchte ich bei dieser Gelegenheit gerne einmal sagen.
({17})
Herr Scharping, wenn ich mir vorstelle - Herr Fischer, seien Sie einen Moment mal ruhig; ich will mich jetzt mit Ihnen beschäftigen -,
({18})
daß an Stelle von Herrn Kinkel Herr Fischer säße,
- das ist doch die Kombination, die Sie anstreben;
denn Ihr Verhältnis zur PDS ist ja noch nicht ganz eindeutig geklärt -, dann kann ich nur sagen: Das wäre schlimm!
({19})
Ich will Ihnen sagen: Die Vorstellung, daß bei internationalen Konferenzen der neue Stil von Herrn Fischer sich durchsetzen könnte, beunruhigt mich wirklich.
({20})
Aber meine Unruhe ist relativ gedämpft, weil ich das Wahlergebnis kenne. Das Wahlergebnis ist so, wie ich es Ihnen lange Zeit prophezeit habe - aber Sie haben mir ja nicht geglaubt -, daß Sie noch immer Opposition sind.
({21})
Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, verehrter Herr Scharping, dann würde ich mir weniger Sorgen um die F.D.P. machen, sondern würde einmal überlegen: Was treiben eigentlich die Sozialdemokraten mit Ihnen?
({22}) Herr Scharping, ich sage das ohne Häme,
({23})
- warten Sie erst einmal den nächsten Satz ab, und dann werden Sie sehen, daß das so ist -, denn auch ich war Oppositionsführer. Bei mir kamen die Anrufe nicht aus Hannover, sondern aus München. Aber ich weiß, was das heißt.
({24})
Ich weiß, wie das ist, wenn Hintergrundgespräche geführt werden. Einer hat sogar einen guten Koch dafür eingestellt.
({25})
Da wird unter „Vertraulich" davon gesprochen, was es alles gibt, z. B. den Erosionsprozeß. Ich will das alles nicht aufwärmen. Ich empfinde hierbei wirklich keine Häme, denn ich habe das jahrelang selbst erlebt und erlitten. Aber irgendwann war ich auf einem anderen Stuhl. Diese Hoffnung will ich Ihnen ja nicht nehmen; das füge ich hinzu.
({26})
Meine Damen und Herren, lassen Sie Ihre Zukunftssorgen über Weihnachten verschwinden.
({27})
- Über Rheinland-Pfalz würde ich mit dem Herrn Scharping gar nicht reden; denn er war nur drei Jahre da. Dann ist er weggegangen. Das respektiere ich. Aber dann hat sein Nachfolger die Regierung so umgekrempelt, daß deutlich wurde, daß Herrn Scharpings Regierung nicht viel getaugt hat.
({28})
Über Rheinland-Pfalz können Sie mit mir wirklich nicht gut diskutieren.
({29}) Meine Damen und Herren, so ist das.
({30})
Lassen Sie Ihre Sorgen um die F.D.P. Die F.D.P. hat jetzt eine schwierige Zeit.
({31})
Auch wir haben schwierige Zeiten gehabt. Sie haben sie immer noch. So muß jeder vor seiner Tür kehren. Und die werden das schaffen.
Wissen Sie, ich habe über Jahrzehnte erlebt, wie für die F.D.P. die Totenglocke geläutet wurde. Dann ist sie doch immer wiedergekommen. Wie ich Sie in der Sozialdemokratie kenne, würden Sie ja kniefällig die F.D.P. bitten, zu Ihnen zu kommen, wenn sie nur käme. Das ist doch die Erfahrung.
({32})
Dann, Herr Scharping - das muß ich doch auch noch sagen -,
({33})
haben Sie sich über die Kritik des Europäischen Parlaments gefreut.
({34})
Sie waren ganz erstaunt, daß mich diese Kritik nicht sonderlich berührt hat. Warum nicht? Sie müssen einmal lesen, was da gesagt wurde. Da sind eine Menge Redner aufgetaucht - an der Spitze die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament -, die zunächst einmal parteipolitisch operiert haben. Das finde ich ganz normal, daß die Sprecherin der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament nicht sagt, der deutsche Bundeskanzler sei der Größte. Da hat sie recht. Das glaube ich ja selber nicht. Warum soll sie es glauben?
({35})
Aber, wissen Sie - ich sage das jetzt überhaupt nicht parteipolitisch -, mich hat gestern etwas anderes betroffen gemacht, Herr Scharping. Ich habe gestern alle Reden aufmerksam gehört, aber kaum einer der Kollegen im Europäischen Parlament hat ein Wort dafür gefunden, was es für eine Stunde gewesen ist, daß die Mittel- und Osteuropäer jetzt auf dem Weg sind, zu uns zu kommen. Dies hat mich tief berührt.
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Ich habe fast dauernd gehört, daß man für den Süden Europas mehr Geld geben muß und daß ich als Bundeskanzler der Bundesrepublik dabei zuwenig tue. Aber daß die Polen, die Tschechen, die Slowaken, die Rumänen, die Bulgaren und die Ungarn unsere europäischen Brüder sind, wie ich es dort formuliert habe, und daß doch andere, die die Chance hatten, sich 40 Jahre in Freiheit zu entwickeln, jetzt einmal einen Moment zurückstehen müssen, damit die anderen zu ihrem europäischen Recht kommen, dieser Gedanke wurde kaum offenbar,
({37})
und das hat mich betroffen gemacht.
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Ich war ebenfalls verwundert darüber, wie schwach diese Plenarsitzung besucht war. Das sage ich als Parteivorsitzender auch an die Adresse meiner eigenen politischen Freunde. Es geht hier auch um die Frage der vielbeschworenen Bürgernähe. Wenn schon über die Zukunft Europas diskutiert wird und weniger als ein Sechstel der Abgeordneten anwesend sind, dann ist das natürlich kein eindrucksvolles Zeichen von Engagement.
Ich könnte noch ein paar solcher Bemerkungen machen. Das hat nichts mit verletzter Eitelkeit zu tun. Ich tue das, was ich für richtig halte. Meine Haltung wird sich auch nicht ändern. Ich weiß, daß die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille sind, und,
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Herr Fischer, ich weiß, daß diese Grundfestlegung unserer Politik irreversibel ist.
({40})
Dann sollte man doch auch nicht versuchen, in Diskussionen - auch über nachdenkliche Äußerungen - etwas hineinzuinterpretieren, was dort nicht gesagt wurde.
Wenn ich es richtig verstanden habe - das hat mich gefreut -, wollen Sie eine Art Besitzstandsgarantie geben, daß ich hier sitzen bleibe; denn Sie haben ja für meinen Nachfolger hier schon kritische Anmerkungen gemacht.
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- Ja, aber das ist wieder das, was ich nicht will.
Aber, meine Damen und Herren, eines möchte ich doch gern gesagt haben - Herr Scharping, Sie haben das so abgetan, als der Herr Lamers darauf hinwies -: Zu all diesen Themen müßten Sie doch erstklassige Informationen als Vorsitz ender der europäischen Sozialdemokraten haben. Ihre Schwesterpartei ist in der Türkei an der Regierung. Ich hätte gern einmal von Ihnen gehört, was Sie eigentlich auf Parteiebene mit der türkischen Seite besprochen haben.
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Wissen Sie, ich frage mich schon, was Sie mich gefragt hätten, wenn eine Schwesterpartei der CDU dort in der Regierung gewesen wäre.
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Ich möchte jetzt noch einmal etwas zum Europäischen Rat in Essen sagen. Wir haben in Essen eine Menge erreicht. Wir haben vieles nicht erreicht. Das war doch auf allen Euro-Gipfeln so. Aber ein paar Sachen sollten Sie doch einfach einmal anerkennen.
Bevor die deutsche Präsidentschaft überhaupt begann, haben wir, die Deutschen, und ganz besonders unser Außenminister, Klaus Kinkel, mit großem persönlichem Einsatz erreicht, daß den Schweden, den Finnen, den Norwegern und den Österreichern die Tür zur Europäischen Union geöffnet wurde. Wir bedauern zutiefst, daß Norwegen jetzt doch nicht beitritt. Wir bleiben dabei: Das Tor für Norwegen steht weit offen. Ich hoffe auf eine dritte Abstimmung, die dann eine andere Entscheidung bringt.
Wenn Sie mit der norwegischen Kollegin, mit dem schwedischen Kollegen, mit dem Präsidenten Finnlands oder mit Herrn Vranitzky sprechen, dann werden Sie übereinstimmend eine Laudatio auf den Einsatz der Deutschen mit Blick auf die Erweiterung durch diese vier Länder zu hören bekommen. Warum sagen Sie das nicht einmal? Das ist doch eine gute Sache.
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Glauben Sie mir - ich war ja lange Oppositionsführer -: Wenn Sie zwischendurch einmal etwas Positives sagen, dann kommen Sie viel besser raus,
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als wenn Sie das tun, was zwischen den Pressestellen der Fraktionen üblich ist. Auch wir haben das alles gemacht. Wenn die Regierung Schmidt etwas gesagt hat, dann haben wir durch unsere Pressestelle gesagt: Mit Abscheu und Empörung lehnen wir das ab.
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Heute machen Sie das umgekehrt. Der neben Ihnen sitzende parlamentarische Geschäftsführer liest das schon gar nicht mehr, was er vorher abgegeben hat. So läuft das ab.
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Ich bin dafür, daß wir hier in der Debatte sagen, was Gutes in Essen herausgekommen ist. Ich muß Ihnen wirklich sagen: Die Erweiterung ist eine große Sache, gerade für die Deutschen. Ich bin für alles zu haben, was Südeuropa betrifft. Aber nicht nur das Mittelmeer ist ein europäisches Meer, sondern auch die Nordsee und die Ostsee sind europäische Meere.
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Unsere Kollegen müssen sich daran gewöhnen, daß wir beides vertreten. Für mich ist es jedenfalls eine
großartige Sache gewesen, als die Kollegen aus den sechs Ländern zum ersten Mal zu einem Europäischen Rat kamen. Man hat an ihren Äußerungen und auch an ihrem ganzen Auftreten erkennen können, daß das für Europa eine historische Stunde gewesen ist.
Natürlich gibt es unendliche Schwierigkeiten. Es gab vorhin die intelligente Frage: Wie gestaltet ihr denn die europäische Agrarpolitik? Da kann ich Ihnen nur sagen: Ich habe da kein Patentrezept. Heute nacht nach 12 Uhr hat der Kollege Borchert mich aus dem Ministerrat angerufen. Es war nicht polnische, sondern westeuropäische Agrarpolitik, über die da diskutiert wurde. Der Weg nach Europa geht doch nicht über Patentrezepte. Schritt für Schritt, an manchen Tagen zentimeterweise, sind wir vorangekommen. Aber wir sind doch vorangekommen, und der Prozeß ist irreversibel.
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Es ist doch unübersehbar, daß dieses Europa auch im ökonomischen Bereich gewaltige positive Wirkungen hat, daß wir einen erheblichen Aufschwung quer durch Europa haben und daß sich viele nationale Volkswirtschaften ohne die strengen Anforderungen der Maastricht-Kriterien gar nicht in Richtung Stabilität und Konsolidierung bewegen würden.
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Aber wir können doch nicht erwarten, daß das alles über Nacht geht. Mittlerweile wird praktisch von jedem europäischen Gipfel verlangt, daß wir grundlegend Neues beschließen. Der modische Europessimismus hat viel mit solchen überzogenen und deshalb unerfüllbaren Erwartungen zu tun. Das ist doch absurd. Das erwartet doch auch niemand in der Kommunalpolitik, der Landespolitik und der Bundespolitik. Wir haben hier wirklich Schritt für Schritt voranzugehen.
Der Gipfel in Essen hat doch, wie ich finde, auch im Blick auf die Arbeitslosigkeitsbekämpfung eine Menge ausgezeichneter Vorschläge gemacht, übrigens auch in voller Übereinstimmung mit Jacques Delors. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - wenn ich das hier einmal sagen darf -, ich habe mir nie den Ausspruch meines Vorgängers Helmut Schmidt zu eigen gemacht, die Deutschen dürfen nicht die Zahlmeister Europas sein. Es war jetzt in Essen wiederum ein Thema, daß wir einmal darauf hinweisen - und dies ist legitim -, daß wir jetzt 11 450 000 000 ECU zahlen und daß andere, die zahlungskräftig sind, eigentlich mehr beitragen müßten, als sie es gegenwärtig tun. Ich will nicht weniger zahlen, aber ich will, daß andere künftig mehr zahlen, damit denen geholfen werden kann, die Hilfe brauchen.
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Die ganze Liste der Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entspricht dem Weißbuch von Jacques Delors. Sie enthält vor allem die Verpflichtung, daß jedes Land seine Hausaufgaben macht. Wir bekommen doch nicht die Jugendarbeitslosigkeit in Europa weg - um einmal ein Beispiel zu nennen, bei dem wir Deutschen im Vergleich mit anderen hervorragend dastehen -, wenn man nicht auch in anderen Ländern versucht, beispielsweise neue Ausbildungssysteme aufzubauen. Neben Luxemburg und Japan haben wir die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit unter allen Industrienationen. Das ist doch ein Ergebnis, das wir primär unserem dualen System verdanken, das sich seit vielen Jahrzehnten in Deutschland hervorragend bewährt hat.
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Ich bin ganz sicher: Wenn einige meiner Kollegen
- in diesem Fall spreche ich auch eine Kollegin an, die vor über zehn Jahren noch am Tisch saß - damit begonnen hätten, ein vergleichbares System aufzubauen wären sie in dieser Frage weitergekommen. Ich denke, wir haben hier die Chance, uns gegenseitig mit Ratschlägen zu helfen. Dazu sind wir gerne bereit.
Alles das, was wir in unserer großen Debatte vor drei Wochen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und unserer Exportchancen sowie zur Sicherung der Zukunft gesagt haben, gilt auch für die benachbarten europäischen Länder. Ich finde beispielsweise, daß es eine hervorragende Sache ist, was wir jetzt zum Aufbau von transeuropäischen Netzen für Verkehr, Energie und Information beschlossen haben. Die Hochgeschwindigkeitszug-Regelungen sind vernünftig. Es geht um eine Zukunftsinvestition. Es ist eine europäische Investition sondergleichen, wenn wir von London über Paris, über Mannheim oder Karlsruhe
- je nach der Linienführung - nach Berlin und Warschau und später nach Moskau eine solche Verbindung bauen.
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Hier wurde vorhin von Remilitarisierung gesprochen. Die Bahnführung, von der ich jetzt rede, ist in besonderer Weise Symbol für eine friedliche Zukunft auf unserem Kontinent. Ist eine solche Verbindung etwa keine großartige Vision? Ich habe keinen Grund zu irgendeiner Form von Euroskeptizismus.
Jetzt zum Thema Europol. Meine Damen und Herren, warum wenden Sie sich an mich? Ich habe diese Sache schon vor sechs Jahren durchzusetzen versucht, und zwar als erster. Ich habe auf dem EG-Gipfel auf Kreta den Fehler begangen, von einem „europäischen FBI" zu reden. Das hat bei einigen unserer Freunde sofort eine große Reserviertheit hervorgerufen.
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Heute sage ich ganz klar: Wir werden in Europa der Kriminalität modernster Form - ich nenne nur Drogenmafia und Nuklearschmuggel - nicht Herr werden, wenn wir uns darüber streiten, ob ein Kriminalbeamter an der Grenze haltmachen muß oder ob er
- im Einvernehmen mit dem betreffenden Land - die Verfolgung noch dreißig Kilometer auf dem Boden eines Nachbarstaats fortsetzen darf. - Sie können die Arme hochreißen, Frau Matthäus-Maier. Das müssen Sie aber anderen sagen. Wir sind die Vorkämpfer in dieser Sache.
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Herr Scharping, setzen Sie einmal diesen Punkt auf die Tagesordnung der Sozialisten in Europa! Sagen Sie Ihren Kollegen: Dieses Thema ist überfällig! Aber Sie können nicht die Bundesregierung dazu bringen wollen, andere zu zwingen.
Nein, ich bin nach schwierigen Verhandlungen über fünf Jahre stolz darauf, daß wir eine verbindliche Erklärung der französischen Regierung, des Präsidenten der Republik und des Premierministers bekommen haben, daß Anfang Juni 1995 diese Sache abgeschlossen wird. Wie schwer das jedoch ist, will ich Ihnen an Hand einer Erfahrung aus Bonn berichten.
Vor etwa vier Wochen hatten wir eine Besprechung mit den Abgeordneten der Europaausschüsse der nationalen Parlamente. Einige von Ihnen waren dabei. Ich habe mich vor diesem Forum leidenschaftlich für Europol eingesetzt. Am nächsten Morgen habe ich zu meinem Erstaunen gelesen, daß eine große Mehrheit der Abgeordneten in den Europaausschüssen der nationalen Parlamente Europol abgelehnt hat. Also: Es ist nicht allein die Sache der Regierungen, sondern es ist offenkundig so, daß ein gewisser Reifeprozeß auch in den Parlamenten stattfinden muß. Dieser ist jetzt langsam, aber sicher vorangekommen.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Uns geht es nicht um den Ruhm, daß wir in Essen einen weltbewegenden Kongreß abgehalten haben. Uns geht es darum, zu keiner Minute zu vergessen: Was ist unser Ziel? Unser Ziel ist, ein vereintes Europa zu bauen, das in den Stürmen der Zeit wetterfest ist, dessen Entwicklung irreversibel ist und in dem die Deutschen ihre feste Bleibe haben. Fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg soll jeder erkennen: Wir Deutschen haben die Lektionen der Geschichte gelernt.
Meine Bitte an alle, was immer man im einzelnen parteipolitisch denken mag, ist, daß wir die Sache Europa nicht zerreden, sondern diese Vision Wirklichkeit werden lassen.
({56})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Selbstsicherheit, Herr Bundeskanzler, die Sie uns hier gerade vorgespielt haben, kann es nicht so weit her sein, denn sonst hätten Sie es nicht für erforderlich gehalten, in eine Debatte einzugreifen, in die Sie eigentlich gar nicht eingreifen wollten. Es muß Sie doch einiges, was heute morgen gesagt worden ist, nervös gemacht haben. Und nervös, verehrter Herr Bundeskanzler, sind Sie bei dieser Rede gewesen.
({0})
Was haben Sie getan? Sie haben Witzchen gemacht und uns ein bißchen Kabarett vorgespielt, da, wo es nicht um politische Substanz geht. Und da, wo es um politische Sachfragen geht, Herr Bundeskanzler, sind
Sie ausfallend oder ausweichend geworden. Jedenfalls haben wir keine Klarheit von Ihnen bekommen.
({1})
Ich möchte Sie gerne einmal Anteil haben lassen an den Vorteilen, die sich ergeben, wenn man über einen reichen Schatz an politischen Erfahrungen auf den Seiten dieses Hauses verfügt, und Sie an das Jahr 1982 erinnern, an das Stichwort Vertrauensfrage. Im März 1982 hat die F.D.P.-Bundestagsfraktion einstimmig der damals vom Bundeskanzler gestellten Vertrauensfrage zugestimmt. Ein halbes Jahr später hat dieselbe Bundestagsfraktion diesen Bundeskanzler gestürzt.
Ich sage das nur zur Erinnerung an den Wert von Vertrauensfragen, Herr Bundeskanzler! Sie werden noch daran denken.
({2})
Ich nehme auch etwas ernster als Sie, was die Fähigkeiten des Bundesaußenministers angeht, sein Amt noch so zu versehen, daß es den Interessen der Bundesrepublik Deutschland nützt. Es kann uns niemand erzählen, daß ein Außenminister, der von seiner eigenen Partei in der Weise vorgeführt wird, wie das am Wochenende geschehen ist, im Ausland noch so ernst genommen wird, wie ein deutscher Außenminister ernst genommen werden muß.
({3})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie hätten es sich in Gera überlegen müssen, wie Sie mit demjenigen umgehen, der unser Land draußen vertritt.
Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, gesagt, die Richtlinien der Politik haben immer Sie bestimmt, Sie wollen das auch weiter tun. Ich nehme politisierende Generäle offenbar ein bißchen ernster als Sie. Da das nicht das erste Mal war, sondern da wir eine ganze Serie von sicherheits- und außenpolitischen Festlegungen durch den Generalinspekteur der Bundeswehr erlebt haben, muß ich die Frage stellen: Wo ist dann eigentlich der Verteidigungsminister?
({4})
Ist es nicht Sache des Verteidigungsministers, die grundlegenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragestellungen aufzuwerfen und die Antworten zu geben? Ist das Sache des Generalinspekteurs?
Die Frage, die sich hier stellt, ist die: Wenn Sie die Richtlinien bestimmen, was haben Sie für Richtlinien hinsichtlich der Sicherheitspolitik, hinsichtlich der Verteidigungspolitik gegeben? Erkennen kann man sie jedenfalls nicht. Man kann sie auch nicht erkennen in der Auseinandersetzung zwischen dem Außenminister und dem Verteidigungsminister in nahezu allen wichtigen Fragen, die unsere Sicherheit betreffen.
Unsere Außenpolitik ist nicht etwa klar und eindeutig. Die deutsche Außenpolitik ist in den letzten
Monaten ins Schleudern geraten, Herr Bundeskanzler, und ich will Ihnen die Beispiele sagen.
({5})
Sie schleudern in der Frage der Erweiterung der Europäischen Union. Darüber gibt es doch keinen Zweifel in diesem Haus, daß wir diese Erweiterung wollen. Es ist doch nicht das Verdienst der Bundesregierung, wenn Finnland, Österreich und Schweden jetzt der Europäischen Union beitreten; dafür haben wir alle zusammen unseren Beitrag gebracht,
({6})
vor allen Dingen aber die von Ihnen in Ihrer Rede mehrfach geschmähten europäischen Sozialdemokraten. Wo wären Sie denn hingekommen in Finnland, in Schweden und in Österreich ohne die Position der sozialdemokratischen Parteien?
({7})
Wenn Sie sich dort auf Ihre konservativen Freunde hätten verlassen wollen, dann hätten wir die heute nicht in der Europäischen Union. Da dürfen Sie aber sicher sein.
({8})
Wir haben gemeinsam den Maastrichter Vertrag ratifiziert. Wir haben Ihnen über diese Hürde geholfen, Herr Bundeskanzler; das wissen Sie ganz genau. Darum erwarten wir auch, von Ihnen in der Frage Maastricht II, wie es jetzt mit Europa weitergeht, etwas mehr zu hören als die wolkigen Sprüche, die Sie eben gemacht haben. Die Frage ist doch nicht: Wollen wir, daß Europa erweitert wird? Natürlich wollen wir das, jeder hier will das. Die Frage heißt doch vielmehr: Wie wird diese Europäische Union überhaupt nach Osten erweiterungsfähig? Denn in ihrem jetzigen Zustand ist sie es doch nicht!
({9})
Ich habe doch nicht ohne Grund eben die Frage nach der Zukunft der europäischen Agrarpolitik gestellt. Bringen Sie doch einmal Polen und Ungarn in die Europäische Union herein, Herr Kollege Lamers, mit der Landwirtschaftspolitik, die die Europäische Union zur Zeit betreibt! Das ist doch der Punkt.
({10})
Kommen Sie zur Sache! Flüchten Sie sich nicht in allgemeine wolkige Überlegungen und irgendwelche Papiere, die angeblich in Europa ein Echo hervorrufen, Herr Lamers! Wir haben schon gemerkt, was für ein Echo das hervorgerufen hat. Wie Donnerhall nämlich war dieses Echo auf Ihr Papier.
({11})
Die Sozialdemokratie hat nicht die Position vertreten, daß da aus der deutschen CDU heraus ein europafeindliches Papier entstanden ist. Vielmehr waren es unsere europäischen Nachbarn, die gesagt haben: Die Deutschen sind gerade die letzten, die sich dafür einsetzen sollten, daß das Prinzip der Gleichheit der europäischen Partner innerhalb der Europäischen Union aufgegeben wird. Genau das haben Sie nämlich getan.
({12})
Wo, Herr Bundeskanzler, ist denn Ihre Richtlinie zur Zukunft der NATO und ihrer Ausdehnung nach Osten? Bis heute gibt es in diesem Punkt immer noch keine Klarheit. In dieser Debatte hätten wir wohl von Ihnen und vom Außenminister ein Wort der Erklärung verdient, was sich auf der NATO-Konferenz in Brüssel abgespielt hat.
({13})
In welchem Zustand befindet sich eigentlich die Allianz? Wie tief sind die Risse eigentlich, von denen wir täglich hören und lesen? Aber Sie halten es nicht für notwendig, dem Deutschen Bundestag etwas über den Zustand dieser Allianz zu sagen.
({14})
Ich sage Ihnen aus unserer Sicht: Die NATO ist der wichtige Sicherheitsanker in Europa. Darüber, wie dies gesehen wird, gibt es in diesem Haus deutliche Unterschiede. Für uns muß die NATO diese Funktion auch in Zukunft erfüllen. Für uns gelten die Bündnisverpflichtungen. Aber weil wir das Bündnis so ernst nehmen und weil wir es für so wichtig halten, muß es doch jeden mit großer Besorgnis erfüllen, wenn heute in der Frage, wie wir uns im ehemaligen Jugoslawien verhalten sollen, so tiefe Risse innerhalb des Bündnisses sichtbar werden. Die Frage ist notwendig: Was haben Sie, Herr Bundeskanzler, was hat Ihre Regierung getan, um diese Risse zu überwinden?
({15})
Zur Frage Bosnien will ich Ihnen eines sagen: Der Bundestag hat, was die militärischen Einsätze angeht, Rechte. Diese haben wir vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten. Ich möchte Sie ausdrücklich davor warnen, durch den Konsultationsprozeß mit der NATO eine Situation herbeizuführen, die den Deutschen Bundestag hinterher vor eine vollendete Tatsache stellt, so daß wir am Ende nur noch entscheiden dürfen und entscheiden können: Schaden wir dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Bündnis, oder müssen wir zähneknirschend das mitmachen, was die Regierung vorgegeben hat, ohne die verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments zu beachten? Das heißt, auch das, was Sie mit der NATO in ihrem Planungsprozeß konsultieren, muß Bestandteil des Dialogs mit dem Deutschen Bundestag und seinen Ausschüssen sein. Wir bieten es ausdrücklich an, diesen Dialog zu führen. Aber es reicht nicht aus, wenn Sie von Zeit zu Zeit jemanden schicken, der über das informiert, was die NATO irgendwo geschrieben hat.
({16})
Das reicht nicht; das muß dann schon eine echte Konsultation sein.
Bringen Sie einmal ein bißchen Ordnung in Ihren Betrieb! So kann es ja nun auch nicht weitergehen. Zuerst lesen wir, daß der NATO-Oberbefehlshaber Europa Kontingente angefordert hat. Das bestätigen der Außenminister und der Verteidigungsminister. Dann führen Sie eine muntere Debatte darüber, was man daraus machen soll, und anschließend ziehen Sie plötzlich einen Brief des NATO-Generalsekretärs aus
der Tasche, in dem steht, daß das alles gar nicht stimmt. Daß man das nicht eine klare, konsistente Außenpolitik nennen kann, sondern daß diese Außenpolitik von der Verlegenheit des Tages bestimmt ist und der die Konzeption fehlt, können Sie nicht bestreiten.
({17})
Ein Letztes. Sie haben das Wort von der „moralischen Verpflichtung gegenüber unseren Freunden" gebraucht. Das sehen wir ganz genauso. Gerade weil wir diese moralische Verpflichtung haben, bin ich der Meinung, daß wir als Deutsche sehr, sehr zurückhaltend sein sollten mit Ratschlägen, wie sich andere, die sich in Bosnien engagieren, verhalten sollen. Wir sollten da sehr, sehr zurückhaltend sein.
({18})
Wir sollten statt dessen die Frage stellen: Gibt es nicht Möglichkeiten, den Vereinten Nationen bei dem zu helfen, was not tut, nämlich eine stärkere, eine wirkungsvollere Präsenz von Friedenstruppen herzustellen? Wir sollten uns darauf verständigen, endlich aufzuhören, durch Fernsehtalkshows zu laufen
({19})
und überall zu jammern, wie sehr die UNO, die Europäische Union oder die NATO im ehemaligen Jugoslawien versagt hat. Die Wahrheit ist, daß die UNO im ehemaligen Jugoslawien eben nicht versagt hat. Die Leistungen, die die Blauhelmsoldaten in den letzten drei Jahren dort vollbracht haben, haben Hunderttausende von Frauen, Männern und Kindern vor dem Hungertod bewahrt und ihnen das Leben gerettet.
({20})
Das verdient anerkannt zu werden. Es ist eben nicht richtig, vom Versagen zu sprechen.
Wenn es darum geht, ob wir etwas tun können, um zu helfen, dann wiederhole ich den Vorschlag, den wir schon einmal gemacht haben: Wenn wir schon nicht im ehemaligen Jugoslawien mit Soldaten präsent sein können - diese Meinung teile ich ja -, können wir aber an anderen Stellen, wo die Vereinten Nationen friedenserhaltende Operationen durchführen, präsent sein, die Vereinten Nationen dort entlasten und sie dann in die Lage versetzen, im ehemaligen Jugoslawien mehr zu tun. Denken Sie vielleicht einmal darüber nach, was wir wirklich tun können, statt immer nur darüber zu reden, was für Verpflichtungen wir haben.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist eigentlich vorbei. Aber der Kollege Pflüger hat noch eine Zwischenfrage. Möchten Sie diese zulassen?
Nein, das möchte ich nicht. Ich komme zu meinem letzten Satz.
Die Fragen, um die es hier geht, Herr Bundeskanzler, sind wirklich so ernst und so tiefgreifend, daß Ihr Appell, dies mit Würde und Ernst zu machen, völlig richtig ist. Sie sind Ihrem eigenen Anspruch allerdings nicht ganz gerecht geworden.
({0})
Ich hoffe sehr, daß Sie daraus etwas lernen und das Angebot annehmen, mit der Opposition über diese historischen, kulturellen, ja, die gesamten Lebensfragen auch unserer eigenen Nation so tief berührenden außenpolitischen Fragen in einen wirklichen Dialog einzutreten.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe das ungute Gefühl, daß heute früh hier von mancher Seite ziemlich stark geheuchelt wird. Anfangen will ich mit den Krokodilstränen, die Herr Kollege Fischer vorhin über die F.D.P. vergossen hat.
Wissen Sie - der Bundeskanzler hat es ja dankenswerterweise gesagt -, die F.D.P. ist im Augenblick in Schwierigkeiten. Wir leugnen das gar nicht. Wen sollte es da wundern, daß sich dies auf einem Parteitag zum Teil auch in durchaus lebhafter Form artikuliert? Daß gerade Sie, Herr Fischer, das beklagt haben, wundert mich. Sie wären dort unter den Delegierten eine Zierde gewesen und hätten gut hineingepaßt.
Herrn Scharping möchte ich sagen: Wären Sie nach Gera gekommen, da hätten Sie lernen können, wie man Opposition macht.
({0})
Wir machen das innerparteilich. Sie könnten vielleicht gegen die Regierung einmal so auftreten, wie das unsere Delegierten getan haben.
({1})
Der zweite Punkt. Hier haben von der Opposition bisher drei Kollegen gesprochen und mangelnde Unterrichtung beklagt. Darf ich Sie darauf hinweisen: Gestern nachmittag haben der Auswärtige Ausschuß und der Verteidigungsausschuß parallel drei Stunden lang getagt. Die Minister Kinkel und Rühe haben eine umfassende Unterrichtung vorgenommen. Wir konnten alle Fragen stellen und haben alle Antworten bekommen. Jetzt stellen Sie sich hierher und tun so, als ob das nicht funktionieren würde.
({2})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Koppelin?
Ja, bitte.
Kollege Irmer, Sie reden so schnell, man kommt gar nicht zum Fragen. Ich möchte Sie fragen: Liegt Ihnen auch die Information
Jürgen Koppeln
vor, daß jede Fraktionssitzung der Sozialdemokraten ein Gera ist?
({0})
Herr Kollege Koppelin, mir liegt diese Information zwar nicht vor, aber ich verfüge über eine gewisse Phantasie. Das Ausmaß meiner Phantasie muß ich aber gar nicht ausschöpfen, sondern ein wenig Phantasie genügt, um sich ausmalen zu können, wie Fraktionssitzungen der SPD vonstatten gehen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch darauf hinweisen: Karlsruhe hat in seiner Entscheidung gesagt, daß der Deutsche Bundestag über den Einsatz von deutschem Militär zu befinden habe. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich gesagt, daß sich vorher die Ausschüsse damit beschäftigen müßten. Wenn aber Sie es nicht für nötig halten, dorthin zu gehen, und sich auch nicht von den Kollegen unterrichten lassen, die da waren, empfinde ich das als traurige Darbietung, die Konsequenzen hat.
({1})
Sie haben von den sogenannten Tornados gesprochen; Sie haben das Gerät ja gar nicht richtig bezeichnet. Normale Tornados sind Flieger, die Bomben abwerfen. Hier haben wir es mit ECR-Tornados zu tun, die über eine spezifische Ausrüstung verfügen, die keine andere Armee außer der deutschen hat, und damit Flugabwehrraketenstellungen am Boden ausschalten können. Das ist der Witz bei der Sache.
Wir diskutieren dieses Thema doch nicht, um Bomben auf Bosnien zu schmeißen, sondern deshalb, damit die Hilfsflüge, bei denen Piloten tagtäglich ihr Leben riskieren und aufs Spiel setzen, geschützt werden können. Es müssen Medikamente und Lebensmittel für die notleidende Bevölkerung bereitgestellt werden.
({2})
Die Flieger werden beschossen, und Sie denken noch nicht einmal darüber nach, ob hier nicht vielleicht eine Verpflichtung besteht, wirklich zu helfen.
Ebenso geht es bei der jetzt vorliegenden Anfrage darum, ob die UNO-Soldaten, die dort stationiert sind, ums Leben kommen oder mit heiler Haut herausgeholt werden können.
Sie, Herr Fischer, stellen sich hierhin und sagen: Die UNPROFOR-Truppen müssen verstärkt werden, müssen besser ausgerüstet werden. Viele haben das hier gesagt. Ich bin ja damit einverstanden. Aber wie können wir als Deutsche, die wir nicht beteiligt sind, den anderen, die ihre Soldaten dorthin geschickt haben, gute Ratschläge geben? Und das tut noch dazu eine Partei, die sagt, sie wolle aus der NATO austreten, die Bundeswehr solle aufgelöst werden. Sie müssen sich einmal an dem messen lassen, was Sie immer in Ihren Programmen verkünden, und an dem, was Sie hier der staunenden Öffentlichkeit verkünden. Da geht nämlich ein sehr tiefer Riß durch Ihre Partei.
({3})
Man muß ja doch auch sehen: Wir sind in einem Bündnis. Wir sind verpflichtet, den internationalen Anforderungen an uns auch gerecht zu werden. Niemand wird sich das leichtmachen. Das ist eine schwere Entscheidung. Es geht um Menschenleben, meine Damen und Herren, aber es geht eben auch und in erster Linie um die Opfer.
Ich möchte darum bitten, daß wir in dieser Frage ehrlicher sind und daß wir nicht so tun, als ob wir das alles lenken könnten. Sie handeln so ungefähr nach dem Motto: Ja, ja, da muß Militär hin, aber bitte ohne uns. Das ist die Devise: Wir kämpfen bis zum letzten Franzosen. Da, meine Damen und Herren, muß ich Ihnen sagen: So geht es nicht.
({4})
Machen wir uns das etwas weniger leicht!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, Sie haben mit einer Rede begonnen, bei der ich mich gefragt habe: Warum erfahren wir jetzt von all diesen schönen Wachstumserfolgen, mit volkswirtschaftlichen Daten belegt, wo wir doch eigentlich etwas über Außenpolitik hören wollen? Als der außenpolitische Teil kam, habe ich mich gefragt: Wo bleibt eigentlich das große Design einer deutschen Außenpolitik, nach dem man doch nach drei so großen Konferenzen fragen muß? Ich hatte den Eindruck, daß ein Wachstum in bezug auf die Außenpolitik anders als in allen anderen Bereichen nicht zu verzeichnen war.
Wer so etwas sagt, muß selber versuchen, es ein bißchen besser zu machen.
({0})
Ich versuche, in aller Kürze über diese drei Gipfel zu reden.
Eine europäische Sicherheitsarchitektur sollte es werden: Abschluß des Kapitels „partnership for peace" mit Unterzeichnung des letzten und wichtigsten Kooperationsvertrags, dem der NATO mit Rußland. Dann gleich und ohne viel Verweilen Eröffnung des nächsten Kapitels: Osterweiterung der NATO; zur Kompensation für dieses für Rußland ja nun nicht so angenehme Thema sollte die KSZE aufgewertet werden, wo Rußland dann gleichberechtigter Partner ist, damit wie es so schön hieß - keine neuen Grenzen in Europa entstehen.
Herr Lamers, hier erlaube ich mir die Zwischenbemerkung: Natürlich führen Kerne, wie Sie sie vorschlagen, auch zu Grenzen. Kerne und Grenzen sind ein Produkt geopolitischen Denkens, und damit ist Europa nicht zu einigen.
Zurück zur europäischen Sicherheitsarchitektur: als Krönung des Ganzen eine einvernehmliche KSZE-
Blauhelmmission nach Nagorny-Karabach, ins russische „nahe Ausland" mit russischer Beteiligung, aber unter Zurückweisung des russischen Führungsanspruchs, die jedoch auf jeden Fall richtig wäre, wenn sie denn zustande käme. Es kommt aber nicht mehr dazu; denn schön sah die Architektur aus, und doch stehen wir jetzt vor einem Scherbenhaufen, der zu einem großen Teil auch ein Scherbenhaufen der deutschen Außenpolitik ist.
({1})
Denn war es nicht Deutschland, das sich immer wieder zum Sprecher osteuropäischer, polnischer so gut wie russischer, Interessen gegenüber Westeuropa und der Europäischen Union gemacht hat? Ist es nicht Jelzin, den der Bundeskanzler so gern als seinen „Freund Boris" herauszustellen beliebte? Wie konnten dann der deutschen Außenpolitik die Grenzen des Rußland und der Regierung Jelzin Zumutbaren so sehr verborgen bleiben? Wie konnte es zu einem solchen Eklat gerade in dem Augenblick kommen, wo Europa der Hilfe russischer Diplomatie so dringend wie selten bedarf, wo Europa in Bosnien stirbt und eine politische Lösung, wenn man denn eine solche will, nur über die Einwirkung Rußlands auf RestJugoslawien noch möglich erscheint?
({2})
Jene Fernsehbilder von der Unterredung zwischen Kosyrew und Kinkel, bei der beide zu dem Ergebnis kamen - so pervers es ist, so richtig ist es doch auch -, jetzt könne nur noch Milosevic helfen, wirkten schon damals eher bedrückend. Um wieviel mehr müssen sie aber heute ironisch wirken, da man den Hintergedanken im Kopf des Chefdiplomaten ergänzen muß: „Aber die Osterweiterung bekommt ihr trotzdem und sehr schnell aufgedrückt. "
Außenpolitik muß bei aller Differenziertheit aus einem Guß sein. Die deutsche Außenpolitik allerdings bot in diesen Gipfel-Wochen das Bild einer Sammlung von bürokratisch nach Zuständigkeiten organisierten Einzelpolitiken. Da war die Abteilung KSZE. Sie hatte die russischen Pläne zur Aufwertung der KSZE zu bearbeiten gehabt, die ja ursprünglich weit über das hinausgegangen waren, was jetzt in Budapest angeboten wurde. Diese Pläne waren kleingearbeitet worden, bis sie dem Westen verdaulich erschienen, und es blieb dann kaum noch viel mehr übrig als eine Namensänderung und eine vage Aussicht auf eine gemeinsame Blauhelmmission.
Dann war da die Abteilung NATO-Politik. Sie registrierte den Wandel in der amerikanischen Politik. Ursprünglich war „partnership for peace" ja ein Beschwichtigungsinstrument gegenüber den drängenden Sicherheitswünschen Polens und den Befürchtungen Rußlands. Jetzt hielt Washington die Rücksichtnahme auf russische Befürchtungen für
nicht mehr so wichtig. Kritiklos folgte dem die deutsche Außenpolitik, ohne auch nur zu fragen, wieweit denn dem ursprünglichen amerikanischen Ansatz reale Probleme Rußlands, reale Sorgen um die Demokratie und die demokratische Entwicklung in Rußland zu Grunde gelegen hatten.
Nur, warum wurden von der Spitze des Hauses die Widersprüche nicht gesehen? Oder, wenn gesehen, warum wurden sie nicht bearbeitet? Warum wurde nicht gesehen, daß die sogenannte Aufwertung der KSZE - kleingearbeitet, wie sie nun war - in russischen Augen kein Äquivalent für die von der NATO angestrebte Osterweiterung mehr darstellen konnte?
Die Widersprüchlichkeit geht aber über das Auswärtige Amt hinaus. Das Verteidigungsministerium war immer schon ein Vertreter robuster NATO-Interessen. Am fatalsten stellt sich Herrn Rühes Baltikumpolitik dar. Da erreichen Estland und Lettland nach fünfjährigen zähen Verhandlungen endlich die volle Souveränität durch Abzug der russischen Garnisonen, obwohl die Probleme der russischen Minderheiten in beiden Ländern ja nicht wegzuleugnen waren. Und was macht umgehend die Hardthöhe? Der Verteidigungsminister schließt militärische Kooperationsabkommen mit diesen Ländern und schenkt ihnen ein paar Ausrüstungsgegenstände aus den immer noch nicht erschöpften Vorräten und Beständen der NVA. Wieviel Unheil geht eigentlich von diesen NVA-Beständen aus, die in alle Welt geschickt werden? Ich denke, wir alle sind uns einig, daß solche Waffen und Ausrüstungsgegenstände - ({3})
- Es ist so. Machen Sie sich doch mit den Kooperationsabkommen vertraut. Es wurde Ausrüstung geschenkt.
({4})
Wie muß das eigentlich auf russische Beobachter wirken? Folgt es nicht dem Motto „Die Russen gehen, die Deutschen kommen"? Was für eine Belastung für jede Art von Rußlandpolitik!
({5})
- Es kommt ja nicht darauf an, daß es keine Panzer waren, lieber Herr Hornung, sondern es kommt darauf an, wie der Mythos NATO in der russischen Bevölkerung wachgehalten wird und welche Belastung deshalb in solchen Verträgen für die Politik der Osterweiterung der NATO entsteht.
({6})
- Ja, natürlich. Nur, sie sind nicht unterzeichnet worden, wie Sie doch wissen.
Viel zu spät, viel zu zaghaft haben Sie, Herr Kinkel, gegen solche Formen militärgestützter Außenpolitik Front gemacht. Eigentlich ist die Bearbeitung dieses Gegensatzes längst Chefsache geworden. Schließlich kann es ja auch nicht Aufgabe der GRÜNEN sein, uns hier analog zur F.D.P. zu verhalten und statt „Um
Himmels willen, Kinkel, bleiben Sie, sonst kommt Möllemann" nun zu rufen „Um Himmels willen, Kinkel, bleiben Sie, sonst kommt Rühe".
({7})
Die zentrale Frage bleibt: Warum gibt man sich jetzt beim Aufbau einer europäischen Sicherheitsstruktur die Mühe solcher Konferenzen, wenn das europäische Haus in Flammen steht? Herr Bundeskanzler, Sie haben es mit einem Appell an Stelle einer nicht erzielbaren Resolution versucht. Sie werden mit derselben Bitterkeit, wie wir es immer wieder registrieren, registriert haben, wie hilflos solche Appelle sind.
Aber die Frage bleibt: Warum bastelt man an Architekturen, statt sie für den Moment beiseite zu schieben und sich ganz auf den wirklich bestehenden mörderischen Konflikt zu konzentrieren? Das bedeutet dann allerdings: Vertiefung der deutsch-russischen, der westeuropäisch-russischen Beziehungen zu einem so vertrauensvollen Klima, daß die Regierung Jelzin Grund hat, auf den Rückfall in eine russische Großmachtpolitik zugunsten der slawischen Serben zu verzichten.
Das muß nicht auf Kosten der polnischen Sicherheitsbedürfnisse gehen. Zu deren Befriedigung gibt es zwei Wege: neben dem der NATO-Ost-Erweiterung den der ins Auge gefaßten Ost-Erweiterung der Europäischen Union. Der letztere wird von Rußland keineswegs als gegen seine Interessen gerichtet betrachtet. Diesen Weg zu gehen bedeutet allerdings eine andere Haltung als die auf dem EU-Gipfel gezeigte. Dann kann man nicht sagen „Wir wollen euch, aber die Voraussetzungen müßt ihr allein schaffen" und damit auf das nächste Jahrzehnt verweisen. Dann kann man nicht nach dem Motto vorgehen, die osteuropäischen Staaten müssen erst EU-fähig werden, sondern da muß die EU gesamteuropafähig werden.
({8})
Das bedeutet, unvermeidliche Reformen jetzt, sofort zu beginnen, um ein anderes Europa zu schaffen, ein Europa, in dem auch Platz sein muß - und auch das muß man bei einer solchen EU-Gipfelkonferenz vielleicht symbolisch deutlich machen - für die Republiken Ex-Jugoslawiens einschließlich Serbiens, damit in diesem Krisengebiet endlich auch eine europäische Perspektive gezeigt wird. Wenn Sie Vertreter der Visegrad-Staaten symbolisch eingeladen haben, so hätten Sie auch symbolisch leere Stühle hinstellen müssen, um den Völkern Jugoslawiens ihre Zukunft zu zeigen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Vielen Dank. - Wenn statt dessen nun die europäische Hilflosigkeit so groß geworden ist, daß der Abzug der Blauhelme ernsthaft geplant wird, so weiß jeder, was das bedeutet: die nächste Eskalationsstufe. Was wir dazu zu sagen haben, hat Joschka Fischer schon gesagt. Ich möchte nur noch auf einen Punkt hinweisen.
Nein, die Redezeit ist abgelaufen. Nur noch einen Satz!
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich füge mich gern.
({0})
Das Wort hat für die Bundesregierung der Bundesminister Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Herausforderungen an die deutsche Entwicklungspolitik haben eine neue Dimension erreicht. Die weltpolitischen Umbrüche der vergangenen Jahre haben auch die Rolle Deutschlands in der Welt grundlegend verändert. Wir tragen jetzt eine größere Verantwortung in der internationalen Gemeinschaft. Die Erwartungen steigen. Immer mehr erhoffen sich von uns Unterstützung bei ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Immer häufiger sind wir mit Katastrophen konfrontiert, die Menschen in große Not bringen. Wenn sie uns um Hilfe bitten, dann können wir diese Hilfe nicht verweigern.
Eines muß uns allen klar sein: Krisen und Katastrophen in anderen Ländern und Regionen dieser Welt betreffen auch uns unmittelbar. Frieden und Sicherheit für die Deutschen können auf Dauer nur gesichert werden, wenn bei unseren Partnern und Nachbarn akute Not überwunden, die wirtschaftliche und soziale Lage nachhaltig verbessert und demokratische Gesellschaftssysteme aufgebaut werden. Deshalb stellen wir uns den fundamentalen Problemen der Entwicklungsländer. Dazu sind wir auch aus unseren Grundüberzeugungen der Humanität, aus unseren christlichen Wertvorstellungen und unserer sozialen Verantwortung verpflichtet.
Unsere Politik der Zukunftssicherung basiert auf einem soliden Konzept, das wir in der letzten Legislaturperiode erarbeitet haben und seitdem auch praktizieren. Herr Scharping, Ihren Ansätzen zu entwicklungspolitischen Bemerkungen muß ich leider entnehmen, daß Ihnen dieses Konzept wohl nicht bekannt ist. Es scheint mir Ihnen auch die Bedeutung der Entwicklungspolitik in dem Sinne, wie ich sie dargelegt habe, nicht bewußt zu sein, sonst hätten Sie z. B. nicht in den letzten Monaten entgegen der Position aller Experten die Abschaffung des dafür zuständigen Ministeriums fordern können.
({0})
Statt dessen hätten Sie auch in dem ersten Entwurf Ihrer Wahlprogramme zum Thema Entwicklungspolitik Ausführungen machen können, die sich wirklich mit Ernsthaftigkeit mit der Bedeutung der Probleme in diesem Zusammenhang beschäftigt hätten. Deswegen darf ich ganz offen sagen: Ihre oberflächliche und flüchtige Kritik empfinden die Experten, auch die in Ihrer eigenen Fraktion, sicherlich als Zumutung und als Abwertung ihrer Arbeit.
({1})
Unser Konzept findet bei fast allen gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland, vor allem aber auch international breite Zustimmung. An dieser Grund428
lage, die sich als erfolgreich und richtig erwiesen hat, werden wir ebenso festhalten wie an dem Bemühen, die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu steigern.
({2})
Die internen Rahmenbedingungen in dem jeweiligen Partnerland bestimmen Art und Umfang unserer Zusammenarbeit. Die Beachtung der Menschenrechte, die Beteiligung der Bevölkerung an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen, Rechtssicherheit, eine soziale und marktfreundliche Wirtschaftsordnung und die Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns werden auch in Zukunft die Bereiche sein, in denen wir Eigenanstrengungen unserer Partnerregierungen vorrangig unterstützen.
Armut, Umweltzerstörung und mangelhafte Bildung sind wie in einem Teufelskreis gleichzeitig Ursachen und Folgen von Unterentwicklung. Deshalb werden wir auch in Zukunft unsere Kräfte auf diese Themen konzentrieren. Herr Scharping, diese Themen haben wir schon lange vor der Agenda 21 von Rio zum Schwerpunkt unserer nationalen Arbeit gemacht. Wir haben auf deutsche Initiative hin die globale Umweltfazilität ins Leben gerufen, die 390 Millionen DM für diese Themen, insbesondere Umwelt, zur Verfügung stellt.
({3})
Hier haben andere als die Bundesregierung aus den Erfahrungen von Rio zu lernen.
Innerhalb dieses bewährten Rahmens möchte ich in der neuen Legislaturperiode allerdings auch neue Akzente setzen. Unterschiedliche Entwicklungen in der Welt erfordern noch differenziertere entwicklungspolitische Antworten. Das typische Entwicklungsland gibt es nicht. Die Anforderungen z. B. in der afrikanischen Sahelzone unterscheiden sich fundamental von denen in den Wachstumsregionen Südostasiens. Deswegen müssen wir unsere Politik regional stärker differenzieren.
Eine besondere Bedeutung kommt der Konfliktprävention zu. Aus den Ereignissen in Ruanda haben wir vor allem gelernt: Jahrzehntelange Entwicklungsanstrengungen fallen wie ein Kartenhaus zusammen, wenn nicht die Ursachen von gesellschaftlichen und politischen Konflikten erkannt und in der Zusammenarbeit präventiv aufgegriffen werden.
Ich möchte deutlich sagen: Entwicklungszusammenarbeit darf nicht zu einem Reparaturbetrieb von Katastrophen degenerieren.
({4})
Entwicklungspolitik ist maßgeblicher Bestandteil einer Politik der globalen Zukunftssicherung. Sie ist - wie es in der Koalitionsvereinbarung heißt - globale Strukturpolitik und führt damit weit über das überholte Verständnis von Entwicklungshilfe hinaus. Sie umfaßt Entwicklungsförderung, Nothilfe und wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Dieses Verständnis von Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik setzt voraus, daß wir die Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit besser nutzen. Hier können wir eine sehr positive Bilanz der Europäischen Union unter deutscher Präsidentschaft vorweisen. Die Verbesserung der Wirksamkeit bei Kontrolle, Abstimmung und Arbeitsteilung in der Europäischen Union, die Verabschiedung von Entschließungen zu den Bereichen Bildung und Ernährungssicherung, die Entscheidung über ein umfangreiches Soforthilfeprogramm für Ruanda waren Erfolge, die wir mit Befriedigung vorzeigen.
({5})
Wir müssen die Bedeutung der Entwicklungspolitik als Politik der globalen Zukunftssicherung und somit auch für die Sicherung der Zukunft unserer Bürger deutlicher erkennbar machen. Die Bundesregierung wird deshalb die Notwendigkeit der Entwicklungszusammenarbeit und unsere Leistungen noch deutlicher darstellen. Darüber hinaus werden wir unseren bisher schon sehr konstruktiven Meinungsaustausch mit den entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen weiter vertiefen.
({6})
Es gibt - darüber können wir alle sehr froh sein - einen breiten gesellschaftlichen Konsens fiber die Ziele der Entwicklungspolitik. Wir wollen ihn ausbauen und unsere Instrumente noch besser abstimmen, um ihre Wirkung zu optimieren.
Nichtregierungsorganisationen leisten in diesem Konzept einen unverzichtbaren Beitrag zur entwicklungspolitischen Bewußtseinsbildung auch bei uns in Deutschland.
({7})
Sie leisten in den Entwicklungsländern unentbehrliche Arbeit vor Ort, die unsere staatliche Entwicklungszusammenarbeit ergänzt. Ich möchte deshalb den deutschen Nichtregierungsorganisationen, die in der Entwicklungszusammenarbeit mit großem Einsatz und Erfolg tätig sind, heute von dieser Stelle aus meine Anerkennung aussprechen und ihnen ausdrücklich danken.
({8})
Ich vertraue auch in Zukunft auf eine gute Zusammenarbeit und werde die Nichtregierungsorganisationen in Kürze zu einem breiten Meinungsaustausch über die künftige deutsche Entwicklungspolitik einladen.
Um unserer erweiterten Aufgabenstellung gerecht zu werden, brauchen wir im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausreichende finanzielle Mittel. Zwar hält der Etat des BMZ in diesem Haushalt, anders als es Herr Gysi darzustellen versuchte, das bisher erreichte Niveau, doch brauchen wir in Zukunft Erhöhungen; das sage ich ganz offen. Die sich abzeichnende größere wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands muß sich in
den nächsten Jahren auch im Entwicklungsetat niederschlagen.
({9})
Entwicklungspolitik ist nicht etwa ein überflüssiger Luxus, den wir uns nur leisten, weil es uns gut geht. Sie ist ein moralischer Imperativ für unsere Wohlstandsgesellschaft und gleichzeitig eine Existenzfrage auch für uns. Nur indem wir Elend und Unterentwicklung aktiv bekämpfen, können wir unser Leben in Wohlstand und frei von Not legitimieren.
Deshalb habe ich ein Ziel: Ich will mich auf der Grundlage unserer Konzeption, die sich als leistungsfähig und erfolgreich erwiesen hat, in der internationalen Gemeinschaft für eine noch wirksamere Zusammenarbeit einsetzen. Wir brauchen eine weltweite Koalition gegen Unterdrückung und Armut.
({10})
Wir müssen unsere Verfahren optimieren und unsere entwicklungspolitischen Instrumente modernisieren, um sie an die neuen Herausforderungen einer sich wandelnden Welt anzupassen. Wir wollen die bisherigen Erfolge ausbauen; denn nur durch Leistung und Erfolg können wir bei unseren Bürgern mehr Unterstützung für die Entwicklungspolitik gewinnen.
Hier sind nicht nur die Bundesregierung, das Entwicklungsministerium und die Nichtregierungsorganisationen in der Pflicht. Auch das Parlament, seine Fraktionen und Abgeordneten und nicht zuletzt die Medien sollten Entwicklungspolitik als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen und ihr Gewicht einbringen. Wenn sich alle den Einsatz für eine menschenwürdige Welt zum Anliegen machten, würde auch der innenpolitische Stellenwert der Entwicklungspolitik steigen
({11})
und der Verdacht entkräftet, daß wir unsere Verantwortung für die Schöpfung und die Zukunft der Menschheit zu leicht nehmen.
Deswegen darf ich Sie bitten: Lassen Sie uns gemeinsam alle Kräfte für eine Politik der Zukunftssicherung mobilisieren!
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir in meiner Funktion als Vorsitzender des Europaausschusses, daß ich an dieser Stelle der Debatte Jacques Delors für seine Arbeit danke. Ich glaube, das kann ich in Ihrer aller Namen tun.
