Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/29/1996

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. Es ist erneut ein trauriger Anlaß, der uns zu Beginn unserer Plenarsitzung innehalten läßt. Am Wochenende erreichte uns die Nachricht, daß der Vorsitzende der Arbeitnehmer-Gruppe der CDU/ CSU-Fraktion, unser Kollege Heinz-Adolf Hörsken, am 23. Februar nach schwerer Krankheit im Alter von 57 Jahren verstorben ist, einer Krankheit, die er tapfer, ja nahezu kraftvoll und für uns alle beispielhaft durchlitten und durchlebt hat. Heinz-Adolf Hörsken wurde am 6. August 1938 in Oberhausen geboren. Der gelernte Schlosser, der auch als Bergmann gearbeitet hat, fühlte sich Zeit seines Lebens der Arbeitnehmerschaft eng verbunden. Bereits als junger Mann engagierte er sich in der Gewerkschaftsbewegung und in der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung. Seine politische Heimat fand er 1956 in der CDU und hier vor allem in der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft Deutschlands. Er war viele Jahre deren Hauptgeschäftsführer und seit 1993 stellvertretender Bundesvorsitzender. In den Bundestag kam der Kollege Hörsken erstmals 1990 über die hessische Landesliste der CDU; bei den Bundestagswahlen 1994 gewann er seinen Wahlkreis Groß-Gerau direkt. Der Schwerpunkt seiner parlamentarischen Arbeit lag im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und in seiner Aufgabe als Vorsitzender der Arbeitnehmer-Gruppe der CDU/ CSU-Fraktion, die er seit 1994 innehatte. Heinz-Adolf Hörsken war ein engagierter Streiter für die Gleichberechtigung der Arbeitnehmerschaft in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; ganz bewußt trat er für die Solidarität mit den Schwächeren und Benachteiligten ein. Er behielt seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung, war stolz darauf und wußte, wofür er stand. Wir werden Heinz-Adolf Hörsken als einen Kollegen mit hoher Fähigkeit zu Integration und Ausgleich zwischen unterschiedlichen Meinungen und Interessen in Erinnerung behalten. Er war ein Parlamentarier im besten Sinne, anerkannt und hochgeschätzt bei allen in diesem Hause. Wir betrauern seinen frühen Tod. Unser herzliches Mitgefühl gilt seinen Angehörigen, vor allem seiner Frau und seiner Tochter. Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben; ich danke Ihnen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Dr. Heribert Blens, der am 19. Februar seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich die besten Wünsche des Hauses aussprechen und ihm ganz besonders für seine Tätigkeit im Vermittlungsausschuß danken. ({0}) Für den verstorbenen Kollegen Dr. Ulrich Böhme hat der Abgeordnete Uwe Göllner am 12. Februar 1996 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen und wünsche gute Zusammenarbeit. Herzlich willkommen, Herr Göllner! ({1}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Vereinbarte Debatte zum Vergleichsantrag des Bremer Vulkan *) 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Der Moskau-Besuch des Bundeskanzlers*) 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Elisabeth Altmann ({2}), Marieluise Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Far eine durchgreifende Einkommensteuerreform: Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung - Drucksache 13/3874 4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse bei Bodenschätzen - Drucksache 13/3876 - *) In der 88. Sitzung am Mittwoch, 28.2. 96, bereits erledigt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Bergrechts in den alten und den neuen Bundesländern - Drucksache 13/3875 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Gerhard Jüttemann, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Änderung des Bundesberggesetzes - Drucksache 13/3873 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Franziska Eichstädt-Bohlig, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umzug nach Berlin als Chance für eine Reform der Bundesverwaltung und für ein zukunftsweisendes Personalkonzept - Drucksache 13/3902 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden. Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 5 a bis c, Iran-Politik der Bundesregierung, abzusetzen und den Tagesordnungspunkt 17, Debatte zur Entwicklungspolitik, den Tagesordnungspunkt 18 zum Frieden in Burundi sowie den Tagesordnungspunkt 19, Verwirklichung des Westsahara-Friedensplanes der Vereinten Nationen, deren Beratung für Freitag vorgesehen war, auf heute vorzuziehen und sie im Anschluß an den Tagesordnungspunkt 10, Herausnahme von Ghana aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten, aufzurufen. Die Beratung der Tagesordnungspunkte 11 bis 14 soll erst am Freitag im Anschluß an die zweite und dritte Beratung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes erfolgen. Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 83. Sitzung des Deutschen Bundestages am 1. Februar 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung ({5}) - Drucksache 13/3608 Überweisung: Ausschuß für Gesundheit ({6}) Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Inkraftsetzen der 2. Stufe der Pflegeversicherung - Drucksache 13/3811 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({7}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Das ist folglich so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei wichtige Sätze zu Beginn. Der erste: Die Pflegeversicherung funktioniert. Der zweite: Die Pflegeversicherung hilft. Der dritte: Die Pflegeversicherung steht finanziell auf festen Füßen. Die Pflegeversicherung funktioniert. Bis zum 31. Dezember 1995 waren 1,9 Millionen Anträge eingegangen: 1,6 Millionen Neuanträge und 300 000 Anträge auf Höherstufung. 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger erhalten jetzt durch die Pflegeversicherung handfeste Hilfe. 527 000 gehören der Pflegestufe I an. Sie erhalten entweder ein Pflegegeld von 400 DM oder Sachleistungen bis zu 750 DM. 445 000 gehören der Pflegestufe II an. Sie erhalten 800 DM oder Sachleistungen bis zu 1 800 DM. 210 000 gehören der Pflegestufe III an. Sie erhalten entweder 1 300 DM Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu 2 800 DM, in Härtefällen bis zu 3 750 DM. Das sind ganz nüchterne Zahlen. Dahinter verbirgt sich eine handfeste Verbesserung der Lebenslage vieler Mitbürger. ({0}) Allen, die klagen und ihre Erwartungen nicht erfüllt sahen, möchte ich sagen: Diejenigen, die jetzt zum erstenmal Hilfe erhalten oder mehr bekommen als bisher, werden dies mehr zu schätzen wissen als alle Kritiker zusammen. Hinzu kommen auch strukturelle Veränderungen. Erstens. Jetzt wächst langsam ein Bereich zwischen der ambulanten und der stationären Pflege. Dieser Zwischenbereich ist auch bitter notwendig; denn in bezug auf die Lebenslage der Menschen gibt es nicht nur zwei Möglichkeiten: entweder zu Hause oder im Heim, sondern dazwischen gibt es den Bedarf an Kurzzeitpflege, an Tagespflegeplätzen. Ich denke, daß gerade dieser Bereich eine besondere Förderung braucht, weil er der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse besser gerecht wird als das einfache Schema „allein daheim oder ab ins Heim". Zweitens. Es zeigt sich - die Meldungen kommen aus allen Regionen -, daß die Zahl der Anträge auf stationäre Unterbringung zurückgeht. Das, finde ich, ist ein großer Erfolg der Pflegeversicherung, ({1}) und zwar nicht nur wegen der finanziellen Dimension. Finanzfragen sind auch wichtig, aber zunächst geht es um die menschlichen Gesichtspunkte. Einen Menschen so lange, wie er will und kann, in seinen vertrauten vier Wänden zu lassen, halte ich für einen sozialpolitischen Fortschritt. ({2}) Hinzu kommt, daß die Pflegeversicherung auch ein Beschäftigungsprogramm ist. 3 000 private Pflegedienste sind inzwischen gegründet worden, mit der entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag. Ich sehe den Erfolg der Pflegeversicherung nicht nur in der Hilfe für diejenigen, die pflegebedürftig sind, sondern auch in einer Verbesserung der Lage derjenigen, die pflegen. An die ist häufig gar nicht gedacht worden. Sie haben jetzt zum ersten Mal einen Anspruch auf eine Alterssicherung, auf eine Rentenversicherung. Sie bekommen die Möglichkeit einer Urlaubsvertretung. Wer seine Angehörigen oder wen immer pflegt, der tut das häufig mit einer solchen Anspannung, daß er keinen Urlaub machen kann, weil er an eine Aufgabe gefesselt ist. Jetzt bekommt er zum ersten Mal auch Gelegenheit zum Atemholen. Das ist der Teil: Die Pflegeversicherung hilft. Nun noch zum dritten Teil. Bis zum 31. Dezember 1995 belaufen sich die Einnahmen der Pflegeversicherung auf 16,4 Milliarden DM, die Ausgaben auf 9,7 Milliarden DM. Das ist ein Überschuß von 6,7 Milliarden DM. Davon geht das Darlehen ab, das die Pflegeversicherung den neuen Ländern für die Investitionen gewährt, ein Darlehen, das bis zum Jahre 2002 zurückgezahlt wird. Wir haben in der Rücklage also 5,6 Milliarden DM. Jene Voraussage, daß es in der Pflegeversicherung ein Defizit von 3 Milliarden DM geben werde, hat sich also als eine Horrornachricht erwiesen. Die Wirklichkeit beweist: Die Pflegeversicherung steht auf finanziell festen Füßen. Das finde ich wichtig; denn gerade in der Anlaufphase ist ein Sicherheitspolster unerläßlich. Auch im Hinblick auf die zweite Stufe brauchen wir eine Rücklage, die Risiken ausschließt; denn wir wollen und können die Beiträge über 1,7 Prozent hinaus nicht erhöhen. Also ist es ein Gebot der Vernunft, mit einer Rücklage zu arbeiten, die dieses Risiko ausschließt. Dabei geht niemandem etwas verloren. Wenn wir genügend Sicherheitspolster haben, wenn die Anlaufzeit vorbei ist, wird mit den 1,7 Prozent Beitrag bei Gelegenheit sicherlich auch eine Leistungsanpassung bezahlt werden können. Aber es ist viel zu früh, von Leistungsanpassung zu reden. Jetzt gilt: Sicherheit hat Vorfahrt. Wir wollen eine Pflegeversicherung, die nicht ins Gerede kommt, die auf sicheren Füßen steht. ({3}) Nun will ich nicht verheimlichen, daß es in der Anfangsphase auch Schwierigkeiten gibt. Das wird aber nur den überraschen, der die Geschichte der Sozialpolitik nicht kennt. Bei einem neuen Gesetz, bei einer neuen Versicherung gab es immer Anlaufschwierigkeiten. Ich empfehle den Rückblick in die Anfangsjahre der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Das ist so. Wer solche Schwierigkeiten vermeiden will, macht am besten gar nichts. Wenn man stehenbleibt, gibt es keine Anlaufschwierigkeiten. Jeder, der ein Haus baut, weiß: Da klemmt eine Tür, da zieht's. Aber deshalb wird man doch das Haus nicht abreißen. Die Schwierigkeiten müssen überwunden werden. Es gab Anlaufschwierigkeiten in der Abgrenzung zur Sozialhilfe. Es gab den verständlichen Versuch, Leistungen in die Pflegeversicherung abzudrängen. Es gab und gibt noch Anlaufschwierigkeiten bei der Abgrenzung zur Behindertenarbeit. Die Pflegeversicherung ist keine allgemeine Behindertenversicherung. Bei den Behinderten geht es um Eingliederung. Hier muß also eine Grenze gezogen werden. Die Behandlungspflege war ein Thema der Abklärung mit den Krankenkassen. Da sprechen wir uns 1999 wieder, wenn ein Bettenabbau ermöglicht wurde. Ich denke, der Bettenabbau im Krankenhaus wird gerade durch die Einrichtung der Pflegeversicherung ermöglicht. Heute ist es so, daß in vielen Krankenhäusern auch Pflegebedürftige untergebracht sind, was ich nicht mit einem Vorwurf verbinde. Wohin soll der Arzt die Pflegebedürftige entlassen, wenn es keine Alternative gibt, wenn es keine Unterstützung zu Hause gibt, wenn es keine Heimunterbringung gibt, wenn es keine Tagespflegeplätze gibt, wenn es keine Kurzzeitpflege gibt? Das Krankenhaus ist zwar nicht für diese Fälle gedacht, aber oft die letzte Rettungsstation. Wenn eine solche Infrastruktur aufgebaut ist, bietet dies auch die Chance, Fehlbelegungen abzubauen. Die zweite Stufe muß kommen. Sie muß deshalb kommen, weil die Pflegeversicherung zwei Seiten hat: ambulant und stationär. Sie wäre geradezu beschädigt, wenn sie sich nur auf die ambulante Seite beschränken würde. Sie wäre auch deshalb beschädigt, weil wir dann eine neue Grenzstreitigkeit hätten, nämlich die Frage: Was ist ambulant, was ist stationär? Dieser Zwischenbereich, von dem ich gerade sprach, läßt sich nicht immer eindeutig zuordnen. Insofern gehören ambulant und stationär zusammen. Eine andere Frage, die wir immer mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden haben, ist die Frage der Kompensation; denn wir verstehen „umbauen" nicht einfach als „draufsatteln" . Denn wenn es neue Bedürfnisse gibt, muß man den alten Katalog der Angebote überprüfen. Das ist sozusagen das Einmaleins des Umbaus. Hier gibt es sicherlich Dinge, die bei der Einführung der Sozialversicherung im vorigen Jahrhundert notwendig waren, die heute nicht mehr so notwendig sind. Andere Dinge, wie die Pflegeversicherung, waren vor 100 Jahren nicht so notwendig. Da gab es noch die Großfamilie, obwohl sie nicht so idyllisch war, wie sie im nostalgischen Rückblick dargestellt wird. Da gab es keine 30 oder 40 Jahre im Ruhestand, da waren es nur ein, zwei Jährchen. Insofern hat sich die Gesellschaft verändert. Eine Sozialpolitik, die im Leben steht, muß auf solche Veränderungen reagieren. Wir bekennen uns zur Notwendigkeit der Kompensation. Der Sachverständigenrat hat festgestellt, die Streichung eines zweiten Feiertages wäre eine Überkompensation. Deshalb ist in der Logik des Sachverständigenrates auch die Streichung eines weiteren Urlaubstages eine Überkompensation, ({4}) ganz abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wie man sie durchsetzen kann, wenn man nicht auf Freiwilligkeit hoffen kann. Das haben wir mehrfach ausprobiert. Wer es schafft, 7 000 Tarifverträge zu verändern, wird von allen meinen guten Wünschen begleitet. Davon kann natürlich nicht die Einführung der zweiten Stufe abhängig sein. Ich will darauf aufmerksam machen, daß das, was wir an Konsolidierung, an Sparen für notwendig halten, weit über das hinausgeht, was für die zweite Stufe der Pflegeversicherung notwendig ist. Wir stehen vor einem Bedarf an Entlastung von Lohnzusatzkosten, der weit über den Umbau hinausgeht, der im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung notwendig ist. Daß wir es ernst meinen und daß es nicht nur ein Programm ist, nicht nur eine Absicht ohne Konsequenzen, haben wir auch in den zurückliegenden Monaten bewiesen. Ich erinnere an die Neuregelung des Schlechtwettergeldes - eine Entlastung der Bundesanstalt um mehrere hundert Millionen DM - und an die Arbeitslosenhilfereform. Wir gehen jetzt die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes unter den Gesichtspunkten an: Wie machen wir die Bundesanstalt effektiver? Wie schaffen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die den einzelnen besser erreicht, die mehr in den ersten Arbeitsmarkt hinüberführt? Ich sage aber ebenso: Die Reform soll auch zur finanziellen Entlastung beitragen, auch zur Entlastung von Lohnzusatzkosten. Auch das Thema Frühverrentung spreche ich in diesem Zusammenhang an, wohl wissend, daß die Ergebnisse nicht schnell vorliegen. Aber wir machen keine Politik nur von der Hand in den Mund. Es geht nicht nur um eine Reparatur heute oder morgen, es geht um langfristige Strukturveränderungen und damit auch um eine Konsolidierung der Rentenversicherung und ihrer Beiträge. Meine Damen und Herren, wir wollen dabei nicht übersehen, daß die Pflegeversicherung auch die Krankenversicherung von Kosten entlastet hat, die die Krankenversicherung bisher getragen hat, denn sonst müßten dort die Beiträge höher sein. Das ärgerliche Thema, das ich hier zu Protokoll gebe - ich hoffe und setze darauf, daß wir da mit der Opposition übereinstimmen -, ist das Thema Investitionskosten. ({5}) Das ist keine Sache, die nur die Regierung betrifft. Wir müßten von kollektivem Gedächtnisschwund befallen sein, wenn wir uns nicht mehr daran erinnern würden, daß es im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Pflegeversicherung Übereinstimmung mit allen Ländern gab - sowohl mit den A- als auch mit den B-Ländern und es gar keine parteipolitische Frage war, daß die Pflegeversicherung nach dem Beispiel der Krankenversicherung geregelt wird, was die Investitionskosten anlangt. Ein Blick in die Krankenversicherung zeigt: Die Investitionskosten werden von der öffentlichen Hand, von den Ländern und Kommunen vorgehalten. Das war damals gemeinsame Grundlage. Ich mache darauf aufmerksam, daß der Vorschlag der Koalition eine monistische Finanzierung vorsah, bei der das Problem gar nicht aufgetreten wäre. Da hätten wir Investitions- und Pflegekosten aus einer Hand bezahlt. Es war der Wille der Länder - ich sage es noch einmal, damit es da keine kleinkarierten parteipolitischen Punktspiele gibt -, die Investitionskosten zu übernehmen, auch um sich Planungsrechte zu sichern. An diese Vereinbarung muß ich erinnern. Wir müssen - ich hoffe: gemeinsam - darauf bestehen, daß die Länder ihr Wort halten. ({6}) Das ist nicht nur eine Sache des Bund-Länder-Verhältnisses. Im Hintergrund steht: Wenn die Investitionskosten nicht von den Ländern bezahlt werden, dann bezahlen sie die Pflegebedürftigen, und damit holen wir weniger Leute aus der Sozialhilfe heraus, als es der Fall wäre, wenn die Länder ihre Verpflichtungen erfüllen. Es wäre sehr eindrucksvoll, wenn der gesamte Bundestag die Länder an dieses Versprechen erinnerte, gleichgültig welche Parteien dort jeweils regieren. ({7}) Ich mache darauf aufmerksam, daß die Kommunen und die Länder durch die Pflegeversicherung über Einsparungen bei der Sozialhilfe entlastet werden und daß es gar nicht unser Verlangen war, die ganze Entlastung der Pflegeversicherung zugute kommen zu lassen. Bereits ein Drittel würde genügen, um die Investitionskosten zu bezahlen. Deshalb rufe ich alle auf - da appelliere ich auch an die Behindertenverbände -, die richtige Adresse zu wählen für die Klage, daß die Investitionskosten nicht der Pflegeversicherung aufgehalst werden. Ich bleibe dabei: Auch die zweite Stufe wird große Anstrengungen verlangen. Meine Aufforderung geht hier ebenso an die Träger. Ich bleibe dabei, daß auch in der Pflegeversicherung, auch in der stationären Pflege Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Das betrifft alle Heime, das betrifft auch die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Alle müssen sich der Wirtschaftlichkeitsfrage stellen. Wenn wir darauf bestehen, dann im Interesse der Pflegebedürftigen. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß der gesamte Deutsche Bundestag dieses Versprechen der Länder einfordert. Im Zusammenhang mit der zweiten Stufe der Pflegeversicherung müssen wir darauf bestehen, daß jeder seine Aufgabe, seine Verpflichtungen erfüllt. Der erste Punkt ist - ich wiederhole es -: Die Pflegeversicherung funktioniert. Zweiter Punkt: Die Pflegeversicherung hilft. Dritter Punkt: Die Pflegeversicherung steht finanziell auf soliden Beinen. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Exakt drei Monate, nachdem hier im Deutschen Bundestag der GesetzGerd Andres entwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Inkraftsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung diskutiert wurde, haben wir heute Gelegenheit, einen Gesetzentwurf der Koalition zu diesem Thema zu diskutieren. Dabei will ich zunächst festhalten: Es ist zu begrüßen, daß die Koalition mit diesem Gesetzentwurf ihre Absicht bekräftigt, fristgerecht die zweite Stufe der Pflegeversicherung, welche die stationäre Versorgung der Menschen in unserem Lande betrifft, in Kraft zu setzen. Wer die Debatten um die Pflegeversicherung in den letzten Monaten verfolgt hat, wird sich sicherlich in der einen oder anderen Frage große Sorgen gemacht haben. Ich will hier für die SPD-Bundestagsfraktion festhalten, daß es nach dem gegenwärtigen Stand in der ambulanten Versorgung mehr als 1,2 Millionen betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die Leistungen nach der ersten Stufe der Pflegeversicherung erhalten. Dies ist aus unserer Sicht ein großer sozialpolitischer Fortschritt. ({0}) Ich will ebenfalls festhalten, daß es mit der Umsetzung der Pflegeversicherung in der ersten Stufe das eine oder andere Problem gegeben hat. Es gab einen Antragsstau, es gab Auseinandersetzungen um die Eingruppierung in die verschiedenen Pflegestufen. Diese Auseinandersetzungen werden in den nächsten Wochen und Monaten anhalten. Dies ist zwar ein normaler Vorgang bei der Umsetzung eines solch großen Sozialversicherungswerkes. Allerdings, denke ich, muß man die Pflegediskussion an der einen oder anderen Stelle in einen anderen Zusammenhang rücken, als es der Bundesarbeitsminister hier getan hat. Ich will zunächst die sachlichen Regelungsbereiche des Gesetzentwurfes der Koalition nennen. Erstens. Es wird festgelegt, daß zur Jahresmitte die zweite Stufe der Pflegeversicherung in Kraft treten soll. Zweitens. Es wird festgelegt, daß mit einem Beitrag in Höhe von 0,7 Prozent die Mittel erhoben werden, die zur Finanzierung der zweiten Stufe notwendig sind. Drittens. Es ist ein bemerkenswerter Vorgang festzustellen, der über Wochen und Monate diese Koalition gequält hat und immer noch nicht bereinigt ist. ({1}) Im Gesetzentwurf selbst und in der Gesetzestechnik wird zwar von Kompensation nicht mehr gesprochen, aber in den Begründungszusammenhängen taucht das Thema Kompensation erneut auf. Ich begrüße hier ausdrücklich - der Bundesrat hat es in seiner Stellungnahme ebenfalls getan -, daß im Gesetzentwurf selbst von einem zusätzlichen Kompensationsbedarf nicht mehr die Rede ist. ({2}) Viertens wird mit diesem Gesetzentwurf Art. 69 des Pflege-Versicherungsgesetzes gestrichen, der nach unserer Auffassung - das haben wir in der letzten Diskussion im November hier schon deutlich gemacht - eine außerordentlich zu kritisierende Konstruktion darstellt. Ich begrüße, daß auch die Regierungskoalition diese gesetzlichen Regelungen streichen möchte. Allerdings muß man im Zusammenhang mit der Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung auf eine Reihe von Problemen eingehen. Da empfiehlt es sich, sich sehr genau die Stellungnahme des Bundesrates anzuschauen, der in seiner 693. Sitzung am 9. Februar in vier Positionen Stellung bezogen hat. Der Bundesrat hat einmütig, so wie wir hier und heute, begrüßt, daß in diesem Gesetzentwurf eine Kompensation nicht vorgesehen ist. ({3}) Der Bundesrat hat in einem zweiten Punkt festgestellt, daß bei der Umsetzung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung dringend darauf geachtet werden muß, daß neben den normalen Stufen I, II und III Regelungen gefunden werden, die dafür sorgen, daß auch diejenigen Personen in den stationären Einrichtungen Leistungen erhalten, die unter die sogenannte Pflegestufe Null fallen. Unter Punkt 3 hat der Bundesrat angemerkt, daß es mit dem Pflege-Versicherungsgesetz eine Reihe von notwendigen Regelungstatbeständen gibt, die sich aus der gesetzlichen Konstruktion der Pflegeversicherung ergeben und mit denen wir in den nächsten Wochen und Monaten doch ganz erhebliche Probleme bekommen werden. Dazu gehört als allererstes eine notwendige Abgrenzung der Pflegeversicherung von den Tatbeständen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz. Dazu gehört zweitens eine vernünftige Zuordnung der Kosten der sozialen und sozialpflegerischen Betreuung in Pflegeheimen, und dazu gehört drittens - auch dies ist vom Bundesrat angemerkt worden - eine vernünftige Regelung zur Übernahme der Kosten der Behandlungspflege im Rahmen der stationären Pflege. Der vierte Punkt, den der Bundesrat angemerkt hat, bezieht sich auf einen Sachverhalt, bei dem der Bundesarbeitsminister in seiner ansonsten moderaten Rede deutlich die Stimme angehoben hat. Er bezieht sich nämlich auf die Investitionskosten. Hier weist der Bundesrat darauf hin, daß es nach seiner Auffassung eine Zusage - jetzt kommt die Formulierung, Herr Bundesarbeitsminister - zur vollen Übernahme aller Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen schon deshalb nicht geben konnte, weil es bisher eine von Land zu Land unterschiedliche Förderung von Pflegeeinrichtungen und die sich daraus ergebenden Differenzierungen hinsichtlich der Übernahme der sogenannten alten Lasten nicht gebe. Ich weise darauf hin, daß ein Blick in das Pflege-Versicherungsgesetz, und zwar hier insbesondere in den § 9, Aufgaben der LänGerd Andres der, ergibt, daß im Gesetzestext zwar folgendes festgehalten wird: Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen. Aber eine Position, die lautet, es gehe um die volle Übernahme oder es gehe darum, nach der dualen Finanzierung faktisch alles zu übernehmen, wird von den Ländern bestritten. Nun will ich darauf hinweisen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß es im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung zwei zentrale Absichten des Gesetzgebers gegeben hat. Die eine Absicht war eine deutliche Stärkung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen bei der ambulanten Versorgung. Die zweite Absicht bei der Einführung des PflegeVersicherungsgesetzes war, bei der stationären Versorgung von Pflegebedürftigen darauf hinzuwirken, daß ein Großteil der betroffenen Menschen aus dem Sozialhilfebezug herausgelöst wird. Daher wird die spannende Frage bei der Umsetzung der zweiten Stufe sein, ob es uns gelingt, bei den Leistungssätzen und bei den Regelungstatbeständen, die die Pflegeversicherung für den stationären Bereich vorsieht, in der Tat zu erreichen, daß eine überwiegende Zahl der Menschen aus dem Sozialhilfebezug herausgenommen wird. Dabei hatte ich in den Debatten der letzten Monate doch festzustellen, daß hier zu Lasten der Betroffenen und auf dem Rücken der Betroffenen Auseinandersetzungen ausgetragen werden, die man meiner Auffassung nach so nicht hinnehmen kann. ({4}) Ich sage ganz ausdrücklich, meine sehr verehrten Damen und Herren: Der Hinweis des Bundesarbeitsministers auf die Investitionskosten ist die eine Sache; ({5}) die andere ist die unwürdige Auseinandersetzung zwischen dem Bundesarbeitsminister und dem Bundesgesundheitsminister seit Dezember ({6}) um die Übernahme der sogenannten Behandlungspflege. Das ist ein Skandal, was sich hier abgespielt hat. ({7}) Ich erkläre hier noch einmal ganz ausdrücklich: Wer auf der einen Seite von den Ländern einfordert, sie mögen ihren Beitrag zur Entlastung der Pflegebedürftigen leisten, damit diese aus der Sozialhilfe herauskommen, der darf auf der anderen Seite nicht zulassen, daß der Pflegeversicherung sachfremde Leistungen zugeschoben werden, für die sie nach unserer Auffassung nicht zuständig ist. ({8}) Ich betone hier erneut, daß ich der Auffassung bin, daß die sogenannte Behandlungspflege in den Bereich der Krankenversicherung gehört und nicht in den Bereich der Pflegeversicherung. ({9}) Wir werden uns in den nächsten Monaten und Wochen erheblich damit auseinandersetzen, welche Auswirkungen das auch für den Sozialhilfebezug von Pflegebedürftigen hat. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß festhalten, daß es quer durch unser Land, insbesondere bei Menschen, die in stationären Einrichtungen untergebracht sind, und ihren Angehörigen, aber auch bei den Verbänden und den Trägern dieser Einrichtungen eine ungeheure Verunsicherung gibt. Dies hängt damit zusammen, daß wir eine Reihe von Regelungen treffen müssen, mit denen in der Tat gewährleistet wird, daß die Umsetzung der Pflegestufe II sach- und fachgerecht stattfinden kann. Der Gesetzgeber hat im Pflege-Versicherungsgesetz die Begrifflichkeit von der Ganzheitlichkeit der Pflege verankert. Alle Kolleginnen und Kollegen, die derzeit im Land unterwegs sind, Einrichtungen und Träger besuchen und mit ihnen sprechen, wissen, daß es ganz, ganz große Auseinandersetzungen, Verängstigungen und Probleme im Zusammenhang mit der Umsetzung der zweiten Pflegestufe gibt. Die Koalition hat vor drei Wochen einen Gesetzentwurf eingebracht, der den schönen Titel trägt: Erstes Gesetz zur Änderung des SGB XI. In diesem Gesetzentwurf ist eine Reihe von Regelungstatbeständen vorgesehen, die unserer Überzeugung nach zu ganz, ganz großen Problemen und Auseinandersetzungen führen. Der Bundesarbeitsminister hat es selbst angesprochen: Bei Einführung der Pflegeversicherung war nicht vorgesehen, daß faktisch die Eingliederungshilfe und große Leistungen im Behindertenbereich, die bisher über das BSHG abgewickelt wurden, einfach der Pflegeversicherung zugeschoben werden. ({11}) Das war nicht vorgesehen und von niemandem in diesem Hause gewollt. Aber umgekehrt, glaube ich, kann nicht gewollt sein, daß faktisch mit einem Kunstgriff in § 71 des Pflege-Versicherungsgesetzes große Teile der Einrichtungen, die sich mit der Betreuung und Versorgung von Behinderten auseinandersetzen, schlicht aus dem Pflege-Versicherungsgesetz ausgegrenzt werden. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, im bestehenden Gesetz sind Möglichkeiten vorgesehen, wie die Abgrenzung zwischen den Leistungen der Sozialhilfe und denen der Pflegeversicherung sachgerecht vorgenommen werden kann. Wenn wir in den Beratungen der kommenden Wochen in diesem Punkt nicht zu vernünftigen Lösungen kommen, wird es, glaube ich, zu einem sehr gewaltigen Verlust von Vertrauen in die Politik kommen. In diesem Zusammenhang muß ich eine Anmerkung zu dem machen, was der Bundesarbeitsminister zur finanziellen Sicherheit der Pflegeversicherung gesagt hat. Es ist in der Tat so, daß gegenwärtig entsprechende Reserven bei den gesetzlichen Pflegekassen vorhanden sind. Aber auch hier verweist ein schlichter Blick in das Gesetz unter Berücksichtigung seiner finanziellen Auswirkungen, die die Bundesregierung selbst aufgeschrieben hat, auf einen Tatbestand, mit dem sich der Deutsche Bundestag und der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung in den nächsten Tagen sehr dezidiert werden auseinandersetzen müssen. Im Gesetz steht, daß im Jahre 1997, also im ersten Jahr, in dem nach den Planungen alle Stufen in Kraft sind, volle Beitragssätze für ein ganzes Jahr genommen und volle Leistungen gewährt werden, die Einnahmen der Pflegeversicherung bei 31,4 Milliarden DM liegen werden, während ihre Ausgaben mit 29,4 Milliarden DM verbucht werden. Wenn man von diesen Größenordnungen ausginge, würde dies für das Jahr 1997 bedeuten - ich nehme einmal die gesamte gegenwärtige „Polsterdiskussion" weg -, daß die Pflegeversicherung mit einem Polster, mit einem Luftbetrag, mit einer entsprechenden Abfederung von rund 2 Milliarden DM rechnen könnte. Wenn dies so ist, stellt sich doch die ganz spannende Frage, warum die Koalition im ersten Änderungsgesetz zum Pflege-Versicherungsgesetz eine ganze Reihe von Regelungen vorsieht, mit denen relativ rigoros und stramm Einsparungen und Leistungsausgrenzungen vorgenommen werden sollen. Wer sich die internen Diskussionen anhört, die auch in der Koalition dazu geführt werden, und das, was dazu öffentlich gesagt wird, stellt fest, daß es große Bedenken und Schwierigkeiten hinsichtlich der finanziellen Ausgestaltung der Pflegeversicherung gibt. Deswegen sage ich hier ganz eindeutig: Der Bundesarbeitsminister ist aufgefordert, in den kommenden Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung sehr dezidiert und belegbar darzustellen, wie sich Kostenblöcke in bestimmten Bereichen entwickeln. Er hat darzulegen, wie sich die Anwendung der Pflegesätze und die Umsetzung der Einstufung in den stationären Einrichtungen vollziehen. Er hat uns Auskunft darüber zu geben, wie die Abgrenzung zwischen der Pflegeversicherung und dem BSHG, also der Eingliederungshilfe, im finanziellen Sektor aussieht und ob es tatsächlich notwendig ist, einen Teil der Einrichtungen im Bereich der Behindertenversorgung so auszugrenzen, wie das im Gesetz vorgesehen ist. Ich sage hier ganz ausdrücklich: Der einzige, der gegenwärtig über einigermaßen zutreffendes Zahlenmaterial verfügt, ist der Bundesarbeitsminister. Alles, was gestern die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung im Zusammenhang mit der Umsetzung der zweiten Stufe erbracht hat, ist gegenwärtig nur auf einer relativ schwachen Datenbasis zu bewerten. Wenn man die erste Stufe mit der zweiten Stufe vergleicht, ist beispielsweise festzustellen, daß die Zahl der Leistungsberechtigten in der ambulanten Versorgung um etwa 100 000 bis 200 000 höher liegen wird, als ursprünglich angenommen. Welche Auswirkungen es hinsichtlich der Zahl der Leistungsberechtigten im stationären Sektor geben wird, ist gegenwärtig schlecht zu kalkulieren. Wenn man alle Zahlen zusammen nimmt und wenn man einbezieht, daß bestimmte Leistungen im Behindertensektor zu gewähren sind, dann kommt man möglicherweise auf Zahlen, die größer sind als die ursprünglich geschätzte Zahl von 410 000 Personen, die unter die zweite Stufe der Pflegeversicherung fallen. ({13}) - Der Bundesarbeitsminister ruft dazwischen „Sicherheit" . Auch in diesem Punkt denke ich, daß es um Sicherheit geht. Aber es muß in erster Linie um Sicherheit für die betroffenen Menschen gehen, denen mit der Einführung der Pflegeversicherung bestimmte Hoffnungen und durch die Politik Zusagen gemacht wurden. ({14}) Was ich für unerträglich halte, Herr Bundesarbeitsminister, ist in der Tat ein Spiel, das wir gegenwärtig auf mehreren Ebenen erleben: Da streiten sich die gesetzlichen Krankenversicherungen, die Pflegeversicherung, die Sozialhilfeträger, Bund und Länder um die Übernahme bestimmter Kostenblöcke. Ich möchte vermeiden, daß, wie bei Art. 51 des Pflege-Versicherungsgesetzes, in dem der Bundestag eindeutig eine Bestandssicherung formuliert hat - das war unser aller Wille -, die Angreifbarkeit dieser Bestandssicherung dazu führt, daß Auseinandersetzungen zwischen den Sozialhilfeträgern auf der einen und der Pflegeversicherung auf der anderen Seite auf dem Rücken der betroffenen Menschen ausgetragen werden. Dies darf es auch im künftigen Verfahren nicht geben. ({15}) Ich möchte eine weitere Anmerkung machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die kundigen Tibetaner wissen längst, daß wir es mit unterschiedlichen GeGerd Andres setzentwürfen zu tun haben, die so auf den Weg gebracht worden sind, daß zu erwarten ist, daß mit der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung erneut ein großer Kraftakt zwischen Bund und Ländern stattfinden wird. Ganz entschieden möchte ich zurückweisen - das hat schon in der letzten Debatte in diesem Hause eine Rolle gespielt -, daß die stationär zu versorgenden Menschen als Pressionsmittel benutzt werden, um eine Interessenabwägung zwischen den unterschiedlichen föderalen Strukturen in unserer Gesellschaft vorzunehmen. Der Kollege Laumann hat im November vergangenen Jahres in der letzten Debatte zu diesem Thema hier erklärt, man überlege sich, die Einführung der zweiten Stufe solange zurückzuhalten, bis es bestimmte Zusagen, Verabredungen und Einhaltungen von Positionen durch die Bundesländer gebe. ({16}) Herr Kollege Laumann, Ihre Ankündigung ist ja in diesen Tagen durch Herrn Staatssekretär Jung noch einmal in öffentlicher Form drastisch erneuert worden. Wir wissen sehr genau, daß das Gesetzgebungspaket bezüglich der Änderungen des Elften Buches des Sozialgesetzbuches im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß landen wird. Denn die Regelungen, die Sie getroffen haben, können aus Sicht der Länder weder im Sinne der Betroffenen noch der sozialen Einrichtungen mitgetragen werden. Wir wissen, daß hier ein Koppelgeschäft zwischen der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung und notwendigen gesetzestechnischen Änderungen innerhalb des Pflege-Versicherungsgesetzes vorgesehen ist. Ich warne - der Bundesarbeitsminister hat dazu soeben sehr theatralisch vorgetragen - ausdrücklich vor einer solchen Verfahrensweise. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht auf andere Beteiligte mit Steinen werfen. ({17}) Im Sinne der Betroffenen ist es notwendig, daß die beteiligten Ebenen in einem vernünftigen Verfahren zusammenkommen; es dürfen keine Regelungen getroffen werden, bei denen die betroffenen pflegebedürftigen Menschen, insbesondere in den stationären Einrichtungen, zum Schluß auf der Strecke bleiben. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Babel?