({0})
Wir alle wissen, was er in den zehn Jahren, die er
Präsident der Kommission war - einige Tage ist er es
noch -, für die Integration getan hat. Wir können alle
hoffen, daß er anschließend als Privatmann, frei von der Bürde des Amtes, uns um so mehr und um so klarer Rat geben kann. Ich glaube, auch das gilt für alle in diesem Haus.
({1})
- Nicht nur für Herrn Scharping! Auch Herr Haussmann hätte es manchmal nötig. Es wäre gut, wenn uns Jacques Delors dann wieder so zur Verfügung steht, wie es der Fall war, bevor er sein Amt antrat. Wir selber haben in den 70er Jahren sehr lange im kleinen Kreis diskutiert. Ich hoffe also, daß uns seine Ratschläge auch weiterhin von Nutzen sein werden.
({2})
Lassen Sie mich nun zum Essener Gipfel zurückkommen. Ich habe gehört, daß es ein ganz toller Erfolg war. Die Zeitungen schrieben allerdings, es sei ein Gipfel ohne Sensationen gewesen.
({3})
- Das mag sein. Sensationen waren es aber auch gar nicht; ich fand, das war höflich ausgedrückt. Für mich war das eher ein Gipfel der Unentschiedenheit und des Durchwurstelns. Was sollte nicht alles vorangetrieben werden, Herr Kinkel? Die Linien für die Regierungskonferenz 1996 sollten aufgezeigt werden; die Ost-Erweiterung sollte eindeutige Konturen erhalten; die gemeinsame Bekämpfung des organisierten Verbrechens im Rahmen von Europol sollte verabschiedet werden. Die Vorschläge von Jacques Delors zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik sollten endlich einmal mit Fleisch versehen werden.
({4})
Ich frage Sie: Haben Sie in dem Papier nur irgend etwas davon gesehen? Ich habe es nicht.
Kommen wir zur Beschäftigungspolitik, dem ersten Stichwort. Ich darf nur zwei Punkte aus der Ratserklärung zitieren.
({5})
- Die Punkte sind ja ganz spannend, Herr Kollege Haussmann. Was fangen Sie eigentlich mit den folgenden zwei Sätzen an, wenn Sie hier schon dazwischenreden?
Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit muß einen Schwerpunkt der Arbeitsmarktpolitik bilden. Entsprechend den sehr unterschiedlichen Gruppen und Bedürfnissen von Langzeitarbeitslosen sind hierbei unterschiedliche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erforderlich.
Ein bißchen weiter heißt es dann:
Besondere Aufmerksamkeit verdient auch die schwierige Lage arbeitsloser Frauen und älterer Arbeitnehmer.
Das sind alles schöne Sätze;
({6})
denen können wir alle zustimmen. Nur, wenn man fragt, was denn nun geschieht, was gemacht wird und welche die Strategien dafür sind, dann muß man feststellen: absolute Fehlanzeige.
({7})
Das einzige, was sich dazu findet, ist, es soll zukünftig einmal im Jahr darüber berichtet werden. Das ist ja sehr tröstlich. Nur, worüber soll man berichten, wenn man nicht handelt?
Ich will an dieser Stelle eines sehr deutlich sagen. Es geht ja nicht nur darum, daß man das kritisiert. Etwas anderes ist doch entscheidend: Wenn wir schon diesen langsam immer stärker werdenden Euroskeptizismus in unserer Bevölkerung erleben, und nicht nur hier, wäre es doch erforderlich, daß endlich im Beschäftigungsbereich etwas passiert, damit die EG wieder als positiv empfunden wird. Dies ist doch das Wesentliche!
({8})
Wenn ich weiterlese, finde ich einen anderen schönen Vorschlag. Dort steht - es ist übrigens eine Formulierung, die aus deutscher Sicht auch die Tarifautonomie berührt -:
Eine Lohnpolitik, die arbeitsplatzschaffende Investitionen begünstigt, wobei in der gegenwärtigen Situation maßvolle,
- jetzt kommt es unter dem Produktivitätszuwachs liegende Lohnabschlüsse notwendig sind . . .
Das ist das einzig Konkrete, was dort steht. Dies hat die Bundesregierung verabschiedet,
({9})
als wären wir nicht genau im Moment in unserer konjunkturellen Lage in der Situation, daß wir durch stagnierende oder sogar zurückgehende Realeinkommen eine Schwäche in der privaten Endnachfrage erleben. Sie macht 55 % unseres Sozialprodukts aus. Wenn ich mir anschaue, daß Sie angesichts dieser Situation ein weiteres Lohndumping fordern, dann stelle ich fest: Sie sind auf der Ebene der Herren Stihl und Murmann.
({10})
Das zeigt, daß Sie die Umverteilungspolitik, die Sie bisher in diesem Lande betrieben haben, europäisch verbrämen wollen. Dazu sage ich Ihnen: Wenn das geschieht, wird es erst recht Reaktionen in der Bevölkerung geben, und es werden die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Recht sagen: Was haben wir noch von Europa? - Sie betreiben das genaue Gegenteil einer fortschrittlichen und zukunftsorientierten Europapolitik.
({11})
Meine Damen und Herren, ich unterstreiche noch einmal: Wenn Sie in die Lohnpolitik eingreifen, wenn Sie bei der Sozialhilfe ansetzen - in diesem Zusammenhang ist der berühmte Lohnabstand zu nennen, den Herr Waigel gestern zitiert hat; er stimmt zwar nicht; das hat Ihnen Herr Blüm ja dargelegt und vorgerechnet; aber das nehmen Sie im BMF wahrscheinlich nicht zur Kenntnis -, dann können wir uns darauf einigen, daß eine vernünftige Differenz zwischen Löhnen und Sozialhilfesätzen vorhanden sein muß. Damit bin ich sehr einverstanden. Aber die Sätze unserer Sozialhilfe liegen nun einmal beim Existenzminimum. Das kann doch nur heißen, daß die Löhne eben entsprechend stärker steigen müssen, insbesondere im unteren Bereich.
({12})
Wenn Sie das nicht machen, führen Sie Praktiken des Lohndumpings ein. Ich habe die beiden Herren schon genannt, die sich diesbezüglich geäußert haben. Ich frage Sie: Wollen Sie denn in Deutschland eine Lohnsituation wie in Indien herbeiführen? Dann wünsche ich Ihnen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse Indiens; da gibt es nämlich einen Zusammenhang. Begreifen Sie das doch endlich einmal!
({13})
Ich will zum zweiten Stichwort, Europol, kommen. Wir haben nun gehört, das alles sei wunderbar verabredet, Herr Mitterrand habe versprochen, spätestens in Cannes solle das verabschiedet werden. Darf ich hierzu folgenden leisen Zweifel äußern - vielleicht hätte sich die Bundesregierung dazu auch einmal äußern können -: Wie kommt es denn, daß Herr Pasqua, der für diesen Bereich in Frankreich der eigentlich verantwortliche Mann ist, erst gar nicht am Essener Gipfel teilgenommen hat? Glauben Sie denn wirklich, daß angesichts des Wahlkampfes, der in Frankreich ansteht, Herr Pasqua machen wird, was Herr Mitterrand versprochen hat? Ich hoffe, daß er es macht, aber ich sehe es noch nicht. Ich glaube, auch darüber sollten wir uns im klaren sein.
Es nützt da auch gar nichts, wenn Herr Kanther immer wieder vollmundige Erklärungen abgibt.
({14}) Offensichtlich hat er es in Essen nicht erreicht.
({15})
- Das ist richtig: In Hessen wird er es auch nicht erreichen. Das ist sehr tröstlich für uns.
(
Warten Sie es doch ab! Geduld! Ich selber habe 12 Jahre gewartet!)
- Wir sind alle geduldig. Das haben wir inzwischen alle gelernt. Wir haben ja auch noch Geduld mit Ihnen, Herr Kohl.
Nun zu den Themen Ost-Erweiterung und Mittelmeerpolitik: Natürlich war es ein wichtiger, freundlicher und demonstrativer Akt, die Vertreter der Länder Mittel- und Osteuropas zum Gespräch einzuladen.
({0})
- Ich bestreite ja gar nicht, daß das ein wichtiger Akt war.
Aber der Kernpunkt der Ost-Erweiterung: Was macht die EU, um diesen Ländern zu helfen, ein wirtschaftliches Niveau zu erreichen, das sie überhaupt in ihrem und unserem Interesse beitrittsfähig macht? Sonst geht es nicht.
({1})
Da ist das Papier, diese Ratserklärung, allerdings
ausgesprochen dürftig. Da steht nämlich nichts drin.
({2})
1,2 Milliarden DM - verzeihen Sie, Herr Kinkel, ich bin zwar nicht der Sprecher der Deutschen Bank, ich möchte es auch nicht sein - sind in diesem Fall, so würde ich sagen, wirklich Peanuts. Das ist viel Geld für uns, aber damit können Sie nicht eine Wirtschaft wie in Polen, einem Land mit 40 Millionen Einwohnern, reformieren. Damit können Sie nicht Tschechien reformieren und nicht die Slowakei über die Hürden bringen.
Das ist doch einfach unrealistisch. Das ist doch genau der Punkt. Sie haben gleichzeitig gesagt: Es muß eine Reform der Agrarpolitik erfolgen, und es muß eine Reform der Strukturfonds erfolgen.
({3})
- Das ist richtig, weil es sonst nicht zu bezahlen wäre. Sonst kommen Sie wieder auf diese Summen. Sie müssen aber auch die anderen Möglichkeiten ergreifen, damit sie nach oben kommen. Wenn Sie die Reform der Struktur- und Agrarfonds machen wollen und sagen, es ist Voraussetzung dafür, daß sie beitreten können, dann können wir uns darauf einigen. Ich hätte nur erwartet, daß dann endlich Butter bei die Fische getan und gesagt wird, wie Sie reformieren wollen. Was wollen Sie denn mit diesen Fonds machen? Wie soll die Agrarpolitik laufen?
Heute morgen wurde es angesprochen: Es ist doch nichts passiert. Insofern sagen Sie ihnen., ihr werdet zum Essen eingeladen, ihr kommt hinzu, und wir reden mit euch, aber vorher müssen wir unsere Hausaufgaben machen, und an den Hausaufgaben arbeiten wir erstmal gar nicht.
Das führt zu etwas viel Schlimmerem: Es führt dazu, daß Sie in diesen Ländern Hoffnungen auf einen baldigen Eintritt erwecken, die Sie überhaupt nicht erfüllen können und wollen. Das ist der Punkt.
({4})
Lassen Sie mich nun etwas zu den Mittelmeeranrainern sagen. Ich finde es gut, daß dazu in dem Papier etwas steht. Ich glaube, wir müssen die Situation gerade der Maghreb-Staaten sehr ernst nehmen. Ich muß Sie dazu aber etwas fragen. Es gibt eine Reorientierung von großen Teilen der Bevölkerung - besonders in Algerien wird das deutlich -, die unser Modell von Gesellschaft und sozialen Verhältnissen nicht wollen und auf der Basis ihrer Religion ein anderes Gesellschaftsmodell haben. Wie wollen Sie die Anhänger dieser Meinung - nicht den Kern; den kann man wahrscheinlich nicht überzeugen - überzeugen? Wie wollen Sie dort eine Stimmung schaffen, daß es sinnvoll ist, mit der EU zusammenzuarbeiten, wenn Sie da nur ein paar lockere Anbindungen machen? Wie wollen Sie z. B. dastehen, wenn das große Problem in Algerien, Beschäftigungslosigkeit, in der EU selber ein großes Problem ist und Sie das auch nicht anpacken?
Das ist doch der Kern der Geschichte. Es hilft nur wenig, zu sagen: Wir kümmern uns um die mediterrane Politik und sehen überhaupt nicht, welche gesellschaftlichen Veränderungen in diesen Ländern und in ihrer Bevölkerung stattfinden. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie sehen, das es nicht nur in Algerien so ist, von dessen Terror Sie täglich in den Zeitungen lesen. Das ist in anderen Ländern auch so. Ich glaube, hier müßte etwas mehr geschehen. Die EU müßte ihre eigenen Aufgaben klarer machen.
({5})
Ich komme jetzt zum entscheidenden Punkt überhaupt. Der Essener Gipfel hat substantiell nichts für die Regierungskonferenz 1996 gebracht. Da haben Sie - ob wegen des Wahlkampfs oder der inneren Verhältnisse Ihrer Koalition und Ihrer Parteien, ist unwichtig - nichts richtig vorbereitet. Wir wissen, daß weder die französische Präsidentschaft noch die spanische, noch die italienische im Moment versprechen, daß es besser wird.
Wir geraten in die große Frage: Was wird aus der Politischen Union im Jahre 1996? Wo bleibt die Demokratisierung der Institutionen Europaparlament, Kommission und Rat? Wo bleibt die Kompetenzabgrenzung, wo wird endlich klar, wie die Politische Union gestaltet werden soll?
({6})
Herr Santer, der neue Kommissionspräsident, hat selber diese Voraussetzungen für die Erweiterung genannt. Das muß auch noch geschehen. Auch da ist noch nichts vorgelegt und nichts vorbereitet. Sie wissen doch, wie lange so etwas dauert. Die Währungsunion hat drei, vier Jahre Vorbereitungszeit gehabt, die Politische Union für Maastricht sehr wenig. Entsprechendes ist dabei herausgekommen. Jetzt läuft es wieder nicht mit der Vorbereitung.
Ich will noch eines dazu sagen: Wenn es nicht gelingt, dies ordentlich zu machen, dann wird immer mehr das Bewußtsein in der Bevölkerung schwinden, wofür die EU eigentlich steht, nämlich Prosperität und Frieden in Europa. Wir alle wollen nicht, daß das gefährdet wird. Das ist die Aufgabe der EU. Wir müssen jetzt endlich herangehen; denn die Hausaufgaben sind noch nicht gemacht worden.
Ich sage noch eine deutliche Warnung zum Schluß: Ich habe schon Töne gehört, daß man - so Herr von Wogau aus der CDU im Europaparlament - die Währungsunion sozusagen als Ersatz für andere Inte432
grationsfortschritte schnell einführen sollte. Wir alle haben aber gesagt, die Kriterien müssen ernstgenommen werden. Es ist aber auch geschehen - ohne daß offen dagegen angegangen wurde -, daß Irland trotz eines exzessiven Haushaltsdefizits einen Freibrief bekam. Es ist auch geschehen, daß Herr Waigel sich hierhingestellt und gesagt hat: Wir erfüllen die Kriterien.
({7})
- Schuldenstand, okay. Sie haben recht. 97 % sind aber etwas anderes als 60 %. Das ist nicht gerügt worden; das ist der Punkt.
({8})
- Aber Herr Waigel, fangen auch Sie schon an? Das ist ja mein Verdacht. Sie fangen ja schon selber an, die Kriterien aufzuweichen.
({9})
Sie haben sich doch gestern hierhingestellt und gesagt: Die Bundesrepublik erfüllt die Kriterien. Wir wissen doch alle, daß Sie es mit Buchungstricks gemacht haben. Die mittelfristige Finanzplanung weist etwas anderes aus.
({10})
Wir wissen doch alle, daß die Kriterien dauerhaft und nicht nur für ein Jahr erfüllt sein müssen, damit das ganze Abenteuer überhaupt gemacht werden kann. Das muß Ihnen doch klar sein!
({11})
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Meine Redezeit ist abgelaufen; vielleicht darf ich trotzdem meine Rede beenden.
Ich möchte Ihnen noch eines in Erinnerung rufen - das haben hier bei der Diskussion zur MaastrichtRatifizierung mehrere, also nicht nur ich, gesagt -: Die Währungsunion macht keinen Sinn, wenn es keine Politische Union gibt.
({0})
Ohne Politische Union ist das Ganze auf Sand gesetzt. Da können Sie auch Herrn Tietmeyer fragen; er sagt das inzwischen einmal in jeder Woche.
Deswegen warne ich Sie: Wenn Sie eine Währungsunion als Ersatz für andere Integrationsschritte machen und die Politische Union nicht vorantreiben, dann haben Sie die nicht nur auf Sand gesetzt, sondern Sie gefährden auch das, was in der EU bereits erreicht ist. Das Ganze wird dann nämlich wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Deswegen warne ich vor solchen Tendenzen, wie ich sie aus Ihrer Partei, Herr Haussmann, und auch aus der CDU, weniger aus der CSU, gehört habe.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Tippach.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Haushaltsentwurf 1995 ist die Bundesrepublik Deutschland auf dem besten Wege dorthin, wo sie - schon um der Geschichte willen - nie wieder hingehört. Sie ist auf dem Weg zu einer Großmacht mitten in Europa.
Fünf Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stehen die Rüstungsausgaben in diesem Lande auf einem unverändert hohen Niveau.
({0})
Mit staatlichem Segen und immensen Steuermitteln werden die pangermanistischen Bestrebungen zweifelhafter Organisationen wie des Vereins für Deutsches Brauchtum im Ausland, VDA, unterstützt.
({1})
Während die als Kerneuropa favorisierte Achse Bonn - Paris in der Westeuropäischen Union ihre ökonomische, außenpolitische und militärische Vormachtstellung zementiert, fällt das deutsche Kapital zwecks Profitmaximierung und bar jeder Rücksicht über die ost- und südosteuropäischen Staaten her.
Um die Positionen für weitere weltweite Verteilungskämpfe abzustecken, werden jeder gutgehenden Diktatur - natürlich so sie sich nicht kommunistisch nennt - Waffen, Gelder und Wirtschaftshilfe in den Rachen geworfen. Während Zivilität und Menschenrechte Stück für Stück als Ballast über Bord gehen, setzt die deutsche Außenpolitik mehr und mehr auf militärische Lösungen: eine Entwicklung, an deren Ende der Außenminister nicht mehr Kinkel, sondern vielleicht Tornado heißt, sein Staatssekretär Leopard und die Botschafter bei Heckler und Koch hergestellt werden.
({2})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Aussagen untersetzen. Allein der Rüstungshaushalt 1995 soll bei 47,9 Milliarden DM auf unverständlich hohem Niveau verharren. Dazu kommen erhebliche Rüstungsgelder, die gut getarnt in anderen Haushaltsplänen schlummern, wie etwa 150 Millionen DM für den Bau von Mehrkomponenten-Fregatten im Haushalt - man höre - des Auswärtigen Amtes oder die Kosten für Weltraum- und Atomforschung.
Während für den Pleitevogel Eurofighter satte 640 Millionen DM verschleudert werden und selbst die strategische Forschung der Bundeswehr - die nicht-technische - 72 Millionen DM verschlingt, ist die staatliche Friedensforschung mit ganzen 364 000 DM dabei.
Die UNICEF hat gestern dazu aufgefordert, die Produktion und Verbreitung von Landminen endlich zu beenden. Nicht so in Deutschland: Hier sind sogar noch etliche 100 Millionen DM zur Verfeinerung
dieser - vor allem für die Zivilbevölkerung - tödlichen Waffen im Haushaltsplan eingestellt.
Eine Bundesregierung, die weit über 50 Milliarden DM für Rüstung und nicht einmal eine halbe Million DM für die Friedensforschung übrig hat, dabei aber von Frieden und Konfliktvermeidung redet, ist entweder blind oder hat ein gespaltenes Bewußtsein.
({3})
Da verwundert es auch nicht, daß die Ausgaben für Entwicklungshilfe mit sinkender Tendenz weit unter den von der UNO geforderten 0,7 % des Bruttosozialproduktes herumdümpeln und Schuldenstreichungen für die ärmsten Länder kein Thema sind.
Statt dessen werden interessante Einflußgebiete wie Indonesien oder die Türkei mit Waffen überhäuft, womit die Völkermorde in Kurdistan, Neuguinea und Osttimor noch etwas effektiver gestaltet werden.
Die sogenannte H-Liste, die Einschränkungen für Rüstungsexporte vorsieht, ist zynischerweise auch noch am 10. Dezember 1994, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, von 32 auf 9 Länder verkürzt worden. Wo es ganz eng wird, kommen wir jetzt auch selber hin.
({4})
- Na klar.
Zum Thema Bosnien ist vieles gesagt worden, auch zu den fatalen Folgen der einsamen und verfehlten Anerkennungspolitik. Das Embargo gegen Serbien hat keinesfalls zu einer Verringerung des militärischen Potentials geführt. Auswirkung ist vielmehr z. B. der Mangel an Rohstoffen für die Medikamentenherstellung, die auf der Embargoliste stehen. Die innerjugoslawische Friedensbewegung wurde ebenso alleingelassen wie die nicht-nationalistischen Kräfte in Serbien, Kroatien und Bosnien. Ebenso verheerend wirkt sich der Paßzwang für Bosnierinnen und Bosnier in Deutschland aus. Mit der Entscheidung, Deserteure ins Kriegsgebiet abzuschieben, wird einer Eskalation letztendlich Vorschub geleistet, die auf den Konflikt unmittelbar zurückschlagen wird.
Derartiges Versagen im präventiven nicht militärischen Bereich einerseits und der wachsende Ruf nach der Militärkeule andererseits
({5})
lassen bei uns den Eindruck entstehen, daß zwischen öffentlichen Bekundungen und den wahren Absichten ein erheblicher Abgrund klafft.
({6})
Die Gruppe der PDS wird dieser Militarisierung deutscher Außenpolitik schärfsten Widerstand entgegensetzen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre internationale Aufgabe endlich im Sinne einer friedlichen, ökologischen und sozial gerechteren Welt wahrzunehmen. Dazu ist dieser Bundeshaushalt der denkbar schlechteste Ansatz.
Vielen Dank.
({7})
Meine Damen und Herren, ich habe gestern den beiden jungen Kollegen zu ihrer ersten Rede gratuliert. Auch für Herrn Tippach war es die erste Rede. Deswegen tue ich das auch bei ihm.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Haushaltsdebatte sollte die erste Gelegenheit sein, mit dem Herrn Bundesminister der Verteidigung in einen Dialog über seine Politik und natürlich auch über seinen Haushalt einzutreten. Nun haben wir die gleiche Lage wie bei der Debatte über die Regierungserklärung: Der Herr Bundesminister der Verteidigung ist vom Herrn Bundeskanzler beiseite geschoben worden. Der Herr Verteidigungsminister ist wohl in dringlichen Amtsgeschäften unterwegs und kann sich nicht dem stellen, was eigentlich üblich ist, nämlich der Diskussion über seine Politik und natürlich auch die der Koalition.
({0})
- Ich begrüße den Bundesminister der Verteidigung an seinem Arbeitsplatz.
({1})
Die Koalitionsvereinbarung, die wir nicht haben debattieren können, was die Sicherheits- und die Verteidigungspolitik angeht, zeigt, wie gering der Stellenwert ist, der der Bundeswehr und den damit verbundenen aktuellen Fragen zugemessen wird. Dies ist um so trauriger, weil sich die Bundeswehr in einer schweren Krise befindet, in der Tat in der schwierigsten ihres Bestehens, und von den Koalitionsparteien und der Bundesregierung kein Weg aufgezeigt wird, wie diese Krise bewältigt wird.
Der Verteidigungsminister hat die Befehls- und die Kommandogewalt über die Streitkräfte im Frieden inne. Er hat die Pflicht, aber auch die Möglichkeiten, die Sicherheitspolitik und die Zukunft der Bundeswehr zu gestalten.
({2})
Aber was macht dieser Verteidigungsminister daraus? Von ihm hört man gegenwärtig wenig Konkretes, vom Bundeskanzler einiges mehr, aber auch nicht konkret genug. Statt dessen - das hat in dieser Debatte schon eine Rolle gespielt - gibt der Generalinspekteur die wohlfeilen Interviews. Der Primat der Politik hat wahrlich keine Hochkonjunktur.
({3})
Ein Wunder, liebe Kolleginnen und Kollegen - hier im Parlament, für Sie und uns, muß das ein Anliegen sein -, ist das freilich nicht. Denn wenn von der politischen Leitung keine Ziele gesteckt oder vorgegeben werden, dann fühlen sich eben ranghohe Soldaten aufgefordert, diese Aufgabe zu leisten, gewissermaßen das politische Vakuum zu füllen. Plötzlich muß die Politik auf von Militärs gestellte
Fragen antworten, anstatt selber gestaltend wirken zu können.
({4})
Da ich auch bei meinen Vorwürfen gegenüber anderen ein redlicher Mann bin, bringe ich natürlich auch die Beweise mit. Es ist nicht üblich - das sage ich persönlich -, daß man sich als erster Soldat über deutsche UN-Truppen auf den Golanhöhen äußert oder für die Bundesregierung selbst Stellung nimmt, wie in einem Interview des „Stern" geschehen.
Ich empfehle hier - auch aus der bewußten Zusammenarbeit von Politik und Bundeswehrführung - Zurückhaltung und Beschränkung auf die Beratertätigkeit für die Politik.
({5})
Auch hier ist weiß Gott viel Rat für die Politik auf dieser Seite des Hauses notwendig.
Die Bundesregierung hat es bisher versäumt, für das Parlament und die Bevölkerung nachvollziehbar, die außen- und sicherheitspolitischen Interessen und Ziele Deutschlands zu definieren.
Ich will aber noch einmal betonen, daß sie es auch unterlassen hat - der Verteidigungsminister kommt in dieser Debatte nicht einmal zu Wort -, daraus abgeleitet die militärischen Anteile einer am Frieden orientierten Politik zu präzisieren. Diese Aufgabe hat sie nicht geleistet.
Gleichwohl hat sie Fakten geschaffen, indem die Bundeswehr bereits in der Golfregion, in Kambodscha, in Somalia und im Zuge des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt worden ist, wobei die politische Bilanz - nicht die unserer Soldaten - eine völlig negative ist. Dies ist dieser Regierung vorzuhalten.
({6})
Zum Verfassungsgericht - um auf den aktuellen Fall zu kommen, der auch heute eine Rolle gespielt hat: Wie halten wir es mit einer Beteiligung des Parlaments in der Frage der Beteiligung deutscher Soldaten in dem ehemaligen Jugoslawien? - will ich noch einmal das vertiefen, was der Kollege Verheugen gesagt hat. Das Parlament ist in allen Phasen zu beteiligen;
({7})
denn nur so kann die konstitutive Wirkung des Urteils des Verfassungsgerichts für das Parlament ausgeschöpft werden.
({8})
Die Ausschüsse für das Parlament müssen informiert werden, besagt ausdrücklich, daß die Einladung - ({9})
- Wer hier keine Konzepte hat, muß natürlich aufgeregt sein, und Sie sind sehr aufgeregt, Herr Kollege.
({10})
Ich nehme ausdrücklich und mit Dankbarkeit die an und für sich selbstverständliche jetzt erreichte Einladung des Bundesministeriums der Verteidigung für morgen vormittag - eine Information über die Ergebnisse Ihrer Gespräche mit dem Bundeskanzler, mit dem Bundesaußenminister und auch mit dem Bundesfinanzminister, der ja dazu zu hören ist - entgegen.
Wir werden das morgen früh, um 11.30 Uhr, wie es uns angeboten worden ist, gerne machen und dann feststellen, was Sie uns zu sagen haben; denn wir beurteilen Ihre Entscheidungen und geben Ihnen nicht im Vorfeld im Wegnehmen Ihrer Pflicht Hilfen bei den Entscheidungen. Wir bewerten das auf Grund unserer Möglichkeiten aus eigener Sicht.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Selbstverständlich. Der Präsident des Parteitags von Gera kriegt für einen hoffentlich erfreulicheren Auftritt gerne von mir das Wort zu einer Zwischenfrage.
({0})
- Der hat es auch schwer gehabt - so schwer wie der Herr Kinkel.
Weder das eine noch das andere, Herr Kollege Kolbow. Wir haben es natürlich schwer gehabt, aber Sie tun sich heute, wie ich sehe, noch schwerer. Sie - und das ist meine Frage, Herr Kollege Kolbow, der ich Sie als einen ausgesprochen fleißigen Abgeordneten kenne ({0})
haben doch sicher gestern - im Gegensatz zu anderen - die Gelegenheit wahrgenommen, sich im Auswärtigen Ausschuß und - Sie persönlich - im Verteidigungsausschuß die Unterrichtungen anzuhören?
({1})
Ich frage sie, ob Sie nicht von Ihren Kollegen, die dort waren - wenn Sie es nicht selbst erlebt haben sollten -, berichtet bekommen haben, daß ein sehr intensives Gespräch mit den beiden Ministern stattgefunden hat, daß über alle Schritte, die erwogen werden, genauestens Auskunft gegeben wurde und daß dies genau die Form war - auch nach dem Empfinden mancher Kollegen aus Ihren Reihen -, die in Zukunft - ({2})
Sie müssen eine Frage stellen!
Die Frage kommt. Ich bin noch immer in demselben Satz, Frau Präsidentin. Ich habe
noch nicht einmal Atem geholt. Würden Sie mir zustimmen, daß dies genau die Form ist, die allerdings auch von uns für diese Unterrichtungen gewünscht wird?
Herr Kollege Irmer, auch die lange Fragestellung hat Ihre Situation nicht besser gemacht. Sie sollten eigentlich mit uns der Auffassung sein, daß wir zu jedwedem Zeitpunkt unterrichtet sein müssen. Dies war ein erster Schritt. Die Entscheidung der Bundesregierung über diesen Einsatz und über die Form dieses Einsatzes wird wohl morgen gefällt.
Wir haben den Anspruch auf diese Unterrichtung, weil ich nämlich mit meiner Fraktion verhindern möchte, daß präjudizierende Zusagen von nichtkompetenten Vertretern im Militärausschuß und im NATO-Rat gemacht werden
({0})
und daß dieses Parlament auf den „point of no return", in den Stand des Nicht-mehr-zurücknehmen-Könnens einer Entscheidung gesetzt wird. Deswegen bestehen wir darauf, in jeder Phase informiert zu werden, so wie es dargelegt worden ist. Erbringen Sie Ihre Informationsschuld, dann bekommen Sie von uns auch rechtzeitig die Mitteilung über unsere Entscheidungen, wenn auch ein politischer Entscheidungsbedarf gegeben ist. Wir bestehen auf dem Parlamentsvorbehalt in jeder Phase dieser politischen Debatte.
({1})
Wenn es - wie gestern gesagt worden ist, lieber aufgeregter Kollege Nolting - so ist, daß es hier im Moment außerhalb der Politik Planungen der Militärs gibt, dann will ich genau wissen, wann diese Brücke überschritten wird und wann man am anderen Ufer ist. Ich habe oft genug gesehen, z. B. beim MaastrichtUrteil, wie man in Präjudizierungen hineingelaufen ist und wie dann dieses Parlament - auch um außenpolitischen Schaden abzuwenden - sich gerade mit Ihrer Hilfe für diese Regierung in Gebiete hineinbegeben hat, die für uns nicht sehr günstig waren.
({2})
Hier geht es um das Leben von Soldaten. Deswegen haben wir hier eine besondere Pflicht. Dies muß an dieser Stelle ausgeführt werden.
Es ließe sich jetzt natürlich eine Menge zum Haushalt selbst anführen. Wir werden im Verteidigungsausschuß dazu Gelegenheit haben.
Ich will mit einer Bemerkung schließen, die etwas versöhnlicher klingt, Herr Bundesminister der Verteidigung, weil es den Konsens über die künftigen Einsätze der Soldaten insgesamt angeht. Wir stehen in einem Briefwechsel. Sie haben uns am 7. Dezember Ihren Kriterienkatalog für die Prüfung jedweden Einzelfalles mitgeteilt. Wir weisen darauf hin, Herr Kollege, daß Sie nicht auf die Notwendigkeit klarer politischer Konzepte eingegangen sind, die durch ein UNO-Mandat auch für die NATO - auch im Falle Bosnien - unbedingt gegeben sein müssen, und ebenfalls nicht auf die vorherige Festlegung, unter welchen Umständen man wie weit zu gehen bereit ist.
Unter schwierigen politischen Führungsverhältnissen tun unsere Soldaten und die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Dienst. Ich stehe nicht an, ihnen unseren Respekt zu sagen
({3})
und auch unsere Zusicherung, in diesen Haushaltsberatungen gerade für die Menschen in den Streitkräften das Bestmögliche herauszuholen. Denn das ist unter der Federführung dieses Bundesministers unsere vornehmste Pflicht und auch nicht unsere leichteste Aufgabe.
Ich danke Ihnen.
({4})
Es spricht jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Frau Präsidentin! - Ich freue mich mit Ihnen, daß ich doch noch ein paar Minuten bekommen habe. Denn ich finde es eine schlimme Sache, wie manche hier versuchen, Legenden zu bilden, und Militärs kritisieren, die sich nicht wehren können. Wenn Sie Kritik haben, setzen Sie sich mit mir auseinander, aber nicht in dieser Weise mit Militärs!
({0})
Ich muß Ihnen sagen: Sie sollten lieber dem General Naumann gratulieren. Wir sind stolz darauf, daß er im Bündnis einstimmig zum zukünftigen Vorsitzenden des Militärausschusses gewählt worden ist. Das ist das Kompliment, das er für seine Arbeit verdient hat.
({1})
Sowohl General Naumann als auch General Joulwan haben sich zu jeder Zeit korrekt verhalten. Es ist schon unglaublich, was für ein Informationsmangel sichtbar wird, wenn Herr Scharping hier sagt, daß die Abzugsplanung durch Militärs angestoßen sei.
Ich will Ihnen das einmal erläutern. Seit Monaten - der Beginn war im September - wird das in enger Abstimmung mit den politischen Gremien des Bündnisses - in diesem Falle dem NATO-Rat - entwikkelt. In der letzten Woche hat der NATO-Rat den Auftrag an den SACEUR gegeben, sich an die Mitgliedstaaten zu wenden. Unser Vertreter im NATO-Rat heißt zwar von Richthofen - auch ein Name, der schon einmal eine Rolle in der Militärgeschichte gespielt hat -, aber ich muß Sie darüber informieren, daß er ein Botschafter ist, der dort alle Entscheidungen im Namen der Bundesregierung trifft. Deswegen ist es eine üble Legende, zu behaupten, daß Militärs die Abzugsplanung angestoßen hätten. Sie handeln auf Weisung der politischen Führung innerhalb dieser Allianz. Es gebietet sich, das festzustellen. Das ist die Wahrheit.
({2})
Manche versuchen sich mit ihrem Gerede hinter den Militärs zu verstecken. Das finde ich nicht in
Ordnung. Ich bin nun wirklich Zivilist. Einige werfen mir das immer noch vor, wenn sie sehen, wie ich die Front abschreite.
({3})
Ich will Ihnen sagen, was meine wichtigste Erfahrung in den letzten zweieinhalb Jahren war: Ich habe niemanden kennengelernt, der so vorsichtig mit dem Leben von Soldaten ist, der so zurückhaltend ist, was internationale Einsätze angeht, wie die Soldaten, wie die Militärs.
({4})
Es gibt hier in jeder Fraktion Kollegen, die in den letzten Jahren alle möglichen Bombenschläge und militärischen Einsätze von mir gefordert haben. Ich könnte Ihnen Kollegen nennen, die mich angesprochen haben, warum ich nicht nach Nagorny-Karabach gehe. Ich bin noch von keinem Militär darauf angesprochen worden, warum ich nicht nach Nagorny-Karabach gehe. Mit dieser Legende muß einmal aufgeräumt werden.
Ich kenne niemanden, der umsichtiger, vorsichtiger, behutsamer wäre als gerade Militärs. Deswegen arbeiten wir auch gut zusammen. Sie halten sich jederzeit an das Primat der Politik. Wer Schwierigkeiten hat, sich zu entscheiden, und versucht, das wegzudrücken, der sollte das lieber zugeben, aber hier keinen falschen Frontenkrieg führen.
({5})
Jetzt noch ein zweiter Punkt. Herr Fischer, damit komme ich zu den Tornados.
({6})
Die Frau Kollegin Beck sitzt hinter Ihnen. In der Debatte habe ich von ihr einen Brief bekommen, wie ich ihn jeden Tag bekomme. In diesem Brief schildert sie folgendes - ich wäre dankbar, wenn Sie ihn auch einmal zur Kenntnis bekämen -: Die Bevölkerung des eingeschlossenen Srebenica hat nur jodarmes Wasser. Die Serben führen die Anlieferungen der UNO so durch, daß keinerlei Salz dorthin geliefert wird. Das hat schlimmste gesundheitliche Auswirkungen in der Enklave. Sie sagt zweitens, daß in einer bestimmten Stadt die Menschen nur noch Viehfutter essen - mit schlimmsten gesundheitlichen Auswirkungen. Sie sagt, sie würde das an das Warschauer Ghetto und alles, was damit verbunden ist, erinnern. Dann sagt sie, ich möge doch die Transportflüge wieder aufnehmen, die Air-Drops, damit ich diese Bevölkerung versorgen kann. Sie haben das auch gefordert, Herr Fischer. Seitdem die Serben Raketen aufgestellt haben, ist es unverantwortlich und das sichere Todesurteil für die Piloten dieser Transportflugzeuge, wenn wir das durchführen.
({7})
Hier stellt sich die Frage: Ist es wirklich moralisch, wenn Sie sagen, wir dürften keine anderen Flugzeuge
zum Schutze der humanitären Transporte einsetzen? Das sollten Sie einmal bei sich austragen.
({8})
Es ist doch wirklich die Frage, ob es moralisch ist, zu sagen: Wir dürfen Tornados nicht einsetzen,
({9})
die die Aufgabe haben, die serbischen Raketen auszuschalten. Deswegen dürfen wir es uns nicht so leicht machen, wie es sich hier manche gemacht haben.
({10})
- Ich persönlich habe gesagt: Ich bin offen für die Prüfung. Ich persönlich bin dafür, wenn wir konkret gebeten werden, dieses in einer Abzugssituation zu tun, aber auch, wenn es etwa um den Schutz von humanitären Flügen geht. Das ist gar keine Frage. Ich halte das für eine moralische Entscheidung, Herr Verheugen. Den Eiertanz, den Sie immer aufführen, mache ich nicht mit. Das macht uns im Bündnis völlig unglaubwürdig.
({11})
Sie können nicht sagen, sie haben in der Enklave eine Situation wie im Warschauer Ghetto, und wenn dann Maßnahmen ergriffen werden müssen - ({12})
Im übrigen: Die Konzentrationslager sind auch durch Soldaten befreit worden, die ihr Leben riskiert haben. Viele alliierte Soldaten haben ihr Leben verloren. Ich will keine falschen Vergleiche ziehen. Das stand in diesem Brief. Nun machen Sie es sich nicht so einfach!
({13})
Sie können nicht hierherkommen und sagen, die Blauhelme müssen robuster werden mit ihren Möglichkeiten - das ist genau das, was die NATO macht -, und wenn es dann konkret darum geht, daß sie ihre humanitäre Hilfe auch wirklich robust durchführen, dann machen Sie einen Eiertanz.
({14})
Aber lassen Sie mich zum Schluß sagen: Herr Verheugen, Sie waren nicht im Auswärtigen Ausschuß. Wir haben dort ein gutes Gespräch gehabt, auch mit den GRÜNEN, mit allen, die dort waren, auch im Verteidigungsausschuß. Ich glaube, jeder spürt, daß wir uns die Entscheidungen schwermachen werden, daß es nicht leicht ist zu sagen, was moralisch ist und was unmoralisch. Aber wir sollten uns alle einig sein, wenn es darum geht, Schutz zu geben für Franzosen, Engländer und Amerikaner, die so viel für unsere Freiheit getan haben, ohne die wir niemals die
deutsche Einheit in Freiheit bekommen hätten. Wer sich da verweigert, der legt die Axt an das Bündnis, und das wollen wir nicht tun.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bundesminister für Entwicklung hat hier ein rasantes Wunschprogramm vorgetragen. Ich denke, es ist genauso wie das Wunschprogramm des Bundeskanzlers und des Außenministers dazu da, im Grunde zu vertuschen, daß in Wirklichkeit Sagen und Handeln dieser Bundesregierung in den internationalen Fragen weit auseinanderklaffen.
({0})
Sie können damit nicht vertuschen, Herr Entwicklungsminister, daß Sie selbst am Katzentisch der Bundesregierung sitzen, daß Sie immer weniger Geld bekommen, um die wachsenden Aufgaben, von denen Sie sprechen in Angriff zu nehmen.
({1})
Über die neuen Akzente, die Sie angesprochen haben und die ganz interessant sind, können wir uns durchaus unterhalten.
Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Die Entwicklungshilfe - und ich betone: Hilfe - hat in der deutschen Politik keine Bedeutung mehr. Und als braves Stiefkind von Außenpolitik und Wirtschaftspolitik kann sie kaum etwas bewirken. Das liegt nicht nur an Umfang und Art, in der wir Entwicklungszusammenarbeit betreiben, es liegt noch mehr daran, daß die Entwicklungspolitik nicht ernstgenommen wird. Wer im Parlament etwas werden will, macht keine Entwicklungspolitik oder setzt sich möglichst bald in ein klassisches Ressort ab. Das haben wir ja laufend zu registrieren.
Für die Spitzenpolitiker ist die Entwicklungspolitik etwas für die Parenthese und die moralische Garnierung der sogenannten harten Themen. Keiner von Ihnen meint das Versprechen ernst, dafür 0,7 Prozent des Sozialprodukts zur Verfügung zu stellen. Es wird dennoch unverdrossen wiederholt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Wenn es mir zeitlich nicht angerechnet wird, gerne.
Niemals wird das angerechnet.
Ich rechne Ihnen das sehr hoch an, Herr Kollege Hauchler.
Sagen Sie mal, kann es sein, daß der Kanzlerkandidat der SPD die Absicht hatte, im Falle der Regierungsübernahme das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aufzulösen, jedenfalls als eigenständiges Ministerium?
Herr Kollege Feilcke, ich habe meine eigene Meinung dazu.
({0})
Es ist richtig, daß der Kollege Scharping das vorgeschlagen hat. Wie ich ihn verstanden habe, diente dies aber eher der besseren Verzahnung der Entwicklungspolitik mit der Außenpolitik, eher der Stärkung als der Schwächung der Entwicklungspolitik.
({1})
Meine Damen und Herren, daß Entwicklungshilfe nicht ernstgenommen wird, wird auch dadurch deutlich, daß sich der Haushaltsausschuß in den letzten Legislaturperioden permanent selbstherrlich über Beschlüsse des Fachausschusses hinweggesetzt hat und der Entwicklungsminister vom Finanz-, vom Außen-, vom Wirtschaftsminister an der ganz kurzen Leine geführt wird.
Die Entwicklungspolitik ist zur Sache politischer Pensionäre und idealistischer Glaubenskämpfer geworden.
Die Marginalisierung der Entwicklungshilfe könnte nur aufgehoben werden, wenn sie wirklich zur Entwicklungspolitik weiterentwickelt würde. Doch ein paternalistisches Denken, das Transfers und externe Hilfen total überschätzt und die strukturellen Ursachen von Fehlentwicklungen verkennt, scheint unausrottbar.
Dabei hat uns doch gerade die jüngste Geschichte in Deutschland gelehrt, wieviel Transfer möglich ist, um in absehbarer Zeit Entwicklungen anzustoßen, die der unseren vergleichbar wären. Pro Jahr sind 150 Milliarden DM für 16 Millionen Menschen in die neuen Bundesländer geflossen, also fast 10 000 DM pro Kopf. Dem stehen 10 Milliarden DM für die gesamte Entwicklungswelt, also 3 Milliarden Menschen, gegenüber. Das entspricht drei Mark pro Kopf - ein Verhältnis von 3 000:1.
Man kann das bestimmt nicht genau vergleichen. Ich sage das aber, um deutlich zu machen, daß man keine Wirkung erzielen kann, wenn man Entwicklungspolitik als reines Transfer- und Hilfskonzept versteht. Also nicht in gönnerhafter Helferattitüde, sondern im eigenen Interesse müssen wir mithelfen, die globalen Probleme wirklich anzugehen.
({2})
Das betont der Bundeskanzler ja ständig, aber er tut nichts.
Deshalb darf die Außenpolitik nicht in militärisches Krisenmanagement abgleiten und die Entwicklungspolitik nicht Transfer und Projekthilfe bleiben. Sie muß Strukturpolitik und Querschnittsaufgabe der Gesamtpolitik werden. Oder umgekehrt: Sie muß als Sicherheits- und Überlebenspolitik integraler Bestandteil der Außen- und Wirtschaftspolitik werden. Sonst verfehlen auch diese ihre eigentlichen Aufga438
ben, nämlich den Frieden zu erhalten und nachhaltig Wohlstand zu sichern.
({3})
Klassische Diplomatie und rein militärische Sicherheitspolitik, neoliberale Strukturanpassungspolitik und ein staatlich subventionierter Konzernstandortwettlauf führen immer tiefer in die Sackgasse. Die leeren Formeln und folgenlosen Beschlüsse der internationalen Konferenzen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese meist zum reinen Medienspektakel geworden sind.
Meine Damen und Herren, ich möchte einige Beispiele nennen, die zeigen, inwiefern Außen- und Entwicklungspolitik versagt haben.
Zunächst zu den Krisen in Afrika, Osteuropa und im Nahen Osten. Tausende, ja Hunderttausende werden jeden Abend vor unseren Augen ermordet - wir sehen es im Fernsehen -, ohne daß wirklich etwas geschieht. Wer nicht erkennt, daß Krieg und Gewalt, Flucht und Vertreibung in ungelösten Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung begründet sind, wird, Herr Verteidigungsminister, auch mit den besten Eingreifkommandos nichts ausrichten können.
({4})
Allerdings: Dafür sind diese Eingreifkommandos der teuerste Versuch der Konfliktlösung. Nur wenn in Zukunft Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik verzahnt werden, können Krisen und Kriege wie in Somalia, Ruanda, Angola, Liberia oder auch in Osteuropa vermieden oder zumindest besser bewältigt werden. Das bisherige Verhalten der Industrieländer jedoch, gleichzeitig die Entwicklungszusammenarbeit zu kürzen, die Waffenexportkontrollen zu lockern und dann Eingreiftruppen zu bezahlen, ist zynisch.
({5})
Ich nenne auch die Entwicklung in Osteuropa, insbesondere in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Produktion dort ist in vielen Bereichen total zusammengebrochen. Vielerorts breitet sich wirtschaftliches und soziales Chaos aus. Der Westen versprach, den Handelsprotektionismus abzubauen und beim Umbau der Wirtschaft tatkräftig zu helfen. Tatsache ist mittlerweile, daß nicht die osteuropäischen Staaten, sondern der Westen am ehesten von der Öffnung der Märkte profitiert. Von den 40 Milliarden Dollar, die vor kurzem in Tokio zugesagt wurden, sind bis jetzt nur wenige Milliarden angekommen.
Das gleiche gilt für den Nahen Osten. Auch hier gab es Versprechungen, Zusagen, Umbauempfehlungen. Wir sind die Größten und haben die besten Empfehlungen zu geben, wie sich die Welt zu orientieren hat. Aber Arafat fehlt das Geld, um Verwaltung, Polizei und Gewerbe in Gang zu setzen und den Friedensprozeß wirklich zum Erfolg zu führen.
({6})
Ich nenne die wirtschaftliche Expansion in Asien. Vor allem in China und Südostasien verläuft sie ungehemmt nach dem westlichen Modell der ressourcenverschwendenden Produktion; dieser Prozeß wird
sich noch beschleunigen. Die Staaten und Konzerne des Westens stehen Schlange, wenn es darum geht, wer nun die 400 Millionen Autos produzieren darf, die sich das Volkswagenwerk von dem neuen Markt erhofft. Diese 400 Millionen Autos werden dann aber den Weltkohlendioxidausstoß verdoppeln oder verdreifachen, und zwar mit verheerenden Rückwirkungen auch auf uns.
({7})
- Herr Haussmann, was sollen angesichts der massiven Mithilfe des Westens bei der Klimakatastrophe die paar Umweltprojekte der deutschen Entwicklungshilfe in China?
({8})
- Ich werde darüber auch mit Herrn Schröder sprechen.
Ich nenne die vom Westen geschmierte weltweit grassierende Korruption, aber auch die Tendenz zu globalen Produktions-, Handels- und Medienmonopolen und zu strategischen Allianzen. Sie schränken den Wettbewerb massiv ein und schieben die meisten Entwicklungsländer auf Dauer ins Abseits.
Im Jubel um die Uruguay-Runde sollte endlich auch zur Kenntnis genommen werden, daß die meisten Entwicklungsländer dadurch verlieren und nicht gewinnen. Allein für Afrika nennt man Verluste von 3 Milliarden DM.
({9})
Meine Damen und Herren, es ist auch ein Skandal, daß Schwarzafrika nur noch als Hunger- und Katastrophenkontinent wahrgenommen wird. Kein Mensch investiert mehr in Afrika. Afrika driftet ab, mit den schlimmsten Konsequenzen, auch finanziellen Konsequenzen für uns. Migrationsprobleme werden zunehmen, wenn sich hier nichts ändert.
Ich merke an: Der Fundamentalismus in den islamischen Ländern, die Gefahr, die von weiteren Tschernobyls ausgeht, die Proliferation von Waffen und die investitionshemmende internationale Spekulation - alle diese Probleme können allein durch klassische Vertragspolitik und Außenpolitik nicht mehr gelöst werden.
({10})
Sehen wir das doch endlich ein und handeln danach!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen größere Anstrengungen unternehmen, um eine kohärente internationale Politik zu formulieren. Ich nenne einige Voraussetzungen dafür.
Erstens. Entwicklungspolitik muß genauso wie die Umweltpolitik als Zukunftsthema ersten Ranges begriffen werden.
({11})
Sie hat vitale Rückwirkungen auf unsere eigenen Interessen. Die Fraktionsführungen und die Experten in allen Ausschüssen dürfen ihre Verantwortung dafür nicht länger wegschieben und Entwicklungspolitik
mit Spendenwesen, Moralismus und lästigem Transfer identifizieren.
({12})
In diesem Zusammenhang bedauere ich sehr, daß die meisten Führer der Bundestagsfraktionen beim Thema Entwicklungspolitik meist nicht anwesend sind.
Zweitens. Die Bedeutung der Entwicklungspolitik muß sich in den Haushaltsentscheidungen niederschlagen. Der Entwicklungsetat sollte in der mittelfristigen Finanzplanung durch eine Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen in realistischen Stufen so aufgestockt werden, daß er tatsächlich die Marke erreicht, zu der wir uns international verpflichtet haben. Statt dessen hat die Regierung die entwicklungspolitischen Ausgaben zurückgefahren, und sie will dies auch in diesem Jahr wieder tun.
Drittens. Die Mittel des Steuerzahlers müssen wirkungsvoller eingesetzt werden. Sie sollten in Zukunft auf entwicklungspolitische Problemlösungen konzentriert und nicht durch kurzfristige nationale Opportunitäten mißbraucht werden. Wenn wir dem Steuerzahler sagen, wieviel wir für Entwicklungspolitik ausgeben, dann sollten wir diese Ausgaben auch für wirklich die Zwecke tätigen, für die sie ausgewiesen sind.
({13})
Viertens. Wir müssen unsere Mittel konzentrieren und nicht nach dem Gießkannenprinzip verplempern: Wer etwas bekommen hat, bekommt wieder etwas. Warum eigentlich?
({14})
Wir müssen die wenigen Mittel - hoffentlich steigen sie - auf die Hauptproblempunkte konzentrieren, und das bedeutet vor allem, Entwicklungspotential in den Entwicklungsländern selbst heranzubilden.
Fünftens. Unsere internationale Finanz- und Wirtschaftspolitik muß einvernehmlich zwischen Wirtschafts- und Finanz-, Außen- und Entwicklungsressort abgestimmt und entwicklungsverträglich gestaltet werden. Wir müssen den Einfluß, den wir ja haben, besser als bisher nutzen, um eine vorbeugende Friedens-, also auch Entwicklungspolitik in der Europäischen Union und den internationalen Institutionen voranzutreiben, statt uns vor allem auf militärische Fragen zu konzentrieren.
Sechstens. Ein entwicklungspolitisches Gesetz, das wir in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben und erneut einbringen werden, muß sicherstellen, daß das Parlament in der Außen- und in der Entwicklungspolitik nicht ständig nur palavert, sondern stärkere Gestaltungs- und Kontrollrechte erhält. Das ist in den USA durchaus üblich.
Innerhalb des Parlaments aber muß gewährleistet werden, daß der Entwicklungshilfeausschuß vom Haushaltsausschuß nicht ausgehebelt wird.
({15})
Andernfalls sollte man ehrlich sein und diesen Fachausschuß und übrigens vielleicht auch noch ein paar andere abschaffen.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, appelliere ich an dieses Haus, an alle Fraktionen, die Entwicklungspolitik nicht zum Alibi einer kurzsichtigen nationalen Politik verkommen zu lassen,
({16})
sondern ihr im eigenen wohlverstandenen Interesse ein stärkeres Gewicht zu geben.
({17})
Viele Menschen, vor allem in den Kirchen und in den gesellschaftlichen Gruppen, aber auch viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause, in allen Fraktionen, sehen das so. Nicht wenige aber haben der Entwicklungspolitik resigniert den Rücken gekehrt. Ich habe noch eine kleine Hoffnung; sonst stünde ich nicht hier. Ich möchte meine Funktion als entwicklungspolitischer Sprecher meiner Fraktion aber nicht aufgeben müssen, weil der Deutsche Bundestag Entwicklungspolitik auch in Zukunft nicht als zentrale Zukunftsaufgabe begreift.
Danke.
({18})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Lippelt.
Herr Rühe, Sie haben Ihre Probleme angesprochen und haben sie auf uns gewälzt. Sie können sicher sein, daß genau die Frage Völkermord und Pazifismus in unserer Partei so intensiv diskutiert wird wie bei anderen auch.
Aber auch Sie haben eine Bringschuld. Sie machen die Situation nicht einfacher, wenn Sie die Notwendigkeit des Einsatzes von Blauhelmsoldaten, die auch wir verstehen, immer zur Legitimierung einer großen Umrüstung Ihrer Bundeswehr benutzen. Sie wissen, daß die skandinavischen Blauhelmeinheiten zwischen 2 000 und 4 000 Kräfte umfassen. Wir lesen Ihre Planungen; denn wir lesen Ihr Weißbuch sehr genau. Wir wollen diesen Weg nicht.
({0})
Deshalb denke ich: Wir können natürlich zu ganz anderen Gemeinsamkeiten kommen, wenn Sie Ihre Blauhelmplanungen von der Bundeswehrplanung trennen,
({1})
wenn Sie die Frage des Umbaus der Bundeswehr zu Krisenreaktionskräften davon trennen. Dann allerdings kann man über so etwas reden, aber nicht vor dem Hintergrund der Art und Weise, wie Sie die Umrüstung der Bundeswehr betreiben. Denn das wollen wir nicht. Wir wollen keine Expeditionstruppen mit Mehrzweckschiffen usw., die in alle Welt geschickt werden, das genau nicht. Auch Sie haben
eine enorme Bringschuld in diesem Punkt, und das Problem haben wir gemeinsam.
({2})
Das Wort zur Antwort auf die Kurzintervention hat Herr Bundesminister Rühe.
Lieber Kollege Lippelt, ich glaube, Sie verwechseln da etwas; denn der Aufbau der Krisenreaktionskräfte in der Größenordnung von 50 000 Mann hat mit den Blauhelmen nichts zu tun, sondern dabei geht es darum, für die Landes- und Bündnisverteidigung hochpräsente Kräfte zu haben.
({0})
Als Blauhelme sollen gleichzeitig immer nur ein oder zwei Bataillone eingesetzt werden. Da werden wir genauso wie die Skandinavier arbeiten.
Aber Sie kommen doch nicht um die Frage herum: Ist es moralisch, Tornados einzusetzen, damit der Luftraum über Bosnien frei ist für die Transportflieger, die humanitäre Hilfe z. B. nach Srebrenica bringen, wie das Ihre Kollegin gefordert hat? Ich sage Ihnen: Ich halte es für moralisch geboten, im Notfall ein solches militärisches Instrumentarium einzusetzen, um Menschen davor zu bewahren, zu verhungern und elendig zugrunde zu gehen. Auf diese Frage müssen auch Sie eine Antwort finden.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen mir zu diesen Geschäftsbereichen nicht mehr vor.
Bevor wir mit der Haushaltsdebatte fortfahren, rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Einsetzung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union gemäß Artikel 45 des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 13/32
b) Beratung des Antags der Fraktionen der CDU/ CSU und der F.D.P.
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
- Drucksache 13/89 Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich weise darauf hin, daß nach der Aussprache über den Antrag der Koalitionsfraktionen namentlich abgestimmt werden wird.
Als erster in dieser Fünfminutenrunde hat der Herr Kollege Joachim Hörster das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der letzten Wahlperiode haben wir das Grundgesetz, unsere Verfassung, geändert und Art. 45 eingefügt, der die Bildung eines Ausschusses des Deutschen Bundestages für die Angelegenheiten der Europäischen Union fordert.
Die Umsetzung dieser grundgesetzlichen Vorschrift verlangt, daß wir die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages dementsprechend anpassen. In der letzten Wahlperiode hat sich der Geschäftsordnungsausschuß intensiv mit dieser Frage befaßt; denn es geht darum, daß die Rechte des Bundestages im Entwicklungsprozeß der Europäischen Union gegenüber der Bundesregierung stärker zur Geltung kommen und die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung, aber auch gegenüber den Institutionen der Europäischen Union in der Beratungsphase verstärkt werden.
Demzufolge haben wir interfraktionell - im Grunde genommen einvernehmlich - in unseren Vorlagen festgeschrieben, daß der Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union ein Selbstbefassungsrecht in Angelegenheiten der Europäischen Union haben soll. Auch die anderen Fachausschüsse sollen in Angelegenheiten der Europäischen Union ein Selbstbefassungsrecht haben, damit sie rechtzeitig Vorlagen aufgreifen können, die in diesem Zusammenhang entstehen. In diesen Fragen sind wir uns eigentlich einig.
Es gibt bezüglich des Antrags der SPD-Fraktion und des Antrags der Koalitionsfraktionen zwei entscheidende Gesichtspunkte, in denen ein Dissens vorliegt. Auf diese Gesichtspunkte möchte ich deutlich hinweisen, damit man weiß, worum es geht, und damit jeder begreift, daß es sich nicht um geschäftsordnungsmäßige Spielereien handelt, die hier zur Abstimmung gestellt werden.
Im Antrag der SPD-Fraktion wird gefordert, daß der Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union öffentlich tagt. Dies ist eine Abweichung von § 69 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung, der statuiert, daß die Ausschüsse in der Regel nicht öffentlich tagen und die Öffentlichkeit durch besondere Beschlußfassung in Einzelfällen hergestellt werden kann.
Nach unseren Vorstellungen ist der Europaausschuß kein Überausschuß, kein Ersatzparlament. Er ist auch nicht der Ausschuß, der an Stelle des Bundestages Verhandlungen führt, sondern er ist der Ausschuß, der die Arbeit der Fachausschüsse in europäischen Angelegenheiten koordiniert und befördert, damit der Bundestag schnell zu einer einheitlichen Stellungnahme gegenüber Vorhaben im Bereich der Europäischen Union gelangt. Dazu gehört dann eben auch, daß dieser Europaausschuß nach denselben Verfahrensregeln tagt wie andere Ausschüsse, weil sonst das Miteinander innerhalb des Bundestages gefährdet wird.
Der zweite Punkt ist aber noch wesentlich gravierender; denn in der Vorlage der SPD wird gefordert, daß die Bundesregierung alle Unterlagen im Zusammenhang mit der Europäischen Union zu übermitteln hat. Dazu gehören auch - jetzt darf ich einmal zitieren „Berichte, Vermerke, Beratungsergebnisse, Aufzeichnungen, Gutachten und UnterrichtunJoachim Hörster
gen, sowohl aus dem Bereich der Institutionen der Europäischen Union als auch" - jetzt wird es wichtig - „aus dem Bereich der Bundesregierung und der Regierungen der Mitgliedstaaten" der Europäischen Union.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist unvorstellbar, daß sich der Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union mit vorbereitenden Papieren, mit den Aufzeichnungen von Referenten oder mit Vermerken befaßt, die jemand im Bereich von regierungsinternen Vorüberlegungen verfaßt, noch bevor die Willensbildung der Bundesregierung abgeschlossen ist. Das ist abenteuerlich. Es widerspricht eindeutig dem Grundsatz der Gewaltenteilung,
({0})
der bisher in diesem Hause völlig unstreitig gewesen ist.
Gerade im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen hat immer die Frage eine Rolle gespielt, was eine Regierung dem Untersuchungsausschuß zu liefern hat, um das Regierungshandeln zu prüfen. Es sind immer die Ergebnisse des Regierungshandelns gewesen und nie etwas anderes, was wir untersucht haben. Die Forderung der Sozialdemokraten in dem Bereich ist schlicht verfassungswidrig, weil sie den Grundsatz der Gewaltenteilung verletzt. Wir haben uns mit den Ergebnissen des Regierungshandelns auseinanderzusetzen
({1})
und nicht mit der Frage, wie es intern im Verwaltungsbereich zu Überlegungen im Vorfeld dieses Regierungshandelns gekommen ist.
Daß die Vorstellungen der SPD im Endergebnis abenteuerlich sind, wird allein daraus ersichtlich, daß man sich sogar anmaßt, auch noch entsprechende Papiere aus dem Bereich der Regierungen anderer Mitgliedstaaten anzuschauen und zum Gegenstand unserer Verhandlungen zu machen. Wie ein gedeihliches Miteinander in der Europäischen Union herrschen soll, wenn wir die Entscheidungsfindung auch anderer Regierungen zum Gegenstand unserer Kontrolle machen und deren Eigenständigkeit nicht mehr respektieren, ist unklar.
Wir werden die Vorschläge der Sozialdemokraten wegen dieser beiden Unterschiede ablehnen und bitten das Hohe Haus, dem Vorschlag der Koalition zu den §§ 93 und 93a der Geschäftsordnung zuzustimmen.
({2})
Als nächste Frau Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat so: Es gibt hier zwei gravierende Unterschiede. Der Kollege Hörsken ({0})
- Ist in Ordnung. Er war bisher noch nicht so eindrucksvoll, daß er sich mir unauflöslich eingeprägt hätte.
({1})
Das, was von Ihrem Redner gesagt worden ist, zeigt, daß Sie keinerlei Kenntnis des Prozesses hatten und haben, der sich bei unseren Beratungen zur Verfassung im Zusammenhang mit Fragen der Europäischen Union niedergeschlagen und das Verfassungsgericht bewogen hat, den Maastricht-Vertrag überhaupt passieren zu lassen. Art. 23 des Grundgesetzes sagt aus - ich zitiere -:
Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen.
Das, was Sie hier erklärt haben, bedeutet - und deshalb sind wir gegen den Vorschlag, den Sie zur Änderung der Geschäftsordnung gemacht haben -, daß die verfassungsrechtlich verankerten Rechte des Deutschen Bundestages verkürzt werden und damit dem Recht des Deutschen Bundestages, an der Willensbildung in Fragen der Europäischen Union teilzunehmen, nicht Rechnung getragen werden kann.
({2})
Das ist ein ganz zentraler Punkt, der zeigt, daß Sie auch nicht mehr wissen, daß das Verfassungsgericht den Maastricht-Vertrag nur deshalb hat passieren lassen, weil es sich auf die demokratischen Sicherungen berufen hat, die der Deutsche Bundestag verankert hatte. Ich zitiere aus den Leitsätzen des Verfassungsgerichts zum Maastricht-Urteil. Es heißt dort:
Mithin erfolgt demokratische Legitimation durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten.
Wenn jemand behauptet, unsere Vorschläge stimmten mit der Gewaltenteilung, die existiert, nicht überein, dann zeigt das nur, daß er nicht verstanden hat, wie auf der europäischen Ebene Gesetzgebung stattfindet. Daran muß der Deutsche Bundestag beteiligt werden, wenn wir nicht alle Fehler wiederholen wollen, die die Bundesregierung bei Maastricht und ähnlichen Vorgängen gemacht hat.
({3})
Wenn der Deutsche Bundestag frühzeitig eingeschaltet würde, könnte solcher Unsinn verhindert werden, wie der, daß die EU-Landwirtschaftsminister vor wenigen Monaten beschlossen, daß Pflanzenschutzmittel zugelassen werden können, die dramatische Belastungen für das Grundwasser bedeuten. Wenn der Deutsche Bundestag sich da hätte einschalten können, wäre ein solcher Unsinn nicht beschlossen worden.
({4})
Der zweite Punkt: Wir wollen, daß grundsätzlich Öffentlichkeit bei den Beratungen des Europaausschusses garantiert ist. Das ist sehr wichtig; das haben Sie wohl nicht verstanden. Es geht um folgendes: Der Europaausschuß kann nach dem Grundgesetz - Sie haben ja zugestimmt - stellvertretend für den Deutschen Bundestag abstimmen. Wenn gesagt wird, es sei nicht prinzipiell Öffentlichkeit notwendig, führt das dazu, daß ein Teil der Gesetzgebung der Bevölkerung und der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Das ist unerträglich und nicht hinzunehmen.
({5})
Die Europapolitik - das wissen Sie alle, und auch Sie beklagen das sicher in den entsprechenden Diskussionen mit Ihren Wählerinnen und Wählern - ist so unklar, daß sich viele Bürgerinnen und Bürger nur noch abwenden. Die Öffentlichkeit der Sitzungen könnte daher mehr Information, mehr Durchsicht, mehr Transparenz und mehr Bürgernähe schaffen.
Ich zitiere: „Die Bürger müssen wissen, wer wichtige politische Entscheidungen auf europäischer Ebene trifft und wie sie zustande kommen. " Das sagte Außenminister Kinkel in der Debatte vom 8. Oktober 1992 im Deutschen Bundestag.
Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und F.D.P., Herr Professor Scholz: Sie haben mit uns gemeinsam die Regelungen zum Rechtsstellungsgesetz und zur Verfassung verankert. Sie haben beklagt, daß es so wenig Einflußmöglichkeiten des Deutschen Bundestages gibt. Stehen Sie jetzt zu dem, was Sie damals gesagt haben, und tragen Sie dazu bei, daß der Vorschlag der SPD angenommen wird!
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({6})
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Christian Sterzing.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß wir hier im Bundestag eine tragfähige Arbeitsgrundlage für den Europaausschuß schaffen, seine Kompetenzen festlegen und auch Regularien treffen, die es dem Ausschuß ermöglichen, seine ihm vom Grundgesetz auferlegten Pflichten, aber auch seine Rechte tatsächlich wahrzunehmen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß wir erst jetzt, am Ende der deutschen EU-Präsidentschaft, diesen überfälligen Grundgesetzauftrag erfüllen.
({0})
Offenbar kam es der Bundesregierung ganz gelegen, daß im Superwahljahr die deutsche EU-Präsidentschaft medienwirksam und ohne kritische Begleitung durch das Parlament und durch den Europaausschuß und auch ohne Kontrolle durch den Europaausschuß in Szene gesetzt werden konnte.
Worum geht es denn? Es geht darum, das demokratische Defizit der Europäischen Union zumindest ansatzweise durch eine Stärkung der Rechte des Bundestages zu vermindern. In Art. 23 sind vor fast zwei Jahren entsprechende Vorgaben gemacht worden. Es ist die Rede davon, daß der Bundestag das Recht haben muß, vor der Mitwirkung der Bundesregierung an den Rechtsetzungsakten der EU eine Stellungnahme abzugeben - vor der Mitwirkung! Dieser Artikel macht der Bundesregierung auch zur Pflicht, das Parlament umfassend und frühestmöglich zu unterrichten.
Will man hier nun ernst machen, dann, denke ich, muß der SPD-Antrag unterstützt werden; denn er setzt diese grundgesetzlichen Vorgaben konsequent um. Er bezieht vorbereitendene Papiere und Entwürfe in die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung ein, und er macht die grundsätzliche Öffentlichkeit der Ausschußsitzungen zur Pflicht.
Das bedeutet - dies erklärt sicherlich auch den Widerstand in den Koalitionsfraktionen -: Schluß mit einer Politik, die in europapolitischen Angelegenheiten die Probleme immer zur geheimen Kabinettssache erklärt hat, Schluß auch mit einer Politik, die den Bundestag immer nur über die bereits getroffenen Entscheidungen der Bundesregierung in Kenntnis gesetzt hat, und schließlich Schluß mit einer Politik, die im Bundestag und seinem Europaausschuß offensichtlich einen Störfaktor sieht.
Der interfraktionelle Antrag ist wesentlich restriktiver und schöpft die Vorgaben des Grundgesetzes nicht aus. Er garantiert eine frühestmögliche Unterrichtung des Parlaments nicht in ausreichendem Maße. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Wenn wir wirklich ernst machen wollen mit dem Versprechen, mehr Transparenz und mehr Demokratie in der Europäischen Union zu schaffen - dieses Versprechen wird von der Bundesregierung immer wieder abgegeben -, dann wäre die Verabschiedung des Antrags der SPD nicht nur ein Beitrag zur politischen Kultur auch hier in diesem Hause. Eine solche Änderung und Ergänzung der Geschäftsordnung des Bundestages wäre auch ein Beitrag im Kampf gegen das, was wir bei uns als Europaverdrossenheit erleben. Die dringend erforderliche breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Gestaltung der Europäischen Union und über den weiteren Weg der europäischen Integration muß gerade hier, im Parlament, ihren Kristallisationspunkt finden. Da dies der Koalitionsantrag nicht gewährleistet, werden wir ihn ablehnen.
Vielen Dank.
({1})
Als nächster Herr Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist es endlich soweit: Der Vertrag von Maastricht hat mit zunehmender europäischer Integration in zwei ganz zentralen nationalen Politikbereichen die Türen geöffnet. Es herrscht kein Zweifel: Durch den Vertrag von Maastricht werden wichtige, uns betreffende nationale
Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert, Souveränitätsrechte übertragen.
Wir, der Deutsche Bundestag, müssen daher als Souverän erstens darauf achten, daß politische Zuständigkeiten und Entscheidungen ganz streng dem Subsidiaritätsprinzip unterworfen werden, zweitens darauf, daß das deutsche Parlament an der europapolitischen Willensbildung sowohl der Bundesregierung als auch der Organe der Europäischen Union möglichst effektiv beteiligt wird.
({0})
Meine Damen und Herren, eigentlich wollten wir den Antrag der Koalitionsfraktionen vor der deutschen Ratspräsidentschaft beschließen. Nur auf Grund der Tatsache, daß Frau Wieczorek-Zeul - mit Herrn Wiefelspütz waren wir uns einig - immer wieder neue Hürden aufgebaut hat,
({1}) können wir leider erst heute darüber entscheiden.
({2})
Der Antrag beinhaltet den Anspruch unseres deutschen Parlaments, an der Willensbildung effektiv mitarbeiten zu können. Es war von Anfang an klar, daß wir hier kein Ersatzparlament bilden können und daß es sich auch nicht um einen Sonderausschuß per se handeln kann. Deshalb waren wir, die Koalitionsfraktionen, an einer sehr engen, guten und effizienten Zusammenarbeit mit den Fachausschüssen interessiert.
Wir bedauern außerordentlich, daß wir heute keinen von allen Fraktionen vorbereiteten Antrag zur Abstimmung vorlegen können. Wir haben eng mit den Sozialdemokraten zusammengearbeitet; wir waren einer Einigung nahe. Doch im letzten Moment hat die SPD die Zusammenarbeit aufgekündigt.
Dieses Verhalten sowie auch die völlig überzogene Kritik an der deutschen Ratspräsidentschaft drohen aus meiner Sicht eine ganz wichtige bisherige Gemeinsamkeit von Sozialdemokraten und Regierungsfraktionen zu schwächen. Meines Erachtens sollten wir bei allen unterschiedlichen Auffassungen im Grundsätzlichen in der Europapolitik eng zusammenarbeiten.
({3})
Wenn ich höre, daß die GRÜNEN diesen Antrag kritisieren und ablehnen, dann kann ich nur feststellen: Herr Kinkel hat in einer Sondersitzung des Europaparlaments über die deutsche EU-Präsidentschaft berichtet - ohne Beteiligung der GRÜNEN.
({4})
Sich hier proeuropäisch aufführen, aber den Vertrag von Maastricht ablehnen und aus der NATO austreten wollen - ich würde sagen: Europapolitik und GRÜNEN-Politik sind wirklich gegensätzlich.
({5})
Insofern werden wir uns auf der Basis dieser Geschäftsordnung an der Willensbildung in der europäischen Politik beteiligen. Wir wollen nochmals am
Schluß darauf hinweisen: Europapolitik muß vertragstreue Politik sein. Wer Maastricht nicht zustimmt, hat hier kein Recht, zu kritisieren.
Vielen Dank.
({6})
Als letzte zu diesem Tagesordnungspunkt die Abgeordnete Andrea Lederer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hörster, das hätten Sie, glaube ich, ganz gern, wenn nämlich im Unionsausschuß lediglich nachvollzogen würde, was die Bundesregierung vorher entschieden hat. Das hat überhaupt nichts mit Mitwirkung und Einbeziehung zu tun. Deshalb werden wir selbstverständlich nicht Ihrem Antrag zustimmen, sondern dem Antrag der SPD.
Wer es nämlich ernst meint mit der europäischen Einigung, mit der Demokratisierung Gesamteuropas, mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, mit der Gleichstellung der Frauen, der muß dafür auch einen institutionellen und parlamentarischen Ausdruck finden. Das bedeutet genau, daß dieser Unionsausschuß mehr Kompetenz, mehr Verantwortung, mehr Mitwirkungsrechte und mehr Kontrollrechte gegenüber der Bundesregierung haben muß. Wir haben schon immer kritisiert, daß der bisherige EG-Ausschuß dürftig und oberflächlich informiert worden ist. In der Regel waren die Messen bereits in Brüssel oder Bonn gesungen; man konnte lediglich nachvollziehen, was andernorts entschieden worden ist. Genau das muß anders werden.
({0})
Darüber hinaus muß der Ausschuß gewährleisten, daß vor einer Entscheidung der Bundesregierung auch alternative Ideen und Vorschläge überhaupt ernsthaft mit in die Diskussion einbezogen werden. Das ist ein ganz wichtiges Erfordernis, mit dem dazu beigetragen werden kann, daß die europäische Entwicklung in eine andere Richtung geht, als das bislang der Fall ist.
Wie Sie, Herr Bundeskanzler, sich heute über die Kritik der Mitglieder des Europäischen Parlaments hinweggesetzt haben, das ist wirklich Arroganz der Macht in Reinkultur. Die Kritik ist schließlich nicht nur von der sozialistischen Fraktion geäußert worden; sie ist beispielsweise auch von einem Vertreter der liberalen Fraktion vorgebracht worden. Anstatt sich mit der berechtigten Kritik auseinanderzusetzen, wischen Sie das Ganze vom Tisch und verkünden ein fröhliches „Weiter so". Genau diese Art von Politik muß der künftige Unionsausschuß verhindern, und dazu braucht er diejenigen Rechte, wie sie auch im SPD-Antrag formuliert worden sind.
({1})
Eine letzte Bemerkung zum Thema öffentliche Tagung: Es ist ein beliebtes Spiel von allen Fraktio444
nen, hier immer wieder Europamüdigkeit und Europaskeptizismus zu beklagen. Wenn es denn aber an das Eingemachte geht, wenn man dazu beitragen soll, die Öffentlichkeit tatsächlich zu informieren - anders, als das damals beim Vertrag von Maastricht geschehen ist -, sie über die Folgen aufzuklären, auch über die regionalen Folgen bestimmter Entscheidungen, dann kuschen Sie, dann wollen Sie wieder den Deckel daraufsetzen. Sie wollen keine öffentliche Diskussion, und Sie wollen den Streit der Meinungen um die Europapolitik der Öffentlichkeit überhaupt nicht zugänglich machen. Weil wir das anders sehen, sind wir sehr wohl für eine öffentliche Tagung. Übrigens täte es auch vielen anderen Ausschüssen äußerst gut, in der Öffentlichkeit zu tagen und ihre Debatten zugänglich zu machen. Wir sind der Meinung, das trägt dazu bei, daß sich die Menschen mit Europa befassen, daß sie einen Zugang zu Europa finden, und zwar auch von unten, von ihren eigenen Lebensperspektiven her. Das ist, denke ich, sehr viel wichtiger, als wenn man im Geheimen verhandelt.
Ein kleiner Punkt, den wir zweifelsohne, auch bezüglich des SPD-Antrages, kritisieren müssen, sind Regelungen, wonach nur Fraktionen bzw. 5 % der Mitglieder des Bundestages bestimmte Entscheidungen herbeiführen können. Das grenzt uns als Gruppe wiederum aus. Ich habe das in den Beratungen im GO-Ausschuß angesprochen. Uns ist aber das Hauptanliegen des SPD-Antrages so wichtig, daß wir trotz dieser bestehenden Kritik dem Antrag zustimmen werden.
Ich danke.
({2})
Damit schließe ich diese Debattenrunde.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Änderung der Geschäftsordung des Deutschen Bundestages. Ich weise schon jetzt darauf hin, daß es je nach Ausgang dieser Abstimmung weitere Abstimmungen geben kann. Es ist namentliche Abstimmung verlangt.
Ich eröffne die Abstimmung. Gibt es noch jemanden im Hause, der nicht abgestimmt hat? - Da kommen noch welche. Ich gehe davon aus, daß nun alle ihre Stimmkarte abgegeben haben. Ich schließe die Abstimmung.
Wir unterbrechen die Sitzung für etwa 10 Minuten und fahren dann in der Tagesordnung fort.
({0})
Meine Damen und Herren, wir setzen die Beratungen fort.
Ich gebe jetzt das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. bekannt. Abgegebene Stimmen: 647. Mit Ja haben gestimmt: 337. Mit Nein haben gestimmt: 309. Enthaltungen: eine. Ungültige Stimmen: keine. Damit ist der Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 646; davon:
ja: 337
nein: 308
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Adam, Ulrich
Altmaier, Peter
Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Basten, Franz Peter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria
Börnsen ({0}), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich
Borchert, Jochen Bosbach, Wolfgang Brähmig, Klaus
Braun ({1}), Rudolf Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg
Bühler ({2}), Klaus Büttner ({3}),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens ({4}), Manfred Carstensen ({5}),
Peter H.
Dehnel, Wolfgang Deittert, Hubert
Dempwolf, Gertrud Deß, Albert
Diemers, Renate Dietzel, Wilhelm Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eßmann, Heinz Dieter Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Dr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, Jochen
Dr. Fell, Karl H.
Fink, Ulf
Fischer ({6}), Dirk Fischer ({7}), Leni Francke ({8}), Klaus Frankenhauser, Herbert
Dr. Friedrich, Gerhard
Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim Geiger, Michaela Geis, Norbert
Dr. Geißler, Heiner Glos, Michael
Glücklich, Wilma
Dr. Göhner, Reinhard Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim
Grill, Kurt-Dieter Gröbl, Wolfgang Gröhe, Hermann Grotz, Claus-Peter Grund, Manfred
Günther ({9}), Horst Frhr. von Hammerstein,
Carl-Detlev
Haschke ({10}), Gottfried
Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser ({11}), Otto Hauser ({12}),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate Hinsken, Ernst Hintze, Peter
Hörster, Joachim Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert
Jacoby, Peter
Jaffke, Susanne Janovsky, Georg Jawurek, Helmut Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, Egon
Jung ({13}), Michael Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
von Klaeden, Eckart Dr. Klaußner, Bernd Klein ({14}), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ({15}),
Hans-Ulrich
Königshofen, Norbert
Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Koslowski, Manfred Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Krause ({16}), Wolfgang Krautscheid, Andreas Kriedner, Arnulf
Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner
Dr. Kues, Hermann Kuhn, Werner
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Dr. Lamers ({17}),
Karl A.
Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert
Lamp, Helmut Johannes Laschet, Armin Lattmann, Herbert
Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl Josef Lensing, Werner Lenzer, Christian Letzgus, Peter
Limbach, Editha
Link ({18}), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold ({19}),
Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann ({20}),
Wolfgang
Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael
Maaß ({21}), Erich Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin
Marten, Günter
Dr. Mayer ({22}),
Martin
Meinl, Rudolf Horst Dr. Meister, Michael Dr. Merkel, Angela Merz, Friedrich
Meyer ({23}), Rudolf Michelbach, Hans Michels, Meinolf
Dr. Müller, Gerd
Müller ({24}), Elmar Nelle, Engelbert
Neumann ({25}), Bernd Nitsch, Johannes
Nolte, Claudia Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm Oswald, Eduard
Otto ({26}), Norbert
Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm
Petzold, Ulrich Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero Dr. Pflüger, Friedbert
Philipp, Beatrix
Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Polenz, Ruprecht Pretzlaff, Marlies
Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter Rachel, Thomas Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauber, Helmut Rauen, Peter Harald Regenspurger, Otto
Reichard ({27}), Christa Reichardt ({28}),
Klaus Dieter
Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter
Richter, Roland Richwien, Roland Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl ({29}), Erich Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Rönsch ({30}),
Hannelore
Röttgen, Norbert
Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm Dr. Rose, Klaus Rossmanith, Kurt J.
Roth ({31}), Adolf
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen
Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schauerte, Hartmut Schemken, Heinz Scherhag, Karl-Heinz
Scheu, Gerhard Schindler, Norbert Schlee, Dietmar Schmalz, Ulrich Schmidbauer, Bernd
Schmidt ({32}), Christian Dr.-Ing. Schmidt ({33}), Joachim
Schmidt ({34}), Andreas Schmiedeberg, Hans-Otto Schmitz ({35}),
Hans Peter
von Schmude, Michael Schnieber-Jastram, Birgit
Dr. Schockenhoff, Andreas Dr. Scholz, Rupert Freiherr von Schorlemer,
Reinhard
Dr. Schuchardt, Erika
Schütze ({36}), Diethard Schulhoff, Wolfgang
Dr. Schulte
({37}),
Dieter
Schulz ({38}), Gerhard Schulze, Frederick Schwalbe, Clemens
Dr. Schwarz-Schilling,
Christian
Sebastian, Wilhelm-Josef Seehofer, Horst
Seibel, Wilfried Seiffert, Heinz-Georg
Seiters, Rudolf Selle, Johannes Siebert, Bernd Sikora, Jürgen
Singhammer, Johannes Sothmann, Bärbel Späte, Margarete Spranger, Carl-Dieter
Steiger, Wolfgang Steinbach, Erika Dr. Freiherr von Stetten,
Wolfgang
Dr. Stoltenberg, Gerhard Storm, Andreas Straubinger, Max Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Teiser, Michael
Dr. Tiemann, Susanne Dr. Töpfer, Klaus
Tröger, Gottfried
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Vogt ({39}), Wolfgang Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Wetzel, Kerstin
Wilhelm ({40}), Hans-Otto Willner, Gert
Wilz, Bernd
Wimmer ({41}), Willy Wissmann, Matthias Wittmann ({42}),
Simon
Wöhrl, Dagmar
Wonneberger, Michael Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang
SPD
Wieczorek ({43}), Helmut
FDP
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela
Braun ({44}),
Hildebrecht
Bredehorn, Günther van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf Frick, Gisela
Friedhoff, Paul K. Friedrich, Horst
Funke, Rainer
Genscher, Hans-Dietrich Dr. Gerhardt, Wolfgang Günther ({45}), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz
Dr. Haussmann, Helmut Heinrich, Ulrich
Hirche, Walter
Dr. Hirsch, Burkhard Homburger, Birgit Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich
Dr. Kinkel, Klaus
Kleinert ({46}), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Graf Lambsdorff, Otto Lanfermann, Heinz Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lühr, Uwe
Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Peters, Lisa
Dr. Rexrodt, Günter Dr. Röhl, Klaus
Schäfer ({47}), Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia
Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard Dr. Schwaetzer, Irmgard Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Stadler, Max
Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter
Türk, Jürgen
Dr. Weng ({48}), Wolfgang
Nein
SPD
Adler, Brigitte
Andres, Gerd
Bachmaier, Hermann Bahr, Ernst
Barnett, Doris
Barthel, Klaus
Becker-Inglau, Ingrid Behrendt, Wolfgang Bernrath, Hans Gottfried Bertl, Hans-Werner Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Blunck ({49}), Lieselott Dr. Böhme ({50}), Ulrich Börnsen ({51}), Arne Brandt-Elsweier, Anni Braune, Tilo
Dr. Brecht, Eberhard Büttner ({52}), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Deichmann, Christel Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßen, Peter
Dreßler, Rudolf
Duve, Freimut
Eich, Ludwig
Enders, Peter
Erler, Gernot
Ernstberger, Petra Faße, Annette
Ferner, Elke
Fischer ({53}), Lothar Fograscher, Gabriele Follak, Iris
Formanski, Norbert Freitag, Dagmar Fuchs ({54}), Anke Fuchs ({55}), Katrin Fuhrmann, Arne Ganseforth, Monika Gansel, Norbert
Gilges, Konrad
Gleicke, Iris
Gloser, Günter
Dr. Glotz, Peter
Graf ({56}), Günter Graf ({57}), Angelika Grasedieck, Dieter Großmann, Achim
Haack ({58}),
Karl-Hermann
Hacker, Hans-Joachim Hagemann, Klaus
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hartenbach, Alfred
Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus
Dr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter
Hemker, Reinhold Hempelmann, Rolf
Dr. Hendricks, Barbara Heubaum, Monika Hiksch, Uwe
Hiller ({59}), Reinhold Hilsberg, Stephan
Höfer, Gerd
Hoffmann ({60}), Jelena Hofmann ({61}), Frank Holzhüter, Ingrid
Horn, Erwin
Ibrügger, Lothar Ilte, Wolfgang Imhof, Barbara Irber, Brunhilde Iwersen, Gabriele Jäger, Renate Janssen, Jann-Peter Janz, Ilse
Dr. Jens, Uwe
Jung ({62}), Volker Kaspereit, Sabine Kastner, Susanne Kastning, Ernst
Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun Klose, Hans-Ulrich
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter
Kressl, Nicolette Kröning, Volker Kubatschka, Horst Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Kunick, Konrad Kurzhals, Christine Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Lehn, Waltraud Leidinger, Robert Lennartz, Klaus
Dr. Leonhard, Elke Lörcher, Christa Lohmann ({63}), Klaus
Lotz, Erika
Dr. Lucyga, Christine
Maaß ({64}), Dieter
Mante, Winfried Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matschie, Christoph Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meckel, Markus
Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert Mertens, Angelika
Dr. Meyer ({65}), Jürgen Mogg, Ursula
Mosdorf, Siegmar
Müller ({66}), Michael Müller ({67}), Jutta Müller ({68}), Christian Neumann ({69}), Volker
Dr. Niehuis, Edith Dr. Niese, Rolf
Odendahl, Doris
Oesinghaus, Günter Onur, Leyla
Opel, Manfred
Ostertag, Adolf
Palis, Kurt
Papenroth, Albrecht Dr. Penner, Willfried Pfannenstein, Georg Dr. Pick, Eckhart
Poß, Joachim
Purps, Rudolf Rehbock-Zureich, Karin von Renesse, Margot Reschke, Otto
Reuter, Bernd
Dr. Richter, Edelbert Rixe, Günter
Robbe, Reinhold
Rübenkönig, Gerhard Dr. Schäfer, Hansjörg Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Scharping, Rudolf Scheelen, Bernd
Dr. Scheer, Hermann Scheffler, Siegfried Schild, Horst
Schily, Otto
Schloten, Dieter
Schluckebier, Günter Schmidbauer ({70}), Horst
Schmidt ({71}), Ursula Schmidt ({72}), Dagmar Schmidt ({73}), Wilhelm Schmitt ({74}), Heinz
Dr. Schnell, Emil
Schöler, Walter
Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Dr. Schubert, Mathias Schütz ({75}), Dietmar Schuhmann ({76}),
Richard
Schulte ({77}), Brigitte Schultz ({78}), Reinhard
Schultz ({79}), Volkmar Dr. Schuster, R. Werner
Dr. Schwall-Düren, Angelica Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf
Seidenthal, Bodo
Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Spanier, Wolfgang Dr. Sperling, Dietrich Spiller, Jörg-Otto
Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter
Tappe, Joachim
Tauss, Jörg
Dr. Teichmann, Bodo Terborg, Margitta Teuchner, Jella
Dr. Thalheim, Gerald
Thierse, Wolfgang Thönnes, Franz Titze-Stecher, Uta Tröscher, Adelheid Urbaniak, Hans Eberhard Verheugen, Günter
Vogt ({80}), Ute
Voigt ({81}), Karsten D. Vosen, Josef
Wagner, Hans Georg Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weis ({82}), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter
Weisskirchen ({83}), Gert Welt, Jochen
Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge
Dr. Wieczorek, Norbert Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wiefelspütz, Dieter
Wittich, Berthold
Dr. Wodarg, Wolfgang Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Wright, Heide
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph Zumkley, Peter
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Altmann ({84}), Gisela Altmann ({85}), Elisabeth
Beck ({86}), Marieluise Beck ({87}), Volker
Beer, Angelika
Berninger, Matthias Buntenbach, Annelie Dietert-Scheuer, Amke Fischer ({88}), Andrea Fischer ({89}), Joseph Grießhaber, Rita
Häfner, Gerald Höfken-Deipenbrock, Ulrike Hustedt, Michaele
Dr. Kiper, Manuel Knoche, Monika
Dr. Köster-Loßack, Angelika Lemke, Steffi
Lengsfeld, Vera
Dr. Lippelt, Helmut Metzger, Oswald Müller ({90}), Kerstin Nachtwei, Winfried Nickels, Christa
Özdemir, Cern
Poppe, Gerd
Probst, Simone
Dr. Rochlitz, Jürgen Saibold, Halo
Scheel, Christine Schewe-Gerigk, Irmingard Schlauch, Rezzo
Schmidt ({91}), Albert Schmitt ({92}), Wolfgang
Schönberger, Ursula Schulz ({93}), Werner Steenblock, Rainder Steindor, Marina
Sterzing, Christian Such, Manfred
Dr. Vollmer, Antje Wilhelm ({94}), Helmut Wolf-Mayer, Margareta
PDS
Bierstedt, Wolfgang Bläss, Petra
Böttcher, Maritta Bulling-Schröter, Eva-Maria Graf von Einsiedel, Heinrich Dr. Elm, Ludwig
Dr. Enkelmann, Dagmar Dr. Fuchs, Ruth
Dr. Gysi, Gregor
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara
Dr. Jacob, Willibald Jelpke, Ulla
Jüttemann, Gerhard
Dr. Knake-Werner, Heidi Köhne, Rolf
Kutzmutz, Rolf
Lederer, Andrea
Lüth, Heidemarie Dr. Luft, Christa
Dr. Maleuda,
Günther Johannes Müller ({95}),
Manfred Walter Neuhäuser, Rosel Dr. Rössel, Uwe-Jens Schenk, Christina Tippach, Steffen
Dr. Wolf, Winfried
Zwerenz, Gerhard
Enthalten
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hermenau, Antje
({96})
Ich gehe davon aus, daß durch die soeben erfolgte Annahme des Antrags der Koalitionsfraktionen der SPD-Antrag mit der abweichenden SPD-Konzeption zum Europaausschuß auf Drucksache 13/32 erledigt ist. - Dazu erhebt sich kein Widerspruch.
Bevor wir die Haushaltsberatungen fortsetzen, rufe ich zunächst die Tagesordnungspunkte 2a und b, 3 c sowie die Zusatzpunkte 1 a bis c auf:
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ({97})
- Drucksache- 13/57 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({98}) Auswärtiger Ausschuß
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuches - Verlängerung des Kündigungsschutzes für gewerblich genutzte Räume und gewerblich genutzte unbebaute Grundstücke
- Drucksache 13/67 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({99})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
3. c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Ersatz des Solidaritätszuschlags durch eine sozial gerechte und ökonomisch vernünftige Ergänzungsabgabe
- Drucksache 13/17 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
ZP1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({100})
a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS
Vermögen der Parteien und Massenorganisationen der DDR
- Drucksache 13/78 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({101}) Finanzausschuß
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS
Vergütung der Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesministerium des Innern
- Drucksache 13/79 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({102}) Innenausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt, Christa Nickels, Gerd Poppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verhinderung der Abschiebung von Flüchtlingen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die dem Kriegsdienst entflohen sind
- Drucksache 13/90 ({103}) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({104}) Auswärtiger Ausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen nun zum Haushalt des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie sowie Technikfolgenabschätzung, Einzelplan 30.
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie entfallen auf die Bereiche Bildung und Wissenschaft etwa 6 Milliarden DM, auf Forschung und Technologie 9,5 Milliarden DM. Ihnen allen ist bekannt, daß es unmittelbar nach Vorlage des Haushaltes durch den Bundesfinanzminister eine breite Diskussion gegeben hat. Anlaß für diese Diskussion, die gestern auch von Frau Kollegin Matthäus-Maier bei ihrer Rede aufgenommen worden ist, war ein Rechentrick. Durch bloßes Addieren der beiden ursprünglichen Haushalte hat Frau Matthäus-Maier nach meiner Einschätzung versucht, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen.
Meine Damen und Herren, was ist die Wahrheit? Obwohl der Kreis der BAföG-Bezieher in den neuen Bundesländern wegen steigender Einkommen zurückging und damit die Ausgaben um 270 Millionen DM abnahmen, wurde der Etat in diesem Bereich nur um 90 Millionen DM gekürzt. Die Differenz steht also für andere Maßnahmen zur Verfügung.
Für den Forschungs- und Technologiebereich steigt der Etat um 250 Millionen DM und damit, wie angekündigt, überproportional um 2,7 %.
({0})
Ich meine, durch die Verengung der Diskussion auf bloße Kameralistik hat Frau Matthäus-Maier zudem übersehen, was sie selber an anderer Stelle gesagt hat. Es paßt eben nicht, Frau Matthäus-Maier, einerseits mehr Ausgaben zu fordern und andererseits über hohe Schulden zu klagen. Das paßt nicht zusammen.
({1})
Wer wie Theo Waigel eine klare Konsolidierungspolitik betreibt, der handelt nach meiner Einschätzung verantwortlich und gestaltet Zukunftspolitik. Nur wer die Staatsquote zurückführt, schafft Spielräume für mehr Investitionen in Ausbildung und
Forschung. Nur wer Gewinne macht, kann in neue Ideen und Produkte investieren. Wer das bestreitet, übersieht, daß Bildung und Forschung eben nicht nur eine staatliche Aufgabe sind, sondern auch eine Aufgabe der Wirtschaft.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?
Aber gern.
Herr Minister, Sie haben mir gerade zwei Dinge vorgeworfen. Erstens: Ich hätte willkürlich die beiden Ansätze für den Haushalt Forschung und Technologie einerseits sowie Bildung und Wissenschaft andererseits addiert. Der zweite Vorwurf war, ich hätte keine Finanzierungsvorschläge zur Aufstellung des Haushalts des Zukunftsministeriums gemacht.
Ist Ihnen erstens entgangen, daß ich in meiner gestrigen Rede darauf hingewiesen habe, daß die 670 Millionen DM, die der Finanzminister übrig hat, um den Haushalt der Verteidigung schon wieder zu erhöhen, besser beim Zukunftsetat aufgehoben wären, daß ich also sehr konkret über die Finanzierung des Haushalts Ihres Ministeriums gesprochen habe?
({0})
Wollen Sie mir bitte zweitens bestätigen, daß ich nicht willkürlich etwas addiert habe, sondern daß Ihr Bundeskanzler die beiden Ministerien zusammengelegt hat, so daß es nur noch ein Haushalt ist? In Ihrer Vorlage steht: Anhebung um 1 %. Ich habe also weder getrickst noch willkürlich etwas gemacht, sondern Ihren Haushalt vorgelesen.
Verehrte Frau Matthäus-Maier, ich habe nicht gesagt, daß Sie willkürlich addiert haben. Die Grundrechenarten beherrschen Sie. Das will ich Ihnen ausdrücklich bestätigen.
Wahr ist und wahr bleibt, daß es einen Grund dafür gibt, daß der Etat des Bildungsbereiches nominal geringer wird. Ich habe Ihnen den Grund soeben gesagt. Der Grund sind steigende Einkommen in den neuen Bundesländern und weniger BAföG-Zahlungen als Folge davon. Ich finde, das ist an und für sich eine Sache, über die wir uns freuen sollten, denn das bedeutet, daß Menschen aus dem Bezieherkreis herausgewachsen sind, weil sie höhere Einkommen haben. Das war unser gemeinsames Ziel.
({0})
Daraus wird nun der Vorwurf hergeleitet, daß Theo Waigel nicht in Zukunftsfragen investiert. Das ist der Punkt, den ich ansprechen wollte.
Jetzt will ich aber auch noch einen zweiten Punkt ansprechen, Frau Matthäus-Maier.
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- Herr Fischer, hören Sie einmal zu. Vielleicht verstehen Sie es dann.
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Frau Matthäus-Maier, ich will Ihnen auch bestätigen, daß Sie den Vorschlag, aus dem Verteidigungsetat Gelder zu nehmen, bereits, soweit ich mich erinnere, seit 1985 jedesmal machen, und zwar jedesmal, in bezug auf alle Vorschläge, die Sie üben, so daß dieser Betrag inzwischen hundertmal verplant worden ist und mir bei einer normalen, ordentlichen Haushaltsführung leider nicht zur Verfügung steht.
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Meine Damen und Herren, ich will nicht nur die Opposition ansprechen, sondern ich will hier auch die Wirtschaft ansprechen, denn die Wirtschaft muß wissen: Es reimt sich nicht, mehr staatliche Sparsamkeit einzufordern, gleichzeitig aber die eigenen Forschungsbudgets herunterzufahren und dann vom Staat Kompensationen zu verlangen. Wer über Facharbeitermangel klagt, der darf eben nicht über 100 000 Lehrstellen abbauen. Ich sage hier noch einmal: An dieser Stelle muß es Korrekturen geben.
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Aber es ist auch nicht schlüssig, wenn die Länder beim Bund mehr für die Forschung fordern und gleichzeitig, wie Niedersachsen, wie Bremen und jetzt vielleicht auch Hamburg, aus dem Forschungszentrum Geesthacht aussteigen.
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Aus Schleswig-Holstein, meine Damen und Herren, wird gemeldet, daß beinahe jede sechste Professorenstelle nicht besetzt ist. In Nordrhein-Westfalen herrscht Lehrermangel. In Magdeburg wird über eine Verlängerung der Schulzeit diskutiert, obwohl das Gegenteil notwendig ist. Auch das muß nach meiner Ansicht korrigiert werden.
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Ich schlage also vor: Ein jeder kehre zuerst einmal vor seiner eigenen Tür.
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Daran will ich mich auch gern beteiligen.
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Wenn nämlich jeder seine Aufgaben macht, statt, wie in Hessen, durch Verwaltungshandeln Unternehmen zur Landflucht zu treiben, dann könnten wir uns manche kontroverse Diskussion ersparen.
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Meine Damen und Herren, wer glaubt, man könne ohne wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und technoloBundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
gische Kompetenz Zukunftsvorsorge betreiben, der endet zwangsläufig in der Sackgasse. Die Bundesregierung setzt demgegenüber klar auf Vorsorge und Leistungsfähigkeit durch technologische Innovation.
({10})
- Die Mittel für die Gesundheits- und Umweltforschung, Herr Catenhusen, werden verstärkt; bei den Umwelttechnologien um ca. 10 %. Für die Förderung der Schlüsseltechnologien von morgen, also Informationstechnik, Biotechnologie und Verkehrstechnologie, werden die Fördermittel um weitere 70 Millionen DM erhöht. Die gesamten Aufwendungen in diesem Bereich erreichen mit ca. 2 Milliarden DM 1995 einen neuen Höchststand.
Die neuen Programme „Produktion im 21. Jahrhundert" und „Materialtechnik" fördern nicht nur spezielle Technologieentwicklungen, sondern versuchen, die anwendungsbezogene Integration unterschiedlicher Disziplinen und Fachgebiete zu erreichen. Ich hoffe sehr, daß solche Förderprojekte einen Brückenschlag zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung möglich machen.
Die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft werden jetzt im fünften Jahr um 5 % gesteigert. 1,2 Milliarden DM im Luftfahrtforschungsprogramm verbessern die Wettbewerbsfähigkeit unserer Luftfahrtindustrie.
Ich finde es ganz wichtig: Zu den Schwerpunkten, die auch der Haushalt 1995 hat, gehören weiter die Mittelstandsförderung und der Ausbau der Forschungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern.
Die Mittel für die KMU-Förderung sind in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Für 1995 ist wiederum ein Gesamtbetrag von rund 600 Millionen DM vorgesehen. Das ist mehr als ein Drittel der für die Wirtschaft bereitgestellten Fördermittel. Ich sage dies einmal in Richtung derjenigen, die in der Öffentlichkeit jetzt meinen, Quotierungen in diesem Bereich fordern zu müssen. Hier gibt es, soweit ich das beurteilen kann, keinen Nachholbedarf. Für die neuen Bundesländer wird im Haushalt 1995 ein Gesamtbetrag von ca. 3 Milliarden DM bereitgestellt, davon etwa 1,75 Milliarden DM im Bereich der außeruniversitären Forschung und Technologieentwicklung.
Meine Damen und Herren, ein Wort zur Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Die Mittel für diesen Bereich sind seit 1989 von 1 Milliarde DM auf jetzt 1,8 Milliarden DM erhöht worden, allein von 1994 auf 1995 um 120 Millionen DM. Hinzu kommen die Sonderprogramme, die Ihnen bekannt sind, mit einem Volumen von 460 Millionen DM. Die gemeinsame Bund-Länder-Hochschulbaufinanzierung muß jetzt an die veränderten Rahmenbedingungen in Deutschland angepaßt werden. Ich verstehe, wenn etwa der Freistaat Bayern sagt: Wir würden gerne mehr tun, weil wir Mittel dafür haben.
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- Ja, Frau Matthäus-Maier, das ist eine aktuelle Diskussion, die Ihnen vielleicht nicht ganz geläufig ist. - Ich sehe aber nicht, daß die Mehrheit der Länder diese Auffassung teilt. Der Ausstieg aus der Gemeinschaftsaufgabe kann daher nicht die Lösung sein.
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Wir müssen also nach anderen Lösungen suchen, die neue Spielräume eröffnen.
Lassen Sie uns darüber reden, ob wir weiter wie bisher alles finanzieren oder ob wir nicht neue Schwerpunkte setzen sollen. Lassen Sie uns über Bagatellgrenzen reden. Die Bundesregierung ist dazu bereit. Ich strebe hier eine einvernehmliche Lösung mit den Ländern an. Wir haben das auch in anderen Bereichen getan. Wir haben uns gerade in diesen Tagen mit den Sozialpartnern und den Ländern auf einen Maßnahmenkatalog verständigt, der die berufliche und akademische Bildung und die Arbeitswelt als Ganzes begreift und jungen Menschen Zukunftsperspektiven für ihr Berufsleben eröffnet.
Zu den vereinbarten Maßnahmen zählen u. a. eine schnellere Neuordnung der Ausbildungsberufe, Investitionen der Länder und Gemeinden für Berufsschulen, zusätzliche Anstrengungen für benachteiligte Jugendliche ohne Berufsausbildung, bessere Chancen für Frauen im Bildungswesen, erleichterter Hochschulzugang für besonders qualifizierte Fachkräfte, Ausbau der Fachhochschulen, mehr Leistungsorientierung auch im öffentlichen Laufbahnrecht.
Ich bin zuversichtlich, daß wir auch in den noch anstehenden schwierigen Gesprächen Einvernehmen erzielen können. Für die Bundesregierung bleibt dabei die Stärkung der beruflichen Bildung ein zentrales Anliegen.
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Wir haben für 1995 in diesem Bereich, und zwar für zusätzliche Ausbildungsplätze in den neuen Ländern, die Mittel nochmals um mehr als das Doppelte auf 94,3 Millionen DM erhöht.
Was den Hochschulbereich betrifft, so möchte ich auch an dieser Stelle dafür plädieren, die Themen Strukturreform, Hochschulausbau und Ausbildungsförderung zusammen zu diskutieren. Ich glaube - auch da wird es sicherlich im Diskussionsansatz Einvernehmen geben können -, wir brauchen hier eine Reform aus einem Guß.
Beim BAföG steht die Bundesregierung zum Beschluß des Deutschen Bundestages vom 16. Juni. Dessen leistungsverbessernde Vorschläge, Frau Kollegin Odendahl, sind nicht an uns gescheitert. Ob eine Anhebung der Bedarfssätze zum Herbst 1995 vertretbar ist, wird entsprechend dem Auftrag des Bundestages geprüft. Der Bericht hierzu wird zum 1. März 1995 vorliegen.
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Auch werde ich baldmöglichst Vorschläge zur beruflichen Aufstiegsförderung vorlegen.
Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit unseres Landes reden, dann, finde ich, dürfen wir nicht nur über Geld reden. Es geht auch um die Fesseln, die wir uns selbst anlegen, um Denkblockaden, die Zukunfts450
wege verbauen. Die verbreitete Skepsis gegenüber manchen Technologien ist hierfür ein Indiz. Ich bin sehr dafür, nüchtern und sensibel zu prüfen, was notwendig und was vertretbar ist. Dazu gehört Risikoabwägung, aber eben auch Risikoabwägung im Hinblick darauf, was passiert, wenn wir Zukunftsoptionen nicht ergreifen.
Zukunftsdenken heißt doch langfristiges Denken, Denken in Alternativen und Optionen. Wenn wir nur immer aussteigen, dann werden wir innovationsunfähig, vielleicht nicht zu unseren eigenen Lasten, aber ganz sicher zu Lasten künftiger Generationen.
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Die Debatte um die Biotechnologie ist ein solches Beispiel. Natürlich gibt es hier Gefahren. Aber es gibt auch riesige Chancen, etwa in der Diagnose und Therapie von Krankheiten wie z. B. Aids, in der biologischen Reinigung von Abwässern, bei umweltschonenden Produktionsverfahren und in der biologischen Schädlingsbekämpfung. Die Biotechnologie ist eben keine Sackgasse, wie der Kollege Kiper in der letzten Debatte gesagt hat. Der Kollege Fischer von den GRÜNEN, der jetzt leider nicht hier sein kann, spricht so gerne von Globalisierung. Nun weiß doch jeder hier im Haus, daß der Energiebedarf weltweit steigen wird, bei den Primärenergien jährlich um 2,6 %. Jeder weiß auch, daß die natürlichen Ressourcen endlich sind. Wenn ich „Globalisierung" höre, frage ich mich: Was heißt in diesem Zusammenhang „nachhaltige Entwicklung"? Was heißt „nachhaltige Entwicklung", wenn wir nicht so schonend wie möglich mit diesen Ressourcen umgehen, also eben nicht nur unsere Primärenergieträger verbrennen und den CO2-Ausstoß vervielfachen?
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Natürlich müssen wir auch auf die alternativen Energien setzen, auf schonende Verfahren, auf Energieeinsparung. - Wir haben Sie inzwischen als den lautesten und häufigsten Zwischenrufer kennengelernt.
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Aber wer dauernd dazwischenruft, wird deshalb immer noch nicht gut. - Entschuldigen Sie einmal, Herr Kollege Fischer, es gibt ein paar Sachen, die man einfach ansprechen muß. Sich da hinzusetzen und irgend etwas dazwischenzurufen, was objektiv nicht stimmt, ist kein guter Debattenstil.
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Das muß auch einmal gesagt werden.
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Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich gestatte gerne eine Zwischenfrage.
Herr Minister, Sie haben sich eben zu Dingen geäußert, die ein Fraktionskollege von mir hier vorgetragen hat. Ich wollte nachfragen. Erfahrungsgemäß gibt es im Bereich der Bio- und Gentechnologie einige Begriffsverwirrung. Würden Sie mir dahin gehend zustimmen, daß mein Kollege Kiper hier ausgeführt hat, daß er die Gentechnologie für eine Sackgassentechnologie hält, die Biotechnologie aber nicht?
({0})
Dann würde ich gerne wissen, ob Sie den Begriff Biotechnologie so verwenden, daß er die Gentechnologie einschließt.
Ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar, weil das einer der Punkte ist, die mich in diesem Teil meines Debattenbeitrages interessieren: der Versuch, über Begriffe und damit über Technologien und über das, was wir jetzt diskutieren, mehr Klarheit zu bekommen. Ich habe den Kollegen Kiper anders verstanden. Aber falls ich das falsch verstanden haben sollte, können wir das sicherlich im Gespräch mit ihm noch ausräumen. Ich glaube, daß es für das, was ich jetzt sagen will, nicht darauf ankommt, ob wir eine feine Unterscheidung zwischen Gentechnologie und Biotechnologie machen und das jeweils zuordnen. Sie wissen - da stimme ich Ihnen zu -, daß das teilweise sehr unterschiedlich gebraucht wird. Meine Aussage - das ist das, was Sie interessiert - würde ich auch für die Gentechnologie im engeren Sinne aufrechterhalten.
Meine Damen und Herren, ich sprach von einem Stück Debatte fiber Technologien. Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir alternative Energien haben wollen, daß wir schonende Verfahren haben wollen, daß wir Energieeinsparung haben wollen, so finde ich, müssen wir auch die Konsequenzen für unsere öffentlichen Technologiedebatten ziehen. Wie läuft denn die öffentliche Diskussion? Die GRÜNEN und Teile der SPD sagen: Kernenergie - nein danke. Fossile Brennstoffe - so wird in der Diskussion gesagt - setzen zuviel CO2 frei. Windenergie war über viele Jahre eine Antwort auf die Problematik. In diesem Jahr haben wir gelernt, daß wir auch da Probleme bekommen. Als wir nämlich das Baugesetz geändert haben, wurde plötzlich die Gefahr erkannt, daß etwa die Landschaft an der Ostsee total verschandelt wird.
Das Ergebnis solcher Debattenabläufe ist - darum geht es mir -: Es geht also nichts. Ich finde, daß wir es uns als verantwortliche Politiker nicht so leicht machen können, immer nur nein zu sagen. Nein zu sagen ist einfach, Antworten zu geben ist schwer.
Ich nehme ein anderes Beispiel aus der aktuellen Diskussion. Ich glaube, man könnte sehr schnell über das Ziel Einvernehmen erreichen, daß wir den innerdeutschen Flugverkehr mindern müssen, aus Umweltgründen und aus Lärmschutzgründen. Aber,
meine Damen und Herren, dann ist es mit dem schadstoffarmen Kleinbus nicht getan, sondern dann brauchen wir auch leistungsfähige mobile Systeme wie Transrapid und ICE.
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Wenn das angesprochen wird, dann haben wir erneut Widerstand. Dann sind wir wieder bei dem Punkt: Nichts geht mehr.
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Ich will ein drittes, letztes Beispiel ansprechen.
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- Frau Matthäus-Maier, Sie kommen doch hier aus der Gegend. Was ist denn mit der neuen Trasse? Wie setzen wir die denn durch? Es ist dasselbe Thema, dasselbe Problem. Wir zwei können uns darüber einigen, aber das Problem der Diskussion ist so, wie ich es angesprochen habe. Ich spreche es deshalb an, damit wir darüber vielleicht noch einmal Klarheit bekommen.
Ich will ein drittes Beispiel nennen. Die größte Querschnittswirkung werden im kommenden Jahrhundert die Informationstechnologien haben. Meine Damen und Herren, jeder von uns benutzt heute schon intelligente Chipkarten, sei es als Telefonkarten, sei es im Zahlungsverkehr.
Die Chipkarte ist ein deutsches Produkt, ein deutsches Patent aus dem Jahre 1968. Nun haben wir als erstes Land auf der Welt eine landesweite gesetzliche Chipkartenanwendung eingeführt. Bis zum Jahresende werden ca. 80 Millionen Chipkarten im Abrechnungswesen der Krankenkassen in Deutschland ausgegeben sein.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß dies auch ein spannendes Thema der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist, weil ich nämlich glaube, daß es hier eine Chance gibt, über solche „smart cards" ein Stück verlorener Selbstbestimmung wiederherzustellen. Persönliche Daten müssen dann nicht mehr zentral von Dritten vorgehalten werden, sondern können in die alleinige Verfügungsberechtigung des Nutzers zurückgegeben werden. Dann ist es eben nicht mehr Orwell, sondern es ist Selstbestimmung, die hier durch Technologie erreicht werden kann.