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Andres, wir haben jetzt begriffen, daß Sie weder die Behandlungspflege noch die soziale Betreuung und die Investitionskosten auf dem Rücken der Betroffenen abgeladen wissen wollen. Das haben wir begriffen. ({0}) Für den Bereich der Behandlungspflege und der sozialen Betreuung haben Sie einen Financier genannt, nämlich die Krankenversicherung. Würden Sie bitte uns allen sagen, wie und von wem aus Ihrer Sicht die fehlenden Investitionskosten, die die Länder offensichtlich nicht erbringen wollen, aufgebracht werden sollen? ({1})

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Babel, ob Sie es begriffen haben, weiß ich nicht. Das wird sich in den weiteren Beratungen herausstellen. ({0}) Ich habe ausdrücklich auf die Formulierung im Gesetz verwiesen. Ich bin der Überzeugung, daß die Länder einen deutlichen Beitrag zu den Investitionskosten leisten müssen. Dies ist in § 9 des Pflege-Versicherungsgesetzes auch so formuliert. Der Streitpunkt, um den es hier geht - das wird bei weiteren Debatten eine Rolle spielen und wurde vom Kollegen Laumann in der letzten Debatte auch schon angedeutet -, besteht darin, ob die Konstruktion, die die Länder für ihren Beitrag zu den Investitionskosten gefunden haben, von uns gleichermaßen bewertet wird oder nicht. Wer sich mit den Finanzierungen der Länder auseinandersetzt, der wird sehr schnell feststellen, daß eine Reihe von Ländern - ich nenne einmal das Land, aus dem ich komme: Niedersachsen - ein Landespflegegesetz auf den Weg gebracht haben und daß wir Konstruktionen haben, die sozusagen nachträgliche Erstattungen der Investitionskosten in Höhe von 80 Prozent ermöglichen. Die Behauptung, die Länder täten hier überhaupt nichts, und die Aufforderung, sie müßten nun endlich einmal das tun, wozu sie sich verpflichtet hätten, halte ich nicht für akzeptabel. Ich sage Ihnen vorher - deswegen meine Warnung -, Sie werden diese Gesamtpakete im Vermittlungsausschuß wiederfinden. Es wird dann darauf ankommen, das zu sortieren, was Sie der Pflegeversicherung unserer Auffassung nach unsachgerecht zugeordnet haben, und das, was es als Verpflichtungen der Länder im Rahmen der Pflegeversicherung zu tun gibt, und zu prüfen, ob das von den Ländern erbracht werden muß. Eines können aber alle in diesem Hause nicht wollen - deswegen möchte ich das Drohen mit der Verschiebung und der Angstmacherei gegenüber den betroffenen Pflegebedürftigen nicht -, ({1}) nämlich daß zwischen den föderalen Ebenen in unserem System die Auseinandersetzungen so ausgetragen werden, daß zum Schluß die betroffenen Menschen auf der Strecke bleiben. Das darf nicht sein. ({2}) Sie brauchen Vertrauensschutz, und alle in diesem Hause sind aufgefordert, entsprechend daran zu arbeiten. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß die Debatte heute morgen zunächst einmal gezeigt hat - das ist positiv -, daß das ganze Haus der Meinung war, daß die erste Stufe der Pflegeversicherung alles in allem gelungen ist und daß wir eine Menge für die Menschen, die in ihrer häuslichen Umgebung gepflegt werden, erreicht haben. ({0}) Daß wir uns darin einig sind, ist schon viel wert; denn bei der vorhandenen dauerhaften Kritikbereitschaft in der öffentlichen Meinung ist es gut, daß man sich darüber einig ist. Ich füge hinzu: Das beste Kompliment für die Pflegeversicherung, das ich mir vorstellen kann, ist die Tatsache, daß die Zahl der Heimunterbringungen für pflegebedürftige Menschen in diesem Land abgenommen hat. Dies ist der schlagendste Beweis dafür, daß uns die häusliche Pflege gelungen ist. Ich sehe das nicht nur aus Kostengründen so - zu Hause ist es billiger als im Heim -, sondern auch deshalb, weil ich aus vielen Gesprächen, die ich in meinem Wahlkreis und anderswo, auch in Alteneinrichtungen, geführt habe, weiß, daß es sich die allermeisten alten Menschen wünschen, daß sie, wenn sie pflegebedürftig werden und es eben geht, in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Das ist der große Wunsch. Daß wir es erreicht haben, daß sich jetzt immer mehr Familienangehörige die Pflege zu Hause zutrauen, halte ich für eine ganz tolle Sache. ({1}) Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren Punkt, der uns alle eigentlich ein wenig zufrieden stimmen sollte, insbesondere wenn ich an die Diskussionen über die Finanzen anderer sozialer Sicherungssysteme denke: Wir können jetzt nach einem guten halben Jahr seit der Einführung der ersten Stufe sagen, daß die Finanzsituation der Pflegeversicherung stabil ist. Wir haben ein Plus in Höhe von 5 Milliarden DM in der Pflegeversicherung. Aber wie umstritten war es in diesem Haus, als es CDU und F.D.P. durchgesetzt haben, zunächst drei Monatsbeiträge einzufordern, um einen Sockel aufzubauen, und erst dann Leistungen zu erbringen? Damals haben die SPD und andere davon geredet, wir würden die Leute ausnehmen. Seien wir froh, daß wir, CDU und F.D.P., das damals so durchgesetzt haben. Ein weiterer Punkt ist, daß der finanzielle Sockel sicherlich eine Voraussetzung ist, um etwas beruhigter in die zweite Stufe der Pflegeversicherung gehen zu können. Vertrauen in die Pflegeversicherung hängt auch damit zusammen, daß wir sie finanzierbar gestalten, und zwar sowohl mit Blick auf die Beiträge als auch auf die Ausgabenseite dieser Versicherung. Deswegen sehe ich überhaupt keinen Grund, lieber Kollege Andres, jetzt anzufangen zu glauben, wir könnten die Rücklagen in der Pflegeversicherung verfrühstücken und unter die Leute bringen, weil das immer schöner ist, als zu sagen: Bestimmte Dinge gehen nicht. Wir haben allen Grund, weiterhin äußerst vorsichtig mit dem Geld der Pflegeversicherung umzugehen. ({2}) Nur so ist es zu verstehen, daß wir uns in der Koalition veranlaßt sahen, in einem anderen Gesetz, zu dem wir gestern eine Anhörung durchgeführt haben, zu sagen: Wir nehmen den Bereich der Behindertenwohnheime und -einrichtungen aus den Leistungen der Pflegeversicherung heraus. Hier geht es um 140 000 Menschen. Selbst wenn wir den Vorschlag der Behindertenverbände, 20 Prozent der Kosten pauschal zu zahlen, weil sich schwer abgrenzen läßt, was Pflege und was Eingliederungshilfe in den Wohnbereichen der Behinderten ist, umsetzen, geht es um eine Belastung der Pflegeversicherung mit immerhin über 1 Milliarde DM pro Jahr. ({3}) Das müssen wir ganz klar sehen. Nach dem, was wir wissen, und nach den Einschätzungen des Ministeriums ist es nicht möglich, auch dies noch mit den Beiträgen in Höhe von 1,7 Prozent - das macht ja nur eine ganz bestimmte Summe aus; mehr ist nun einmal in dem Topf nicht drin - zu finanzieren. Für mich war wichtig, daß gestern selbst die Vertreter der Behindertenverbände, die diese Regelung natürlich nicht für richtig halten, gesagt haben, daß sich für den einzelnen betroffenen Behinderten in einer solchen Einrichtung durch die Zahlung von 1 000 DM aus der Pflegeversicherung in der Regel an seiner persönlichen Lebenssituation überhaupt nichts ändern würde. ({4}) Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Menschen würden nach wie vor auf hohem Standard betreut, und sie wären trotz der Zahlung dieser 1 000 DM, wenn wir sie über die Pflegeversicherung gewähren würden, immer noch auf Eingliederungshilfe bzw. Sozialhilfe angewiesen. Von daher halten wir dies für umsetzbar, weil es ein klar umgreifbarer Kreis ist. Es macht uns zwar keinen Spaß; aber es geht darum, daß wir einen Kuchen nicht zweimal verteilen können. Ein weiterer Punkt ist - der Kollege Andres hat darauf hingewiesen - die Entscheidung in bezug auf die Behandlungspflege. Dabei gibt es sehr wohl Gründe; ich will sie Ihnen ganz offen nennen. Wenn wir die Behandlungspflege als Pflegeleistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenkassen verankert hätten - wofür ich im Grunde war -, dann hätte das bedeutet, daß die gesetzlichen Krankenkassen etwa 2,4 Milliarden DM dafür hätten aufwenden müssen. Ich glaube, auch die Gesundheitspolitiker in den anderen Fraktionen wissen, wie eng zur Zeit das finanzielle Korsett der Krankenkassen ist. Das wissen wir alle. Wir hätten bei den Krankenkassen, wenn ich es richtig verstanden habe, nicht die Möglichkeit gehabt, die Zahlungen nur auf die Einrichtungen für Pflege zu begrenzen. Vielmehr hätten wir dann auch die Behandlungspflege in anderen Bereichen zahlen müssen, zum Beispiel in den Kindergärten für behinderte Kinder, in den Behindertenwerkstätten, in denen eine Behandlungspflege notwendig ist, und in den Einrichtungen der Behindertenhilfe. Das hätte insgesamt 2,4 Milliarden DM ausgemacht. Ich gebe zu: Das hätte zwar eine weitere Entlastung im Bereich der Sozialhilfe bedeutet, die heute überall dort Trägerin der Behandlungspflege ist. Wenn wir es über die Pflegeversicherung für den eingegrenzten Kreis der Pflegebedürftigen finanzieren, entstehen Kosten in Höhe von 800 Millionen DM für die Pflegeversicherung. ({5}) Meine Damen und Herren, wenn Sie wollen, daß wir in den Bereichen, die ich vorhin aufgezählt habe, von einer steuerlichen Finanzierung der Behandlungspflege auf eine beitragsfinanzierte Form der Behandlungspflege umsteigen, dann hören Sie bitte mit den Reden von zu hohen Lohnnebenkosten auf. Denn mit einer solchen Regelung würden Sie die Finanzierung voll in die Beiträge der arbeitenden Menschen in diesem Lande drücken. ({6}) Desweiteren müssen wir sehen, daß für die Menschen, die auf stationäre Pflege angewiesen sind, im Schnitt 2 800 DM bzw. 2 500 DM - so haben wir es in das Gesetz geschrieben - zur Verfügung stehen. Fachleute sagen, daß der Betrag für die Behandlungspflege in einer Plegeeinrichtung im Schnitt 170 DM im Monat pro Pflegebedürftigen beträgt. Natürlich wird bei Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung der Anteil, der über die Sozialhilfe gezahlt wird, etwas kleiner. Aber 170 DM sind eben 170 DM; man kann sie nur einmal ausgeben. Wir haben die Hoffnung, mittelfristig den Betrag von 2 800 DM bzw. 2 500 DM nach oben hin verändern zu können, wenn es Reserven bei den Einnahmen in der Pflegeversicherungskasse gibt. Viel wichtiger ist jedoch der Punkt der Investitionskosten. Man braucht sich über die Behandlungspflege nicht aufzuregen; schließlich geht es bei den Investitionskosten um viel mehr Geld. Dabei unterhalten wir uns über Summen zwischen 200 DM und 800 DM, ja sogar 900 DM. Die 170 DM sind schon schlimm genug, weil sie von der Pflegeversicherung getragen und von dem insgesamt zur Verfügung stehenden Betrag abgezogen werden müssen; Herr Andres, da gebe ich Ihnen recht. Aber wenn die 800 DM, die 700 DM oder 600 DM bleiben, dann können wir unser gemeinsames Anliegen, einen Menschen, der sein Leben lang als Facharbeiter, als Schreiner, Maurer oder Schlosser gearbeitet hat - in der Regel haben diese Menschen heute gut 2 000 DM Rente -, mit den Leistungen Rente plus Pflegeversicherung aus der Sozialhilfe herauszuholen, nicht verwirklichen. ({7}) Deswegen hier mein eindringliches Werben: Länder, haltet euch bitte daran, daß von den 11 Milliarden DM, die die Pflegeversicherung bei der Sozialhilfe für euch einspart, zumindest ein Teil in Investitionen fließen soll, damit wir das Ziel, diese Menschen aus der Sozialhilfe herauszuholen, erreichen! ({8}) Meine Damen und Herren von der SPD und allen anderen Fraktionen, überlegen Sie doch einmal, was es praktisch bedeutet, wenn wir die Investitionskosten nicht bekommen. Ich nehme wieder das Beispiel eines Arbeitnehmers. Der bleibt dann in der Sozialhilfe. Sein Betriebsleiter, der immer an der Versicherungspflichtgrenze entlang verdient hat, kann andererseits mit seiner relativ hohen Rente und den Leistungen der Pflegeversicherung das Altenheim allein bezahlen. Der Facharbeiter aber hat sein Leben lang Beiträge gezahlt, und am Ende bleibt er in der Sozialhilfe. Das können wir doch wohl nicht allen Ernstes für richtig halten. Deswegen müssen wir uns in dieser Frage bewegen. Für mich persönlich entscheidet sich bei dieser Frage ganz klar, ob wir die zweite Stufe so in Kraft setzen können oder nicht, weil wir nämlich, wenn wir die zweite Stufe in Kraft gesetzt haben, den letzten Knüppel gegen die Länder in dieser Frage aus der Hand gegeben haben. Für mich ist das ein ganz wichtiger Punkt. ({9}) Meine Damen und Herren, vielleicht zum Schluß noch ein Satz zur Kompensation. Ich meine, wir sollten nicht so tun, als ob wir neue soziale Leistungen - die zweite Stufe der Pflegeversicherung ist eine neue soziale Leistung - in der heutigen Zeit - das galt genauso für die erste Stufe - ohne Einsparungen an anderer Stelle verantworten könnten. ({10}) Ich stehe dazu: Wir müssen das an anderer Stelle einsparen und kompensieren. Daß wir die Kompensation jetzt nicht in dem vorliegenden Gesetzentwurf regeln, hat ganz einfach mit folgendem zu tun: Wir alle wissen, daß wir, um unsere Sicherungssysteme stabil zu halten - überall im Haus, an jeder Seite dieses Hauses wird doch heute gesagt, wir könnten die Steuern und Abgaben nicht immer weiter erhöhen -, sowieso in den nächsten Wochen und Monaten zu sehr vielen Einsparungen in diesem Staat kommen müssen. Daher ist es sicherlich sinnvoll, keine gesonderte Kompensation für die Pflege zu machen, sondern sich dieses zusammen anzuschauen. Denn ich bin der Meinung, daß wir überall dort, wo es eben verantwortlich und möglich ist, egal an welcher Stelle, unbedingt noch Geld einsparen müssen. Bei dem, was wir den Menschen zumuten, müssen wir sicherlich relativ weit gehen. Mir ist es aber allemal wichtiger, daß wir dort Einschnitte vornehmen, wo es verantwortbar ist, um die Grundsubstanz unserer sozialen Sicherungssysteme, auch die der Pflegeversicherung, auf Dauer finanzierbar zu halten. Schönen Dank. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächstes spricht die Kollegin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! An sich haben wir es hier mit einem freudigen Ereignis zu tun: Ein neues soziales Sicherungssystem soll auf weitere Personengruppen ausgeweitet werden. Das ist eine eher ungewöhnliche Nachricht in diesen Zeiten, in denen wir täglich zu hören bekommen, daß wir das mit den Sozialleistungen alles nicht mehr machen sollten. Das Mißliche ist nur, daß die Ausweitung des Geltungsbereichs des Pflege-Versicherungsgesetzes offenkundig mit mehr Ärger verbunden ist als mit eitel Freude und Sonnenschein. Der Bundesarbeitsminister hält das offenbar für undankbar. Ich glaube nicht, daß man so weiterkommt; man muß sich vielmehr genau ansehen, wo der Ärger herkommt, der sich darum aufbaut. Das erste ist die leidige Kompensationsfrage, von der ja schon die Rede war. Auch wir begrüßen es, daß die Frage des zweiten Feiertages vom Tisch ist. Wir sehen allerdings mit großer Skepsis, daß hier offensichtlich geplant ist, ein starkes Stück Umverteilung vorzunehmen, indem die Finanzierung der Pflegeversicherung durch Kürzungen bei anderen Sozialleistungen kompensiert werden soll. ({0}) Es ist nun wirklich eine kühne Idee, daß die Arbeitslosen für die Pflegebedürftigen zahlen sollen. Die Kompensationsfrage stellt sich in dieser Schärfe deswegen, weil Sie eine Sozialversicherungslösung gewählt haben, so daß Sie das Problem der Belastung der Lohnnebenkosten damit selber geschaffen haben. ({1}) Ich will noch einmal darauf hinweisen: Aus unserer Sicht wäre ein steuerfinanziertes Leistungssystem die angemessenere Lösung gewesen. Wir hätten eine gerechtere Finanzierungsform gehabt als über die Sozialversicherung. Wir hätten die Einkommensverhältnisse der Pflegebedürftigen berücksichtigen können. ({2}) Statt dessen werden Sie ab dem 1. Juli 1996 eine Versicherung einführen, die für viele zu geringe Leistungen bedeutet, aber für die Gutsituierten zu hohe. Wie wollen Sie das angesichts der vielfachen Kürzungen bei den sozial Schwachen rechtfertigen, die wir in den letzten Wochen haben hinnehmen müssen oder die uns noch drohen? Ich will noch ganz kurz etwas zu dem Punkt sagen, auf den der Minister heute hingewiesen hat, nämlich daß sich die Finanzlage der Pflegeversicherung zunächst günstig entwickelt. Ad 1 ist der jetzige Überschuß natürlich geplant, weil er logischerweise daher kommt, daß, wenn wir zwölf Monate Beiträge zahlen und nur neun Monate Leistungen erbringen, ein Überschuß dabei herauskommen muß. Ansonsten hätte man ganz falsch gerechnet. Wenn es sich aber erweisen sollte, daß es weiterhin eine günstige Finanzierungsentwicklung bei der Pflegeversicherung gibt, dann möchte ich dafür plädieren, daß wir das nicht nur für kurzfristige Schwankungsreserven, wie Sie, Herr Blüm, das heute morgen gesagt haben, nutzen, sondern daß wir auch darüber nachdenken, ob es möglich ist, Rücklagen zu bilden, weil mit der demographischen Veränderung die Aufgaben der Pflegeversicherung wachsen werden. Daher müssen wir auch Vorsorge treffen, so daß wir nicht weitere Generationen zu stark belasten. Der zweite Punkt, warum es hier Ärger gibt: Der Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, setzt zunächst einmal nur die zweite Stufe in Kraft. Das ist ein eher technischer Akt, den wir hier behandeln. ({3}) - Er soll ihn in Kraft setzen. Aber es sind einige wirklich drängende Fragen offen. Wir haben gestern bei der Anhörung zum Änderungsgesetz zur Pflegeversicherung gehört, mit welch großer Sorge die Betroffenen, aber auch die Anbieter diese offenen Fragen betrachten. Dabei ist das Kardinalproblem - der Kollege Andres hat es schon angesprochen - die Abgrenzung der Leistungen der Pflegeversicherung zur Eingliederungshilfe. Noch ist unklar, welches Leistungssystem für Behinderte, die in Heimen leben und Pflegebedarf haben, zuständig ist. Die Koalition schlägt vor, daß die Behinderten, die in Heimen leben, vollkommen aus dem Leistungskatalog der Pflegeversicherung herausgenommen werden sollen, ({4}) so daß die Pflege komplett von der Eingliederungshilfe finanziert werden soll. Das, was die Koalition vorschlägt, ist eine klare Trennung. Dementsprechend ist es besser als der bisherige Status quo. Aber wir würden dafür einen sehr Andrea Fischer ({5}) hohen Preis zahlen, den Preis nämlich, daß Menschen mit Behinderungen in Heimen vollständig von den Leistungen der Pflegeversicherung ausgeschlossen sind. Vor dem Hintergrund des neuen Art. 3 im Grundgesetz, der die Diskriminierung von Behinderten ausdrücklich verbietet, ist dies ein wirklich bedenkliches Vorhaben. Viele der behinderten Menschen haben Beiträge zur Pflegeversicherung geleistet, daher ist es schwer zu rechtfertigen, daß sie von den Leistungen der Pflegeversicherung ausgeschlossen werden. Alle Wohlfahrtsverbände und Behindertenorganisationen haben einen Alternativvorschlag vorgelegt. In diesem Vorschlag wird dargelegt, wie man die Kosten zwischen den beiden Trägern im Verhältnis 20 Prozent : 80 Prozent aufteilen könnte. Dies kann ein Weg sein, die systematische Diskriminierung von behinderten Menschen, die droht, zu verhindern. Es würde zudem zu einer Entlastung der Kommunen und Länder, die immerhin die Eingliederungshilfe bezahlen, führen, was sicherlich sehr zur Fähigkeit der Länder beitragen würde, ihre Pflichten bei der Finanzierung der Investitionskosten zu erfüllen. ({6}) Es gab gestern in der Anhörung noch eine bemerkenswerte Information. Die Vertreter der Pflegekassen haben gesagt, sie sehen finanziell den Spielraum, einen Anteil an den Kosten für die Pflege von Behinderten in Heimen zu übernehmen. Um so unverständlicher ist es mir dann, warum die Koalition bislang überhaupt nicht bereit ist, diesen Weg genauer zu untersuchen und ihn dann einzuschlagen. Es ist finanzierbar, es ist praktikabel, und es dient der Integration von Behinderten. Außerdem könnte die Bundesregierung zeigen, daß sie für Impulse aus der Gesellschaft noch offen ist und daß sie auf die Betroffenen hört. Deswegen nutzen Sie Ihre Chance, und bewegen Sie sich. ({7}) Der dritte Streitpunkt, mit dem wir es zu tun haben - das war auch hier schon ein wichtiges Thema -: das große Versprechen, das mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden war, nämlich die Beseitigung pflegebedingter Armut. Jetzt rückt der Tag des Schwurs näher. Die Koalition wird nervös, und Ihnen schwant, daß Sie Ihr Versprechen nicht in dem Ausmaß einlösen können, wie Sie es gegeben haben. Was ist das Problem, das dahintersteckt? Die Leistungen der Pflegeversicherung sind nach oben begrenzt. In der Regel kann mit einer Pflegeleistung in Heimen von maximal 2 500 DM gerechnet werden. Das reicht aber nicht aus, um die Pflegekosten in Heimen zu bezahlen. Das Problem wird übrigens verschärft durch die Einbeziehung der Behandlungspflege in die Leistungen der Pflegeversicherung. Damit wird der Katalog von Leistungen, die von der Pflegeversicherung zu bezahlen sind, ausgeweitet. Bei gleichbleibender Summe heißt das, daß mit dem gleichen Geld mehr bezahlt werden muß. Mit anderen Worten: Der Satz reicht nicht, weil die Pflegesätze in Heimen höher sind als der Satz, den die Pflegeversicherung bezahlt. Die Pflegebedürftigen müssen also mit einem sehr hohen Eigenanteil rechnen, wenn sie in Heimen leben. Das würde sich ändern, wenn die Investitionskosten durch staatliche Zuschüsse gesenkt werden könnten. Dann könnte der Pflegesatz seitens der Anbieter gesenkt werden, und auch Menschen mit durchschnittlichem Einkommen könnten den Pflegesatz bezahlen. Jetzt hat die Koalition große Angst davor, daß sie des Wortbruchs geziehen wird, weil die Pflegesätze doch zu hoch sein werden. Sie inszenieren offensichtlich ein Ablenkungsmanöver durch die Heftigkeit, mit der Sie im Moment den Bundesländern vorwerfen, sie seien an allem schuld. Wir haben es mit einer merkwürdigen Situation zu tun. Der Bund sagt: Die Länder haben 100 Prozent zugesagt. Die Länder sagen: Nein, das haben wir nicht. Minister Blüm hat heute schon befürchtet, es handele sich um einen Fall von kollektivem Gedächtnisverlust. Ich finde es angesichts der Tatsache, daß wir hier von sehr viel Geld reden, befremdlich, daß es unklar ist, wer dieses Geld aufzubringen hat. Sie selber, Herr Blüm, haben vorhin darauf hingewiesen, daß in der Gesundheitsreform die dualistische Finanzierung im Gesetz verankert wurde. Wenn es diese Zusage, wie hier behauptet wird, in dieser Eindeutigkeit gegeben hätte, dann, so vermute ich, wäre das im Gesetz festgehalten worden, wie es sonst bei dieser Art von Verteilungen der Fall ist. ({8}) Es geht jetzt gar nicht darum, was damals in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern passiert ist - auch wenn ich sehr interessiert daran wäre, das herauszufinden. ({9}) - Ich bin sehr unsicher, ob ich damit gut beraten wäre, Herr Minister Blüm. ({10}) Jetzt spitzt sich die Lage zu; die Koalition denkt darüber nach, welche Knüppel sie noch braucht, die sie den Ländern zwischen die Beine werfen muß. ({11}) Ich halte nichts davon, daß wir das jetzt aus Nervosität dramatisieren. Ich will darauf hinweisen, daß der Stand der Kleinen Anfrage, auf die Sie sich beziehen, wenn Sie darüber klagen, was die Länder bezahlen, längst überholt ist. Die meisten Länder haben Landespflegegesetze erarbeitet; ({12}) Andrea Fischer ({13}) zu einem Großteil sind sie inzwischen verabschiedet. Und auch dort ist die Finanzierung von Investitionskosten vorgesehen. ({14}) In Nordrhein-Westfalen hat die rot-grüne Landesregierung 140 Millionen DM in ein Landesbauprogramm eingestellt. Damit sollen vor allem Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen gefördert werden. Die nordrhein-westfälische Landesregierung geht noch weiter. Sie fördert nicht nur diese Einrichtung, sondern sorgt mit einem Pflegewohngeld dafür, daß den meisten Pflegebedürftigen die Sozialhilfeabhängigkeit erspart wird. In Niedersachsen und Hamburg sind vergleichbare Gesetze in der Planung. Mit dem Pflegewohngeld kann der Bedarf der Pflegebedürftigen zielgenau abgedeckt werden. Menschen mit hohem Vermögen haben keinen Anspruch darauf. Anders als die Sozialabbauvorhaben der Bundesregierung, mit denen wir täglich konfrontiert werden, bedeutet dieses Verfahren, daß die Leistungen bei denen ankommen, die sie brauchen. Damit ist dies ein Beitrag gegen die berechtigte Kritik an der Pflegeversicherung, es handele sich hier um ein Erbschaftsschutzprogramm. ({15}) Das Gefecht mit den Ländern trägt zur Lösung der Probleme mit der zweiten Stufe der Pflegeversicherung nicht viel bei. Lenken Sie nicht von den tatsächlich drängenden Problemen ab, seien Sie in den kommenden Verhandlungen offen für die Kritik der Betroffenen und der Anbieter! Wenn Sie den eingeschlagenen Weg fortsetzen, dann wird die Pflegeversicherung als mißratene Sozialreform in die Geschichte eingehen. Mit sinnvollen Lösungen jedoch kann die Pflegeversicherung sogar zu einer Werbung für den Sozialstaat werden. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Dr. Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den Entwurf eines Gesetzes zum Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung. Wir tun dies, weil wir die Pflegeversicherung bewußt in zwei Stufen konzipiert haben. Zunächst ging es darum, die Situation der zu Hause von der Familie Gepflegten zu verbessern. Wir wollten vermeiden, daß wir einen Sog ins Heim erzeugen, wenn die Heimpflege, die Leistungen in stationärer Pflege, gleichzeitig in Kraft getreten wäre. Durch diesen Vorrang der ambulanten Versorgung haben wir erreicht, daß wir in dieser Zeit bei der ambulanten Versorgung eine Infrastruktur haben aufbauen können. Ich halte das für einen Erfolg. Ein Erfolg ist auch die Tatsache, daß Pflegebedürftige zurück in ihre Familie kommen und dort wieder eine Pflege finden können, weil diese Unterstützung der Familie bereitsteht. Ich glaube, wir haben das richtig gemacht. ({0}) Trotz der Anfangsschwierigkeiten - ich erinnere an Presseerklärungen, die große Aufgeregtheiten verraten haben - können wir sagen, daß die erste Stufe der Pflegeversicherung mit Erfolg angelaufen ist. Jetzt geht es um die zweite Stufe, die stationäre Versorgung. Hier haben wir im Gegensatz zur ambulanten Versorgung eine intakte Versorgungsstruktur. Jeder, der das braucht, wird gepflegt und versorgt. Sicherlich wird auch die zweite Stufe der Pflegeversicherung von den Pflegebedürftigen und ihren Familien begrüßt werden, weil diese durch die hohen Kosten in Bedrängnis geraten sind. Aber im Vordergrund bei der zweiten Stufe steht die Neuordnung der Finanzierung in bezug auf die Sozialhilfeträger. Die Sozialhilfeträger beklagten zunehmend ihre finanzielle Überforderung durch die ständig steigende Zahl von Heimpflegefällen. Die für individuelle Notlagen gedachte Sozialhilfe ist hier zur Regelfinanzierung geworden. Von daher sind die Erwartungen der Kommunalpolitiker hoch, daß die zweite Stufe mit ihren erhofften Entlastungsfunktionen kommt. Auch die Erwartungen des Gesetzgebers sind hoch. Bürger, die vom Schicksal der Pflegebedürftigkeit betroffen sind, mit einer Durchschnittsrente, sollen nicht mehr mit Sozialhilfe versorgt werden müssen. Das ist ein hohes Ziel. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, ist in der Tat nicht ganz sicher. Die Länder wollen ihre Zusage, Investitionen für Pflegeheime zu übernehmen, nicht einhalten. Das ist eine Politik der Entsolidarisierung, die uns hier vorgeführt wird. Die SPD müßte hier mit rotem Kopf sitzen und sich für die von ihr geführten Landesregierungen schämen. ({1}) Ich bedaure, daß wir damals nicht mit eindeutigen Beschlüssen in beiden Häusern, Bundestag und Bundesrat, diese Länderverpflichtungen aktenkundig gemacht haben. Die Bundesländer nur mit Handschlag zu verpflichten ist in der Tat naiv. ({2}) - Herr Andres, wenn Sie sagen, Niedersachsen erfülle seine Verpflichtungen, ({3}) dann kann ich darauf nur antworten: Ein Landespflegegesetz in der Dimension von 140 Millionen DM für neue Einrichtungen ist schon mehr als kümmerlich. ({4}) An die SPD gerichtet, sage ich: Zum Opernball fliegen, aber die Länderverpflichtungen nicht einhalten, das scheint mir kein Beispiel solidarischer sozialdemokratischer Politik zu sein. ({5}) Wenn die Zusage der Länder nicht eingehalten wird, dann stimmen die Berechnungen in der Tat vorn und hinten nicht: Weit mehr Hilfeempfänger als angenommen werden in der Sozialhilfe verbleiben. Die F.D.P. hat übrigens die Seriosität der Berechnungen, daß es uns gelingen würde, 70 Prozent der heute Sozialhilfebedürftigen in Selbstzahler zu verwandeln und nur noch 30 Prozent Sozialhilfebedürftige zu haben, immer in Zweifel gezogen. Hinzu kommen die Kosten für die medizinische Behandlungspflege und die soziale Betreuung, die vom Höchstbetrag von 2 800 DM noch abgedeckt werden müssen. Herr Kollege Andres, Ihr Vorschlag, das Ganze bei der Krankenkasse anzusiedeln, führt unzweifelhaft, weil wir hier keine Deckelung haben, zur Steigerung der Kosten für die Krankenversicherung und somit der Lohnnebenkosten. Sie haben in der letzten Debatte zu diesem Thema meiner Ansicht nach sehr zutreffend und tapfer gesagt, keiner denke daran, den Beitragssatz von 1,7 Prozent in der Pflegeversicherung zu erhöhen. Ich möchte von Ihnen sehr gerne ein Bekenntnis in gleicher Weise, was die Beitragssätze in der Krankenversicherung anlangt. Auch hier sind wir politisch verpflichtet, Solidität in der Beitragsfinanzierung einzuhalten. Wir können doch nicht sagen: Weil wir die Beitragssätze in der Pflegeversicherung nicht steigern wollen, macht es uns nichts aus, diese in der Krankenversicherung zu steigern. ({6}) Ich komme zu der Entlastung bei den Sozialhilfeträgern zurück. Reduziert sich nun diese zweite Stufe auf ein Gesetz, das eigentlich nur eine Gemeindefinanzierungsunterstützung beinhaltet? Angesichts der immer wieder erhobenen Behauptung, der Bund würde sich auf Kosten der Gemeinden entlasten, wäre das immer noch ein ehrenwertes Unterfangen. Aber die Durchführung führt zu finanzpolitischen Verwerfungen. Die Diskussion, wie sie heute geführt wird, sagt doch - gerade die linke Seite wird nicht müde, dies immer wieder vorzuschlagen -, daß wir beitragsfinanzierte Belastungen durch steuerfinanzierte ablösen sollten. Das wäre gerechter, meinen sie. Aber bei der Pflegeversicherung machen wir genau das Umgekehrte: Bei der Pflegeversicherung haben wir über Sozialhilfe steuerfinanzierte Leistungen in beitragsfinanzierte Leistungen verwandelt. Deswegen kommt mit dieser Pflegeversicherung das Thema der Lohnnebenkosten erneut auf. Wir beschreiten hier also einen Weg, der die zwingende Frage nach einem Ausgleich aufwirft. Ich bedauere es ein wenig, Herr Andres, daß Sie das in Ihrer Rede so ausgeblendet haben; denn das war ein gemeinsamer Entschluß. Sie erinnern sich: Wir haben damals, als die Pflegeversicherung beschlossen wurde, den Grundsatz ins Gesetz geschrieben, daß wir ausgleichen, was an Nebenkosten auf den Arbeitgeber zukommt. Wir haben uns da zu einem Ausgleich verpflichtet. Wenn Sie jetzt meinen, das sei ja nicht mehr im Gesetz, damit wäre uns die unerwünschte politische Last von den Schultern genommen, und wir müßten uns jetzt nicht mehr bemühen, das auszugleichen, dann ist das, denke ich, nicht ganz redlich. Wir haben das in der Begründung aufgeführt, und das Sachverständigengutachten hat entsprechend der Vereinbarung im Gesetz, der Sie zugestimmt haben, Kompensationsbedarf festgesetzt. ({7}) Ich bin sehr dankbar - auch dem Bundesarbeitsminister -, daß das jetzt nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Dieser Teil, was die Pflegeversicherung anlangt, muß ausgeglichen werden. Aber wir sind auf dem politisch sehr viel dornigeren Weg - meiner Ansicht nach ist das auch die richtige Politik -, viel größere Einsparvolumen zu erarbeiten. Dann ist es auch sinnvoll, dies als einen Teil auszuweisen. Ich bin aber froh, daß wir uns geeinigt haben, daß dieser Teil ausgewiesen werden muß, also nicht in einem allgemeinen Konsolidierungsprogramm untergeht und nicht mehr nachweisbar ist. ({8}) Meine Damen und Herren, bei der Kompensation im Zusammenhang mit den Lohnnebenkosten und diesem Sparprogramm muß eines als Ergebnis deutlich sein: In der Bilanz der Lohnnebenkosten muß ein Plus stehen. Wir müssen also mindestens einen Ausgleich erreichen. Es darf nicht im Jahre 1996 ein Anheben der Lohnnebenkosten den Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland die Botschaft vermitteln: Wir sind nicht in der Lage, das einzuhalten, was wir hier als unsere Politik verkündet haben. ({9}) - Herr Andres, ich nehme Ihren Ruf positiv auf und mache mich ans Werk. Ich hoffe, daß Sie das dann alles unterstützen werden. Die Anfangseuphorie, mit der die Einführung der Pflegeversicherung beschlossen worden ist, weicht allmählich sehr viel nachdenklicheren Tönen. Dies ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit nicht verwunderlich. Man muß sich fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, für den sozialen Fortschritt, den die Pflegeversicherung ohne Zweifel darstellt, die volkswirtschaftliche und politische Rechnung gleich auf den Tisch zu legen und sofort zu begleichen. Wir haben uns auf eine politische Ratenzahlung eingelassen, und ich merke schon jetzt, wie schwer es wird, die zweite Rate zu begleichen, wenn die zweite Stufe der Pflegeversicherung in Kraft tritt. Ich will hier aber trotzdem die Zuversicht verbreiten, daß uns das gelingt. Dann können wir Sozialpolitiker mit gutem Gewissen die gesamte Pflegeversicherung vertreten. Ich bedanke mich. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt die Kollegin Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! . Mit diesem Gesetzentwurf bleibt die Bundesregierung ihrer Linie treu: Das Inkrafttreten der 2. Stufe des Blümschen Jahrhundertwerks Pflegeversicherung soll eingeläutet werden, und es geht wieder einmal nur um Geld. Die Probleme mit der Einführung der 1. Stufe sind allerorten sichtbar, die für die 2. Stufe liegen auf der Hand. All das wird dieser Tage in vielfältiger gesonderter Gesetzgebung verschlimmbessert. Hier soll es nun um die reine Lehre gehen. Scheinbar solidarisch wird das erforderliche Beitragsaufkommen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geteilt und in diesem Gesetz nicht kompensiert. Doch die Ankündigung der Kompensation noch rechtzeitig vor Inkrafttreten in einem „sozialen Konsolidierungspaket" zeigt, daß die Bundesregierung nicht gewillt ist, den Bruch in der Sozialversicherung zurückzunehmen. Die Pflegeversicherung entpuppt sich damit in der Tat als ein Jahrhundertwerk. Sie ist und bleibt der Einstieg in die Beendigung der Bismarckschen solidarischen Versicherung. Mehr und mehr zeichnen sich Tendenzen zur bloßen Grundversorgung und zur Privatisierung der tatsächlichen Risikoabdeckung in anderen Versicherungszweigen ab. Das bezeichnenderweise „Konsolidierungspaket" genannte Sparpaket läßt weitere Spielräume für die Verteilung des Geldes in diesem Land von unten nach oben vermuten. ({0}) Die PDS versagt dieser Entwicklung seit Anbeginn ihre Zustimmung. Wir fordern auch heute die grundsätzliche Aufhebung jeglicher Kompensation. Wir fordern einen Stopp für Budgetierungen von Leistungen und einen Stopp für die Ausdehnung von Eigenbeteiligungen der Versicherten. ({1}) Die PDS hat immer bezweifelt, daß mit der Pflegeversicherung die avisierten Einsparungen in der Sozialhilfe kommen werden. Mit diesen Einsparungen wurden einst die Länder West für die Zusage geködert, alle Investitionskosten allein zu tragen. Heute, wo die Einsparungen nicht wie geplant kommen, sollen sie trotzdem in die Pflicht genommen werden, alle Kosten zu übernehmen. ({2}) Der Protest der Länder im Bundesrat über die alleinige Verantwortung wird als Infragestellung der Zielsetzung diffamiert. Es ist schon bezeichnend: Der Bund macht ein Gesetz, und die Kosten tragen die Länder und die Betroffenen allein. ({3}) Der Bundesrat mahnt in seiner Stellungnahme auch inhaltlich zu regelnde Momente für die 2. Pflegestufe an. Die Bundesregierung wiegelt das ab, weil alles bereits im ersten Änderungsgesetz zur Pflegeversicherung enthalten sei. Die unzulängliche Qualität der darin aufgezeigten Lösungen konnte, wer wollte, gestern in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Schritt und Tritt spüren. So ist die Abwälzung der Behandlungspflege auf die Pflegekassen nicht nur ordnungspolitisch höchst fragwürdig. Menschen, von deren Rente ganz selbstverständlich Krankenversicherungsbeiträge abgeführt werden, erhalten im Heim ein gemindertes Leistungsspektrum von der Krankenversicherung. Hinzu kommt, daß sich dadurch die Tendenz verstärken wird, daß viel weniger Betroffene als geplant aus der Sozialhilfe herauskommen werden. Gestern wurde davon gesprochen, daß mindestens 50 Prozent in der Sozialhilfe bleiben werden; im Osten kann man gut und gerne von weit über 90 Prozent ausgehen. Die vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband vorausberechneten Pflegesätze für Heime zeigen, daß das Ausscheiden aus der entwürdigenden Sozialhilfe nur für diejenigen gelingen wird, die Renten über 3 000 DM beziehen. ({4}) So nebenbei wird bei den Änderungsvorschlägen die Selbstverwaltung der Kranken- und Pflegekassen weiter ausgehebelt, indem das Aushandeln von Richtlinien zwischen Pflegekassen und Ministerium durch Ministerentscheid einseitig beendet werden kann. Ein Befragter konstatierte gestern fast schon resignierend, aber, so denke ich, zu Recht: Wenn das so weitergeht, dann soll der Minister gleich alles selber machen. Aber nicht nur die Kassen werden entmündigt. Diese Absicht steckt auch hinter der vehementen Abwicklung des sogenannten Arbeitgebermodells. Die von Behinderten unter unsäglichen Mühen aufgebauten und täglich neu erkämpften Modelle in Frage zu stellen ist unseres Erachtens keine Kostenfrage, sondern eine politische Frage. Es handelt sich gerade einmal um 500 bis 1 000 Menschen, die so leben. Sie erfahren derzeit das Gegenteil der von Ihnen, Herr Minister Blüm, beschworenen Verbesserung der Lebenslage. Ich finde es schon bezeichnend, daß Sie die Kritik daran, daß Menschen mit Behinderungen vom Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung ausgegrenzt werden, mit der Bemerkung abtun, die Pflegeversicherung sei keine allgemeine Behindertenversorgung. Unerwünscht ist, daß Menschen ihr Leben selbstbestimmt gestalten wollen. Das bringt auch die Resolution der Iserlohner Tagung der Evangelischen Akademie vom vergangenen Wochenende zum Ausdruck. Wenn Menschen durch die heute hier im Bundestag zu verabschiedende Änderung des § 3 a des Bundessozialhilfegesetzes durch finanzielle Regelungen faktisch in Heime gezwungen werden, dann ist das Perversion von Sozialrecht. ({5}) Da nützt auch die Beteuerung des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Pflege nichts. Die Realitäten sprechen eine andere Sprache: Bewährte Strukturen werden zerschlagen. Beschämend ist, meine Damen und Herren, daß auf Hilfe, Assistenz und Pflege angewiesene Bürgerinnen und Bürger dieses Landes die Leidtragenden dieser Politik sind. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Dr. Peter Ramsauer.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Mammutvorhaben Pflegeversicherung steht jetzt, nach schwierigen Verhandlungen, kurz vor dem Abschluß. Wir müssen heute in der ersten Lesung den Startschuß für das Inkraftsetzen der zweiten Stufe der Pflegeversicherung abfeuern. Das schulden wir allen, die im Vertrauen auf unsere Politik die stationären Leistungen ab der zweiten Hälfte dieses Jahres erwarten. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir noch eine ganze Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Wir alle waren uns von vornherein bei der Konzeption der Pflegeversicherung darin einig, und zwar über die Parteigrenzen hinweg, daß mit dem Inkrafttreten der zweiten Stufe auch die damit verbundenen Mehrbelastungen der Arbeitgeberseite durch den Arbeitgeberanteil der Pflegeversicherung vollständig ausgeglichen werden müssen. Das war eine - ich betone dies - unverzichtbare Bedingung für das Inkrafttreten der zweiten Stufe; denn die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und die Sicherung der Arbeitsplätze haben höchste Priorität. Wir müssen in diesem Zusammenhang das umsetzen, was wir in den Standortdebatten um die deutsche Wirtschaft stets betonen. Nach den Feststellungen des Sachverständigengutachtens müssen dementsprechend weitere Belastungen der Unternehmen durch das Inkrafttreten der zweiten Stufe in Höhe von etwa 2,5 Milliarden DM ausgeglichen werden. Dieses Versprechen müssen wir rechtzeitig vor Inkrafttreten in wenigen Monaten einlösen ({0}) - nein -, und zwar im Rahmen eines umfassenden sozialen Spar- und Konsolidierungspaketes, das im übrigen über diese 2,5 Milliarden DM hinausgehen muß, wenn es uns gelingen soll, auf dem Weg zurück unter die 40-Prozent-Marke beim Gesamtsozialversicherungsbeitrag Fortschritte zu machen. ({1}) Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat handeln meines Erachtens wider besseres Wissen, wenn sie den weiteren Kompensationsbedarf Schlichtweg leugnen. Diese Stimmungsmache zu Lasten von Mittelstand und Unternehmen ist unerträglich und gefährdet letztlich deutsche Arbeitsplätze. Wir dürfen in dieser Frage das in uns gesetzte Vertrauen der Wirtschaft nicht enttäuschen. Dazu kommt, meine Damen und Herren von der SPD, daß Ihr Kollege Gerhard Schröder nicht nur vom Umbau, sondern klipp und klar vom Abbau des Sozialstaats spricht, während sich andere Kräfte innerhalb Ihrer Partei einen Teufel darum scheren, wenn wie bei der Rente die Schallmauer der 20-Prozent-Grenze durchbrochen zu werden droht oder wie beim Gesamtsozialversicherungsbeitrag die Schallmauer der 40-Prozent-Grenze ohnehin schon längst durchbrochen ist. Lassen Sie mich noch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt ansprechen. Die Sicherstellung der Finanzierung der Pflegeversicherung ist nicht nur eine Aufgabe von heute. Wir müssen uns stets der Treibsätze bewußt sein, die in der Pflegeversicherung langfristig angelegt sind. Das ist nicht nur das sogenannte demographische Risiko, das im Altersaufbau unserer Gesellschaft liegt. Es ist darüber hinaus auch darin angelegt, daß zu befürchten ist, daß die Kosten der Pflegeleistungen stärker steigen als die Grundlohnsumme als Grundlage für das Beitragsaufkommen, und daß leider Gottes versucht wird, immer wieder neue Leistungen in der Pflege draufzusatteln. Die Pflegeversicherung darf nicht überfordert werden. Ich bedauere, daß auch durch leichtsinniges Verhalten von Politikern im Vorfeld Erwartungen geweckt worden sind, die nicht erfüllt werden können. So würden bei Einbeziehung der Eingliederungshilfe mehr als 3 000 Einrichtungen als Pflegeheime gelten. Dies würde einen Kostenaufwand von rund 2 Milliarden DM verursachen. Grundphilosophie der Pflegeversicherung war von Anfang an, daß es sich um eine Grundabsicherung handelt und nicht um eine Totalabsicherung, wie anDr. Peter Ramsauer dere Fraktionen dieses Hauses es gefordert haben; eine Grundabsicherung, mit der der größtmögliche Teil der betroffenen Menschen aus der Sozialhilfe herausgeholt werden soll, die aber nicht alles, was von einer Pflegeversicherung theoretisch leistbar wäre, auch leisten sollte. Eine entsprechende uferlose Ausdehnung der Leistungen kann mit einem Beitragssatz von 1,7 Prozent nicht bezahlt werden. Wir von seiten der Koalitionsfraktionen haben bestimmt keine Lust, bereits im nächsten oder im übernächsten Jahr über eine Beitragserhöhung zu sprechen. Ich kann nur dick unterstreichen, was Minister Blüm vorhin gesagt hat: Wir können und wollen nicht schon in den nächsten Jahren mit einer Erhöhung des Beitragssatzes von 1,7 Prozent daherkommen. Dieser Beitragssatz steht, und er bleibt. ({2}) In diesem Zusammenhang ist übrigens ganz interessant, einmal zu vergleichen, was wir 1993 in dem Eckpapier, dem Beschluß der Koalitionsfraktionen, und nachher in der zweiten und dritten Lesung hier im Hause festgelegt haben, nämlich daß mit 1,7 Prozent Beitrag in der stationären Pflege nur 2 100 DM finanziert werden können. Im Vermittlungsausschuß ist dann eine Summe von 2 800 DM herausgekommen und auch noch eine Härtefallregelung draufgesattelt worden. Dazu kann ich nur sagen: Das ist eine wundersame Leistungsvermehrung, die uns jetzt schon einen gewaltigen Kostendruck beschert. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ziel der Pflegeversicherung ist insbesondere, Pflegebedürftige von der Sozialhilfe weitgehend unabhängig zu machen. Dafür ist es unabdingbar, daß auch die Länder - dies möchte ich, obwohl es schon einige Male gesagt wurde, nochmals betonen - ihre Zusage zur Übernahme der Investitionskosten einhalten. Bisher haben nur wenige Länder beschlossen, zwischen 60 und 90 Prozent der Neubaukosten zu übernehmen. Hauptproblem ist derzeit in vielen Bundesländern jedoch die Weigerung, die sogenannten Altlasten zu übernehmen, also die auf den bestehenden Heimen lastenden Zins- und Tilgungsleistungen, um die Pflegesätze von diesen Kosten zu befreien. Die Dimension, um die es hier geht, beträgt zwischen 200 und 900 DM pro Monat. Lieber Kollege Andres, ich verstehe wirklich nicht, daß Sie an diesem Punkt die Verweigerungshaltung der Länder so sehr verteidigen. Ich kann mir das nur damit erklären, daß viele Ministerpräsidenten von Ihrer Partei gestellt werden. Aber es ist nun einmal so, daß nur durch Übernahme dieser Investitionskosten durch die Länder die Pflegesätze gesenkt werden können, so daß auch die Sozialhilfebedürftigkeit zurückgeführt werden kann. Ich werde jedenfalls jede Gelegenheit nutzen, um auf dieses Defizit bei der Umsetzung der Pflegeversicherung hinzuweisen ({4}) und auch darauf, Herr Andres, daß die Länder mit dieser Verweigerungshaltung die Möglichkeit vereiteln, die Pflegesätze zugunsten der Pflegebedürftigen zu senken. ({5}) Die Länder stehen hier in der Pflicht, und durch ihre Verweigerungshaltung vereiteln sie die Entlastung der Pflegebedürftigen, der betroffenen Mitmenschen. Lassen Sie mich noch einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. Es ist zwar in der Tat erfreulich, daß wir nach dem ersten Jahr der Pflegeversicherung ein Polster von gut 5 Milliarden DM in der Kasse haben. Wer aber glaubt, auf Grund dieses Polsters sei nunmehr eine weitere Belastung der Pflegeversicherung möglich, der irrt gewaltig. Mit diesen 5 Milliarden DM befinden wir uns innerhalb unserer Schätzungen. Zum anderen braucht die Pflegeversicherung auch das finanzielle Polster, nicht zuletzt wegen der Treibsätze, auf die ich vorhin hingewiesen habe. Ich kann mich noch gut an die Stimmen im letzten Jahr erinnern, die von einem Milliardendefizit in der Pflegeversicherung gesprochen haben. Wir können froh darüber sein, daß diese Prophezeiungen nicht eingetreten sind. Im übrigen setzen sich diese 5 Milliarden DM aus zwei wesentlichen Komponenten zusammen: einmal aus dem dreimonatigen Beitragspuffer, der in den ersten drei Monaten des letzten Jahres angespart worden ist, ohne daß dafür gleichzeitig Leistungen zu finanzieren gewesen wären, und zum anderen aus einem Aspekt, der uns eigentlich freuen muß, nämlich daß die Geldleistungen für die häusliche Pflege wesentlich mehr in Anspruch genommen werden als die teureren Sachleistungen. Das heißt, die Familien pflegen in wesentlich stärkerem Maße selbst, als wir dies zunächst erwartet haben. ({6}) Ich begrüße diese Entwicklung, weil sie im Interesse der Pflegebedürftigen selbst ist. Sie sind in den Familien viel besser aufgehoben als in irgendwelchen Einrichtungen. Ich begrüße diese Entwicklung auch im Interesse der Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung. Es kommt jetzt interessanterweise eine Diskussion darüber auf - eine Art Konkurrenzdenken von Trägern der ambulanten Hilfen -, daß zu stark familiär gepflegt wird. Genau das wollten wir. Das war unsere politische Zielsetzung. ({7}) Wir müssen - dies noch zum 5-Milliarden-DM-Polster - das Geld zusammenhalten, damit uns keine Beiträge explodieren. Eine der führenden deutschen Tageszeitungen hat vor wenigen Tagen in einem Kommentar geschrieben, daß die Sozialpolitiker dieses Landes den Ernst der Lage noch nicht erkannt hätten. Wir Sozialpolitiker haben den Ernst der Lage erkannt und sagen, wir dürfen die Leistungen der Pflege nicht ausufern lassen und das Geld, was wir als Polster haben, nicht unnötig verplempern. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihre Partei hat dieser Tage eine ganz verrückte Plakataktion angezettelt. Darauf steht: „Schwarz ist Stillstand", „Blau-Gelb ist Egoismus", „Rot ist Fortschritt" . ({8}) - Offensichtlich glauben Sie sogar an diese Perversion der Wirklichkeit. Sie glauben an das, was Sie plakatiert haben. Meine Damen und Herren, die Wirklichkeit ist genau umgekehrt. ({9}) - Hören Sie mir doch zu! Bezogen auf die Pflegeversicherung heißt es: Schwarz und Blau-Gelb ist echter sozialer Fortschritt. ({10}) Das Rot ist nichts anderes als eine sozialdemokratische Verweigerungshaltung, ja es ist sogar sozialer Rückschritt. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter in dieser Debatte spricht der Kollege Karl Hermann Haack.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte auf die geschmacklose Bemerkung der Kollegin Frau Dr. Babel zurückkommen. Sie hat einen Zusammenhang zwischen Gerhard Schröder, der zum Opernball nach Wien fliegt - eine ärgerliche Angelegenheit; das erinnert an Lothar Späth -, ({0}) und der Kompensation beim Aufbau der Infrastruktur für die Pflegeversicherung hergestellt. Ich muß Ihnen sagen: Sie sollten sehr vorsichtig sein. Seit gestern nachmittag 16 Uhr sitzen Sie als F.D.P. in der Trommel; denn dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus wurde der Rechnungsprüfungsbericht zu den unmöglichen finanziellen Vorkommnissen bei der Deutschen Zentrale für Tourismus, einer F.D.P.-Seilschaft samt Ministerium, überreicht. ({1}) Bevor Sie im Glashaus anfangen, mit Steinen zu werfen, würde ich an Ihrer Stelle vorsichtig sein, weil Sie immer das einholen kann, was Sie bei anderen beklagen. ({2}) Dann fällt mir noch eine zweite Geschichte ein. In der Koalition wird immer vor dem Vorhang ein Koalitionstheater gespielt, wie jetzt bei dem Gesundheitsstrukturgesetz. Das F.D.P.-Modell heißt doch schlicht und einfach: Abzocken bei den kleinen Leuten! ({3}) Wenn ich Ihren Gesetzentwurf lese, dann sage ich: Abzocken bei den kleinen Leuten, Erhöhung der Selbstbeteiligung und Bedienung der Pharmaindustrie. Das heißt dann schlicht und einfach, Frau Dr. Babel, daß Sie natürlich nicht die Interessen der kleinen Leute im Auge haben, sondern Sie haben die Interessen der großen Leute im Auge. ({4}) Von daher sind Sie überhaupt nicht berechtigt, solche Reden im Deutschen Bundestag zu halten und sich als die Verfechter von Moral und Gerechtigkeit aufzuspielen. ({5}) Vor dem Vorhang wird das Koalitionsschauspiel aufgeführt. Hinter dem Vorhang kommt dann einer, nämlich der große Koalitionspartner, läuft zur SPD und fragt: Wie machen wir das denn nun? Und wenn der Bundesarbeitsminister lobend sagt, mit der Pflegeversicherung haben wir das alles gut gemacht, dann stände es doch dem Bundesarbeitsminister ganz gut an, auch einmal zu sagen, daß dieser Schlußstein in der Sozialversicherung, nämlich die Einrichtung der Pflegeversicherung, nur möglich gewesen ist mit der SPD. ({6}) Die Reform der Rentenversicherung war nur möglich mit der SPD. ({7}) Und Lahnstein steht auch für die SPD. ({8}) Die F.D.P. hat nie eine Rolle dabei gespielt, sondern sie war der Bremser in der Sozialpolitik. ({9}) Ich teile die Auffassung des Bundesarbeitsministers, daß eine positive Zwischenbilanz zu ziehen ist bei der Einführung der Pflegeversicherung, daß es viele Umsetzungsprobleme gegeben hat und daß wir uns jetzt in bestimmten Fragen zusammenraufen müssen, was die Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung betrifft. Karl Hermann Haack ({10}) Nun führt das ja zu großen Interpretationsschwierigkeiten. Da ist mir ein Satz von Voltaire untergekommen - ab und zu lese ich auch etwas Kluges -, der sagt: „Jedes Gesetz soll klar, einheitlich und genau sein. Es auszulegen heißt fast immer, es zu verschlechtern." Diesen Satz möchte ich auf § 9 anwenden. Dabei geht es um die Investitionskosten in der Pflegeinfrastruktur, die im Zentrum der Auseinandersetzungen des heutigen Morgens gestanden haben. Daher noch einmal zur Erinnerung den Text, den schon Kollege Andres vorgetragen hat. Im § 9 heißt es - ich darf zitieren, Frau Präsidentin -: Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlungsmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Das Nähere zur Planung und zur Förderung der Pflegeeinrichtungen wird durch Landesrecht bestimmt. So lauten die beiden ersten Sätze des § 9. Und weil der Satz 3 in der gegenwärtigen Diskussion von seiten der Kommunen, aber auch von der CDU/CSUFraktion so gerne vergessen wird, zitiere ich ihn auch. Der dritte Satz lautet: Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen. ({11}) Sehen wir uns das in meinem Land an, aus dem ich komme; man muß ja der Sache immer auf den Grund gehen. Was ist da eigentlich entschieden worden? Entschieden worden ist doch, daß Einsparungen - und die sind in der Größenordnung streitig - von 7 bis 11 Milliarden DM gerechnet worden sind. Je nachdem, wen man befragt, wird gesagt, wir sparen 7 oder 11 Milliarden DM ein. Das hat damit zu tun, daß derjenige, der sagt, es werden 11 Milliarden DM eingespart, im Aufbau der Pflegeinfrastruktur mehr machen möchte als der, der 7 Milliarden DM sagt. Die Kommunen haben im Lande Nordrhein-Westfalen durch die Einführung der Pflegeversicherung 225 Millionen DM eingespart, die Landschaftsverbände 1,7 Milliarden DM an BSHG-Mitteln. Die Frage ist also: Haben sich die Länder in der Bundesrepublik diese Einsparungen in die Tasche gesteckt und irgend etwas anderes damit gemacht, ({12}) oder haben sie den Aufbau der Pflegeversicherung, der Pflegeinfrastruktur vorangebracht? ({13}) - Sie müssen sich die Zahlen anhören. Ich will einen Beitrag zur Entschärfung der Debatte leisten, ({14}) weil ich glaube, es macht keinen Sinn, nach der Melodie zu verfahren, daß Bund und Länder im Bundestag aufeinander einschlagen und wir dann in den nächsten Wochen im Vermittlungsausschuß sitzen und wieder eine gemeinsame Lösung finden müssen. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, keine Zwischenfrage, tut mir leid, ich habe nur noch fünf Minuten. Ich möchte die Zahlen im Zusammenhang vortragen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Zeit wird Ihnen nicht angerechnet.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Land hat 235 Millionen DM pro anno eingesetzt; davon werden 140 Millionen DM für Pflegeeinrichtungen aufgewendet, 1 730 Tagespflegeplätze und 1 610 Kurzzeitpflegeplätze wurden geschaffen. 67 Millionen DM werden für komplementäre Dienste bereitgestellt, und 30 Millionen DM für die Qualifizierung von Pflegepersonal. Wir waren uns darin einig, daß es im Zuge der Qualifizierungsmaßnahmen wichtig ist, daß auch in das Pflegepersonal investiert wird. Nun gibt es Streit darum, wer die „Hotelkosten" bezahlt; denn wir waren der Meinung, daß der Aufwand für die pflegerischen Dienste ein Teil dessen ist, was finanziert werden muß - ähnlich wie bei den Krankenhäusern, wo im stationären Bereich die medizinische Leistung und die sogenannten Hotelkosten finanziert werden müssen. Ein Teil der Länder hat sich dafür entschieden, ein Pflegewohngeld zu schaffen, mit der Zielsetzung, einen noch verbleibenden Teil der Heimbewohner aus der Sozialhilfe herauszuholen. Auch in bezug darauf habe ich mir eine Modellrechnung aus Nordrhein-Westfalen angesehen. Das Ergebnis ist: Von 100 000 Personen, die Leistungen der Sozialhilfe erhalten, werden 32 000 durch die Pflegeversicherung entlastet, das heißt, sie sind nicht länger auf Mittel des Bundessozialhilfegesetzes angewiesen. 26 000 werden durch das Pflegewohngeld entlastet. Dies ist ein Fortschritt. Worum es jetzt bei der weiteren Debatte und Beratung zu diesem Punkt, also der Einführung und Umsetzung der Stufe II, geht, ist, daß man sich über die Altlasten verständigt, das heißt über den Betrag, der in den vergangenen Jahren bei dem Aufbau der stationären Einrichtungen als Darlehen aufgenommen worden ist und dessen Tilgung in die Berechnung der Tagespflegesätze eingegangen ist. Ich denke - um das einmal in einem Vergleich auszudrücken -, daß das ein ähnliches Problem ist und die gleiche Qualität der Schwierigkeit wie die Altschulden der ehemaligen DDR hat. Ich bitte, daß wir uns im Deutschen Bundestag darauf verständigen, in bezug auf diesen Punkt kei7826 Karl Hermann Haack ({0}) nen Streit mit den Ländern anzufangen, weil ich persönlich der Auffassung bin, daß eine Umsetzung und damit der Erfolg der Stufen I und II der Pflegeversicherung nur dann gemeinsam gelingen werden, wenn wir, sowohl Bund, Länder und Gemeinden als auch die Betroffenen, die Sozialverbände und die Kirchen, sorgfältig und offen miteinander umgehen. Ich möchte vermeiden, daß wir in eine Tonlage hineinkommen, die nachher im Vermittlungsausschuß eine Schieflage bewirkt. Herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Haack, Sie haben ja in Ihrer Rede von den Einsparungen gesprochen, die mit der Einführung der Pflegeversicherung zusammenhängen, und haben Zahlen genannt, auch bezüglich des Bundeslandes, aus dem wir kommen, NRW. Wahr ist aber auch, daß Sie zugeben müssen, daß die Zahlen, die Sie genannt haben, die Einsparungen bezeichnen, die mit der Einführung der ersten Stufe zusammenhängen. ({0}) Mit der ersten Stufe konnten in bezug auf die Sozialhilfe nur Einsparungen im Bereich des großen und kleinen Pflegegeldes für die häusliche Pflege erzielt werden. Weitaus größere Einsparungen für die Kommunen bei der Sozialhilfe ergeben sich ja durch die zweite Stufe, weil heute 80 Prozent aller Menschen im Altenheim oder einer Pflegeeinrichtung über die Sozialhilfe finanziell unterstützt werden ({1}) und die 2 500 DM oder 800 DM immer von der Sozialhilfe heruntergerechnet werden, egal in welchem Fall. Ein weiterer Punkt. Ich denke, wir können uns in diesem Haus nicht damit zufriedengeben, daß das Problem dadurch gelöst wird, daß man ein Pflegewohngeld einführt, das einkommens- und vermögensanrechnend wirkt. Denn es kann nicht angehen, daß die Leute auch noch ihr Erspartes hergeben müssen, bevor sie Pflegewohngeld bekommen. Das ist nämlich nichts anderes als Sozialhilfe. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wollen Sie antworten, Herr Haack? - Bitte.

Karl Hermann Haack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Laumann, die Zahlen, die ich vorgetragen habe, stellen eine Gesamtbetrachtung des Einsparpotentials aus den Stufen I und II dar. ({0}) - I plus II. Wir können uns im einzelnen darüber noch unterhalten. Ich habe mich wegen Punkt zwei der Kurzintervention noch einmal gemeldet. Sie haben gesagt: Das Pflegewohngeld wird auf Vermögen und Einkommen angerechnet. Ich bin der Meinung, daß das durchaus der Fall sein kann. Ich war 15 Jahre lang Bürgermeister einer Gemeinde und kenne die persönlichen und finanziellen Verhältnisse sehr gut. In den Einrichtungen gibt es Leute, die über eine Rente von 4 000 bis 4 500 DM verfügen. Da ist es legitim, daß das angerechnet wird. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/3811 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 und Zusatzpunkt 3 auf: 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Poß, Ingrid Matthäus-Maier, Edelgard Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung - Drucksache 13/3701 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Elisabeth Altmann ({1}), Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine durchgreifende Einkommensteuerreform: Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung - Drucksache 13/3874 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({3}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu gibt es keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Steuerpolitik dieser Bundesregierung liefert einen Negativrekord nach dem anderen: Noch nie war die Steuer- und Abgabenbelastung so drückend wie unter dieser Bundesregierung. Noch nie war dabei die steuerliche Schieflage zu Lasten der Arbeitnehmer so kraß wie unter dieser Bundesregierung. ({0}) Noch nie war das Steuerrecht so kompliziert wie unter dieser Bundesregierung. Noch nie gab es ein solch hohes Maß an Steuerhinterziehung wie unter dieser Bundesregierung. Noch nie wurden Steuergesetze so oft für verfassungswidrig erklärt wie unter dieser Bundesregierung. ({1}) All das vor dem Hintergrund immer neuer Milliardenlöcher, deren Umfang und deren Finanzierung der Bundesfinanzminister beharrlich verschweigt. Wen wundert es dann noch, wenn Wirtschaft und Bürger das Vertrauen in diese Bundesregierung und ihre Steuerpolitik längst verloren haben! ({2}) Schon beim Weihnachtsgeld war der Ärger groß. Oft waren die Abzüge höher als das, was netto übrigblieb. Obwohl das Jahressteuergesetz 1996 zu einer Entlastung von über 20 Milliarden DM geführt hat, sieht es heute kaum besser aus. ({3}) Denn die Anhebung des Grundfreibetrages und des Kindergeldes wurden durch die maßlose Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge durch diese Bundesregierung auf über 40 Prozent weitgehend aufgefressen. Ein verheirateter Arbeitnehmer, der 4 500 DM brutto im Monat verdient, bekommt netto nur 3 100 DM ausbezahlt. Den Arbeitgeber aber kostet er wegen der hohen Lohnnebenkosten 5 400 DM. Das mache man sich einmal klar: 4 500 DM brutto ergeben 3 100 DM netto, kosten den Arbeitgeber aber 5 400 DM. Damit wird Arbeit in Deutschland künstlich verteuert. ({4}) Das ist die Folge Ihrer Politik, die Folge Ihrer Feigheit, dem Steuerzahler nicht die Wahrheit zu sagen und statt dessen die Kosten für versicherungsfremde Leistungen wie den Aufbau Ost einfach in die Sozialversicherung zu kippen. Das ist beschäftigungsfeindlich. ({5}) Wer Arbeit derart verteuert, ist mitschuldig an der hohen Arbeitslosigkeit. ({6}) Die Antwort der Bundesregierung heißt: Abschaffung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer. Dies löst aber in keiner Weise das Problem, ({7}) ist doch der Anteil der Unternehmensteuern am Gesamtsteueraufkommen in den letzten Jahren ständig zurückgegangen, während gleichzeitig der Anteil der Lohnsteuer und auch der Umsatzsteuer, also der beiden großen Massensteuern, ständig in die Höhe gegangen ist. Der Anteil der Körperschaftsteuer, also der Gewinnsteuer der Körperschaften, am Gesamtsteueraufkommen ist zwischen 1990 und 1995 von 5,3 Prozent auf 2,4 Prozent abgesunken. Das Aufkommen aus der Körperschaftsteuer liegt mit 18 Milliarden DM mittlerweile unter dem Aufkommen aus der Tabaksteuer. Das stelle man sich einmal vor! ({8}) Demgegenüber explodiert die Lohnsteuer. Der Anteil der Lohnsteuer am Gesamtsteueraufkommen beträgt mittlerweile fast 37 Prozent nach 31,9 Prozent im Jahre 1990. Dies gilt übrigens grundsätzlich auch dann, wenn man die Lohnsteuerrückerstattung beim Lohnsteueraufkommen und nicht bei der veranlagten Einkommensteuer abzieht. ({9}) Nicht die Unternehmen, nein, die Arbeitnehmer sind zwischen 1990 und 1995 beinahe zum alleinigen Zahlmeister der Republik geworden. Wer Leistungswillen und Leistungsbereitschaft stärken will, muß diese steuerliche Schieflage zu Lasten der Arbeitnehmer, muß diesen Marsch in den Lohnsteuerstaat stoppen. ({10}) Unser Vorschlag zu einer beschäftigungswirksamen Entlastung von Arbeitnehmern und Wirtschaft liegt auf dem Tisch. Es ist der Einstieg in eine ökologische Steuerreform: ({11}) Wir wollen die Arbeit billiger machen und die Umwelt schonen. Wir wollen schon zum 1. Juli 1996 eine Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um etwa ein Drittel bei einer schrittweisen, maßvollen Verteuerung der Energie. ({12}) Das bedeutet eine Entlastung von über 26 Milliarden DM, je zur Hälfte bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dies ist gut für die Beschäftigung. Dies ist übrigens auch gut für die Konsolidierung der Haushalte; denn 100 000 Arbeitslose kosten zwischen 3,5 Milliarden DM und 4 Milliarden DM. Das heißt, 100 000 Arbeitslose weniger entlasten Staat und Sozialversicherung um etwa 3,5 Milliarden DM bis 4 Milliarden DM. Unser Vorschlag ist außerdem gut für die Umwelt. Er ist zudem sozial gerecht; denn es ist nicht einzusehen, daß allein die versicherungspflichtigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber für Aufgaben der Allgemeinheit einstehen müssen und nicht auch Minister, Abgeordnete, Beamte, Landwirte und Selbständige. ({13}) Auch ist unser Vorschlag schon vom Umfang der Entlastung her für die deutsche Wirtschaft viel interessanter als die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die etwa 5 Milliarden DM ausmacht. ({14}) Vor allem für den Mittelstand, für das Handwerk, ist unser Vorschlag wesentlich günstiger, da die große Masse der Unternehmen in Deutschland, nämlich über 80 Prozent, überhaupt keine Gewerbekapitalsteuer zahlt, wohl aber unter den extrem hohen Lohnnebenkosten stöhnt. ({15}) Jedenfalls werden wir die von Ihnen geplante Belastung des Mittelstandes, nämlich durch verschlechterte Abschreibungsbedingungen den Handwerksmeister um die Ecke die Steuerentlastung für die Deutsche Bank bezahlen zu lassen, nicht mitmachen. ({16}) Wir brauchen auch schnellstmöglich den Abbau des Solidaritätszuschlages - allerdings nicht mit dem billigen Täuschungsmanöver à la Waigel und F.D.P.: Der Bund beschließt die Steuersenkung, und die Länder sollen zahlen. Da hat doch sogar der Herr Stoiber von der CSU aus Bayern so schön gesagt, das sei etwa so, als gehe man einkaufen und werfe auf dem Rückweg die Rechnung beim Nachbarn in den Briefkasten. ({17}) Nein, eine solide Finanzierung ist nötig und auch möglich. Wenn die Bundesregierung nur endlich bereit wäre, das in diesem Umfang noch nie dagewesene Maß an Steuerhinterziehung und Subventionsmißbrauch zu bekämpfen, hätte sie das Geld, um den Solidaritätszuschlag schnellstmöglich zu senken. Dreistellige Millionenbeträge gehen der öffentlichen Hand durch Dividenden-Stripping von Banken und Firmen verloren. Milliardenverschwendung moniert die Präsidentin des Bundesrechnungshofes durch fehlende Erfolgskontrolle von Subventionen und steuerlichen Förderungen. ({18}) Milliarden gehen jedes Jahr dadurch verloren, daß die Bundesregierung ganz bewußt die massive Steuerhinterziehung bei der Zinsbesteuerung deckt. ({19}) Der Präsident des Bundesfinanzhofes, Offerhaus, nennt die heutige Zinsbelastung aus diesem Grunde sogar verfassungswidrig, weil der Ehrliche der Dumme sei. Kleinstbetriebe werden von der Betriebsprüfung alle 53 Jahre geprüft. Die Anzahl der Betriebsprüfer geht von Jahr zu Jahr zurück. Herr Waigel verweist hier zu gerne auf die Bundesländer. Dabei weiß doch jedermann, meine Damen und Herren: Solange der Bund nicht bundeseinheitlich feste Regeln aufstellt, wie und in welchem Turnus in den Ländern geprüft werden muß und daß Mehreinnahmen aus der Betriebsprüfung nicht einfach zugunsten der Länder im Länderfinanzausgleich verschwinden dürfen, wird sich an diesem Ärgernis nichts ändern. Deswegen muß der Bund endlich handeln! ({20}) Herr Waigel, fast sieben Jahre sind Sie jetzt im Amt. ({21}) Sie haben sich bis heute vor dieser Aufgabe gedrückt. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie Ihr Amt in Bonn endlich wichtiger als den CSU-Vorsitz in Bayern! ({22}) Wir müssen endlich auch die Steuersätze deutlich senken, indem wir Ausnahmen und Subventionen abschaffen und das Steuerrecht vereinfachen. Kollege Poß wird dies später im einzelnen zu unserem Antrag vortragen. Machen wir uns aber nichts vor: Diese Aufgabe ist nicht leicht, wie das Jahressteuergesetz zeigt, wo oft mehr über den Abbau von Subventionen als über die Entlastung gesprochen wird. Nur ein Beispiel. Wir haben gemeinsam eine neue Form der Besteuerung der Privatnutzung von Dienstwagen eingeführt, die bei Autopreisen von über 50 000 DM - das ist ja schon etwas - zu Mehrbelastungen führt. Auf die Klagen von Herstellern größerer Limousinen haben wir geantwortet, daß die Betroffenen doch auf kleinere Modelle umsteigen sollten. Dagegen hat die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie allen Ernstes eingewandt, daß das nicht gehe. Schon das Einsteigermodell eines Porsche 911 koste über 140 000 DM, die Kunden dieses Hauses hätten also gar keine Möglichkeit, auf ein kleineres Modell umzusteigen. - Meine Damen und Herren, da kommen mir nun wirklich die Tränen. ({23}) Für die notwendige Senkung der Steuersätze müssen endlich auch die steuerlichen GestaltungsmögIngrid Matthäus-Maier lichkeiten und der Steuermißbrauch zurückgefahren werden. Ein ärgerliches Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Eine Mutter besitzt ein Zweifamilienhaus. Sie wohnt in der einen Etage, der Sohn in der anderen. Nun teilt sie das Haus in zwei Eigentumswohnungen auf und überträgt eine davon auf ihren Sohn. - So weit, so gut. - Es ist durchaus üblich, dem Kind, wenn es im eigenen Haus wohnt, das Eigentum an der Wohnung, in der es wohnt, zu übertragen. Wer das tut - das habe ich jetzt gemerkt -, ist steuerlich gesehen überhaupt nicht auf Zack. Wie war das in unserem Beispiel? Die Mutter hat das Eigentum an der Wohnung behalten, in der der Sohn wohnt, und dem Sohn das Eigentum an der Wohnung übertragen, in der sie selber wohnt. Warum dieses komplizierte Überkreuzverfahren? - Weil man auf diese Weise zwei Mietverhältnisse schaffen konnte und nun der hochverdienende Sohn die Möglichkeit hat, Verluste steuerlich abzusetzen. Ich frage Sie: Wie soll man den Menschen eigentlich klarmachen, daß bei uns die Steuersätze überhöht sind, wenn wir einen solchen Unsinn zulassen? ({24}) Die Bundesregierung will statt dessen die Vermögensteuer abschaffen. Diese macht mit 8 Milliarden DM Steueraufkommen noch gerade 0,96 Prozent des gesamten Steueraufkommens aus. Als ob dieses Land nicht andere Sorgen hätte! Die Arbeitslosen werden sich 1997 freuen, wenn sie keine Vermögensteuer mehr bezahlen müssen. ({25}) Kein Wort dazu, wie das alles bezahlt werden soll. Nicht nur der Bundesfinanzminister, nein, auch die F.D.P. ist hier an Unseriosität kaum zu überbieten. Da schreibt doch vor kurzem das „Handelsblatt" zu Recht - ich zitiere -: Bei allem Verständnis sollte die F.D.P. jedoch etwas auf ihre Glaubwürdigkeit achten. Es ist schon - so das „Handelsblatt" unverfroren, vorzuschlagen, in drei Jahren die betriebliche Vermögensteuer, die gesamte Gewerbesteuer und den Solidaritätszuschlag ersatzlos abzuschaffen, ohne ein Wort zur Gegenfinanzierung zu verlieren. ({26}) Da die Bundesregierung sich nun beharrlich weigert, etwas zur Gegenfinanzierung zu sagen, bleibt für jeden, der rechnen kann, nur eine Schlußfolgerung übrig: Diese Bundesregierung plant längst die Erhöhung der Mehrwertsteuer, und zwar gleich um 2 Prozentpunkte. Vor den Landtagswahlen soll das vertuscht werden. Eine solche Steuerlüge kennen wir nicht nur von der Bundestagswahl 1990, auch bei der letzten Mehrwertsteuererhöhung 1993 haben Sie bis zum Tag davor beharrlich Stein und Bein geschworen, Sie würden die Mehrwertsteuer nicht erhöhen, und dann haben Sie es doch gemacht. Ich warne die Bundesregierung: Eine Mehrwertsteuererhöhung wäre Gift für die Konjunktur, genauso wie es schon 1993 der Fall war. ({27}) Das Steuerchaos, das wir heute haben, ist Spiegelbild dieser Bundesregierung. Wir fordern Sie daher auf: Beenden Sie das Versteckspiel um Ihre Steuerpläne und die Milliardenlöcher! Senken Sie die Lohnnebenkosten im Interesse von mehr Beschäftigung, reformieren Sie die Einkommensteuer und bauen Sie schrittweise den Solidaritätszuschlag ab! Unsere Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Ich danke Ihnen. ({28})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt das Wort.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag machen Sie es sich wieder einmal ganz einfach. ({0}) Er ist nichts anderes als ein Konglomerat von Allgemeinplätzen, ohne jede konkrete Substanz. ({1}) Auch Ihre Einlassungen, Frau Kollegin, waren nichts anderes als ein Konglomerat von Allgemeinplätzen. Nicht einmal Ihre Forderung nach einer ökologischen Steuerreform ist in Ihren eigenen Reihen noch unumstritten. Wo ist Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, was sagt er zu dieser Frage? Es wäre an der Zeit, zunächst in Ihren eigenen Reihen Klarheit herbeizuführen. ({2}) Warum werden Sie weder in Ihren Anträgen noch in Ihren Einlassungen konkret? Warum bekennen Sie denn nicht Farbe? Es hat niemand etwas gegen eine einfache und gerechte Besteuerung einzuwenden. Die Leute wollen jedoch wissen, wie Sie ganz konkret den Zielkonflikt zwischen Einfachheit der Besteuerung auf der einen Seite und Einzelfallgerechtigkeit auf der anderen Seite lösen wollen. Stellen Sie einmal ganz konkret dar, welche Maßnahmen Sie zum Abbau der Steuersubventionen, zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage tatsächlich umsetzen wollen. Wollen Sie zum Beispiel an die Nachtarbeitszuschläge? ({3}) Wollen Sie an die Übungsleiterpauschale? Wollen Sie an die Sparerfreibeträge? Wollen Sie an die Förderungen der neuen Länder? Sagen Sie es doch konkret, schenken Sie den Bürgern reinen Wein ein! ({4}) Warum bringen Sie nicht einen konkreten Gesetzentwurf ein, wenn es Ihnen mit einer schnellen Einkommensteuerreform tatsächlich ernst ist? Es ist Ihnen ja nicht ernst. Solange Sie diese aufgeworfenen Fragen nicht konkret beantworten, bleiben Ihre Anträge nichts anderes als Wahlkampfspektakel. ({5}) Im übrigen haben nicht zuletzt Sie durch Ihre Einlassungen im Vermittlungsausschuß dazu beigetragen, daß das Ganze noch komplizierter geworden ist. Ich nenne nur das Stichwort Dienstwagen. Nicht zuletzt Sie haben dazu beigetragen, daß die Problematik für den Mittelstand noch größer geworden ist. Das waren nicht unsere, sondern das waren Ihre Vorschläge. ({6}) In der Zielrichtung ist vieles in Ihrem Antrag von unserem Aktionsprogramm abgeschrieben: Reduzierung der Einkommensteuersätze, Rückkehr zum linear-progressiven Tarif und Verbreiterung der Bemessungsgrundlage durch Abbau von Sonderregelungen. Das ist Inhalt des unlängst von uns beschlossenen Programms. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen Ihnen und uns: Erstens. Wir schießen nicht aus der Hüfte. Zweitens. Wenn wir etwas vorlegen, dann arbeiten wir es konkret aus, schenken den Bürgern reinen Wein ein und sagen ihnen, auf was sie zu verzichten haben. Drittens. Wir machen alles der Reihe nach. ({7}) Als erste Schritte in dieser Reihe werden nun die von Ihnen so lange blockierte Unternehmensteuerreform und gleichzeitig die Umsetzung der Bundesverfassungsgerichtsbeschlüsse zur Erbschaft- und Vermögensteuer stehen. Der zweite Schritt wird die Absenkung des Solidaritätszuschlags sein. Dann machen wir uns an die Reform des Einkommensteuerrechts. ({8}) - Sie reden doch die ganze Zeit von der Mehrwertsteuererhöhung, nicht wir. ({9}) Sie sind es, die das immer wieder in die Diskussion bringen. Es wäre besser, meine Damen und Herren, wenn Sie sich an unserem Vorhaben konstruktiv und mit konkreten Vorschlägen beteiligen würden, statt Schaufensteranträge wie die heutigen zu stellen. ({10}) Sie beklagen in Ihrem Antrag die hohe Steuer- und Abgabenlast seit 1991. Sie verschweigen aber, welche Jahrhundertleistung wir in diesen Jahren vollbracht haben und welche Aufgaben noch vor uns stehen. Von Ihnen hört man kein Wort über die Erblast, die nicht wir verursacht haben, sondern das sozialistische Regime der ehemaligen DDR. ({11}) Ohne die steuerlichen Sonderregelungen in den neuen Ländern und ohne die staatlichen Zuwendungen wäre der Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft mit entsprechenden Arbeitsplätzen in den neuen Ländern nicht möglich gewesen. Deshalb stehe ich zu diesen Leistungen. ({12}) Trotz dieser Belastungen und trotz dieser enormen Aufgaben ist es der Bundesregierung gelungen, die Steuerquote unterhalb der Marke zu halten, auf die die SPD sie als Regierungspartei ohne vergleichbare Lasten, ohne die Lasten im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung, gebracht hat. Sage und schreibe 26,5 Prozent betrug die Steuerquote 1977. Damals hatten wir keine Aufgaben aus der Wiedervereinigung und keine anderen vergleichbaren Aufgaben. Trotz der vereinigungsbedingten Lasten erreichte die Steuerquote 1996 lediglich 23,5 Prozent. Wir sollten uns gelegentlich vor Augen halten, welche Leistung der Bundesregierung hinter diesen Zahlen steht. ({13}) Nun wiederholen Sie, Frau Matthäus-Maier, und auch einige Kollegen von Ihnen immer wieder gebetsmühlenartig, daß die Bezieher höherer Einkommen geschont würden und die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen belastet würden. Was ist denn Tatsache? Tatsache ist, daß 1995 das obere Viertel der Steuerpflichtigen zu über 70 Prozent und die untere Hälfte von rund 50 Prozent der Steuerpflichtigen zu 9 Prozent zum Aufkommen der Einkommensteuer beigetragen hat. ({14}) - Ich komme noch auf die „ganz Oberen" zu sprechen. - Durch die Freistellung des Existenzminimums, die wir alle mit dem Jahressteuergesetz 1996 beschlossen haben, wird diese Relation noch einmal verschoben. Von einer Verschonung von Beziehern höherer Einkommen und einer zusätzlichen Belastung der Bezieher kleinerer Einkommen zu reden, das ist eindeutig die Unwahrheit.