({3})
All dies, meine Damen und Herren, führt mich zu der Konsequenz: Es wäre fatal, zu sagen, wir haben gut gelebt, wir haben alle Risiken vermieden, und zu verschweigen, daß unsere Kinder dies ausbaden müssen. Wir dürfen eben nicht, wie es Herr Scharping an die Adresse der SPD gesagt hat, bei Zukunftsfragen in der Vergangenheit leben.
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- Das hat Ihr Vorsitzender in Richtung SPD in Tutzing gesagt, Frau Bulmahn.
Das Verhältnis von SPD und GRÜNEN zu neuen Technologien - das meine ich - ist reif für eine ideologiefreie Überprüfung. Ich glaube, Herr Catenhusen - und da schließe ich mich dann Ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden an -, SPD, aber auch GRÜNE brauchen den Mut zum Tabubruch. Ein zentraler Schlüssel für unsere Zukunftsfähigkeit ist jedenfalls die Bereitschaft, sich auf Veränderungen einzulassen. Es geht eben nicht um naiven Technikglauben, sondern um die Nutzung unserer Chancen.
Ich bin fest davon überzeugt, daß der Bildungs- und Forschungsetat in diesem Sinne ein Stück Zukunft gestaltet.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Doris Odendahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich habe Ihnen gern und voller Erwartung zugehört. Nach der Errichtung eines Zukunftsministeriums, den vollmundigen Absichtserklärungen in der Regierungserklärung und in Ihrer Koalitionsvereinbarung unter dem Leitsatz: „Wir werden durch ein überproportionales Wachstum des Bundeshaushalts für Forschung und Technologie Spielräume für neue Initiativen, insbesondere in der Spitzentechnologie, eröffnen und eine kontinuierliche Förderung der Industrieforschung in den neuen Ländern ermöglichen" hatten wir erwartet, daß Sie diese Ankündigungen nun in dem zusammengelegten Einzelplan 30 für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Forschung auch umsetzen.
Leider Fehlanzeige. Mit etwa 6 Milliarden Mark spielt der Bildungs- und Wissenschaftsbereich auch weiterhin nur eine marginale Rolle im gesamten Bundeshaushalt. Sein Anteil ist von über 1,8 Prozent im Jahre 1982 auf unter 1,3 Prozent gesunken, obwohl die Bundesregierung immer wieder von dem hohen Stellenwert von Bildung und Wissenschaft für die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschlands spricht.
({0})
Auch die zu geringe Erhöhung des Forschungsetats um nur 2,7 Prozent, die sie lediglich durch den Wegfall einer Sperre von 250 Millionen Mark im laufenden Jahr erzielten - das ist nämlich Ihr gigantischer Bluff, so ist das -, wird den angekündigten und notwendigen Technologie- und Forschungsschub eben nicht in Gang setzen.
({1})
Es ist schon bitter, nach ganz kurzer Zeit feststellen zu müssen, daß der Bundeskanzler mit diesem Zukunftsministerium offenbar wieder einmal Politik durch Symbolik ersetzen will. Es bleibt festzuhalten: Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes läßt sich diese Bundesregierung, wie in dem Haushalt deutlich wird, nichts kosten.
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Ich möchte das für den Bereich Bildung und Wissenschaft deutlich machen; meine Kollegin Edelgard Bulmahn wird anschließend auf den Forschungsteil gesondert eingehen.
Erstes Beispiel: BAföG. Der BAföG-Ansatz soll auf 2 Milliarden DM heruntergefahren werden. Gegenüber 1992 ist dies ein Rückgang um 700 Millionen DM. Dies bedeutet, daß die Bundesregierung den bedürftigen Studierenden weiterhin die notwendige Anpassung der Bedarfssätze in den alten wie in den neuen Ländern verweigern will.
({3})
Auch die notwendige Anhebung der Freibeträge
- daher rührt nämlich Ihr gepriesener Sparstrumpf
- um 2 %, rückwirkend zum Herbst 1994, soll ihnen vorenthalten werden. Statt dessen will die Bundesregierung ihnen einen gesonderten Studienstandnachweis nach dem zweiten Fachsemester auferlegen, wenn sie weiterhin Förderung erhalten wollen.
Die Bundesregierung - das ist das Entscheidende dabei - konterkariert alle Anstrengungen der Länder, die dabei sind, mit dem Ausbau von Studienkapazitäten und einer Strukturreform Lehre und Studium wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Deshalb fordere ich noch einmal mit allem Nachdruck und ganz besonders an Ihre Adresse, Herr Minister Rüttgers - Sie haben ja dem Kompromißvorschlag des Bundesrates Anfang September im Vermittlungsausschuß zugestimmt -: Bringen Sie diese BAföG-Anpassung schnellstens in Ordnung,
({4})
und suchen Sie sich kein Schlupfloch, indem Sie die von Ihnen aus dem Arbeitsförderungsgesetz gestrichene Förderung der Meisterausbildung im Handwerk mit dem BAföG vermengen wollen! Diese Meister- und Technikerfortbildung ist eine ganz wichtige Aufgabe bei einer längst fälligen Regelung der Weiterbildung.
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Dort gehört sie hin. Das schnellstens zu gestalten ist Ihre Aufgabe.
Zweites Beispiel: Hochschulbau. Mit dem bereits im Sommer 1994 vom Kabinett beschlossenen Haushaltsansatz von 1,8 Milliarden DM bleiben Sie weit hinter den von Ihnen geweckten Erwartungen zurück. Der Wissenschaftsrat, die Hochschulrektorenkonferenz und alle Länder halten 2,3 bis 2,4 Milliarden DM für notwendig. Der dringende Ausbau der Fachhochschulen - Sie sind selber darauf zu sprechen gekommen - und die Schaffung zusätzlicher Studienkapazitäten an den Universitäten lassen sich mit einer solchen Minimallösung nicht verwirklichen. Das Plus in Höhe von 120 Millionen DM gegenüber 1993 wird allein durch die Baupreissteigerung aufgefressen. Das wissen Sie ganz genau.
Dazu noch eine Anmerkung: Das Land Bayern hat Ihnen eine interessante und, wie ich meine, für die Zukunft dieser Gemeinschaftsaufgabe in der Tat bedrohliche Rechnung aufgemacht. Da viele Länder bereits seit einigen Jahren - mit Bonner Genehmigung - einzelne Bauvorhaben vorfinanziert haben, bezahlen sie bereits heute ihre Neubauten aus eigener Tasche. Wegen des nur unzureichend aufgestockten Hochschulbauetats steht der Bund bei den Ländern mittlerweile mit einer Milliarde DM in der Kreide.
({6})
Allein mit den Zinsen dafür könnten die Länder 4 000 Studienplätze mehr finanzieren.
({7})
Vielleicht, Herr Rüttgers, erleichtert Ihnen dieser Hinweis die Argumentation mit dem Finanzminister.
({8})
Drittes Beispiel: Berufliche Bildung. Hier sind im Haushalt überhaupt keine Schwerpunkte zu finden. Das betrifft sowohl die Versorgung aller Jugendlicher, insbesondere in den neuen Ländern, mit qualifizierten Ausbildungsplätzen als auch die Modernisierung der betrieblichen wie der schulischen Berufsausbildung. Der Bund kommt seiner berufsbildungspolitischen Verantwortung dabei weiterhin nicht nach. Dagegen spielt der Bundeskanzler, wie vor kurzem beim Handwerk in München gehört, berufliche und akademische Bildung gegeneinander aus, anstatt alle Anstrengungen zu unternehmen, diese Bereiche zusammenzuführen. Das ist unsere Aufgabe. Das müssen wir tun.
({9})
Es kann ihm doch nicht entgangen sein, daß bis zur Stunde die Wirtschaft jeden sechsten Ausbildungsplatz gestrichen hat und der Rückgang des Ausbildungsplatzangebots weiter fortschreitet. Es kann ihm auch nicht entgangen sein, daß bei dem Abbau von Ausbildungskapazitäten der gesamte öffentliche Bereich mit besonders schlechtem Beispiel vorangeht. Wissen Sie eigentlich, was im öffentlichen Bereich - einschließlich Telekom und Bahn - für ein Potential wegbricht und welche verheerenden Auswirkungen das insbesondere in den ostdeutschen Ländern hat?
Der Bundeskanzler ist gefragt, die Vorbildfunktion des öffentlichen Dienstes, des öffentlichen Bereichs gegenüber der Wirtschaft aufzuzeigen und umzusetzen, damit zuerst hier der Abbau gestoppt wird.
({10})
Die Frage sei erlaubt, welche Zukunftsperspektive Sie eigentlich jungen Menschen geben wollen, wenn Sie auf der einen Seite einen dramatischen Rückgang der Ausbildungskapazitäten im dualen System tatenlos hinnehmen, den Jugendlichen keine Antwort auf die Frage nach der Überwindung der Schwelle von der Ausbildung in einen Arbeitsplatz geben und die gleichen jungen Leute gleichzeitig mit einer Warnung vor einer Überakademisierung von weiterführender Bildung abhalten wollen. Zukunftsweisend ist das nicht, eher enttäuschend und, so meine ich, auch zynisch.
({11})
Es bleibt zusammenzufassen: Die Ansätze für Bildung und Wissenschaft im sogenannten Zukunftshaushalt gehen gegenüber 1993 um 1,6 % zurück. Das sind immerhin 135 Millionen DM. Zusätzlich muß das gesamte Ministerium 120 Millionen DM globale Minderausgabe verkraften. Die geringfügigen Verbesserungen beim Hochschulbau, die Steigerung der Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft - 50 Millionen DM - und bei der Graduiertenförderung konnten nur durch den scharfen Rückgang der Ansätze für die individuelle Ausbildungsförderung erzielt werden. Wo Sie den Spartopf herhaben, habe ich Ihnen schon genannt.
Lassen Sie mich noch einmal zum Ausgangspunkt zurückkommen. Zukunftsfähig wird eine Gesellschaft nicht - darin sind wir uns sicher einig -, wenn wir Zukunft nur als Risiko betrachten und ihre Chancen nicht aufnehmen,
({12})
und ganz sicher wird sie es nicht, wenn wir Bildung, Wissenschaft und Forschung nur auf ihre ökonomische Verwertbarkeit reduzieren.
Unsere Zukunft hängt davon ab, wie wir die bildungs-, sozial- und gesellschaftspolitische Kernforderung nach Chancengleichheit im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung erfüllen - ich beziehe dabei den Forschungs- und Technologiebereich ausdrücklich ein. Chancengleichheit zugunsten der neuen Länder, ohne Abbau der Förderung in von Strukturwandel bedrohten Regionen in Westdeutschland, Chancengleichheit für kleine und mittlere Unternehmen beim Zugang zu ihren Förderprogrammen und Chancengleichheit der Hochschulen wie auch außeruniversitärer Forschungseinrichtungen sind für uns elementare Kriterien eines guten Bildungs- und Forschungshaushalts.
Der Einzelplan 30 kann und muß dazu wichtige Impulse geben. Die SPD-Fraktion wird sie in der anstehenden Haushaltsberatung einbringen. Sorgen Sie, Herr Minister Rüttgers, dafür, daß beim Abschluß dieser Beratungen Ihr Haus seinem Namen besser gerecht wird, als das heute zu erkennen ist.
Der Fortschritt mag zwar manchmal eine Schnecke sein, aber rückwärts laufen darf er ganz sicher nicht.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Probst, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir hier schon über Zukunft reden, dann bestehen doch unsere vordringlichsten Aufgaben darin, Formen eines beschäftigungswirksamen und umweltschonenden Wirtschaftens hinzubekommen, den Ressourcenverbrauch zu verringern und zu friedlichen und zivilen Formen der Konfliktlösung zu kommen. Hätten Sie einen Haushalt vorgelegt, der sich an den eben genannten Zielen orientiert, dann hätten die Weichen für die Zukunft gestellt werden können.
Statt dessen setzt dieser Haushalt weiterhin auf die traditionelle Politik der Großtechnologie. Doch mit der vorrangigen Finanzierung von Prestigeobjekten wie in der Raumfahrt, wie Elementarteilchenbeschleunigern in Hamburg und Berlin, wie den Forschungsreaktor in Garching oder auch Transrapid wird sich keine Forschung entwickeln können, die sich an den unabdingbaren ökologischen, sozialen und vor allen Dingen nichtmilitärischen Zielen und Maßstäben orientiert.
({0})
Wir haben einen der grausamsten Kriege vor der Haustür, und einer der größten Verlierer dieses Haushaltes ist die Friedensforschung.
({1})
Es ist einfach ein Skandal, daß Sie alle Zuschüsse an die Deutsche Forschungsgmeinschaft im Bereich der Friedensforschung gestrichen haben.
Es hilft auch nichts, damit hausieren zu gehen, daß der Etat insgesamt aufgestockt wurde. Ich kann es dem Haushalt wirklich nicht entnehmen. Zum anderen meine ich, daß Sie, Herr Rüttgers, doch kein kleiner Junge sind, dem man das Taschengeld um fünfzig Pfennige erhöht. Es kommt doch einfach darauf an, wofür man das Geld ausgibt, und da brauchen wir einen Bruch mit der immer weiterführenden Entwicklung risikoreicher Sackgassentechnologien. Statt dessen benötigen wir eine klare Orientierung der Politik auf alternative und zukunftsträchtige Forschungsgebiete:
({2})
auf Energie, Ökologie und Umwelttechnik, auf den Rohstoff- und Wasserbereich, auf Städtebau, Architektur und Landwirtschaft. Auch im Verkehrswesen und auf dem Gebiet von Gesundheit und Ernährung ist vieles zu tun.
Gerade dem Energiebereich kommt dabei eine ganz zentrale Bedeutung zu. Vorrangiges Ziel ist es, auch durch technische Entwicklungen Energie zu sparen. Doch wenn die Energieforschung bei Ihnen so aussieht, daß die Gelder für Energiesparmaßnahmen und für regenerative Energien zusammengestrichen werden, die Gelder für Kernfusionsforschung jedoch aufgestockt werden, dann haben Sie die Zeichen der Zeit wirklich nicht erkannt.
({3})
Kernfusion ist zwar physikalisch ungeheuer spannend, energiepolitisch jedoch völlig irrelevant.
Gleichzeitig wird ein immer größer werdender Teil der Gelder für Energieforschung von Altlasten aus der Frühzeit des Atomzeitalters aufgefressen. Alte Forschungs- und Prototypreaktoren müssen stillgelegt und eingemottet werden. Doch statt aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, will die Bundesregierung sogar noch einen neuen Forschungsreaktor in Garching bauen. Schon jetzt steigen die Kostenschätzungen für das sinnlose Projekt in München sprunghaft an. Am Ende wird der Bund den Großteil der Kasten tragen müssen.
30 % der geschätzten Kosten für das jetzt schon abzusehende Millionengrab in Garching sollen über den Haushaltstitel für den Aus- und Neubau von Hochschulen finanziert werden. Diese Gelder waren vorgesehen, um die Universitäten und Fachhochschulen auszubauen. Der Wissenschaftsrat und die Länder halten die veranschlagten 1,8 Milliarden DM ohnehin nicht für ausreichend. Mindestens 2,3 Milliarden DM muß der Bundesanteil betragen, um einen realen Ausbau zu verwirklichen. Aus diesem Haushaltstitel aber nun auch noch Siemens den langersehnten Reaktorauftrag zu finanzieren, halte ich schlichtweg für eine Zweckentfremdung von Mitteln.
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Hören Sie wirklich mit weiterem Unsinn auf und steigen Sie endlich endgültig aus der bemannten Raumfahrt aus. Meinetwegen können Sie es ja schrittweise tun, aber es muß dort um Himmels willen etwas passieren. Es gibt keinen wirklichen Grund, an der bemannten Raumfahrt festzuhalten. Auch während der D 2-Mission im April letzten Jahres wurde ein Großteil der Experimente vom Boden aus gesteuert. Und es ist ein Mythos, daß bemannte Raumfahrt die Forschung vorantreibt. Vielmehr behindert die bemannte Raumfahrt durch ihre unregelmäßigen und vereinzelten Starts die Forschung; denn gebraucht wird eine ständige und absehbare Rückkoppelung von Forschungsergebnissen. Dringend notwendig ist dies beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes. Dort dürfen wir die Mittel nicht unproduktiv verschwenden.
({5})
Sie haben noch eine Chance in der zweiten und dritten Lesung. Wenn Sie es vernünftig machen, haben Sie unsere volle Unterstützung.
({6})
Das Wort hat jetzt Herr Dr. Gerhardt, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zukunft hat es so an sich, daß wir heute mit Sicherheit nicht voraussagen können, mit welchen Technologien wir sie am Ende zuversichtlich bewältigen können. Vielleicht gibt es die Annahme, daß es einige sind - die auch im Haushalt ausreichend gefördert werden -, die Grundlage der Beschäftigungsverhältnisse von morgen sind. Ich würde aber - im Unterschied zu meiner Kollegin von den GRÜNEN - heute nicht bibelfest vorhersagen können, auf welche Technologie wir schon heute verzichten könnten. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir in der Bewertung von Technologien.
Interessant ist hier auch nicht die Frage des feinsinnigen Unterschieds zwischen Biotechnologien und der Gentechnik. Die Verantwortung der Wissenschaftler ist es am Ende, die eine Technologie für die Menschheit vernünftig macht. Es kann nicht darum
gehen, wissenschaftliche Neugier von vornherein einzuengen.
Es gab noch nie einen Haushalt, der von der Opposition für ausreichend erachtet worden ist.
({0})
Nur, in diesem Feld ist es nicht so, daß die Opposition, die hier im Hause Opposition ist, nicht auch in den Ländern Verantwortung hätte, und die Nachprüfbarkeit von Länderhaushalten mit genau dem gleichen Ansatz ist ja jedem möglich. Ich sage das deshalb, um die Diskussion etwas zu dämpfen.
Als ich in Hessen Verantwortung hatte, hat die nachfolgende Koalition von SPD und GRÜNEN meinen überproportional gestiegenen Haushalt in den entsprechenden Feldern stark schrumpfen lassen. Da könnte ich heute zurückfragen, ob das denn der Verantwortung gerecht geworden ist.
({1})
Ich habe mich damals gewundert, daß Haushaltstitel gestrichen worden sind, die für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes wichtig gewesen wären. Ich habe mich insbesondere gefragt, wieso das ausgerechnet eine Koalition von SPD und GRÜNEN tut und der jungen Generation dann sagt, sie sei der eigentliche Anwalt ihrer Zukunftsinteressen. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, die Auseinandersetzung allein darüber zu führen, ob der Bund in allen Finanzierungen genügend macht.
Wenn ich an die Mitverantwortung der Länder denke, dann kann ich nur sagen, daß sich die jeweiligen Bundesbildungsminister bemüht haben, sogar Sonderprogramme des Bundes aufzulegen, um in den Ländern mitzufinanzieren. Ich denke an das Fachhochschulsystem und vieles andere. Die Fachhochschulsysteme der Länder haben überhaupt erst Schritte in Richtung eigenen Mittelbau machen können, weil es ein Sonderprogramm des Bundes gab. Hier geht es also nicht darum, ob der eine dem anderen vorwerfen könnte, er habe nicht genügend getan. Die zentrale Frage ist vielmehr, ob wir den Haushalt in den Bereichen, in denen er Forschungsförderung macht, für genügend erachten.
Herr Kollege Dr. Gerhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Odendahl?
Ja, gerne.
Herr Kollege Gerhardt, ich habe die Frage an Sie: Konnten Sie vorhin meiner Rechnung folgen, die aus dem Lande Bayern stammt, in der ganz plastisch wird, daß der Bund in einer Gemeinschaftsaufgabe bei den Ländern mit 1 Milliarde DM in der Kreide steht und daß allein die Zinsen dafür 4 000 Studienplätze bedeuten? Das ist vielleicht hilfreich, wenn es ans Aufrechnen geht. Ich halte es aber nicht nur für hilfreich, sondern auch für notwendig.
Darf ich, Frau Kollegin, diese Frage an anderer Stelle meines Beitrags beantworten?
({0})
- Ich habe sie im Kopf. Ich komme nachher darauf zurück. Wenn sie Ihnen nicht genügend beantwortet ist, dann dürfen Sie mich erneut fragen. - Ich sage das zur atmosphärischen Seite dieser Diskussion, weil ich möchte, daß die Opposition, die in diesem Hause Opposition ist, dann auch in Debatten besteht, wenn ich sie frage, wo sie in den Ländern die gleichen Steigerungsraten unter ihrer Regierungsverantwortung in diesen Feldern macht. Wenn es Gemeinschaftsaufgabe ist, dann von allen!
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- Ich rede gleich über dieses Thema. Ich sage nur vorab - ich bin hier Neuling; ich überziehe das nicht -, ich weiß, was Sie in Hessen gemacht haben, als Sie in der Verantwortung waren, im übrigen auch im Hochschulbau. Da hat sich der Finanzminister gefreut, daß er Kürzungsbeiträge in seinen Haushalt einstellen konnte, und die anderen haben auf den Bund geschimpft, weil der Bund seine Mittel nicht erhöht hat. Das habe ich für unglaubwürdig gehalten. Deshalb erwähne ich das hier.
({2})
Wir haben Zuwächse. Jedenfalls haben wir eine Summe von 9,5 Milliarden DM bei der Forschung. Wir haben eine Verstetigung - das begrüßen wir von der F.D.P. ausdrücklich - bei der DFG, bei der MaxPlanck-Gesellschaft. Diese großen Forschungsorganisationen brauchen Verstetigung und Kalkulierbarkeit des Mittelzuwachses. Das ist geschehen; das halte ich für vernünftig. Den Forschungsetat kann man jedenfalls in den Feldern, die der Minister benannt hat, vertreten: Biotechnologie, Informationstechnik, Umwelttechnik -10 % mehr -, Materialforschung, Luftfahrt- und Verkehrsforschung. Jeder wünscht natürlich, daß er noch größer wäre. Aber er ist in der Ausstattung und in den Feldern vernünftig. Es werden die Felder sein, die dieses Land braucht, für die der Bund auch in der Verantwortung steht.
Im übrigen mache ich jetzt schon eine Bemerkung für die weiteren Diskussionen, weil ich am Wochenende in der „Süddeutschen Zeitung" las, daß der Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie für die nun endlich beabsichtigte Kommerzialisierung des Satellitengeschäfts eine staatliche Anschubfinanzierung fordert. Auch andere, die außerhalb dieses Hauses sind und in diesem Land Verantwortung tragen, sollten nicht in das typisch deutsche Denken verfallen, daß zunächst immer eine staatliche Lösung kommen muß, bevor man sich selber daranbegibt.
({3})
Ich möchte nicht, daß wir in Deutschland zu der Meinung kommen, daß wir hier Staatsraketenbauer haben müssen.
({4})
Hier sollten sich die, die für die Zukunft Verantwortung haben, eine andere Denkkultur angewöhnen. Die kleinen Schritte der Kommerzialisierung in diesem Bereich sind mir zu gering.
Es ist vorhin kritisch bemerkt worden, ob die Mittel für erneuerbare Energien reichen, ob das genügend ist. Auch hierzu ein Beispiel von anderer Stelle: Ich kenne viele Länderhaushalte, in denen Koalitionen große Mittel einsetzen und öffentlich vorzeigen, wieviel man für erneuerbare Energien eingesetzt hat. Das ist aber nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist: Wieviel von den Mitteln fließt in echte erneuerbare Energien ab? Eine Summe von 150 Millionen DM mehr einzustellen und am Ende zu sagen, es sind aber nur 40 Millionen DM abgeflossen, zwischendurch aber darauf hinzuweisen, was man alles auf den Weg setzt, das ist falsch. Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit sind besser.
({5})
Wir setzen das ein, was auch abfließen kann, was in Projekte gehen kann. Alles andere ist eigentlich nur ein politischer Faktor.
Staatliche Haushalte sind im übrigen nicht alles. Der Standort Hanau ist ein innovativer Standort für Siemens. Die Entscheidung von Siemens, aus betriebswirtschaftlichen und Kostengründen dort einen Rückzug anzutreten, hängt auch mit dem Umgang der hessischen Landesregierung und ihrer Genehmigungsbehörde mit diesem hochinnovativen Bereich zusammen.
({6})
Wenn, wie ich heute lese, Daimler-Benz erwägt, das Swatch-Auto woanders zu bauen, dann beruht das zwar auch auf dem Kostenfaktor in unserem Land, aber vielleicht auch auf der Dauer der Genehmigungsverfahren in unserem Land. Die ganze Gesellschaft muß ihr Denken ändern.
({7})
Nur im staatlichen Haushalt etwas mehr Mittel für die Zukunftsbewältigung vorzusehen reicht nicht aus.
Jetzt komme ich zu den Bereichen, die vorhin in der Zwischenfrage angesprochen wurden. Auch ich bedauere, daß der Haushalt - ich habe das schon im letzten Debattenbeitrag gesagt - unter der auch aus meiner Sicht notwendigen Finanzierung des Hochschulbaus bleibt.
({8})
Ich erkläre für die F.D.P. ausdrücklich: Ich bin bereit, dieses im Laufe der Beratungen sehr genau bis zur abschließenden Lesung im Auge zu behalten. Aber eins möchte ich auch sagen: Dann muß aufhören, daß wir mit unterschiedlichen Konzepten und mit unterschiedlichen Denkmodellen über den Ausstieg aus dieser Aufgabe streiten. Auch der Freistaat Bayern, der einen Ausstieg erwägt, sollte so ehrlich sein, dann
zu sagen, daß er nur aussteigt, wenn er eine Plafondierung auf der 2-Milliarden-Ebene hat. Anders geht es doch überhaupt nicht.
({9})
Nun sage ich aber der Opposition: Niemand ist glaubwürdig, der in diesem Jahr meint, er könne diesen Haushalt beim Hochschulbau auf 2 Milliarden DM bringen, die Freibeträge erhöhen, das BAföG um 6 % - oder wie auch immer - steigen lassen, und der am Ende gleichzeitig noch sagt: Jetzt gebt aber auch die Millionensummen, die man noch für das berufliche Bildungssystem braucht. Das geht nicht!
Jeder, der seriös bleiben will und ernst genommen werden will, muß sich auf eine Prioritätenliste konzentrieren. Die nenne ich der verehrten Opposition: Als erste Priorität in diesem Haushalt haben wir alle Anstrengungen auf den Hochschulbau zu konzentrieren, weil er nicht nur eine gesamtstaatliche Aufgabe, sondern auch für die neuen Länder, für die Forschungsfähigkeit des Landes und für die zukünftigen Spitzenkräfte wichtig ist. Dann kann ich Ihnen aber nicht noch beim BAföG die ganze Palette Ihres Wünschenswerten hinlegen. Dies wird nicht gehen.
Im übrigen der Hinweis: Es schadet niemandem, wenn nach dem zweiten Semester ein Studienstandsnachweis verlangt wird.
({10})
Wenn Sie die Abbrecher sehen, die nach erfolglosen Hochschulprüfungen aufhören und so lange mit BAföG gefördert worden sind, dann müssen Sie doch zustimmen, daß die Studenten gegenüber der Gesellschaft die Verpflichtung haben, einen Studienstandsnachweis vorzulegen. Das ist doch keine Überforderung der jungen Generation. Am Ende könnte man sich über ein BAföG-Modell unterhalten, das voll ausgestattet ist. Dann aber müssen neben den Hochschulprüfungen regelmäßig Leistungsfeststellungen stattfinden können.
Ich möchte einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen.
Herr Kollege Dr. Gerhardt, ich weiß nicht, wie viele Gesichtspunkte Sie noch haben, aber Ihre Redezeit ist deutlich abgelaufen.
({0})
Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht; ich habe das übersehen.
Ich war schon milde und habe Ihnen eine Minute zusätzlich gegeben. Jetzt gebe ich Ihnen noch 20 Sekunden; dann ist Schluß.
({0})
- Wissen Sie, mir macht auch die Tätigkeit als Abgeordneter des Bundestages sehr großen Spaß. Wenn man von einem sehr freundlichen Präsidenten darauf hingewiesen wird, daß man zu lange gesprochen hat, tritt man ab und setzt sich wieder auf seinen Platz.
Ich bedanke mich jedenfalls herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! „Aufbruch in die Zukunft: Deutschland gemeinsam erneuern", unter diesem Motto gab der Bundeskanzler seine Regierungserklärung ab. Zur Gestaltung der Zukunft brauchen wir unbestritten die Jugend dieses Landes. Bildung und Wissenschaft sind Investitionen in die Zukunft; das ist in und aus allen Parteien zu hören. Die Schaffung eines neuen Ministeriums mit dem Namen „Zukunftsministerium" löst jedoch noch kein einziges Problem. Bereits heute muß die Lösung der bestehenden Probleme durch haushaltspolitische Entscheidungen vorbereitet werden. Zukunft beginnt in der Gegenwart. Dazu gehört die Verbesserung der sozialen Situation der Studierenden und der Auszubildenden.
Wenn der Bundeskanzler sagt, die Zukunftsgestaltung beginne in den Köpfen der Menschen, nicht in den Kassen des Staates, dann sollte die Regierung mit dieser Gestaltung beginnen.
({0})
Ein junger Mensch, der eine Ausbildung an einer Bildungseinrichtung absolviert, muß auch finanziell abgesichert sein. Eine Grundsicherung als Voraussetzung, seinen Kopf gebrauchen zu können, ist für mich unerläßlich.
Herr Rüttgers, das Einkommen der Eltern ist gewachsen, nicht aber das der Jugendlichen. Sanktionen bei Überschreitung der Studienzeit und elternabhängige BAföG-Zahlungen erschweren nicht nur den Zugang zum Studium, sondern führen den sozialen Numerus clausus ein.
Die Forderung des Bundesrates, die Bedarfssätze um 4 % anzuheben, stellt daher ein Minimum vor allem für die Ostdeutschen dar; denn für Ostdeutsche ist das BAföG die einzige Einnahmequelle. Die Eltern sind nicht in der Lage, das auszugleichen; auch besteht keine Möglichkeit für die Studierenden, nebenbei zu arbeiten. Gegen Nebenjobs für Studierende habe ich sowieso etwas, weil dadurch ganz objektiv Zeit für Studium und Forschung verlorengeht. Um die Zeit vom Studium bis hin zur Forschung richtig nutzen zu können, ist also eine ausreichende Finanzierung durch den Staat und auch die Wirtschaft - sie profitiert ja schließlich davon - erforderlich.
Die gleiche Problematik trifft für das Schüler-BAföG bzw. -LAföG zu. Die Bereitschaft, auch durch die gegenwärtige Praxis der Lehrstellenvergabe gefördert, das Gymnasium zu besuchen, wächst. Eine
Erhöhung bzw. grundsätzliche Zahlung von BAföG bzw. LAfÖG an Schüler halte ich nicht nur für notwendig, sondern sehe ich als Lösung mancher sozialer und moralischer Probleme. Wer z. B. ein Gymnasium besucht, im Internat wohnt, kann BAföG bzw. LAföG beziehen und hat, je nachdem, 300 DM Taschengeld übrig. Das können die Eltern anderer Schüler nicht leisten.
Im Zehn-Punkte-Programm der Wirtschaft zur beruflichen Bildung heißt es: Unser Wirtschaftsstandort ist in Gefahr, wenn das Bildungswesen ihn nicht mehr trägt. Wir brauchen aber Spitzenniveau, um in Europa und im globalen Wettbewerb an vorderer Stelle mitzuhalten. Deshalb appellieren wir an die Politik, die Weichen in der Bildungspolitik rasch umzustellen. - Dem kann ich nur zustimmen.
„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen", heißt es in Art. 12 des Grundgesetzes. In Ostdeutschland aber hat nur gut jeder zweite Bewerber bzw. jede zweite Bewerberin die Chance auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz, davon nur jeder bzw. jede zweite auf den gewünschten. Schließlich hat davon nochmals gut jeder bzw. jede zweite die Chance, vom auszubildenden Betrieb in eine der Ausbildung entsprechende Beschäftigung übernommen zu werden. So kann von der grundgesetzlich zugesicherten Freiheit der Berufswahl nur für jeden achten ostdeutschen ausbildungswilligen Jugendlichen die Rede sein. Das kann man getrost eine Schande nennen. Die Jugendlichen selbst nennen es gar eine Verarschung.
Die katastrophale Lehrstellensituation im Osten und inzwischen auch im Westen muß endlich zur Kenntnis genommen werden. Ich fordere deshalb, daß eine kritische, ehrliche Bilanz zu ziehen ist, um die sich die Regierung bisher ständig gedrückt hat. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, ein Programm zu erarbeiten, das die Situation tatsächlich entschärft.
Unsere Forderungen lauten: erstens Verpflichtung der auszubildenden Betriebe zur Übernahme der bei ihnen ausgebildeten Lehrlinge in ein Beschäftigungsverhältnis, zweitens Erhebung einer Ausbildungsabgabe für Betriebe, die eine bestimmte Ausbildungsquote unterschreiten, und schließlich drittens Überlegungen anzustellen, einen effektiven Bildungsweg, z. B. die Berufsausbildung mit Abitur, einzuführen. Das wären erste Schritte aus der Gegenwart in die Zukunft.
Danke.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Lenzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich gegen Ende der Debatte über den Haushalt des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Revue passieren lasse, welche konkreten Forderungen die Sprecher der Opposition vorgebracht haben, dann muß ich sagen: Ihre einzige Alternative war die Forderung nach mehr Geld. So einfach ist das Leben nicht, es sei denn, Sie wissen einen Weg, wie man Geld drucken kann. Ich will aber auch nicht glauben
- was in einem Beitrag anzuklingen schien -, daß die Alternative zu der Forschungs-, Bildungs- und Technologiepolitik dieser Regierung etwa die Aufstockung der Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung sei. Hier sind schon einige recht abenteuerliche Behauptungen aufgestellt worden.
Aber gut, wir befinden uns am Anfang der Diskussion. Ich lade Sie alle ein, sich recht heftig, streitlustig und konstruktiv mit den Vertretern der Koalitionsfraktionen bei den Ausschußberatungen auseinanderzusetzen. Dann werden wir weitersehen.
Wir freuen uns, daß sowohl in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers als auch in der Koalitionsvereinbarung die Fragen der Bildung, der Wissenschaft, der Forschung und der Technologie eine hohe Priorität bekommen haben. Wir wissen, daß wir als rohstoffarmes Land auf kluge Köpfe, auf Intelligenz, aber auch auf technologische Entwicklung und Innovation angewiesen sind. Wenn von einer Offensive für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur als die zentralen Grundlagen für die langfristige Sicherung der innovativen Kraft unserer Gesellschaft die Rede ist, dann, glaube ich, ist das der richtige Weg.
Ich brauche nicht alles das anzusprechen, was z. B. der Bundesminister Rüttgers oder auch der Kollege Dr. Gerhardt hier erwähnt haben: von der Strukturreform im Hochschulbereich mit der beabsichtigten Änderung des Hochschulrahmengesetzes - natürlich in enger Kooperation mit den Bundesländern -, der Verkürzung der Studienzeiten, der Eigenverantwortung der Hochschulen und einem gewissen Wettbewerb unter ihnen - dies will ich nur als kurze Stichworte im Rahmen meiner knapp bemessenen Redezeit ansprechen - bis hin zur Bund-LänderHochschulbaufinanzierung. Auch hier, glaube ich, müssen wir die Kräfte konzentrieren. Und wer nach mehr Geld ruft, der muß immer wieder sagen, wo er dieses Geld freischaufeln und wie er die Gegenfinanzierung sicherstellen will. Denn wir sind uns alle einig: Dieser Bundeshaushalt wie auch andere - dafür sind wir dem Bundesfinanzminister dankbar - steht unter der Prämisse der Haushaltskonsolidierung.
Meine Damen und Herren, auch die Stärkung der Attraktivität der beruflichen Bildung, z. B. die Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Bewerber ohne Abitur, ist des Schweißes der Edlen wert. Ich fordere Sie auf: Bitte, machen Sie konkrete Vorschläge, wie wir dieses Problem lösen können - je konkreter, desto besser. Das geht bis hin zur Reform der Ausbildungsförderung, inklusive der beruflichen Aufstiegsfortbildung.
Lassen Sie mich zum Komplex Forschung, Technologie, Innovationsfähigkeit etwas sagen: Er ist ebenfalls eine wichtige Basis für wirtschaftliches Wachstum und wirtschaftlichen Wohlstand. Wir reden immerhin über die Sicherung der Arbeitsplätze in der Zukunft, und zwar nicht irgendwo in exotischen Nischen, sondern es geht um das Schicksal von etwa 40 Millionen Menschen in unserem Land. Sie kann man nicht mit irgendwelchen exotischen Forschungsoder Wissenschaftsvorhaben beschäftigen. Deswegen sind wir dankbar - ich betone es nochmals; Herr Rüttgers hat dies ebenfalls angesprochen -, daß mit der 2,7%igen Erhöhung der im Haushalt für For458
schung und Technologie vorgesehenen Mittel das Versprechen der Bundesregierung, wie es in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt ist, eingelöst wird, nämlich daß dieser Bereich überproportional bedacht werden soll.
({0})
Natürlich kann man auch noch mehr Geld ausgeben. Aber es kommt doch darauf an, daß dieses Geld in sinnvolle Projekte fließt und nicht einfach verpulvert wird.
({1})
- Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie reiten immer wieder auf dem Jäger 90 und der Aufstockung des Haushaltes des Bundesverteidigungsministeriums herum. Sie müssen sich wirklich einmal etwas anderes einfallen lassen. Es ist weder zutreffend noch originell.
({2})
Auch ich hätte mir gewünscht, daß wir im gesamten Haushalt mehr Geld zur Verfügung hätten. Aber die Verhältnisse sind nicht so. Aus den Haushaltszahlen wird aber dennoch deutlich, mit welchen Schwerpunkten diese Bundesregierung, gestützt auf die sie tragenden Koalitionsfraktionen, an die Aufgaben herangeht: schnelle Umsetzung der Ergebnisse, Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat. Helfen Sie doch mit!
Ich wende mich jetzt einmal an die SPD, die in vielen Bundesländern in besonderer Weise Verantwortung trägt. Ich bin hessischer Bundestagsabgeordneter. Helfen Sie doch mit, daß - beispielsweise in Hanau, das früher einmal ein wichtiger Nuklearstandort war - die Unternehmen nicht aus dem Land geekelt werden und dort Hunderte von Arbeitsplätzen auf dem Spiel stehen! Reden Sie doch nicht hier oder in Sonntagsreden von Fortschritt - und vor Ort hält das Ganze einer kritischen Überprüfung ebensowenig stand wie etwa bei der Gentechnik.
({3})
Kollege Gerhardt hat als langjähriger Landtagsabgeordneter und auch als Minister in der hessischen Landesregierung miterlebt, daß später, als unsere Freunde nicht mehr in der Verantwortung waren, etwa die Hoechst AG und die Behring-Werke in Marburg von dem grünen Regierungspräsidenten in Gießen, der für sämtliche Genehmigungsverfahren in der Gentechnik in Hessen zuständig ist, dauernd schikaniert worden sind. Man kann mit einer übertriebenen Forderung nach noch einem Gutachten - fast hätte ich gesagt: noch einem Gedicht - jemanden auch zur Verzweiflung treiben, bis er die Brocken letztlich hinwirft.
({4})
Herr Kollege Lenzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Immer gern, Herr Präsident.
Herr Lenzer, kurz vor einer Landtagswahl auch in einem anderen Bundesland wollte ich Sie fragen: Können Sie sich noch an unsere gemeinsame Erfahrung erinnern, daß viele der bürokratischen Regelungen des ersten Gentechnikgesetzes, das mit Ihrer Mehrheit zustande kam, ausgerechnet in den Amtsstuben der bayerischen Staatsregierung entscheidend vorbereitet worden sind?
Herr Kollege Catenhusen, ich weiß zwar nicht, was das mit der jetzigen Situation zu tun hat.
({0})
- Erst einmal zuhören! - Aber Sie wissen sehr genau - Sie sind ein wirklich sachkundiger Kollege; das wissen wir aus Ihrer Tätigkeit in der EnqueteKommission -, daß das Gentechnikgesetz unter sehr großem Druck, quasi mit heißer Nadel, zustande kam und daß unsere erste Priorität damals war, überhaupt eine gewisse Planungssicherheit zu erreichen. Es mußten hier und da Zugeständnisse gemacht werden, nicht zuletzt auch mit Rücksichtnahme auf die Einwände, die Sie, auch Sie als Person, vorgebracht haben.
Herr Kollege, entschuldigen Sie, es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Selbstverständlich, Frau Wieczorek-Zeul.
Herr Abgeordneter, ich wollte von Ihnen wissen, ob Ihnen nicht bekannt ist, daß unter der jetzigen hessischen Landesregierung, und zwar mit großer Unterstützung der chemischen Industrie, die Genehmigungszeiten in Hessen zwischenzeitlich von 14 Monaten auf 3,5 Monate verkürzt worden sind. Ich habe jüngst an einer entsprechenden Veranstaltung teilgenommen. Der Vertreter der chemischen Industrie hat ausdrücklich begrüßt, daß in Hessen diese Verkürzung der Genehmigungszeiten erreicht worden ist. Wir unsererseits haben darauf hingewiesen, daß es um raschere, allerdings nicht um laschere Genehmigungsverfahren geht. Ich wollte von Ihnen gern wissen, ob Ihnen dieser Tatbestand bekannt ist oder ob Sie, als Sie von Behinderungen gesprochen haben, vielleicht an die hessische Landesregierung, die vier Jahre vorher regiert hat, gedacht haben.
({0})
Verehrte Frau Abgeordnete, das ist mir bekannt. Auch ich habe Sinn für Humor. Deswegen verzeihe ich Ihnen den letzten Schlenker großzügig.
({0})
- Das war spaßig und liebevoll gemeint. ({1})
Aber ist andererseits Ihnen bekannt, daß durch die
Verzögerung ebendieser rot-grünen hessischen LanChristian Lenzer
desregierung der amerikanische Konzern Eli Lilly auf der Basis eines ähnlichen Genehmigungsverfahrens südlich von Straßburg mit der Humaninsulinproduktion begonnen hat, also längst Geld verdient hat, als in Hessen noch schwadroniert wurde und den Leuten noch Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden?
({2})
Und dann immer wieder Transrapid: Man kann es bald nicht mehr hören. Selbst, wenn Sie im Dreieck springen, muß ich Sie jetzt fragen: Ist Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bekannt, daß ein Transrapid nie die Chance hat, im Ausland verkauft zu werden, wenn nicht im eigenen Land eine entsprechende Referenzstrecke zur Verfügung steht?
({3})
- Verehrte Frau Matthäus-Maier, ist Ihnen auch bekannt - Sie haben es einfacher, der kurze Dienstweg ist ja vorhanden -, daß der Herr Ministerpräsident Eichel, der ja der SPD angehört, in der Kabinettssitzung der hessischen Landesregierung für den Transrapid gestimmt hat? Ich kann mir natürlich vorstellen, daß das aus streng übergeordneten Gesichtspunkten geschah.
({4})
- Ich will ihn doch loben. Wenn er sich immer so darum kümmern würde, daß die Industrie ungestört wirtschaften kann, dann wäre das eine ganz tolle Geschichte.
Meine Damen und Herren, von der Kernenergie will ich jetzt nicht sprechen. Das hat der Bundesminister angesprochen, und das steht auch in sämtlichen regierungsamtlichen Verlautbarungen. Diese Haltung erhält unsere volle Unterstützung.
Ich möchte nun ein wirkliches Kardinalproblem ansprechen. Das ist die vermeintliche - oder in Teilen der Bevölkerung vielleicht sogar vorhandene - Technikfeindlichkeit. Ich habe Verständnis dafür, daß man vor einer bestimmten Entwicklung Angst hat, weil man sie als Laie nur schwer nachvollziehen kann. Ich habe Verständnis dafür, daß dann auch Ängste wach werden. Ich bitte Sie alle: Helfen Sie doch mit, diese zu überwinden, und tragen Sie nicht zur Panikmache bei! Verunsichern Sie die Bevölkerung nicht, indem immer wieder der Teufel an die Wand gemalt wird! Versuchen wir statt dessen gemeinsam, die Risiken nicht überzubewerten. Es gibt keine risikofreie Technik. Das steht fest. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Lösung ganz handfester Probleme der Menschen der technologischen Entwicklung bedarf!
Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung darauf hingewiesen, daß ohne eine positive Einstellung der Gesellschaft zu wissenschaftlich-technischem Fortschritt unser Wohlstand nicht dauerhaft gesichert werden kann. Er fährt wörtlich fort:
Wer z. B. Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie verteufelt, verkennt die großen Chancen einer ethisch verantwortbaren Nutzung dieser Möglichkeit.
Herr Kollege Lenzer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?
Wir haben Zeit, bitte.
Ist Ihnen bekannt, daß das Büro für Technikfolgenabschätzung, für das dieser Ausschuß auch zuständig ist, in einer Untersuchung festgestellt hat, daß die von Ihnen immer wieder dargestellte Technikfeindlichkeit in der Bevölkerung nicht besteht, daß es ein Popanz ist, der von gewissen Kreisen aufgebaut wird, um zu dieser Ungestörtheit zu kommen?
Verehrter Kollege, ich baue überhaupt keinen Popanz auf, ich glaube auch nicht an eine generelle Technikfeindlichkeit. Ich habe drei Kinder, die sind 30, 29 und 24 Jahre alt. Bei denen kann ich nichts von Technikfeindlichkeit erkennen.
({0})
Gehen Sie mal in die HiFi-Abteilung eines Kaufhauses, und schauen Sie sich die Schüler an, die an den Computern herumspielen! Ich kann da von einer Technikfeindlichkeit nichts bemerken, es sei denn irgendwo bei der evangelischen Akademie in Hinterdingsbums oder sonstwo. Da wird die Technikfeindlichkeit systematisch gezüchtet, und zwar von Leuten, die nur von der Staatsknete leben und nie im Produktionsprozeß gestanden haben.
({1})
- Entschuldigen Sie, ich muß jetzt wieder etwas getragener werden; denn ich möchte den Herrn Bundespräsidenten zitieren. Der Herr Bundespräsident hat sich - das ist eine große Hilfe für uns - in einer Rede am 18. Oktober 1994 bei einem Kongreß des Deutschen Industrie- und Handelstages in vielen einzelnen Bemerkungen zu diesen Fragen geäußert.
({2})
Er hat z. B. darauf hingewiesen - und das sollten wir bedenken -, daß risikoscheues Nichthandeln sowohl auf seiten der Wirtschaft als auch auf seiten des Staates auf Dauer risikoreicher sein kann als risikobereites Handeln. Das heißt auf gut deutsch: Wir müssen unsere Chancen nutzen, wohl wissend, daß wir immer auch bestimmte Risiken in Kauf nehmen müssen, wenn wir überhaupt etwas gestalten wollen, sonst haben wir bei uns immer nur diese blutleere akademische Diskussion z. B. über die sozialökonomische Umgestaltung der Gesellschaft. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was das bedeuten soll. Ich bin für jeden konkreten Hinweis dankbar. Denn man hört immer nur Luftblasen und muß sich in diesen Sonntagsreden stets nur mit Worthülsen auseinandersetzen.
Wir dürfen die Risiken nicht in der Form, in der es teilweise geschieht, überbetonen, sonst haben wir die
Diskussion, und die anderen, unsere Wettbewerber in Japan und in den USA, machen das Geschäft.
Meine Damen und Herren, ich will zu den einzelnen Zahlen des Haushalts nichts sagen. Aber weil mir ein Blick auf die Uhr zeigt, daß ich noch ein bißchen Redezeit habe, möchte ich sagen
({3})
- was gut ist, muß immer wieder gesagt werden -: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit ihrem Haushaltsansatz von 996 Millionen DM weist ein Wachstum von 5 % auf. Die Max-Planck-Gesellschaft kann sich in der Grundfinanzierung des stolzen Zuwachses von 8,1 % rühmen. Wenn das nicht überdurchschnittlich ist!
Das zeigt auch, daß diese Bundesregierung - das bejahen wir auch in der Koalition - der Grundlagenforschung und der Erkenntnisgewinnung - teilweise fern vom Markt - auch in Zukunft eine sehr hohe Priorität einräumt. Dies unterstützen wir.
Wir laden Sie ein: Setzen wir uns im Ausschuß deutlich, streitig, aber fair und konstruktiv auseinander! Wir befinden uns, wie gesagt, erst am Anfang der Haushaltsberatungen.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Edelgard Bulmahn, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die Vorlage eines Haushaltes ist die Stunde der Wahrheit; denn am Haushalt ist in Mark und Pfennig abzulesen, was von Absichtserklärungen und schönen Worten einer Regierung zu halten ist. Entscheidend ist nämlich nicht, ob die Koalition eine Offensive für Bildung, Wissenschaft und Forschung ankündigt oder ob der zuständige Bundesminister überproportionale Steigerungen in Aussicht stellt; entscheidend ist allein, was unter dem Strich tatsächlich herauskommt.
({0})
Und dort stehen für den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 15,53 Milliarden DM. Das sind, man höre und staune, 127 Millionen DM weniger als im Regierungsentwurf 1994. Meine Herren und Damen, ist das die versprochene Offensive?
({1})
Halten Sie, Herr Minister, es für eine überproportionale Steigerung, wenn der Haushaltsansatz für den Forschungs- und Technologiebereich - wie im Regierungsentwurf für 1994 - unverändert bei 9,468 Milliarden DM liegt und damit zugleich 143 Millionen DM unter dem Haushaltsansatz von 1993? Die angeblich überproportionale Steigerung der Haushaltsmittel entpuppt sich als bloßer Etikettenschwindel.
({2})
Sie gleichen im Haushaltsentwurf für das kommende Jahr nur den Betrag aus, mit dem Ihr Amtsvorgänger, Herr Krüger, bei den vergangenen Haushaltsberatungen abgestraft wurde, da er so unbotmäßig war, gegen die Interessen des Bundesfinanzministers stärkere Kürzungen im Bereich der bemannten Raumfahrtprojekte zu fordern.
Herr Minister Rüttgers, wenn Sie die Finanzierungsengpässe im FuT-Bereich tatsächlich überwinden wollen, dann müssen Sie darangehen, die Erblast zwölfjähriger verfehlter christlich-liberaler Forschungspolitik abzutragen.
({3})
Das ist ein schweres Stück Arbeit. Ich wünsche Ihnen dazu viel Glück. Das erwarten wir aber gleichzeitig auch von Ihnen.
1982, als diese Koalition die Regierungsgeschäfte übernahm, lag der Anteil des früheren BMFT-Haushaltes am Gesamthaushalt bei 2,8 %; gegenwärtig liegt er bei 1,9 %.
({4})
Mit anderen Worten: Wir könnten in diesem Jahr 4,1 Milliarden DM mehr für Forschung und Technologie ausgeben, wenn die Bundesregierung diesem wichtigen Feld in den vergangenen Jahren wenigstens eine durchschnittliche Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Doch selbst dazu fehlte der politische Wille.
({5})
Der vorgelegte Forschungshaushalt ist nicht nur vom Volumen her völlig unzureichend. Ihm fehlt die strategische Ausrichtung auf die Bewältigung der drängenden Herausforderungen unserer Zeit.
({6})
Lassen Sie mich dies an einigen markanten Punkten deutlich machen.
Die Projektfördermittel für die Informationstechnik sollen nur um 0,5 % und für die Materialforschung nur um 1,5 % steigen. Meine Herren und Damen, ist das etwa ein Signal dafür, daß die Bundesregierung gewillt ist, auf diesen Feldern eine führende Rolle zu spielen?
Jedermann weiß, daß die Wettbewerbsvorteile und Markterfolge japanischer Unternehmen wesentlich auf einer optimalen Organisation des Fertigungsprozesses und der Überwindung der tayloristischen Arbeitsteilung beruhen. Was macht die Bundesregierung? Sie kürzt die Projektmittel für die Fertigungstechnik um 3,1 % und diejenigen für das Programm „Arbeit und Technik" um 7,9 %.
Die SPD weist nicht von ungefähr mit steter Regelmäßigkeit auf die besondere Bedeutung junger, innovativer Unternehmen für die Schaffung neuer international wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze hin. Aber was tut die Bundesregierung? Sie streicht den Haushaltsansatz für den Förderschwerpunkt „Beteiligung am Innovationsrisiko von Technologieunternehmen" um 6,9 %.
Die Entwicklung umweltverträglicher, risikoarmer und kostengünstiger Formen der Energienutzung zählen zu den unbestreitbaren Eckpunkten einer zukunftsorientierten Energiepolitik. Doch welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Die Projektmittel für die erneuerbaren Energien und die rationelle Energieverwendung werden um sage und schreibe 11,3 % gekürzt.
({7})
Damit, meine Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, zerstören Sie Forschungsstrukturen und mögliche Forschungsanwendungen, die ganz entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft sind.
({8})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenzer?
Gern.
Liebe Frau Kollegin Bulmahn, sind Sie sich der Tatsache bewußt, daß mit, ich glaube, 333 Millionen DM für das Jahr 1995
({0})
- ich weiß nicht, was Sie rechnen - diese Bundesregierung einen Ansatz in diesem Bereich hat, der von keinem anderen Nachbarland erreicht wird? Sind Sie sich darüber hinaus der Tatsache bewußt, daß die Rückführung dadurch erfolgt, daß aus dem Einzelplan 30 keine Markteinführung bezahlt wird, und daß wir ein Risikoministerium sind und riskante Projekte fördern, aber keine Markteinführungshilfen geben?
({1})
Herr Kollege Lenzer, ist Ihnen bekannt, daß das Bundesministerium für Forschung und Technologie in der letzten Legislaturperiode ein 1 000-Dächer-Programm gefördert hat? Ist Ihnen bekannt, Herr Lenzer, daß die SPD-Fraktion immer wieder darauf hingewiesen hat, daß dieses 1 000-Dächer-Programm unzureichend und nur ein Tropfen auf den heißen Stein war? Wir sollten, so wie es in Japan gemacht worden ist, uns vornehmen und sollten beschließen, ein umfangreiches 50 000- oder 60 000-Dächer-Programm durchzuführen, um damit den technologischen Vorsprung, den wir in den 80er Jahren in dieser Technologie besaßen, auszubauen und zu nutzen und nicht zuzuschauen, wie wir das jetzt tun, wie Saudi-Arabien einen 650-MillionenAuftrag nach Japan vergibt.
({0})
Die Chance, diesen Auftrag zu erhalten, haben Sie, Herr Lenzer, mit Ihrer Schwerpunktsetzung und mit Ihren Kürzungen verpaßt. Sie haben damit die Schaffung innovativer Arbeitsplätze in den Sand gesetzt.
({1})
- Haben Sie eine weitere Frage?
({2})
Habe ich Sie richtig verstanden, daß Ihre einzige Vorstellung darin besteht, daß man aus einem 1 000-Dächer-Programm von mir aus ein 60 000-Dächer-Programm macht? Wo ist da der innovative Ansatz außer der Markteinführungssubvention?
Herr Lenzer, ich habe es Ihnen im Ausschuß schon sehr häufig erklärt. Ich erkläre es Ihnen gerne noch einmal.
({0})
Um in der Forschungs- und Entwicklungspolitik Innovationssprünge in Gang zu setzen, reicht es nicht aus, allein in Forschung zu investieren. Es reicht auch nicht aus, nur Geld zur Verfügung zu stellen. Da würde ich Ihnen recht geben. Aber das, was wir leisten müssen und worin das größte Defizit in der bundesrepublikanischen Politik besteht, ist, Forschung, Entwicklung und Anwendung zusammenzuführen. Wenn es uns nicht gelingt, Herr Lenzer, Forschung und Entwicklung auf der einen Seite und Anwendung auf der anderen Seite zusammenzuführen, dann werden wir alle Märkte der Zukunft verspielen. Deshalb ist das, worüber wir hier reden, keine Kleinigkeit. Es ist eine grundsätzliche strukturelle Frage.
({1})
Ich hoffe, daß ich nicht weitere vier Jahre brauche, um Sie davon zu überzeugen.
({2})
Meine Herren und Damen, wer Zukunft gewinnen will, muß mehr tun, als neues Wissen hervorzubringen und neues technologisches Können zu fördern. Wichtig sind, wenn wir Zukunft gewinnen wollen, klare strategische Ziele und Visionen. Zukunftsorientierte Forschungs- und Technologiepolitik muß an den Herausforderungen unserer Zeit ansetzen und nachhaltige Beiträge zu deren Bewältigung liefern.
Die Forschungs- und Technologiepolitik muß endlich Konsequenzen aus der Einsicht ziehen, daß der Entwicklungspfad unserer Industriegesellschaft mit seinem hohen Umwelt- und Ressourcenverbrauch sowie steigender Arbeitlosigkeit in die Sackgasse führt. Die Entwicklung einer ökologisch verträglichen Kreislaufwirtschaft muß deshalb zur bestimmenden Leitidee werden, die sich wie ein roter Faden durch alle Förderbereiche und Förderprojekte zieht.
({3})
Das Einschwenken auf einen umweltverträglichen Entwicklungspfad muß vorgedacht, vorbereitet und erprobt werden. Dies geschieht nicht von allein. Hierzu gilt es visionäre Leitprojekte zu formulieren, die vom Problem her, nicht aber von einer Technologie her definiert und strukturiert werden.
({4})
Entscheidend ist dabei, daß Gesamtlösungen gesucht werden, aber nicht nur auf einzelne Elemente und Komponenten Bezug genommen wird. An einem Beispiel habe ich das soeben sehr deutlich gemacht.
Wir müssen insofern auf die Nutzung neuester Technologien und auf soziale Innovationen setzen, also unsere sozialorganisatorische und unsere technologische Problemlösungskompetenz in gleichem Maße erweitern.
Die Forschungs- und Technologiepolitik muß darüber hinaus in ein Gesamtkonzept zur sozialen und ökologischen Erneuerung unserer Industriegesellschaft eingebunden sein, das Maßnahmen zur Forschungs- und Technologieförderung mit Maßnahmen zur Erleichterung der Markteinführung sowie zur Weiterentwicklung von Umweltstandards, technischen Normen, staatlichen Beschaffungen und steuerpolitischen Maßnahmen verknüpft und aufeinander abstimmt.
({5})
Das ist die Hauptaufgabe, die Forschungspolitik in den nächsten Jahren leisten muß.
({6})
Ich hoffe, Herr Rüttgers, daß Sie dies mit uns gemeinsam in Angriff nehmen werden und daß wir dort endlich Erfolge aufweisen können.
Der Bewältigung der ökologischen Herausforderung tritt die Bewältigung der ökonomischen zur Seite. Die Forschungs- und Technologiepolitik kann nicht darüber hinwegsehen, daß die deutsche Wirtschaft in den Technologien des 19. Jahrhunderts stark ist, aber deutlich an Gewicht in jenen Technologien und Branchen verliert, die als besonders zukunfts-
und wachstumskräftig gelten.
Und wenn wir technologisch die Nase vorn haben, müssen wir leider allzu oft feststellen, daß andere das Geschäft machen, wie bei dem Beispiel Sonnenenergie,
({7})
da diese anderen Länder neue Technologien zielstrebiger, schneller und effizienter in marktfähige Produkte, Verfahren und Dienstleistungen umsetzen. Die Schwächen, die wir inzwischen in den Bereichen der neuen Technologien haben, bedrohen auf Grund ihres Querschnittscharakters Bereiche wie den Maschinen- oder den Anlagenbau, die Elektrotechnik oder die Chemieindustrie. Das sind Branchen, die maßgeblich die Exportstärke der deutschen Wirtschaft ausmachen.
Wenn die Bundesrepublik ihre ökonomische und ihre ökologische und damit auch ihre soziale Zukunft nicht verspielen, das erreichte Einkommensniveau
sichern, neue Arbeitsplätze schaffen und vorhandene erhalten will, dann muß sie sich der Herausforderungen und Chancen, die sich aus der Entwicklung und Nutzung moderner Technologien und der Globalisierung von Märkten und Wettbewerb ergeben, aktiv annehmen.
Deshalb, meine Herren und Damen, müssen wir zu den technologisch führenden Ländern der Erde gehören. Deshalb, meine Herren und Damen, müssen wir den wissenschaftlich-technologischen Wandel für den industriellen Strukturwandel erschließen. Das heißt: Wir dürfen uns nicht länger verzetteln, sondern müssen uns auf solche Schwerpunkte konzentrieren, die strategische Vorteile versprechen und die eine sinnvolle Verknüpfung mit der vorhandenen industriellen Basis erlauben.
Auch hier brauchen wir Leitprojekte, die zwischen Politik, Forschung, Industrie und gesellschaftlichen Gruppen - unter genauer Klärung dessen, wer was in welchem Zusammenhang macht - vereinbart werden. Dies wiederum setzt voraus, daß endlich ein verbindlicher Zukunftsdialog zustande kommt.
Herr Minister Rüttgers, wir haben bereits in der vorletzten Legislaturperiode über die Schaffung dieses verbindlichen Zukunftsdialogs miteinander diskutiert. Ich habe es als eine meiner bedrückendsten Erfahrungen erlebt, daß wir seit acht Jahren darüber diskutieren und daß Ihre Regierung es acht Jahre versäumt hat, diesen Zukunftsdialog zu installieren und in Gang zu setzen. Wir befinden uns immer noch auf dem Niveau von 1987/88, wenn wir nur diskutieren und reden, wo zumindest in unserem Ausschuß immer Konsens geherrscht hat, daß dies nötig ist. Wir sind immer noch nicht wirklich weitergekommen. Ich finde, das Reden muß ein Ende haben. Wir müssen endlich anfangen, zu agieren. Das ist meine große Erwartung, die ich an Sie habe.
({8})
Leider ist, wie gesagt, bisher nur Funkstille zu verzeichnen gewesen.
Zur Zukunftssicherung gehört - daran darf kein Zweifel bestehen - die Friedenssicherung. Frieden ist nicht einfach da. Friedenssicherung hat auch etwas mit Konzeption und mit wissenschaftlicher Grundlage zu tun. Zu den wissenschaftlichen Grundlagen gehört die Friedensforschung. Ich darf daran erinnern, daß wesentliche, heute anerkannte Strategien und Konzepte wie die der defensiven Verteidigung oder der vertrauensbildenden Maßnahmen Ergebnisse öffentlich geförderter Friedensforschung sind. Herr Lenzer, auch Sie müssen dies zur Kenntnis nehmen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Auch der zwischen Israel und der PLO eingeleitete Friedensprozeß geht wesentlich auf die intensive Vorbereitung und Begleitung norwegischer Friedensforscher und Friedensforscherinnen zurück. Wenn hier in dem zur Debatte stehenden Einzelplan 30 der Friedensforschung nun endgültig der Geldhahn abgedreht werden soll, dann beraubt uns die Bundesregierung unserer Zukunft.
Frau Kollegin, bitte noch einen Schlußsatz.
Deshalb, Herr Minister Rüttgers, habe ich die ganz eindringliche Bitte an Sie: Lassen Sie uns gemeinsam nach einer tragfähigen Lösung für eine dauerhafte Absicherung der Friedenssicherung und der Friedensforschung in unserem Lande suchen! Es ist in unser aller Interesse.
({0})
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie liegen nicht vor.
Wir kommen zum Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Einzelplan 17.
Ich erteile der Bundesministerin Claudia Nolte das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten, politische Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihren Interessen gerecht werden, das ist die Aufgabe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das neu zugeschnittene Ministerium wird seinen Beitrag dazu leisten, daß bei politischen Entscheidungen der Mensch im Mittelpunkt steht.
Mit einem Haushalt von rund 33 Milliarden DM und einem Zuwachs von 6,5 % geht das Ministerium ins Jahr 1995. Unter den gegebenen finanziellen Umständen ist das eine gute Grundlage für eine erfolgreiche Arbeit.
Familienpolitik ist Zukunftspolitik. Wer die Zukunft gestalten will, muß dies in Übereinstimmung mit den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen tun. Die meisten jungen Frauen und Männer wollen eine Familie gründen und Kinder haben. Sie suchen dauerhafte, verläßliche Beziehungen, emotionale Geborgenheit, persönliche Solidarität und Mitmenschlichkeit, die sie in der Familie finden. Familien schaffen Bindungsfähigkeit und geben Orientierung. Sie sind nicht nur für die Entwicklung des einzelnen wichtig, sondern für unsere Gemeinschaft insgesamt. Deshalb verdienen sie unsere Unterstützung. Dazu gehört, daß sich Familie und Erwerbsarbeit besser miteinander vereinbaren lassen und Familien gegenüber Kinderlosen nicht benachteiligt werden.
({0})
Auf die gesetzlichen Leistungen, Kindergeld und Unterhaltsvorschuß, entfallen aus dem Bundeshaushalt 1995 rund 30 Milliarden DM. Die in der letzten Legislaturperiode richtig gestellten Weichen wirken sich in diesem Jahr erstmals als echte Mehrleistungen aus. Die Verlängerung des Bezugs von Erziehungsgeld auf 24 Monate schlägt mit einem Plus von 1,3 Milliarden DM zu Buche. Die Anhebung der Altersgrenze der Kinder, für die Unterhaltsvorschuß gewährleistet wird, von sechs auf zwölf Jahre hat eine Ausgabensteigerung von 240 Millionen DM zur Folge.
Ich sehe meine wichtigste Aufgabe in dieser Legislaturperiode darin, durch einen Stufenplan die materielle Situation von Familien mit Kindern weiter zu verbessern. Der Familienlastenausgleich muß zu einem echten Familienleistungsausgleich ausgebaut werden. Das Existenzminimum aller Familienmitglieder, also auch das der Kinder, muß vollständig von der Besteuerung freigestellt werden.
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Die eigentliche Förderung für die Familien muß vor allem jenen zugute kommen, die mehr Kinder erziehen und weniger Einkommen haben. Sie sind besonders auf unsere Unterstützung angewiesen.
({2})
Familienpolitik ist aber mehr als finanzielle Förderung. Kein Erziehungsgeld löst den Kleinkrieg, den junge Eltern auszuhalten haben, wenn sich Mitbewohner über den Kinderwagen im Hausflur aufregen. Der fehlende Kinderbetreuungsplatz wird nicht durch noch mehr Kindergeld geschaffen. Nein, hier muß Familienpolitik als gesellschaftliche Strukturpolitik begriffen und von vielen Schultern mitgetragen werden.
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Arbeitgeber und Gewerkschaften, Landes- und Kommunalpolitiker, Städte- und Verkehrsplaner, Architekten und Vermieter - letztlich sind wir alle gefordert: als Mitbürger, als Nachbarn, als Verantwortliche in Parteien, Vereinen und Institutionen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Denn nur gemeinsam kann es gelingen, ein kinder- und familienfreundliches Klima in unserer Gesellschaft zu schaffen.
({4})
Das gilt auch, wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit geht. Junge Menschen, insbesondere junge Frauen, wollen heute beides: Familie und Beruf. Deshalb ist es notwendig, daß die Arbeitszeiten flexibler werden, mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen und Familienbelange in der Arbeitsorganisation und im Arbeitsablauf der Betriebe stärker berücksichtigt werden.
({5})
- Das ist für mich selbstverständlich. - Es kommt nicht zuletzt den Kindern zugute, wenn die Eltern über ihre Zeit selbständiger verfügen können. Daß solche Regelungen obendrein zu einer erhöhten Motivation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und nicht selten auch zu einer höheren Effektivität führen, findet meines Erachtens noch viel zuwenig Beachtung.
In diesen Tagen starten wir ein Modellprogramm, das qualifizierte Teilzeitarbeit insbesondere in Fach- und Führungspositionen fördert. Kompetente Berater werden den Unternehmen bei der Entwicklung und
Organisation solcher Teilzeitmodelle zur Seite stehen.
({6})
- Auch Beraterinnen.
({7})
Frauen sind heute beruflich ebenso qualifiziert wie ihre männlichen Kollegen. Daß sie es trotzdem viel schwerer haben als Männer, sich auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt zu behaupten, mußten vor allen Dingen die Frauen in den neuen Bundesländern schmerzhaft erfahren.
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Sie sind doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen wie Männer. Wir unternehmen deshalb gezielte Anstrengungen, um ihnen neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen. Mit einem Sonderprogramm zur beruflichen Wiedereingliederung und mit Modellprojekten der Arbeitsplatzbeschaffung gibt der Bund hier wichtige Anstöße.
Wir sollten auch sehen, welche Wege andere Länder gehen. In der Europäischen Union stehen alle vor der Herausforderung, bessere Zugangsmöglichkeiten für Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Der Rat der Europäischen Union hat in der vergangenen Woche eine Entschließung zur gleichberechtigten Teilhabe der Frauen an einer beschäftigungsintensiven Wachstumsstrategie verabschiedet. Danach sollen Frauen bei nationalen und gemeinschaftlich geförderten Maßnahmen entsprechend ihrem Anteil an den jeweiligen Zielgruppen gefördert werden. Ich erhoffe mir durch solche Initiativen Impulse für die jeweiligen Nationalstaaten, vor allem aber eine bessere internationale Zusammenarbeit, verbunden mit einem intensiven Informationsaustausch.
Den Haushaltsansatz für frauenpolitische Maßnahmen haben wir trotz einer angespannten finanziellen Situation auf 26 Millionen DM erhöht, wodurch eine kontinuierliche Arbeit von Fraueninitiativen gewährleistet wird.
Meine Damen und Herren, wir wollen dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen zu schaffen.
Dies gilt insbesondere für die neuen Bundesländer. Der Neunte Jugendbericht, der vor wenigen Tagen der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, macht deutlich, wie desolat die Ausgangslage beim Zusammenbruch des SED-Regimes war und was seither geleistet wurde, aber auch, vor welchen Aufgaben wir noch stehen.
Als größte Sorge empfinden junge Menschen im Osten Deutschlands die schwierige Arbeitsmarktsituation. Es ist uns mit einer großen Kraftanstrengung von Bund und Ländern gelungen, allen Schulabgängern in den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz anzubieten.
Eine Schlüsselstellung sehe ich auch künftig in der Aufgabe, die beruflichen Perspektiven junger Menschen zu verbessern. Deshalb appelliere ich an dieser Stelle an die Wirtschaft, an die freien Berufe und die
Verwaltung, ihr Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen gerade für junge Menschen zu erhöhen. Es liegt ja nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse, die Zukunft ihrer Unternehmen zu sichern.
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Für junge Menschen mit besonderen Problemen setzen wir das Projekt „Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit" fort und verlagern seinen Schwerpunkt auf die neuen Bundesländer.
Es bleibt auch in den kommenden Jahren eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Jugendpolitik, jeglicher Gewalt entgegenzuwirken. Das gilt für Gewalt gegen Kinder und Jugendliche; das gilt aber auch für Gewalt, die Jugendliche ausüben. Wir werden neue Wege der Gewaltprävention unterstützen, und wir werden ein Konzept zur Gewaltbekämpfung im kommunalen Sozialrahmen realisieren.
({10})
Mir geht es vorrangig darum, diesen Jugendlichen wieder eine Chance zu geben, sich in die Gesellschaft einzugliedern.
Gegen Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz richtet sich auch die Jugendkampagne des Europarates 1995, die wir für die Bundesrepublik in dieser Woche eröffnet haben. Junge Menschen suchen Bewährungsfelder. Wir müssen ihnen Gelegenheit bieten, sich für andere Menschen, für kulturelle Zwecke, für die Umwelt oder andere gemeinschaftliche Belange zu engagieren. Wir groß die Bereitschaft hierfür ist, wird an der Nachfrage zum freiwilligen sozialen und freiwilligen ökologischen Jahr deutlich.
Die internationale Jugendarbeit wird in der kommenden Legislaturperiode weiter an Bedeutung gewinnen. Die Erwartungen der ost- und mitteleuropäischen Länder an uns wachsen. Sie sind insbesondere daran interessiert, daß wir ihnen beim Aufbau von sozialen Diensten für Kinder und Jugendliche helfen. Hier können wir die Erfahrungen nutzen, die wir in den vergangenen Jahren beim Aufbau von Jugendverbänden in den neuen Bundesländern gesammelt haben.
Meine Damen und Herren, wir werden nur dann eine gute Zukunft haben, wenn es gelingt, die Solidarität zwischen den Generationen zu erhalten und den Gemeinsinn in unserer Gesellschaft zu stärken. Deshalb wollen wir die älteren Menschen als gleichberechtigte Partner in unsere Gemeinschaft einbeziehen. Die jüngere Generation baut auf ihrer Lebensleistung auf, und es wäre ein Verlust, den Erfahrungsschatz der älteren Generation nicht zu nutzen.
({11})
Im Vordergrund muß stehen, daß alte Menschen möglichst lange ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Zur Förderung von gesellschaftlichen Maßnahmen für Senioren stehen uns 1995 36,7 Millionen DM zur Verfügung. Mit dem Bundesaltenplan als dem zentralen seniorenpolitischen Förderinstrument des Bundes haben wir den Förderrahmen für eine Vielzahl von Themenbereichen geschaffen, z. B. Wohnen im Alter,
Gesundheit im Alter und gesellschaftliche Beteiligung älterer Menschen. Wir konnten den Bundesaltenplan weiter aufstocken.
Unsere Gesellschaft lebt vom Mitdenken und Mittun der Bürgerinnen und Bürger. Hier sind Junge und Alte, Männer und Frauen gefragt. Dabei ist das Ehrenamt, also der Einsatz für andere, genauso gefragt wie die Selbsthilfe.
Unsere Zukunft hängt entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, die sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und rechtlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß sich alle Menschen in Verantwortung vor dem Nächsten frei entfalten können.
Mein „Haus der Generationen" will das solidarische Miteinander, das dazu dringend notwendig ist, nach Kräften unterstützen.
Danke schön.
({12})
Frau Kollegin Dr. Edith Niehuis, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Dies ist die erste Haushaltsdebatte zu Beginn einer neuen Legislaturperiode. Für eine Regierung, die weitermacht, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann sagen, man macht eine kritische Bestandsaufnahme, sucht nach Verbesserungen und Änderungen; oder man sagt, ich mache einfach so weiter. Sie, Frau Ministerin Nolte, ziehen das „Weiter so" vor, wie im übrigen auch Ihre Vorgängerinnen.
Ist Ihnen noch gar nicht aufgefallen, daß es an der Spitze dieses Ministeriums zugeht wie in einem Taubenschlag? Innerhalb von nur acht Jahren kommen und gehen Süssmuth, Lehr, Rönsch, Merkel und nun Nolte.
Keine der Frauen hat sich auf diesem Sessel halten können, und das nicht ohne Grund. Wenn man schlechte Frauen-, Familien- und Jugendpolitik ständig mit guten Worten zukleistern muß, dann hält keine Ministerin auf Dauer dem gesellschaftlichen Druck stand.
({0})
Dann gibt es immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder ändert man die Politik, oder man ändert die Gesichter. Es tut mir ausgesprochen leid, daß Kohl immer nur die Gesichter ändert, aber nie die Politik.
({1})
Ich kann der Geschäftsführerin des Deutschen Frauenrats nur zustimmen, die in einem Rundfunkinterview am 17. November 1994 feststellte: Wenn man das, was in den Koalitionsvereinbarungen unter Frauen- und Familienpolitik firmiert, durchliest, dann braucht man eigentlich keine Ministerin.
({2})
Lassen Sie mich das an ein paar Punkten erläutern. Zu Recht haben Sie, Frau Ministerin, heute, aber auch schon vorher, gesagt, daß es selbstverständlich für Frauen ist, berufstätig zu sein. Sie ergänzen ja auch immer, daß es für Frauen sehr schwer ist auf dem Arbeitsmarkt und daß es für sie schwerer ist als für Männer, insbesondere wenn Arbeitsplätze knapp sind. Das ist richtig. Aber wenn man dies als Regierung feststellt, dann darf man doch nicht bei der Feststellung bleiben, dann muß man etwas vorlegen, politische Abhilfe schaffen, damit diese Benachteiligung endlich abgebaut wird.
({3})
In der Koalitionsvereinbarung haben Sie unter der Rubrik „Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik" kein Wort für die Frauen übrig; zugegebenermaßen haben Sie ein Minikapitel über die Frauenpolitik. Hier geht es der Koalition um die Frage, wie Frauen Beruf und Familie vereinbaren können. Wissen Sie, wenn Sie Ihr ständiges Gerede von der Partnerschaft ernst nehmen würden, dann hätten Sie das Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie" nicht im Frauenkapitel, sondern endlich einmal in einem Männerkapitel beschrieben.
({4})
Was steht nun in diesem Frauenkapitel? Für Sie in der Koalition richtet sich die Offensive für mehr Teilzeitarbeit - anders, als Frau Nolte es sagte - insbesondere an die Frauen. Die steuerliche Absetzbarkeit von Hausangestellten ist ein Teil Ihrer Frauenpolitik und soll der Vereinbarkeit von Beruf und Familie dienen. Na gut, wenn man weiß, daß sich Männer nicht an Hausarbeit beteiligen, ist das für Frauen mit Kindern, die es sich leisten können, in der Tat ein Teil von Frauenpolitik. Aber wenn Sie der Mehrheit der Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie hätten erleichtern wollen, dann würden Sie sich als Bundesregierung aktiv an der Verwirklichung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz beteiligen.
({5})
Diesen Rechtsanspruch haben wir hier doch gemeinsam und aus gutem Grund beschlossen, und für dessen Umsetzung ist, so meine ich, auch die Bundespolitik mit verantwortlich.
Schließlich wollen Sie, so die Koalitionsvereinbarung, den Frauen die Wiederaufnahme der Erwerbsarbeit nach einer Erziehungsphase erleichtern. Das war auch ein Schwerpunkt Ihrer Rede, Frau Ministerin. Die Worte lese ich wohl, doch mir fehlt der Glaube, und das aus zwei Gründen: Es wird Zeit, daß die Bundesregierung den Frauen, die wirklich den Weg des Drei-Phasen-Modells wählen, einmal ehrlich sagt, daß es uns nicht möglich sein wird, die Benachteiligung, die Frauen durch eine Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit haben, wirklich auszugleichen. Sie
werden immer benachteiligt bleiben, wenn wir ihnen nur dieses empfehlen.
({6})
Wenn es dann in der Koalitionsvereinbarung heißt, Sie wollten diesen Wiedereinstieg erleichtern, dann muß doch dazugesagt werden, daß es die gleiche Bundesregierung gewesen ist, die in der letzten Legislaturperiode im Zweiten Gleichberechtigungsgesetz die Anerkennung von Fähigkeiten aus Familienarbeit und Ehrenamt beim Wiedereinstieg in den öffentlichen Dienst ausdrücklich gestrichen hat.
({7})
Sie müssen das Gleichberechtigungsgesetz ändern, wenn Sie Ihre eigenen Koalitionsvereinbarungen ernst nehmen,
({8})
in diesem Punkt, aber auch in anderen Punkten; denn Ihr Gleichberechtigungsgesetz ist zahn- und bißlos, wirkungslos. Jede Verbindlichkeit der Frauenförderung haben Sie im Gleichberechtigungsgesetz vermieden.
Frau Nolte meinte im April 1993 noch, die Quote widerspreche dem Selbstverständnis der Frauen.
({9})
Anderthalb Jahre später, nach der Bundestagswahl, sitzen Sie nun ganz kleinlaut hier, weil Sie sich in der Tat anfangen zu schämen, daß der ohnehin schon niedrige Anteil der Frauen in der CDU/CSU- und in der F.D.P.-Fraktion noch niedriger werden konnte. Und nun reden sogar Sie in der CDU über ein Quorum, über mehr Verbindlichkeit in der Frauenbeteiligung in der CDU.
({10})
Aber wie Sie in der CDU mit der Unverbindlichkeit gescheitert sind, wird auch die Frauenförderung in Ihrem unverbindlichen Gleichberechtigungsgesetz scheitern. Darum erwarten wir von Ihnen in dieser Legislaturperiode eine Änderung dieses Gleichberechtigungsgesetzes.
({11})
Moderne Frauen erwarten von der Politik - das ist das Selbstverständnis von Frauen -, daß sie vor Benachteiligungen geschützt werden, wie sie auch erwarten, daß man sie vor Gewalt schützt. Obwohl sich die Koalitionsvereinbarung intensiv mit dem Gewaltthema auseinandersetzt, wird Gewalt gegen Frauen mit keinem Wort erwähnt.
Es wäre gut gewesen, wenn Sie angekündigt hatten, den § 1361b des Bürgerlichen Gesetzbuches zu ergänzen, damit Frauen und Kinder nicht im Frauenhaus verweilen müssen, während der zur Gewalt
neigende Ehemann weiterhin in der Familienwohnung bleiben kann.
({12})
Es wäre ebensogut gewesen, wenn Sie eine Änderung der §§ 177 ff. des Strafgesetzbuches angekündigt hätten, damit Vergewaltigung nicht nur außerhalb der Ehe, sondern endlich auch in der Ehe strafbar wird.
({13})
Und es wäre gut gewesen, wenn Sie eine Änderung des § 19 des Ausländergesetzes angekündigt hätten, damit ausländische Ehefrauen nicht deshalb weiter bei ihren gewalttätigen Ehemännern bleiben müssen, weil wir ihnen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht verweigern.
({14})
Frauen erwarten von einer bundesdeutschen Frauenministerin Verständnis und Solidarität auch in der Frage des § 218. Vieles, was Sie, Frau Nolte, dazu gesagt haben, ist für mich voller Lebensfremdheit, Verständnislosigkeit und auch ein bißchen Geringschätzung. Ich sage nur soviel: Solange Sie, Frau Nolte, wie noch am 18. November 1994 in der „Welt" zu lesen war, den Mutterleib als den lebensgefährlichsten Ort für den Menschen bezeichnen, werden wir keine erträgliche Gesprächsgrundlage mit Ihnen über den § 218 haben können.
({15})
- Das ist in der „Welt" zitiert.
Mir macht es Sorgen - das muß ich ganz ehrlich sagen -, wenn in der bundesdeutschen Politik an der Spitze eines Ministeriums eine Frau steht, die rigide Moralvorstellungen mit Humanität verwechselt. Es waren diese rigiden Moralvorstellungen in Verbindung mit den strengen Augen des Gesetzgebers und des Pfarrers, die in Deutschland Frauen um des Schwangerschaftsabbruchs willen in die Illegalität getrieben haben, häufig um den Preis ihres Lebens. Und es sind immer noch diese rigiden Moralvorstellungen, die über 200 000 Frauen und Mütter weltweit sterben lassen, weil sie den Schwangerschaftsabbruch illegal und unter unhaltbaren Umständen vornehmen müssen.
Das einfache Gut-und-Böse-Denken führt leicht zu politischen Fehleinschätzungen und hat mit Humanität und im Falle des § 218 auch mit dem Schutz werdenden Lebens überhaupt nichts zu tun.
({16})
Ich glaube, Frau Ministerin Nolte, Sie haben angesichts der jüngsten Meldungen Grund genug, Ihre doch häufig unkritische Haltung zu den fundamentalistischen sogenannten Christen gründlich zu überprüfen.
({17})
I Wer für einen Kalender, der zwischen Bibelworten und Bastelanleitungen rechtsradikale Positionen an Kinder und Jugendliche heranträgt und von dem sich die katholische Amtskirche schon seit längerem distanziert, auch noch lobende und werbende Worte findet, handelt als Politikerin verantwortungslos, als Jugendpolitikerin allemal, und empfiehlt sich nicht für die politische Leitung eines Ministeriums.
({18})
Frau Kollegin Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?
Ja, bitte.
Frau Niehuis, möchten Sie zugestehen, daß Frau Nolte in ihrer ersten Rede als Ministerin im Bundestag gesagt hat, daß sie in der Frage des § 218 zu Kompromissen bereit ist? Das hat sie ganz deutlich gesagt.
Das hat sie; dennoch kann ich doch von mir aus sagen, auf welcher Grundlage das nur gehen wird. Solche Sätze, wie ich sie genannt habe, müssen vorher noch vom Tisch.
({0})
Vorgestern hat die Ministerin in ihrer Rede zur Eröffnung der lobenswerten Jugendkampagne des Europarates gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz gesagt:
Jugendliche müssen immer wieder neu der Intoleranz und der Fremdenfeindlichkeit widerstehen, die ihnen ideologische Heilsverkünder predigen.
Das stimmt. Aber widerstehen kann man ideologischen Heilsverkündern nur, wenn man sie erkennt. Sie, Frau Ministerin Nolte, haben, was diesen Kalender anbetrifft, der Jugend kein gutes Vorbild gegeben.
({1})
- Lassen Sie mich das zu Ende führen; ich halte das für eine ganz wichtige Sache.
({2})
- Nein, nicht wider besseres Wissen.
Durch Ihre werbenden Worte für einen rechtsradikalen Kalender, mit dessen Verfassern Sie sich im übrigen in der Frage des § 218 ausdrücklich solidarisiert haben, haben Sie der Jugend kein Vorbild gegeben.
Sie haben der Jugend auch damit kein Vorbild gegeben - das möchte ich auch sagen, Herr Link -, wie Sie hinterher auf diesen peinlichen Vorfall reagierten. Es darf doch nicht wahr sein, daß Sie der Jugend sagen, Sie als Ministerin erkennten ideologische Heilsverkünder mit rechtsextremem Gedankengut nur dann, wenn Beamte des Ministeriums Sie warnen oder wenn der Innenminister sie als verfassungsfeindlich einstuft. Das darf doch nicht wahr sein.
({3})
Sie offenbaren dadurch ganz unbeabsichtigt Ihre eigene unsichere und unkritische Haltung gegenüber Rechts. Es wird ganz dringend Zeit, daß Sie über diese Ihre Position - ob heute oder gestern gewesen - einmal ordentlich nachdenken.
({4})
Damit diese Verfassungsschutzgeschichte hier einmal vom Tisch kommt, möchte ich auf folgendes hinweisen. Der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz - so steht es heute in einer Pressemitteilung des Ministeriums des Innern von Rheinland-Pfalz - hat bereits im März 1994 das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln auf die rechtsextremistischen Tendenzen in dem Kalender 1994 hingewiesen, und das Bundesamt für Verfassungsschutz - so das Ministerium - hat sich der Auffassung des rheinlandpfälzischen Verfassungsschutzes angeschlossen und die Publikation seit April 1994 als Prüffall übernommen. Darüber brauchen wir jetzt also nicht mehr lange zu diskutieren.
({5})
- Diese Vorkommnisse, die die Öffentlichkeit wirklich interessieren, müssen auch Thema im Deutschen Bundestag sein können, ohne daß Sie sich aufregen.
({6})
Wenn wir die individuelle und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern wollen, wie es das Kinder- und Jugendhilfegesetz von uns verlangt, müssen wir demokratisch gefestigte Werte vorleben. Wir alle wissen, wie wichtig in diesem Zusammenhang die Familien sind. Ich begrüße es ganz ausdrücklich, daß Sie, wie heute in der Rede zu hören war und auch sonst von der Bundesregierung gesagt wird, den Stellenwert der Familienpolitik langsam entdecken. Allerdings, so fürchte ich, werden wir noch so manche Diskussion über die Frage führen müssen, was eine gute Familienpolitik ist.
Das ist eine materielle, aber auch eine ideelle Frage. Zur materiellen Seite der Familienpolitik hat meine Kollegin Ingrid Matthäus-Maier gestern wichtige und deutliche Worte gesagt. Wir erwarten von Ihnen eine Familienpolitik, die endlich mit der unerträglichen Situation Schluß macht, daß Kinder insbesondere für Familien mit geringem Einkommen ein Armutsrisiko bedeuten.
({7})
Das sagen nicht nur wir als Opposition, das sagen die Familienverbände; auch das Bundesverfassungsgericht und die Kirchen mahnen bei der Bundesregierung an, endlich eine sozial gerechte Familienpolitik zu machen.
Ich habe gar kein Verständnis dafür, daß die Bundesregierung nun in Aussicht stellt, 1995 vorsichtshalber noch gar nichts zu tun, sondern erst von 1996 an den Familien etwas anzubieten. Politisches Handeln
ist hier schon längst überfällig, und es wäre gut gewesen, wenn wir das „Jahr der Familie" hätten so ausklingen lassen, daß die Bundesregierung hier gegen Ende des Jahres konkrete Maßnahmen angekündigt hätte.
({8})
Das einzig Konkrete, das Sie für 1996 anbieten, ist eine Erhöhung des Kinderfreibetrages. Alles andere, was Sie zum Kindergeld in Abhängigkeit von Familieneinkommen und Familiengröße sagen, bleibt bei Ihnen bis heute im Nebulösen. Sie sind sich wieder einmal sehr schnell einig, Familien mit hohem Einkommen einen besseren Familienlastenausgleich zu geben. Bei den anderen aber zögern Sie und wissen noch nicht so richtig, wie es gehen soll.
Wenn Sie eine verantwortbare Familienpolitik machen wollen, dann müssen Sie die Kinderfreibeträge nicht erhöhen, sondern abschaffen und statt dessen, wie von der SPD gefordert, ein gleiches, aber sehr viel höheres Kindergeld für alle einführen.
({9})
Wenn Sie dies schon nicht aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit einsehen können, dann betrachten Sie das doch einmal unter dem Gesichtspunkt der Entwicklungsbedingungen von Kindern und Jugendlichen. Wir sind als politisch Verantwortliche verpflichtet, Kindern Lebensbedingungen zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entsprechen und die Entfaltung der Persönlichkeit fördern. Dieser Fürsorge für Kinder kommt die Bundesregierung seit Jahren nicht nach, weil sie bei Familien mit mehreren Kindern und geringem Einkommen und bei Alleinerziehenden nicht für die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen sorgt.
Hinzu kommen die über eine Million Kinder, die zu den Sozialhilfeempfängern gehören, die 1,7 Millionen Kinder in Arbeitslosenfamilien sowie eine halbe Million Kinder, die in Obdachlosenunterkünften oder in schlechtesten Wohnverhältnissen leben.
Unter der Regierung Kohl ist Kinder- und Jugendarmut zu einem wachsenden Problem geworden. Sie versuchen ständig, dieses zu verschleiern. Es fällt schon auf, wie schwer sie sich tun, die Berichte über die Situation von Kindern und Jugendlichen dem Parlament und der Öffentlichkeit vorzulegen. Den nach der UN-Konvention über die Rechte der Kinder geforderten Bericht haben Sie mit einer vierteljährlichen Verspätung erst im August 1994 vorgelegt und den 9. Jugendbericht nicht in der letzten Legislaturperiode, wozu Sie nach § 84 KJHG verpflichtet gewesen wären, sondern erst in dieser Legislaturperiode. Sie nehmen es mit all diesen Berichten über Kinder und Jugendliche nicht ernst, inhaltlich nicht und auch formal nicht.
Wir erwarten von Ihnen, daß Sie vorhandene Probleme der Familien nicht verschweigen, nicht mit schönen Worten zukleistern, sondern versuchen, politische Abhilfe zu schaffen. Wenn Kinder und Jugendliche erfahren, daß sie deutlich hinter der Mehrheit zurückstecken müssen, wenn Kinder und Jugendliche erfahren, daß sie keine volle Teilhabe genießen, dann
kann das zu einschneidenden Veränderungen im Verhalten der Kinder und Jugendlichen führen. Wenn sich Eltern wirtschaftlich bedrängt und überfordert fühlen, dann kann das auch zu Verhaltensänderungen gegenüber ihren Kindern führen.
Wir sind in der Politik nicht allmächtig; das gilt gerade für die Frage, was in unseren Familien vor sich geht. Wir können für Rahmenbedingungen sorgen, wir können aber auch ein wenig zur Bewußtseinsbildung beitragen. Dazu gehört es, meine ich, meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, daß wir Familien nicht nur als heilen Ort des menschlichen Zusammenseins darstellen, sondern auch einmal kritisch mit der Familie umgehen. Ich denke z. B. an Kindesmißhandlung, Kindesvernachlässigung und Kindesmißbrauch. Vielen Kindern könnte geholfen werden, wenn wir das Kartell des Schweigens von Eltern, Ärzten, Erzieherinnen und Lehrern durchbrechen könnten, das alleine davon lebt, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, weil eben alles tabuisiert ist. Dieses Schweigen müssen wir durchbrechen.
({10})
Bereits die unabhängige Regierungskommission zum Thema „Gewalt in der Bundesrepublik" hat 1989 festgestellt - ich zitiere -:
Gewalt in der Familie ist nach den bisherigen Ergebnissen die verbreitetste Form von Gewalt.
Um der Kinder willen und weil wir wissen, daß es einen Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung in der Kindheit und eigener Gewaltanwendung gibt, wird es dringend Zeit, daß wir in das BGB den Satz „Kinder sind gewaltlos zu erziehen" aufnehmen.
({11})
Das, was die Bundesregierung vorgelegt hat, nämlich nur ein Mißhandlungsverbot in der Erziehung festzuschreiben, reicht bei weitem nicht aus.
Ein besonderes Augenmerk werden wir auch in den nächsten Jahren dem Angebot der Jugendhilfe widmen müssen. In einer Zeit, in der kommerzielle Freizeitangebote vermehrt um Kinder und Jugendliche werben, kommt der gemeinnützigen pluralen Jugendarbeit eine besondere Bedeutung zu.
Nicht gelungen ist bis heute ein entsprechender Aufbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern. In der letzten Legislaturperiode haben wir die Bundesregierung immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß man mit Ein-Jahres-Programmen keine Jugendhilfe in den neuen Bundesländern aufbauen kann.
Die Sachverständigen, die den 9. Jugendbericht über „Die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Ländern" erarbeitet haben, haben unsere Kritik bestätigt und eine verläßliche Bundesförderung angemahnt. Die Jugendpolitik der Bundesrepublik für die neuen Bundesländer ist nicht daran gescheitert, daß es keine finanziellen Mittel gab; nein, es ist genug rübergeflossen. Sie ist schlichtweg daran gescheitert, daß es keine konzeptionellen förderpolitischen Perspektiven für
die freien Träger in den neuen Ländern gegeben hat. Und das ist Ihre Fehleinschätzung gewesen.
({12})
Leidtragende dieser Fehleinschätzung der Bundesregierung sind die jungen Menschen in den neuen Bundesländern, die in einer schwierigen Umbruchsituation eine bessere bundespolitische Begleitung gebraucht und verdient hätten.
({13})
Heute wurde in der bildungspolitischen Debatte schon sehr viel über die Ausbildungssituation erzählt. Ich denke, das Ausbildungsangebot für Jugendliche sieht nicht so rosig aus. Wir können Jahr für Jahr eine Ausbildungsnot immer nur durch überbetriebliche Ausbildungsstätten und eine Abwanderung in den Westen verhindern. Dann wird der Übergang von der Ausbildung in die Erwerbstätigkeit immer noch zu einem nicht gelösten Problem. Dies alles gilt für Jugendliche, aber für Mädchen und junge Frauen noch sehr viel mehr.
Ich finde es bedrückend, daß in den neuen Bundesländern über 38 % der 21- bis 24jährigen Sozialhilfe und andere Transferleistungen des Staates als Haupteinnahmequelle angeben müssen. Hier, denke ich, müssen wir für die Zukunft etwas tun. Ich wundere mich immer, daß Herr Rüttgers das Zukunftsministerium hat. Wenn wir ein Zukunftsministerium haben, Frau Nolte, dann sollten wir darum kämpfen, daß es in dem Bereich angesiedelt wird, für den wir zuständig sind.
({14})
Seit vier Jahren hat das Ministerium auch „Senioren" im Titel. Das hat damals große Erwartungen geweckt, die allerdings in keiner Weise erfüllt wurden.
Sie haben den Bundesaltenplan erwähnt. Er hat einen wunderschönen Namen - fast so wie Bundesjugendplan. Der schöne Name ist da, aber das hat wenig Substanz.
Ihre Vorgängerin hat Seniorenbüros eingerichtet. Aber Sie hätten uns einmal sagen sollen, wie es mit den Seniorenbüros weitergeht. Wie soll denn deren Existenz auf Dauer gesichert werden? Wollen Sie dafür die Kommunen zuständig machen?
Sie haben zu Recht die Seniorenpolitik als Querschnittsaufgabe bezeichnet. Da möchte ich Ihnen die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" ans Herz legen, die in der letzten Legislaturperiode erfolgreich gearbeitet hat und die hoffentlich fortgeführt wird. Ich denke, es wird dringend Zeit, daß die Bundesregierung Vorschläge unterbreitet, wie wir mit diesen für die Zukunft so wichtigen Fragen umgehen werden.
Frau Ministerin Nolte, wir werden an Ihrer Seite stehen, wenn Sie gut und inhaltlich fortschrittlich voranschreiten. Ansonsten werden wir Sie ausgesprochen kritisch begleiten und, wenn es sein muß, sagen, daß Sie nur schöne Worte, vielleicht auch nicht so
schöne Worte machen, aber keine Taten folgen lassen. Ich hoffe das nicht. Ich hoffe, Sie werden mit Ihrem Ministerium eine glückliche Hand haben.
({15})
Zu einer Kurzintervention hat das Wort die Abgeordnete Claudia Nolte.
Liebe Frau Kollegin Niehuis, weil hier einige Informationsdefizite zu bestehen scheinen, ganz kurz zur sachlichen Klarstellung: Das abgedruckte Zitat in dem Kalender stammt aus einem Brief von 1991,
({0})
den ich diesem Verlag auf eine Anfrage zum Thema Schutz des ungeborenen Lebens hin geschrieben habe.
Dieses Zitat ist von Jahr zu Jahr ohne mein Wissen wieder abgedruckt worden, liebe Kollegin.
({1})
-- Ich habe 1991 den Brief geschrieben. - Auch Ihnen dürfte es nicht entgangen sein, daß ich in der jetzigen Zeit dazu ganz klare Aussagen gemacht und eine Prüfung erbeten habe. Ich habe mich auch an den Verlag gewandt, er möge es bitte schön unterlassen, weiterhin ungefragt zu zitieren. - Soviel zur Aufklärung.
({2})
Frau Kollegin Niehuis, wollen Sie kurz antworten?
Nein, ich habe eigentlich alles gesagt.
Gut.
Dann erteile ich als nächster der Kollegin Maria Eichhorn das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Niehuis, Sie haben am Ende der Frau Ministerin so schön Glück gewünscht. Ihre Rede steht aber Ihren Glückwünschen entgegen. Es ist unfair, wie Sie die Ministerin behandelt haben,
({0})
und zwar auf Grund der Tatsache, daß sie zu den Vorgängen ganz eindeutig Stellung genommen hat, und auch auf Grund der Tatsache, daß sie hier zum § 218 ganz deutlich gesagt hat, daß sie, auch wenn sie dazu eine eigene Meinung hat - die steht jedem von uns zu -, zu Kompromissen bereit ist. Was wollen Sie denn noch mehr?
({1})
Das Internationale Jahr der Familie geht zu Ende. Es hat die öffentliche Diskussion über Familie und FamiMaria Eichhorn
lienpolitik neu belebt. Die Leistungen vor allem der Frauen in der Familie und die Leistungen, die die Familien für unsere Gesellschaft erbringen, sind auch heute noch zu wenig anerkannt. Da sind wir uns einig.
({2})
Die Familie vermittelt Werthaltungen. Sie formt die Persönlichkeit junger Menschen und fördert Verantwortungsbewußtsein. Sie ist die Kraft, aus der der einzelne und die Gesellschaft schöpfen. Familien schaffen Humanvermögen. Sie sichern durch ihre Leistungen den wirtschaftlichen Erfolg und die Humanität unserer Gesellschaft.
Anläßlich der Abschlußveranstaltung zum internationalen Jahr der Familie hat Bundespräsident Roman Herzog betont, daß Familienförderung nicht nur darin besteht, Familienlasten auszugleichen. Vielmehr muß sie die unverzichtbaren Leistungen der Familien honorieren und trägt somit zur Gerechtigkeit bei.
Eine familienfreundliche Politik ist Innovationspolitik und Investition für die Zukunft. In diesem Sinne hat die Bundesregierung seit Übernahme der Regierungsverantwortung Zukunftspolitik betrieben.
Das, was Sie gesagt haben, Frau Niehuis, ist natürlich nur die eine Seite. Es ist ganz klar, daß die Opposition die Regierung nicht loben kann. Sie haben allerdings verschwiegen, daß für die Familien einiges erreicht worden ist, seitdem wir an der Regierung sind. Ich erinnere nur an die Leistungsverbesserungen beim Kindergeld, Kinderfreibetrag, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub.
({3})
Mit Kindererziehungszeiten und Berücksichtigungszeiten für Pflege hat die Familienarbeit erstmals eine rentenrechtliche Anerkennung erfahren.
({4})
Die Einführung der Pflegeversicherung bedeutet einen weiteren Schritt in diese Richtung. Wir werden fortfahren. Politik für Familien bleibt weiterhin ein Schwerpunkt unserer Arbeit.
Neben der Anerkennung von Familienarbeit muß die Rücksicht auf die Familie weitere Fortschritte machen. Mit dem Zweiten Gleichberechtigungsgesetz haben wir für den öffentlichen Dienst Regelungen zur Förderung von Frauen im Beruf und zur Erleichterung der Teilzeitarbeit erreicht. Jetzt ist auch die Wirtschaft aufgerufen, Änderungen einzuführen.
Während das familiäre Leben in der Vergangenheit nach den Gesetzen der Wirtschaft ausgerichtet wurde, wird nun Rücksicht auf die Familien gefordert. Die Arbeitswelt muß so gestaltet werden, daß Familie und Beruf individuell aufeinander abgestimmt werden können,
({5})
und zwar nach den Bedürfnissen aller Mitglieder der Familie.
Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch eine zentrale Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen; denn künftig werden Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz verstärkt danach auswählen, ob er familienfreundlich gestaltet ist. Familienfreundliche Arbeitsbedingungen steigern die Motivation und die Zufriedenheit der Arbeitnehmer. Flexible Arbeitszeiten, ein verstärktes Angebot auch von qualifizierten Teilzeitarbeitsplätzen sowie die Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen - das ist Aufgabe der Länder; meine Damen und Herren von der SPD, denken Sie auch in den von Ihnen regierten Ländern daran, diese Verbesserungen einzuführen - können die Vereinbarkeit erleichtern. Chancen der beruflichen Weiterbildung müssen auch von Teilzeitbeschäftigten wahrgenommen werden können.
({6})
Verbesserte Ausbildung und zunehmende wirtschaftliche Unabhängigkeit haben Frauen befähigt, ihr Leben freier zu gestalten. Damit steigt aber auch die Erwartung, daß der Partner die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe an der Arbeitswelt unterstützt und ermöglicht, auch wenn Kinder vorhanden sind. Frauen wollen nicht länger akzeptieren, daß Erwerbsarbeit ausschließlich der Männersphäre zugeordnet wird, Familienarbeit dagegen den Frauen. Arbeit muß für alle, für Männer und Frauen, gleich interpretiert und definiert werden.
Für viele Männer, aber auch Frauen ist nach wie vor die Vorstellung, ein Mann leiste auf Dauer in größerem Maße Familienarbeit und gehe einer Teilzeitarbeit nach, inakzeptabel. Männer, die einen Teil ihrer Arbeitskraft in die Familie einbringen wollen, die z. B. auch der Partnerin die Ausübung eines Berufs ermöglichen wollen, werden von Arbeitgebern schnell als zuwenig karrierebewußt disqualifiziert. Dabei wird unterstellt, der Mann habe das Recht und die Pflicht zur Vollzeiterwerbstätigkeit, während dagegen eine Pflicht zur und ein Recht auf Familienarbeit nur für die Frauen zu bestehen scheint. Aber auch viele Frauen wollen ihren erlernten Beruf kontinuierlich ausüben. Sie definieren den Beruf genauso wie die Männer als wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit.
({7})
Wenn die Wirtschaft nicht bereit ist, darauf zu reagieren, daß auch Frauen ihrer Ausbildung und Qualifikation gemäß eingesetzt werden wollen, geht ihr ein enormes Maß an Energie, Produktivität und kreativen Ideen verloren, die zur Bewältigung der derzeitigen Herausforderungen dringend erforderlich sind.
({8})
Deswegen müssen alte Rollenmuster überwunden werden.
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Frauen und Männer müssen gleichermaßen die freie Wahl haben, wie sie ihr Leben gestalten wollen.
({10})
Männer haben sich mit der Berufswelt neue Lebensbereiche erschlossen; auch Frauen haben dies vielfach in der letzten Zeit getan. Aber Männer haben den Schritt in die Familie und zu einer neuen Partnerschaft bisher noch viel zu wenig gewagt. Arbeitgeber müssen von der Vorstellung abrücken, nur der Vollzeitbeschäftigte sei der richtige, der motivierte Arbeitnehmer. Männer wie Frauen dürfen nicht diskriminiert werden, wenn sie in bestimmten Phasen ihres Erwerbslebens unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Arbeitswelt sollte akzeptieren, wenn Mütter und Väter mehr Zeit für ihre Kinder haben wollen, und sollte entsprechende Beschäftigungsmodelle zur Verfügung stellen.
Wir werden in der neuen Legislaturperiode an das Erreichte anknüpfen und den Wechsel von einem Familienlasten- zu einem Familienleistungsausgleich vollziehen. Familien mit Kindern dürfen nicht benachteiligt werden; Eltern müssen gegenüber Kinderlosen einen gerechten Ausgleich für ihre finanzielle Belastung erhalten.
Familien sind für Kinder und Jugendliche der wichtigste Ort für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Sie bringen enorme Kraft und Ausdauer auf, um jungen Menschen die Werte zu vermitteln, die sie befähigen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Junge Menschen suchen Unterstützung für ihre Orientierung in der Gesellschaft. Deswegen sind Angebote der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit wichtig.
Wenn sich junge Menschen ausgegrenzt fühlen, wenn sie keine Zukunft für sich sehen, wenn sich soziale Probleme häufen, kann dies der Auslöser für Gewalttätigkeit sein. Eine verheerende Wirkung auf Jugendliche hat die Darstellung von Gewalt in den Massenmedien, die dazu verführt, gezeigte Verhaltensweisen nachzuahmen.
({11})
Wir müssen hier noch mehr tun, um die Gewaltszenen aus den Programmen zu verbannen. Wir müssen weiterhin auf verschiedenen Ebenen Beratungs- und Betreuungsangebote machen und Aufklärung bieten. Das Sonderprogramm der Bundesregierung gegen Aggression und Gewalt hat bewiesen, daß durch geeignete Maßnahmen der Weg in die Gewalt blokkiert werden kann. Diese Arbeit werden wir fortsetzen.
({12})
Jugendliche sind besonders gefährdet, von Drogen abhängig zu werden. Eine verantwortungsvolle Drogenpolitik darf Drogen nicht freigeben; sie darf Jugendlichen nicht den Zugang zu ihnen erleichtern. Jede Art der Freigabe von Drogen ist ein falsches Signal. Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß der Konsum von Drogen, wenn er nicht unter Strafe gestellt ist, erlaubt und daher vielleicht nicht schädlich sei.
({13})
- Das meinen Sie.
({14})
Die Statistik für die Gebiete, in denen das Praxis ist, zeigt etwas ganz anderes.
({15})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine größere Anerkennung der Leistungen der Familien, denn sie sichern die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine familienfreundliche Arbeitswelt, damit Väter und Mütter mehr Zeit für ihre Kinder haben.
({16})
Wir brauchen eine familienfreundliche Gesellschaft, in der sich auch Kinder wohlfühlen können. Das ist unsere Aufgabe in dieser Legislaturperiode. Hier wollen wir fortfahren.
({17})
Ich werde gleich eine Kurzintervention zulassen. Aber ich muß jetzt einmal auch an die Adresse des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD folgendes sagen. In unserer Geschäftsordnung steht:
Im Anschluß an einen Debattenbeitrag, jedoch nicht vor Abschluß der ersten Runde, kann
- das ist ganz wichtig der Präsident das Wort zu einer Zwischenbemerkung von höchstens zwei Minuten erteilen.
Es heißt: im Anschluß an einen Debattenbeitrag. Wenn ein Geschäftsführer kommt und eine Kurzintervention für irgendwann anmeldet, also gar nicht in Anknüpfung an einen bestimmten Debattenbeitrag,
({0})
ist das - Entschuldigung, dieser Vorgang ist leider nicht auf die SPD beschränkt; nur im Augenblick ist es die SPD - eine Art, für eine Fraktion Redezeit herauszuschinden. Natürlich kann der angesprochene Redner dann noch einmal antworten, ebenfalls in zwei Minuten. Aber wenn wir uns in einer solchen Zeitsituation wie heute befinden,
({1})
dann finde ich es nicht ganz fair, irgendeine Kurzintervention zu verlangen. Dann liegt ja nicht der Fall vor, daß irgend jemand angesprochen worden ist und antwortet, vielleicht so kurz antwortet, wie das vorhin der Fall war, oder daß die Kurzintervention in einer Weise gehalten wird, daß sich nicht einmal der ursprüngliche Redner zu einer weiteren Replik veranlaßt sieht. Das wollte ich hier einmal gesagt haben,
Vizepräsident Hans Klein
damit wir mit dem Instrument Kurzintervention künftig vernünftig umgehen.
({2})
Ich vermute, daß der Kollege Arne Fuhrmann jetzt auf die Rednerin, die eben gesprochen hat, eingehen will, obwohl er das schon lange voraus antizipiert hat. Aber ich bitte Sie herzlich, daß wir mit diesem Instrument künftig auch ein bißchen auf den Debattenablauf Rücksicht nehmen.
Bitte sehr, Herr Fuhrmann.
Trotzdem herzlichen Dank, Herr Präsident, daß Sie diese Kurzintervention noch zulassen.
Es hat natürlich unmittelbar etwas mit meiner Vorrednerin zu tun, gleichzeitig aber auch mit dieser leidigen Kalenderangelegenheit. Ich vermag nicht nachzuvollziehen, daß sich die Kollegin Nolte, nachdem sie seit einigen Wochen Ministerin ist, heute darauf zurückzieht, daß sie 1991 - zu einem Zeitpunkt, zu dem sie Mitglied des Deutschen Bundestages war - ein Grußwort für einen Kalender geschrieben hat. Mein persönliches Selbstverständnis für mich als Abgeordneten - ich vermute, das geht mehreren so - deckt sich nicht damit, daß sie das als Ministerin hier in diesem Saal heute entschuldigend in der Form sagen kann: Das war, bitte schön, 1991.
Die Tatsache alleine, daß es geschehen ist, macht für mich deutlich, daß es in Zukunft wahrscheinlich erhebliche Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten in diesem Bereich zwischen Ihnen und denjenigen geben wird, die das möglicherweise für nicht richtig gehalten haben.
Vielen Dank.
({0})
Also, Herr Kollege Fuhrmann, jetzt ist die Sache noch problematischer,
({0})
weil es eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention nach unserer Geschäftsordnung nicht gibt. Sie haben nicht auf die Rednerin reagiert.
({1})
Die von Frau Nolte in ihrer Kurzintervention angesprochene Kollegin hat es nicht für nötig befunden, ihrerseits zu antworten. Also war das eben eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention.
({2})
- Bitte, Herr Kollege, wir wollen jetzt keine weitere Debatte darüber führen. - Jetzt antwortet Kollegin Nolte, und dann fahren wir in unserer Rednerliste fort.
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Herr Kollege, Sie scheinen da immer noch einigen Dingen aufzusitzen. Erstens war mir, als diese Anfrage kam, aus den Unterlagen, die ich hatte, in keiner Weise ersichtlich, daß ich es mit irgendwelchen extremistischen Sachen zu tun hätte; sonst hätte ich das nicht gemacht. Diese Klarstellung ist aber schon in den letzten Tagen erfolgt. Auch das scheinen Sie nicht mitverfolgt zu haben. Das Zweite: Es handelte sich nicht um ein Grußwort. Drittens habe ich nicht versucht, mich hier einfach aus der Affäre zu ziehen. Ich habe Ihnen gesagt, was ich auf Grund der Tatsachen eingeleitet habe. Das müßte eigentlich auch Ihnen genügen.
({0})
Das Wort hat Frau Irmingard Schewe-Gerigk.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen!
({0})
Warten Sie bitte noch einen Augenblick.
Gerne.
Darf ich um Ruhe bitten. - Bitte, Sie haben jetzt das Wort.
Sehr geehrte Frau Nolte! Diese Bundesregierung hat sich nun endgültig aus der Frauenpolitik verabschiedet.