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte das gerne im Zusammenhang darstellen. Der von Ihnen gerne ins Gespräch gebrachte Vergleich des hohen Lohnsteueranteils mit dem fallenGerda Hasselfeldt den Einkommensteueranteil, der immer wieder mit der steigenden Belastung der Arbeitnehmer in Zusammenhang gebracht wird, ist so nicht zutreffend. Auch wenn Sie das hundertmal und jedes Jahr wieder behaupten, stimmt es nicht. ({0}) Die Lohnsteuer und die Einkommensteuer sind keine verschiedenen Steuerarten, sondern lediglich unterschiedliche Erhebungsformen ein und derselben Steuer. Die Lohnsteuer umfaßt nicht nur die Steuern der kleinen Leute im „Blaumann" . Auch die Steuern von Bankdirektoren, von Geschäftsführern und von Vorstandsvorsitzenden fließen in den Lohnsteuertopf; die Lohnsteuererstattungen werden hingegen vom Einkommensteueraufkommen abgezogen. Im übrigen zahlen nicht nur Fabrikbesitzer und Spitzenverdiener Einkommensteuer, sondern beispielsweise auch Landwirte und kleine Gewerbetreibende. ({1}) Ich denke, es wäre an der Zeit, hier wieder zur Sachlichkeit zurückzukehren und nicht eine Neiddiskussion in unserem Land zu schüren, ({2}) die nicht nur Ihnen, sondern uns allen nicht guttut. ({3}) Dann will ich noch ein paar Sätze zu den von Herrn Voscherau immer wieder ins Gespräch gebrachten Hamburger Einkommensmillionären sagen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir wollen, daß vorhandenes Kapital in Deutschland bleibt. Wir wollen, daß bei uns investiert wird: in den Wohnungsbau, in Unternehmen und ähnliches. ({5}) Wir wollen, daß mit diesen Investitionen bei uns Arbeitsplätze geschaffen werden. ({6}) Und dazu gibt es steuerliche Anreize, gibt es Sonderabschreibungen und ähnliches. Nur so, meine Damen und Herren, war auch der Aufbau Ost möglich. Mir ist es lieber, wenn mit diesen steuerlichen Instrumenten Investitionen gefördert und Arbeitsplätze geschaffen werden, und zwar bei uns und nicht anderswo, auch wenn dies mit Steuermindereinnahmen verbunden ist. ({7}) Meine Damen und Herren, die derzeit größte Sorge macht die wirtschaftliche Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Unbestritten haben die Unternehmen in unserem Land eine hohe Steuerlast zu tragen, vor allem auch Sonderbelastungen wie die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer. Im übrigen stehen wir mit der Forderung nach Abschaffung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer nicht allein da. Herr Uwe Jens, bis vor kurzem noch wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, ({8}) hat noch vor wenigen Tagen im „Rheinischen Merkur" geschrieben - ich zitiere -: Wir kommen um eine Senkung der Unternehmensteuern nicht herum. ({9}) Insbesondere die ertragsunabhängigen Steuern müssen herunter, um auch ausländisches Investitionskapital anzuziehen. Der Mann hat recht. ({10}) Durch Ihre Verweigerungshaltung, die Sie auch heute wieder an den Tag gelegt haben, haben Sie bislang verhindert, daß die substanzverzehrende und wettbewerbsschädliche Gewerbekapitalsteuer abgeschafft wird. ({11}) Das ist nun unsere vorrangige Aufgabe, meine Damen und Herren: Senkung der Staatsquote durch Fortsetzung unserer Konsolidierungspolitik, ({12}) Abschaffung der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer, Absenkung der Gewerbeertragsteuer, Absenkung des Solidaritätszuschlags sowie Senkung der Steuerlast insgesamt. Es wäre gut für die Bürger in unserem Land, wenn Sie sich daran konstruktiv beteiligen würden. Dann werden wir uns an die Arbeit machen, um das Einkommensteuerrecht einfacher auszugestalten. ({13}) Aber anders als Sie werden wir dazu konkrete Vorschläge vorlegen und keine Schaufensteranträge. ({14}) Das, was Sie heute als Antrag vorgelegt haben, ist nichts anderes als ein Schaufensterantrag und Wahlkampfspektakel; es entbehrt jeder konkreten Substanz. ({15})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. Frau Abgeordnete, als Sie die hohe Steuerbelastung des oberen Einkommensdrittels hier beklagten, hätte ich Sie gern gefragt - und das hole ich hiermit nach -, was Sie von einem Bericht der „Stuttgarter Zeitung", eines Blattes, das ja gewiß des Sozialismus oder linker Umtriebe nicht verdächtig ist, halten, nach dem ein Selbständiger mit 260 000 DM Jahreseinkommen über 10 Jahre hinweg eine tatsächliche Steuer von 10,2 % bezahlt hat. Das, was die „Stuttgarter Zeitung" hier darstellt, ist kein Einzelfall, wie Sie bei jedem Steuerberater und vielen Finanzbeamten erfahren können. Und da reden Sie von der hohen Steuerbelastung des oberen Einkommensdrittels, während Sie den kleinen Leuten insgesamt 30 bis 40 % ihres Einkommens abknapsen! ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Hasselfeldt, Sie haben die Möglichkeit, zu antworten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wenn Sie bei meiner Rede zugehört und nicht nur auf das gewartet hätten, was bei Ihnen stimmungsmäßig vorgeht, dann hätten Sie die Antwort gehört, weil ich es nämlich genau erklärt habe. ({0}) Im übrigen würde ich Ihnen empfehlen, daß Sie nicht nur die „Stuttgarter Zeitung" lesen, sondern zum Beispiel auch Veröffentlichungen des Instituts für Wirtschaft und anderer Institute. Dann wird Ihnen klar, daß das, was Sie sagen, reine Polemik ist. ({1}) Ich habe deutlich ausgeführt, daß ich zu Sonderabschreibungen und ähnlichem stehe, wenn es der Wirtschaft, den Arbeitsplätzen und Investitionen in unserem Land dient. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Hasselfeldt, es ist auch in Bayern kein Geheimnis, daß es dort einige Millionäre gibt. Diese gruppieren sich ganz gerne um den Starnberger See herum. Es ist auch dem bayerischen Finanzminister bekannt, daß diese Leute zum Teil fast keine oder überhaupt keine Steuern entrichten. ({0}) Wieder einmal sind wir mit sehr vielen Versprechungen im Bereich der Steuersenkung konfrontiert. Auf Grund der drei Landtagswahlen, die anstehen, ist damit leider Wahlkampfgetöse verbunden. Dabei ist im Moment die Steuerpolitik das zentrale Thema. Das Hauptproblem, mit dem wir zu kämpfen haben, sind vor allem viele ungedeckte Schecks, die Sie hier ausgestellt haben. Die gleiche Regierung, die heute über die Kompliziertheit des Steuersystems redet, die von der Gefährdung des Wirtschaftsstandortes Deutschland redet, die über die hohe Steuer- und Abgabenlast jammert, hat all dies in den letzten Jahren verursacht. Das darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen. ({1}) Sie haben doch in diesem Bereich den Offenbarungseid geleistet: Die Arbeitslosenzahlen sind gestiegen, die Steuer- und Abgabenlast ist gestiegen. Die Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen fand nicht statt. Die Steuerentlastung durch das Einkommensteuergesetz 1996 wurde vor allem durch die Erhöhung von Abgaben kompensiert. Das Ganze war ein Nullsummenspiel. Sie haben in Ihrem 50-Punkte-Papier - Frau Hasselfeldt hat es wieder angesprochen - damit getönt, daß Sie in den nächsten Jahren dafür sorgen werden, daß die unerträglich hohe Steuer- und Abgabenlast abgebaut wird. ({2}) Es ist irgendwie komisch: Man hat langsam das Gefühl, daß die Bundesregierung 15 Jahre lang regelrecht geknechtete Opposition zu einer rot-grünen Regierung in Bonn gewesen ist und jetzt über ein 50Punkte-Aktionsprogramm kurz vor den drei Landtagswahlen beweisen muß, wie ungerecht es in diesem Land zugeht, daß man hier etwas ändern muß. Waigel und die F.D.P. schnüren jetzt das große Steuerpaket. - So stand es in den letzten Wochen in verschiedenen Zeitungen. So wird es auch von Ihnen immer wieder gesagt. Der erste Schritt dieser Koalition heißt: weg mit der Gewerbekapitalsteuer. - Sie wissen, daß wir in diesem Punkt sehr offen sind, daß wir gesagt haben, daß wir die Substanzbesteuerung durch die Gewerbekapitalsteuer im Prinzip aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht akzeptieren wollen. ({3}) Wir sagen aber gleichzeitig, daß wir die Bemessungsgrundlage der Gewerbeertragsteuer verbreitern wollen, um die Sicherheit der Einnahmen der Kommunen zu gewährleisten. ({4}) Hier liegt bei Ihnen der Fehler. Sie sagen nämlich, daß die Gewerbekapitalsteuer weg müsse, daß auch die Gewerbeertragsteuer kurzfristig gesenkt und bis 1998 - wie vorgestern in der Zeitung zu lesen war - ganz abgeschafft werden müsse. Das führt dazu, Herr Westerwelle, daß wir dann mit Steuerausfällen von 44 Milliarden DM für die Kommunen zu rechnen haben. Jetzt sagen Sie mir: Wie wollen Sie diese Steuerausfälle für die Kommunen kompensieren? Darauf gibt es bis heute keine Antwort von Ihnen. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westerwelle?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe wirklich nur eine Frage. ({0}) Sie haben sich im Rahmen einer babylonischen Sprachverwirrung sehr hübsch ausgedrückt. Sie reden von der „Verbreiterung der Bemessungsgrundlage". Andere reden von der „Revitalisierung der Gewerbesteuer" . Warum sagen Sie diesem Hause und der deutschen Öffentlichkeit nicht klipp und klar, daß Sie die Gewerbesteuer, die wir mittelstandsfreundlich senken wollen, auf die freien Berufe ausweiten wollen? Haben Sie Angst vor den Wählern, oder warum sagen Sie nicht die Wahrheit? ({1})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die gute Vorlage. Herr Westerwelle, es ist nämlich so: Wenn wir die Gewerbeertragsteuer so breit ansetzen, daß auch diejenigen, die heute umsatzsteuerpflichtig sind, an dieser Gewerbeertragsteuer beteiligt werden - dazu gehören selbstverständlich auch die freien Berufe; das verschweigen wir nicht; das steht in allen unseren Publikationen -, ({0}) dann bedeutet das auch, daß man den Steuersatz der Gewerbeertragsteuer insgesamt mittelstandsfreundlich senken kann. Mit Ihrem Modell geht das nicht. ({1}) Zu der Diskussion um die Vermögensteuer: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil dazu ist uns bekannt. In diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil gibt es Passagen, die es für die Zukunft, ab 1997, problematisch erscheinen lassen, ({2}) die betriebliche Vermögensteuer beizubehalten. ({3}) - Sie ist, wie Sie sagen, verfassungswidrig. Die private Vermögensteuer könnte jedoch über ein neues Gesetz anders geregelt werden. Dies wollen Sie nicht tun. Sie haben gesagt, die Vermögensteuer werde insgesamt beseitigt, mit der Konsequenz, daß es Einnahmeausfälle - in diesem Fall nicht für die Kommunen, sondern, da die Vermögensteuer eine Einnahme der Länder ist, für die Länder - von 8,5 Milliarden DM gibt. ({4}) - Insgesamt bei der Vermögensteuer, für das Jahr 1997. ({5}) Die Frage bleibt, wie das mit den Ländern kompensiert wird. Auch hier bieten Sie keine Möglichkeit der Gegenrechnung. Ein weiterer Schritt, den Sie im Zusammenhang mit dem ganzen System der Steuervereinfachung und -bereinigung vorschlagen, betrifft den Solidarbeitrag. Darüber haben wir hier schon öfter diskutiert. Die F.D.P. als sogenannte Steuersenkungspartei will in der Folge, daß der Solidarbeitrag bis 1999 ganz wegfällt. Das bedeutet: Wenn der 7,5prozentige Solidarbeitrag wegfällt - dessen Bemessungsgrundlage heute ja die Lohn- und Einkommensteuer darstellt -, führt dies zu Steuermindereinnahmen in Höhe von 29 Milliarden DM. Auch hier sagen Sie nicht, wie diese kompensiert werden sollen, wo das Geld letztlich herkommen soll. Dazu kommen die Lasten aus der bestehenden Staatsverschuldung, die Steuermindereinnahmen - weil ja immer wieder falsch gerechnet worden ist, weil die Schätzungen der zuständigen Arbeitskreise in der Regel nicht stimmen. Selbst ohne die Lasten aus Staatsverschuldung und ohne die Steuermindereinnahmen addieren sich Ihre ganzen netten Geschenke für Teile der Bevölkerung auf 81,5 Milliarden DM für den Haushalt 1998/ 99. Das bedeutet, umgerechnet in Prozentpunkte der Mehrwertsteuererhöhung, daß die F.D.P. und auch Teile der Union eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um etwa 5,5 Prozentpunkte für 1998 vornehmen müssen, wenn man ernsthaft gegenfinanzieren will. ({6}) - Eine Erhöhung um 1 Prozentpunkt entspricht 14 Milliarden DM. Das kann man dann hochrechnen. Wenn Sie das Haushaltsloch gegenfinanzieren wollen, dann bedeutet das, daß eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um etwa 5,5 Prozentpunkte notwendig wird. Wir haben uns das ganz anders vorgestellt; aber das ist ja kein Geheimnis. Wir wissen, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt einen Zwei-Personen-Haushalt mit niedrigem Einkommen im Monat um 140 DM und einen Vier-PersonenChristine Scheel Haushalt mit mittlerem Einkommen um 300 DM mehr belastet. ({7}) Besser wäre es - das ist unsere Überlegung -, wenn Sie die EU-Richtlinie, die es gibt, ausschöpfen würden und sagen würden: Für Güter des täglichen Bedarfs können wir die Mehrwertsteuer von 7 auf 5 Prozent senken, und dafür können wir auf der anderen Seite Luxusgüter in diesem Bereich höher besteuern. Damit würden wir zu mehr Kaufkraft und zu einer sozial- und wirtschaftspolitischen Gerechtigkeit beitragen können. Erst Ihr dritter Schritt ist die Tarifreform 2000, mit der Sie das Einkommensteuergesetz reformieren, Ausnahmetatbestände abschaffen, Bemessungsgrundlagen verbreitern, gerechtere Besteuerung erreichen und die Steuertarife senken wollen. Sie sagen aber nicht, was Sie hinauswerfen wollen. Sie sagen nur: Tarife müssen gesenkt werden. Das sagen übrigens auch wir. Auch wir sagen: Der Spitzensteuersatz muß gesenkt werden. ({8}) - Auch auf dem Parteitag werde ich das sagen. Da werden Sie sich aber wundern. Man kann das auch erklären: Wir können beim Steuertarif in den Steuersätzen natürlich nach unten gehen. Wenn wir das, was wir als Grüne hier seit einem Jahr vorgelegt haben, tun, wenn wir die ganzen Ausnahmetatbestände herausnehmen und das Steuerrecht wirklich entrümpeln, dann schaffen wir es, den realen Steuersatz bei sehr hohen Einkommen endlich dort anzusetzen, wo er hingehört. ({9}) - Heute ist es so, Herr Westerwelle, daß jemand mit einem sehr hohen Einkommen und mit einem nominellen Steuersatz von 53 Prozent faktisch einen Steuersatz von höchstens 30 Prozent hat. Die Bezieher mittlerer Einkommen zahlen im Durchschnitt einen faktischen Steuersatz von 36 Prozent. ({10}) Das heißt, der Steuersatz liegt bei mittleren Einkommen wesentlich höher als bei sehr hohen Einkommen, die Sie permanent zu schützen vorgeben. ({11}) - Daß Herr Westerwelle um seine eigenen Steuerzahlungen Angst hat, das haben Sie gesagt. Ich kenne seine Steuererklärung nicht. Da halte ich mich lieber zurück. Die Forderung ist und muß doch sein: Senken Sie in einem ersten Schritt die Steuersätze bei gleichzeitigem Subventionsabbau, so wie das auch beispielsweise Herr Henkel, der Präsident des BDI, gefordert hat. Denken Sie doch darüber nach, daß die Einkommensteuerreform jetzt, 1996, kommen muß.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Solms gestatten.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön, Herr Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich möchte nur fragen, ob Sie der Forderung Ihres Kollegen Joschka Fischer zustimmen, daß der Spitzensteuersatz, wie man den Zeitungen entnehmen konnte, auf 35 Prozent gesenkt werden sollte. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich weiß nicht, was die F.D.P. heute hat. Sie bieten mir dauernd so tolle Steilvorlagen. Das ist hervorragend. Man sollte überlegen, wie die nominelle und die faktische Besteuerung aussieht. Es gibt auch Kolleginnen und Kollegen aus Ihren Reihen, die sagen: Wir können den Eingangssteuersatz auf unter 20 Prozent - und zwar auf weit unter 20 Prozent - drücken, und wir können dann den Spitzensteuersatz bei 35 bis 40 Prozent ansetzen. Dann sind wir uns doch einig. Wir sind uns aber nicht darin einig, was wir an Steuersubventionen abbauen; denn davon ist Ihre Klientel betroffen. Die Grünen haben letztes Jahr einen Subventionsabbau in Höhe von 19 Milliarden DM vorgeschlagen. Aber die Koalition war zu feige, diese 19 Milliarden DM abzubauen. Die Koalition war auch zu feige, das, was ihre eigene Gutachterkommission zur Steuervereinfachung und zum Abbau von Subventionen vorgeschlagen hat, im Bundestag zu beschließen. Das ist genau das Problem, vor dem wir stehen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Michelbach?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön, Herr Kollege.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie erwecken hier den Eindruck, als wollten Sie zumindest im Steuersystem bleiben. Die SPD hat zu diesem Thema einen pauschalen Antrag eingebracht. Die Grünen haben einen wenig substantiellen Antrag eingebracht, in dem man nachlesen kann, was Sie wirklich wollen. Da steht: Beendigung von ökonomisch und ökologisch schädlichen Fehllenkungen von Kapital. Da frage ich Sie: Ist das im System? Soll das heißen, daß Sie mit Ihrer Steuerpolitik Staatslenkung betreiben wollen? ({0}) - Zurufe von der SPD: Oh!) Bedeutet das nicht, daß das blanker Ökosozialismus ist und nicht im bestehenden Steuersystem bleibt? ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Meine verehrten Kollegen, die Zwischenfrage ist nicht an Sie, sondern an die Rednerin gerichtet.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber sie war so geistreich, daß sich jetzt unheimlich viele Leute damit auseinandersetzen. ({0}) Herr Michelbach, es geht uns um den Abbau von ökologisch schädlichen Steuersubventionen. Genau das haben wir hier vorgelegt. Das wurde übrigens auch von Kollegen aus Ihrer eigenen Fraktion vorgelegt, wurde dem Herrn Schäuble in die Schublade gegeben und ist bis 1998 vertagt. ({1}) Wie sieht es denn aus mit der Steuerbefreiung von Flugbenzin, mit der Mineralölsteuerbefreiung in allen möglichen Bereichen? Auch Sie wollen da doch eine Änderung haben. Ich ärgere mich sehr, wenn die Koalition sagt: Wir wollen auch im Mineralölsteuerbereich etwas tun. Die F.D.P. hat jetzt wieder gesagt: Kfz-Steuer abschaffen. Wir haben hier vor vier Wochen einen Antrag dazu gestellt, aber die F.D.P. und auch Sie haben ihn abgelehnt. Wir wollten eine Umlegung der KfzSteuer auf die Mineralölsteuer, weil wir denken, daß das ökologisch sinnvoller ist. ({2}) Da haben Sie gekniffen - leider. ({3}) - Wo ich recht habe, habe ich recht. Vielen. Dank. Das war der Kommentar der F.D.P., den ich in diesem Zusammenhang gerne aufgreife. Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie eine Radikalkur. Die Steuersatzsenkung ist der einzige Weg zu mehr Steuergerechtigkeit und Transparenz und muß der erste Schritt sein. Das wesentliche Kennzeichen ist das Auseinanderklaffen - das habe ich angesprochen - der nominellen und realen Steuersätze. Das hängt damit zusammen, daß manche Einkommen überhaupt nicht in die Besteuerung aufgenommen werden. Nur etwa zwei Drittel der Volkseinkommen sind der Finanzverwaltung in der Bundesrepublik überhaupt bekannt. Ich denke, was die Gerechtigkeit betrifft, kann es so nicht weitergehen. Wir brauchen eine maßgebende Struktur. Das heißt, erster Schritt: Einkommensteuerreform; und dann können Sie darüber nachdenken, wie Sie die Unternehmensbesteuerung angehen, wie Sie Unternehmensteuern senken. Das darf aber auf keinen Fall heißen: Unternehmensteuer senken und Mehrwertsteuer erhöhen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Es ist schon erstaunlich: Seitdem Herr Fischer Fraktionsvorsitzender der Grünen hier im Deutschen Bundestag ist und die Wirkungen des progressiven Einkommensteuertarifes selbst verspürt, nimmt die Bundestagsfraktion der Grünen einen Schwenk in der Einkommensteuerpolitik vor und fordert die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent. Das ist wiederum ein Alleinstellungsmerkmal von Ihnen, Herr Fischer, gegenüber Ihrer Partei; denn diese Forderung hat Herr Trittin bislang noch nicht befürwortet. ({0}) Möglicherweise sieht er das anders, wenn er einmal Fraktionsvorsitzender der Grünen ist. Aber das ist derzeit noch nicht der Fall. Frau Matthäus-Maier, auch noch ein Wort an Sie: Warum arbeiten Sie bei diesen brillanten Vorschlägen, die Sie dem Plenum unterbreiten, nicht im Finanzausschuß mit? Warum verweigern Sie dort eigentlich konkrete Arbeit? Ich bin seit dieser Legislaturperiode dort der Vorsitzende. Ich habe Sie zweimal in einer Anhörung gesehen. Ansonsten habe ich Sie im Finanzausschuß nicht erlebt. Deshalb sage ich Ihnen: Die Finanzpolitik kann doch nicht nur aus Rhetorik im Deutschen Bundestag bestehen; sie muß konkret auch in der Sache erarbeitet werden. ({1}) Der Antrag der SPD-Fraktion, mit dem wir uns heute beschäftigen, kann von fast jedem Mitglied dieses Hauses im Grundsatz befürwortet werden. Er ist so schön weich, so schön allgemein, er verkündet nur Wohltaten. Er ist nur eines nicht: Er ist nicht konkret. Dieser Antrag entspricht der klassischen Oppositionsrolle, wie sie die SPD-Fraktion versteht: der Gefälligkeitsopposition. Wer aber ernsthaft Oppositionspolitik betreiben will, muß Alternativen vorlegen. Er muß deutlich machen, was er will. Er darf sich nicht vor konkreten Aussagen drücken. Hier finden wir aber nur allgemeine Grundsätze. ({2}) Es reicht nicht, wie dies die SPD-Bundestagsfraktion auch bei den Beratungen des Jahressteuergesetzes 1996 getan hat, mit Herrn Bareis über Subventionsabbau und Abbau von Steuervorteilen zu reden, aber im Deutschen Bundestag keine eigenen Vorschläge dazu zu unterbreiten. ({3}) Konkret wurde die SPD dann allerdings über den Bundesrat bei den Beratungen im Vermittlungsausschuß zum Jahressteuergesetz. Nach Beschwerden von Bürgern über die negativen Auswirkungen des Jahressteuergesetzes 1996 sind die steuerliche Einschränkung der doppelten Haushaltsführung, die Einschränkung bei den häuslichen Arbeitszimmern und die steuerliche Neuregelung über die Dienstwagen - um nur einige zu nennen - von der SPD-Mehrheit im Bundesrat durch den Vermittlungsausschuß in das Jahressteuergesetz 1996 hineingeboxt worden. Was sagt die SPD eigentlich denjenigen Arbeitnehmern, die bei erheblicher Beeinträchtigung ihres Privatlebens die Mühe einer getrennten Haushaltsführung auf sich nehmen und die Zusatzkosten nicht steuerlich geltend machen können? Was sagt die SPD denjenigen Arbeitnehmern, die täglich weite Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen müssen und hierfür jetzt steuerlich erheblich stärker zur Kasse gebeten werden? Was sagt die SPD eigentlich denjenigen Arbeitnehmern bei Daimler-Benz, BMW, Opel, Ford, Audi, VW und den vielen Zulieferbetrieben, die durch stornierte Bestellungen und stockenden Absatz Angst um ihren Arbeitsplatz haben? ({4}) Wer Arbeitsplätze in Deutschland erhalten will, wer neue Arbeitsplätze in Deutschland schaffen will, wer will, daß sich Leistung in Deutschland lohnt, damit mehr Menschen etwas unternehmen, um Arbeitsplätze zu schaffen und Geld zu erwirtschaften, der darf doch nicht gerade diese Leistungsträger, die unsere Gesellschaft aufrechterhalten, in dieser Form in ihrem Leistungswillen und in ihrer Leistungsfähigkeit belasten. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Thiele, ganz abgesehen davon - um das nur einmal klarzumachen -, daß auch bei Ihnen stellvertretende Vorsitzende nur dann in den Ausschuß gehen, wenn es große Anhörungen oder ähnliches gibt - ich sehe, Herr Repnik nickt -, ({0}) und ganz abgesehen davon, daß der Abbau der Steuersubventionen im Jahressteuergesetz zu erheblichen Teilen Dinge beinhaltet, die mir und meiner Fraktion ausgesprochen weh tun und nur dadurch zustande gekommen sind, daß wir gemeinsam eine Gegenfinanzierung konzipiert haben, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Hat die F.D.P. dem Jahressteuergesetz mit alldem, was Sie bejammern, zugestimmt oder nicht?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben dem Jahressteuergesetz zugestimmt, ({0}) weil wir den Verfassungsauftrag hatten, das Existenzminimum von der Steuer freizustellen. ({1}) Diesen Verfassungsauftrag hat diese Koalition mit der Freistellung des Existenzminimums und mit der Neuordnung des Familienleistungsausgleiches erfüllt. ({2}) - Ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. Wenn ich mich aber recht entsinne, war es gerade die SPD-Opposition, die eine erheblich stärkere Entlastung forderte ({3}) ohne Gegenfinanzierungsvorschläge. ({4}) Diese SPD-Opposition ist bei den SPD-geführten Ländern aufgelaufen, die eine derart hohe Entlastung für die Steuerbürger, wie wir sie vorhatten, nicht wollten. Sie wollten nicht, daß die Steuerbürger in diesem Lande so stark entlastet werden, und deshalb kamen von den SPD-geführten Ländern diese Kompensationsvorschläge. Da wir aber alle vor der Aufgabe standen, das Existenzminimum steuerlich freizustellen, standen wir an dieser Stelle unter einem Handlungszwang und hatten keine andere Möglichkeit, als diese Punkte, die uns nicht gefielen, mit zu beschließen. ({5}) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir, die F.D.P. und diese Koalition, wollen, daß Arbeitsplätze in Deutschland erhalten und neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Deshalb setzen wir uns schon seit Jahren für die Abschaffung der Substanzsteuern auf Arbeitsplätze in Deutschland im Wege der Beseitigung der Gewerbekapitalsteuer und insbesondere der Beseitigung der betrieblichen Vermögensteuer ein. Diese Steuern stellen einen echten Standortnachteil Deutschlands dar, weil unsere wichtigsten Mitbewerberländer diese Steuern nicht erheben. ({6}) Diese Steuern müssen auch in Verlustjahren gezahlt werden. Sie bringen Unternehmen häufig in Existenznöte und vernichten Arbeitsplätze. Wenn Sie Steuern vereinfachen wollen - das steht ja in Ihrem Antrag -, warum weigern Sie sich, die Gewerbekapital- und die Vermögensteuer und damit die Einheitsbewertung abzuschaffen? Die Abschaffung einer Steuer ist immer noch die beste und konsequenteste Form der Steuervereinfachung und Steuersenkung. ({7}) Nun zu den Grünen. Frau Scheel, es ist schon interessant, daß Sie jetzt die Arbeitsplätze bei den Rechtsanwälten, in den Büros der Architekten, in den Praxen der Ärzte zusätzlich belasten wollen, indem Sie fordern, daß diese Berufe die Gewerbeertragsteuer zahlen. Man sollte hier deutlich ansprechen, daß seitens der Grünen nicht eine Entlastung, sondern eine Belastung von Arbeitsplätzen auch in Dienstleistungsberufen in Deutschland gewollt ist. ({8}) Meine Damen und Herren von der Opposition, wann lernen Sie eigentlich, daß Deutschland keine Insel ist, daß Deutschland nicht nur im europäischen, sondern im internationalen Wettbewerb steht und deshalb diese Steuern, die einen Standortnachteil für Arbeitsplätze darstellen, abgebaut werden müssen? Geben Sie endlich Ihre Blockadepolitik hier im Deutschen Bundestag und auch im Bundesrat auf! Für die Schaffung von Arbeitsplätzen brauchen wir Investitionen. Für Investitionen gibt es aber eine Grundregel. Wir können Investitionen in Deutschland nicht erwarten, wenn wir schlechtere Rahmenbedingungen für Investitionen anbieten als unsere Mitbewerber. Ohne Investitionen keine Arbeitsplätze! Ohne wettbewerbsgleiche Bedingungen für Investitionen keine Investitionen in Deutschland und keine Arbeitsplätze! Die Realität sieht doch so aus: Die großen Unternehmen wandern mit ihren Arbeitsplätzen aus, und die kleinen gehen unter. Deshalb setzt sich die F.D.P. vorrangig dafür ein, daß in Deutschland neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Diese Arbeitsplätze können nicht im öffentlichen Dienst entstehen. Sie müssen von Bürgern, von Selbständigen, von Unternehmen und Betrieben geschaffen werden. Dies geht aber nur, wenn Investieren in Deutschland Sinn macht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne, Herr Präsident!

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Vorsitzender des Finanzausschusses, lesen Sie eigentlich manchmal das „Handelsblatt"? Wenn Sie das tun, haben Sie sicher das „Handelsblatt" vom Montag vor acht Tagen gelesen. Dann wissen Sie, was Herr Mundorf auf Seite 2 über den Standort schreibt. Er weist nach, daß der Standort Deutschland ein guter Standort ist. Wie verhält sich das zu dem, was Sie jetzt gesagt haben?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr von Larcher, ich glaube, Sie sind Sprecher des linken Kreises der SPD, des Frankfurter Kreises. Wenn der Sprecher des linken Kreises innerhalb der SPD-Fraktion erklärt, daß Herr Mundorf recht hat, wenn er im „Handelsblatt" sagt, daß wir keine Standortprobleme haben, dann zeigt das die Basis für die realitätsfremden Vorschläge, die uns von Ihnen unterbreitet werden, um die tatsächlich bestehende Arbeitslosigkeit in Deutschland wirksam zu bekämpfen. ({0}) Wir können dies doch nicht negieren. Einige Genossen von Ihnen negieren dies auch nicht; sie sehen das genauso. Insofern erschaudert mich diese fremde Betrachtungsweise schon. Meine Kolleginnen und Kollegen, die Bürger unseres Landes haben es satt, daß die Politik immer nur über Probleme redet, aber durch die Blockadehaltung der SPD im Bundestag und im Bundesrat nicht in der Lage ist, Probleme tatsächlich zu lösen. Die F.D.P. ist der Auffassung, daß die Probleme unseres Landes nicht durch mehr, sondern durch weniger Staat gelöst werden können. ({1}) Wir wollen etwas gegen die Verkrustung unserer Gesellschaft, die in vielen Bereichen zu einer reinen Besitzstandswahrungsgesellschaft geworden ist, unternehmen. ({2}) Wir haben hierzu konkrete Vorschläge unterbreitet. Wir sind zur Reform bereit. Gerade die SPD erweist sich als strukturkonservative Partei. Sie ist es doch, die am alten Denken festhält. Gerade beim Bremer Vulkan unter dem Genossen Hennemann hat sie vorgeführt, daß die Staatswirtschaft Geld kostet, Arbeitsplätze gefährdet und keine Zukunft hat. Deshalb sagt die F.D.P.: Wer dem Staat immer mehr Aufgaben aufbürdet, nimmt Steuererhöhungen und Verschuldung zur Finanzierung dieser zusätzlichen Aufgaben in Kauf. Wer über steigende Steuern klagt, darf nicht gleichzeitig nach immer neuen Wohltaten rufen. Die Neigung der Politik, jedes Problem mit staatlichen Programmen lösen zu wollen, entspricht der Neigung bequemer Bürger, immer mehr Ansprüche an den Staat zu stellen. ({3}) Die Trennung zwischen Freiheit und Verantwortung - möglichst viele Rechte und Freiheiten beim Bürger und möglichst viele Pflichten und Verantwortungen beim Staat - führt nicht nur zur Nichtfinanzierbarkeit unseres Gemeinwesens, sondern zum Verlust von Freiheit und Engagement in unserer Gesellschaft. Wodurch ist denn die Freiheit der Bürger in unserem Lande derzeit bedroht? Durch ein undurchdringliches Regelungsdickicht, durch eine überhöhte Steuer- und Abgabenlast, ({4}) durch eine Verschuldung, die die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte in Frage stellt und die eine schwere Bürde für die kommende Generation darstellt. - Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, Herr Fischer, antworte ich Ihnen darauf. Frau Scheel, bitte schön, wenn der Herr Präsident es zuläßt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Scheel, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Thiele, Sie legen hier einen Katalog von Mißlichkeiten vor, den wir unterstützen können: Die Steuer- und Abgabenlast ist zu hoch, die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Ich frage Sie: Wer hat denn die Regierung in diesem Lande in den letzten Jahren gebildet? ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Scheel, diese Koalition hat von 1982 bis 1990 die Staatsquote gesenkt und durch das Senken der Staatsquote 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. ({0}) Diese Koalition hat zu einem Zeitpunkt, zu dem Teile der SPD und Teile der Grünen nicht bereit waren, die deutsche Wiedervereinigung zu wollen, mit HansDietrich Genscher und Helmut Kohl die deutsche Wiedervereinigung herbeigeführt, und ich bin stolz darauf und glücklich darüber. ({1}) Wir befinden uns jetzt in dem Zeitabschnitt nach der deutschen Einheit. Wir stehen zum Aufbau der Wirtschaft in den neuen Bundesländern und zur Abfederung der sozialen Probleme für die Mitbürger in den neuen Bundesländern. Dies ist natürlich finanziell eine andere Herausforderung, als sie vor der deutschen Einheit bestanden hat. Warum wird das denn von Ihnen verschwiegen? Warum wird das von der SPD verschwiegen? ({2}) Die Regierung hat doch ihren Kurs nicht geändert. Die Regierung bemüht sich, den Aufbau für die Bürger in den neuen Bundesländern voranzutreiben. Die Steuerausfälle hängen doch zum Beispiel auch damit zusammen, daß Bürger dort investieren und daß diese Investitionen steuerlich begünstigt sind, was zumindest von uns gewollt ist. Wenn Sie das nicht wollen, daß in den neuen Bundesländern investiert wird, wenn Sie dafür keine Fördermittel bereitstellen wollen, dann erklären Sie das doch bitte. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Scheel?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön, Frau Scheel.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es wird immer abstruser, Herr Thiele! Der Aufbau Ost wird unter anderem über den Solidaritätszuschlag finanziert. Die F.D.P., die jetzt beklagt, daß es ganz problematisch ist, was wir heute an wirtschaftlicher Aufbauleistung in diesem Bereich haben, will den Solidaritätszuschlag, wie vorgestern zu lesen war, bis 1999 ganz abschaffen. Herr Thiele, ein zweiter Punkt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Scheel, ich muß Sie unterbrechen. Sie hatten sich nicht zu einer Intervention, sondern zu einer Frage gemeldet. Ich bitte Sie, eine kurze Frage zu stellen. Andernfalls müßten Sie sich zu einer Intervention melden.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich frage den Herrn Thiele, ob er es als sinnvoll erachtet, wenn wir den Aufbau Ost und die ganzen wirtschaftspolitischen Probleme betrachten, den Solidaritätszuschlag zunächst um 2 Prozent zu senken und bis 1999 ganz abzuschaffen. Gleichzeitig frage ich Herrn Thiele, wie er es finanzieren will, die Lohnnebenkosten zu senken. Ich frage ihn, wie er es finanzieren will, die Gewerbekapital- und -ertragsteuer abzuschaffen und die Vermögensteuer abzuschaffen; denn dadurch wird ein Loch von etwa 80 Milliarden DM produziert. Wo sollen diese 80 Milliarden DM herkommen, Herr Thiele? Das würde ich gern wissen. Ich denke, das interessiert die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen in diesem Lande ganz besonders.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unsere Vorschläge liegen vor. Es ist erstaunlich, daß Sie einen Punkt überhaupt nicht angesprochen haben: Wir wollen die Steuern und Abgaben der Bürger dadurch senken, ({0}) daß wir die Staatsausgaben reduzieren und die Sozialversicherung reformieren. Warum reden Sie immer nur über die Einnahmeseite des Staates, die die Belastung der Bürger betrifft, und sind nicht bereit, über eine Ausgabenreduzierung zu sprechen? ({1}) Diese Koalition unter Finanzminister Dr. Waigel hat mit dem Haushalt des letzten Jahres, 1995, den ersten Haushalt seit 1953 vorgelegt, der weniger Ausgaben enthält als der Vorjahreshaushalt. ({2}) Dies ist der Weg, den wir beschreiten wollen. Wir wollen nicht Steuererhöhung. Wir wollen Steuersenkung, weil wir nur so Wachstum und Dynamik in unserer Gesellschaft erreichen können.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Thiele, von dem Abgeordneten Köhne wird noch eine Zwischenfrage gewünscht.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön, Herr Köhne.

Rolf Köhne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002702, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Thiele, Sie haben soeben davon gesprochen, daß Sie es für richtig halten, daß wir Steuerausfälle dadurch haben, daß andere, „Besserverdienende" sage ich einmal, in den neuen Bundesländern investieren. Ist Ihnen in diesem Zusammenhang bekannt, daß Menschen, die mehr als 200 000 DM Jahreseinkommen haben, durch die Vergünstigung so weit bessergestellt werden, daß sie im Grunde genommen durch Einsparung ihrer Steuerschuld Wohneigentum bilden können, obwohl sie gar nichts dafür aufbringen, daß also alle diese Sonderabschreibungen im Endeffekt dazu führen, daß sich über die Steuervergünstigungen andere Menschen bereichern, was eigentlich keinen Effekt hat außer dem, daß überteuerte Wohnungen gebaut werden, die letztendlich nicht mehr vermietet werden können? Ich selbst bekomme von einem Immobilienmakler ständig solche Angebote, der mir genau vorrechnet, daß ich Eigentum bilden kann, ohne letztendlich einen Pfennig dazuzahlen zu müssen. Halten Sie das für gerechtfertigt?