({0})
Die Angliederung des Frauenministeriums an das Familienministerium, die Berufung einer sich als frauenfeindlich gebärdenden Ministerin, die Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch zu einem „Reuejahr" ein Jahr in den Krankenhausdienst stellen will, und die lächerliche Summe von 26 Millionen DM im Haushalt für die Frauenpolitik belegen das. Frau Nolte, Sie haben gerade vom „Haus der Generationen" gesprochen. Wenn in diesem „Haus der Generationen" für die Frauen Gelder im Promillebereich vorgesehen sind - der Gesamthaushalt beträgt 33 Milliarden DM -, finde ich das mehr als schändlich.
({1})
Doch auch als Familienministerin hat Frau Nolte den Frauen nicht viel anzubieten. Die Zuständigkeit für die Sozialhilfe und für das Kindergeld wurde ihr entzogen. Frauenpolitik soll nicht mehr originär als Frauenpolitik betrieben werden; sie soll als FamilienIrmingard Schewe-Gerigk
politik auf dem Rücken der Frauen ausgetragen werden.
({2})
Frauen leisten immer noch zwei Drittel der gesamtgesellschaftlichen Arbeit. Warum beginnen Sie nicht endlich damit, Männern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen?
({3})
Es sind die Frauen, die nach der Geburt eines Kindes zu Hause bleiben und durch die Familienphase und den dreijährigen Erziehungsurlaub ins berufliche Abseits geraten. Fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen verlängern diesen Prozeß oft bis zur völligen Berufsaufgabe.
Zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gehört, daß der jetzige dreijährige Erziehungsurlaub in einen Elternurlaub umgewandelt wird.
({4})
Dieser Elternurlaub muß so flexibel sein, daß Väter und Mütter diese drei Jahre anteilig als Zeitkonto bis zum 12. Lebensjahr des Kindes nutzen können.
({5})
Das durch Teilzeit geminderte Entgelt sollte während des Elternurlaubs durch steuerfinanzierte Lohnersatzleistungen ausgeglichen werden. So bekommen wir nämlich auch die Männer dazu, Familienarbeiten zu übernehmen.
Statt dessen, Frau Nolte, fordern Sie ein Begrüßungsgeld, oder nennen wir es besser eine Geburtsprämie, in Höhe von 1 000 DM für jedes Neugeborene. Soll das etwa ein Gag auf Kosten der Haushalte der Länder und der Kommunen sein? Glauben Sie wirklich, Frauen mit einem Betrag, der nicht einmal die Babyausstattung abdeckt, überreden zu können, ein Kind auf die Welt zu bringen?
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Oder steckt dahinter etwa der Gedanke, Frauen wieder auf Küche und Kinder zu reduzieren?
Wenn es stimmt, was der Bundeskanzler ständig behauptet, daß die Familienpolitik eine der wichtigsten Aufgaben dieser Regierung sei, so komme ich nicht umhin, Ihnen hier große Vorwürfe zu machen. Sie nehmen in Kauf, daß kinderreiche Familien selbst mit mittleren Einkommen an der Armutsgrenze leben und Kinder somit zum Armutsrisiko werden.
({7})
Der DGB-Armutsbericht weist aus, daß im Westen jedes achte Kind und im Osten jedes fünfte Kind in einem einkommensarmen Haushalt aufwächst. Wissen Sie nicht, daß in unserem Lande über eine Million Kinder von der Sozialhilfe leben,
({8})
daß über 50 000 Kinder obdachlos sind?
Kinder sind aber nicht nur von absoluter Armut betroffen, sondern leiden auch unter schlechten Lebens- und Umweltbedingungen. Ich wollte den Herrn Bundeskanzler fragen, ob er überhaupt ruhig schlafen kann, wenn er weiß, daß 42 % der Kinder in unserem Lande chronisch allergisch sind. Er ist nicht hier. Er sagt zwar immer, die Familienpolitik sei das Wichtigste; durch seine Abwesenheit zeigt er jedoch, was er wirklich davon hält.
({9})
Statt ständig vom Schutz des ungeborenen Lebens zu reden, meine Herren und Damen von der CDU, sollten Sie sich stärker für das geborene Leben einsetzen.
({10})
Eine Neudefinition des Familienbegriffs ist längst überfällig. Bereits vor zehn Jahren gab es 2,5 Millionen nichteheliche Lebensgemeinschaften, wobei sich die Quote in den letzten 20 Jahren verachtfacht hat. Wann werden Sie, meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, zur Kenntnis nehmen, daß sich Menschen die Form ihres Zusammenlebens nicht von der Politik vorschreiben lassen?
({11})
Wie sehr Sie sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt haben, ist daran abzulesen, daß die frühere Frauenministerin, die bekanntlich unverheiratet mit einem Mann zusammenlebt, vom Bundeskanzler als nicht tragbar für das Amt der Familienministerin angesehen wurde.
Warum verschweigen Sie, daß Ihnen der Trauschein wichtiger ist als Kinder, die in einer Lebensgemeinschaft aufwachsen? Sie halten am Ehegattensplitting fest, das u. a. die Subventionierung der kinderlosen Hausfrauenehe mit monatlich bis zu 2 000 DM vorsieht. Dadurch fördern Sie nicht nur die finanzielle Abhängigkeit der Frau vom Mann, sondern tragen auch dazu bei, Frauen von existenzsichernden Arbeitsplätzen fernzuhalten, und subventionieren eine Ihnen genehme Lebensform.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzt sich dagegen für die gleichberechtigte Anerkennung aller Lebensformen ein. Das setzt die Abschaffung des Ehegattensplittings voraus.
({12})
Wir wollen die dadurch freiwerdenden Mittel für ein bedarfsgerechtes zweistufiges Kindergeld verwenden. Danach erhalten Eltern und Alleinerziehende ein Grundkindergeld von ca. 300 DM; für Einkommensschwache erhöht sich das um einen Aufstockungsbetrag. Damit sind auch die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zur Freistellung des Existenzminimums erfüllt.
Wir lehnen das von der Regierung bevorzugte duale System, bestehend aus Kindergeld und Kinderfreibeträgen, ab, weil es einkommensschwache Familien benachteiligt, und gerade die wollen wir fördern. Auch ein einheitliches Kindergeld, wie es die SPD vorsieht, halten wir daher für unangemessen und ungerecht.
Ein Wort zur Jugendpolitik - wir werden noch Gelegenheit haben, den Neunten Jugendbericht zu diskutieren -: Wer wie Frau Nolte zu dem Schluß kommt, daß die Perspektiven der Jugendlichen verbessert werden müssen, aber gleichzeitig die Sondermaßnahmen u. a. gegen Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern im Jahre 1995 um 10 Millionen DM reduziert, macht sich unglaubwürdig, ebenso unglaubwürdig wie mit dem Grußwort in einem rechtsradikalen Kalender.
({13})
- Ja, ich gehe darauf ein. - Frau Nolte, Sie haben gerade etwas dazu gesagt.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich hatte von Ihnen erwartet, Frau Nolte, daß Sie sich an dieser Stelle davon distanzieren würden.
Frau Kollegin, Sie haben noch einen Schlußsatz, wenn der Präsident Sie auf die abgelaufene Redezeit hingewiesen hat.
Es gab doch zu Beginn meiner Rede auf Grund der Unruhe, die bereits bestanden hat, als ich angetreten bin, viele Unterbrechungen.
Frau Nolte, ich hatte erwartet, daß Sie sich von diesem Kalender distanzieren würden.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich begrüßen, daß wir heute nicht zwei getrennte Debatten führen müssen, sondern daß es wieder ein Ministerium für Familien-, Jugend-, Senioren- und Frauenpolitik gibt.
({0})
Dieser Bereich muß als Ganzes gesehen werden, ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
({1})
geht uns alle an und darf auch im Parlament - um auf den Zwischenruf einzugehen - nicht nur einer betroffenen Gruppe zugeschrieben und auch nicht etwa von dieser allein verantwortet werden.
({2})
Als zweites möchte ich der neuen Bundesministerin, der Kollegin Nolte, eine glückliche Hand für ihre schwierige Aufgabe wünschen. Wir werden wohl nicht in allen Fällen gleicher Meinung sein; aber wir werden gut, erfolgreich und auch - das darf ich im Anschluß an vorherige Beiträge sagen - fair zusammenarbeiten.
({3})
Die Koalitionsvereinbarung bietet hierfür eine sehr gute Grundlage. Dabei hat die Koalition zu Recht die Familienpolitik als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit in dieser Legislaturperiode benannt. Die Familie ist und bleibt die zentrale Stütze und Grundlage unserer Gesellschaft.
Gute Bedingungen, damit sich möglichst viele Kinder in der Geborgenheit der Familie entwickeln können, sind die beste Voraussetzung dafür, daß Menschen heranwachsen, die Konflikte gewaltfrei lösen, fair und tolerant mit ihren Mitmenschen umgehen und eigenverantwortlich ihren Lebensweg gehen.
Die Familie trägt ganz entschieden dazu bei, daß sich autonome Persönlichkeiten entwickeln, wie sie dem liberalen Menschenbild entsprechen:
({4})
Individuen, die ihr Leben eigenständig in die Hand nehmen, es an Hand der gefundenen Wertorientierung selbst gestalten, die aber zugleich wissen, daß Freiheit nicht ohne Pflichten ist und daß auch der rechtliche Rahmen zu respektieren ist, der garantiert, daß sich die eigene Freiheit und die aller anderen entfalten kann.
({5})
Weil diese Gesichtspunkte so wichtig sind, lassen wir uns auch in der Familienpolitik, in dem, was tatsächlich für Familien erreicht werden kann, nicht einmal vom Koalitionspartner übertreffen. Das sei den Kollegen gesagt, die gemeinsame Erfolge der letzten zwölf Jahre in öffentlichen Reden manchmal etwas zu stark nur als Unionseigentum bezeichnen.
({6})
Lassen Sie mich mit der gleichen Eindeutigkeit sagen, daß all das, was ich gesagt habe, nicht im Gegensatz steht - und auch nicht stehen muß - zu einer Respektierung anderer Formen des Zusammenlebens, und zwar unabhängig davon, aus welchen Lebensmotiven oder auch geschlechtlichen Orientierungen heraus sich Lebensgemeinschaften bilden.
Wenn Gemeinschaften auf Dauer angelegt sind, ist eine rechtliche Regelung einer Reihe von Lebensbereichen für diejenigen Betroffenen, die die entsprechenden Rechtsfolgen für sich auch wollen, sinnvoll. Eine klare gesetzliche Regelung statt des Durcheinanders, das zur Zeit bei der rechtlichen Behandlung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften herrscht,
würde auch für Klarheit und Rechtssicherheit sorgen.
Es ist dabei die feste Überzeugung der Liberalen: Wir nehmen Ehe und Familie nichts, wenn wir Diskriminierung beseitigen, Rechtsnachteile abbauen und für Normalität im Umgang miteinander und vor allem für Toleranz eintreten.
({7})
Meine Damen und Herren, ein vordringliches Anliegen ist der Abschluß der Reform des Schwangerschaftskonfliktrechts. Die F.D.P. sieht sich bei der Neuregelung des § 218 in einer langen und guten Tradition und auch in einer besonderen Verantwortung. Es war die F.D.P.-Fraktion in diesem Parlament, die schon am Ende der 11. und zu Beginn der 12. Wahlperiode als erste Fraktion einen Gesetzentwurf vorgelegt hat, der zum Kern des Gruppenantrages wurde, der von der Mehrheit dieses Hauses als Gesetz verabschiedet worden ist.
Wir Liberale sind stolz darauf, mit unserem Vorschlag der Fristenregelung mit obligatorischer Beratung in der unendlichen Geschichte des Schwangerschaftkonfliktrechts endlich den rechtshistorischen Durchbruch erreicht zu haben, daß die Strafbarkeit einer Frau beim Abbruch nicht mehr von dem Urteil eines Dritten abhängt, wie dies bei jeder Indikationsregelung der Fall ist, sondern daß die Frau allein eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen kann, ohne befürchten zu müssen, vom Staat bestraft zu werden.
({8})
Nun müssen wir, die Abgeordneten dieses Bundestages, frei von Fraktions- und Koalitionszwängen, jeder für sich und nach seinem Gewissen entscheidend, jede Kollegin und jeder Kollege, selbst die mit einem Staatsamt, nach dem Karlsruher Urteil zu einer endgültigen Regelung gelangen.
Soweit Gesetzentwürfe bereits vorgelegt oder angekündigt worden sind, ist leicht zu erkennen, daß es für keinen von ihnen eine Mehrheit in diesem Hause geben wird. Es scheint auch so zu sein, daß teilweise Zurückhaltung geübt wird, wenn es darum geht, die Möglichkeiten, die das Karlsruher Urteil durchaus eröffnet, zu nutzen.
({9})
Es gibt offensichtlich aber auch Versuchungen, sich an eindeutigen Vorgaben des Verfassungsgerichts vorbeizuschlängeln oder sie gar zu ignorieren. Deshalb muß versucht werden, in gemeinsamem Bemühen eine Neuregelung zu finden, die den Schutz des ungeborenen Lebens verbessert und zugleich die eigenverantwortliche Gewissensentscheidung der betroffenen Frauen respektiert.
({10})
Dabei ist bei allem Respekt, den gerade die F.D.P. als die Rechtsstaatspartei dem Bundesverfassungsgericht zollt, zwar ein fester, aber kein ängstlicher Blick auf dessen Urteil angesagt. Ich erinnere an die Worte von Professor Eser bei der Anhörung im April im Bundestag:
Die grundsätzliche Billigung des Verfassungsgerichts für das Beratungskonzept, durch das das Indikationsmodell abgelöst worden ist, eröffnet die Möglichkeit, nunmehr aktiv eine Gestaltungsaufgabe wahrzunehmen.
Deshalb wird die F.D.P.-Fraktion im Januar einen neuen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, der sich der Aufgabe stellt, den Schutz des ungeborenen Lebens wirklich sicherzustellen, der aber auch gewährleistet, daß die vom Verfassungsgericht gebilligte Ergebnisoffenheit der Beratung für die betroffenen Frauen keine leere Worthülse bleibt.
({11})
Er wird aber, weil vom Verfassungsgericht zwingend vorgeschrieben, ebenfalls berücksichtigen, daß ein strafrechtlicher Schutz für die Schwangere gegen einen Druck aus ihrem sozialen Umfeld, z. B. durch den Erzeuger, notwendig ist. Vor allem die Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion mögen doch noch einmal darüber nachdenken, ob sie die Forderung des Gerichts, diesen Druck durch eine besondere Strafbestimmung abzuwehren, wirklich nur als sogenannte Kriminalisierung des sozialen Umfeldes der Schwangeren verstehen wollen oder ob nicht besser der Schutzzweck einer solchen Norm zugunsten nicht nur des Ungeborenen, sondern vor allem auch zugunsten der Schwangeren im Vordergrund der Diskussion stehen sollte.
({12})
Meine Damen und Herren, Kernstück der Reform war auch der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Die Länder wußten, was sie unterschrieben haben. Sie wußten um die finanziellen Belastungen.
({13})
Bei der Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleiches nach Verabschiedung des Rechtsanspruches ist diese Belastung auch berücksichtigt worden.
({14})
Es ist unredlich, jetzt auf die mangelnden finanziellen Mittel hinzuweisen, statt die Umsetzung dieses Rechtsanspruchs zu gewährleisten. Da Sie gestern stolz erzählt haben, daß Sie in 14 Bundesländern Verantwortung mittragen, schicken Sie Ihre Rede, Frau Niehuis, bitte den entsprechenden Landesregierungen und ihren Ministern,
({15})
insbesondere nach Nordrhein-Westfalen, darf ich sagen, weil nämlich dort dies jetzt negiert wird.
Meine Damen und Herren, leider sind die Redezeiten für die kleineren Fraktionen so kurz - ich sehe, daß meine Redezeit abgelaufen ist -, daß ich auf viele Punkte nicht mehr eingehen kann. Deshalb nur noch ein letzter Punkt: Wir freuen uns, daß wir die Union überzeugt haben, die Arbeitgeberfunktion der privaten Haushalte stärken zu wollen.
({16})
Hier, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie durch jahrelange Diskriminierung mit dem sogenannten Dienstmädchenprivileg Ihren Anteil an praktischer Frauenpolitik, indem Sie nämlich über Jahre mit verhindert haben, daß wir gemeinsam zu Lösungen kommen, mit denen Hunderttausende von Arbeitsplätzen hätten geschaffen werden können, gerade für Frauen, die dies wollen und die in der Gesellschafts-, Familien-, Sozial- und Frauenpolitik lieber auf das achten, was tatsächlich passiert, nicht auf Worthülsen, wie wir sie leider oft gehört haben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herr Kollege Lanfermann, da das, wie ich soeben höre, Ihre Jungfernrede war,
({0})
darf ich mir den Hinweis erlauben, daß das Ideal der kurzen Redezeiten den deutschen Sprachgewohnheiten ein bißchen zuwider ist. Wir sind darin nicht so gut wie die englischsprachigen Parlamentarier. Aber die Protagonistin für die Einführung war ein Mitglied Ihrer Fraktion.
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Ich erteile der Kollegin Rosel Neuhäuser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zu Herrn Lanfermann würde ich es natürlich befürworten, wenn wir hier über Haushalte von vier Ministerien beraten könnten. Dann würden wir auch sehen, wo die Ecken und Kanten dieser Etats liegen.
Anfang des Monats hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erklärt, das Ziel ihrer Politik wie der Bundesregierung insgesamt sei die Sicherung der Zukunftsfähigkeit dieses Landes. In diesem Kontext hat sie allen alles versprochen: den Familien mehr finanzielle Entlastung, den Kindern einen Kindergartenplatz und ein freundlicheres Wohnumfeld, Frauen und Männern die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, den Frauen eine aktive Gleichberechtigungspolitik, den älteren Menschen Förderung und partnerschaftliches Zusammenleben und der Jugend eine Perspektive.
Wer sich soviel vornimmt, muß es sich auch gefallen lassen, daß wir genau an diesem Anspruch den Haushaltsentwurf zum Einzelplan 17 messen, über den wir diskutieren. Der sieht leider ganz und gar nicht danach aus, als hätte die Bundesregierung die Problemstellung erkannt.
So hat z. B. vor kurzem eine Sachverständigenkommission einen ziemlich düsteren Bericht zur Lage der Kinder und Jugendlichen in den neuen Bundesländern vorgelegt, in dem von einer Angleichung der Lebensbedingungen der Jugendlichen in Ost und West keine Rede war. Obwohl auch Herr Waigel diesen Bericht kennen dürfte, hat ihn dies nicht daran gehindert, die Zuwendungen für Sondermaßnahmen der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern auf weniger als 50 % des Planes 1994 zu kürzen. Hier ist eins und eins nicht zwei, sondern hier ist eins und eins anderthalb.
Mit Auslaufen des jugendpolitischen Aufbauprogramms für die neuen Bundesländer sind der Jugendarbeit dort engere Grenzen denn je gesetzt. Das betrifft auch das Problem der zielgruppenorientierten Prävention, die für Jugendliche von besonderer Relevanz ist.
Wenn es darum geht, Gründe für eine weitere Stärkung des Repressionsapparates zu finden, wird die Gefahr der angeblich besonders gewaltbereiten Jugend, der orientierende Werte und Normen fehlen, an die Wand gemalt. Aber sobald es um Gelder für die vorbeugende Arbeit geht, wird das Ganze individualisiert und werden die Möglichkeiten für die vorbeugende Arbeit beschnitten, statt sie zu erweitern.
({0})
Damit und mit der laufenden Aushöhlung des Sozialstaates aber setzt die Bundesregierung selbst soziale Ursachen für die Entwicklungen im Kinder- und Jugendbereich, die sie öffentlich scheinheilig beklagt. Das nenne ich zynisch; denn nach dem Jugendbericht von Frau Nolte müßten hierzulande alle Alarmglocken läuten, weil eine gefährdete Jugend eine gefährdete Zukunft voraussagt.
({1})
Meine Damen und Herren, sowohl in der Koalitionsvereinbarung als auch in der Regierungserklärung wurde die Familienpolitik zu einer der wichtigsten Schwerpunktaufgaben gezählt, und naiverweise könnte man annehmen, daß sich dies auch in konkreten Maßnahmen widerspiegeln müßte.
Aber bereits die Ankündigungen von Herrn Waigel zur künftigen Besteuerung des Existenzminimums zeigen deutlich, wie geduldig das Papier ist. Nicht jede Familie vergleichbarer Größe wird steuerlich auch gleich entlastet, sondern die Besserverdienenden sind erneut gleicher als die weniger Begünstigten.
({2})
Erstere können sich nicht nur ein Kindermädchen leisten, dessen Lohnkosten steuerlich absetzbar sind, sondern sie werden auch deutlich stärker entlastet als diejenigen, die es wirklich nötig hätten.
({3})
Der Entwurf zum Haushalt 1995 setzt diese Politik fort, indem die Förderung zentraler Maßnahmen der Familienarbeit - also das, was in Bundeshoheit an Zuschüssen vergeben wird - ebenfalls ein Opfer Waigelscher Rotstiftpolitik wird.
Interessanterweise betreffen die Streichungen, wenn auch nur in geringem Umfang, auch die institutionelle Förderung solcher freien Träger, die für die vorgesehene Pflichtberatung vor Schwangerschaftsabbrüchen zuständig sind. Offenbar ist der Bundesregierung der sogenannte Schutz ungeborenen Lebens zwar teuer, aber kosten darf er nichts.
Ich könnte den Einzelplan 17 noch in weiteren Punkten, wie z. B. dem Teil Zivildienst, darauf untersuchen, welche politischen Motive sich hinter Streichungen oder Zuschüssen verbergen. Aber das Ergebnis wäre ähnlich enttäuschend. Statt dem Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend neben inhaltlichem Gigantismus auch ein größeres Stück aus dem Haushaltskuchen zuzugestehen, passiert das Gegenteil. Wohltönenden Reden über soziale Maßnahmen für die Bevölkerung stehen keine adäquaten finanziellen Mittel gegenüber.
Frau Kollegin, bitte einen Schlußsatz!
Um im Ton der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu bleiben, möchte ich meine Ausführungen mit dem Satz beenden: Ohne Moos nix los.
({0})
Herr Kollege Walter Link, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Frau Bundestagspräsidentin hat gestern abend bei der Konstituierung unseres Ausschusses Familie, Senioren, Frauen und Jugend gesagt: Nun ist wieder zusammen, was zusammengehört. Ich denke, daß diese Aufgabenfelder, wie wir sie im Ministerium, in unserem Ausschuß und in unseren Arbeitsgruppen vorfinden, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, gute Gelegenheit geben, uns in den nächsten Monaten und Jahren über den richtigen Weg auseinanderzusetzen.
Ich will zu Beginn meiner Rede einiges zur Seniorenpolitik sagen, weil ich denke, daß sie heute hier bei den Politikfeldern ein bißchen kurz gekommen ist. Unserem Ministerium stehen für den Haushalt 1995 insgesamt 33 Milliarden DM für diese Arbeitsfelder zur Verfügung. Was bei der Jugendarbeit seit vielen Jahren selbstverständlich war, nämlich daß wir einen Bundesjugendplan hatten, den wir hier im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, ist nun endlich auch bei den Alten, bei den Senioren, vorhanden: ein Bundesaltenplan.
Frau Ministerin, ich möchte mir die Anmerkung erlauben: Vielleicht sollten wir einmal gemeinsam überlegen, ob wir in Zukunft diesen Bundesaltenplan nicht Bundesseniorenplan nennen, weil das die Bezeichnung nicht nur des Ministeriums ist, sondern auch die gängige Bezeichnung für die Gruppe unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger.
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Lassen Sie mich zu einer zukunftsorientierten Seniorenpolitik einiges sagen. An die Spitze einer zukunftsorientierten Seniorenpolitik gehört, daß die Menschen im Alter in großer Selbständigkeit leben wollen und entscheiden können. Seniorenpolitik muß zur Emanzipation unserer älteren Generation beitragen. Eine wesentliche Voraussetzung für ein erfülltes Leben unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger ist, daß sie in ihrem dritten Lebensabschnitt eine gesicherte Rente haben.
Obwohl die Menschen immer älter werden - das ist gut so -, sind sich die Sozialpartner und Gutachter bei uns in der Bundesrepublik darüber einig, daß die Renten auch in Zukunft finanzierbar bleiben.
Der Gesetzgeber hat die Voraussetzung dafür geschaffen, Teilzeitarbeit und Teilzeitrente zu kombinieren. Das ist eine Chance, das bisherige Denken in der Arbeitswelt aufzubrechen, nach dem Menschen von heute auf morgen von Vollarbeit auf Nullarbeit umgeschaltet wurden. Mit Teilrente und Teilzeitarbeit ist ein sanfter Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand möglich. Das liegt im Interesse unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Aus der Medizin kennen wir den Pensionsschock: In der Arbeitswelt waren sie wer, und nun fühlen sie sich oft als Ballast. Ein sanfter Übergang von der Arbeitswelt in den Ruhestand hat von daher sehr viele Vorteile. Es gäbe keinen Verdrängungsprozeß jung gegen alt, und der ältere Arbeitnehmer könnte mit seiner Berufs- und Lebenserfahrung den jüngeren Arbeitnehmern helfen.
Zukunftsorientierte Seniorenpolitik muß deutlich dem Aspekt Humanisierung des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben Rechnung tragen. Sinnvolle nachberufliche Tätigkeitsfelder, z. B. als Berater oder im Ehrenamt, müssen vermehrt angeboten werden. Hier sind in der Tat die Länder und Kommunen stark gefragt.
Die Bundesregierung hat mit Unterstützung der Koalition als Modellversuche Seniorenbüros in den Ländern eingeführt. Seniorenpolitik sollte auch Hilfe zur Selbsthilfe fördern.
Des weiteren müssen wir die Logistik, also Wohnungsbau, öffentlichen Nahverkehr und Städteplanung - um nur einige Punkte zu nennen -, auf eine veränderte Bevölkerungsstruktur hinsichtlich einer größeren Seniorengruppe umstellen und anpassen.
Wenn man bei uns in Deutschland über Seniorenpolitik spricht, darf man nicht vergessen - ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt -, daß die erste Generation unserer Gastarbeiter ins Rentenalter kommt und sich viele darauf vorbereiten, den Ruhestand in Deutschland zu verbringen. Viele Gastarbeiter haben so geringe Renten, daß sie trotz hoher DM-Kaufkraft ihren Lebensunterhalt nur schwer in ihrem Heimatland aufbringen können. Viele sind auf Sozialhilfe oder Unterstützung durch ihre Kinder angewiesen. Wir sehen: Hier kommt in Zukunft sehr viel auf die Einrichtungen der Altenhilfe zu.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, einige Anmerkungen zur Familienpolitik. „Klarer Vorsprung für die Familie" heißt die Devise in dieser unserer neuen Legislaturperiode.
({1})
Walter Link ({2})
Wir nehmen das Wort unserer Kirchen, der evangelischen und der katholischen Kirche, sehr ernst.
({3})
Wir werden über das Papier, das sie herausgegeben haben, diskutieren und werden entscheidende Konsequenzen daraus ziehen.
({4})
Ich sage hier noch einmal: Die Familie darf nicht länger im Beiboot der Arbeitsgesellschaft sitzen. Neue Techniken und Flexibilisierung der Arbeitswelt
({5})
müssen vor allem dazu dienen, Erwerbsarbeit und Familienarbeit zu versöhnen. Darauf haben die Kollegin Eichhorn und die Frau Bundesministerin schon hingewiesen. Richtig ist, daß der Staat gewährleisten muß - wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat -, daß das Existenzminimum für Kinder steuerfrei bleibt. Die Familienpolitik muß aber auch berücksichtigen, daß die Familien durch die Erziehung der Kinder einen unverzichtbaren und entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft leisten. Familien sind Leistungsträger, wenn nicht sogar die Leistungsträger unserer Gesellschaft.
Familienpolitische Aufgaben können nicht allein durch die Steuerpolitik erfüllt werden. Für die Qualität der Familienpolitik kommt es darauf an, daß die Gesamtwirkung der staatlichen Familienpolitik im Vordergrund zu stehen hat,
({6})
d. h., daß es neben der Verbesserung der steuerlichen Förderung der Familie dringend notwendig ist, die staatlichen Hilfen wie Kindergeld, Erziehungsgeld oder Wohngeld - um nur einige zu nennen - entscheidend zu verbessern und ihre Höhe - das werden Sie von der Opposition sehr gerne hören - am Einkommen und an der Kinderzahl auszurichten ist.
({7})
Entscheidend ist außerdem, daß diese Leistungen in regelmäßigen Abständen an die wirtschaftliche Entwicklung angeglichen werden müssen.
({8})
Ich möchte meine heutige Haushaltsrede mit einer Zusage der Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion an Sie, Frau Bundesministerin Nolte, schließen. Wir werden Sie bei einer engagierten Frauenpolitik,
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einer zukunftsorientierten Jugendpolitik, einer gerechten Familienpolitik und einer verantwortlichen
Behandlung der schwierigen Aufgabe der Seniorenpolitik tatkräftig unterstützen. Wir, die Koalition, laden die Opposition ein, dabei zu helfen. Frau Ministerin, Ihnen wünschen wir eine glückliche Hand und Gottes Segen in Ihrem schönen und schweren Amt.
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Herr Kollege Fischer, es kommt sehr entscheidend auf die Schönheit der Stimme an.
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Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Bundesministerium für Gesundheit. Ich erteile dem Bundesminister Horst Seehofer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Link, da kann blanker Neid aufkommen: Mir hat noch kein Mediziner Gottes Segen gewünscht, geschweige denn ein Parlamentarier.
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Der Haushalt des Bundesministers für Gesundheit gehört eher zu den kleinen Einheiten des Bundeshaushalts insgesamt. Die politisch relevanten Bereiche werden von der Sozialversicherung bzw. den Kommunen finanziert. Deshalb möchte ich mich auf vier Punkte beschränken, die für den Bundeshaushalt nicht so sehr von Bedeutung sind, uns in den nächsten Monaten politisch aber besonders beschäftigen werden.
Erster Punkt ist der Bericht des Aids-Untersuchungsausschusses. Dieser Bericht wurde ja vor wenigen Wochen vorgelegt. Er wird uns hier im Parlament im Januar noch im Detail beschäftigen. Deshalb möchte ich jetzt nicht auf die Einzelheiten eingehen, sondern nur sagen, daß ich das Ergebnis respektiere, daß ich das Ergebnis für richtig halte. Lassen Sie mich die Gelegenheit benutzen, noch einmal ein Jahr zum sogenannten Aids- und Bluterskandal im September/ Oktober/November 1993 zurückzublenden. Damals gab es ja in der Bundesrepublik Deutschland nicht wenige - auch der Präsident der Bundesärztekammer war darunter -, die der Meinung waren, der Bundesgesundheitsminister würde eine HIV-Show veranstalten, das ganze würde nur der Selbstprofilierung des Ministers dienen. Wer heute den Bericht des Untersuchungsausschusses nachliest, muß beBundesminister Horst Seehofer
drückend feststellen, daß es eigentlich noch viel schlimmer gekommen ist, als vor einem Jahr befürchtet.
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Wir sind, meine Damen und Herren, an die zügige Umsetzung der Empfehlungen des Untersuchungsausschusses gegangen, was die gesetzgeberische, die administrative Umsetzung und die Empfehlungen des Berichtes betrifft, und auch an die sehr schwierigen Fragen der Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen. Ich möchte das Ziel anstreben, daß wir innerhalb des ersten Vierteljahres 1995 die notwendigen Entscheidungen treffen. Ich sage hier nur soviel: Es werden ganz, ganz schwierige Geschäfte und Verhandlungen, weil es ja auch um sehr viel Geld geht.
Der zweite Punkt betrifft die Organspende. Wir haben jetzt durch die Grundgesetzänderung als Bund die Gesetzgebungskompetenz, bundeseinheitlich die Entnahme und Übertragung von menschlichen Organen rechtlich zu regeln. Wir sollten uns bemühen, in den nächsten Monaten diese rechtlichen Grundlagen zu schaffen; denn wir stellen einen dramatischen Rückgang der Bereitschaft in der Bevölkerung fest, sich für die Organspende zu entscheiden. Ich denke, wir können nicht länger einen Zustand hinnehmen, wo auf der einen Seite Tausende in dieser Republik darauf warten, daß ihnen durch eine Organspende das Leben gerettet wird oder Leiden gelindert werden, und auf der anderen Seite haben wir eben diese Erscheinung, daß die Organspendebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland durch die Diskussion der letzten Monate dramatisch zurückgegangen ist. Wir registrieren, daß die ursprüngliche Spendebereitschaft, die in der Bevölkerung einmal bei 90 Prozent der Befragten lag, sich zwischenzeitlich auf 50 bis 60 % zurückentwickelt hat.
Ich denke, daß eine saubere rechtliche Grundlage für die Organentnahme und für die Organtransplantation diese Spendebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland wieder erhöhen kann. Deshalb werde ich anstreben, bereits in den ersten Wochen des Jahres hierzu einen Gesetzentwurf vorzulegen. Mir schwebt vor, daß wir zwischen den Fraktionen im Deutschen Bundestag einen Konsens erzielen;
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denn nur wenn wir einen Konsens erzielen, meine Damen und Herren, und dieses Thema nicht emotional kontrovers in der Öffentlichkeit diskutieren, haben wir die Chance, die Spendebereitschaft in der Bevölkerung wieder zu erhöhen.
In jedem Fall sollten wir uns an den Eckpunkten orientieren: Bestrafung des Organhandels. Die Entnahme von Organen darf nicht zur Geschäftemacherei mißbraucht werden. Wir sollten uns sehr stark am Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen orientieren und, meine Damen und Herren, wir müssen ganz klare medizinische Kriterien für die Vergabe der knappen Organe entwickeln. Es ist auch nicht unbedingt positiv für ein reiches Land wie die Bundesrepublik Deutschland, daß wir bis zur Stunde ein Importland bei den Organen sind. Das heißt, wir importieren für die Organverpflanzung mehr Organe, als umgekehrt von Menschen in der Bundesrepublik Deutschland für andere Länder Organe zur Verfügung gestellt werden.
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Das ist auch ein unwürdiger Zustand, den wir hoffentlich mit einer sauberen rechtlichen Grundlage im Konsens beenden werden.
Drittens: Sozialhilfe. Die Sozialhilfe muß grundlegend reformiert werden. Bei diesem Ziel bleibe ich. Wir sind jetzt dafür auch zuständig, wobei ich hier eines noch einmal wiederholen möchte: Es bleibt beim Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. Diese Errungenschaft Anfang der 60er Jahre ist eine historische Weichenstellung in der Sozialpolitik gewesen - eine historische Weichenstellung, die die Union getroffen hat. Es wird keine linearen Kürzungen von Sozialhilfeleistungen geben. Das stelle ich vorneweg.
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Schon gar nicht denken wir daran, in bezug auf die Behinderten, Pflegebedürftigen und Kranken - für sie werden die meisten Aufwendungen in der Sozialhilfe aufgebracht - irgend etwas zum Nachteil der Betroffenen zu verändern.
Auf der anderen Seite gibt es unzweifelhaft auch einige Ungereimtheiten in diesem Bereich. Ich nenne erstens die Tatsache, daß sich die Zahl der Hilfeempfänger bei der Hilfe in Einrichtungen seit Bestehen des Sozialhilferechtes auf etwa 1,5 Millionen verdoppelt hat. Das wäre an und für sich nicht dramatisch, weil sich auch qualitativ einiges verbessert hat. Nur, meine Damen und Herren, die Kosten für die stationären Einrichtungen sind um das 30fache gestiegen. Deshalb müssen wir uns, ähnlich wie in der deutschen Krankenversicherung, der Kostenexplosion in stationären Einrichtungen zuwenden.
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Zweitens. Wir müssen nach dem Jahre 1996 dafür sorgen - erst dann, weil die Steigerungsraten der Regelsätze ja ohnehin begrenzt sind -, daß die Regelsätze in der Sozialhilfe nicht stärker steigen dürfen als die verfügbaren Nettolöhne der Arbeitnehmer. Ich denke, das sind Überlegungen für eine zumutbare Reform.
Drittens. Wir sehen uns einer ganzen Reihe von Fragen schwieriger Abgrenzung zwischen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gegenüber. Das muß bereinigt werden.
Viertens. Sozialhilfe ist nachrangig, Selbsthilfe ist vorrangig. Bei aller differenzierten Betrachtung unseres Sozialstaates gehört auch zur Wahrheit, daß es innerhalb der Gruppe der Sozialhilfeempfänger Menschen gibt, die diese Selbsthilfe nicht in ausreichendem Maße einbringen.
Ich vermag nicht nachzuvollziehen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland alljährlich 1 Million allgemeine Arbeitserlaubnisse gibt, bei denen die Arbeitsverwaltung zu dem Ergebnis kommt, daß ein deutscher Arbeitnehmer für diese Arbeit nicht zur Verfügung steht. Ich möchte jetzt nicht ankündigen, daß es gelingt, bei der Erteilung von allgemeinen Arbeitserlaubnissen 1 Million Sozialhilfeempfänger in Arbeit zu bringen. Aber wir sollten uns vor dem
Hintergrund, daß es viele junge Sozialhilfeempfänger gibt - zwischen 20 und 40 Jahre alt -, die als Grund für den Sozialhilfebezug Arbeitslosigkeit angeben, schon bemühen, einen Teil von ihnen in Arbeitsplätze zu vermitteln, bei denen wir heute allgemeine Arbeitserlaubnisse mit der Begründung erteilen, ein deutscher Arbeitnehmer stünde nicht zur Verfügung.
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Des weiteren müssen wir Anreizstrukturen verstärken. Manches steht schon im Gesetz; aber das muß noch verbessert werden.
Vierter Punkt, Gesundheitsreform: Durch die letzte Gesundheitsstrukturreform, die gemeinsam mit der Opposition beschlossen worden ist, haben wir einen ganz entscheidenden Beitrag dazu geleistet, daß das deutsche Gesundheitswesen hinsichtlich der Qualität und des Ausmaßes des sozialen Schutzes im Falle der Krankheit im weltweiten Vergleich absolut an der Spitze steht. Dennoch, meine Damen und Herren, brauchen wir im Hinblick auf die ständig steigende Lebenserwartung, den medizinischen Fortschritt und vieles andere mehr in den nächsten ein bis zwei Jahren noch eine zusätzliche Gesundheitsreform. Ich lade dazu ein, daß wir diese in Partnerschaft mit allen Beteiligten durchführen. Aber auch hier sage ich wieder: Wir brauchen die Grundprinzipien unserer deutschen Krankenversicherung nicht auf den Kopf zu stellen. Es reicht, wenn wir sie klug und organisch fortentwickeln.
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Deshalb bleibt es bei der qualitätsorientierten, bei der sozialorientierten Krankenversicherung.
Ich möchte der Selbstverwaltung noch mehr Freiheiten einräumen, die Dinge vor Ort selbst zu regeln. Wir als Parlament haben den Auftrag, dafür zu sorgen, daß die Qualität, die Versorgung, die soziale Dimension stimmen - das werden wir tun - und daß dabei die Beiträge stabil bleiben. Nur das werden wir regeln. Innerhalb des so freiheitlich bestimmten Gesundheitswesens sollten Mediziner und Krankenkassen dann die Details vor Ort regeln.
Ich hoffe, daß die Menschen, die mich drei Jahre lang kritisiert und gesagt haben, ich sei der letzte lebende Sozialist in der Bundesrepublik Deutschland, nicht plötzlich Angst bekommen, wenn ihnen in der nächsten Gesundheitsreform mehr Freiheit übertragen wird.
Ich bedanke mich.
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Herr Kollege Horst Schmidbauer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor genau zwölf Monaten kam ich in mein Wahlkreisbüro zurück. Da stand das Ehepaar Fischer. Kaum hatte ich die Tür geschlossen, offenbarte sich das Ehepaar und teilte mit, daß sie - beide über 50 Jahre alt - HIV-positiv seien.
Der Grund war: 1985 hatte sich Herr Fischer nach einer Marcumar-Behandlung mit dem Produkt PPSB infiziert. Dann ging sein Weg in acht Jahren durch sieben Krankenhäuser, bis 1993 die Diagnose feststand: Aids. Weil er nicht informiert war, nicht informiert wurde, hatte er in der Zwischenzeit, ohne es zu wissen, auch seine Frau infiziert.
Genau zwölf Monate später stellt sich nun heraus, daß sich die Situation der Fischers, auch die finanzielle Situation, radikal verschlechtert hat. Denn das Schicksal hat ihnen einen doppelten Nackenschlag versetzt: erstens den Tod auf Krankenschein; zweitens erhalten sie keine finanzielle Unterstützung aus der Soforthilfe. Sie fallen unter die Ausschlußfrist, derzufolge nach dem 30. Oktober 1993 praktisch keine Infektionen für die Soforthilfe anerkannt werden können.
Die Fischers haben mir dazu vor ein paar Tagen geschrieben, und ich habe gedacht, daß ich dem Bundestag einmal zur Kenntnis geben muß, was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht. Sie schreiben:
Haben Sie, Herr Schmidbauer, dafür Verständnis? Sie haben sich doch immer dafür eingesetzt, daß alle Geschädigten gleichbehandelt werden. Wir sind etwas niedergeschlagen über den Sachverhalt, der vorliegt ... Bekannte fragen uns jetzt: Wo sind denn eure Herren Politiker aus Bonn jetzt? Die haben euch doch nach der Wahl vergessen.
Dieser Spott tut uns sehr weh. Weitere Belastungen sind für uns nicht mehr zu ertragen ... Der Gesundheitszustand wird immer schlechter, und wir wissen nicht, wie lange wir die Kraft zum Kämpfen aufbringen können ...
Ich denke, Sie haben verstanden, meine Damen und Herren, was in den Menschen vorgeht, welche Gefühle sie haben.
Ich sage, Herr Minister: Diese ungerechte Ausschlußfrist muß weg. Für das Geld hat der Bundestag gesorgt. Für 1994 sind die Mittel nicht ausgeschöpft, und trotzdem bleiben Menschen wie die Fischers ausgesperrt. Worauf warten Sie denn noch? Handeln Sie! Ändern Sie die Richtlinien sofort! Sorgen Sie dafür, daß die Ausschlußfrist nicht länger zu einer Spaltung der Opfer führt!
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Aber nicht nur meine Fischers setzen auf den Bundestag. Mit ihnen warten, hoffen und bangen weitere 2 500 Opfer und ihre Familien darauf, daß sie die versprochene Entschädigungsregelung bekommen, und zwar noch zu ihren Lebzeiten. Denn leider sind über 700 von ihnen bereits verstorben, und jede Woche stirbt ein weiteres Opfer.
In der Aufgabenstellung sind wir uns im Bundestag einig gewesen. Aber es geht hier um die Glaubwürdigkeit. Die Glaubwürdigkeit wird sich daran entscheiden, ob wir rasch handeln. Wir müssen spätestens im zweiten Quartal 1995 eine Entschädigungslösung auf den Tisch legen können.
Horst Schmidbauer ({1})
Ich will die für den Januar vorgesehene Debatte über den Schlußbericht des Untersuchungsausschusses nicht vorwegnehmen. Die Lösung, eine Entschädigungsregelung, wollen wir gemeinsam. Dieses gemeinsame Handeln verlangt aber nach Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit wird nur dann gewährleistet, wenn auch die Bundesmittel im Haushalt 1995 eingestellt sind.
Es geht um die finanzielle Basis, um den finanziellen Anteil des Bundes, für den er Vorsorge treffen muß. Im Einzelplan 15 sind dafür keine Mittel zu finden. Auch an anderen Stellen des Haushaltsentwurfs finde ich nichts. Eine klare Aussage ist also überfällig.
Mit einer Entschädigung für die Opfer der BlutAids-Katastrophe haben wir die Menschheitsgeißel Aids jedoch nicht aus der Welt geschafft. Am meisten haben mich betroffene Menschen beeindruckt; denn trotz aller Not zeigen sie Verantwortung für die Zukunft, dafür, daß nicht anderen ein gleiches Schicksal widerfährt. Der Kampf gegen Aids muß zur nationalen Aufgabe werden.
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Der Kampf gegen Aids verlangt nach konsequentem Handeln. Der Kampf gegen Aids verlangt nach Aufklärung und Prävention.
Grund zur Entwarnung gibt es nicht. Das sagen uns auch die Experten. Solange es keine Aids-Therapie gibt, bleiben Sicherheit, Aufklärung und Prävention die einzig wirksamen Instrumente.
Aber allem Anschein nach verfügt die Bundesregierung über andere Erkenntnisse. Anders ist nämlich die geplante Halbierung der jährlichen Mittel für die Aids-Präventionspolitik der Bundesregierung von zur Zeit von 20 Millionen DM auf 11 Millionen DM bis 1996 nicht zu verstehen. Bleibt es dabei, dann setzen Sie eindeutig ein falsches Signal.
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Bei den Mitteln für Vermeidung und Prävention Einschnitte zu machen, hieße am falschen Ende sparen. Das kann sich rasch als grobe Fahrlässigkeit entpuppen. Einsparungen zu Lasten eines Konzeptes, das sich bewährt hat, würden wir schon in wenigen Jahren doppelt und dreifach bezahlen. Bezahlen würden es aber vor allem die Menschen mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit.
Aids-Prävention ist und bleibt also zentrale Aufgabe, und dabei wollen wir einen Gesundheitsminister haben, der an der Spitze der Aktiven steht. In diesem Zusammenhang möchte ich eine recht zutreffende Feststellung zitieren:
Die Betroffenen selbst können oft die besten Entscheidungen treffen, die besten Anregungen geben, ... weil sie tagtäglich persönlich erfahren, was es heißt, HIV-infiziert oder aidskrank zu sein. Die Stärkung dieser Strukturen und Initiativen ... sollte deshalb integraler Bestandteil aller politischen Überlegungen und Programme sein.
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- Sie von der CDU/CSU dürfen auch ruhig Beifall klatschen, denn dies sagte Bundesminister Seehofer auf dem Aids-Gipfel in Paris am 1. Dezember 1994.
Dieses Ministerwort noch im Ohr, versuchte ich im Einzelplan 15 entsprechende Ansätze zu finden. Vergeblich, selbst der Einsatz einer Lesehilfe brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Statt dessen Ausgabenkürzungen, Kürzungen bei der Projektförderung gerade dieser angesprochenen Initiativen und Rückzug des Bundes z. B. aus der Finanzierung der psychosozialen Betreuung von Aidskranken.
Ich komme zum Stichwort Frauen und Aids. Alarmierend ist, daß bei den Betroffenen der Anteil von Frauen überproportional wächst. Die Praxis bei der Hilfe für Frauen trägt dieser Entwicklung noch nicht Rechnung. Ich appelliere deshalb an den Bund, aber auch an die Träger der Organisationen und Selbsthilfegruppen, hier Abhilfe zu schaffen.
Nun zum Stichwort Sozialhilfe und Aids: Früher lebten HIV-Infizierte durchschnittlich nur noch sechs Monate, wenn sie am Vollbild Aids erkrankten. Heute leben Aidskranke dank der besseren medizinischen Versorgung und Betreuung durchschnittlich sechs Jahre. Deshalb sind die meisten von ihnen auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialhilfe ist aber nicht auf die erhöhten Bedürfnisse dieser Gruppe von chronisch Kranken zugeschnitten. Der Bund muß dieser Entwicklung Rechnung tragen und darf die betroffenen Kranken nicht ihrem Schicksal überlassen.
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Aids hat also von seinem Gefährdungspotential nichts verloren. Bei der Dramatik von Aids hat man aber die Dimension einer neuen Volksseuche übersehen. Aids hat den Blick für eine schleichende, aber nicht minder gefährliche neue Epidemie verstellt: die Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus.
Wir wissen über dieses Virus noch weniger als über HIV. Aber das, was wir wissen, müßte bei den Gesundheitsbehörden alle Alarmglocken schrillen lassen. Nur 50 % der Infektionswege sind bisher bekannt. Bei den bekannten Übertragungswegen benutzt das Virus die gleichen Wege wie das HIV. Experten rechnen bereits heute mit 500 000 Infizierten in der Bundesrepublik; die Bundesregierung spricht dagegen von „nur" 200 000.
Dabei ist die Gefährlichkeit von Hepatitis-C klar. Bei den meisten Infizierten verläuft die Infektion chronisch-aggressiv. Die Folgen sind Leberzirrhose und Leberkrebs. Mit jährlich 3 000 bis 4 000 Todesopfern wird in den nächsten Jahren gerechnet.
Bei der Dimension dieser neuen Volksseuche ist es müßig, ob man die Zahlen der Experten oder die der Bundesregierung zugrunde legt. Zur Gewißheit geworden ist, daß die Dunkelziffer hoch ist. Noch größer ist die Gleichgültigkeit, mit der die Gesundheitspolitik auf diese neue Bedrohung reagiert. Zur Gewißheit geworden ist: Die Epidemie wird kleingeredet, damit kein Handlungsdruck entsteht. Klar ist: Jede Mark für die Aids-Prävention ist gleichzeitig eine Mark für die Hepatitisprävention und damit doppelt gut angelegt.
Horst Schmidbauer ({6})
Zusammenfassend: Ein Blick in den Haushalt verrät meist mehr über die Programmatik als Regierungserklärungen. Ein Blick in den Haushalt verrät mehr über den Reformwillen einer Regierung als Reden auf Kongressen. Für uns ergibt sich aus dem Einzelplan 15 das eher nüchterne Fazit: Viel Staat ist mit diesem Haushalt nicht zu machen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute in erster Lesung zur Beratung anstehende Entwurf des Haushalts des Bundesministeriums für Gesundheit hat exakt ein Volumen von 803,545 Millionen DM. Die Ansätze des Jahres 1994 werden damit um rund 3 % unterschritten. In einer Zeit, in der in allen Haushaltssektoren Einsparungen notwendig sind, kann eine Ausnahme vom finanz- und haushaltspolitischen Konsolidierungsziel nicht zugelassen werden. Tatsache ist daher, daß es auch in der Gesundheitspolitik entscheidend darauf ankommt, knappe Ressourcen zielgenau, d. h. qualitätsorientiert, einzusetzen. Nur so kann und wird das gesundheitspolitisch Notwendige wie bisher realisiert werden können. Daß dies auch eines der Kernanliegen der dritten Reformstufe im Gesundheitswesen sein wird, liegt wohl auf der Hand.
Ich bin davon überzeugt, daß dieser Haushaltsentwurf eine geeignete Grundlage ist, um dieses gesundheitspolitische Ziel zu erreichen. Ich möchte Ihnen daher bereits jetzt anläßlich der ersten Lesung dieses Haushalts anbieten, gemeinsam bei den bevorstehenden Beratungen im Gesundheitsausschuß auf der Grundlage und im Rahmen dieses Haushalts offen und unvoreingenommen über diesen Etat zu diskutieren. Gemeinsam und, meine sehr verehrten Damen und Herren, nur gemeinsam werden wir notwendige gesundheitspolitische Verbesserungen finden.
Die gesundheitspolitischen Prioritäten werden durch diesen Haushaltsentwurf benannt. Die Ansätze sind für die wesentlichen Maßnahmen wieder fortgeführt, wenn auch teilweise auf reduziertem Niveau. Es wird -- ich sage dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit - wie bisher geben: Maßnahmen des Bundes auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, zur besseren Versorgung chronisch Kranker, auf dem Gebiet der Psychiatrie, auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs, zur Aids-Bekämpfung, zur Förderung der medizinischen Qualitätssicherung sowie zur gesundheitlichen Aufklärung.
Der Bund steht daher auch haushaltspolitisch zu seiner gesundheitspolitischen Verantwortung. Tatsache ist aber auch: Gesundheitspolitik ist gerade in den hier genannten Bereichen vor allem Landespolitik. Die haushaltspolitische Verantwortung der Länder und damit auch Ihre Verantwortung, meine Damen und Herren von der SPD, ist hier gefragt.
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Ich möchte aus dem Tableau, meine sehr verehrten Damen und Herren, zwei Themen stichwortartig herausgreifen, die mir besonders wichtig erscheinen. Auch ich habe in der 12. Legislaturperiode an den parlamentarischen Beratungen des 3. Untersuchungsausschusses teilgenommen. Der Abschlußbericht des Untersuchungsausschusses liegt nun vor und soll bereits, wie wir vom Minister gehört haben, mit Beginn des kommenden Jahres in erster Lesung beraten werden.
Wir sind fest entschlossen, die administrativen und gesetzgeberischen Konsequenzen aus diesem Ausschußbericht unverzüglich umzusetzen. Dabei geht es - deswegen spreche ich auch dieses Thema heute an - um eine weitere Soforthilfe für die HIV-infizierten Bluter, um die Frage der Verlängerung der Stichtagsregelung sowie um die Problematik der Einbeziehung der sogenannten Sekundärinfektionen. Ich glaube, wir sind alle einer Meinung, daß wir hier eine vernünftige Lösung finden müssen.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Koalition sieht wie die Regierung ihre Aufgabe darin, den Betroffenen eine akzeptable Lösung zukommen zu lassen; denn wir sind nicht bereit und können es auch nicht hinnehmen, daß gerade die wegen HIV-infizierter Blutprodukte Infizierten und Erkrankten aus welchen Gründen auch immer ohne - im wahrsten Sinne des Wortes - notwendige, insbesondere auch finanzielle Hilfe gelassen werden.
Das zweite Thema, das ich zum Schluß kurz ansprechen möchte, ist die anstehende und angekündigte Reform der Sozialhilfe. Ich habe mit besonderem Interesse verfolgt, meine Damen und Herren von der SPD, daß Ihr Führungspersonal, angeführt vom Parteivorsitzenden und sekundiert insbesondere von der Landesvorsitzenden der bayerischen SPD, die Relevanz des Themas und die Notwendigkeit der Reform der Sozialhilfe bejaht.
Herr Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Teilen Sie meine Ansicht, daß das Thema Aids angesichts der Tatsache, daß damit einmal eine AidsEnquete-Kommission und ein Untersuchungsausschuß hier im Haus beschäftigt waren und das zu langen Diskussionen Anlaß gab, ob wesentliche Grundrechte der HIV-infizierten Menschen eingeschränkt werden sollen, eindeutig eine gesundheitspolitische Aufgabe auf Dauer ist, die eine Bundeskompetenz beinhaltet?
Teilen Sie ferner meine Ansicht, daß eine Reduzierung der Mittel für die Aidsbekämpfung, insbesondere im Aufklärungsbereich - in der mittelfristigen Finanzplanung für 1997 auf 10 % des Ansatzes von 1987 -, der Bedeutung dieser Aufgabe nicht gerecht wird?
Volker Beck ({0})
Sind Sie mit uns auch der Ansicht, daß man diese Zahlen in der mittelfristigen Finanzplanung dringend ändern sollte?
Nein, der Auffassung bin ich nicht, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens. Der Bund hat primär die Aufgabe, Modellversuche zu starten. Es kann nicht angehen, daß die Länder immer die Kompetenz im Gesundheitsbereich haben wollen, dann aber, wenn es an das Bezahlen geht, von der Kompetenz nichts mehr wissen wollen.
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Zweitens. Es steht dem nichts entgegen, daß das, was speziell Aids angeht, einheitlich vom Bund aus laufen soll. Ich darf Sie bitten, einmal im Haushaltsplan im Kap. 1502 nachzuschauen. Dort stehen die Positionen Aufklärung, Forschung und Entwicklung, Unterstützung Geschädigter. Zusätzlich gibt es Mittel für den Aids-Koordinierungsstab im Ministerium, die Aidszentren usw. Wir werden also unserer Verantwortung, wie ich glaube, schon einigermaßen gerecht.
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Darüber, daß mehr Geld besser wäre, brauchen wir uns, glaube ich, nicht zu streiten. Aber man kann nur soviel Geld ausgeben, wie man einnimmt, und nicht mehr.
Zu dem zweiten Thema, der angekündigten Reform der Sozialhilfe: Ich hatte schon gesagt, daß die SPD hier mit an einem Strang zieht. Das berechtigt mich zu der Hoffnung, daß wir hier gemeinsam zu einem vernünftigen Ergebnis kommen können.
Lassen Sie mich für die Fraktion der CDU/CSU ganz klar sagen: Für uns kommt eine pauschale Kürzung der Sozialhilfe nicht in Betracht. Deshalb sind Erwartungen, daß im Rahmen der Sozialhilfereform Einsparungen in Milliardenhöhe im Jahr 1995 erzielt werden können, weit verfehlt.
Es darf nach meiner Auffassung auch keine Verschiebung zu Lasten der Gemeinden und der Kreise geben. Sie können sich daher, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, Ihren Vorwurf sparen, die Union würde zu Lasten der Armen und Ärmsten sparen. Das wird nämlich gerade nicht der Fall sein.
Es geht vielmehr darum, eine Verbesserung der Zielgenauigkeit und Gerechtigkeit des Sozialhilfesystems zu erreichen. Ich fordere Sie auf, daran mitzuarbeiten.
Recht herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marina Steindor.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesundheitsetat gibt sich relativ bescheiden; das ist richtig. Doch sollte diese Tatsache nicht davon ablenken, daß der Gesundheitsminister mit seinen ordnungspolitischen Maßnahmen einen Markt regelt, der fast soviel Geld umsetzt, wie der Bundeshaushalt insgesamt umfaßt.
Für meinen Geschmack, Herr Minister, hat Ihr Gesundheitsministerium einen merkwürdigen Zuschnitt. Mit Ihrem Haus und den aus dem Gesundheitshaushalt finanzierten Instituten können Sie nach meiner Auffassung keine umfassende Gesundheitspolitik machen. Bei der Auflösung des Bundesgesundheitsamts haben Sie auch noch das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene an das Umweltbundesamt abgegeben. Sie müssen zu umweltmedizinischen Themen, die Sie den anderen Ressortministern überlassen haben, schweigen.
Statt dessen haben Sie sich die hinsichtlich der Gesundheitspolitik völlig ressortfremde Regelung der Sozialhilfe an Land gezogen. Fast scheint es so, daß Sie sich darauf spezialisieren wollen, anderen vorzuschreiben, wie sie ihr Geld auszugeben haben, seien es Krankenkassen, Städte oder Landkreise.
Die Gentechnologie wiederum scheint in Ihrem Hause eine herausragende Rolle zu spielen. Lautstark haben Sie die Kennzeichnung von gentechnisch hergestellten Lebensmitteln gefordert; doch damit ist es bei weitem nicht getan. Die von der Europäischen Union im Novel-Food-Entwurf vorgeschlagene Genehmigungspraxis kann die gesundheitliche Unbedenklichkeit dieser Lebensmittel in keiner Weise gewährleisten. Da hilft auch eine Risikoerfassung und -bewertung im nachhinein bei einem Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin nicht. Wir halten nichts von diesem „Genfood".
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Trotz Kennzeichnungsgetöse haben Sie es zugelassen, daß gentechnisch hergestellte Aroma- und Zusatzstoffe in den deutschen Lebensmittelmarkt hineindiffundiert sind.
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Sie haben eine ganze Legislaturperiode hindurch verschlafen, das deutsche Lebensmittelrecht - zur Not im nationalen Alleingang - auf diese neuartigen Lebensmittel abzustellen, oder, was wir für die richtige Politik halten, deren Verbreitung zu untersagen.
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In der Gentechnologie betreiben Sie nach unserer Auffassung keine Politik zum Schutz von Mensch und Umwelt, sondern eine ökologisch und gesundheitspolitisch unverantwortliche Industriepolitik.
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Nun aber zur Gesundheitspolitik. Wir haben den Eindruck, daß Sie permanent Gesundheitspolitik mit Finanzpolitik verwechseln. So sehr Sie sich auch bemühen, Ihre Pläne schönzureden, es mehren sich doch die Hinweise, daß die Aushöhlung des Solidarsystems der gesetzlichen Krankenkassen geplant wird.
Medizinischer Fortschritt und demographischer Wandel müssen immer als Argument herhalten, warum man mit stärkerer Eigenvorsorge Geldreserven zur Finanzierung erschließen müsse. Hinter dieser Argumentation stecken Grundannahmen, die wir und auch die fortschrittlichen Listen in den Ärztekammern nicht teilen. Wir brauchen nämlich keine vordergründige Kostendämpfung, sondern eine grundsätzlich andere Medizin.
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Wir brauchen keine quantitative, sondern eine qualitative Gesundheitsreform.
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Die Berechnung ärztlicher Einzelleistungen, nach veranlaßter Diagnostik oder Symptomtherapie festgelegt, setzt per se eine inhumane Mengen-, Apparate- und Tablettenschwemme in Gang.
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Wir brauchen ein grundsätzlich neues Honorarsystem, das zeit- und fallorientierte Pauschalen enthält. Ob das frei, d. h. mit den Ärzteverbänden, vereinbart werden kann, bezweifle ich.
Die vorherrschenden Klagen der Patienten über das Gesundheitswesen - das ist das Wichtige in der Gesundheitspolitik - signalisieren das dringende Bedürfnis nach einer inhaltlichen Gesundheitsreform, die das Verhältnis zwischen Pflege und Technologie, zwischen Zuwendung und Technokratie und zwischen Selbsthilfe und Pharmakotherapie neu bestimmt.
Die Biomedizin orientiert den Arzt bzw. die Ärztin auf ein reduziertes Menschenbild. Leben wird in mechanistischen und neuerdings genetischen Modellen erklärt und Krankheit zu einem molekularbiologischen Defekt gemacht.
Frau Kollegin, es besteht der Wunsch des Herrn Seehofer nach einer Zwischenfrage.
Nein.
Nein? - Gut.
Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich komme auf noch einen Punkt; vielleicht bietet der noch viel mehr Diskussionsstoff.
Etwa 50 bis 80 % der Patienten, die in eine ärztliche Praxis kommen, leiden an psychosozialen Krisen und Konflikten. Wenn Sie immer auf den demographischen Wandel hinweisen, dann gehen Sie implizit davon aus, daß psychosoziale Befindlichkeiten und Altersgebrechen weiterhin bis zur Tablettensucht medikalisiert werden können. Ich habe den Eindruck, daß Sie bei der Beibehaltung der Festbeträge und der geplanten Positivliste im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Eigenbeteiligung und mit privaten Krankenversicherungen zusätzliche Gelder zur Absatzförderung der pharmazeutischen Industrie erschließen wollen.
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Sie wissen genau, daß die EU wettbewerbsfördernde Maßnahmen im Arzneimittelsektor plant.
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Die Deregulierung des Gentechnikgesetzes ist ein Baustein davon.
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Sie wissen, daß die EU-Kommission sich fragt, ob die Begrenzung der Gesundheitsausgaben in den Mitgliedstaaten die Zukunft der pharmazeutischen Industrie in Europa gefährdet. Sie wissen genau, daß sie die Auswirkungen der Arzeimittelpreiskontrolle auf das Funktionieren des Binnenmarktes überprüfen will. Aber es darf hier doch nicht um Pharmamarketing gehen. Bei den heute vorherrschenden Gesundheitsstörungen und Altersgebrechen brauchen wir in der praktischen Krankenversorgung im Sinne der Patienten und nicht der Industrie eine ärztliche Leistung, die mit möglichst wenig technischer Diagnostik, mit möglichst wenig Arzneimitteln und möglichst sparsamer Medizin Gesundheitsprobleme löst.
({3})
Wir brauchen statt profitorientierter Kleinunternehmerärzte
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die Entwicklung von kleinräumigen, wohnbereichsnahen, ambulanten Gesundheitszentren, Gesundheitsförderung und die Unterstützung von Selbsthilfepotentialen.
Abschließend: Mit der deutschen Vereinigung sind die Polikliniken im Osten abgewickelt worden.
Es gibt noch einmal den Wunsch, eine Zwischenfrage stellen zu dürfen, diesmal von dem Abgeordneten Seehofer.
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- Kann man zulassen.
Das geht nicht zu Lasten meiner Redezeit?
Das geht nie zu Lasten der Redezeit. Deswegen halte ich die Uhr an.
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Wenn Sie, Herr Minister, sich so darum bemühen, eine
Frage zu stellen, ehrt mich das regelrecht. Dann lasse ich sie doch zu.
Frau Kollegin, es ehrt auch mich, daß Sie mir die Barmherzigkeit entgegenbringen, daß ich Ihnen eine Frage stellen darf.
Sie haben jetzt einige Minuten lang Kritik an der Gesundheitspolitik der Koalition geäußert, und Sie sind Ärztin. Könnten Sie meine Auffassung teilen, daß all die Punkte, die Sie gerade als Vorwurf an die Gesundheitspolitik der Koalition formuliert haben, sich ausschließlich an die Adresse der deutschen Ärzte richten, von der Art und Qualität der Versorgung, von der Verordnung der Medikamente bis hin zum Abrechnungsmodus und zum Honorarmaßstab? Denn die Honorierung der deutschen Ärzte, die Sie kritisieren, haben die deutschen Ärzte selbst festgelegt.
({0})
Marina Steindor: ({1}): Sie mögen noch mehr schmunzeln: Ich habe mich schon auf diese Frage eingestellt. Sie wissen genau, daß die Ärzteschaft in dieser Frage gespalten ist. Ich habe mit Absicht vorhin als Replik auf das, was Sie ausgeführt haben, nämlich daß Sie eine Gesundheitsreform in Freiheit durchführen möchten, gesagt: Ich habe da meine Zweifel. Ich habe mit Absicht auf den profitorientierten Kleinunternehmerarzt hingewiesen. Ich persönlich halte die Form der Medizin, die wir haben, in bezug auf die Abrechnung nicht für richtig.
({2})
Ich bin für ein anderes System.
Ich hoffe, Frau Präsidentin, Sie erlauben mir jetzt meinen Schlußsatz. Er lautet: Wir müssen uns trotz der Abwicklung der Polikliniken im Osten die Frage stellen, ob wir nicht aus überkommenen Standesinteressen ein gesundheitspolitisches Zukunftsmodell abgewickelt haben.
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Jetzt bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich wieder zu einer Jungfernrede gratulieren muß. Ich tue es einmal vorbeugend im Namen des Hauses.
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Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Haushaltsentwurf für diesen Geschäftsbereich sieht einen Umfang von 803 Millionen DM vor. Das sind rund 57 Millionen DM weniger als im vergangenen Jahr. Vier Beispiele möchte ich anführen.
In diesem Entwurf werden die Mittel für die Aidsbekämpfung um 7 Millionen DM gekürzt. Zweitens sollen - was bisher nicht erwähnt wurde - auch bei der Krebsbekämpfung Einsparungen erzielt werden. Im letzten Jahr standen 46 Millionen DM zur Verfügung, gegenwärtig 32 Millionen DM. Drittes Beispiel: Die Bundesregierung will den deutschen Beitrag für die Weltgesundheitsorganisation von 51 auf 61 Millionen DM aufstocken. Viertens. Ich bin sehr dankbar, daß bei den Nachfolgeinstituten des Bundesgesundheitsamtes exakt aufgeführt wird, welche Beträge zur Verfügung gestellt werden.
Ich bekenne, bei drei Punkten besteht ein intensiver Diskussionsbedarf: bei den Kürzungen im Bereich der Aidsbekämpfung, bei den Kürzungen im Bereich der Krebsbekämpfung, und bei der Finanzierung der Institute. Über die Kürzungen im Bereich der Aidsbekämpfung und im Bereich der Krebsbekämpfung müssen wir im Ausschuß intensiv diskutieren, denn in diesen Bereichen besteht, wie hier angedeutet wurde, weiterhin ein großer Finanzbedarf.
Was mich besonders stört - dafür werden Sie Verständnis haben, wenn Sie an die letzte Reform denken -, ist, daß für das Institut „Arzneimittel in der Krankenversicherung" für 1995 2 Millionen DM angesetzt sind. In diesem Jahr waren 1,5 Millionen DM geplant. Ich weiß nicht, warum 500 000 DM mehr eingesetzt werden müssen, um dieses Institut zu finanzieren. Alle wissen, daß ich von diesem Institut sowieso nichts halte. Hier werden wir sicherlich mehr Bürokratie aufbauen, als notwendig ist, um den Arzneimittelmarkt vernünftig in Trab zu bringen.
({0})
Hierüber werden wir sicherlich noch intensiv diskutieren müssen.
Mir ist klar: Das Gesundheitsministerium muß einen Sparbeitrag bringen. Ich möchte einige Prioritäten für uns Liberale hier in den Vordergrund stellen. Priorität Nummer eins: Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker; zweitens - ein wichtiger Bereich; ich weiß , daß Sie diesen Bereich mit unterstützen -: psychisch Kranke, gerade auch in den neuen Bundesländern; dritter Bereich: kontinuierliche Betreuung von Krebskranken - hier können wir nicht kürzen. Der vierte Bereich wurde von allen Rednern schon angesprochen: Aids, Blutprodukte und die HIV-Infizierten. Hier müssen wir unser Wort halten, über den Soforthilfefonds hinaus Möglichkeiten zu eröffnen. Als letzten Punkt möchte ich betonen: Auch in der Drogenpolitik müssen wir weitere Überlegungen anstellen, was wir machen können. Auch hier, so meine ich, sind wir in der Pflicht.
Ich möchte sehr deutlich sagen, meine Damen und Herren von der SPD: Sie werfen der Koalition immer wieder vor, sie kürze in den einzelnen Bereichen. Sie vergessen dabei, daß sich die Länder sehr häufig aus der Verantwortung ziehen und nicht mehr bereit sind, ihre finanzielle Verpflichtung zu übernehmen, die sie eingegangen sind.
({1})
- Obwohl sie zuständig sind. - Das können wir als
Koalition und Bundesregierung nicht akzeptieren.
Hier muß die Aufgabenteilung klar akzeptiert werden, aber einschließlich der finanziellen Bedingungen, die festgelegt worden sind.
({2})
Wir werden sowieso nicht umhinkommen, darüber nachzudenken, ob nicht gewisse Aufgaben, die bisher auf den Staat abgeladen wurden, besser von Organisationen und Verbänden erfüllt werden könnten. Ich nenne hier den großen Bereich der Prävention. Denken Sie daran, daß allein durch falsche Ernährung schätzungsweise 114 Milliarden DM Nachfolgeschäden entstehen. Dies ist ein Bereich, dem wir uns unbedingt widmen müssen; denn hier können wir sicherlich langfristig Krankheitskosten einsparen.
({3})
Ich bin etwas erfreut, daß auch im Bereich der KV Bayern Ansätze gefunden worden sind, die präventiven Aufgaben im ärztlichen Bereich zu verstärken. Die Tatsache, daß ein Kursus „Ärztliche Gesundheitsförderung" eingerichtet wurde, ist ein Anfang.
Ein Problem, glaube ich, ist uns bisher nicht deutlich genug geworden - hier ist eine schleichende Entwicklung zu konstatieren -: In verschiedenen Bereichen gibt es eine Forschungsförderung, und wir stellen jetzt fest: Wenn bestimmte Forschungsvorhaben beendet sind, schiebt man weitere Aufwendungen sehr gern beispielsweise den Rentenversicherungsanstalten zu. Neuerdings sind auch die Krankenkassen bereit, Forschungsaufgaben zu übernehmen. Darüber müssen wir diskutieren. Ich sehe nicht ein, daß die Krankenkassen in einem bestimmten Umfang Gelder investieren, um Forschung zu betreiben. Das kann wegen der Lohnbezogenheit der Ausgaben nicht Aufgabe der Krankenversicherung sein. Für eine solche Verlagerung gibt es schon genug Beispiele. Ich lege Wert darauf, daß wir eine derartige Verschiebung auf Grund der Beitragssatzstabilität, die wir anstreben, nicht akzeptieren.
Lassen Sie mich zum Abschluß folgendes sagen: Es wurde von der dritten Stufe der Gesundheitsreform gesprochen. In meiner Haushaltsrede habe ich angedeutet, welche Überlegungen wir von seiten der F.D.P. anstellen werden. Ich freue mich ganz besonders - ich sage das an die SPD gewandt -, daß ich in einem Interview von Herrn Müntefering lesen konnte: Die Budgetierung zeigt die Grenzen der Planwirtschaft auf.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. sagt seit 20, 25 Jahren immer wieder: Budgetierung ist reine Planwirtschaft. Wenn Sie den anderen Weg der Vertragsgestaltung zwischen den Organen der Selbstverwaltung mitgehen wollen, sind wir auf einem guten Weg.
({4})
Wer das Interview analysiert, sieht, daß der Vertreter der Bundesländer, die die Mehrheit im Bundesrat haben, diesen Weg anscheinend mitgehen will.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Etat des Gesundheitsministers, der infolge der gegebenen Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern, Sozialversicherung und weiteren Trägern der medizinischen Versorgung ohnehin zu den kleinsten Teilhaushalten gehört, ist erneut empfindlich zusammengestrichen worden.
Noch im Jahre 1993 belief er sich auf etwas mehr als eine Milliarde DM. Regierung und Koalition haben es nun erreicht, diesen Minimalposten, mit dem die Bundesebene finanziell im Gesundheitsbereich verankert ist, auf nur noch 803,5 Millionen DM zurückzufahren.
Auch dieser Plan erweist sich damit als Teil einer Politik, nach der die Bundesregierung den ohnehin immer geringer gewordenen steuerfinanzierten Anteil an den gesamten Gesundheitskosten weiter zu Lasten der Solidargemeinschaft reduziert. Das aber geschieht in einer Zeit, in der die Systeme der sozialen Sicherung selbst in eine bedrohliche Krise geraten sind.
Während den Menschen im Lande unentwegt gesagt wird, daß sie für gesundheitliche und soziale Leistungen selbst immer mehr in die eigene Tasche greifen sollen, zieht sich der Bund noch weiter aus seiner Verpflichtung zurück. Das muß auch dann als prinzipielle Fehlentwicklung festgehalten werden, wenn es sich gemessen an den Gesamtaufwendungen des Gesundheitswesens nicht um allzu große Summen handelt.
Am empfindlichsten wirken sich die zahlreichen Kürzungen sicherlich bei den allgemeinen Bewilligungen aus, d. h. vor allem in jenem Teil des Haushaltes, mit dessen Hilfe das Bundesministerium in der Lage ist bzw. wäre, neuen Schwerpunkten und Entwicklungen in der gesundheitlichen Versorgung oder auch in der medizinischen Forschung Unterstützung zu geben.
Dies wirkt sich bekanntlich auch dann in oft überaus nutzbringender Weise aus, wenn es nur punktuell und gezielt geschehen kann. Um so mehr macht es betroffen, daß z. B. die hier eingesetzten Mittel für die Bewältigung der Aidsproblematik, aber auch die zur Krebsbekämpfung oder für eine bessere Betreuung psychisch und anderer chronisch Kranker erneut gekürzt werden sollen.
Im vorigen Jahr wurde mit Zuschüssen für die Forschung zur Erkennung und Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten immerhin noch eine neue Aufgabe in den Einzelplan 15 aufgenommen. Das war und ist eine zu begrüßende Entscheidung angesichts der oft gänzlich neuartigen und durchaus gefährlichen Herausforderungen auf diesem Gebiet. Unverständlich ist deshalb, daß die 1994 erstmals bereitgestellten Gelder im Umfang von nicht mehr als 2 Millionen DM in diesem Haushaltsjahr nicht etwa aufgestockt, sondern - ganz im Gegenteil - reduziert werden sollen. Auch ingesamt bleibt keinerlei Spielraum, um wenigstens einige dringend erforderliche neue Aufgaben innovativ aufnehmen zu können.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein solches Problemfeld ansprechen. Leistungskürzungen, Selbstbeteiligungen, Regel- und Wahlleistungen oder ähnlich beschaffene Instrumentarien werden die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitswesens nicht lösen können. Auch die gegenwärtige Budgetierungspolitik - das wissen auch Koalition und Minister - ist ein Notbehelf und kann auf Dauer nicht echte Strukturreformen ersetzen.
({0})
- Die SPD auch. Ich glaube, ich weiß es auch, obwohl ich noch neu bin; aber ich lerne.
Wer eine hochqualifizierte medizinische Versorgung auch künftig bezahlbar halten will, sollte bereits jetzt u. a. dafür Sorge tragen, daß für neue Strukturen und veränderte Denk- und Verhaltensweisen im Gesundheitswesen Entwicklungschancen geschaffen werden. Stichworte hierzu sind beispielsweise: kooperative Betriebsformen, hausärztliche Versorgung, fach- und berufsübergreifende Betreuung älterer Menschen, generell mehr psychosoziale Betreuung und anderes mehr.
Leider gibt es nach wie vor keine Modellprojekte, die bereits heute gefördert werden, damit sie zukünftig für effektivere Organisations- und Versorgungsformen richtungsweisend sein könnten, z. B. Modellprojekte, die die in der Praxis wichtigste Frage beantworten helfen, wie die vorhandenen Rationalisierungsreserven erschlossen werden können. Denn hier und nicht bei den kranken Menschen liegt in Wirklichkeit der entscheidende Ansatz, wenn - wie der Herr Minister selbst immer wieder berechtigt fordert - das Gesundheitswesen für die Anforderungen des Jahres 2000 fitgemacht werden soll.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesundheitswesen und die Sozialhilfe sind die Schwerpunkte des Einzelplans 15, zugleich aber auch die Schwerpunkte des Umbaus des Sozialstaats in dieser Legislaturperiode. Wir müssen unser Sozialhilfesystem umbauen, um den wirklich Bedürftigen helfen zu können. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Reichen würden die Zeche bezahlen, wenn die Sozialhilfeausgaben explodieren. Die Wahrheit ist: Es sind die wirklich Bedürftigen, die die Zeche zu bezahlen haben, weil wir dann ihre Probleme nicht lösen können.
({0})
Ein Umbau des Sozialstaates erfordert Mut. Ich selbst habe als Sozialsenator in den 80er Jahren in Berlin dafür gesorgt, daß Sozialhilfeempfänger gemeinnützige Arbeiten durchführen. Wie wenig die Bereitschaft bei den Kommunen dazu ausgeprägt ist, kann man daran sehen, daß jeder zweite Sozialhilfeempfänger, der gemeinnützige Arbeiten durchführt, dies in Berlin tut. Ich meine aber: Gegen Mißbrauch vorzugehen und die Gebote des Sozialhilferechts ernst zu nehmen ist eine ureigene Aufgabe der Sozialpolitiker.
({1})
Wer dies nicht anerkennt, der muß sich fragen, wie lange er empfindliche Lücken im Sozialhilferecht noch hinnehmen will. Es ist doch ein unwürdiger Zustand, daß Behinderte in den Werkstätten mangels entsprechender Hilfen auf ein Entgelt von knapp 2 DM pro Stunde angewiesen sind.
({2})
Es ist doch nicht in Ordnung, daß es trotz unbestreitbarer Erfolge in der Angleichung der Sozialhilfe im Verhältnis Ost und West noch immer geringere Rechte z. B. für Blinde, für Pflegebedürftige und für solche Sozialhilfeempfänger aus dem Osten gibt, die auf Hilfe in Einrichtungen angewiesen sind, von den Menschen, die aus Bescheidenheit oder Scham die ihnen zustehenden Sozialhilferechte nicht in Anspruch nehmen, ganz zu schweigen.
Ich finde, in Anbetracht dieser Tatsachen ist es nicht zuviel verlangt, dafür zu sorgen, daß dem Mißbrauch energisch entgegengetreten wird.
({3})
In Berlin haben wir übrigens gute Erfahrungen damit gemacht, den Sozialhilfeempfängern, die gemeinnützige Arbeiten durchgeführt haben, dann auch ein tragfähiges Angebot sozialversicherungspflichtiger Arbeit zu machen.
Bei der Sozialhilfereform wird es weiterhin darum gehen, Sozialhilfesystem, Sozialversicherungssystem und Arbeitssysteme besser miteinander in Einklang zu bringen.
({4})
Es liegt eine Studie von Professor Leibfried aus der Universität Bremen vor. Diese Studie muß sehr intensiv diskutiert werden; denn sie zeigt, daß in dem Kreis der Sozialhilfeempfänger eine erhebliche Bewegung ist. Sie zeigt ein Weiteres, daß nämlich die Sozialhilfe in sehr vielen Fällen ganz kurzfristig einspringen muß, weil andere Sozialversicherungssysteme die grundlegende Anspruchsberechtigung sehr lange prüfen. Aber Sozialhilfe ist doch nicht die Vorschußkasse für andere Sozialversicherungssysteme,
({5})
sondern Sozialhilfe ist nachrangig und nicht vorrangig.
Wir müssen dafür sorgen, daß wir, wenn am 30. Juni 1996 die Bestimmungen zur Deckelung des Regelsatzes auslaufen, dem Gesichtspunkt Rechnung tragen, daß Sozialhilfe eine bestimmte Relation zu dem verfügbaren Arbeitseinkommen haben soll. Das heißt aber auch, daß dies ein sehr guter Maßstab für die Entwicklung der Sozialhilfe ist.
Ich möchte noch ein Weiteres nennen - darüber werden wir sicherlich noch intensiv diskutieren -,
nämlich verbesserte Anrechnungsregelungen, um die Anreize zur Aufnahme von Arbeit zu erhöhen.
({6})
Das ist eine ganz wichtige Frage im Verhältnis von Arbeit und Sozialhilfesystem, auch um Langzeitarbeitslosigkeit entgegenzutreten.
({7})
Auch in der Gesundheitspolitik muß der Umbau weiter vorangehen. Ich finde, der Bundesgesundheitsminister hat die Richtung klar angegeben. Privatisierung der Lebensrisiken wie in Amerika oder Sozialisierung von Lebensrisiken wie in den ehemals sozialistischen Staaten können kein Vorbild sein. Bei der Fortentwicklung des Systems muß aber immer wieder neu geprüft werden, welche Leistungen solidarisch abgesichert werden müssen und welche Leistungen nicht.
Rationalisierungsreserven müssen gehoben werden. Ich kann als ehemaliger Gesundheitssenator in Berlin davon sprechen, daß viele Krankenhausbetten für den eigentlichen Zweck tatsächlich nicht gebraucht werden
({8})
und wie schwer es ist, da eine entsprechende Änderung vorzunehmen. Wir wissen, daß sehr viele Krankenhausbetten, insbesondere in den inneren Abteilungen, fehlbelegt sind. An dieses Problem muß man herangehen.
({9})
Das muß man deshalb tun, weil es auch im Gesundheitssystem natürlich auch Mängel und noch unerledigte Aufgaben gibt. Ich nenne ein Beispiel: das noch nicht verabschiedete Psychotherapeutengesetz. Gerade das wird ein wichtiges Feld sein, auf dem wir Zusätzliches tun müssen.
({10})
Ein zweites Thema. Die Tatsache, daß es trotz wirklich anerkennenswerter Leistungen im Zuge der Angleichung des ostdeutschen Gesundheitssystems an das westdeutsche Niveau noch immer Restriktionen bei der Inanspruchnahme westdeutscher Gesundheitseinrichtungen durch Ostdeutsche gibt, zeigt, daß hier etwas getan werden muß. In Berlin werden diese Restriktionen mit Beginn des neuen Jahres aufgehoben. Die Leute aus Pankow, aus Friedrichshain und aus Prenzlau können dann nach Charlottenburg, nach Wilmersdorf, nach Neukölln gehen, wo auch immer sie hinwollen, um den Arzt oder das Krankenhaus in Anspruch zu nehmen. Ich finde, es wäre gut, wenn wir im Zuge der Gesundheitsreform auch erreichen könnten, daß die Menschen aus Eisenach, aus Magdeburg, aus Wittstock und aus Rostock die Einrichtungen in Erfurt, in Hamburg, in Hannover und überall in Anspruch nehmen können.
({11})
Umbau des Sozialstaates kann und braucht keine Bedrohung für die Bedürftigen zu sein. Umbau des
Sozialstaates ist in Wirklichkeit die große Hoffnung für die wirklich Bedürftigen und die Chance, bisher ungelöste Probleme auch wirklich zu lösen.
({12})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Knaape.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesminister Seehofer, wir wissen, daß Sie ein Optimist sind. Wahrscheinlich haben Sie deshalb Ihre Rede vorausgerichtet und vier Punkte aufgezählt. Sie haben aber sicherlich nicht vorausgesehen, daß Sie heute aus den Reihen der Koalition angezählt werden und den ersten Tiefschlag erhalten. Sie können Ihre kämpferischen Qualitäten nun in Zukunft beweisen.
({0})
- Der Tiefschlag lag darin, daß Sie, Herr Thomae, eindeutig gesagt haben, daß in den Haushalten für die chronisch Kranken, für die psychisch Kranken, für die Krebskranken und für die Drogenpolitik Änderungen vorhanden sind, die sich nachteilig auswirken können. Das ist ein neuer Stil, der ein wenig verwirrt.
({1})
- Herr Zöller, Sie haben gesagt: Knappe Ressourcen qualitätsorientiert einsetzen und nur soviel Geld ausgeben, wie man einnimmt. Wer hat denn zwölf Jahre lang regiert? Das haben Sie nicht gesagt. Wer hat denn diesen Zustand herbeigeführt, den wir jetzt haben?
({2})
- Noch etwas anderes, Herr Bundesminister Seehofer. Sie haben auf die Frage von Frau Steindor geantwortet, man sollte die Schuld bei den Ärzten suchen.
({3}) Wer macht denn die Spielregeln für die Ärzte?
({4})
Ist da nicht die Bundesregierung verantwortlich? Hätten Sie nicht vielleicht auch auf ehemalige Gesundheitsminister den Blick richten sollen und sagen müssen: Warum haben die denn vergessen, die Spielregeln zu machen?
({5})
Soviel zu den vorhergehenden Ausführungen.
Ich möchte nun den Haushalt unter zwei Schlagworten abarbeiten, die aus der Koalitionsvereinbarung sind. Ich spreche von der Eigenverantwortung und von der Eigenvorsorge, von den prägenden SchlagDr. Hans-Hinrich Knaape
worten, die auch für die dritte Stufe der Gesundheitsreform charakteristisch sein sollen.
({6})
Was die Eigenvorsorge betrifft, so ist diese für die Personalausgaben trotz der sonst durchgehenden Streichungen sowohl für den Bundesminister und dessen Staatssekretäre als auch für die dem Ministerium unterstehenden Institute positiv, und die Steigerungen gegenüber 1994 sind insgesamt moderat.
Für die Eigenvorsorge für die dem Minister zugeordneten Bereiche aus dem Gesundheitswesen reicht es dann aber nicht mehr aus. Hier war der Haushalt die melkende Kuh des Finanzministers.
Zeichnet sich da bereits ab, daß Eigenvorsorge in Zukunft immer ein Griff in die eigene Tasche des Kranken sein soll? Es fielen alle Ausgaben - besonders auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge - dem Rotstift zum Opfer. Akzentuierte Verschiebungen innerhalb der Einzelhaushalte fallen auf. Positiv ist zu betonen, daß dort, wo Förderungen möglich sind, die Akzentverschiebung in diese Richtung ging. Das betonen wir, und das halten wir für gut. Es ist aber ein Tropfen auf den heißen Stein.
Nun zu dem, was Herr Zöller alles als positiv herausgestellt hat: Gesundheitliche Modellaktionen, die brennenden Bedürftigkeiten und Rückständen in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sowie in der Entwicklung des Gesundheitswesens Rechnung tragen sollen, erhalten weniger Mittel. Modellversuche auf dem Gebiet der Gesundheitshilfe fallen ebenso darunter wie Forschungen zur Erkennung und Bekämpfung der Infektionskrankheiten, obgleich diese eine auflebende Geißel für die Medizin sind und auch in der Aus- und Weiterbildung bisher vernachlässigt wurden.
Zuschüsse für Kongresse werden gestrichen. Soll so das internationale Niveau gehalten werden?
({7})
Bei den Maßnahmen zur Krebsbekämpfung kommt die Vorliebe fur die Stufenprogramme zum Tragen. Aber für die zweite Stufe, deren Maßnahmen später in die Regelversorgung überführt werden sollen, gibt es weniger Geld. Führen die Stufen in den Keller?
Das gleiche trifft für Modellmaßnahmen für chronisch Kranke zu. Auch dort ist Diskussionsbedarf vorhanden.
Bei den Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs sind ebenfalls drastische Kürzungen zu verzeichnen. Das Volumen des Gesamthaushalts in diesem Bereich ist um 6,2 % gegenüber 1994 abgesenkt worden. Allerdings sind durch eine Umverteilung der Titel die Mittel für Aufklärungsmaßnahmen um 5,1 % aufgestockt worden. Das ist fast die Hälfte des gesamten Titels. Aber es ist insgesamt zuwenig, um das Suchtproblem zu lösen.
1994 war die Koalition - durch eine Zwischenfrage wurde das ja damals hervorgehoben - noch auf eine Steigerung des Haushalts in diesem Bereich um 20 000 DM stolz. Heute senkt sie die Mittel in diesem Bereich insgesamt gegenüber dem Vorjahr.
Modellmaßnahmen in der Psychiatrie werden über die schon laufenden hinaus nur vereinzelt gefördert. Hier ist ein positives Beispiel zu nennen, das die Frau Staatssekretärin angeregt hat.
({8})
- Man muß auch etwas Positives sagen. Dort wird eine Einrichtung gefördert, in der süchtige schwangere Frauen aufgenommen werden. Dort werden sowohl diese als auch die Kinder nach der Geburt betreut und rehabilitiert. Für die Suchtforschung insgesamt ist das Geld um 10,9 % aufgestockt worden. Man muß jedoch die Ausgangssumme betrachten, die lediglich 2 Millionen DM betrug.
Bei den Finanzen für die Förderung der Qualitätssicherung bleibt alles wie gehabt: keine Streichungen, aber auch kein Teuerungsausgleich. Hingegen trägt der Bundesminister bei den Ausgaben für die internationalen Verpflichtungen der BRD der Teuerung Rechnung und gleicht wenigstens den Teuerungsanstieg aus. Das trifft auch für die internationale Zusammenarbeit zu. So wahren wir wenigstens nach außen hin den Schein der heilen Welt gegenüber der WHO.
Die Beträge für die überregionalen Versorgungseinrichtungen des Gesundheitswesens des Bundes werden zusammengestrichen, ebenso die Beträge für die Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie, hier gleich um 34,4 % gegenüber 1994. Gerade hier wären Förderung und Stützung für die neuen Bundesländer nötig gewesen.
Insgesamt ist der Haushaltsentwurf eine Offenbarung in der Hinsicht, daß für die staatlichen Aufgaben der Gesundheitsvorsorge vom Staat weniger Geld ausgegeben werden soll. Wird also doch der Griff in die private Geldbörse des Bürgers vorbereitet?
Nun zur Eigenverantwortung. Ist sie so zu verstehen, daß jeder für sich selbst verantwortlich ist und die Solidarität in der Gesundheitsversorgung draußen vor bleibt? Soll dies das Ergebnis von zwölf Jahren Gesundheitspolitik der Koalition sein? Wir verstehen Eigenverantwortung nicht eingleisig als moralischen Appell in dem Sinne, daß jeder für sich selbst sorge und bei Bedarf an Leistungen dann auf den persönlichen Besitz des Bedürftigen zurückgegriffen werde. Wir wollen den Grundsatz der Solidarität in der Gesundheitsversorgung nicht ausgehebelt wissen, sondern sehen die Eigenverantwortung des Bürgers für seine Gesundheit nur in dem Umfang, wie er sie intellektuell erfassen, überschauen und auch praktisch leben kann. Dafür wird sich die SPD im Bundestag und Bundesrat bei der Gesundheitsgesetzgebung in dieser Legislaturperiode einsetzen.
Schließen möchte ich mit dem Hinweis, daß in dem vorliegenden Haushalt des Bundesgesundheitsministers die Solidarität des Staates für die Kranken schwer zu erkennen ist. Aber wir werden sie gemeinsam mit der F.D.P. suchen, finden und aufbessern.
Ich danke Ihnen.
({9})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Das Wort hat der Minister Dr. Klaus Töpfer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau stehen in der 13. Legislaturperiode große herausfordernde Aufgaben. Sie sind in ihrer Breite nur mit wenigen Sätzen hier anzusprechen.
Wir stehen vor der Aufgabe, den in diesem Hohen Haus beschlossenen Umzug des Parlaments und von Teilen der Regierung von Bonn nach Berlin umzusetzen. Dies stellt eine Herausforderung für uns alle dar, in Berlin und in Bonn. Ich möchte deutlich machen, daß ich darin einen Beleg dafür sehen möchte, wie eine führende Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft eine solche Aufgabe bewältigen kann - logistisch, organisatorisch, administrativ, baulich. Wir wollen zeigen, daß wir damit aus Berlin, das schon lange als geteilte Stadt ein Symbol der Trennung dieser Welt war, auch ein Symbol für die Vereinigung machen können, indem wir aus zwei Stadthälften eine Stadt machen und zeigen, daß wir die deutsche Einheit auch in dieser Hauptstadt bewältigen.
({0})
- Der Kollege Fischer hat die alten Gewohnheiten noch nicht vergessen. Wenn ich anfange zu reden, spricht er dazwischen.
({1})
Ich freue mich und fühle mich damit wieder ganz und gar in den alten Gefilden.
Dies ist eine Herausforderung, die etwas mit dem Respekt vor der Geschichte zu tun hat, die auch in Gebäuden gewachsen ist und sich dort niedergeschlagen hat. Ich möchte alle auffordern, auf diese Aufgaben entsprechend ihr Augenmerk zu richten.
Wir haben uns diesen Aufgaben in einer Situation zu stellen, die sich wirtschaftlich besser und besser darstellt. Wir haben einen stabilen wirtschaftlichen Aufschwung, der genau so in Gang gekommen ist, wie wir uns das vorgenommen haben. Wir haben den Standort Deutschland gestärkt. Das hat dazu geführt, daß der Export diesen Aufschwung in Gang gesetzt hat. Gegenwärtig tragen in besonderer Weise die Privatinvestitionen unserer Unternehmen und der Haushalte diesen Aufschwung.
Die Zahlen belegen es. Wir haben im ersten Halbjahr 1994 - man muß sich das immer wieder klarmachen - insgesamt 205 Milliarden DM an Bauinvestitionen, davon über die Hälfte, 106 Milliarden DM, im Wohnungsbau. Um es einmal plastisch auszudrücken: Pro Tag werden in Deutschland 1,1 Milliarden DM verbaut, 580 Millionen DM für den Wohnungsbau.
Daran sehen Sie die hohe Bedeutung dieses Bereiches für die gesamte konjunkturelle Entwicklung.
({2})
Das halte ich für wichtig. Ich halte es deswegen für so wichtig, weil wir uns bei all unseren Diskussionen, wieviel mehr Mittel wir für den sozialen Wohnungsbau und ähnliches bekommen, bewußt sein müssen: Die entscheidende Größe bei den Investitionen ist immer noch der private Bereich. Wir sollten alle falschen Signale vermeiden, die dies in Frage stellen.
({3})
Es sind davon insgesamt immerhin 2,5 Millionen Arbeitskräfte direkt betroffen, von den indirekt betroffenen ganz zu schweigen. Es ist eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe, nicht durch zu schnelles Diskutieren neuer Vorschläge Verunsicherungen auszulösen, die eher eine negative Auswirkung auf die konjunkturelle Entwicklung haben. Ich sage auch dazu, daß nicht jeder Anstieg der Baukonjunktur gegenwärtig eine bedeutsame Änderung der Nachfrage nach deutschen Arbeitskräften mit sich bringt. Derzeit sind bereits etwa 140 000 Arbeitnehmer aus westeuropäischen Ländern im Baubereich tätig. Ich glaube, hier werden wir auch europarechtlich weiter zu diskutieren haben.
Meine Damen und Herren, das hat sich in ganz besonderer Weise in den neuen Ländern niedergeschlagen. Lassen Sie mich das deutlich machen. Wir haben ein Modernisierungsprogramm mit 60 Milliarden DM aufgelegt, mit einem Förderungsäquivalent von 2 respektive 3 Prozentpunkten. Das macht für den Bund haushaltsmäßig insgesamt 13,8 Milliarden DM aus, in diesem Haushalt bereits 500 Millionen DM.
({4})
Ich will Ihnen dazu sagen, wie man in solchen Wohnungen wohnen kann. Ich halte das für hervorragend. Ich greife einen speziellen Punkt auf. Wir werden den Umzug nach Berlin im selben Jahr machen, in dem wir in Hannover die Expo 2000 haben, „Mensch, Natur, Technik". Da können wir den Menschen, die hierherkommen, einmal zeigen, wie man aus Plattenbauten des Sozialismus eine lebenswerte Umgebung machen kann. Das ist eine Sache, die wir in diese Expo einbringen können. Warum denn nicht?
({5})
- Ich habe die Freude gehabt, Herr Kollege, den Kollegen Nagel, SPD, Bausenator in Berlin, zu sprechen. Er hat bei der letzten Bauministerkonferenz, an der ich die Ehre hatte, teilnehmen zu dürfen, deutlich gemacht, er möchte dieses Programm erheblich aufgestockt wissen. Denn es ist schon ausgefüllt. Gegenwärtig bekommen Sie in Berlin praktisch niemanden mehr, der ein Gerüst bauen kann, weil soviel Nachfrage im Bereich der Sanierung von Plattenbauten
besteht. Das ist eine wunderbare Bestätigung der Politik, die wir gemacht haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
({6})
Wir haben dort Erhebliches getan. Wir haben, wie Sie wissen, Wohnungsbauzahlen, die einen Rekord darstellen: über 500 000. Hier kommt ein Effekt zustande, den ich gern aufgreifen möchte. Natürlich wissen wir, daß es bereits jetzt bei Hochpreismieten in Ballungsräumen keinen Absatz mehr gibt. Über 18 DM, so sagt man, ist nichts mehr zu vermieten. Jetzt sagen Sie: Das ist eine Fehlentwicklung. Ich sage Ihnen dazu: Wenn es solche Wohnungen gibt, bekommen wir so etwas wie einen Kamineffekt. Das weiß auch jeder in meinem und jedem anderen Ministerium. Wenn ein Ministerialdirektor pensioniert wird und die Stelle aus dem Haus nachbesetzt wird, entsteht ein Kamin an Beförderungen. Genau dasselbe passiert im Wohnungsbau. Wir haben doch keine abgeschotteten Teilmärkte, so daß wir sagen könnten: Wenn im oberen Preisbereich etwas leersteht, gibt es in den anderen Märkten keinerlei Bewegung.
({7})
Wir müssen alles daransetzen, diese Wirkungen stärker zu nutzen. Das halte ich für außerordentlich wichtig.
({8})
Wir wollen natürlich deswegen nicht den sozialen Wohnungsbau zurückschrauben. Alle diese Hinweise auf Kahlschlagtheorien sollten wir uns wirklich sparen.
Aber gehen wir doch mal daran und fragen nicht nur, wie es mit den Mitteln im Haushalt aussieht. Warum gehen Sie nicht mit uns mit und sagen: Gut, wir machen auch im Bestand eine Einkommensorientierung. Dann bekommen wir zusätzliche Mittel frei, die wir für mehr Neubau im Sozialwohnungsbereich binden können. Das ist doch eine ganz naheliegende Möglichkeit. Warum tun wir es nicht? Wir haben es uns jedenfalls vorgenommen, und wir werden es entsprechend umsetzen.
Meine Damen und Herren, es geht dann in besonderer Weise natürlich auch weiter - ich sage es ganz deutlich - im Zusammenhang mit der Förderung von Wohnungseigentum. Wir haben heute in den alten Bundesländern einen Wohnungseigentumsanteil von 40 %, also 40 von 100 Haushalten leben in den eigenen vier Wänden. Mein Ziel ist es, daß wir diesen Anteil auf 50 % erhöhen, so daß jeder zweite Haushalt in Deutschland in den eigenen vier Wänden wohnt.
({9})
- Es ist doch schön, daß mir der Kollege Schneider
noch etwas zu tun übriggelassen hat. Das ist erfreulich, und wir werden uns dieser Herausforderung
dann gerne stellen. Jetzt sagt Herr Schily vielleicht: schon wieder Herausforderung! Da hat er recht.
({10})
- Da müssen Sie den Herrn da drüben fragen. Ich hatte an einen gedacht, vielleicht hat er an einen anderen gedacht.
Wir wollen den erwähnten Anteil erreichen. Ich habe es beim letztenmal gesagt, und ich sage es noch einmal: Dazu gehört Vorsparförderung in besonderer Weise. Lassen Sie uns doch wirklich einmal zusammen darüber nachdenken, ob es nicht auch andere Eigentumsformen gibt. Ich denke dabei an die Genossenschaften.
({11})
- Ich komme darauf zurück. Sie haben vorgeschlagen, wir sollten das Altschuldenhilfegesetz novellieren. Warum sollen wir denn das Altschuldenhilfegesetz novellieren? Nutzen wir es doch so, wie es ist! Ich frage einmal ganz deutlich: Warum sträubt sich die SPD in Deutschland dagegen, Genossenschaften mit Eigentumscharakter in die Privatisierung nach dem Altschuldenhilfegesetz hineinzunehmen?
({12})
- Doch! Entschuldigen Sie bitte, am 8. Dezember war die Sitzung des Lenkungsausschusses. Dort hat man das abgelehnt, und Sie, Herr Kollege Großmann, haben das doch in Ihrer Pesseerklärung selbst gefordert. Wenn es nicht so ist, können Sie gleich hierherkommen und sagen, Sie setzten sich mit uns für eigentumsorientierte Genossenschaften gerade in den neuen Bundesländern ein.
({13})
Meine Damen und Herren, das wäre ganz hervorragend. Wir wollen nämlich Mieter zu Eigentümern machen, und wir wollen nicht die Positionen von Funktionären absichern. Mieter zu Eigentümern machen, das ist das Wichtige.
({14})
- Sie haben doch Gelegenheit, danach zu sprechen. Ich spreche als erster, und Sie sprechen danach.
Herr Minister, es gibt zwei Wünsche nach Zwischenfragen.
Das mache ich gerne.
Zunächst die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig.
Herr Minister Töpfer, ich wüßte gerne, wenn Sie die Eigentumsmöglichkeiten so propagieren, ob Sie wissen, wie viele betroffene Mieter in
Ostdeutschland die 50 000 DM Eigenkapital haben, die nötig sind, um überhaupt die Eigentumsfrage für sich selbst stellen zu können. Wie stellen Sie sich vor, daß die Eigentumssituation es den Menschen ermöglicht, ihr gewünschtes Eigentum überhaupt zu bilden?
Wir haben doch die Erfahrung des letzten Jahres, daß das praktisch überhaupt nicht möglich ist für Haushalte, die zwischen 1 000 und 2 000 DM im Monat verdienen. Wie sollen diese denn auch das bescheidenste Eigentum erwerben? Das möchte ich gerne von Ihnen wissen.
({0})
Gerade weil wir das auch so sehen, Frau Kollegin, haben wir vorgeschlagen, daß wir auch Genossenschaften in diese Privatisierung aufnehmen wollen, aber Genossenschaften, in denen sich die einzelnen Mitglieder der Genossenschaft auch Eigentumstitel erarbeiten.
({0})
Das ist genau der Punkt. Das möchte ich eben nicht nur in den neuen Bundesländern machen, das möchte ich zunehmend auch in den alten Bundesländern machen. Lassen Sie uns doch diese Möglichkeit in Ruhe nutzen.
Ich muß Ihnen nur sagen: Wir haben es im Lenkungsausschuß mit den Bundesländern vorgeschlagen. Es ist dort nicht akzeptiert worden. Das tut mir leid. Wenn sie hierherkommen und uns Ihre Zustimmung bestätigen, fände ich es prima.
Es gibt die Bitte nach einer zweiten Zwischenfrage vom Kollegen Jacob.
({0})
Herr Bundesminister, mich würde interessieren, wie Sie denn die Wohnungsbaugenossenschaften der ehemaligen DDR in dieses Konzept Ihrer Genossenschaften einbauen können, zumal dort Menschen leben, die schon einmal Anstrengungen für ihre Wohnungen gemacht haben und die am Besitz der Wohnungen in den alten AWG beteiligt waren.
Wissen Sie, manchmal hilft ja auch eigenes Nachdenken, den Weg zur Lösung zu finden.
({0})
Ich habe vorhin gerade gesagt: Wir wollen aus Mietern Eigentümer machen. Genau das, was Sie jetzt von mir abverlangt haben, habe ich hier vor zwei Minuten als das Ziel dieser Politik genannt.
({1})
Genau das will ich. Ich will sie eben nicht nur als eigentumslose Teilnehmer von Genossenschaften sehen, sondern ich will ihnen in den Genossenschaften Eigentumstitel ermöglichen. Das ist ein zentraler Unterschied, auf den wir hinwirken wollen.
({2})
Dann bekommen sie einen Zuwachs des Eigentums, des Vermögens. Das, meine Damen und Herren, ist doch gerade in den neuen Bundesländern so außerordentlich wichtig.
Lassen Sie mich der Kürze der Zeit wegen nur noch auf folgende Punkte hinweisen: Wir müssen in der Bodenpolitik weiter eine zentrale Aufgabe sehen. Wir müssen den Finanzausgleich bis in die kommunalen Finanzierungssysteme hinein weiterentwickeln. Und wir müssen mehr tun, um ein Flächenrecycling zu schaffen. Deswegen ist auch der Bauminister der Meinung, daß wir ein Bodenschutzgesetz brauchen, das dann Sicherheit darüber gibt, ob man Flächen wieder zum Bau heranziehen kann, die jetzt möglicherweise durch Kontaminationen belastet sind.
({3})
- Das hat jetzt der Kollege Fischer nicht gehört. Aber ich freue mich, daß dazu aus den hinteren Reihen der Grünen Beifall gekommen ist.
Herr Minister, ich bin jetzt in einer schwierigen Lage. Es besteht der Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage des Kollegen Tippach. Aber die ausgemachte Redezeit ist bereits vorbei. In Ihrer Eigenschaft als Minister dürfen Sie zwar auch länger reden; aber das ginge auf Kosten der Redezeit Ihrer Fraktionskollegen. Möchten Sie also die Zwischenfrage zulassen?
Nein. Erstens muß es nicht sein, und zweitens will ich nicht die Redezeit der Kollegen wegnehmen; das wäre unhöflich. Deswegen lassen Sie mich dazu bitte abschließend nur noch einen Satz zur Stadtentwicklungspolitik sagen.
Lassen Sie uns die neuen Chancen nutzen, damit wir Funktionen nachbarschaftsverträglicher machen! Lassen Sie uns wieder stärker zu einer Mischung von Funktionen kommen! Ich finde das eine prima Sache.
Vor wenigen Tagen war ich an meine alte Universität, nach Hannover, eingeladen. Dort hat man mir gesagt, es sei höchste Zeit, daß wir, etwa bei der Expo 2000, an die Stelle der alten Charta von Athen eine Charta von Hannover setzen können,
({0})
in der wir zeigen, wie wir in Deutschland Städtebau wieder als funktionsgemischten Bau möglich machen. Das hat etwas mit Raumordnung zu tun, das hat etwas mit umweltverträglicher Entwicklung in dieser Raumstruktur zu tun - eine faszinierende Aufgabe.
({1})
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit diesem Hohen Hause.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dieter Maaß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus den Bundestagswahlen am 16. Oktober 1994 sind wir Sozialdemokraten gestärkt hervorgegangen.
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Damit tun sich größere Chancen für eine sozial gerechtere Wohnungspolitik auf. Dies scheint auch der neue Bauminister, Herr Professor Töpfer, zu erkennen. Wer seine Presseerklärungen liest und einige Sätze, die er eben gesagt hat, in den richtigen Zusammenhang bringt, hat den Eindruck, hier haben Sozialdemokraten die Textvorgaben geliefert.
({1})
Herr Professor Töpfer, ich rate Ihnen allerdings: Lesen Sie noch etwas über Genossenschaftseigentum, über mittelbares Eigentum nach. Dann werden Sie später zu der Eigentumsfrage sicherlich eine andere Position einnehmen.
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Die Aussagen von Professor Töpfer werden noch von dem von mir sehr geschätzten wohnungspolitischen Sprecher der CDU, Herr Dr. Kansy, bekräftigt. Wer jedoch Ihre Worte mit den Zahlen im vorliegenden Haushaltsentwurf vergleicht, stellt fest: Mit den ausgewiesenen Finanzmitteln sind die Wohnungsprobleme in unserem Land nicht zu lösen. Bei mehr als 2 Millionen fehlender bezahlbarer Wohnungen kürzen Sie den Etat des Bauministeriums um 8,2 %.
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In Zahlen ausgedrückt: Die Regierungsparteien senken das Finanzvolumen von 10,5 Milliarden DM auf 9,67 Milliarden DM; dies ist eine Minderung von 846 Millionen DM.
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Der Hinweis, daß der Einzelplan 25 ohne den Ansatz für die Altschuldenhilfe in Höhe von 1,1 Milliarden DM insgesamt noch eine Steigerung ausweist, ist doch nichts anderes als Schönfärberei.
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Sie wissen doch genau, welche Folgeprobleme sich aus den Kürzungen der Mittel für die Altschuldenhilfe ergeben.
Meine Kollegin Frau Dr. Lucyga wird zu diesem Thema sicherlich noch einige Worte sagen. Auch mit dem Bauminister Töpfer fährt der Bundesfinanzminister in der sattsam bekannten Praxis fort, finanzielle Mittel aus dem Bauetat zu streichen, ohne daß diese innerhalb des Einzelplans für sinnvolle Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Das ist beim Auslaufen des Schuldzinsenabzugs Ende 1994 nicht anders als beim schrittweisen Abschied von der Bausparförderung.
Ich möchte ein paar Schwerpunkte aus dem Einzelplan 25 aufnehmen und Ihnen darstellen, daß mit den ausgewiesenen Mitteln die dringenden Wohnungsprobleme nicht zu lösen sind.
Im sozialen Wohnungsbau liegt der Ansatz von 2,7 Milliarden DM zwar noch um 300 Millionen DM über dem Etat von 1994, doch ein Blick in den Plan macht deutlich, daß für diese Steigerung ausschließlich Verpflichtungen aus dem Ballungsgebieteprogramm der vergangenen Jahre verantwortlich sind.
Ein weiterer Blick macht ersichtlich, daß Sie trotz besseren Wissens gerade dieses Ballungsgebieteprogramm in den folgenden Jahren von 700 Millionen DM auf 140 Millionen DM rigoros zusammenstreichen.
Noch ein Wort zum sozialen Wohnungsbau. Es ist ein falsches politisches Signal für Investoren, wenn Sie den Verpflichtungsrahmen im Finanzplan um fast 20 % senken. Was Sie im Grunde planen, ist der schrittweise Abbau der finanziellen Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Sie begehen damit genau den gleichen Fehler, den Sie Mitte der achtziger Jahre schon einmal begangen haben und der die Ursache dafür ist, daß wir heute einen immer geringeren Bestand an Sozialwohnungen haben.
Nur den Anstrengungen der Länder ist es zu verdanken, daß es überhaupt noch einen preiswerten Wohnungsmarkt gibt.
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Was wir angesichts der Mietenexplosion dringend brauchen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sind erschwingliche Sozialwohnungen für geringe Einkommen und Arbeitnehmerfamilien.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rönsch?
Ja, bitte.
Herr Kollege Maaß, ich weiß nicht, ob Sie während der Regierungserklärung und der Diskussion zum Wohnungsbau im Plenarsaal waren.
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- Prima! Dann müßten Sie die Zahlen noch in Erinnerung haben. Haben Sie z. B. die Zahlen von Hessen, meinem Bundesland, noch im Gedächtnis? Die Wohnungsbaumittel wurden dort um 38 gekürzt. Auf Niedersachsen wird mein Kollege Dietmar Kansy noch eingehen. Ich frage Sie, woher Sie den Mut nehmen, die Länder immer wieder aus der Verantwortung herauszunehmen.
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Das will ich Ihnen gern beantworten. Zunächst einmal komme ich aus Nordrhein-Westfalen, und dort sieht die Sache schon ganz anders aus.
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Zur Zeit der Regierung Eichel sind in Hessen 40 000 Sozialwohnungen gebaut worden, unter der Regierung von Wallmann waren es nur 14 000. Daran kann man sehen, daß die Relation ein bißchen anders ist.