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Köhne, wenn Sie Investitionen anreizen wollen und eine Investition in den neuen Bundesländern haben wollen, damit Wohnungen entstehen, damit moderne Fabriken entstehen, dann brauchen Sie Fördermechanismen. Die Fördermechanismen hat der Staat über die Ausgabenseite nur begrenzt. Da brauchen wir die Bürger, die bereit sind, sich zu engagieren und dort zu investieren. Deshalb haben wir diese steuerliche Vorzugsbehandlung von Investitionen in den neuen Bundesländern. Investitionen werden abgeschrieben und führen zu Arbeitsplätzen, aber auch zu Steuerausfällen. Wir brauchen aber Investitionen, um in den neuen Bundesländern Arbeitsplätze zu schaffen. ({0}) Der Streit um die Finanzierbarkeit des Staates und die Grenze der Belastungsfähigkeit der Bürger ist der Streit über moderne und unmoderne Wirtschaftspolitik. Dies ist auch der Streit in der SPD. Wenn der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Gerhard Schröder, erklärt, daß Sparen erfolgen muß und auch Einschnitte in das soziale Netz erfolgen müssen, dann spricht er nur das aus, was dieser Koalition und den Bürgern unseres Landes längst bewußt ist. Daß Herr Schröder aber gleich von dem wirtschaftspolitischen Sprecher Ihrer Fraktion und von den Parteilinken zurückgepfiffen wird, zeigt, daß die SPD noch weit davon entfernt ist, moderne Wirtschaftspolitik zu betreiben. Deshalb appelliere ich an Sie: Helfen Sie mit, die Belastungen vom Rücken der arbeitenden Bevölkerung zu nehmen. Helfen Sie mit, die Reform des sozialen Sicherungssystems durch Veränderungen in dem System zu bewerkstelligen. Helfen Sie mit, die Belastung der Bürger durch ein Sinken der StaatsCarl-Ludwig Thiele ausgaben zu reduzieren, das dann die notwendigen Steuersenkungen ermöglicht. Deshalb sind wir der festen Auffassung: Wir müssen unseren Staat verändern. Die F.D.P. versteht sich als Motor dieser Veränderungen. Das ist auch unsere Rolle als liberale Bürgerpartei. Die öffentliche Hand unterscheidet sich von den privaten Haushalten dadurch, daß der Privathaushalt seine Ausgaben an den Einnahmen orientiert. Wenn jemand weniger Einnahmen hat, kann er auch weniger ausgeben. Bei der öffentlichen Hand ist es jedoch genau umgekehrt. Ihre Einnahmen richten sich nicht nach den Ausgaben. Damit die Einnahmen des Staates und die Steuern unserer Bürger sinken, muß nach unserer festen Auffassung auf der Ausgabenseite der öffentlichen Hand und der Sozialversicherungssysteme gespart werden. ({1}) Wer unsere soziale Marktwirtschaft erhalten will, muß diese umbauen, damit sie bestehen bleiben kann. Nicht der Ausbau, sondern der Umbau unseres Sozialstaates ist angesagt. Weniger Staatsausgaben ermöglichen weniger Steuern. Weniger Steuern setzen wirtschaftliche Dynamik frei und schaffen neue Arbeitsplätze, wie es die achtziger Jahre gezeigt haben. Deshalb verlangt die F.D.P. folgende konkrete Änderungen: Erstens. Die F.D.P. fordert die Abschaffung der Substanzsteuern im Wege der Beseitigung der Gewerbekapitalsteuer und die Beseitigung insbesondere der betrieblichen Vermögensteuer. Zweitens. Die F.D.P. fordert eine deutliche Entlastung der Steuern auf Unternehmenserträge. Das bedeutet: mittelstandsfreundliche Absenkung und letztlich Abschaffung der Gewerbeertragsteuer, Senkung der Körperschaftsteuer für Kapitalgesellschaften, Senkung der Einkommensteuer für Personengesellschaften und Einzelunternehmen. Drittens. Die F.D.P. fordert eine nachhaltige Entlastung der leistungsfeindlichen Besteuerung von Arbeit. Die leistungsfeindliche Lohn- und Einkommensteuer muß gesenkt werden. Sie belastet den Arbeitsprozeß und drängt die Menschen in die Schwarzarbeit. Schon jetzt müssen die Arbeiten für eine grundsätzliche Reform der Lohn- und Einkommensteuer beginnen. Die F.D.P. plädiert für eine steuerliche Entlastung über den gesamten Tarif. Die F.D.P. plädiert für eine drastische Verringerung komplizierter steuerrechtlicher Ausnahmetatbestände. Die F.D.P. will die Vereinfachung des Systems, die Senkung der Tarife und die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Viertens. Die F.D.P. fordert eine nachhaltige Vereinfachung unseres Steuersystems. Dies bedeutet Beseitigung von Ausnahmen bei der Reform des Einkommensteuertarifs, Abschaffung der gesamten Vermögensteuer als Voraussetzung für die Beseitigung der Einheitswerte ({2}) und eine grundsätzliche Reform und Vereinfachung des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts bei deutlicher Erhöhung der Freibeträge. ({3}) - Dazu haben wir die Vorschläge vorgelegt, und wir werden sie umsetzen , Herr Fischer. ({4}) Wir fordern ferner die Abschaffung der Kfz-Steuer und deren Umlegung auf die Mineralölsteuer und einen entsprechenden Ausgleich für die Länder. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, dies sind mutige Schritte. ({5}) Lassen Sie uns diese notwendigen Schritte tun! Lassen Sie uns über notwendige Veränderungen nicht nur reden, lassen Sie uns diese notwendigen Veränderungen im Interesse unserer Bürger umsetzen! Bei den zustimmungspflichtigen Gesetzen, Herr Fischer, würde ich mich freuen - da ja in einzelnen Landesregierungen die Grünen vertreten sind -, wenn sich Teile Ihrer Vorstellungen so durchsetzen, daß die Blockadehaltung des Bundesrates gegen diese vernünftige Steuerpolitik aufgegeben wird. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann ja verstehen, daß sich Herr Thiele sehr ärgert, wenn sich der Sprecher des Frankfurter Kreises auf das „Handelsblatt" beruft, während er hier eine ideologische Rede im Interesse seiner Klientel hält. Damit Sie wissen, worüber ich geredet habe, möchte ich ein bißchen aus dem „Handelsblatt" zitieren. Da steht nämlich - hören Sie gut zu, Sie können jetzt etwas lernen -: Doch sollten die berechtigten Klagen über die deutsche Steuer- und Abgabenquote nicht mit solcher Überzeugungskraft vorgetragen werden, daß sie im Ausland geglaubt und damit wirklich zum Standortproblem werden. Man sollte in Deutschland nicht den Eindruck erwecken, daß andere Industriestaaten von der Luft und der Liebe ihrer Bürger lebten. Die Abgabenquoten anderer Länder sind nämlich meist beträchtlich höher. Nach Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums - also dieser Bundesregierung kann für das Jahr 1994 im internationalen Vergleich von den folgenden Abgabequoten ausgegangen werden ({0}): Die dann folgende Liste wird von Schweden mit 53,3 Prozent vor Dänemark mit 51,3 Prozent angeführt. Zehn Länder stehen vor der Bundesrepublik. Dann kommt Deutschland mit 39,2 Prozent; danach folgen noch sechs Länder. Zusammenfassend wird gesagt: Im Vergleich zu den anderen Industrieländern jedoch und in der volkswirtschaftlichen Messung bleibt die deutsche Steuer- und Abgabenlast durchaus in einem bescheidenen Rahmen. ({1}) So das „Handelsblatt" . Damit zeigt sich, wie töricht es ist, wenn Herr Thiele davon spricht, ({2}) daß wir realitätsfern seien. In Wirklichkeit ist er der Ideologe, während wir uns auf Zahlen und Fakten beziehen. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Thiele, Sie können darauf antworten.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr von Larcher, zunächst muß ich Ihnen sagen, ich freue mich, daß Sie das „Handelsblatt" lesen. Ich bestaune allerdings, daß Sie durch dieses Zitat leugnen, daß es in Deutschland Standortprobleme gibt und daß wir eine enorm hohe Zahl von Arbeitslosen haben. Das ist doch ein Fakt! Daran können Sie sich doch nicht einfach vorbeidrücken. Ich finde es natürlich auch erstaunlich, daß Sie mit dieser Wortmeldung erklären: Die Deutschen, die Bürger unseres Landes, sind nicht zu hoch belastet, sie sind zu niedrig belastet ({0}) Daraus kann ich doch nur Ihren Umkehrschluß ziehen, daß die Steuerbelastung der Bürger für Sie immer noch nicht ausgeschöpft ist. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wir lösen die Probleme unseres Landes nur über die Ausgabenseite der öffentlichen Hand. Die Ausgabenseite muß zurückgeführt werden, und dann kann auch die Einnahmeseite zurückgeführt werden, damit die Bürger von Steuern entlastet werden und die Dynamik bei uns frei wird, die wir brauchen, damit Arbeitsplätze geschaffen werden. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was der F.D.P. die Senkung des Solidarzuschlags ist, scheint der SPD ihr Antrag für eine gerechte und einfache Einkommensbesteuerung zu sein. Es scheint, als ob sich die SPD im Zugzwang befindet und meint, nachdem die CDU der F.D.P. im Wahlkampf Schützenhilfe geleistet hat, nun sich selber im Wahlkampf profilieren zu müssen. Ich frage mich: Wenn es Ihnen wirklich Ernst wäre mit Ihren richtigen Forderungen, die in dem Antrag aufgeführt sind, warum haben Sie dann nicht konkrete Gesetzesvorschläge vorgelegt? ({0}) Um es vorwegzunehmen: Es ist natürlich ein Fakt, daß der gegenwärtige aberwitzige Zustand des Steuerrechts durch eifriges Ändern dieses Rechtes von seiten der Regierungskoalition zustande kam. Wenn Frau Hasselfeldt von einer Jahrhundertleistung sprach, so kann man es höchstens als Realsatire auffassen, ein Steuerchaos dieses Ausmaßes zu produzieren, wenn es denn nicht so viele Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen täglich in ihrem Leben treffen würde und damit wirklich keine Satire mehr ist, sondern bittere Realität. ({1}) Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung von Einkommen diktieren das Steuerrecht. Leistungsfähigkeit spielt nur eine geringe Rolle; die Bürger durchschauen das Steuerdickicht nicht mehr. Es steht außer Zweifel, daß die Forderungen der SPD nach Gleichmäßigkeit und Einfachheit der Besteuerung, nach Transparenz, Akzeptanz und Verfassungsmäßigkeit Grundpfeiler einer gerechten Einkommensbesteuerung sein müssen. Dem stimmen wir vorbehaltlos zu. Trotzdem fällt es mir vor dem Hintergrund der Verhandlungen zum Jahressteuergesetz 1996 schwer, die Forderungen als Ansatz zu einer Reform des Einkommensteuerrechts ernst zu nehmen. Sind sie wirklich ein Versuch, die Flickschusterei im Einkommensteuerrecht zu beenden? Ich möchte das an einigen Beispielen deutlich machen. Sie monieren in Ihrem Antrag, daß die Bezieher kleiner Einkommen in den letzten Jahren immer stärker belastet werden und eine Korrektur dieser steuerpolitischen Ungerechtigkeit notwendig ist. Das ist richtig. Doch ich frage mich, meine Damen und Herren von der SPD, wo da Ihr Langzeitgedächtnis ist. Wenn ich aus Ihrem Entschließungsantrag vom 31. Mai 1995 zur Freistellung des Existenzminimums zitieren darf: Nach verfassungsrechtlichen Vorgaben muß daher der Grundfreibetrag mindestens auf 13 000 DM für Alleinstehende und 26 000 DM für Verheiratete angehoben werden. ({2}) Als dieses Thema danach im Vermittlungsausschuß behandelt wurde, schienen Sie Ihre eigene Position vergessen zu haben, ({3}) und Sie stimmten hier einem steuerfreien Existenzminimum von 12 096 DM zu. Sie haben sich des weiteren auch für die Zukunft festgelegt, nämlich in bezug darauf, daß eine Anhebung auf 13 000 DM erst 1999 erfolgen soll. Das heißt: Wenn man Ihren ursprünglichen Ansatz nimmt und eine Inflationsrate von 2,5 Prozent zugrunde legt, wird es auch 1999 in dieser Beziehung eine verfassungswidrige Lage geben. Dem haben Sie damit zugestimmt. Es würde sich nämlich ein Betrag von 13 975 DM ergeben. ({4}) - Das stimmt; die Zahlen stimmen. Es ist eine Frage, ob man sich politisch auf eine verfassungswidrige Besteuerung einläßt oder nicht. Wenn man noch den durchschnittlichen Regelsatz, den Absetzbetrag nach § 76 BSHG, einmalige Beihilfen sowie Mieten und Mietnebenkosten einbezieht, müßte das steuerfreie Existenzminimum bereits in diesem Jahr 17 000 DM betragen. Das wäre die Richtschnur, an der wir unser Handeln ausrichten müssen. Angesichts dieser Wahrheiten und der von der Regierungskoalition festgelegten gesetzlichen Regelung muß ich sagen, daß mir Ihre Forderung nach Verfassungskonformität schlichtweg unglaubwürdig zu sein scheint. Ein nächster Punkt: Kindergeld. Interessanterweise haben ja alle Abgeordneten in der letzten Zeit ein Flugblatt - ich halte es einmal hoch - vom Familienbund der Deutschen Katholiken bekommen, dem man kaum vorwerfen kann, daß er PDS-unterwandert ist. Er fordert auf, beim Kindergeld und den Kinderfreibeträgen Widerspruch einzulegen. Ein solcher Verband würde dazu sicher nicht auffordern, wenn dazu nicht ein realer Anlaß gegeben wäre. Es gibt eine lange Diskussion zu diesem Thema. Die SPD hat in der ersten Runde ein Kindergeld von 250 DM gefordert. Nach den Diskussionen, das Existenzminimum für Kinder in Höhe von 6 264 DM freizustellen, gab es ein Gutachten der SPD-regierten Länder, das dagegen sprach. Es sprach von der Notwendigkeit, 7 920 DM pro Kind steuerfrei zu stellen. Das hätte ein Kindergeld von 300 DM im Monat bedeutet. Wegen der Kompromißbereitschaft und auf Drängen der Regierungskoalition haben wir das Ergebnis bekommen, daß die ersten beiden Kinder monatlich nur 200 DM erhalten. ({5}) Das ist verfassungswidrig; das ist ein Fakt. Wir haben 1996 das Ergebnis, daß Familien ohne Kinder mit einem Bruttoeinkommen zwischen 3200 DM bis 4000 DM monatlich durch Steuertarif und wegen der Kindergeldregelung stärker entlastet werden als beispielsweise Familien mit zwei Kindern. Die Zielsetzungen, mit denen wir in diese Diskussion hineingegangen sind, wurden nicht erreicht. Ich muß sagen: Die SPD hat hier wirklich kein Rückgrat bewiesen. Das beklage ich. ({6}) Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist ein nächster Punkt. Richtig ist, daß die verschiedenen Einkunftsarten höchst unterschiedlich behandelt werden. Herr Thiele hat uns vorgeworfen, wir seien für eine Besitzstandswahrung. Wie sind denn aber die Realitäten? Reichtum in diesem Lande wird nicht thematisiert. Wir haben in Ihrer Rede wieder gehört, daß es darum geht, die Ausgaben zu kürzen, indem man privatisiert. Dies heißt im Endeffekt, daß gerade wieder Bezieher mittlerer und kleiner Einkommen durch Privatisierung mehr bezahlen müssen. In Sachsen haben wir zur Zeit im Zusammenhang mit den Abwasserfragen eine Riesendiskussion. Da hat sich genau erwiesen, daß die Menschen durch die Privatisierung viel mehr bezahlen müssen. Bei der Ungleichmäßigkeit der Besteuerung gibt es verschiedene Aspekte. Einiges hiervon ist in den letzten Jahren durchaus auf die SPD zurückgegangen, zum Beispiel beim Sparerfreibetrag. Bis vor kurzem betrug er noch 600 DM bei den Zinsen. Die SPD kam dann mit dem Vorschlag, ihn auf 3 000 DM zu erhöhen. Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. wollte dann natürlich gleich Nägel mit Köpfen machen und hat ihn flugs auf 6 000 DM erhöht. ({7}) Dies muß man aber mit der tatsächlichen Vermögenslage vergleichen. In der Bundesrepublik war 1994 pro Haushalt im Durchschnitt ein Geldvermögen von 137 000 DM vorhanden. Das klingt nach viel. Netto sind das 125 000 DM. Betrachtet man aber nicht den Durchschnitt, so ergibt sich, daß 10 Prozent der Haushalte über mehr als die Hälfte, über 51,2 Prozent des Geldvermögens, verfügt haben. 40 Prozent der deutschen Haushalte teilten sich 47,6 Prozent des Geldvermögens, und 50 Prozent, die Hälfte der Bevölkerung, hatten 1,2 Prozent des Geldvermögens. Wo ist denn hier eine tatsächliche Entlastung kleinerer und mittlerer Einkommen, wenn die Hälfte der Bevölkerung davon überhaupt nichts hat? Auch diese Regelung ist diskriminierend, insbesondere gegenüber Arbeitnehmereinkünften. Ich muß ganz klar sagen: Das ist eine Regelung von der Art, wie sie uns Herr Thiele vorgeworfen hat. Das ist Besitzstandswahrung: Reichtum in diesem Lande zu schützen und steuerlich noch besserzustellen. ({8}) Der Partei des Demokratischen Sozialismus wäre sehr daran gelegen, wenn die Forderungen im Antrag der SPD für eine einfache und gerechte Einkommensbesteuerung tatsächlich so auch durchgesetzt würden, unterlegt mit ganz konkreten Forderungen. Anders als so kann es nicht durchgesetzt werden. Ein weiteres Beispiel ist der Subventionsabbau, der vorhin schon angesprochen wurde. Warum hat man sich denn auf die Begrenzung der Absetzbarkeit von Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung und von Aufwendungen für das beruflich genutzte Arbeitszimmer eingelassen? Man muß doch feststellen, daß sowohl die linke Seite des Parlaments als auch die rechte Seite des Parlaments letztendlich durch den Vermittlungsausschuß dem zugestimmt haben. Niemand würde sagen, daß diese Aufwendungen zum Erwerb des Lebensunterhalts irgendwelche Subventionen sind, sondern das sind Aufwendungen, die jeder Betrieb auch absetzen kann.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Entschuldigung, ja. - Wir haben in unserem Antrag zum Jahressteuergesetz 1996 bereits konkrete Vorschläge gemacht. Ich wiederhole hier nur ein paar: Streichung des Ehegattensplittings, Gleichbesteuerung von privaten Einkünften aus der Veräußerung von vermieteten und verpachteten Grundstücken sowie von Kapitalvermögen und weiteren Einkünften.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, das geht so nicht. Sie müssen, zum Schluß kommen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich würde mir wünschen, daß der Antrag tatsächlich eine Richtschnur für die Diskussion wird. Lassen Sie uns auf diesem Wege tatsächlich etwas tun. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Matthäus-Maier, zu ein paar Dingen, die Sie angesprochen haben: Wenn Sie über versicherungsfremde Leistungen sprechen, dann müssen Sie das auf beiden Seiten tun. Wohin gehört dann die Knappschaft? Gehört sie in den Bundeshaushalt oder in die Rentenversicherung? Wohin gehört die landwirtschaftliche Sozialpolitik? Wohin gehört die Arbeitslosenhilfe? Meine Damen und Herren, ich rate, dort anzusetzen, wo Kosten entstehen. Wir müssen Steuern senken, und wir müssen lohnbezogene Abgaben stabilisieren und so bald wie möglich ebenfalls wieder senken. Es führt kein Weg daran vorbei, daß die Kostendynamik zunächst gebremst, stabilisiert und auch zurückgeführt wird; denn in den sozialen Sicherungssystemen und über den Bundeshaushalt kann nur das bezahlt werden, was vorher volkswirtschaftlich erwirtschaftet wird. ({0}) Dann haben Sie es doch ganz einfach: Stimmen Sie den Gesetzentwürfen zum Sozialhilfegesetz, zum Abstandsgebot zu! Sie müssen doch zugeben, daß die Sozialhilfesätze nicht stärker steigen können als die Nettolöhne der Arbeitnehmer, weil mehr nicht erwirtschaftet werden kann. ({1}) Das sind die Punkte, bei denen Sie im Moment ganz konkret springen und bekennen müssen. ({2}) Ein zweiter Punkt. Ich wundere mich schon, mit welcher Chuzpe Sie die ökologische Steuerreform hier noch vertreten haben. Was Sie dargestellt haben, ist schlichtweg eine Luftnummer, ein Doppelspiel: Hier findet das Spiel anders statt als in Ihrer Partei und im Bundesrat. Stimmen Sie sich doch zunächst einmal mit den Herren Clement und Schleußer ab, und berücksichtigen Sie, was sie zu dem Thema sagen! Sprechen Sie doch einmal mit dem wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD, Herrn Beck, und denen, die zu dem Punkt eine ganz andere Meinung und keine Lust haben, daß bei ihnen Arbeitsplätze verlorengehen, die dann ein paar Kilometer jenseits der Landesgrenze unter gleichen Umweltbedingungen entstehen! ({3}) Bei diesem Punkt sehen Sie einfach schlecht aus. Sie können uns auf die Dauer doch keinen Popanz vormachen, der in Ihrer Partei überhaupt nicht mehr mehrheitsfähig ist. Was den Solidaritätszuschlag und die Länder anbelangt - das ist eine sehr einfache Rechnung. Wir haben uns damals auf ein System verständigt, bei dem der Bund eine Vorwegauffüllung durchführt, und zwar so, daß alle Länder auf 92 Prozent des Finanzkraftdurchschnitts gebracht werden. Für diesen Kraftakt hat der Bund den Ländern 7 Umsatzsteuerpunkte zur Verfügung gestellt. Nach unserer Berechnung macht das im Jahre 1997 - wobei wir die Annuität „Fonds Deutsche Einheit" schon abgezogen haben - 16,5 Milliarden DM aus. Für die Vorwegauffüllung auf 92 Prozent werden 13,5 Milliarden DM benötigt. Das übrige Geld stünde eigentlich dem Bund zu, weil er die Umsatzsteuerpunkte abgegeben hat. Wir fordern es aber nicht für uns; wir legen noch 1 MilBundesminister Dr. Theodor Waigel liarde DM dazu und wollen es dem Bürger zurückgeben, der den Solidaritätszuschlag bezahlt hat. ({4}) Herr Scharping, Sie waren ja dabei. ({5}) Sie werden sehr wohl wissen, daß das, was ich hier gesagt habe, genau dem entspricht, was damals besprochen und vereinbart worden ist. ({6}) In dem auch von Ihnen gebilligten Gesetzentwurf, der damals im Bundesrat eine Rolle gespielt hat, kommt ganz deutlich zum Ausdruck, daß, wenn sich die Relation ändert, dies bei der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern zu berücksichtigen ist. ({7}) - Entschuldigung, Herr Poß, ich verlasse mich in diesem Punkt auf etwas, was ein Mann wie Scharping sagt. Wollen Sie ihn hier als Lügner darstellen? ({8}) Da sind Ihnen schon intelligentere Zwischenrufe gelungen. Mit dem Zwischenruf, Herr Poß, haben Sie Ihrem Kollegen Scharping im Augenblick keinen Gefallen erwiesen. ({9}) - Wann hat es je einen Bundesfinanzminister gegeben - Schäffer, Strauß, Möller, wer auch immer -, zu dem die Länder mit einem silbernen Tablett gekommen wären und gesagt hätten: Bitte schön, Herr Bundesfinanzminister, hier sind die Umsatzsteuern, die wir untertänigst zurückgeben. Wir bitten um Entschuldigung, daß wir es erst heute tun. ({10}) Es spricht für den Bundesfinanzminister, daß er die Sache im Interesse des Bundes verficht, auch wenn in seinem eigenen Land eine andere Meinung dazu herrscht. ({11}) Zu den Betriebsprüfungen. Liebe Frau MatthäusMaier, haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, daß die Frage der Betriebsprüfungen eine Sache der Länder ist? ({12}) Haben Sie eigentlich zur Kenntnis genommen, daß der bayerische Finanzminister, Erwin Huber, gerade die Zahl der Betriebsprüfer erhöht, neue Stellen geschaffen hat, um das anzugehen? Machen das Ihre Genossen als Finanzministerkollegen auch? Wir haben - auch daran müßte sich Herr Scharping erinnern; Kollege Schäuble wird das bestätigen - für den Bereich des Solidarpakts eine Arbeitsgruppe eingesetzt, weil es immer hieß: Wenn wir auf diesem Gebiet mehr tun, dann seien 20, 30 oder 40 Milliarden DM an Mehreinnahmen zu erreichen. Herr Schleußer nahm an der Arbeitsgruppe teil, kam zurück und hat das, was Sie und Ihre Genossen hier immer wieder vorspielen - ich will ihn jetzt nicht wörtlich zitieren -, im Grunde als dummes, törichtes und nicht realisierbares Zeug bezeichnet. So war es. ({13}) Für Ihre Märchenstunden hier müssen Sie sich unkundigere Zeugen suchen, als wir es sind. Wir sind alte, kundige Thebaner. Mit uns machen Sie das Doppelspiel nicht. ({14}) Was das Jahressteuergesetz anbelangt - Frau Kollegin Hasselfeldt hat das ja schon dargestellt -, haben wir mit der Einführung der steuerlichen Freistellung eines Grundfreibetrages immerhin erreicht, daß 1,4 Millionen Steuerpflichtige aus der Steuerpflicht entlassen sind und 11,5 Millionen - das sind immerhin 37,2 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen - keinen Solidaritätszuschlag zahlen. Auch das ist eine wichtige soziale Komponente in unserem Steuerrecht. ({15}) Meine Damen und Herren, Sie brauchen immer bestimmte Themen - entweder den Jäger 90 ({16}) oder, wie heute, den Porsche. Ich weiß nicht, ob Sie auch noch den Opernball heranziehen wollen. Wir wollen es nicht. Wir haben keinen Neid. Ich bin über jeden Sozi froh, der einen Frack trägt, weil das in der Gesellschaft weniger Neid erzeugt. ({17}) Mich stört das nicht. Auch ein Porsche wird übrigens von Arbeitnehmern hergestellt und schafft Arbeitsplätze. ({18}) Wie hoch war im Jahre 1982, als Sie noch die Regierungsverantwortung trugen, der steuerliche Kinderfreibetrag? Erst wir haben ihn wieder eingeführt und damit die Familienpolitik wieder verfassungskonform und familienfreundlich gemacht. ({19}) Noch ein anderer Punkt. Ich möchte auf Herrn Poß eingehen. ({20}) - Entschuldigung, was Sie betreiben ist eine LarcherNummer. Ich darf doch darauf eingehen, was er gestern oder vorgestern gesagt hat. Oder hat er vielBundesminister Dr. Theodor Waigel leicht den Frankfurter Kreis nicht um Erlaubnis gefragt? Ich weiß nicht, zu welchem Kreis er gehört. ({21}) Herr Poß, Sie betonen immer wieder, wir müßten in den Jahren 1995, 1996 und 1997 mehr als 30 Milliarden DM an Strafe auf Grund meines Vorschlags zum Stabilitätspakt bezahlen. Lieber Herr Poß, Sie sollten dann schon so ehrlich sein und den Menschen sagen: Dieser Vorschlag gilt für die dritte Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, wenn alle Teilnehmer das in den Maastricht-Kriterien vorgesehene Defizitziel erreicht haben und alles daransetzen, dies auch einzuhalten. Jetzt den Menschen anderes zu suggerieren, sich damit in die Liste der Europagegner einzureihen und Angst und Neid zu erzeugen ist schlichtweg unfair. ({22}) Frau Matthäus-Maier ist für die Europäische Währungsunion, Herr Schröder ist dagegen. Sie, Herr Poß, sprechen sich mit zwielichtigen Argumenten auch dagegen aus. Das ist eine miserable Europapolitik der SPD. Sie sollten sich schämen. ({23})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Scheel?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Da Frau Abgeordnete Scheel nicht der SPD angehört und ich mich eben mit der SPD auseinandergesetzt habe, sehe ich keinen Anlaß, daß sie für die SPD eine Zwischenfrage stellen soll. ({0}) - Nein, kümmern Sie sich doch um Ihre Partei und nicht um die SPD! Die werden doch Mann oder Frau genug sein, eigene Zwischenfragen zu stellen. ({1}) Was Sie völlig verschwiegen haben, ist die Tatsache, daß wir seit 1990 Steuersubventionen von über 40 Milliarden DM abgebaut haben. Das war der stärkste Abbau von Subventionen und bedeutet eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, die wir mit der großen Steuerreform 1986, 1988 und 1990 erreicht haben. Sie können nicht immer nur Vereinfachungen fordern, sondern Sie müssen - Gerda Hasselfeldt hat danach gefragt - Roß und Reiter nennen. Wollen Sie die Abschaffung der Steuerfreiheit für die Nachtarbeitszuschläge? Dann müssen Sie sich vorher mit dem Vorsitzenden der IG Chemie und anderer Gewerkschaften, vielleicht auch der der Drucker, auseinandersetzen. Sie können das aber nicht uns zuschieben, Sie können nicht uns die Schwierigkeiten und die sehr unangenehmen Diskussionen überlassen, während Sie sich zurückziehen und dann mit verteilten Rollen spielen. Nein, Sie müssen Roß und Reiter nennen, Sie hatten heute in den 90 Minuten Zeit, das zu tun. Sie haben es nicht getan; Sie lügen die Leute an. ({2}) Die Spitze der Unverfrorenheit hat Frau Matthäus-Maier erreicht, als sie mir im letzten Jahr vorwarf, mit der sogenannten Lohnsteuerfibel die Bürger über die Änderungen durch das Jahressteuergesetz falsch informiert zu haben. Es war die Verschleppungstaktik der SPD, daß wir dafür bis in den August hinein gebraucht haben. Es waren die Landesfinanzminister, vor allen Dingen die der SPD, die in Kenntnis des Verfahrensstandes auf der Herausgabe der Broschüre bestanden, sich ein Bild im Vorwort nicht nehmen ließen und es auch bezahlt haben. Jetzt stellen Sie sich hin und machen mir einen solchen Vorwurf. Das ist politisch schlichtweg unredlich. Genauso unredlich gehen Sie mit dem Jäger 90 und Porsche um. Es ist unredlich, wie Sie steuerpolitisch agieren. ({3}) Ein anderer Faktor: Das statistische Lohnsteueraufkommen gibt für eine verteilungspolitische Argumentation nichts her. Auch Spitzenmanager und GmbH-Geschäftsführer mit Einkommen in Millionenhöhe unterliegen dem Lohnsteuerabzug. Auch Arbeitnehmer erzielen Kapitaleinkünfte. Das Einkommensteueraufkommen wird - das wissen Sie - durch Erstattungen an Arbeitnehmer verzerrt, und das Aufkommen an Einkommen- und Körperschaftsteuer stammt aus verschiedenen Entstehungsjahren mit unterschiedlichem Steuerrecht. Diese sich aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ergebende Unternehmensteuerquote ist stark unterzeichnet, weil zum Beispiel auch Gewinne von juristischen Personen berücksichtigt werden, die steuerbefreit sind. Für rund 90 Prozent der Personenunternehmen fehlt jegliche Angabe zur Steuerquote. Wir tun uns in einem Punkt schwer. Wir haben keine echten Grundlagen für Vergleiche mit dem Steuersystem und den Steuerhöhen in anderen Ländern. Wir arbeiten seit Jahren daran, aber es bleibt immer nur bei Stichproben. Insofern ist es notwendig, sich sachgerecht und differenziert mit dem Problem zu beschäftigen. Wichtig ist: Bei einem Vergleich der Steuerbelastung von Kapitalgesellschaften in Deutschland, Frankreich und Großbritannien schneidet Deutschland mit 47,1 Prozent fast doppelt so schlecht ab wie Großbritannien mit 25,2 Prozent. Da müssen wir ansetzen. Da hat Ihnen - ich meine: zu Recht - die „Welt", Herr Poß, vor ein paar Tagen bestätigt: „Poß verläßt eindeutig den Pfad der Redlichkeit". Das sagt alles. Meine Damen und Herren, Sie waren doch dabei, als Sonderabschreibungen geschaffen wurden, um die Investitionen in Ostdeutschland voranzubringen. Haben Sie gegen eine einzige dieser Sonderabschreibungen gestimmt oder sie verhindert? Dann können Sie sie hier jetzt auch nicht beklagen. ({4}) Mit besonderem Interesse habe ich in Ihrem Antrag gelesen, daß jedes Einkommen einmal, aber auch wirklich nur einmal der Besteuerung unterworfen werden darf. Wie Sie aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer entnehmen können, ist diese eine Sollertragsteuer, die aus den üblicherweise zu erwartenden Erträgen zu bezahlen ist. Das, was Sie hier ausführen und fordern, ist der schlüssige Beweis für die Abschaffung der Vermögensteuer; ({5}) denn nur dann können Sie Ihre Ankündigungen und Forderungen erfüllen, daß jedes Einkommen nur einmal, aber wirklich auch nur einmal, besteuert wird. Dante schreibt in der „Hölle": „Nur wer bereut, dem wird verziehen." Auf tätige Reue hoffen wir bei der SPD. Sie haben viel Gelegenheit, diese in den nächsten Wochen zu beweisen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Joachim Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich habe eigentlich erwartet, daß Sie etwas zu den F.D.P.-Forderungen sagen und auch zu der Gespensterrede von Herrn Thiele. Ist es so, daß jetzt die gesamte Bundesregierung die Abschaffung der Gewerbesteuer und des Solidaritätszuschlages bis 1999 will, also all die Vorschläge, die sich auf 60 Milliarden DM aufaddieren? Jeder weiß doch - ich sage das auch Herrn Westerwelle, der gerade hinausgeht -, daß die neue F.D.P.-Führung finanzpolitisch durchgeknallt ist. ({0}) Es gibt kein Medium, das nicht feststellt, daß der Gipfel der Unseriosität und der Unverfrorenheit durch die F.D.P. erreicht ist. Und dann sagen Sie kein Wort zu diesem Abenteurertum! Da hätten Sie doch wirklich die Empörung, die Sie der SPD gegenüber sozusagen verschwendet haben, aufbringen können, Herr Minister. ({1}) Was gilt denn in dieser Regierung? Das muß hier und heute in der steuer- und finanzpolitischen Diskussion klargestellt werden. Es ist richtig, daß die Entwicklung des Lohnsteueraufkommens und des Aufkommens aus der veranlagten Einkommensteuer die Erstattung berücksichtigen muß. Das ändert aber nichts daran, daß der Trend stimmt. Das muß nämlich Jahr für Jahr gemacht werden. Selbst wenn man dann die veranlagte Einkommensteuer ganz aus der Betrachtung herausnimmt, bleiben die Fakten äußerst aufschlußreich: Die Einnahmen aus Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Vermögensteuer sind von insgesamt 76,7 Milliarden DM in 1989 auf 70,6 Milliarden DM in 1995 zurückgegangen. Das heißt, der Anteil der Unternehmensteuer am Gesamtsteueraufkommen ist von 14,3 Prozent in 1989 auf 8,7 Prozent in 1995 zurückgegangen. Und das bei einer 52prozentigen Steigerung des Gesamtsteueraufkommens! Dagegen ist der Anteil der Lohnsteuer - auch unter Berücksichtigung der Erstattung - in den letzten Jahren deutlich angestiegen und hat eine neue Rekordhöhe in der Geschichte der Bundesrepublik erreicht. ({2}) Darüber müßten Sie einmal sprechen, Herr Waigel und Herr Thiele. Das ist nämlich Ihre Verantwortung; Sie haben das so weit kommen lassen. ({3}) Sie tragen die Verantwortung für diesen Negativrekord. Das sind die Fakten. Und wenn Sie diese Fakten nicht glauben wollen, dann empfehle ich Ihnen, wirklich den Beitrag von Herrn Mundorf zu lesen. Als konservativer Publizist nimmt er es ja mit den Fakten sehr genau. Wir wollen mit unserem Antrag erreichen, daß endlich dem Grundsatz „Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, nach gleichem Maß und einfachen Regeln" entsprochen wird. Das sind die grundlegenden Anforderungen an eine gerechte Einkommenbesteuerung. Von diesen Grundsätzen ist unter Ihrer Verantwortung das Einkommensteuerrecht immer weiter entfernt worden. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen Welten. Immer öfter ist zu hören, daß nur noch die Dummen Steuern zahlen. ({4}) Fast täglich lesen wir in der Presse über Steuerflucht und Steuerhinterziehung, über legale und illegale Steuerumgehung. Arbeitnehmer, die Lohnsteuer zahlen, tragen die volle Steuerlast. Für die anderen gibt es unzählige Gestaltungsmöglichkeiten, um die Steuerlast zu verringern. Dafür haben Sie, Herr Waigel, die finanzpolitische Führungsverantwortung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie müssen gemeinsam mit den Ländern dagegen etwas unternehmen. ({5}) Es ist nicht so, daß Sie da aus der Verantwortung sind. Lesen Sie einmal die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zu Ihrer Verantwortung. ({6}) Wenn wir nicht Einhalt gebieten, wird unsere Gesellschaft zunehmend in zwei Gruppen gespalten werden: eine Gruppe mit sozialen Problemen und eine andere Gruppe mit Steuerabzugsproblemen. Das hält keine Gesellschaft auf Dauer aus. ({7}) Deswegen müssen wir jetzt mit einer Reform der Einkommenbesteuerung anfangen. Gerade vor dem Hintergrund des Bündnisses für Arbeit müssen auch die psychologischen Voraussetzungen in unserer Gesellschaft geschaffen werden, um zu einer neuen Anstrengung zu kommen. Unser Einkommensteuerrecht verstößt formell und materiell gegen die steuerliche Gerechtigkeit. Aber der Bundeskanzler Helmut Kohl hält Theo Waigel für einen guten Finanzminister. ({8}) Es ist ungerecht, wenn Arbeitnehmer mit mittlerem Einkommen eine höhere Grenzbelastung tragen als Bezieher hoher Einkommen. Es ist ungerecht, wenn Bezieher hoher Einkommen ihre Steuerschuld selbst gestalten und im Extremfall auf Null reduzieren können. Es ist ungerecht, wenn die Arbeitnehmer mit mittleren Einkommen immer stärker zur Kasse gebeten und zum Hauptfinanzier des Staates werden. Es ist ungerecht, wenn die verschiedenen Einkünfte ungleich behandelt werden. Wir fordern, daß Veräußerungsgewinne vollständig erfaßt und Spekulationsfristen verlängert werden. ({9}) Wir haben einen Dschungel an Vorschriften. Es gibt keine wirksamen Kontrollen, weil die Finanzverwaltung dies entweder nicht mehr leisten kann oder weil gesetzliche Regelungen dem entgegenstehen. ({10}) Ohne Kontrolle verkommt die Steuer zur Spende. Hier muß der Gesetzgeber dringend Abhilfe schaffen. Deshalb brauchen wir eine gerechte und einfache Einkommensteuer. Eine progressive Einkommensteuer ist das Herzstück einer gerechten Steuerlastverteilung. Die Steuerlast muß konsequent an der Leistungsfähigkeit ausgerichtet werden. Die Sensibilität der Bürger, ob es dabei gerecht zugeht, ist deshalb besonders ausgeprägt. Wir täten gut daran, meine Damen und Herren, mit gleicher Sensibilität der wachsenden und, wie ich meine, zum Teil auch verständlichen Verdrossenheit entgegenzuwirken. Es müßte unser gemeinsames Anliegen sein, die Einkommensteuer wieder stärker an den tragenden Grundsätzen einer gerechten Besteuerung auszurichten. ({11}) Schon seit Jahren unterhält Herr Uldall die Öffentlichkeit mit seinen Vorschlägen zur Einkommensteuer. Was die grundsätzliche Zielrichtung angeht, da sind wir mit Herrn Uldall noch einer Meinung; wir haben aber festgestellt, daß Herr Uldall in seiner Fraktion ein einsamer Rufer geblieben ist; denn seine Fraktion greift seine Vorschläge nicht auf. ({12}) Sind diese Vorschläge mit einem Stufentarif seiner Fraktion nicht weitgehend genug? Oder sind sie sozial unvertretbar? Oder reißen sie zu große Finanzlöcher? ({13}) Und der Bundesfinanzminister will nur eines: Er will eine Reform verschieben, und zwar in das nächste Jahrtausend. Sehen Sie in das Aktionsprogramm der Bundesregierung, ({14}) da steht es schwarz auf weiß drin. Jedenfalls soll vor der nächsten Bundestagswahl überhaupt nichts laufen, und das lehnen wir ab. ({15}) Die F.D.P. will vor allem am 24. März ihre Haut retten, und deshalb verspricht sie das Blaue vom Himmel. Mit unserem Antrag wollen wir ein Signal setzen. Wir wollen die Aufgabe jetzt angehen, noch in diesem Jahr. Wir sind es den Bürgern nämlich schuldig. Bundesregierung und Gesetzgeber müssen handeln, wenn Mißstände drohen oder eingetreten sind, und nicht erst, wenn sie vom Bundesverfassungsgericht dazu verurteilt werden. ({16}) In jeder Steuerdebatte fordert der Bundesfinanzminister Steuervereinfachungen, aber seit Jahren tut er das Gegenteil. ({17}) Der Bundesfinanzminister hat in der Finanz- und Steuerpolitik ohne Konzept gehandelt. Er hat das Einkommensteuerrecht verwüstet; er hat es mißbraucht für wahltaktische, für partei- und für koalitionspolitische Winkelzüge. ({18}) Der Bundesfinanzminister, meine Damen und Herren, hat im deutschen Steuerrecht ein Chaos angerichtet. ({19}) Wir fordern deshalb eine umfassende Reform der Einkommensteuer, die noch in diesem Jahr in Angriff genommen werden muß. ({20}) Bürger und Finanzverwaltung sollen frühzeitig Klarheit über bevorstehende Änderungen erhalten. Bei den Zinseinkünften schreit die Ungerechtigkeit zum Himmel. Wir schlagen Ihnen vor: Lassen Sie uns gemeinsam dieses Thema anpacken und eine Lösung finden, bevor ein neuer Spruch aus Karlsruhe fällig ist! Das ist die Gestaltungsaufgabe der Politik, hier muß der Finanzminister seiner Verantwortung endlich einmal gerecht werden. Er muß endlich für verfassungsgemäße Kontrollen sorgen. ({21}) Steuerliche Sonderregelungen und Ausnahmen müssen beseitigt werden. Nur dort, wo eine individuell verminderte Leistungsfähigkeit Sonderregelungen erfordert, dürfen sie bestehenbleiben. Sie sollen aber in einen Abzug von der Steuerschuld umgewandelt werden. Lenkungsnormen müssen zielgerichtet auf wenige Bereiche konzentriert werden: auf die Förderung von Forschung und Entwicklung, auf die Förderung von Umwelttechnologien, auf den Bereich der Bildung. Innerhalb der verschiedenen Einkommensgruppen müssen die Lasten wieder gerechter verteilt werden. ({22}) Untere und mittlere Einkommen sind von dieser Bundesregierung übermäßig belastet worden. Ich erinnere an die Finanzierung der deutschen Einheit über die Erhöhung der Lohnnebenkosten. Dies war eine bewußte und gewollte Entscheidung der Bundesregierung gegen alle fachlichen Warnungen. ({23}) Die Folgen Ihrer falschen Steuer- und Finanzpolitik können Sie jeden Monat an den Insolvenzen- und den Arbeitslosenzahlen ablesen. ({24}) Wenn alle Einkunftsarten gleichmäßig erfaßt und Sonderregelungen abgebaut werden, dann können die Steuersätze deutlich verringert werden. Was auch nicht wieder geschehen darf: Es liegen Urteile des Bundesverfassungsgerichts vor, aber die Bundesregierung handelt einfach nicht, entweder weil sie sich nicht entscheiden kann oder weil sie sich aus wahltaktischen Gründen nicht entscheiden will. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Wenn wir eine umfassende Reform der Einkommensteuer angehen, dann war der Abbau steuerlicher Sonderregelungen im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 nur ein kleiner Schritt. Nur wenn wir die Vergünstigungen der verschiedenen Gruppen gleichzeitig beschneiden und auf Klientelbedienung keine Rücksicht nehmen, kann dies gelingen. Die F.D.P. muß zu dem Thema nun wirklich schweigen. Sie fordert ständig Subventionsabbau, und wenn es darauf ankommt, kneift sie, weil sie ihre Klientel nicht treffen will. ({25}) In diesem Jahr haben wir schwierige Themen in der Steuer- und Finanzpolitik zu besprechen und zu klären. Auch dabei geht es um Fragen der steuerlichen Gerechtigkeit, um soziale Ausgewogenheit und um die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Einen Vorgeschmack über die Zerstrittenheit der Koalition - wenn es um konkrete Entscheidungen geht - haben wir durch das Hin und Her über den Solidaritätszuschlag schon bekommen. Wie war das denn Anfang Januar, Herr Waigel, mit Ihren Auskünften aus dem Finanzministerium, es gäbe noch keine gesicherten Zahlen zu der F.D.P.-Forderung, und dann wurden eine Woche später im Finanzausschuß Zahlen vorgelegt? Das war doch ein Hin und Her. Was sagt denn Ihr ehemaliger Staatssekretär Faltlhauser? Das kann er doch wohl nicht ernst gemeint haben, der Theo, es gebe doch überhaupt keinen Beleg dafür, daß die Länder 3 Milliarden DM hinblättern sollen. Bleiben Sie doch endlich einmal seriös! Widerstehen Sie diesen Klientelwünschen der F.D.P., sonst verspielen Sie noch den letzten Rest, den Sie vielleicht hie und da an Glaubwürdigkeit haben mögen. ({26}) Die Koalition wird doch nur noch von dem Wunsch zusammengehalten, die Landtagswahlen am 24. März 1996 halbwegs zu überstehen. Daß die F.D.P. keine Skrupel hat, in die Länderkassen zu greifen, ist klar; denn sie ist inzwischen aus den meisten Landtagen hinausgeflogen. Der Bundesfinanzminister hat einen engen Freund, den Herrn Stoiber, der ihm seine Grenzen aufgezeigt hat. Die Bundesregierung versucht schon wieder, die Wähler zu täuschen, genau wie dies der Bundeskanzler 1990 gemacht hat. ({27}) Vor der Wahl hieß es: keine Steuererhöhungen. Nach der Wahl haben Sie die größte Steuererhöhung aller Zeiten beschlossen. Das war eine Lüge, das ist eine Lüge, und das bleibt Lüge. Genau das versuchen Sie jetzt wieder. ({28}) Das wichtigste Thema in diesem Jahr ist die neue Regelung der Vermögen- und der Erbschaftsteuer. Wer wie der Bundesfinanzminister und auch Teile der Koalition eine ersatzlose Abschaffung der Vermögensteuer fordert, hat jegliches Gespür für steuerliche Gerechtigkeit und für Solidarität verloren. ({29}) Das Thema Vermögensteuer ist nicht, wie Sie es darstellen, primär eine Frage der Steuervereinfachung, nein, bei der Vermögensteuer geht es primär um eine verteilungspolitische Frage. Von einer ersatzlosen Abschaffung der Vermögensteuer, wie sie von Ihnen gefordert wird, profitieren nur die großen Vermögensinhaber. ({30}) Die Inhaber kleiner und mittlerer Vermögen - ich nenne als Hausnummer einmal einen Betrag bis zu einer Million - profitieren eben nicht von einer Abschaffung der Vermögensteuer, denn diese VermöJoachim Poß gen wollen und müssen wir nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ohnehin von der Vermögensteuer freistellen. Nur diejenigen, die oberhalb dieser Freistellung liegen, also die Inhaber höherer Vermögen, profitieren von einer Abschaffung. Nur für die wollen Sie eine milliardenschwere Vergünstigung. Sie verschleiern das unter dem Deckmantel der Steuervereinfachung. Ihr zweites Argument für eine ersatzlose Abschaffung der Vermögensteuer ist die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts einer hälftigen Teilung der Erträge. Hier legen Sie das Urteil in einer Weise aus, die meines Erachtens unzulässig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die hälftige Teilung vorgegeben, ohne verteilungspolitische Aspekte zu berücksichtigen, und zwar mit der Begründung, verteilungspolitische Aspekte seien nicht Gegenstand des Verfahrens. Das heißt, das Bundesverfassungsgericht erkennt ausdrücklich an, daß eine Belastung der Erträge auch über die hälftige Teilung hinaus verfassungskonform ist, wenn steuerliche Verteilungswirkungen gewollt sind. Wenn Sie die Abschaffung der Vermögensteuer über höhere Schulden finanzieren wollen - siehe F.D.P.-Forderung - profitieren die hohen Vermögen gleich zweifach: Erstens. Sie zahlen keine Vermögensteuer mehr. Zweitens. Sie verdienen zusätzlich Zinsen aus der höheren Staatsverschuldung. - Auch dies ist ein Beleg für Ihre Skrupellosigkeit, wenn es darum geht, Ihrer Klientel Vorteile zu verschaffen. ({31}) Nächstes Thema, Herr Westerwelle: Sie wollen die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Nun wissen Sie und wissen wir, welche Kreise aus der Wirtschaft diese Abschaffung betreiben. Es sind nicht die kleinen Handwerksmeister oder die kleinen Betriebe, nein, es sind die Großunternehmen, die hinter diesem Vorschlag stehen und die von einer solchen Abschaffung besonders profitieren. Sie haben sich hier voll instrumentalisieren lassen und betreiben eine Politik gegen die Interessen des Mittelstandes. ({32}) Großunternehmen werden entlastet; Klein- und Mittelbetriebe - sie in erster Linie stellen bei uns Arbeitsplätze bereit - werden belastet, weil Sie die Abschreibungsbedingungen verschlechtern wollen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle? - Bitte.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich stelle auch Ihnen die Frage, weil wir gerade bei dem Thema sind - die Antwort von den Grünen haben wir ja bereits bekommen -: Ist es Ihre Politik in diesem Hause, so wie es zum Beispiel von den Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen gefordert wird, daß die Gewerbesteuer nicht abgeschafft wird, wie wir das vorschlagen, sondern daß die Gewerbeertragsteuer sogar noch auf die freien Berufe ausgeweitet wird? Sie sollten das hier der deutschen Öffentlichkeit vor den Wahlen sagen.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Politik ist es, Herr Westerwelle, die Handwerksbetriebe und die anderen Betriebe, die Arbeitsplätze bereitstellen, zu unterstützen. ({0}) Wir unterstützen sie, wenn wir die Basis verbreitern; dazu zählt auch die Klientel, die Sie hier vertreten, nämlich die Freiberufler. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westerwelle? ({0}) Joachim Poß ({1}): Ja, natürlich.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte eigentlich keine Parteitagsrede erfragen, ({0}) sondern von Ihnen schlichtweg die Frage beantwortet haben: Sind Sie für die Ausweitung der Gewerbesteuer auf die freien Berufe? Das muß man doch beantworten können. Sagen Sie den Leuten doch die Wahrheit! ({1})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe, was meine persönliche Meinung angeht, die Frage beantwortet, Herr Westerwelle. Ich würde Ihnen einmal den freundschaftlichen Ratschlag geben, sich doch einmal bei Ihrem Nachbarn zu erkundigen, damit Sie sich zukünftig etwas sachkundiger an dieser Debatte beteiligen können. ({0}) Das muß doch wie Hohn in den Ohren der Betroffenen klingen. Können Sie mir einmal sagen, aus welchem Lehrbuch der Ökonomie Sie diesen Unsinn abgeschrieben haben? Ihre Vorschläge zur Gewerbesteuer widersprechen auch den Interessen der Gemeinden. Deshalb lehnen die kommunalen Spitzenverbände Ihre Pläne ja auch ab. Warum sind denn die Gemeinden dagegen? Warum schaffen Sie denn keine Klarheit bei der verfassungsrechtlichen Absicherung der verbleibenden Gewerbeertragsteuer? - Ich will es Ihnen sagen: weil Sie keine klare Linie haben, weil Sie nicht mit offenen Karten spielen und weil sie den Gemeinden nicht die volle Wahrheit sagen wollen. Noch am Montag hat die F.D.P. erklärt, daß sie die gesamte Gewerbesteuer ersatzlos streichen will. Der Bundesfinanzminister dagegen will die Gewerbeertragsteuer erhalten und sogar im Grundgesetz verJoachim Poß ankern. Aber jetzt schweigt der Bundesfinanzminister, jetzt ist er abgetaucht. ({1}) Offensichtlich ist dies eine weitere Wahlkampfhilfe zugunsten der F.D.P. Dabei hätte der Bundesfinanzminister allen Grund, den F.D.P.-Forderungen entgegenzutreten. Diese 60Milliarden-Forderung ist doch unseriös bis zum Gehtnichtmehr - kein Wort zur Gegenfinanzierung. ({2}) Die neue Führung der F.D.P. reißt riesige Finanzlöcher und wird damit zu einem skrupellosen Schuldentreiber. Sie hat jegliche Bodenhaftung verloren. ({3}) 60 Milliarden DM - mit diesem Lockangebot will die F.D.P. ihr politisches Überleben erkaufen. Ich sage den Bürgern: Glauben Sie ihr nicht! Sie können sich nichts dafür kaufen. Es ist Falschgeld. ({4}) Der Bundesfinanzminister steuert unser Land 1997 auf ein riesiges Finanzierungsdefizit zu. 1997 droht ein Defizit von 150 Milliarden DM - ich wiederhole: 150 Milliarden DM! -, 70 Milliarden DM mehr als nach Ihrer letzten Projektion. Das liegt weit oberhalb der Grenze, die für eine Teilnahme an der Europäischen Währungsunion zulässig ist. Nach den Forderungen der F.D.P. soll das Defizit in den folgenden Jahren noch größer werden. Werfen Sie uns doch keine fehlende Europabegeisterung vor! Wir weisen nur auf die Fakten hin. Weisen Sie einmal die F.D.P. auf die Konsequenzen ihrer Forderungen hin. Sie stellen doch Maastricht in Frage mit solchen Forderungen. ({5}) Sie spielen sich in Europa, Herr Waigel, gern als finanzpolitischer Lehrmeister auf. ({6}) Jetzt blamieren Sie sich und unser Land dazu. Nach Ihrem Vorschlag ist es nämlich, wenn wir in der dritten Stufe wären, in der Tat so, daß wir 1995 und 1996 je 9 Milliarden DM Strafe hätten zahlen müssen und 1997 noch mehr, insgesamt 37 Milliarden DM. Nur darauf habe ich hingewiesen und auf nichts anderes. ({7}) - Ich habe gesagt: In der dritten Stufe. Das trifft auch zu, wenn man dieses Modell auf die Jahre 1995, 1996 und 1997 überstülpt. ({8}) Das zeigt doch, Herr Waigel, wie absurd die von Ihnen vorgeschlagene Bußgeldregelung ist. Das zeigt aber auch, wie dramatisch und zugleich wie beschämend die Finanzsituation in Deutschland unter der Verantwortung dieses Bundesfinanzministers geworden ist. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte die Gelegenheit dieser Kurzintervention wahrnehmen, um auf einen Tatbestand hier doch einmal ausdrücklich hinzuweisen. Während die Grünen hier in Klarheit wenigstens gesagt haben, was sie bei der Gewerbesteuer wollen, sind Sie, Herr Poß, durch Eierei einer Antwort ausgewichen. Sie sagen nicht, was Sie mit der Gewerbekapitalsteuer machen wollen. Tatsache ist, daß der Plan der Koalition auf dem Tisch liegt, nämlich die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und die Gewerbeertragsteuer mittelstandsfreundlich zu senken. Sie eiern herum und geben keine Antwort, weil Sie sich in Ihrem Laden nicht einig sind. Das ist der eigentliche Grund. ({0}) Die zweite Sache ist: Es ist doch ein Stück aus dem Tollhaus, daß Sie noch immer mit Ihren Klassenkämpferparolen gegen Steuersenkungen antreten. ({1}) Sie sollten hier, nachdem Sie in dieser Woche beim Köln/Bonner Flughafen durch Rot-grün in Düsseldorf mit TNT 600 Arbeitsplätze außer Landes gejagt haben, in Demut sitzen, meine Damen und Herren von der Opposition. ({2}) Was die letzte Sache, die ich noch anmerken möchte, angeht, folgendes: Der Eindruck, den Sie erwecken, ist typisches Produkt einer sozialdemokratischen Auffassung von Wirtschaftspolitik, daß nämlich Steuersenkungen nur dazu da seien, Reiche reicher zu machen. ({3}) Sie haben den Umstand, daß man in Deutschland Steuern senken muß, um Arbeitsplätze schaffen zu können, noch nicht erkannt. Erklären Sie den Leuten, die ihre Arbeitsplätze verlieren, warum sie sie verlieren. Sie verlieren sie nämlich, weil in Deutschland nicht investiert wird. Investiert wird nur da, wo entsprechende leistungsfreundliche Steuersätze vorhanden sind. ({4}) Deswegen sage ich Ihnen: Klassenkampf schafft keine Arbeitsplätze, sondern marktwirtschaftliche Rahmenpolitik. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Poß, Sie können darauf antworten.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Westerwelle, was TNT angeht, so war es die F.D.P., die zusammen mit anderen das Nachtflugverbot gefordert hat. Reden Sie hier also nicht doppelzüngig, wenn Sie ein solches Thema aufbringen. ({0}) Das zweite. Unter der Verantwortung der CDU/CSU und der F.D.P. ist das Steuerrecht zu dem verkommen, was wir jetzt vorfinden. Darüber ist sich die Fachwelt einig. ({1}) Wir wollen eine Besteuerung, die sich wieder an der Leistungsfähigkeit orientiert. Wir wollen mehr Transparenz. Wir wollen, daß sich Leistung wieder lohnt, und zwar sowohl für die vielen Millionen Arbeitnehmer als auch für die Unternehmen, die investieren. Für beide muß es sich wieder lohnen. Das ist zur Zeit nicht der Fall. Es lohnt sich nur für Finanzspekulanten und andere, die offenbar zu Ihrer Klientel gehören. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Gerhard Schulz das Wort.

Gerhard Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, in Ihrem Antrag eine Rückbesinnung auf die Grundsätze einer gerechten und einfachen Einkommensteuer verlangen, so betrachte ich das als ein berechtigtes Anliegen. Nur, Sie schicken diese Aufforderung an die falsche Adresse. Wenn ich mir die gemeinsam von Bundestag und Bundesrat beschlossene Steuergesetzgebung der letzten Jahre betrachte, eine Gesetzgebung, die durch Ihre Mehrheit im Bundesrat behindert wurde und erst nach Ergebnissen im Vermittlungsausschuß verabschiedet werden konnte, sehe ich, wie Sie mit Ihrer Mehrheit die kluge und weitsichtige Steuerpolitik der Regierungskoalition behindert haben. ({0}) Sie haben doch die Grundsätze einer gerechten und einfachen Besteuerung permanent mit Füßen getreten. Stichwort Jahressteuergesetz 1996: Über Ihre Bundesratsmehrheit und über Ihre Mehrheit im Vermittlungsausschuß haben Sie auf einer Begrenzung der doppelten Haushaltsführung bestanden, obwohl Sie genau wußten, daß in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit viele Arbeitnehmer, die heimatnah keinen Arbeitsplatz finden, auf eine zweite Unterbringungsmöglichkeit fern von zu Hause angewiesen sind. ({1}) Sie haben eine Einschränkung der Abzugsmöglichkeiten für das häusliche Arbeitszimmer verlangt, obwohl zur erfolgreichen Beseitigung hoher Arbeitslosigkeit den unterschiedlichsten Variationen der Heimarbeit bei der Schaffung von Arbeitsplätzen eine immense Bedeutung zukommt. ({2}) Das werden vielleicht sogar einmal Zukunftsarbeitsplätze sein. Ich halte diese Regelung, meine Damen und Herren von der SPD, in der Tat für eine völlig ungerechte Zusatzbelastung vieler Menschen, die unter höchster Anstrengung ihren Arbeitsplatz erhalten wollen. Das ist steuerliche Ungerechtigkeit. ({3}) Ich garantiere Ihnen, mit Ihren Beiträgen zur doppelten Haushaltsführung und zum häuslichen Arbeitszimmer werden sich bald die Richter am Bundesverfassungsgericht eingehend beschäftigen. Das war dann Ihr Beitrag zur Verfassungskonformität des deutschen Steuerrechts. Ich mache hier keinen Hehl daraus, daß ich wegen dieser SPD-Forderung dem Vermittlungsergebnis zum Jahressteuergesetz nur mit großen Bauchschmerzen zugestimmt habe. Zu dieser Zustimmung bewogen haben mich die darin enthaltene Sicherung der steuerlichen Ostförderung - die konnte ich nicht ablehnen -, die steuerliche Berücksichtigung des Existenzminimums und vor allem die Tatsache, daß mit Inkrafttreten dieses Gesetzes zusätzlich mehr als 1,4 Millionen Menschen von der Einkommensteuerpflicht ganz befreit wurden. Das sind Schritte zu einer einfachen und gerechten Einkommensbesteuerung, aber nicht Ihre Beiträge im SPD-dominierten Bundesrat und Vermittlungsausschuß. Wenn Sie hier Steuervereinfachung proklamieren und fordern, dann müssen Sie sich erst einmal selber darüber klar sein, was Sie wollen. Vor allem sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß die beste Steuervereinfachung schlicht und einfach die Abschaffung ganzer Steuerarten ist. ({4}) Da stochern Sie nach wie vor im Nebel. Stichwort Gewerbekapitalsteuer: Diese Regierungskoalition verhandelt nun schon seit über einem Jahr mit Ihnen, damit wir diese ungerechte, substanzverzehrende und arbeitsplatzfeindliche Steuerart abschaffen können. Bisher haben Sie sich rigoros verweigert, obwohl Ihr vormaliger wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion, Herr Professor Jens, im Juni letzten Jahres die Abschaffung energisch geforGerhard Schulz ({5}) dert hat. Kurz darauf mußte er als wirtschaftspolitischer Sprecher seinen Hut nehmen. ({6}) - Schade. Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Struck sieht nach der Nichteinführung dieser Steuer in den neuen Ländern auch bundesweit keine Notwendigkeit mehr dafür. Das ist lobenswert. Herr Beck aus Rheinland-Pfalz macht sich mit seinen Ausführungen im August letzten Jahres die Auffassung der CDU/CSU zu eigen, indem er ebenfalls für die Abschaffung plädierte - leider zu spät; denn wir konnten diese Steuer dank der Ablehnung durch die SPD bisher immer noch nicht abschaffen. Herr Voscherau aus Hamburg und Herr Eichel aus Hessen allerdings wollen jetzt schon wieder an der Gewerbekapitalsteuer bedingungslos festhalten. Da frage ich Sie einmal: Wo stehen Sie? Wie halten Sie es eigentlich mit Steuervereinfachungen? Ich habe die Befürchtung, Sie drücken sich wieder einmal vor immens wichtigen steuerpolitischen Entscheidungen zur Sicherung des Standortes Deutschland und zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen. Außerdem verweigern Sie den Städten und Gemeinden Mehreinnahmen von über 2 Milliarden DM pro Jahr. Diese 2 Milliarden DM hätten die Kommunen schon jetzt, wenn Sie mit uns die Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer bei Wegfall der Gewerbekapitalsteuer beschlossen hätten. Das wären zusätzliche Einnahmen für Städte und Gemeinden ohne zusätzliche Belastungen des Steuerzahlers. Statt dessen fordern Sie eine Revitalisierung der Gewerbesteuer, sogar noch eine Überwälzung auf die Freiberufler, also de facto mehr und nicht weniger Steuern. Das ist die Realität: Sie fordern mehr Steuern und nicht weniger. ({7}) Stichwort Vermögensteuer: Das Bundesverfassungsgericht hat die bisher praktizierte Einheitswertbesteuerung eindeutig als verfassungswidrig erklärt und die Vermögensbesteuerung insgesamt in Frage gestellt. Die Steuerexpertenkommission zur Verbesserung der steuerlichen Bedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze, die sogenannte Goerdeler-Kommission, die Sie sehr gerne zitieren, wenn es in Ihr Konzept paßt, hat die ersatzlose Abschaffung der Vermögensteuer gefordert. Doch anstatt sich an diesen Grundsatz zu halten, erklärt die SPD ausdrücklich, daß sie an der Vermögensteuer festhält. Steuergerechtigkeit, Steuervereinfachung und Verfassungskonformität sind für Sie nichts als Schlagworte und Floskeln, deren konsequente Anwendung Sie in der Realität verweigern. ({8}) Stichwort Ökosteuer: Ihr Parteivorsitzender Lafontaine möchte die baldige Einführung einer Ökosteuer und damit den Steuerzahler erst einmal mit neuen Steuern belasten. Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher Schröder will Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, diese Ökosteuer abschminken. ({9}) Ihr Fraktionsvorsitzender Scharping will erst einmal darauf sitzenbleiben und sie damit für später warmhalten, weil er der falschen Vorstellung unterliegt, man könne aus dem Aufkommen aus der Ökosteuer die Reduzierung von Lohnnebenkosten finanzieren. ({10}) Herr Spöri möchte sie im baden-württembergischen Wahlkampf nicht ansprechen, weil er weiß, wie stark sie die deutschen Unternehmen zusätzlich belasten und im internationalen Wettbewerb schwächen würde. Er möchte deshalb viel lieber die Mineralölsteuer erhöhen, also lieber den Arbeitnehmern, die auf das Auto angewiesen sind, mehr in die Tasche greifen. ({11}) Ich frage Sie, was hat das mit Steuervereinfachung und Steuergerechtigkeit zu tun? - Nichts! Nun versuchen Sie, die Öffentlichkeit von einer Schieflage bei der Steuergerechtigkeit zu überzeugen, indem Sie den steigenden Anteil der Lohnsteuer und den sinkenden Anteil der veranlagten Einkommen- und Körperschaftsteuer am Gesamtsteueraufkommen als Indiz dafür nehmen, daß die Arbeitnehmer zugunsten der Unternehmen immer mehr Steuerlasten trügen. Das Institut der deutschen Wirtschaft wählte für diese sonderbare Schlußfolgerung der SPD die Oberschrift „Mißverständnis statt Mißverhältnis" und stellte fest, daß es sich bei dieser Behauptung der SPD um einen Fehlschluß handele. Eine Gleichsetzung der Einkommensteuer mit einer typischen Unternehmersteuer sei blanker Unsinn, denn das Aufkommen aus veranlagter Einkommensteuer stamme zum weitaus größten Teil aus dem Einkommen der Arbeitnehmer und nicht aus dem der Unternehmer. Soweit die Aussagen des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln. Bemerkenswert ist aber auch der Hinweis dieses Instituts, daß entgegen der Ansicht der SPD die Bruttolohn- und -gehaltssumme der Arbeitnehmer 1995 um 15 Prozent höher als 1991 gelegen habe, wohingegen die Bruttogewinne der Unternehmen 1995 immer noch 10 Prozent unter dem Niveau von 1991 lägen. Um aus diesen Fakten ein Mißverhältnis zu interpretieren, bedarf es entweder einer erheblichen Portion Unwissenheit, oder es ist der Versuch, Konzeptlosigkeit zu vertuschen. Wir können uns allerdings auch darauf verständigen, daß es sehr wohl ein Mißverhältnis gibt. Nur ist es genau andersherum, als Sie es hier zu verdeutlichen versuchen. ({12}) Gerhard Schulz ({13}) In die gleiche Schublade ist auch die Behauptung der SPD zu legen, die höheren Einkommensgruppen könnten sich mit steuerlichen Sonderabschreibungen, die für den Aufbau Ostdeutschlands gewährt werden, vor jeglichen Steuerzahlungen drücken. Sie alle kennen die Schlagzeile von den Hunderten von Hamburger Millionären, die keine Steuern zu bezahlen brauchen. Wenn die Sonderabschreibung Ost in Höhe von 50 Prozent - das ist die höchste Abschreibungsmöglichkeit, die wir haben - in Anspruch genommen wird, um das zu versteuernde Einkommen zu senken, müssen erst einmal 100 Prozent aus dem nach Steuern verbleibenden Einkommen investiert worden sein. Die steuerliche Entlastung hier als Maßstab für Steuergerechtigkeit zu nehmen, liegt völlig daneben; Sie strapazieren damit nur oberflächliche Neidkomplexe. Als Leipziger Abgeordneter bin ich froh darüber, daß wir diese steuerlichen Anreize für Investitionen im Osten haben, denn wir brauchen sie. Ich möchte Ihnen einmal sagen, was ich als wirkliche steuerliche Ungerechtigkeit empfinde. Ich habe diese Ungerechtigkeit als ostdeutscher Handwerksmeister jahrzehntelang ertragen müssen, und ich habe erleben müssen, wie dadurch Leistungswille und Leistungsfähigkeit abgetötet wurden. Handwerker mußten zu DDR-Zeiten von einem Jahresgewinn in Höhe von 20 000 Mark 8 000 Mark, also 40 Prozent, Steuern zahlen. Der Gewerbetreibende, also zum Beispiel der private Einzelhändler, zahlte von diesen 20 000 Mark 8 800 Mark Steuern, also 44 Prozent. Bei 50 000 Mark Jahresgewinn zahlten der Handwerker 23 300 Mark Steuern, also 46,6 Prozent, und der Gewerbetreibende 34 000 Mark, also 68 Prozent. Bei 100 000 Mark Jahresgewinn zahlten der Handwerker 60 300 Mark Steuern, also 60,3 Prozent, und der Gewerbetreibende 78 500 Mark, also 78,5 Prozent. Die Obergrenze war beim Handwerk ab 250 000 Mark und bei Gewerbetreibenden ab 500 000 Mark erreicht, und sie betrug stolze 90 Prozent. ({14}) Das nenne ich steuerliche Ungerechtigkeit in größtem Maße. ({15}) Gegen diese Ungerechtigkeit war man machtlos, denn es war ja die Absicht der politischen Clique, die Privatwirtschaft, wenn man sie schon nicht völlig zerstören konnte, weil man sie brauchte, zumindest kleinzuhalten. Jetzt ist das anders. Jetzt besteht die Möglichkeit, Ungerechtigkeiten, die in unserem Steuerrecht - das gebe ich ohne weiteres zu - durchaus bestehen, zu beseitigen. Jetzt bestehen Änderungsmöglichkeiten, und ich bin froh, dabei direkt und vor allem in und mit dieser tollen Koalition mitwirken zu können. Hier, meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie gerne mittun und sich um Deutschland verdient machen. Schönen Dank. ({16})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Matthäus-Maier, SPD.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, ich habe nur zwei Minuten. Deswegen möchte ich nur zwei Bemerkungen machen, die ich dem Finanzminister gerne mitgegeben hätte. Erstens. Sie wissen, daß meine Fraktion aus ökonomischen, währungspolitischen und europapolitischen Gründen für eine einheitliche europäische Währung ist. ({0}) Um so unverständlicher ist mir, daß der Finanzminister die von uns seit Oktober gestellten 50 Fragen im Rahmen einer Großen Anfrage nicht beantwortet. ({1}) Meine Damen und Herren, wer diese Chance der Information der Bevölkerung nicht nutzt, der handelt unverantwortlich gegenüber diesem gemeinsamen Ziel. ({2}) Zweitens zur Steuerhinterziehung, die zu bekämpfen uns eigentlich einigen müßte: Herr Waigel hat auch jetzt wieder auf die Länder verwiesen. Sie wissen aber doch genausogut wie ich: Ob schwarz oder rot, die Länder werden nicht handeln, wenn es ihnen nichts nützt. Heute ist es so - das sagen mir mein Herr Schleußer aus NRW und auch Ihr Herr Stoiber aus Bayern -: Wenn Mehreinnahmen aus mehr Betriebsprüfungen ganz überwiegend im Finanzausgleich verschwinden, dann haben die Länder keinen Anreiz, hier mehr zu tun. Die Nehmerländer haben auch keinen Anreiz, weil sie dann nur weniger im Rahmen des Finanzausgleichs bekommen. Warum weigern Sie sich, mit uns gemeinsam zu einer bundeseinheitlichen Regelung zu kommen, damit sich Mehreinstellungen von Betriebsprüfern endlich für alle Länder, ob schwarz oder rot, lohnen? ({3}) Wer nicht mithilft - das kann nur der Bundesfinanzminister -, der macht sich daran mitschuldig, daß in diesem Lande die Steuerhinterziehung nach wie vor zunimmt. ({4}) Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3701 und 13/3874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Vizepräsident Hans-Ulrich Klose vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3701 soll zusätzlich an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20a und 20b sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf: 20. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Angelika Beer, Christian Sterzing, Elisabeth Altmann ({0}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Abschaffung der Wehrpflicht - Drucksache 13/3552 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Beer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ächtung von Landminen ({2}) - Drucksache 13/3748 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß Auswärtiger Ausschuß ({3}) ZP4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse bei Bodenschätzen - Drucksache 13/3876 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Bergrechts in den alten und den neuen Bundesländern - Drucksache 13/3875 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({6}) Rechtsausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Gerhard Jüttemann, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Änderung des Bundesberggesetzes - Drucksache 13/3873 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({7}) Rechtsausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ächtung von Landminen auf Drucksache 13/3748 soll jedoch beim Auswärtigen Ausschuß liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 y und 22a bis 22c auf. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 21 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 20. Oktober 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über Grenzberichtigungen ({8}) - Drucksache 13/1936 - ({9}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({10}) - Drucksache 13/3659 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Karl-Heinz Hornhues Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/3659, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition, Bündnis 90/Die Grünen und der SPD bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 21 b: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. März 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Chile über die Seeschiffahrt - Drucksache 13/2987 - ({11}) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({12}) - Drucksache 13/3674 - Berichterstattung: Abgordneter Rainder Steenblock Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 13/3674, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 21 c bis 21 e: c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über den Autobahnzusammenschluß sowie über den Bau und den Umbau einer Grenzbrücke im Raum Forst und Erlenholz ({13}) - Drucksache 13/2688 - ({14}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({15}) - Drucksache 13/3675 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Scheffler d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Erhaltung der Grenzbrücken im Zuge der deutschen Bundesfernstraßen und der polnischen Landesstraßen an der deutsch-polnischen Grenze - Drucksache 13/2689 - ({16}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({17}) - Drucksache 13/3676 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Klaus Röhl e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 20. März 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über den Zusammenschluß der deutschen Bundesstraße B 97 und der polnischen Landesstraße 274 sowie über den Bau einer Grenzbrücke im Raum Guben und Gubinek - Drucksache 13/2690 - ({18}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({19}) - Drucksache 13/3677 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Letzgus Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksachen 13/3675, 13/3676 und 13/3677, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Kein Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich bitte diejenigen, die den drei Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Gesetzentwürfe sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 21f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften - Drucksache 13/1534 - ({20}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({21}) - Drucksache 13/3868 - Berichterstattung: Abgeordnete Otto Regenspurger Gisela Schröter Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS und bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkte 21 g bis 21m: g) Beratung der 5. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 94 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3770 - Berichterstattung: Abgeordnete Jörg van Essen Gerald Häfner Dr. Peter Paziorek Erika Simm Clemens Schwalbe Norbert Geis Vizepräsident Hans-Ulrich Klose h) Beratung der 6. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 143 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3771 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier Gerald Häfner Dr. Peter Paziorek Erika Simm Clemens Schwalbe Norbert Geis i) Beratung der 7. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 90 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3772 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier Gerald Häfner Dr. Peter Paziorek Erika Simm Clemens Schwalbe Norbert Geis j) Beratung der 8. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 141 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/ 3773 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brandt-Elsweier Gerald Häfner Erika Simm Jörg van Essen Clemens Schwalbe Dr. Peter Paziorek Norbert Geis k) Beratung der 9. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 94 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3774 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Bertold Reinartz Anni Brand-Elsweier 1) Beratung der 10. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 110 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3775 - Berichterstattung: Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier Gerald Häfner m) Beratung der 11. Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses zu 139 gegen die Gültigkeit der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen - Drucksache 13/3776 Berichterstattung: Abgeordnete Gerald Häfner Dr. Peter Paziorek Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 21n: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({22}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Begrenzung von Emissionen aus der Titandioxid-Industrie - Drucksachen 13/3575, 13/3664 Nr. 2.1, 13/3829 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dr. Bodo Teichmann Dr. Jürgen Rochlitz Dr. Rainer Ortleb Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 210: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({23}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zum Bericht des Untersuchungsausschusses über den Güterkraftverkehr im Binnenmarkt vom Juli 1994 - Drucksachen 12/8592, 13/837 Nr. 1.1, 13/3650 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 21 p: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({24}) zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Schuldenverwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes - Drucksachen 13/692, 13/2787 Berichterstattung: Abgeordnete Michael von Schmude Dr. Wolfgang Weng ({25}) Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/692 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Tagesordnungspunkte 21 q und 21 r: q) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({26}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen ehemaligen US-Wohnsiedlung Paul-Revere-Village in Karlsruhe an die Stadt Karlsruhe und die Volkswohnung GmbH Karlsruhe - Drucksachen 13/3274, 13/3740 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin r) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({27}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksachen 13/3478, 13/3741 - Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 21 s bis 21y: s) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({28}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 17 10 Titelgruppe 01 - Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz - -Drucksachen 13/3315, 13/3528 Nr. 1.13, 13/3738 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Jacoby Ina Albowitz Siegrun Klemmer Kristin Heyne t) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({29}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 13 02 apl. Titel 692 01 - Erstattungen für Ausgleichsforderungen der Länder aus der Währungsumstellung 1948 - - Drucksachen 13/3172, 13/3528 Nr. 1.9, 13/3739 - Berichterstattung: Abgeordnete Carl-Detlev Frhr. v. Hammerstein Jürgen Koppelin Gerhard Rübenkönig Antje Hermenau u) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({30}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1995; Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe nach Artikel 112 GG bei Kapitel 60 04 Titel 624 21 - Erstattungen an die Länder zur Kampfmittelbeseitigung -Drucksachen 13/3273, 13/3528 Nr. 1.12, 13/3742 Berichterstattung: Abgeordnete Dankward Buwitt Dr. Wolfgang Weng ({31}) Karl Diller Oswald Metzger v) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({32}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 04 Vizepräsident Hans-Ulrich Klose - Zuschüsse zu den Beiträgen zur Rentenversicherung der in Werkstätten beschäftigten Behinderten - - Drucksachen 13/3423, 13/3664 Nr. 1.4, 13/3743 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Ante Hermenau Ina Albowitz w) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({33}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 11 - Eingliederungshilfe für Spätaussiedler - - Drucksachen 13/3356, 13/3664 Nr. 1.2, 13/3744 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann Antje Hermenau Ina Albowitz x) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({34}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01 - Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz - Drucksachen 13/3205, 13/3528 Nr. 1.11, 13/3745 Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth ({35}) Jürgen Koppelin Karl Diller Oswald Metzger y) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({36}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 893 01 - Prämien nach dem Wohnungsbau-Prämiengesetz und nach der Verordnung zur Einführung des Bausparens in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - Drucksachen 13/3204, 13/3528 Nr. 1.10, 13/3746 Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth ({37}) Jürgen Koppelin Karl Diller Oswald Metzger Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 101 zu Petitionen - Drucksache 13/3749 - b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 102 zu Petitionen - Drucksache 13/3750 - c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 103 zu Petitionen - Drucksache 13/3751 - Wir kommen zunächst zur Sammelübersicht 101 auf Drucksache 13/3749. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Wir kommen zur Sammelübersicht 102 auf Drucksache 13/3750. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Sammelübersicht 103 auf Drucksache 13/3751. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts - Drucksachen 13/2440, 13/2764 - ({41}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({42}) - Drucksache 13/3904 Berichterstattung: Abgeordnete Ulf Fink Brigitte Lange Andrea Fischer ({43}) Dr. Gisela Babel b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({44}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Lange, Klaus Kirschner, Rudolf Dreßler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reform des Sozialhilferechts Vizepräsident Hans-Ulrich Klose - zu dem Antrag der Abgeordneten Andrea Fischer ({45}), Marieluise Beck ({46}), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entlastung und Weiterentwicklung der Sozialhilfe - zu dem Antrag der Gruppe der PDS Sicherung der Aufgaben des Bundessozialhilfegesetzes bis zur Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner und der weiteren Abgeordneten der PDS Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern - Drucksachen 13/2442, 13/2437, 13/2438, 13/275, 13/3904 Berichterstattung: Abgeordnete Ulf Fink Brigitte Lange Andrea Fischer ({47}) Dr. Gisela Babel Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3905 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute steht die abschließende Beschlußfassung des Deutschen Bundestages über die umfassendste Reform der Sozialhilfe seit Schaffung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahre 1961 an. Um es vorweg zu sagen: Diese Reform ist ein Beispiel für einen wirklich gelungenen Umbau des Sozialstaates. ({0}) Wir haben uns nicht damit begnügt, nur zu sparen, sondern wir haben grundlegend neu gestaltet. ({1}) Wir zeigen mit diesem Gesetzentwurf, wie man aus Problemen neue Chancen für die Menschen machen kann. ({2}) - Ich will das auch begründen, Frau Kollegin. In § 1 des Bundessozialhilfegesetzes heißt es: Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. ({3}) Es heißt dort weiter: Die Hilfe soll ihn - den Sozialhilfeempfänger so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben .. . In den vergangenen 30 Jahren hat man sich im wesentlichen damit beschäftigt, den ersten Auftrag des § 1 zu erfüllen. Wir haben uns über Warenkorbmodelle, Statistikmodelle, unteres Quintil, oberes Quintil lange unterhalten. Bände von Dissertationen gibt es, die sich mit der Frage beschäftigen, wie man denn nun ganz genau die Höhe des Sozialhilfesatzes ausrechnen kann. Diese Diskussionen waren gut, sie waren richtig. Nur: Diese Diskussion verkannte, daß es auch noch den zweiten Teil des Auftrags des § 1 des Bundessozialhilfegesetzes gibt, und dieser zweite Auftrag ist mindestens so wichtig wie der erste, ich behaupte sogar, wichtiger. Denn hier geht es darum, den Sozialhilfeempfängern nicht nur einen letztlich doch immer knappen Lebensunterhalt zu zahlen, sondern hier geht es darum, den Sozialhilfeempfänger in die Lage zu versetzen, wieder leben zu können, ohne irgend jemandem dafür Dankeschön sagen zu müssen. ({4}) Das ist der präventive Auftrag des Bundessozialhilfegesetzes, und den stellen wir in das Zentrum dieser Sozialhilfereform. Oder um es ganz einfach zu sagen: Es dient der Würde des Menschen, wenn wir ihm einen angemessenen Lebensunterhalt zur Verfügung stellen. Es dient der Würde des Menschen aber am allermeisten, wenn wir ihn befähigen, wieder aus eigener Kraft leben zu können. ({5}) Alles andere, Frau Kollegin, ist Ihr falsch verstandener Begriff der Solidarität. Es gibt natürlich Kaltherzigkeit und Tatenlosigkeit, aber es gibt auch eine aufdringliche Fürsorglichkeit des Staates. ({6}) Dementsprechend haben wir die Hilfen zur Arbeit im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht nur beibehalten, sondern wir haben sie verstärkt und, wo immer es ging, auch entbürokratisiert. Wir haben vor allem die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß diese Hilfen auch überall zum Zuge kommen. Was macht es denn für einen Sinn, wenn wir im Bundestag gute Gesetze beschließen, diese Gesetze vor Ort aber nicht umgesetzt werden? Deshalb möchte ich den Ländern und den Gemeinden, besonders den sozialdemokratisch regierten Ländern und Gemeinden, zurufen: Rathäuser zu bauen ist gut, aber arbeitslose Sozialhilfeempfänger wieder in Arbeit zu bringen ist viel, viel besser. ({7}) In diesem Zusammenhang noch ein Wort, Frau Kollegin, zu demjenigen, der den Ansatz, den wir in diesem Gesetzentwurf zur Reform des Sozialhilferechts gewählt haben, deshalb für verfehlt hält, weil in Deutschland nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. Dem Mangel an Arbeitsplätzen in Deutschland kann man natürlich nicht im Rahmen der Sozialhilfereform abhelfen; das stimmt. ({8}) Aber etwas können wir: Wir können dem arbeitslosen Sozialhilfeempfänger, der im Wettlauf um die knappen Arbeitsplätze in Deutschland bisher immer abgedrängt wurde, eine bessere Chance einräumen. Das sind wir diesen Menschen auch schuldig. Arbeitslose Sozialhilfeempfänger sind keine schlechteren Arbeitnehmer als andere. Faule gibt es hier wie dort. ({9}) Sozialhilfeempfänger hatten in ihrem Leben eben einfach mehr Pech. Deshalb schulden wir ihnen eine neue Chance. ({10}) Zum Umbau des Sozialhilfesystems: Wir dämpfen den Kostenauftrieb durch vorübergehende Deckelung der Heimentgelte und vorübergehende Anbindung der Regelsätze an die Nettolohnentwicklung.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lehn?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne; natürlich.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fink, was würden Sie einer jungen Frau antworten, die mir folgende Frage gestellt hat? Sie hat gesagt: Ich bin 24 Jahre alt, habe einen Realschulabschluß. Ich habe im Anschluß daran eine Ausbildung zur Chemielaborantin in einem großen Chemiewerk gemacht, das, wie ich finde, richtigerweise über Bedarf ausgebildet hat. Trotz eines guten Abschlusses bin ich nach drei Jahren Ausbildung nicht übernommen worden. Ich habe zwischendurch 12 Monate in einem Projekt „Arbeit statt Sozialhilfe" gearbeitet. Obwohl ich mich bemühe, eine Umschulung zu machen, habe ich seit 14 Monaten keine neue Arbeit. - Was würden Sie mit Bezug auf Ihr Programm dieser Frau sagen?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Darauf eine Antwort zu geben ist verhältnismäßig einfach. Wir fügen zum Beispiel neu in das Bundessozialhilfegesetz ein, daß der Sozialhilfeträger ermächtigt wird, Qualifikationsmaßnahmen zu bezahlen. Er durfte es bisher überhaupt nicht bezahlen. Hierbei handelt es sich um eine ganz konkrete neue Verbesserung, die wir eingeführt haben. Sie ist nicht geringzuschätzen. ({0}) Ich habe vorhin zum Ausdruck gebracht, daß wir einen Umbau des Sozialhilfesystems vornehmen, ({1}) und ich habe darauf hingewiesen, wo wir sparen wollen. Wir sind - das möchte ich an dieser Stelle ganz besonders hervorheben - durch diese Umbaumaßnahmen in der Lage, Verbesserungen vorzunehmen, um die wir uns bisher vergeblich bemüht haben. ({2}) Jetzt frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, einmal ganz konkret, ob das, was ich Ihnen jetzt nenne, Verschlechterungen oder Verbesserungen sind. Ich erwähne die erste Maßnahme: Wir sorgen mit diesem Gesetzentwurf dafür, daß 300 000 Menschen von der Sozialhilfe befreit werden, die bisher nur deshalb Sozialhilfeempfänger waren, weil die Arbeitsämter das Arbeitslosengeld nicht rechtzeitig gezahlt haben. ({3}) Wir sorgen nun dafür, daß die Arbeitsämter das Arbeitslosengeld rechtzeitig zahlen können. Ist das ein Fortschritt, oder ist das ein Rückschritt? ({4}) Ist es denn nicht ein Fortschritt, wenn die Rentenversicherungsträger jetzt verpflichtet werden, den Sozialämtern Zinsen zu zahlen, wenn sie die Renten nicht rechtzeitig gewähren? ({5}) In dem Gesetzentwurf sorgen wir weiter dafür, daß die Gemeinden zur Abwehr von Obdachlosigkeit verpflichtet werden, ausstehende Mieten zu übernehmen. Es ist doch besser, wenn die Menschen gar nicht erst obdachlos werden, als wenn wir nachher die hohen Kosten der Obdachlosigkeit bezahlen müssen. ({6}) Oder: Wir erhöhen den Stundenlohn für Behinderte in Behindertenwerkstätten. Seit Jahren beklagen doch die Verbände zu Recht, daß dort nur 1,50 DM oder weniger gezahlt wird. Das ändern wir jetzt zugunsten der Behinderten. Ist das denn kein Fortschritt? ({7}) Oder daß die Behinderten in Behindertenwerkstätten einen Betriebsrat und arbeitnehmerähnliche Rechte bekommen: Das hatten sie bisher alles nicht; das führen wir neu ein. Oder: Wir erfüllen die langjährige Forderung nach Einführung eines Sozialhilfebeirates. Armutsberichterstattung kann neu erfolgen. Ist das denn kein Fortschritt? Oder daß ab 1. Juli, falls das Gesetz pünktlich in Kraft tritt, die Sozialhilfeempfänger in Ostdeutschland dieselben Rechte haben wie die in Westdeutschland: Ist das denn kein Fortschritt? ({8}) Nein, meine Damen und Herren, ich kann Sie überhaupt nicht verstehen, wenn Sie das geringachten. Den größten Fortschritt sehe ich darin, daß künftig durch eine Rechtsverordnung sichergestellt wird, daß Sozialhilfeempfänger nicht länger für jedes einzelne Hemd, für jeden einzelnen Mantel zum Sozialamt gehen müssen. Sie bekommen die Beträge zukünftig pauschaliert. Ich meine: Viel mehr als die mit großer Lautstärke vorgetragenen Forderungen zur Sozialhilfe dient dies der Würde des Sozialhilfeempfängers und ermöglicht ihm einen aufrechten Gang. ({9}) Das nenne ich konkrete Sozialpolitik. Das zeigt, daß sozialpolitische Verbesserungen auch in Zeiten knapper Kassen möglich sind, wenn man nur den Mut hat, einen wirklichen Umbau des Sozialsystems vorzunehmen. Eine frohe Botschaft für die Wohlfahrtsträger: Es bleibt bei dem Vorrang der Wohlfahrtsträger in § 10 des Bundessozialhilfegesetzes. Darum haben wir gekämpft. ({10}) Wir sind froh, uns durchgesetzt zu haben. ({11}) Den pauschalen Mehrbedarf für Personen über 65 wird es allerdings künftig nicht mehr geben, denn im Unterschied zu früher - siehe Kriegsgenerationen - kann heute wirklich nicht mehr gesagt werden, daß jemand nur deshalb einen Mehrbedarf hat, weil er über 65 ist. Wer heute über 65 ist, ist nicht mehr automatisch hinfällig. Wenn es einen konkreten Mehrbedarf gibt, dann wird auch konkret bezahlt. Die Besitzstandsregelung kommt dazu. Mehr kann man wirklich nicht tun. ({12}) Es hat viel Aufregung um § 3 a gegeben. Wir sind vielleicht alle nicht ganz unschuldig an dieser Aufregung, die dabei verursacht worden ist, aber in Wirklichkeit brauchen die Behinderten überhaupt keine Sorge zu haben. Denn es handelt sich nur um eine gesetzliche Klarstellung im Sinne dessen, was das Bundesverwaltungsgericht am 6. August 1992 beschlossen hat. Es braucht also kein Behinderter zu befürchten, in seinen Rechten geschmälert zu werden. Es ist nichts anderes als eine Klarstellung dessen, was bisher schon Rechtens war. Meine Damen und Herren, die Sozialhilfe ist viel besser als ihr Ruf. Studien aus Bremen haben gezeigt, daß die weit verbreitete Annahme, daß, wer einmal in die Sozialhilfe gefallen ist, niemals wieder herauskommt, falsch ist. Die meisten Menschen sind nur kurz Sozialhilfeempfänger, und die meisten von ihnen geben sich alle Mühe, wieder aus der Sozialhilfe herauszukommen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Die Sozialhilfe ist, um im Bild zu bleiben, kein Sackbahnhof, sondern allenfalls eine Wartehalle. Auch die Leistungen der Sozialhilfe sind nicht überzogen. Ich weise hier ausdrücklich die Seriosität dessen zurück, was von der Bundesbank vorgelegt worden ist. Das, was dort vorgenommen worden ist, sind keine seriösen Vergleiche, sondern falsche Vergleiche. ({13}) Wir, die Christlich Demokratische Union und die Christlich-Soziale Union, waren es, die im Jahr 1961 dafür gesorgt haben, daß wir als erstes Land auf der ganzen Erde den Rechtsanspruch auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens in Deutschland eingeführt haben. ({14}) Die Sozialdemokraten glauben, daß nur Solidarität zwischen Gleichen möglich ist. Im Gegensatz dazu wissen wir, daß Solidarität zwischen Ungleichen möglich ist. Das ist die große Hoffnungsbotschaft, daß der Reiche mit dem Armen teilt. Das ist die große, christlich verstandene Botschaft der Solidarität. ({15}) Wir wissen und wir sind der Überzeugung: Jeder Mensch hat unabhängig von seiner Leistung, unabhängig von seinen Mißerfolgen und seinen Fehlern ein unveräußerliches Recht auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens. Durch die Reform des Sozialhilferechts sichern wir dieses Recht auch künftig verläßlich ab. ({16})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Lange, SPD.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Fink, auch wenn Sie noch so sehr Selbstverständliches beschwören, es bleibt dabei: Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Reform des Sozialhilferechts wird dem Anspruch und den Erfordernissen einer zeitgemäßen Fortentwicklung ... nicht gerecht. ({0}) Hauptursache für den starken Anstieg der Ausgaben ... ist, daß die Sozialhilfe den Lebensunterhalt von immer mehr Arbeitslosen und Alleinerziehenden mit Kindern finanzieren muß. Sie muß ferner die Eingliederungshilfe für Behinderte tragen und die Kosten für den Lebensunterhalt von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen übernehmen. Wer - wie die Bundesregierung - in dieser Situation eine isolierte Reform des Bundessozialhilfegesetzes vorschlägt, verfolgt einen falschen politischen Ansatz: Sozialhilfebedürftigkeit und Armut werden nicht durch öffentlichkeitswirksame Deckelung der Sozialhilfe und isolierte Korrekturen ... vermieden. Notwendig ist eine dauerhafte Entlastung der Sozialhilfe - und der Kommunen, die sie finanzieren müssen durch wirksame Reformen in den vorrangigen Systemen der sozialen Sicherung. ({1}) Soviel aus den ersten Sätzen der Stellungnahme des Bundesrates. Sie bestätigt - wie übrigens auch das Ergebnis der Anhörung - unsere Einschätzung und Ablehnung des Reformentwurfs. Dieser überdeutliche, breite Verriß war zu erwarten, freut uns aber nicht; denn eine Reform ist überfällig. In den Diskussionen ist deutlich geworden, daß dieses unterste Netz heute nicht mehr im Konsens von 1962 zu knüpfen wäre. Damals, Herr Fink, hatten Sie auch noch ein „Ahlener Programm". ({2}) Dieses Gesetz, das die grundgesetzliche Verpflichtung zur Wahrung der Menschenwürde an den Anfang seines Textes setzt und seine Leistungen danach ausrichtet, wird seit Jahren ausgehöhlt, zerfleddert; seine Empfänger werden verdächtigt und diskriminiert; seine Zielsetzung wird auf den Kopf gestellt. ({3}) Zu einem menschenwürdigen Leben zählt offensichtlich nicht mehr, was der Mensch braucht, sondern was nach Verteilung des Reichtums übrigbleibt. ({4}) Für diese Regierung ist das Kriterium nicht mehr die Bedürftigkeit eines Menschen, sondern seine Leistung. Daran mißt sie auch seinen Wert. Wer nichts leistet - egal, warum -, ist nichts wert. ({5}) So wird er auch behandelt. Dabei hat die Regierung mächtige Verbündete, gemessen an ihren Gehältern die Leistungsträger der Nation. Diese politische und wirtschaftliche „Leistungselite" erwartet von den Empfängern sozialer Leistungen - nicht etwa von sich selbst -, von Rentnerinnen und Rentnern, von Kindern und Jugendlichen, von Alleinerziehenden, von Familien mit Niedrigsteinkommen, von erwerbsfähigen Sozialhilfeempfängern, die zu den registrierten 4 Millionen Arbeitslosen noch dazugezählt werden müssen, und von den Behinderten die Rettung aus der sogenannten Standortkrise. ({6}) Diese von der Bundesregierung ausschließlich unter ökonomischen und finanziellen Gesichtspunkten geführte Debatte um den Industriestandort Deutschland verengt fahrlässig die Zukunftsfrage auf kurzfristige Maximierungsziele. Wir brauchen aber ein Bündnis für Arbeit, Umwelt und Sozialstaat. Von Ihrer Seite hören wir vor allem die Frage, ob wir uns den Sozialstaat noch leisten können. Die Wohltaten seien zu üppig, die fetten Jahre vorbei; wir müßten abmagern. Wer ist „wir"? Darf ich daran erinnern, daß viele dieser angeblichen Wohltaten geschlossene Verträge, gesetzlich verbriefte Rechte sind? Es sind Verträge und Rechte, die Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes - „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" - lebendig erfahrbar machen. Wird die Diskussion um den sogenannten Standort Deutschland noch unter dieser Prämisse der Verfassung geführt? Wird sie beachtet? Ist sie Konsens geblieben? Oder hat der Journalist Roderich Reifenrath recht, wenn er in einem Kommentar in der „Frankfurter Rundschau" schreibt: Während das Rechtsstaatsprinzip jederzeit auf wortmächtige Verteidiger zählen kann, die schweres juristisches Geschütz auffahren, sollten Elemente der Leitidee des Grundgesetzes von wem auch immer in Frage gestellt werden, ist das keineswegs der Fall, wenn - wie hier und heute - der Sozialstaat auf dem Prüfstand steht. ({7}) Diese praktisch umgesetzte Leitidee vermissen wir in dem vorliegenden Gesetzentwurf. Mit dieser „Reform" zur Sozialhilfe verabschiedet sich die Bundesregierung von Grundprinzipien. ({8}) Die vorgeschlagenen Änderungen garantieren also nicht, was noch die Begründung verspricht: Nicht die bewährten Grundprinzipien der Sozialhilfe wie der Nachrang der Sozialhilfe, die Bedarfsdeckung und die Einzelfallgerechtigkeit stehen zur Diskussion; sie sind zu stärken. heißt es da unter II, Reformbedarf. Der das schrieb und diejenigen, die das Gesetz gestalteten, müssen nichts voneinander gewußt haben. ({9}) Seit diese Bundesregierung im Amt ist, hat sie den Nachrang der Sozialhilfe nicht gestärkt, sondern massiv mißbraucht. Allein die lange Liste der Kürzungen, Streichungen und Beitragserhöhungen im AFG von 1982 bis heute dokumentiert diesen großzügigen Mißbrauch des Nachrangs. Der Stärkung des Nachrangs, dem situationsgerechten Ausbau der sozialen Sicherung hat sich diese Bundesregierung nur zögerlich und kleinlich gestellt. Die steuerliche Freistellung des Existenzminimums, dessen Höhe und die Verbesserung des Familienlastenausgleichs konnten wir ihr nur unter dem Druck des Bundesverfassungsgerichts abringen. Die Bundesregierung lobt die in den Spargesetzen 1993 erreichten Ansätze für eine Konsolidierung der Sozialhilfe, das heißt konkret: Deckelung. Seitdem blieb die Entwicklung der Lebenshaltungskosten unberücksichtigt. Jetzt versprechen Sie: keine lineare Kürzung. Wirklich nicht? Linear oder anders? Auch keine Änderung des Bedarfsdeckungsprinzips? Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Zu laut trommeln diejenigen, denen der bedarfsgerechte Regelsatz als wichtigste Komponente des Existenzminimums zum Ärgernis Nr. 1 geworden ist. Sie stört seine Sperriegelfunktion, die ein „Ausdifferenzieren der Löhne nach unten" - wie es so vornehm vernebelnd heißt - bisher verhindert hat. Das ist es doch, was von Wirtschaftsseite gefordert wird: Senkung des Regelsatzes, damit die Löhne gesenkt werden können. Der Anreiz zur Arbeit - und zwar zu jeder, auch der niedrigstbezahlten - soll durch das kalte Tauchbecken der Sozialhilfe stimuliert werden. Nicht nur die Bremer Studie widerlegt diesen Unsinn wie auch den von der Hängematten-Mentalität. Und? Hat der Fachminister für Sozialhilfe auf diese Studie reagiert? Hat er das Bedarfsdeckungsprinzip gestärkt? - Mitnichten. Das 1993 gegebene Versprechen, die Deckelung der Regelsätze aufzuheben, wird gebrochen, die Anpassung der Regelsätze bis 1999 verzögert. Was danach kommt, weiß keiner genau. Der Festsetzungsund Fortschreibungsmodus, den Sie ab 1999 neu kreieren wollen, ist hinreichend unklar. Eindeutig ist jedoch, daß Ihre Festschreibung des Lohnabstandsgebots auf 15 Prozent das Bedarfsdeckungsprinzip aushebeln wird. Reales Ergebnis: Kürzungen. Davon erhoffen Sie sich Einsparungen von zirka 1 Milliarde DM zu Lasten der Ärmsten in unserer Gesellschaft. Im Gegenzug erwägen Sie, die Vermögensteuer zu senken. Das wird nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die Sozialhilfebezieher mächtig freuen. ({10}) Dann verspricht die Bundesregierung noch die Stärkung der Einzelfallgerechtigkeit. Ich nenne nur einmal das Stichwort „§ 3a BSHG". Da können Sie formulieren, solange Sie wollen. Sie bekommen das nicht mehr hin. Das betrifft auch die 25prozentige Kürzung der Sozialhilfe, die nun exekutiert werden muß, wenn ein Sozialhilfebezieher eine Arbeit oder Arbeitsgelegenheit ablehnt, ({11}) gleich aus welchen Gründen und ungeachtet welcher Konsequenz. Scheint Ihnen das ein Fall von Einzelgerechtigkeit zu sein, 65jährigen den Mehrbedarfszuschlag zu streichen und nur auf Antrag zu gewähren? ({12}) Spekulieren die den Gesetzentwurf unterbreitenden Koalitionsfraktionen nicht vielmehr auf die Scham der Älteren, diesen Antrag eben nicht zu stellen, statt auf Gerechtigkeit, vielleicht auch auf die Würde dieser Menschen? ({13}) Der Geist weht, wo er will. Hier hat er nicht gewollt. Unsere Vorstellungen von einer Reform sehen anders aus. Meine Kollegin Waltraud Lehn wird sie Ihnen anschließend erläutern - hoffentlich nicht völlig vergebens. Danke. ({14})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Redebeitrag von Ihnen, Herr Fink, hat mich zu dieser Kurzintervention bewogen. ({0}) - Inspiriert, das wäre zuviel gesagt. Sie haben darauf hingewiesen, daß Ihr hier vorgelegter Gesetzentwurf der Würde des Menschen dienen soll. Das, was Sie vorgelegt haben - ich will auf eine Sache eingehen, die Sie ausgelassen haben -, dient sicherlich nicht der Würde des Menschen: nämlich die Änderung des § 93. Das haben Sie verschwiegen. Die Deckelung der Heimpflegekosten ohne eine Öffnungsklausel trifft vor allem die Behinderteneinrichtungen, die Ärmsten der Armen. Wir kommen wieder zu Zeiten zurück, in denen man in den Behinderteneinrichtungen nach dem Motto verfährt: satt und sauber. In der Vergangenheit haben wir in diesem Bereich eine gute Politik gehabt. Psychisch Kranke und Behinderte sind nach vielen Jahren aus den Einrichtungen der Psychiatrie herausgeholt worden. Das, was Sie vorlegen, wird dazu führen, daß sie wieder in die Behinderteneinrichtungen und in die Psychiatrie eingewiesen werden müssen. Das ist aus meiner Sicht beschämend. Das ist weder christlich noch sozial, sondern ein Rückschritt in die Steinzeit der Behindertenpolitik. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fink, bitte.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete SchmidtZadel, das, was Sie ausgeführt haben, trifft überhaupt nicht den Inhalt des Gesetzentwurfs. Denn die Wahrheit ist, daß für einen vorübergehenden Zeitraum bis einschließlich 1998 die Entgelte in den Heimen um die Steigerung der Bruttolöhne und -gehälter anwachsen dürfen. Damit sind alle Steigerungen, die durch die Tarifpartner vereinbart werden, aufgefangen. Mehr noch, es bleibt noch Spielraum, weil in einem Heim, insbesondere in einer Behindertenwerkstatt, nicht 100 Prozent der Kosten Personalkosten sind, sondern vielleicht 70 Prozent. Der Rest sind Materialkosten. Die Materialkosten steigen aber nicht so schnell wie die Löhne und Gehälter. Das heißt, Sie haben sogar einen darüber hinausgehenden Spielraum für die Entwicklung. Ab 1999 soll das geschehen, was doch einzig richtig ist: Wir wollen weg von der Orientierung an den Kosten hin zur Orientierung an den Leistungen. Es gibt gute, sehr engagierte Behindertenwerkstätten und Heime; es gibt andere, die sind nicht so gut. Dann ist es doch besser, wenn man denen mehr zur Verfügung stellt, die bessere Leistungen erbringen. Frau Schmidt-Zadel, eines darf ich vielleicht noch sagen: Sie wissen es eigentlich besser und behaupten dennoch etwas anderes. Das ist nicht in Ordnung. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

- Nein, Frau Kollegin, das geht leider nicht. Es gibt nur Rede und Gegenrede. So sind die Regeln. - Das Wort hat die Kollegin Dr. Gisela Babel, F.D.P.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Beratung in der ersten Lesung der Sozialhilfereform hatte ich bereits dargelegt, warum wir diese Reform grundsätzlich brauchen. Aber schon die jetzige Debatte bringt mich dazu, das noch einmal in Erinnerung zu rufen: Eine Sozialhilfereform bringt keine Einsparungen für den Bundeshaushalt, eine Sozialhilfereform bringt allenfalls Einsparungen für die Gemeindefinanzen. Ich möchte darauf hinweisen, daß eine Ablehnung dieser Reform im Bundesrat, so wie Sie sie andeuten, natürlich diejenigen treffen wird, die in ganz vielen Bereichen mit ihren wenigen Mitteln sehen müssen, wie sie über die Runden kommen. ({0}) Der zweite Punkt ist, daß die Sozialhilfereform Brücken bauen soll, um den Sozialhilfeempfängern aus der Sozialhilfe zu helfen. Ich glaube auch, daß diese Absicht richtig ist und in der Reform auf verschiedene Weise auch erreicht wird. Ich möchte nur noch kurz zu den Änderungen Stellung nehmen, die wir in den parlamentarischen Beratungen erreicht haben. Wir haben als F.D.P. die Unterstützungsvermutung, die in der Regierungsfassung für die Personen, die gemeinsam in einer Wohnung leben, enthalten war, wieder rückgängig gemacht. Wir sind der Meinung, daß wir dieser Einstehensgemeinschaft hier wiederum neue Pflichten auferlegt hätten, ({1}) denen keine Rechte, zum Beispiel Mietrechte, adäquat gegenübergestanden hätten. ({2}) - Hier klatschen auch die Grünen, mit denen wir uns einig sind, daß wir das insgesamt aufräumen sollten. Die Frage, wie wir Lebensgemeinschaften, die in Zukunft in vielfältiger Weise für uns wichtig werden, behandeln wollen, müßte man durchgängig erörtern. Das ist ein Thema, das auf politische Wiedervorlage gelegt werden muß. Insofern bleibt es beim heute geltenden Recht. Ebenso bleibt es bei der Vorrangstellung der Wohlfahrtsverbände in § 10 BSHG beim geltenden Recht. Hier geht ein großes Aufseufzen durch die Republik. Wir hatten in der Tat eine kleine Revolution versucht und gesagt: Wir könnten auch andere Träger, sowohl gemeinnützige als auch privat-gewerbliche Anbieter, im allgemeinen Teil des BSHG verankern, um damit den Wettbewerb im allgemeinen Teil bereits festzuschreiben. Der Widerstand war aber so massiv, daß wir dem Koalitionspartner den Wunsch, die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen, erfüllen wollten. Für uns ist es wichtig, daß wir in § 93 BSHG, in dem der Wettbewerb der Leistunganbieter geregelt wird, priDr. Gisela Babel I vat-gewerbliche Anbieter mit in den Wettbewerb hineinnehmen und daß Qualität und Kostengünstigkeit des Angebotes in die Bewertung eingehen. Das ist im Interesse der Betroffenen, weil es ihre Möglichkeit steigert, ein preiswertes und qualitativ hochwertiges Angebot auch bei den Sozialleistungen zu bekommen. Eine der Hauptursachen für Sozialhilfebedürftigkeit ist - das haben wir erörtert - die Arbeitslosigkeit. Die Sozialämter können keine Arbeitsplätze schaffen, aber sie können dazu beitragen, Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen. Meiner Ansicht nach haben wir das Instrumentarium durch Änderungsanträge verbessert. Es gibt jetzt für Sozialämter die Möglichkeit, private und gemeinnützige Anbieter mit der Vermittlung zu beauftragen. Dadurch werden sie selbst entlastet, und die Anbieter können pauschal entgolten werden. Ich denke, das ist eine ganz sinnvolle Änderung, die wir mit dem Koalitionspartner zusammen gemacht haben. Im übrigen ist das Motto „weniger Bürokratie" bei der Rechtsvereinfachung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf an verschiedenen Stellen eingehalten worden. Dafür will ich die Vereinfachung bei der Umzugskostenerstattung und die Verzinsung von Erstattungsansprüchen nennen. Wir dürfen nicht vergessen, daß es im Sozialhilferecht eine Fülle von kleinen, für Bürokratie sorgende Vorschriften gibt. Wir glauben, daß die Durchforstung dringend nötig war. Eine langjährige Forderung der Behinderten, nämlich daß sie eine dem Arbeitsrecht entsprechende Stellung erhalten, haben wir auch erfüllt, wenn auch nicht ganz so perfektionistisch, wie es ursprünglich einmal gewünscht oder angedacht war. Wir haben uns mit einer Formulierung begnügt, die sagt, daß es im Rahmen des Sozialrechtsverhältnisses die Möglichkeit geben soll, Rechte einzuräumen, die einem Arbeitnehmerverhältnis entsprechen. Wir haben den Schwerpunkt dabei auf die Rechtsverordnung bzw. den Werkstattsvertrag gelegt. Ich glaube, damit ist uns wieder ein kleines Stück Anerkennung und Integration gelungen. Dennoch muß bei dieser Frage weiterhin auf die individuellen Bedürfnisse des Behinderten eingegangen werden. ({3}) Schließlich noch eine Bemerkung zur Neuregelung des § 3 a, also zur Sicherung des sogenannten Arbeitgebermodells. Anläßlich der Änderung des PflegeVersicherungsgesetzes gab es ja heftigen Wirbel. Ich glaube, daß das gefundene Ergebnis richtig ist. Es wird klargestellt, daß nur ausnahmsweise von dem Grundsatz „ambulant vor stationär" mit dem Kostenargument abgewichen werden darf, nämlich nur dann, wenn ein preiswerteres Angebot zur Verfügung steht und wenn personelle, familiäre und örtliche Umstände es zulassen, dem Behinderten zuzumuten, daß die Leistungen in diesem Bereich abgesenkt bzw. begrenzt werden können.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte zu meinem letzten Satz kommen, Herr Präsident, aber bitte schön!

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Babel, Sie haben gerade formuliert, daß - natürlich nur in Ausnahmefällen; das hat auch Herr Fink gestern im Ausschuß hinreichend deutlich gemacht - eine Abwägung unter Kostengesichtspunkten zwischen dem teureren und dem preiswerteren Angebot stattfindet. Sie haben selber den Begriff „preiswerter" verwendet. Finden Sie es mit der Würde des Menschen - ich rede jetzt ausnahmsweise so pathetisch - und dem Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Behinderten wirklich vereinbar, daß man sie auf diese Kostenabwägung zwischen preiswerteren und weniger preiswerten Angeboten verweist? ({0}) Sie wissen selber, daß es sich um eine kleine Personenanzahl handelt. Glauben Sie, daß das mit dem Geist des Bundessozialhilfegesetzes, der auch von Ihnen beschworen worden ist, wirklich vereinbar ist?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Mascher, erinnern Sie sich bitte: Als der Grundsatz „ambulant vor stationär" formuliert worden ist, ist man davon ausgegangen, daß die ambulante Versorgung die preiswertere ist und die stationäre die teurere. Es hat sich erst im Zuge der Bewilligungen und der Rechtsprechung dazu ergeben, daß es ambulante Versorgungsformen in exorbitanter Höhe - 20 000 DM im Monat - gibt. So etwas kann einen Sozialhilfeträger natürlich in Bedrängnis bringen. Uns als Gesetzgeber obliegt es - Ihr Kollege Andres hat sich im Ausschuß ähnlich ausgedrückt -, eine gerechte, eine adäquate und auch eine sensible Abwägung zwischen dem Bedürfnis des behinderten Menschen und dem, was solidarisch zu leisten ist, zu finden. Ich glaube, daß diese Abwägung gelungen ist. ({0}) Ich wehre mich gegen den Vorwurf, daß wir in irgendeiner Weise die Würde des Behinderten nicht anerkennen. Das wäre falsch argumentiert. ({1}) Vielmehr müssen wir begreiflich machen, daß es immer auch um Abwägungen geht. Sehen Sie einmal: Wenn wir bei 20 000 DM zustimmen, dann könnte man auch sagen, 100 000 DM seien angemessen, um den Bedürfnissen zu entsprechen. Es gäbe dann keine Grenzen. Man muß sich doch sagen, daß sich alles das, was wir an Hilfen zur Verfügung stellen, innerhalb des Machbaren befinden muß. Ich glaube, auf Grund dieser Regelung können wir das eigentlich noch sagen. ({2}) Meine Damen und Herren, die Änderungen haben der BSHG-Novelle gutgetan. Einige Sachverhalte sind geklärt und verbessert worden. Ich bedanke mich bei den Kollegen der Koalition und den Mitarbeitern der Ministerien. Ich hoffe, daß das Gesetz die Klippen des Bundesrats glücklich umschifft. Die SPD auf der Oppositionsbank im Bundestag hat ja schon bei der Pflegeversicherung die Strategie ihrer Genossen im Bundesrat, Frau Lange, falsch eingeschätzt, und auf einmal war akzeptabel, was sie hier im Deutschen Bundestag für völlig unakzeptabel gehalten hat. Insofern besteht also Hoffnung. ({3}) Ich bedanke mich. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben jetzt einen einjährigen Diskussionsprozeß hinter uns. Sie sind von allen Seiten mit Kritik überschüttet worden, und es gab einen fast einmütigen Verriß in der Anhörung. Sie haben zwar reichlich Änderungsanträge vorgelegt, aber auf die grundlegende Kritik sind Sie nicht eingegangen. ({0}) In der Kürze der Zeit möchte ich auf einige Punkte hinweisen, die die grundlegende Kritik betreffen. Zunächst geht es um die Aushöhlung des Bedarfsdeckungsprinzips. Sie verstoßen mit diesem Gesetzentwurf - entgegen dem, was Sie, Kollege Fink, gerade gesagt haben - gegen den Grundsatz, daß jedem Hilfebedürftigen eine seinem Bedarf entsprechende Hilfe zusteht. ({1}) Das zeigt sich an der Verschärfung des Lohnabstandsgebots, das zeigt sich an der Nettolohnanbindung - denn die gewährleistet dann nicht mehr, daß die Sozialhilfe das soziokulturelle Minimum des Bedarfs auch deckt -, und das zeigt sich an der Deckelung von Leistungen für behinderte Menschen in Einrichtungen. Entgegen dem, was Sie eben dargestellt haben, besteht, weil es keine Öffnungsklauseln und andere flexible Lösungen gibt, die große Gefahr, daß gerade der Hilfebedarf für betreuungsintensive Gruppen - ich nenne hier die Autisten, ich nenne Schwerst- und Mehrfachbehinderte - durch die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht mehr gedeckt wird. ({2}) Das heißt, die Sozialhilfe wird ihres eigentlichen Sinnes beraubt, nämlich hilfebedürftigen Menschen die Unterstützung zu geben, die sie brauchen. Die zweite grundlegende Kritik: Die Sozialhilfereform stellt sich nicht der Realität einer modernen Gesellschaft. Nun hat die Kollegin Babel gerade darauf verwiesen, daß sich die F.D.P. in der Koalition - auch nach hartnäckiger Erinnerung seitens der Bündnisgrünen - ihres Wahlversprechens entsonnen hat, daß erst die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften erfolgen muß, statt daß man, wie Sie das hier geplant haben, schon vorher die Schlechterstellung plant. Aber wir haben mit dem, was wieder zurückgezogen worden ist, ja nur wieder den Status quo ante, und das reicht nicht, denn hier geht es auch um anachronistische Regelungen, die dringend einer Änderung bedürfen. Die Unterhaltspflicht volljähriger Kinder gegenüber ihren Eltern hat - das ist aus der Sozialhilfedebatte lange bekannt - bei alten Leuten zur Angst vor dem Sozialhilfebezug geführt. Die Unterhaltspflicht der Eltern für ihre volljährigen Kinder führt zu unbilligen Härten für viele Eltern von pflegebedürftigen Kindern, insbesondere geistig behinderten Kindern, die in Heimen leben. Das muß dringend geändert werden. ({3}) Aber Sie haben ja nicht nur nicht auf die grundlegende Kritik gehört, sondern Sie haben noch eins draufgelegt, und zwar mit Ihren Änderungsanträgen. Dazu will ich noch einmal sagen: Sie haben uns die zum Teil gestern in letzter Minute vorgelegt. Wir sind deshalb tatsächlich überfordert. Wir reden hier über Bestimmungen, bei denen es um das Leben von sehr vielen betroffenen Menschen geht, ({4}) und da möchte ich die Möglichkeit haben, das genau zu prüfen, auch juristisch zu prüfen. Deshalb habe ich großes Unbehagen bei diesem Verfahren; denn ich meine, wir müssen erst ganz sorgfältig prüfen, was da passiert. ({5}) Unsere gegenseitigen Interpretationen, was die Neuformulierung des § 3 a BSHG anbelangt, gehen ja sehr weit auseinander. Wenn das nur eine Klarstellung ist, wie Sie sagen - wofür betreiben Sie dann diesen Aufwand? Die Sozialämter prüfen doch schon heute jeden Pfennig, den sie ausgeben. Sie tun ja gerade so, als würden die das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinausschmeißen. ({6}) Frau Kollegin Babel, es gibt zwar einzelne Menschen mit einem Hilfebedarf von 20 000 DM, aber es handelt sich hier nicht um ein Massenphänomen. Wenn Sie sagen, dann hätten wir überhaupt keinen Maßstab mehr, und hinterher zahle man jemandem 100 000 DM, ist das eine demagogische Zuspitzung. Andrea Fischer ({7}) Denn auch Sie wissen, daß kein Sozialamt das zahlen wird. ({8}) Weit unter den Beträgen, von denen Sie gesprochen haben, werden die Sozialämter angesichts des großen Drucks, der in den Kommunen herrscht, und des großen Drucks, der natürlich auch auf die Sozialämter ausgeübt wird, tatsächlich die Entscheidung zu treffen haben, ob die Pflege im Heim nicht billiger ist. Davon ist hier schon geredet worden. Das kann sein. Deswegen haben die Behinderten auf Grund der Kostenlage Angst vor Zwangseinweisung. ({9}) Wir haben den Vorrang „ambulant vor stationär" zwar aus Kostenerwägungen mit eingeführt. Aber das ist nicht der einzige Grund dafür gewesen. Sie, Herr Fink, haben selber davon gesprochen: Der Sinn dieser Unterstützung ist, daß Menschen aus eigener Kraft leben können. Wir haben es hier mit einer Grundfrage der Integration von Behinderten zu tun. ({10}) Hier geht es darum: Wie können Behinderte und Nichtbehinderte zusammen leben? Emanzipation von Behinderten heißt Recht auf Wahl der Leistungen. Ich sage Ihnen: Wir leben wirklich in einer reichen Gesellschaft. Es ist für mich keine Standortfrage, es ist für mich eine grundlegende moralische Frage, daß man in einem so reichen Land wie unserem in der Lage sein muß, behinderten Menschen die Unterstützung zu geben, die sie zu einer selbständigen Lebensführung brauchen. ({11}) Mein Fazit ist daher: Dies ist kein Gesetz, das den Anforderungen einer modernen Armutspolitik gerecht wird. Es blendet die Wirklichkeit aus. Es packt die strukturellen Ursachen nicht an, sondern nimmt sie als gegeben hin. Dort hätte man ansetzen können. Behinderung ist in unserer Gesellschaft eine Normalität. Das müssen wir anerkennen. Die Krise des Erwerbssystems müssen wir aufgreifen und auch in der Sozialpolitik entsprechend berücksichtigen. Wir müssen die Veränderung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den Generationen berücksichtigen. Deswegen geht es um eine Reform der Eingliederungshilfe bis hin zu einem eigenständigen Leistungsgesetz. Es geht um eine bedarfsorientierte Grundsicherung. Das ist die eigentliche Herausforderung; denn eine Sozialhilfereform muß eine Sozialreform sein. Nur dann wird sie der Realität gerecht. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner, PDS.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir hätten Sie eine Zustimmung für eine notwendige strukturelle Reform des Bundessozialhilfegesetzes bekommen und sicherlich auch eine Zustimmung dafür, den Anstieg der Sozialhilfebedürftigkeit und vor allen Dingen der Kosten der Sozialhilfe einzudämmen. Dies wäre allein schon deshalb geschehen, weil die Kommunen dringend entlastet werden müssen und weil das dazu geführt hätte, betroffenen Menschen ein Leben jenseits der Armutsschwelle zu ermöglichen. Aber es kommt auf die Methode an, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ob die Regierungskoalition wirklich die Kosten der Sozialhilfe eindämmen will, daran darf man ja nach den letzten Entscheidungen in diesem Haus berechtigte Zweifel haben. Sie hätten dazu reichlich Gelegenheit gehabt. Das Gegenteil haben Sie getan. Ich erinnere nur an die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe und an die Kürzung der Arbeitslosenhilfe um 3 Prozent. Selbst das ursprünglich zur Kompensation gedachte Asylbewerberleistungsgesetz führt dazu, die Sozialhilfekosten der Kommunen weiter zu erhöhen, die Menschen weiter in Sozialhilfe zu drängen, das Armutsrisiko zu erhöhen. Mit der heute zur Verabschiedung stehenden BSHG-Novelle wollen Sie offensichtlich diese Fehlentscheidungen wettmachen. In der Art und Weise, wie Sie die Kostenentwicklung der Sozialhilfe einfangen wollen, finden Sie allerdings nur noch Beistand bei den Hardlinern der Standortideologie. ({0}) Von allen Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und den Gewerkschaften sowie den meisten Expertinnen und Experten bei der Anhörung zum Sozialhilferecht ist Ihnen reihum bescheinigt worden, daß eine bundessozialhilfegesetzinterne Lösung nur heißen kann, an den Symptomen zu basteln und zu nichts weiter führen wird als zu weiteren drastischen sozialen Einschnitten jetzt auch bei den unteren Sozialstandards. Notwendig sei dagegen - so der Deutsche Städtetag und andere -, die vorgelagerten Sicherungssysteme armutsfest zu machen und im Arbeitsförderungsgesetz, beim Wohngeld, beim Kindergeld, im Familienlastenausgleich und schließlich auch bei einem eigenständigen Leistungsrecht für Behinderte Korrekturen vorzunehmen, die wirklich eine Entlastung des Bundessozialhilfegesetzes bringen würden. Wer bei den Sozialhilfekosten wirklich sparen will, muß an der Hauptursache ansetzen und die Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit wirkungsvoll bekämpfen. Das geht nur, wenn man wirklich sozial- und tarifrechtlich gesicherte Beschäftigungsverhältnisse schafft. Aber davon sind Sie Lichtjahre entfernt. ({1}) Wie Sie in den letzten Wochen die gute Idee des „Bündnis für Arbeit" verramscht haben, spricht wirklich Bände. ({2}) Was also bezwecken Sie mit der vorgelegten Sozialhilfenovelle? Nein, Herr Kollege Seehofer - da muß ich Ihnen ausnahmsweise einmal zustimmen -, Sie wollen keine lineare Kürzung der Regelsätze. Sie gehen nicht so platt heran. Das, was Sie vorschlagen, ist wesentlich subtiler. Deshalb ist es in der Öffentlichkeit auch so schwer zu verstehen - im übrigen nicht nur in der Öffentlichkeit; ich verweise nur auf die diesbezügliche Ausschußsitzung gestern. Wie wir dieses Gesetz dort beraten haben, spricht wirklich jeder ernsthaften parlamentarischen Debatte Hohn. ({3}) Der Schlüssel für die geplanten Einsparungen durch diese Sozialhilfenovelle liegt in der Anbindung der Regelsätze an die Lohnentwicklung und beim sogenannten Lohnabstandsgebot. Mit dieser Festlegung verabschieden Sie sich endgültig von einem wichtigen Prinzip des Bundessozialhilfegesetzes, nämlich von der Bedarfsorientierung. Es geht künftig nicht mehr darum, den Grundbedarf für ein menschenwürdiges Leben festzustellen. Die Sozialhilferegelsätze verkommen vielmehr zur Restgröße konjunktureller Entwicklung. Dies wird vor allen Dingen befördert durch das Abstandsgebot: Der Abstand zwischen den unteren Lohngruppen und den Sozialhilfesätzen muß zukünftig 15 Prozent betragen. Was dieses Abstandsgebot bedeutet, Herr Minister Seehofer, wird nun deutlich. Da hat Ihnen die Bundesbank ganz schön in die Suppe gespuckt. Sie verkünden zwar landauf, landab, es sei nichts zu befürchten, weil das Lohnabstandsgebot eingehalten werde, aber die Bundesbank hat Ihnen feinsäuberlich nachgewiesen, daß das nicht der Fall ist und daß eine Festschreibung von 15 Prozent zukünftig dazu führen muß, daß die Sozialhilfesätze gesenkt werden. Das ist ja auch die eigentliche Absicht. Ich finde, daß es an der Zeit ist, daß sie die Menschen darüber nicht länger täuschen. ({4}) Neben dieser indirekten Kürzung der Regelsätze enthält die vorliegende Novelle noch weitere gravierende Einschnitte in soziale Besitzstände. Aber Besitzstände gelten bei Ihnen ja nur für die Besserverdienenden und ohnehin nicht für die Armen; da ist es ja unmoralisch. ({5}) Ich erinnere nur an das unwürdige Gezerre im Gesundheitsausschuß darüber, wie man am geschicktesten verpacken kann, daß mit dem neuen § 3a BSHG vom Prinzip „ambulant vor stationär" Abstand genommen wird, wenn es zu teuer wird, und damit verschleiert, daß das Selbstbestimmungsrecht der behinderten und pflegebedürftigen Menschen über den Deister geht. Abschließend erinnere ich auch noch an die Streichung der Mehrbedarfszuschläge für ältere Menschen und Erwerbsunfähige. Das zeigt genau das, was Sie praktizieren: eine Anpassung der Lebensstandards nach unten. Das ist das Muster Ihrer Politik.