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Ich zeige Ihnen die Zahlen nachher noch einmal.
Ich nehme meine Rede wieder auf. Wir brauchen mehr erschwingliche Sozialwohnungen für geringe Einkommen und Arbeitnehmerfamilien. Bundespräsident Herzog hat recht mit seiner Aussage bei der Abschlußveranstaltung zum Internationalen Jahr der Familie:
Jeder, der den kinderfeindlichen Egoismus anprangert, sollte gleichzeitig sagen . . ., welche Wohnungen er für Familien mit Kindern anzubieten hat.
Der Bau von 156 000 Sozialwohnungen im Jahr 1993 darf keine Eintagsfliege bleiben. Wenn die Beteuerung des Bundeskanzlers, die soziale Komponente im Wohnungsbau stärken zu wollen, kein Lippenbekenntnis bleiben soll, sind im Rahmen der Verhandlungen zum Einzelplan 25 in den kommenden Wochen erhebliche Klimmzüge zu unternehmen. Herr Minister, unsere Unterstützung haben Sie dabei.
Die Mittel so einzusetzen, daß sie einen möglichst großen Effekt erzielen und dem Ziel dienen, mehr bezahlbaren Wohnraum zu bekommen, das versteht sich von selbst. Dabei will ich an dieser Stelle nicht untersuchen, wie die neuen Förderungswege im sozialen Wohnungsbau aussehen können. Dazu haben wir an anderer Stelle bessere Gelegenheit. Wir sind gesprächsbereit, wobei ich persönlich große Vorbehalte gegen die Vorschläge der Expertenkommission habe.
Eines ist sicher: Die Vorstellung der Regierung, in Zukunft mit weniger Finanzmitteln den sozialen Aspekt im Wohnungsbau besonders zu betonen, wird nicht funktionieren.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einen weiteren Schwachpunkt Ihrer Finanzpolitik im Einzelplan 25 aufgreifen: Die Finanzhilfen für die Städtebauförderung in Höhe von 80 Millionen DM in den alten Bundesländern sind völlig unzureichend. Wer wie ich aus dem Ruhrgebiet kommt und die alten Industriebrachen vor Augen hat, kann nur eindringlich die Bereitstellung von mehr Mitteln anmahnen. Es wäre auch wirtschaftlich sinnvoll, denn eine D-Mark Fördermittel zieht bis zu 7 DM an privatem Kapital nach sich.
Viele Städte und Gemeinden können einfach die fehlenden Gelder nicht aufbringen, und so kommt der notwendige Umstrukturierungsprozeß zum Erliegen. Industrieansiedlung wird erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht, und die Schaffung neuer Arbeitsplätze unterbleibt. Hier sollten Sie unseren Vorstellungen folgen und die Mittel wieder auf 660 Millionen DM anheben.
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Auch hier steht der neue Bauminister im Wort: Wer im Städtebau Beispiele geben will, „die in Europa und darüber hinaus Gültigkeit haben" - so die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vom 20. November 1994 -, der wird dies mit einem Ansatz von 80 Millionen DM für die alten Bundesländer kaum leisten können. Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern haben Sie aufgefordert, Herr Minister, an dieser Stelle dem Finanzminister gegenüber Rückgrat zu beweisen.
Meine Damen und Herren, von uns gibt es auch Kritik am Ansatz des Wohngeldes für 1995 in Höhe von 2,8 Milliarden DM. Bei sinkendem Nettoeinkommen breiter Schichten unserer Bevölkerung und ständig steigenden Mieten wird der Bund seinen Verpflichtungen gemäß § 34 Wohngeldgesetz nicht nachkommen können, zumal es bei dem Wegfall der eingeräumten Freibeträge ab 1. Juli 1995 bleiben soll.
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Die angekündigte Wohngeldnovelle kommt zu spät. Schon im September 1993 hat die SPD-Bundestagsfraktion diese Novelle, die längst unter Dach und Fach sein könnte, gefordert. Diese Haltung ist absolut unverständlich, weil ja gerade aus den Reihen der Koalitionsparteien immer stärker auf die Subjektförderung hingewiesen wird.
Gleich kommt bestimmt aus den Regierungsfraktionen der Einwand, wir wollten den Haushalt nur ausweiten und Geld ausgeben, das wir alle nicht haben. Doch ich möchte daran erinnern, daß durch Ihre Politik dem Wohnungsmarkt in den nächsten Jahren Milliardenbeträge entzogen werden.
Lassen Sie mich beispielhaft nennen: Der Schuldzinsenabzug läuft aus - pro Jahr 1 Milliarde DM. Steuereinnahmen aus der Reduzierung der Förderung beim Kauf von Altimmobilien gehen dem Wohnungsbau verloren - pro Jahr 1,5 Milliarden DM. Steuereinsparungen durch die Begrenzung bei der Absetzbarkeit von Modernisierung und Instandsetzung - pro Jahr 659 Millionen DM. Das Fördergebietsgesetz für Ostdeutschland läuft aus - pro Jahr 1 Milliarde DM. Es fehlen also, beginnend im nächsten Jahr, fast 5 Milliarden DM, die dem Wohnungsbau bisher direkt oder indirekt zur Verfügung standen.
Meine Damen und Herren, wir werden uns in den Ausschußberatungen noch zu den einzelnen Haushaltspositionen detailliert äußern und eigene Vorschläge machen. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Beratungen. Ich bin neugierig, wie Ihre Ankündigungen zu mehr Gemeinsamkeiten in der Wohnungspolitik aussehen werden.
Wir Sozialdemokraten fordern eine Politik, die mehr bezahlbaren Wohnraum schafft, weil dies sozial geboten ist.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dietmar Kansy.
Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Maaß, Frau Matthäus-Maier hat gestern die Debatte mit bitteren Klagen über zu hohe Steuern und hohe Schulden eröffnet. Ich wußte schon nach drei Minuten, daß, sobald die Fachpolitiker zu Wort kommen, genau das Gegenteil aus der Debatte herauskommen wird. Das hat man wieder bei Ihnen gesehen.
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Das soll nicht heißen, daß es auch viele von Ihnen angesprochene Probleme gibt, auf die ich noch zurückkommen muß. Wir haben ja bereits vor einigen Monaten die Schwerpunkte dieses Einzelplanes diskutiert; er ist fast unverändert wieder eingebracht worden. Ich möchte deshalb an dieser Stelle einmal einige grundsätzliche Überlegungen unserer Fraktion, der CDU/CSU, anstellen. Daran können Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der SPD und der anderen Oppositionsfraktionen, ablesen, ob Gemeinsamkeit machbar ist oder nicht. Wenn es sich darauf beschränken sollte, das sage ich gleich vorweg, gemeinsam mehr von anderen zu fordern, was keiner hat, werden wir nicht weiterkommen. Wir müssen gemeinsam gegebenenfalls politische Verantwortung übernehmen, damit wir auch Unbequemes zugunsten von Leuten machen, die sich allein nicht helfen können.
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Dies gilt auch, Herr Kollege Maaß, für das, was in der Sachverständigenkommission gesagt wurde. Zu diesem Ergebnis möchte ich noch einige Sätze sagen.
Wir wissen gemeinsam - es wird oft vergessen, aber Sie haben es vorsichtshalber angesprochen, insofern bin ich dankbar -: Die staatliche Verantwortung für den Wohnungsbau ist verteilt auf Bund, Länder und Gemeinden. Alle drei sind wiederum abhängig von privater Investitionstätigkeit, und diese private Investitionstätigkeit wiederum ist davon abhängig, ob wir sie mit unseren staatlichen Maßnahmen positiv oder negativ beeinflussen.
Machen wir uns doch nichts vor. Schauen wir uns doch einmal diese bunt gewordene Bundesrepublik Deutschland an. Nie war Regierungsverantwortung in Bund, Ländern und Gemeinden so vielfältig und wechselseitig zugleich, als daß man mündigen Bürgerinnen und Bürgern in diesem Lande noch ein Schauspiel bieten kann, bei dem die jeweilige Opposition auf der jeweiligen staatlichen Ebene der jeweiligen Regierung immer totales Versagen vorwirft, obwohl auf der nächsten Ebene die Mehrheitsverhältnisse genau umgekehrt sind und beide miteinander zusammenhängen. So können wir nicht weitermachen, wenn wir Zukunft gestalten wollen.
Ich weiß nicht, was das soll, Herr Kollege Maaß. Sie haben recht. Sie haben die Zahlen vorgelesen. Aber was hat jemand, der eine Sozialwohnung sucht, davon, wenn z. B. in Niedersachsen jetzt CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam beklagen, daß die mit absoluter Mehrheit regierende SPD-Landesregierung ihre Mittel von 562 Millionen auf 260 Millionen, also um 53 %, reduziert? Hannelore
Rönsch hatte schon gesagt, wenn in Hessen die CDU bei einer rot-grünen Regierung beklagt, daß dort die Mittel um 38 % zurückgeführt werden, und in Berlin und in Baden-Württemberg, wo große Koalitionen sind und die Mittel um 16 bzw. 10 % zurückgehen, dafür wieder andere in das Horn stoßen, dann kann das doch wohl nicht die Zukunft einer verantwortlichen Wohnungspolitik in diesem Lande sein.
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Meine Damen und Herren, sind denn Bundeskanzler, Bundesbauminister, Länderministerpräsidenten, Länderminister, sind denn die ganzen unterschiedlichen Mehrheiten in Bund und Ländern gegen die Herausforderung stumpf geworden? Nein, Sie sind nicht stumpf geworden, aber wir sind auf allen staatlichen Ebenen an die Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit gelangt. Das ist doch der Hintergrund der ganzen Geschichte. Deswegen werden wir gemeinsam nur Erfolg haben weil sie von Gemeinsamkeit reden, auch ich stehe dazu -, oder wir werden gemeinsam Mißerfolg haben.
Was die PDS betrifft, möchte ich mir eine Sache ersparen. Aber meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Sie sollten vielleicht etwas bescheidener in diesem Raume auftreten. Wer von 7 Millionen Wohnungen 1 Million Wohnungen nach dem Motto: Trümmer schaffen ohne Waffen, zurückgelassen hat, sollte erst einmal dazulernen und keine Ratschläge geben.
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Herr Kollege Kansy, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Die gestatte ich, Frau Präsidentin. - Sie verlängern damit nur meine Redezeit.
Die rechne ich natürlich nicht an. - Bitte.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß diese Partei PDS heißt und nicht SED?
Das ist eben das Problem, das Sie verdrängen. Selbst wenn Sie ein paar Leute in der Fraktion ausgewechselt haben, sind immer noch zu 95 % die Alten, die das Sagen haben, in der Truppe.
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Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, zwei Grundsatzpositionen zu beachten, die ich Ihnen jetzt vortrage. Sie sind Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit, ohne daß wir unsere politischen Profile verlieren müssen und auch weiterhin unterschiedliche Ansatzpunkte haben. Wir haben sie schon oft diskutiert.
Erstens. Die Wohnung ist ein ambivalentes Gut. Sie ist ein hohes Sozialgut, dient der Befriedigung unmittelbarer menschlicher Bedürfnisse, ist Mittelpunkt unseres Lebens, ist Mittelpunkt unserer Familien. Sie
ist gleichzeitig das teuerste und langlebigste Investitionsgut.
Jeder, der in der Wohnung nur ein Investitionsgut sieht, wird, weil der Markt sozial blind ist, genauso scheitern wie jemand, der die Wohnung nur als Sozialgut betrachtet. Denn die Masse der Investitionsmittel - der Minister hat das bereits gesagt - kommt von privaten Geldgebern, und die erwarten eine angemessene Rendite auf das eingesetzte Geld, wenn sie überhaupt ihr Geld in Wohnungen stecken sollen.
Zweitens - das ist eine noch größere Herausforderung -: Bund, Länder und Gemeinden - ich sagte es schon - sind an den Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt. Wenn wir den Menschen, die im wahrsten Sinne vor der Türe stehen, helfen wollen, müssen wir den Mut haben, der Mehrheit der Menschen in Deutschland, die gut wohnen und das auch bezahlen können, sagen, daß sie ein Stückchen mehr Eigenverantwortung übernehmen, damit wir der zunehmenden Minderheit besser helfen können, die es nicht alleine schafft. Das ist verantwortliche Politik, aber nicht, neue Milliarden zu fordern.
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Dazu gehört politischer Mut; denn wir müssen sozusagen zugunsten einer Minderheit Politik gegen die Mehrheit machen. Das ist in parlamentarischen Demokratien nicht nur in Nichtwahljahren nicht besonders interessant.
Also, versagen Sie sich, auf diesem Weg mitzugehen, verweigern Sie sich dem Möglichen, fordern Sie das Unmögliche, dann muß ich Ihnen doch sagen - obwohl es Ihrer politischen Grundphilosophie eigentlich widersprechen müßte -, daß Sie der Verfestiger einer Zweidrittelgesellschaft im Wohnungsbau sind, wo der Closed Shop der Wohnungshabenden auf vielfältige Weise begünstigt wird, zu Lasten junger Leute, zu Lasten junger Familien, zu Lasten von Menschen, die aus Arbeitsmarktgründen umziehen müssen, zu Lasten der Mobilen in der Gesellschaft, die wir so nötig brauchen.
Ein Ergebnis der Nachkriegswohnungspolitik, die insgesamt eine positive Bilanz über 40 Jahre ist, ist doch wohl die Faustregel: Wer lange wohnt, wohnt immer billiger, und wer neu dazukommt, zahlt die Zeche, sprich: oft doppelt so hohe Mieten, einen erheblich größeren Teil seines Einkommens für Eigentum und ein Zigfaches für das Bauland. Das ist die Realität.
Wir werden dieses Jahr in Westdeutschland rund 500 000, in Ostdeutschland knapp 50 000 Wohnungen neu erstellen. Nicht zuletzt auf der Basis eines Bauüberhanges von rund 700 000 Wohneinheiten dürfen wir für 1995 in Westdeutschland mit 520 000 bis 530 000 und in Ostdeutschland mit 80 000 bis 90 000 neuen Wohnungen rechnen. Dies ist ein Riesenerfolg der Politik in der letzten Legislaturperiode.
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Das ist, wenn ich jetzt ehrlich bin, der Erfolg von Bund,
Ländern und Gemeinden gemeinsam, die Milliarden
und Abermilliarden in den letzten Jahren zugunsten
der Wohnungspolitik in ihren Haushalten umgeschichtet haben.
Ich teile aber auch Ihre Meinung, Herr Kollege Maaß: Dies ist kein Grund zur Entwarnung.
({3})
- Nein, Sie haben das Gegenteil gesagt, und ich bestätige Sie darin. - Wahrscheinlich ohne mehr Geld, eher mit etwas weniger, müssen wir die Wohnungsbauförderung so gestalten, daß wir das hohe Niveau in den Fertigstellungszahlen möglichst lange halten. Dazu brauchen wir Reformen. Das heißt, wir brauchen in der ersten Stufe eine Analyse, dann Mut zu neuem Denken und letztlich gesetzgeberische Schritte, sofern überhaupt erforderlich.
Lassen Sie mich deswegen einige Sätze zum vorgelegten Gutachten der Regierungsexpertenkommission sagen. Ich finde es beschämend, wie Teile der Opposition und Teile der veröffentlichten Meinung mit diesem Gutachten umgegangen sind.
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Denn bereits zur Stunde der Übergabe dieses Gutachtens, als noch keiner die rund 1 000 Seiten - so dick ist es nämlich - gelesen haben konnte, wurde schon der Stab über dieses Gutachten von Wissenschaftlern und Wohnungsbaupraktikern gebrochen.
Ich selbst habe das Gutachten in diesen hektischen letzten Wochen noch nicht ganz lesen können. Was ich gelesen habe, kann ich auch nicht in jedem Fall unterschreiben. Aber, wenn wir in diesem Lande nicht einmal mehr Analysen ertragen können, die über vorgefaßte Meinungen und ausgelatschte Wege hinausgehen, werden wir die Zukunft auch im Bereich des Wohnungsbaus nicht meistern.
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- Leider gehen Ihre Zwischenrufe zu Lasten meiner Zeit. Deswegen möchte ich nicht darauf eingehen. Melden Sie sich doch; dann kann ich ein bißchen länger reden.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund ist die grundlegende Reform des sozialen Wohnungsbaus weiterzuführen. Die für den Neubaubereich eingeleiteten Reformen nach dem Prinzip der auf Mietereinkommen abgestellten Förderung muß analog auf den sozialen Wohungsbestand übertragen werden. Über das System muß noch viel nachgedacht werden; dies ist einer unserer Kernpunkte.
Wir müssen zudem billiger bauen. Was wir uns heute im sozialen Wohnungsbau teilweise leisten, ist nicht mehr nachvollziehbar. Diese Wohnungen sind oft teurer als gleich gute Wohnungen, die privat finanziert wurden. Um notfalls kostensparendes Bauen zu erzwingen, sollten wir wirklich einmal darüber nachdenken, Fördergrenzen z. B. unter Berücksichtigung verschiedener Bodenpreise festzulegen.
Bezüglich der Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums, das in dieser Debatte mehrmals
angesprochen wurde, auch von der Kollegin Matthäus-Maier gestern, teile ich die Auffassung, daß der derzeitige Zustand der steuerlichen Fördersystematik nicht länger haltbar ist. Auch das Anliegen der Steuerpolitiker, eine deutliche Vereinfachung zu praktizieren, kann ich nachvollziehen.
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Aber, meine Damen und Herren, ich bitte Sie, über die Fraktionsgrenzen hinweg in Richtung Steuerpolitiker folgendes zu begreifen: In einer Zeit knapper finanzieller Ressourcen, in der die Damen und Herren Ordnungspolitiker jeden Tag die Wörter „Subsidiarität" und „soziale Treffsicherheit" im Munde führen, kann es doch wohl keiner mehr ernsthaft verantworten, daß jemand, der 200 000 DM im Jahr verdient, nicht weniger, sondern doppelt so viel staatliche Förderung bekommt wie jemand, der 50 000 DM bekommt.
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Wir müssen jetzt einmal darangehen. Es liegen verschiedene Modelle vor.
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- Das weiß ich doch alles, Herr Kollege. Einige in diesem Raume kennen sich länger als wir beide; deswegen brauchen Sie sich nicht zu erregen.
Es gibt ein Modell aus dem BM Bau; es gibt auch ein Modell der Bund-Länder-Finanzminister. Mir gefallen beide Modelle nicht, weil sie entweder nach wie vor von dem zu versteuernden Einkommen und nicht von der zu versteuernden Schuld abhängen oder ausschließlich auf Neuverschuldung setzen und ein völlig falsches politisches Signal geben, indem Schuldzinsen und nichts anderes gefördert werden.
Herr Kollege, es besteht noch eine Bitte um eine Zwischenfrage von dem Kollegen Reschke. Gestatten Sie diese?
Jawohl, Herr Kollege Reschke.
Ich stoppe die Zeit.
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Auf Knecht Ruprecht können Sie noch ein bißchen warten.
Kollege Kansy, ist Ihnen bekannt, daß der Deutsche Bundestag in Berlin im Mai 1991 einstimmig beschlossen hat, daß § 10e dringend geändert werden muß, und diese Regierung jeden Antrag zur Änderung der Eigentumsförderung abgelehnt hat?
Es ist mir bekannt, Herr Kollege. Das war die kürzestmögliche Antwort.
Ich möchte noch einige Worte zum freifinanzierten Wohnungsbau sagen. Nach Auswertung der Ergebnisse der Sachverständigenkommission, was den freifinanzierten Wohnungsbau betrifft, meine ich, daß wir zu prüfen haben, welche der vielfachen, meist steuerlichen Instrumente weiterhin notwendig sind, um das Interesse privater Investoren am Mietwohnungsbau auch dann aufrechtzuerhalten, wenn, wie jetzt, Spitzenmieten am Markt nicht mehr durchsetzbar sind. Die Gefahr ist groß, daß bei den privaten Investoren ein Attentismus entsteht.
Wir werden aber auch die steuerlichen Förderungen zu untersuchen haben, bei denen der Mitnahmeeffekt offensichtlich größer als der wohnungspolitische Effekt ist. Dazu aber muß man das Gutachten lesen, Herr Kollege Reschke. Man kann nicht, nachdem man es von weitem gesehen hat, sagen, es wäre ein Ergebnis der Unsinn-Kommission. Nein, es ist das Ergebnis einer Kommission, die von Herrn Professor Sinn geleitet wurde.
Zum Miet- und Wohngeldrecht, das vereinfacht werden muß, und zur Städtebauförderung, die auch in den alten Ländern wieder hochgefahren werden muß - wir können uns auf Dauer nicht nur auf die neuen Länder konzentrieren -, kann ich aus Zeitgründen jetzt nicht mehr viel sagen.
Aber mir liegt noch eines als letzter Sachpunkt am Herzen. Dies ist, bitte schön, auch eine Mahnung: erst an uns, dann an die Regierung und dann an Dritte. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode über die Ausschuß- und Fraktionsgrenzen hinweg in diesem Parlament erstmals sehr ausführlich mit der Obdachlosigkeit auseinandergesetzt. Wir müssen dies weiter tun. Die Sache ist sehr kompliziert. Sie ist kompliziert, weil die Verantwortlichkeit auf drei Ebenen liegt, nämlich beim Bund, den Ländern und den Gemeinden, und weil zu allem Überfluß innerhalb dieser drei Ebenen noch zig Ressorts für die Lösung dieser Probleme mitverantwortlich sind. Das schafft Unübersichtlichkeit und macht es so schwer, Verantwortlichkeiten festzumachen. Wir im Deutschen Bundestag sollten diese Erkenntnis vorantreiben, die wir auch bisher Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit verwechselt und dieses Problem fast überwiegend als ein Problem der Baupolitiker dieses Hauses gesehen haben, und über den Deutschen Bundestag hinaus mit der Bundesregierung, den Ländern und Gemeinden darüber sprechen.
Wir müssen den Mut haben, bei diesem Problem ehrlich zu sein. Es reicht nicht aus, festzustellen, daß dies ein Skandal ist in einer Gesellschaft, die trotz manchen Problems reich ist. Aber zur Wahrheit gehört auch, festzustellen, daß unterschiedliche Gründe für dieses Problem verantwortlich sind. Es ist nicht immer nur die berühmte Arbeitslosigkeit oder Wohnungsmangel - sprechen Sie mit den Menschen -, zu den Gründen gehören auch zerstörte Familien, Drogenmißbrauch, Alkoholismus, Wandertrieb und ähnliches. Wir werden nur dann eine wirkliche Lösung erreichen, wenn wir nicht um den Brei herumreden
({0})
und das Problem so akzeptieren, wie es ist. Es ist nicht allein ein Wohnungsproblem.
Es wäre schön, wenn wir die Dinge in diesem Sinne - das gilt jetzt nicht nur für die Obdachlosigkeit, sondern auch für die anderen angesprochenen Pro498
bleme - über die unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten hinweg regeln könnten.
Zunächst bieten wir natürlich Bundesbauminister Töpfer als erstem eine gute Zusammenarbeit an, als zweitem selbstverständlich unserem Koalitionspartner in diesem Haus. Aber wir werden angesichts der Mehrheitsverhältnisse in den Ländern zu kurz springen, wenn wir nicht präventiv daran denken, wo die Gesetze, die wir machen, wahrscheinlich „landen" werden, nämlich im Bundesrat und - wenn wir sie schlecht machen - im Vermittlungsausschuß. Damit helfen wir den Menschen nicht. Wir sollten rechtzeitig aufeinander zugehen.
In diesem Sinne ist das Angebot der CDU/CSU zu verstehen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Wilhelm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß gestehen, daß ich mich mit dem Haushaltsplanentwurf für den Geschäftsbereich des Ministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in zentralen Punkten, insbesondere was den Wohnungsbau betrifft, nicht einverstanden erklären kann.
Wohnen ist eines der menschlichen Grundbedürfnisse. Wenn diese Regierung soziale Gesichtspunkte überhaupt noch ernst nimmt, dann besteht hier erheblicher Aufstockungsbedarf.
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Zur Finanzierung wünschen sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN u. a. den Abbau der indirekten Förderung nach Einkommensteuergesetz und Fördergebietsgesetz und eine Entwicklung hin zur direkten Wohnungsbauförderung, im Interesse von mehr sozialer Gerechtigkeit.
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Aus dem Haushaltsentwurf möchte ich nur einige Punkte herausgreifen.
Titel Wohngeld: Noch in der Regierungserklärung war zu hören, das Wohngeld solle familienfreundlich an die Einkommens- und Mietenentwicklung angepaßt werden. Die Realität: Der Haushaltsansatz wurde gegenüber dem Vorjahr erheblich beschnitten, und zwar um 772 Millionen DM. Angesichts der im Westen und insbesondere auch im Osten spürbaren Tendenz zu steigenden Mieten, der eine vergleichbare Einkommensentwicklung mit Sicherheit nicht gegenüberstehen wird, bleibt schleierhaft, wie das funktionieren soll.
Titel sozialer Wohnungsbau: Der soziale Wohnungsbau in seiner ursprünglichen Form ist bereits seit Jahren nahezu vollständig zum Stillstand gekommen. Dieser Stillstand soll offenbar 1995 fortgesetzt werden. Die minimale Steigerung um 294 Millionen DM für Wohnungsbau insgesamt ist allenfalls geeignet, die Steigerung des Baukostenindexes abzufangen. Der angesetzte Betrag ist aber nicht nur insgesamt zuwenig. Innerhalb des Etatansatzes ist eine eindeutige Bevorzugung des zweiten und dritten
Förderweges feststellbar. Die Folge: für den eigentlichen sozialen Wohnungsbau - für Wohnungsbau, der auch bezahlbar ist - zugunsten von Beziehern niedriger Einkommen steht zuwenig Geld zur Verfügung.
Meine Damen und Herren von CDU und F.D.P., Sie haben gestern aufgejault,
({2})
als mein Kollege Metzger ausgeführt hat, diese Bundesregierung würde ihre Aufgaben nach unten auf die Gemeinden abdrücken. Tatsache ist jedoch - ich bin mehr als ein Jahrzehnt in der Kommunalpolitik tätig gewesen -, daß in diesem Land sozialer Wohnungsbau überhaupt nicht mehr stattfinden könnte, wenn nicht eine Vielzahl von Städten - durch diese Politik gezwungen - aus eigenen Haushaltsmitteln Zuschüsse an Wohnungsbaugesellschaften zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus leisten würde.
({3})
Nach vorsichtigen Schätzungen leben in diesem Land zumindest mehr als 800 000 Menschen, darunter 50 000 Kinder, ohne eigene Wohnung, etwa 150 000 Menschen leben obdachlos auf der Straße; siehe Positionspapier der katholischen und evangelischen Kirche „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland". Meine Damen und Herren von CDU, CSU und F.D.P., gehen Sie doch einmal am Hauptbahnhof durch das Bonner Loch! Schauen Sie in die Eingangsbereiche von Kaufhof und Hertie! Dort können Sie das Problem hautnah erleben.
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Sie bezeichnen sich als christlich und sozial. Können Sie das eigentlich wirklich mit Ihrem christlichen und sozialen Gewissen vereinbaren?
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Unsere Fraktion hat daher im Bundestag die Beschlußfassung über ein Sofortprogramm zum Abbau von Wohnungs- und Obdachlosigkeit beantragt, Titel: Förderung des Städtebaus. Daß Mittel für Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen weit überwiegend im Osten eingesetzt werden sollen, entspricht der sachlichen Notwendigkeit. Nicht übersehen werden kann allerdings auch, daß gerade in den neuen Ländern auf Grund nach wie vor ungeklärter Eigentumsverhältnisse - und deshalb auch in den Jahren nach der Einigung fortgesetzten Reparaturstaus - weitere Gebäude in die Sanierungsbedürftigkeit abgeglitten sind. Auch im Bereich der Sanierung fordern wir jedoch den Übergang von der indirekten Förderung durch Steuerabschreibung hin zur direkten Förderung, sonst nämlich passiert im Osten genau das, was im Westen bereits geschehen ist. In den alten
Helmut Wilhelm ({6})
Ländern hat die erhöhte Steuerabzugsfähigkeit von Aufwendungen im Sanierungsbereich zu einer erheblichen Eigentumsumschichtung von unten nach oben gefühlt. In den neuen Ländern kommt bei Fortführung dieser Steuerpolitik noch die Umschichtung von Ost nach West wegen der dort höheren Kapitalkraft hinzu.
Ich danke.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Hildebrecht Braun.
({0})
- Dann bitte ich um Entschuldigung. Im Sinne meiner Anrede wollte ich Sie als Herr anreden.
Liebe Frau Präsidentin, ich halte das gar nicht für diskriminierend. Aber ich dachte, es sei eine einmalige Geschichte, wenn mir Frau Süssmuth mitteilt, daß Frau Hildebrecht Braun für die 13. Wahlperiode zum Mitglied des Deutschen Bundestages gewählt worden sei. Daß sich dieser Eindruck innerhalb des Bundestagspräsidiums verfestigt hat, verwundert einigermaßen.
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Darf ich davon ausgehen, daß Sie mich das nächste Mal richtig identifizieren?
Ganz sicher.
Wohlgemerkt: Ich kann in diesem Fehler keinerlei Diskriminierung entdecken. Ganz im Gegenteil, andere Leute kämpfen um die Frauenquote in ihren Parteien. Bei uns läuft das in einer etwas lockereren Form.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Wohnung ist in der Tat nicht ein Gut wie jedes andere. Angst vor der nächsten Mieterhöhung, Angst vor dem Verlust der Wohnung, Angst davor, keine Wohnung zu finden - eine alltägliche Realität nicht nur in der Großstadt, in der ich jahrelang für die Wohnungspolitik zuständig war.
Hier sind wir Wohnungspolitiker gefordert. Unser Ansatz ist klar: Wohnungsnot ist in erster Linie ein Mengenproblem. Vier Jahre lang war die öffentlich vielgescholtene Bundesministerin, Frau Schwaetzer, im Amt. In ihrer Amtszeit stieg jedoch die Zahl der fertiggestellten Wohnungen trotz Wirtschaftsrezession allein im Westteil unseres Landes von 200 000 auf 500 000.
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Die Folge sind landesweit sinkende Mieten bei Neuvermietungen. Die Wohnungsnot ist deutlich gelindert, eine richtige Wohnungspolitik hat einen großen Beitrag zum sozialen Frieden in unserem Land geleistet.
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Die Kräfte des Marktes, aber auch verläßliche und vernünftige Vorgaben für die Bauwilligen lösen die Probleme besser als der weitverbreitete Versuch, durch noch mehr staatliche Reglementierungen im Miet- und Baurecht den Ist-Zustand zu erhalten.
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Der Wohnungsbau erfordert große Dynamik; denn die Nachfrage nach Wohnraum ist seit 45 Jahren kontinuierlich pro Person pro Jahr statistisch um ca. einen halben Quadratmeter gewachsen - und das ohne den Zuzug von Menschen zu berücksichtigen. Das bedeutet: Ein Volk von 80 Millionen braucht pro Jahr ein Wohnflächenbauvolumen von ca. 40 Millionen Quadratmetern, nur um den Status quo zu erhalten. Das ist sehr viel und nur zu schaffen, wenn alle Antriebskräfte der Wirtschaft mobilisiert werden.
Der vorgelegte Haushalt setzt im wesentlichen die richtigen Akzente. Wenn man die Altschuldenhilfe für die neuen Bundesländer außer acht läßt, ergibt sich für den Einzelplan Wohnungsbau eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Das ist gut.
Schwerpunkt des Etats ist wieder der soziale Wohnungsbau mit einem Ausgabenansatz von 2,9 Milliarden DM. Damit könnten ebenso wie im Jahre 1994 130 000 Wohnungen gefördert werden. Es ist aber klar, daß das nur geht, wenn die Länder mitziehen und das Konzept der einkommensorientierten Förderung umgesetzt wird.
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Eine Förderung nach dem klassischen ersten Förderweg ohne die zwischenzeitlichen Modifizierungen ist nicht mehr möglich, da die Treffsicherheit der Förderung viel zu gering war, zu wenige Wohnungen erstellt werden konnten, soziale Brennpunkte in den Städten produziert und riesige Ungerechtigkeiten herbeigeführt wurden. Der soziale Skandal mit Fehlbelegern, die oft jahrzehntelang auf Kosten der Ärmsten in unserem Land billig wohnen, darf nicht fortgeführt werden.
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Im Gegenteil, er muß entschieden bekämpft werden.
Die Regierungskoalition setzt trotz allem auf den sozialen Wohnungsbau, Rot-Grün führt ihn nur im Munde. Mit Sorge stelle ich fest, daß die rote Regierung in Niedersachsen den sozialen Wohnungsbau ganz streichen wollte und das rot-grüne Hessen die Mittel für den sozialen Wohnungsbau für 1995 urn 40 % gekürzt hat.
Ich möchte als langjähriger kommunaler Praktiker meine Skepsis gegenüber der Zielgenauigkeit des sozialen Wohnungsbaus nicht verhehlen, aber es ist geradezu aberwitzig, wenn hier die Opposition mehr sozialen Wohnungsbau durch den Bund fördert, wäh500
Hildebrecht Braun ({6})
rend ihre eigenen Landesregierungen den sozialen Wohnungsbau deutlich zurückführen.
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Der vorgelegte Haushalt legt einen wesentlichen Schwerpunkt auf die Fortsetzung der Sanierung der Wohnungsbestände in den neuen Bundesländern. Auch die Städtebauförderung wird auf den Osten konzentriert. Dies ist richtig und notwendig.
Ich möchte zu einem für uns Liberale wichtigen Thema kommen. Die Eigentumsquote ist in ganz Deutschland, europaweit gesehen, sehr niedrig, in Ostdeutschland außerordentlich niedrig. Wir wollen, daß sehr viel mehr Menschen als heute in ihren eigenen vier Wänden wohnen.
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Herr Kollege Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte diesen Abschnitt erst beenden. Können wir bitte eine Minute warten? - Deswegen wird die Wohnbauförderung auch in steuerlicher Hinsicht auf die sogenannten Schwellenhaushalte konzentriert werden, also diejenigen, die nach der bisherigen Förderkonzeption nur mit größter Mühe oder gar nicht in der Lage waren, Eigentum zu schaffen.
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„Eigentum macht frei" - das gilt insbesondere auch im Bereich des Wohnens.
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Wir halten es daher für gut, wenn Mieter ihre eigene Wohnung kaufen können. Das gilt auch und gerade für Mieter von städtischen Wohnungen, also für die kommunalen Wohnungsbestände. Denn mit dem Erlös können Gemeinden neue Wohnungen für diejenigen bauen lassen, die keine Wohnung haben.
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Bitte sehr!
Sehr verehrter Herr Kollege Braun, Sie kommen aus Augsburg, wie ich gelesen habe. Wären Sie so nett und würden uns, nachdem Sie die Zahlen für Niedersachsen und Hessen genannt haben, auch die bayerischen Zahlen unterbreiten und sagen, wie es in Bayern um den sozialen Wohnungsbau bestellt ist?
Gestatten Sie, ich spreche hier als Liberaler. Ich fühle mich nicht für die absolute Mehrheit der CSU in Bayern verantwortlich.
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Dazu wird aber sicherlich einer der Kollegen von der CSU etwas beitragen.
Bauförderung - das ist auch Bausparförderung. Die F.D.P. will hier keine Zweifel aufkommen lassen.
Bauförderung heißt aber auch, alles zu unternehmen, was Bauen billiger machen könnte. Deshalb müssen technische Normen überprüft werden, die zu einer Verteuerung führten. Es müssen Instrumente verbessert werden, damit ausgewiesenes Bauland für den Wohnungsbau verfügbar gemacht wird.
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Das Wohnbauerleichterungsgesetz von 1993 ist hierbei hilfreich. Es verführt aber, wie wir sehen, Kommunen dazu, Bauwilligen zu große Leistungen für die soziale Infrastruktur der Kommunen abzuverlangen.
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Wohnungspolitik ist immer auch Mietenpolitik. Hier will die F.D.P. dafür sorgen, daß rechtliche Grauzonen im Miethöheverfahren beseitigt werden. So muß die oft sehr schwer handhabbare Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete vereinfacht werden. Es muß möglich sein, mit geringem finanziellen und zeitlichen Aufwand für beide Seiten, Mieter und Vermieter, herauszufinden, welches die ortsübliche Vergleichsmiete für das konkrete Mietobjekt und welche die Obergrenze für die jeweilige Miethöhe ist.
Hierzu muß das bisherige Kriterium des Alters der Wohnung überdacht werden. Es kann wohl nicht angehen, daß eine bilderbuchmäßig renovierte Jugendstilwohnung, die auf dem freien Markt deutlich teurer wäre als eine Neubauwohnung, wegen ihres Alters von Gesetzes wegen deutlich billiger vermietet werden muß als beispielsweise eine Wohnung aus den 60er Jahren. Ausstattung und Lage der Wohnung müssen die entscheidenden Faktoren sein.
Eine weitere Forderung: Zeitmietverträge müssen wieder echte Zeitverträge werden.
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Die Möglichkeit, durch einseitige Erklärung aus einem Zeitvertrag einen Vertrag von unbestimmter Dauer zu machen, erscheint rechtspolitisch bedenklich und wohnungswirtschaftlich zweifelhaft.
Auch die Unterstellung der kurzfristigen Zeitverträge unter die Sozialklausel des § 556a BGB führt schließlich dazu, daß gerade sozial schwache Mieter oder auch Studenten oft keine Wohnung finden, da Vermieter Angst haben, das vereinbarte Mietende werde nicht eingehalten. Hier gilt wie überall, daß Schutzgesetze intensiv daraufhin zu überprüfen sind, ob sie sich im Ergebnis nicht gegen die zu Schützenden auswirken.
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Die F.D.P. warnt mit Nachdruck davor, Bauwillige als Spekulanten oder Miethaie zu verunglimpfen. Es sollte jeder wissen, daß derjenige, der neue Wohnungen im Interesse aller errichtet, auf viele Jahre hin beträchtlich draufzahlt. Selbst bei Herstellungskosten
Hildebrecht Braun ({5})
von nur 4 000 DM pro m2 inklusive Grundstück - betragen die Jahreszinsen bei 8,5 % pro m2 340 DM, pro Monat also rund 28 DM. Der Ersteller der Wohnung legt monatlich also - wenn er für 14 DM pro m2 vermietet - jeweils 14 DM drauf.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie haben schon reichlich überzogen. Bitte nur noch einen Satz!
Wenn ich das richtig sehe, heißt das, daß ich zum Schluß kommen soll. Gestatten Sie mir einen Schlußsatz.
Die Politik und die Politiker sollen sich vor diejenigen stellen, die das enorme wirtschaftliche Wagnis des Wohnungsbaus eingehen; denn sie sind es, die dafür sorgen, daß unsere jungen Menschen Wohnungen vorfinden werden, wenn sie sie brauchen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Braun, ich hoffe, daß ich mich jetzt nicht irre, daß es Ihre erste Rede in diesem Haus war. Auch Ihnen herzlichen Glückwunsch.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbst bei Anerkennung der respektablen Leistung der Bauwirtschaft im Wohnungsbau und bei gutem Willen gibt es nur einen Schluß: Es soll so weiter gemacht werden wie bisher. Einige Kolleginnen und Kollegen haben das in diesem Haus mehrfach als Wursteln bezeichnet.
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Allerdings hat dieses Wursteln katastrophale Ergebnisse auf wohnungspolitischem Gebiet. Zahlen dazu wurden in der Debatte bereits genannt.
Zum ersten: Obwohl der Mangel an Wohnungen vor allem im Mangel an bezahlbaren Wohnungen besteht, obwohl in rasantem Tempo Wohnungen in den alten Bundesländern ersatzlos aus der Sozialbindung fallen, obwohl mit der beabsichtigten Überführung des DDR-Wohnungsbestandes ins Vergleichsmietensystem nicht einmal 1 % des Bestandes in Ostdeutschland Sozialwohnungen sein werden, wird mit dem Bundeshaushalt die Förderung des sozialen Wohnungsbaus um nahezu 16 % auf rund 2,9 Milliarden DM reduziert.
Notwendig wäre eigentlich eine Verdopplung der Mittel im Jahr 1995 als Beginn eines langfristig angelegten Programms, mit dem jährlich mehr Sozialwohnungen geschaffen werden könnten.
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Modernisierung und Sanierung der vorhandenen Bestände, Leerstandsbeseitigung und Zweckentfremdungsverbot sollten wichtige Bestandteile dieses Programms sein. Dringend nötig sind auch Maßnahmen zur Schaffung einer dauerhaften Sozialbindung des
kommunalen Wohnungsbestandes in Ostdeutschland.
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Zum zweiten eine Bemerkung zum Wohngeld: Schon jetzt liegen nach Berechnungen des DIW trotz Wohngeld die Mietbelastungsquoten in West und Ost für Niedrigverdiener, Alleinerziehende, Senioren und Seniorinnen und Arbeitslosenhaushalte zum Teil deutlich über 30 %. Ankündigungen der Regierung und Vorschläge ihrer Expertenkommission lassen ahnen, was auf Mieterinnen und Mieter zukommt. Bei prognostizierten überdurchschnittlichen Mietsteigerungen und stagnierenden Lohnentwicklungen bzw. sinkenden Realeinkommen auch 1995 sollen die Wohngeldmittel des Bundes um 21 % reduziert werden. Angesichts eines weiteren Rückgangs in den Folgejahren muß die für 1996 avisierte Wohngeldreform in ihrer Zielrichtung mit doppeltem Fragezeichen versehen werden.
Ein dritter Gedanke. Selbstverständlich kann die Bundesregierung auch einiges auf wohnungspolitischem Gebiet tun, was sie nichts kostet, z. B. die Kappung der Modernisierungsumlagen auf Dauer und die Festlegung eines umfassenden Kündigungsschutzes für Haushalte mit Kleinkindern, für Alte und Menschen mit Behinderungen.
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Auch das Verbot der Räumung auf die Straße, die Verlängerung des Kündigungsschutzes in Ostdeutschland unter Einschluß der Einliegerwohnungen über das Jahr 1995 hinaus sowie das Verbot von Mieterhöhungen bei Neuvermietungen gehören dazu.
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Die ersatzlose Streichung des § 5 des Altschuldenhilfe-Gesetzes, d. h. der Verzicht auf jegliche Form von Zwangsprivatisierung, würde sogar finanzielle, materielle und geistige Potenzen für die Lösung von wirklichen Wohnungsproblemen freisetzen,
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Potenzen, die z. B. für die Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit dringend benötigt werden. Auch die Vergütung von 20 Millionen DM an die KfW-Bank für ihre Dienste bei der Umsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes könnte dann erheblich reduziert werden.
Herr Töpfer, stillen Sie bitte meinen Wissensdurst: Ich verstehe einfach nicht, warum man 15 % des genossenschaftlichen Wohnungsbestandes in den ostdeutschen Ländern zwangsprivatisieren muß, um anschließend eine neue Form der Genossenschaft zu entwickeln. Das erklären Sie mal den Genossenschaftsmitgliedern in Ostdeutschland!
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Viertens. Herr Töpfer hat den Umzug nach Berlin als eine große historische Aufgabe bezeichnet. Unak502
zeptabel ist, mit welcher Großzügigkeit Millionen D-Mark für Baumaßnahmen von Regierungsbauten in Berlin, Wettbewerbe, Abrisse usw. zur Verfügung gestellt werden:
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über 50 Millionen DM für das ehemalige DDR-Volksbildungsministerium, 56 Millionen DM für das Gebäude der ehemaligen Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, rund 122 Millionen DM für das Gebäude des ehemaligen DDR-Außenhandelsministeriums. Diese Summen verstehen sich ohne Einrechnung der Ausgaben für die Ersteinrichtung.
Nach den Pleite- und Pannenaktionen mit dem neuen Plenarsaal und dem Schürmannbau soll der Abriß des Palastes der Republik in Berlin erfolgen. Der geschätzte Aufwand dafür: mindestens 200 Millionen DM. Dabei wurde doch von verschiedenen Experten nachgewiesen, daß eine Asbestsanierung und der Erhalt des Gebäudes wesentlich preiswerter wären, zumal mit dem Erhalt dieses Gebäudes auch dem Wunsch einer deutlichen Mehrheit der Menschen aus Berlin und Ostdeutschland entsprochen würde.
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Dies wäre übrigens auch ein Zeichen der Bundesregierung zur Verwirklichung der deutschen Einheit.
Was bleibt, ist die Feststellung, daß der Haushaltsplan in seiner derzeitigen Form nicht geeignet ist, einen spürbaren Beitrag zur Beseitigung von Wohnungsmangel und Obdachlosigkeit, zur Gewährleistung des Menschenrechts auf Wohnung zu leisten. Politisch wohlklingenden Worten müssen finanziell gesicherte Taten folgen. Wir werden deshalb in der weiteren Haushaltsberatung alternative Vorschläge unterbreiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von dieser Seite, Sie kommen mir vor wie ein Boxer mit einem Glaskinn.
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Sie können zwar unwahrscheinlich austeilen, sind aber nicht in der Lage, zuzuhören und auch einmal etwas einzustecken.
Danke schön.
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Als letzte Rednerin in dieser Runde hat jetzt die Abgeordnete Frau Dr. Christine Lucyga das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt gegenwärtig wohl kaum ein Politikfeld, in dem Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinanderliegen wie in der Wohnungspolitik.
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Das hat nicht nur damit zu tun, daß Wohnungspolitik in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Stiefkind geworden ist,
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sondern auch mit Ihrer fortlaufenden Abkehr von einer sozialen Funktion zugunsten einer einseitigen Klientelpolitik, die die wirklich Bedürftigen außen vor läßt.
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Regelmäßig werden vom Bauministerium Schönwettermeldungen verbreitet: steigende Fertigungszahlen, gebremster Mietanstieg. Nur, über die tatsächliche Situation und die drängendsten Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt wird damit kaum etwas ausgesagt. Deshalb folgt jetzt ein Zitat - diesmal nicht aus dem Bauministerium -:
Diejenigen, die eine Wohnung suchen - sei es aus privaten oder beruflichen Gründen -, treffen auf einen weitgehend leergeräumten Markt, auf dem die Nachfrage das Angebot bei weitem übersteigt. Die wenigen verfügbaren Wohnungen werden zu Preisen vermietet, die deutlich über den Bestandsmieten liegen und einen außerordentlich großen Teil des Einkommens beanspruchen.
Wer jetzt vermutet, dieses Zitat stamme aus der Feder des Mieterbundes, der irrt. Es steht im Geschäftsbericht der Deutschen Bank.
Das Fazit aller Fachleute lautet also: Gesucht werden vor allem bezahlbare Wohnungen - und die fehlen. Hauptbetroffene sind die unteren Einkommensschichten, die wirklich in einer Wohnungsmangelfalle sitzen. Im mittleren und unteren Mietpreisbereich fehlen nach wie vor mehr als 2 Millionen Wohnungen in ganz Deutschland, die vor allen Dingen über den sozialen Wohnungsbau geschaffen werden müssen, und da wurde bis jetzt eindeutig zuwenig getan.
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Die kümmerlichen Haushaltsansätze der Regierung für den sozialen Wohnungsbau im Jahr 1995 und darüber hinaus bleiben weit hinter den erforderlichen Bundesmitteln zurück.
In einem Diskussionspapier der Evangelischen Kirche „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" findet sich die sachliche Feststellung: „In Deutschland wurde das Ziel einer sozial orientierten Wohnungspolitik in den letzten Jahren weitgehend verfehlt."
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Dies ist das Armutszeugnis christlich-liberaler Wohnungspolitik: 1 Million Menschen in Deutschland, die
auf der Straße oder in Notunterkünften leben, darunter 50 000 Kinder.
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- Sie winken ab. Wissen Sie, wenn Sie von 50 000 Kindern in Notunterkünften hören, dann muß Ihnen doch das Herz bluten. Das sind herzzerreißende Schicksale! ({6})
Hier müssen wohnungspolitische Akzente anders gesetzt werden; denn Wohnungspolitik muß denjenigen helfen, die am meisten auf die Hilfe der Gesellschaft angewiesen sind: einkommensschwachen Haushalten, kinderreichen Familien mit normalem Einkommen, die es aus eigener Kraft auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr schaffen können. So ist doch die Lage.
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Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten kommt es darauf an, den sozialen Stellenwert des Wohnens neu zu definieren; denn die Wohnung ist für die überwiegende Zahl der Menschen weitaus mehr als eine Ware oder ein beliebiges Wirtschaftsgut. Sie ist der individuelle Lebensmittelpunkt.
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Von daher kommt der sozialpolitische Ansatz der Wohnungspolitik, der in den zurückliegenden Jahren - leider, muß ich hinzufügen - immer mehr aufgegeben wurde. Hier ist auch einmal mehr zu beklagen, daß in der vergangenen Legislaturperiode die Chance vertan wurde, bei der Änderung des Grundgesetzes ein Grundrecht auf Wohnen mit aufzunehmen.
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In den neuen Bundesländern wird die Wohn- und Mietenproblematik mit besonderer Sensibilität erlebt.
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- Ich rede jetzt.
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Zu den quantitativen und qualitativen Mängeln auf dem Wohnungsmarkt gesellen sich eine ganze Reihe spezifischer Probleme, die mittlerweile längst nicht mehr alle nur als Hinterlassenschaft von 40 Jahren DDR zu sehen sind, sondern zu einem guten Teil von politischen Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der letzten vier Jahre herrühren.
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Meine unmittelbare Erfahrung aus nächster Nähe ist die große Verunsicherung vieler Mieter angesichts einer Mietenentwicklung, die der Einkommensentwicklung wegläuft, angesichts des mit Händen zu greifenden Verlustes an Wohnraumsubstanz durch Entmietung, Umwandlung oder Leerstand - das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" hat erfolgreich die realsozialistischen Versäumnisse konterkariert, kann man sagen - und auch angesichts instinktloser politischer Schritte, die für den Bürger im Einzelfall besondere so noch nicht erfahrene Härten bedeuten und ihm einfach nicht zu vermitteln sind.
Die spezifischen Probleme der Wohnungswirtschaft Ostdeutschlands bedürfen eines problemgerechteren politischen Herangehens als bisher. Dies trifft insbesondere auf den bisher erreichten Altschuldenkompromiß zu, der so toll, wie Sie es meinen, Herr Minister, doch nicht ist. Er wurde schlicht und einfach mit der heißen Nadel genäht, ist mängelbehaftet und bedarf der Novellierung.
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Die SPD-Fraktion hat bereits einen Entwurf zur Änderung des Altschuldenhilfegesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht, der am 19. Januar auf der Tagesordnung des Bundestages stehen wird. Der Entwurf beruht auf der Annahme, zu Beginn der 13. Legislaturperiode könnte ein ermutigendes Zeichen für die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer gesetzt werden,
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die durch die allzu oft erfahrene schematische Übertragung ungeeigneter altbundesdeutscher Verhältnisse mittlerweile nicht nur verunsichert, sondern höchst gereizt sind.
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Ein Großteil der Mieter ist beispielsweise in Sorge, ob sie nicht nur ihre, sondern überhaupt eine Wohnung behalten; denn die Ankündigung neuer Mieterhöhungen im Jahre 1995 macht ihnen angst. Sicher, in dieser zugespitzten Form sind Ängste oft unbegründet; aber sie sind da.
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Sie sind auch nachvollziehbar, wenn auf Menschen so mit dem Holzhammer losgegegangen wird. Ängste, die vermeidbar gewesen wären, bedeuten, daß sich menschliches Leid hätte vermeiden lassen.
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Sollte es nicht eine Aufgabe der Politik sein, vermeidbares Leid zu verhindern?
Eine Novellierung des mangelhaften Altschuldenhilfegesetzes wäre darüber hinaus ein Stück erlebbarer Demokratie und ein Stück weit die Erfahrung, daß es Sinn macht, sich mit schlechten politischen Schritten nicht widerspruchslos abzufinden, sondern durch kritische Auseinandersetzung eine bessere Lösung zu erzwingen. Für Sie, Herr Minister, wäre das die einmalige Chance, Ihren Ankündigungen, es werde alles anders und besser, postwendend Taten folgen zu lassen.
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Das wäre auch ein Novum für die Opposition, die mit Spannung darauf wartet.
Weiterhin gibt es Regelungsbedarf bei dem im Altschuldenhilfegesetz mehr als unzureichend geklärten Problem der sogenannten Wendewohnungen.
Wohnungsgesellschaften, die mit einem hohen Wendewohnungsbestand belastet sind, sitzen im wahrsten Sinne des Wortes auf einer finanziellen Zeitbombe, die ihre Existenz bedroht.
Dankenswerterweise hat der Lenkungsausschuß hier in der vergangenen Woche eine Empfehlung gefunden, der schnellstens praktische Schritte folgen müssen. Im übrigen, Herr Minister, hat der Lenkungsausschuß mit Ihrer Mitwirkung Empfehlungen verabschiedet, die zeigen, daß das Altschuldenhilfegesetz so toll nicht sein kann. Auf jeden Fall müssen die Wohnungsgesellschaften finanziell in den Stand gesetzt werden, auch ihre Verpflichtung im Zusammenhang mit der dringend erforderlichen Modernisierung des Wohnungsbestandes zu erfüllen.
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Die Angst der Mieter aber, es könne ab Mitte 1995 zu einer Mieterhöhungswelle im Osten Deutschlands kommen, müssen wir sehr ernst nehmen. Denn trotz des Statements der Bundesregierung, eine direkte Belastung der Mieter durch Umlage des Kapitaldienstes für Altschulden werde ausgeschlossen, gibt es wohl kaum Zweifel daran, daß die Wohnungswirtschaft allein die Kapitaldienstleistungen nicht nur für Altschulden, sondern auch für neue Modernisierungskredite allein nicht tragen kann. Wohin dann mit den Tilgungen?
Für Verunsicherung sorgen schließlich auch die Pläne zur Einführung des Vergleichsmietensystems in Ostdeutschland. Es kann nicht oft genug betont werden, daß die Mietentwicklung in Ostdeutschland der Einkommensentwicklung nicht davonlaufen darf. Denn die schrittweise Mietenanpassung unter Berücksichtigung der Einkommen war Auftrag des Einigungsvertrages. Wenn dieser Konsens mit der Einführung der Vergleichsmiete aufgegeben werden sollte, dann bedeutet das einen weiteren schweren Vertrauensbruch, der zusätzliche politische Probleme schaffen wird. Die Heimlichkeit, mit der ein so gravierender Schritt bis jetzt vorbereitet wird, läßt zumindest nichts Gutes ahnen. Wir fordern die Bundesregierung nochmals nachdrücklich auf, endlich die Karten auf den Tisch zu legen.
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Wohnungspolitik ist im Osten Deutschlands bisher vielfach oder überwiegend leider als Verunsicherungspolitik erlebt worden.
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- Das ist ganz einfach so. Es muß sich ändern. Denn angesichts der vielen noch zu lösenden Aufgaben, die auch auf dein Gebiet der städtebaulichen Weiterentwicklung, der Wohnumfeldverbesserung anstehen, bedarf es sozialer Verantwortung.
Vieles ist in den vergangenen Jahren auf diesem Feld erreicht worden. Das ist unstrittig. Aber weitaus mehr bleibt noch zu tun. Es gilt darüber hinaus, das soziale Augenmaß in der Wohnungspolitik zurückzugewinnen,
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das im vorliegenden Haushaltsentwurf der Bundesregierung deutlich zu kurz kommt.
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Während die Frau Kollegin Lucyga eine erfahrene und, wie wir wissen, geschätzte Rednerin in diesem Parlament ist, hat der Herr Kollege Kutzmutz seine Jungherrenrede gehalten; darauf hat mich der Geschäftsführer der PDS hingewiesen. Deswegen: Herzlichen Glückwunsch!
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Weitere Wortmeldungen zum Bereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau liegen nicht vor.
Wir kommen damit zum Bundesministerium für Post und Telekommunikation; Einzelplan 13.
Nach einer Übereinkunft der Geschäftsführer ist vorgeschlagen worden, alle Reden zu Protokoll zu geben. Besteht damit Einverständnis? - Das ist der Fall.
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen folglich nicht vor.
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion eine schöne Weihnachtsfeier und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 16. Dezember, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.