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die PDS lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf dementsprechend ab. Wir unterstützen den Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen und verweisen darauf, daß es dringend notwendig ist - als einzige Möglichkeit, das gegenwärtige Armutsproblem zu lösen -, sich für eine soziale Grundsicherung einzusetzen. Wir haben dazu einen Antrag eingebracht und werden künftig darüber diskutieren. Danke schön. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Bundesminister Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bundessozialhilferecht ist ohne Zweifel eine der größten sozialen Errungenschaften in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es bleibt auch in der Zukunft beim Rechtsanspruch auf Sozialhilfe. ({0}) Es ist auch in der Zukunft - gerade wegen dieser Reform - möglich, Menschen, die in Not geraten, zu unterstützen, und zwar in einer Art und Weise, daß sie auch weiterhin ein menschenwürdiges Leben führen können. ({1}) Meine Damen und Herren, nach der verzerrten Lageschilderung gerade möchte ich einmal versuchen, die Verhältnisse in der Sozialhilfe real darzustellen. Wie Sie wissen, gibt es nach dem Sozialhilferecht Hilfe in besonderen Lebenslagen und die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Zwei Drittel der Ausgaben in der Sozialhilfe erfolgen für Hilfe in besonderen Lebenslagen, hier insbesondere für Pflegebedürftige und Behinderte in Einrichtungen. Von 1989 bis 1993 sind die Ausgaben in diesem Bereich um jahresdurchschnittlich 12 Prozent gestiegen, obwohl die Zahl der Hilfeempfänger im wesentlichen gleichgeblieben ist. ({2}) Das heißt erstens nichts anderes, meine Damen und Herren, als daß die Hilfen für Pflegebedürftige und Behinderte seit 1989 in der Bundesrepublik Deutschland massiv verstärkt wurden, jahresdurchschnittlich um 12 Prozent. Das heißt zweitens, wenn jemand wegen Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch nimmt, ist er nicht einkommensschwach, sondern die Aufwendungen im Falle der Pflegebedürftigkeit und der Behinderung von monatlich mehreren Tausend DM führen dazu, daß man das gute Netz der sozialen Sicherheit, unsere Sozialhilfe, in Anspruch nehmen muß. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde für Behinderte und Pflegebedürftige soviel getan wie in den letzten Jahren. Die Tatsache, daß die Ausgaben in diesem Bereich zweistellig gestiegen sind, ist nicht Ausdruck einer Verelendung in der Bundesrepublik Deutschland, sondern Ausdruck der Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. ({3}) Zwei Drittel der Sozialhilfeausgaben für Pflegebedürftige und Behinderte, das hat nichts mit einer neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Das andere Drittel ist Hilfe zum Lebensunterhalt. Dieses Drittel ist in den letzten zehn Jahren, zwischen 1986 und Anfang 1994 - jüngere amtliche Zahlen gibt es nicht -, gewachsen: Wir hatten 1986 in der Bundesrepublik Deutschland 1,5 Millionen Empfänger von Sozialhilfe als Hilfe zum Lebensunterhalt und Anfang 1994 2,2 Millionen. Von diesen Hilfeempfängern sind 700 000 Ausländer, davon sind 70 Prozent, nämlich 500 000, Zuwanderer aus dem Ausland mit ausländischer Staatsangehörigkeit ({4}) und von den restlichen 30 Prozent überwiegend Zuwanderer mit deutscher Staatsangehörigkeit. In der Landeshauptstadt München, Frau Mascher, betrug der Zuwachs der Zahl der Sozialhilfeempfänger im Jahre 1995 6 000 Personen. Davon sind 5 000 Ausländer. Seit einigen Tagen liegt die Bremer Studie vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen vor. Dieses Institut hat seit 1989 neu gestellte Sozialhilfeanträge untersucht und eine Verlaufsbetrachtung der Sozialhilfeempfänger bis 1994 angestellt. Es kommt zu dem Ergebnis, daß der Anteil von ansässigen Ausländern - also von Ausländern, die bereits seit Jahren in Deutschland leben und arbeiten - und von ansässigen Deutschen an den Neuantragstellern zurückgegangen ist und daß die Zahl der ansässigen deutschen Sozialhilfeempfänger sogar absolut gesunken ist. ({5}) Ich verfalle nicht in die billige Populistik, die die Sozialdemokraten seit einigen Jahren eingeschlagen haben ({6}) nach dem Motto: „Zuwanderer raus", und „Zuwanderer sind ursächlich für die Sozialhilfe". Zu einer sorgfältigen Analyse gehört, daß sie darlegt, daß die Aufnahme- und die Hilfsbereitschaft der Deutschen der wesentliche Grund für die Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger ist und man nicht von einer neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland sprechen kann. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte, Frau Mascher.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seehofer, Sie haben mich angesprochen im Zusammenhang mit der Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger in der Landeshauptstadt München. Wenn Sie die genauen Zahlen haben, dann wissen Sie sicherlich auch, warum wir einen Zuwachs von 5 000 Ausländern haben. Das sind Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien, weil Bayern und insbesondere die Landeshauptstadt München einen überdurchschnittlichen Beitrag zur humanitären Hilfe für diesen Personenkreis leistet. Die Kommune wird bei den Kosten für die Sozialhilfe von der Bundesregierung und der Landesregierung alleingelassen. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Mascher, ich habe in der Schule gelernt: Wenn man gleicher Auffassung ist, braucht man keine Fragen zu stellen. ({0}) Ich habe ja gerade versucht, zu begründen, daß die pausenlosen Analysen der deutschen Sozialingenieure mit dem Ergebnis, in Deutschland sei die neue Armut ausgebrochen, nicht zutreffen. Die Tatsache, daß die Sozialhilfeausgaben überdurchschnittlich gestiegen sind und die Zahl der Sozialhilfeempfänger zugenommen hat, ist nicht auf eine Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland zurückzuführen, sondern einerseits auf die überdurchschnittliche Hilfe für Behinderte und Pflegebedürftige und andererseits auf die große Aufnahme- und Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung für Zuwanderer. Das gehört zu einer nüchternen Analyse. ({1}) Wenn Sie das auf die Bayerische Staatsregierung abschieben wollen, sage ich Ihnen, Frau Mascher: Man wird sich in München - ich hoffe, daß sich die Regierung dort am 10. März ändern wird - noch wundern, weil nämlich immer mehr bayerische Kommunen Hilfe zur Arbeit für Sozialhilfeempfänger realisieren. Nun spricht sich dies unter bestimmten Sozialhilfeempfängern herum, und diese orientieren sich dorthin, wo diese Hilfe zur Arbeit von den Städten nicht realisiert wird. Deshalb werden Sie erleben, daß immer mehr Sozialhilfeempfänger nach München gehen, weil dort der amtierende SPD-Oberbürgermei7870 ster nicht bereit ist, in ausreichendem Maße die Hilfe zur Arbeit für Sozialhilfeempfänger zu realisieren. ({2}) Das ist die erste Realität bei einer Analyse der Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland. ({3}) - Herr Fischer, Sie brauchen nicht so laut zu schreien. In Bayern gilt der Grundsatz: Die lautesten Kühe geben die wenigste Milch. ({4}) Zweiter Punkt: Es geht auch darum, über die Höhe der Sozialhilfe ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Nun sage ich Ihnen, meine Damen und Herren: Von 1984 bis 1994 sind die Regelsätze für die Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland um 47,9 Prozent gestiegen. In der gleichen Zeit sind die Nettolöhne und -gehälter der erwerbstätigen Bevölkerung nur um 35,3 Prozent gestiegen. Das heißt, in den letzten zehn Jahren sind die Regelsätze der Sozialhilfe um 12 Prozentpunkte stärker gestiegen als die Nettolöhne der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund ist es doch nicht sozialer Kahlschlag oder Abbau, sondern ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit, wenn wir für die nächsten drei Jahre befristet in unsere Sozialhilfereform schreiben: Die Sozialhilfe kann drei Jahre lang nicht stärker steigen als die Nettolöhne der beschäftigten Arbeitnehmer. ({5}) Jetzt sage ich Ihnen auch etwas zum menschenwürdigen Leben: Niemand wird in diesem Hause behaupten, mit Sozialhilfe wäre man üppig ausgestattet, wenn es um die Hilfe zum Lebensunterhalt geht. Nur, meine Damen und Herren, wir dürfen auf der anderen Seite auch einmal die Zahlen nennen, die für die Hilfe für Menschen ausgeschüttet werden, wenn sie in Not sind, sich zwar selbst helfen wollen, aber nicht selbst helfen können. Bei einem Ehepaar mit einem Kind lag Mitte 1995 der Regelsatz zuzüglich der für Kosten der Unterkunft und einmalige Leistungen bei 2 279 DM monatlich, bei einem Ehepaar mit drei Kindern bei 3 238 DM und bei einem Alleinerziehenden mit einem Kind unter 7 Jahren bei 1 828 DM. Ich sage noch einmal: Das ist gewiß keine üppige Unterstützung. Aber wenn man sich manche Rente und manches Erwerbseinkommen von jemandem anschaut, die als Verkäuferin oder in den niedrigen Lohngruppen beschäftigt ist, dann kann man mit Fug und Recht davon sprechen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland mit diesen Beträgen Menschen, die Hilfe brauchen, ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. ({6}) Jahrelang haben wir gehört: Die Finanzierung von Arbeit ist besser als die Finanzierung von Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe. Jetzt präzisieren und realisieren wir diesen Grundsatz in der Sozialhilfe, und jetzt paßt Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, auch das wieder nicht. Deshalb bin ich nach wie vor der Auffassung: Wenn es um das Geplaudere über Reformbereitschaft geht, sind Sie Weltmeister. Wenn es aber um die tatsächliche Reformfähigkeit geht, aus Grundsätzen auch konkrete Politik zu machen, sind Sie eine deutsche Reclam-Ausgabe, eine absolute ReclamAusgabe. ({7}) Was spricht denn dagegen, bei dieser hohen Arbeitslosigkeit auch die Kommunen verstärkt in die Pflicht zu nehmen - nicht anstelle der Arbeitsämter, aber ergänzend -, daß sie sich verstärkt bemühen, daß für Arbeitslose, die besondere Handikaps haben - wie Ulf Fink sagte -, eine Brücke zur Arbeitswelt geschlagen wird? Ich bin jenen Kommunen in Deutschland dankbar, die dies mit großem Erfolg seit vielen Jahren praktizieren. Wir dürfen es nicht dabei belassen, daß es vielleicht 20 Prozent in Deutschland machen. Es sollen 100 Prozent der Kommunen machen. Ich habe erst vor kurzem die Stadt Würzburg besucht. Dies ist symptomatisch für Berlin, für Mannheim und viele andere große Städte. Die Stadt Würzburg hat in einem Jahr 280 Sozialhilfeempfängern Arbeit angeboten. 80 Prozent davon haben dieses Angebot angenommen und sind in reguläre Arbeitsverhältnisse vermittelt worden. Das war nicht nur ein Segen für die Sozialhilfeempfänger selbst, weil deren Perspektive ja nicht darin bestehen kann, weitere Jahre Sozialhilfe zu beziehen, sondern es hat auch den Kommunalhaushalt entlastet: 137 800 DM monatlich hat die Stadt Würzburg an Sozialhilfekosten dadurch gespart, daß sie nicht einfach Sozialhilfeempfänger verwaltet hat, sondern ihnen menschlichen Zuspruch, menschliche Hilfe und Vermittlung in Arbeit hat zuteil werden lassen. ({8}) Gestern habe ich in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen: „Scharping: Zuwanderung wie bisher ,nicht auszuhalten' " . Da spricht er davon - das habe auch ich hier im Bundestag schon x-mal gesagt -, daß wir jährlich 800 000 Arbeitserlaubnisse an Ausländer erBundesminister Horst Seehofer teilen. Das kritisiert jetzt auch der SPD-Fraktionsvorsitzende, und er fügt hinzu: Zwar seien darunter viele Saisonarbeiter, etwa ein Viertel dieser Tätigkeiten könne aber auch von deutschen Arbeitnehmern übernommen werden. ({9}) Meine Damen und Herren, genau das ist unsere Philosophie. Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen, daß 100 000, 200 000 arbeitslose Sozialhilfeempfänger, gerade wenn sie jünger sind, in Arbeit vermittelt werden. Dann sparen wir nicht nur Sozialhilfe, sondern es ist auch ein Stück Humanität, wenn Menschen, die sonst nicht mehr in die Arbeitswelt zu vermitteln wären, mit Hilfe des Sozialamtes wieder in Arbeit vermittelt werden. ({10}) Ich prophezeie Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, Sie werden hier im Deutschen Bundestag noch Mühe haben, die partielle Zustimmung des Bundesrates für Dinge zu erklären, die Sie heute hier ablehnen werden. Warum sollen denn 300 000 Sozialhilfeempfänger jährlich nur deshalb für sechs oder acht Monate auf Sozialhilfe angewiesen sein, weil die Renten- und die Arbeitslosenkassen zunächst prüfen und prüfen und prüfen? In der Zwischenzeit wird ein Antrag beim Sozialamt gestellt, wo auch geprüft wird, und anschließend bekommt das Sozialamt die Kosten vom Arbeitsamt erstattet. Da können wir doch gleich den Vorschuß über das Arbeitsamt ausbezahlen. Dann ersparen wir uns eine Menge Bürokratie und viele unangenehme Reibereien beim Hilfeempfänger. ({11}) Meine Damen und Herren, angesichts dieser Analyse der Ursachen für die Ausgabendynamik in der Sozialhilfe sage ich, daß wir die Höhe unserer Sozialleistungen wieder an unserer volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausrichten müssen. Wir wollen der Fehlfunktion der Sozialhilfe als Vorschußkasse ein Ende machen und Vorschüsse über die Arbeitsverwaltung zahlen lassen, und wir wollen die „Hilfe zur Arbeit" zur Überwindung der Langzeitarbeitslosigkeit massiv verstärken, was einen humanen Gewinn für die Betroffenen einerseits und Einsparungen bei den Kommunen andererseits bedeutet. Welcher vernünftige Politiker und welche vernünftige Politikerin kann sich gegen eine so behutsame Reform stellen? Ich habe den Eindruck, wenn ich mit der Bevölkerung zusammenkomme, daß die SPD weit neben den Empfindungen und Überzeugungen der Bevölkerung steht. Weit daneben! ({12}) Deshalb realisieren wir zwei Ziele, wobei man in der Tat vielleicht auch die Frage stellen kann, warum wir es nicht schon vor zwei oder drei Jahren getan haben. Nun, meine Damen und Herren, tun wir es, und es gibt keinen Grund, dagegen zu sein. Erstens vermeiden wir durch diese Sozialhilfereform den Langzeitbezug von Sozialhilfe. Es ist gut, daß die Bremer Studie, die ich schon zitiert habe, zu dem Ergebnis gekommen ist, daß Sozialhilfe in aller Regel ein Kurzzeit- und kein Dauerproblem ist, wenn es um die Hilfe zum Lebensunterhalt geht. Zweitens schaffen wir mit dieser Sozialhilfereform die Grundlagen dafür, daß wir auch in der Zukunft Menschen, die in Not geraten, menschenwürdig und auf hohem Niveau helfen können. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, auch in schwieriger wirtschaftlicher Situation durch eine Veränderung der konkreten Ausgestaltung der Hilfen dafür Sorge zu tragen, daß wir dieses hohe Niveau der Sozialsysteme auch in Zukunft finanzierbar halten. Nicht derjenige richtet sich gegen Bedürftige und kleine Leute, der reformiert, wie die Koalition, sondern derjenige, der Fehlentwicklungen nicht umsteuern kann, mit der Folge, daß wir die notwendigen Hilfen für Behinderte, für Pflegebedürftige, für Arbeitslose und Alleinerziehende in absehbarer Zeit nicht mehr gewähren können. ({13}) Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Zustimmung. Dies ist eine behutsame Reform, eine Reform mit Augenmaß, die den Menschen nicht schadet, sondern hilft. Die Sozialhilfe, die 1961 unter Federführung der Union geschaffen wurde, ist neben der Sozialversicherung und der Versorgung eine der wichtigsten Säulen unseres deutschen Sozialsystems und bleibt es auch für die Zukunft. Ich bitte um Ihre Zustimmung. ({14})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Geißler.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich wollte noch etwas zum Thema „Hilfen zur Arbeit" sagen, weil es hier Kontroversen gab. Der Kollege Fischer hat diesbezüglich im Zusammenhang mit München die Äußerungen des Ministers angezweifelt. Ich will einmal für das Jahr 1993 - die Zahlen liegen vor - folgendes sagen: In Berlin mit einer Einwohnerzahl von 3,4 Millionen gab es 44 140 Menschen, die von „Hilfe zur Arbeit" profitierten, die also als Sozialhilfeempfänger in Arbeit gekommen waren. In München mit einer Einwohnerzahl, die nur ein Drittel dessen beträgt, nämlich 1,2 Millionen, waren es ganze 1 600. In Relation zu Berlin müßten es in München jedoch 16 000 sein. In Hamburg mit 1,6 Millionen Einwohnern profitierten 1 600 Menschen davon. Damit will ich doch nur sagen ({0}) - ganz ruhig! -: Warum ist das, was in Berlin möglich ist - das ist zu einem großen Teil auch auf die Zeit zurückzuführen, als Ulf Fink als Sozialsenator die Sache in Gang gebracht hat; das darf man auch einmal anführen -, ({1}) nicht auch in anderen Städten möglich? Ich kann die Liste der Städte erweitern; es sind nicht nur sozialdemokratisch regierte Städte dabei. Ich frage nur: Warum soll das, was in Berlin möglich ist, nämlich das zweite Ziel, das mit der Sozialhilfereform verbunden ist, zu erreichen, nicht auch in anderen Städten möglich sein, Herr Fischer? Ich füge aus meiner Erfahrung noch folgendes hinzu, weil das eine Aufgabe ist, die sich uns allen stellt - Sie wie wir tragen in den Ländern und Städten Verantwortung -: Die Sozialhilfe in Deutschland ist, gemessen an entsprechenden Gesetzen in ganz Europa, nach wie vor das leistungsfähigste sozialpolitische Auffangsystem aller Industriestaaten. Jetzt geht es darum - ich glaube, das haben Sie gesagt -: Warum werden Sozialhilfeempfänger so behandelt?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Geißler, darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin sofort fertig.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Sie können keine Kurzintervention zu Zwischenrufen machen. Sie können nur eine Kurzintervention zu einem Redebeitrag machen.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einverstanden.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Deshalb muß ich Sie bitten, zum Ende zu kommen.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Ende. Deswegen sollten wir uns einmal mit der Frage beschäftigen, welche Menschen wir als verantwortliche Politiker in den Städten zum Beispiel mit Aufgaben im Bereich der Sozialhilfe betrauen. Wir sollten mehr Aufmerksamkeit darauf verwenden, daß qualifizierte Beamte die Leitung der Sozialämter übernehmen, damit die Sozialhilfe menschenwürdig realisiert werden kann und solche Aufgaben erfüllt werden können. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn, SPD-Fraktion.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier alle so behutsam und moderat argumentieren würden, wie Sie, Herr Geißler, es zum Schluß getan haben, gäbe es sicherlich weniger Streit. Dem aber, was heute abschließend zur Beratung vorgelegt wird und was von der Regierungskoalition großartig als „Reform" tituliert wird, wobei der Bundesgesundheitsminister dann auch noch Eigenschaften wie „behutsam" und „vorsichtig" in den Raum wirft, stelle ich meinen Kommentar in Kurzfassung gegenüber: Mit ihrem Werk präsentieren CDU/CSU und F.D.P. eine schlecht inszenierte Gruselkomödie, die, wenn sie in ihrer Wirkung nicht so schrecklich wäre, nur belächelt werden könnte. Der komödiantische Teil ist die ständige Drehbuchänderung bis in den gestrigen Abend hinein. ({0}) Geradezu lächerlich ist die Hektik, die Sie an den Tag legen, um dann nach dem Betreten der Bühne, ohne sich der Auseinandersetzung ernsthaft zu stellen, möglichst schnell wieder zu verschwinden. Zum Gruseln ist Ihr Verständnis von der Reform des Sozialstaates: Neuverteilung ausschließlich zu Lasten derjenigen, die ohnehin am wenigsten haben, die auch ohne Ihre Grausamkeiten eher am Rande als in der Mitte unserer Gesellschaft leben. Trotz einer geradezu vernichtenden Kritik nach der Generalprobe, nämlich nach der öffentlichen Anhörung, ({1}) bleibt die Bundesregierung bei ihrem Angriff auf den Sozialstaat, und der Auftritt des Regisseurs in Gestalt des Bundesgesundheitsministers hier kann diesen Eindruck nur verstärken. ({2}) Allerdings hat er sich an dieser öffentlichen Anhörung nicht beteiligt; er hat gar nicht erst zugehört, und die anderen haben die Kritik entweder nicht verstanden oder sie Schlichtweg ignoriert. So bleibt das, was heute vorliegt, das, was es von Anfang an war: ein Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Problemen, Ablenkung von Ihrer Unfähigkeit, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, Ablenkung von der Tatsache, daß die Schere zwischen Arm und Reich ständig größer wird. ({3}) Denen, die nur wenig haben, wird immer mehr genommen, und gleichzeitig zahlen immer mehr Reiche immer weniger Steuern. ({4}) Um es noch einmal klar zu sagen: Auch wir halten eine Reform des Bundessozialhilfegesetzes für notwendig, allerdings im Sinne einer qualitativen Weiterentwicklung der sozialen Hilfen. Die Sozialhilfe ist inzwischen für einen immer größeren Personenkreis zu einer dauerhaften Grundsicherung geworden: für die Arbeitslosen, für die Behinderten, für die Pflegebedürftigen, für die Zuwanderer, für die Asylbewerber, für die Flüchtlinge, für die Alleinerziehenden und für die Familien mit vielen Kindern. Durch zahlreiche Kürzungen von 1982 bis heute und dank der Klientelpolitik der F.D.P. ({5}) ist die Belastung der Schwachen und die Belohnung der Abzocker zum neuen Verteilungsmaßstab gemacht worden. ({6}) Besonders grausam und falsch ist die auch in dem heutigen Diskussionsbeitrag von Herrn Seehofer noch immer mitschwingende Unterstellung, daß Sozialhilfeempfänger arbeitsunwillig seien. Aber das ist empirisch eindeutig widerlegt, zuletzt durch die in dieser Woche von Ihnen selber zitierte Langzeitstudie aus Bremen. Hier wird nicht nur eindeutig nachgewiesen, was Herr Seehofer angesprochen hat, hier wird auch nachgewiesen, daß die Bundesregierung mit ihrer Unterstellung vom bequemen Leben in der sozialen Hängematte völlig danebenliegt. ({7}) Aber nun steht sie ja nicht völlig allein, indem sie das so formuliert. In jüngster Zeit hat sie ebenso lautstarke wie inkompetente Unterstützung von seiten der Bundesbank bekommen. Da beklagt die Bundesbank das angeblich nicht mehr eingehaltene Lohnabstandsgebot, und als Beispiel geben die Bänker das Hotel- und Gaststättengewerbe sowie den Einzelhandel an, Tarifgebiete also, in denen überwiegend besonders schlecht bezahlte Frauen Arbeit leisten. Deren Hungerlohn nehmen die Herren der Bundesbank als theoretisches Einkommen einer Modellfamilie, das sie unanständigerweise mit den Leistungen der Sozialhilfe vergleichen. ({8}) Bei der Bundesregierung, bei der Bundesbank und auch bei den Arbeitgeberverbänden und nicht bei den auf Sozialhilfe angewiesenen Menschen sind diejenigen zu finden, die den sozialen Frieden in Deutschland wirklich gefährden, weil sie Sozialleistungen nur noch als Soziallasten darstellen, die abgeschafft werden müssen. Mit dieser Politik verbreitet die Bundesregierung eine Stimmung in unserer Gesellschaft, in der nur noch der etwas gilt, der am Erwerbsprozeß teilnimmt. Wer ohne eigene Schuld daran gehindert wird, ist nichts mehr wert. Für die Betroffenen bedeutet das allerdings, daß sie nicht nur finanziell abgedrängt werden; ihnen wird auch jedes Selbstwertgefühl aberkannt. Das ist ein fundamentaler Angriff auf die Menschenwürde. Die hat nämlich nicht nur etwas mit Geld und Finanzen zu tun. ({9}) Eine Hauptursache für den Anstieg der Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen, die Massenarbeitslosigkeit, wird von der Bundesregierung zwar als Problem genannt, aber in Ermangelung eines Gesamtkonzeptes wurstelt sie mit Einzelmaßnahmen wie den §§ 20a bis 20c herum. Hauptursache der Massenarbeitslosigkeit, meine Damen und Herren von der Regierungsseite, sind die fehlenden Arbeitsplätze und nicht die unwilligen Arbeitslosen, die man, wenn sie nicht arbeiten wollen, bestrafen muß. Immer mehr Arbeitslose werden in die Sozialhilfe hineingedrängt. Dafür haben Sie die Verantwortung zu tragen und sonst keiner. Wenn Sie hinterher Vorschläge machen, um das zu reparieren, dann ist das allenfalls das Kehren vor der eigenen Haustür. Auf gar keinen Fall ist es eine wirkungsvolle Hilfe. ({10}) Wir, die SPD, kritisieren nicht nur. Wir haben auch ein Paket von Vorschlägen auf den Tisch gelegt. ({11}) - Wenn Sie gelegentlich einmal die Unterlagen lesen würden, würden Sie nicht so erstaunt sein. Ich verstehe aber, daß das Thema eine Vielzahl von Ihnen nicht interessiert. Wir, die SPD, kritisieren nicht nur, wir haben, wie gesagt, ein Paket von Vorschlägen. So kann nach unserer Überzeugung eine wirkliche Hilfe zur Arbeit nur durch eine unbürokratische und volle Einbeziehung von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern in die arbeitsmarktpolitische Förderung erzielt werden. Wir haben in unserem Entwurf einer Reform der Sozialhilfe, die den Nachrang von Sozialhilfe stärken soll, deshalb folgende Punkte vorgesehen: Erstens. Das Arbeitsförderungsgesetz muß so geändert werden, daß die aktive Arbeitsmarktpolitik auch für Sozialhilfeempfänger offen ist. Es ist eine Aufgabe der Politik, die Arbeitsmarktsituation zu gestalten, und nicht eine Aufgabe der Kommunen vor Ort oder gar der Sozialhilfeempfänger. ({12}) Zweitens. Die Lohnersatzleistungen, vor allem die Arbeitslosenhilfe, müssen so geändert werden, daß Arbeitslose keine ergänzende Sozialhilfe mehr in Anspruch nehmen müssen. Der schlechteste Weg überhaupt ist die zeitliche Befristung oder Kürzung der Arbeitslosenhilfe. ({13}) Aber was tun Sie, was Sie heute vielleicht noch mit einem Rest von Schamgefühl verschweigen, am 9. Februar? Sie machen deutliche Einschnitte bei der Arbeitslosenhilfe, die dazu führen, daß direkt noch mehr Menschen bei den kommunalen Sozialämtern landen. ({14}) Man kann nicht müde werden, es zu wiederholen: Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, Sie bekämpfen die Arbeitslosen, und das auch noch zu Lasten der Kommunen. Eine solche Politik steht in krassem Widerspruch zu den neuesten Versprechungen, Beitragszahler zu entlasten und den Kommunen mehr Spielräume zu verschaffen. Weitere Kernpunkte unseres Antrages: eine Dynamisierung des Kindergeldes auch über 1997 hinaus. Kinderreichtum darf nicht länger zur Armutsfalle werden. Das Wohngeld muß deutlich angehoben werden. Für Behinderte ist ein eigenes Leistungsgesetz zu schaffen. Generell streben wir eine bedarfsorientierte soziale Grundsicherung an. Deshalb lehnen wir den Entwurf der Bundesregierung entschieden ab. Er ist nur Stückwerk und keine wirkliche Reform der Sozialhilfe. Die erforderlichen Verknüpfungen mit Reformen der vorrangigen Sicherungssysteme werden nicht vorgenommen. Die aber sind unverzichtbar, wenn die Leistungsfähigkeit der Sozialhilfe auf Dauer sichergestellt werden soll. Sozialhilfe, meine Damen und Herren, als individuelle Hilfe für Arme muß mit dem Kampf gegen die Armut verbunden werden. Eine Reform des Sozialstaates muß dort beginnen, wo es sich am meisten lohnt. Eine so definierte Leistungsorientierung der Bundesregierung wäre ein echter Fortschritt. ({15})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Ulrike Mascher.

Ulrike Mascher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001432, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Seehofer hat in seiner Rede als positives Beispiel die Stadt Würzburg genannt, die vorbildliche Arbeitsgelegenheiten für Sozialhilfeempfänger schaffe. Ich denke, es gibt gute Beispiele in allen Bundesländern, wo Sozialdezernenten und Sozialreferenten - die Bezeichnungen sind ja unterschiedlich -, wo Leiter und Leiterinnen von Sozialämtern mit großem Engagement und mit großer Sensibilität Arbeitsgelegenheiten für Sozialhilfeempfänger schaffen. Eine Zukunftsperspektive für Sozialhilfeempfänger bieten auch alle Projekte, die, wie zum Beispiel in München, tarifvertraglich entlohnte Arbeiten bieten, um den Arbeitslosen langfristig eine Chance zur dauerhaften Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu geben. Ich denke, man sollte hier nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, nämlich die Beschäftigung mit Mehraufwandsentschädigung mit der Beschäftigung, die langfristig eine Perspektive bietet, nämlich mit Arbeitsverträgen. ({0}) Bei einer solchen Beschäftigung ist auch eine intensive Betreuung und Beratung für die Betroffenen notwendig; denn die haben noch Probleme neben ihrer Arbeitslosigkeit. Sie haben Gesundheitsprobleme, sie sind meistens hoch verschuldet, sie haben häufig keine ausreichende Kinderbetreuung, und sie haben keine bezahlbare brauchbare Wohnung. Das erfordert engagierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ich hoffe, Herr Geißler, ich habe Sie mißverstanden, daß Sie hier mehr Sensibilität und mehr Engagement bei diesen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefordert haben. Ich habe in meiner kommunalpolitischen Praxis nur ganz ungewöhnlich engagierte und hochbelastete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erlebt. Die Kommunen sind hier in einem hohen Maße gefordert, ihre Mitarbeiter zur Verfügung zu stellen, aber auch ausreichende Finanzmittel. In München wird es getan. Es sind Beträge in Millionenhöhe, die für die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen erforderlich sind. Ich hätte mich gefreut, wenn außer der Erschwerung durch zusätzliche Paragraphen im Bundessozialhilfegesetz für solche Arbeitsgelegenheiten auch eine finanzielle Entlastung der Kommunen erfolgt wäre. Ich sehe das nicht. Ich sehe bei dieser schwierigen Arbeit nur eine Verschlechterung der rechtlichen Situation. Ich bedaure das sehr. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Keine Gegenrede? - Dann hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kollege Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete Lehn, ich war nach der Ankündigung der Abgeordneten Frau Lange sehr gespannt auf die Alternativen der sozialdemokratischen Fraktion. Aber da - das muß ich nun wirklich sagen - sind wir schwer enttäuscht worden. ({0}) Das einzige, was Sie gesagt haben, Frau Lehn, war doch, daß künftig die Gemeinden im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht mehr für die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger eintreten sollen, sondern das Ganze den Arbeitsämtern übertragen werden soll. Dann werden natürlich auch die Kosten dorthin verlagert; das ist ja klar. ({1}) Aber ich frage Sie erneut - ich habe Sie letztlich schon einmal danach gefragt -: Wie kommt es eigentlich, daß Rudolf Dreßler auf der einen Seite mit Blick auf die Erhaltung des Sozialversicherungssystems zu Recht sagt, versicherungsfremde Leistungen dürfen nicht bezahlt werden, während Sie sagen, daß die Arbeitslosenversicherung die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger übernehmen soll, obwohl der wichtigste Grundsatz einer Versicherung nicht gegeben ist. Denn ein Versicherungsfall, der bereits eingetreten ist, kann nicht noch einmal versichert werden. ({2}) Der Grund dafür, warum Arbeitslose Sozialhilfeempfänger sind, ist ja die Arbeitslosigkeit. Da ist also der Versicherungsfall bereits eingetreten. Es ist der schwerste Verstoß gegen das Versicherungsprinzip, was Ihr Vorschlag beinhaltet. ({3}) Das können Sie doch nicht machen und auf der anderen Seite sagen, die Vorschläge, die Rudolf Dreßler gemacht habe, müßten verwirklicht werden. Ich sage Ihnen dazu - ich glaube, das kann man wirklich begründen -: Die Sozialdemokraten haben es außerordentlich schwer, mit dem Sozialhilfesystem richtig umzugehen, weil sie keinen wirklichen Bezug dazu haben. ({4}) Deshalb ist es kein Wunder, daß es die Unionsparteien waren, die 1961 das große Sozialhilfegesetz verabschiedet haben. Es war zu der Zeit, als Sie die Regierung in Bonn stellten, wiederum ein Christdemokrat - es war Heiner Geißler -, der Sie überhaupt erst auf ein Thema aufmerksam machen mußte, daß es nämlich noch Armut in einem Wohlfahrtsstaat gibt. Horst Seehofer ist es, der dafür sorgt, daß es eine moderne Sozialhilfereform geben wird, die bewirkt, daß Menschen nicht länger nur vom Sozialamt alimentiert werden. Vielmehr sorgen wir dafür, daß sie wieder auf eigene Beine kommen. Das ist moderne Sozialpolitik. Was Sie machen, ist uralte Sozialpolitik. Die paßt nicht mehr in unsere Zeit. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Lehn.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fink, wenn mir ein Redebeitrag nicht paßt, dann kann ich mich ärgern und kann vielleicht auch toben. Aber ich finde es unklug, bei einem Redebeitrag, der protokolliert wird, etwas zu unterstellen, was ich niemals gesagt habe. ({0}) Das finde ich dumm, mit Verlaub. Lassen Sie mich auf zwei andere Aspekte, die Sie angesprochen haben, eingehen. Wenn Sie von einem wirklichen Bezug sprechen, dann glaube ich, daß mein wirklicher Bezug sehr viel mehr Realitätsnähe hat als Ihr wirklicher Bezug. Damit meine ich mich persönlich wie auch meine Partei. ({1}) Ich will Ihnen das auch sehr gern erklären. Sie können nämlich einmal bei einem sehr kompetenten Mann, wie ich finde, nämlich dem Sozialethiker Friedhelm Hengsbach - Sie können auch mit diesem Herrn reden -, nachlesen: Bürgerinnen und Bürgern, die von Sozialabbau und Sozialhilfekürzungen bedroht sind, - beides machen Sie werden elementare Lebenschancen entzogen. Es werden ihnen Möglichkeiten genommen, sich am politischen Leben zu beteiligen. Wenn Sie aber Menschenrechte als Freiheitsrechte, als soziale Grundrechte und als politische Beteiligungsrechte definieren, ({2}) dann werden durch diese Ausgrenzungspolitik Menschenrechte verletzt. Das zu Ihrer Wirklichkeitsnähe. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Sozialhilfe. Das sind die Drucksachen 13/ 2440, 13/2764 und 13/3904 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? ({0}) Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3905. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Reform des Sozialhilferechts. Das ist Drucksache 13/3904 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2442 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entlastung und Weiterentwicklung der Sozialhilfe. Das ist Drucksache 13/3904 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2437 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS zum Mehrbedarf der Sozialhilfe in den neuen Bundesländern, Drucksache 13/3904 Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/275 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Sicherung der Aufgaben des Bundessozialhilfegesetzes, Drucksache 13/3904 Nr. 5. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2438 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 1994 ({2}) - Drucksachen 13/700, 13/2649 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Augustinowitz Dieter Heistermann Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat jetzt der Kollege Augustinowitz, CDU/CSU-Fraktion.

Jürgen Augustinowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Bericht 1994 ist noch von dem Kollegen Alfred Biehle, dem Vorgänger unserer neuen Wehrbeauftragten, vorgelegt worden. Frau Wehrbeauftragte selbst wird am Dienstag nächster Woche den Bericht 1995 vorlegen. Ich darf an dieser Stelle beiden Wehrbeauftragten und auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich für ihre Arbeit zum Wohle unserer Soldaten danken. ({0}) Das erste Themenfeld, mit dem sich der Wehrbeauftragtenbericht 1994 beschäftigt, ist die Bereitschaft der Wehrpflichtigen zur Wehrdienstleistung. Der Bericht bescheinigt den Wehrersatzbehörden erhebliche Schwierigkeiten . . ., der Truppe die benötigten Rekruten insbesondere in qualitativer Hinsicht zur Verfügung zu stellen. Wichtigster Grund für die Schwierigkeiten bei der personellen Bedarfsdeckung waren 1994 125 000 KDV-Anträge. Mittlerweile liegen auch die Zahlen für 1995 vor. Sie sind leider weiter gestiegen, auf 160 000. Diese hohe Zahl kann auch nicht ausschließlich mit dem Argument geschönt werden, im vergangenen Jahr seien entsprechend mehr Wehrpflichtige gemustert worden. Die entscheidende Tatsache ist, daß immer weniger Wehrpflichtige eines Jahrganges der Bundeswehr zur Verfügung stehen. Hier findet ein massenhafter Mißbrauch des Rechtes auf Wehrdienstverweigerung statt. ({1}) Es geht mir nicht darum, die Gewissensentscheidung eines einzelnen zu kritisieren. Es muß aber unmißverständlich deutlich gemacht werden, daß sich derjenige, der aus rein praktischen Gründen den Wehrdienst verweigert, ganz bewußt seiner persönlichen Verantwortung für den Frieden entzieht. Das weitere deutliche Ansteigen der KDV-Zahlen bedeutet eine ernstzunehmende Schwierigkeit für die personelle Lage der Streitkräfte. Die Grundwehrdienstleistenden sind nämlich der Sockel, auf dem die Streitkräfte stehen. Schwierigkeiten bei der personellen Bedarfsdeckung im Bereich der Grundwehrdienstleistenden setzen sich auch in anderen Dienstgradgruppen fort. Im laufenden Jahr gibt es zum Beispiel ein beträchtliches Fehl an Unteroffizieren. Die Bundesregierung hat die Geldansatzstärke im Haushalt 1996 um 5 500 gesenkt, so daß zumindest diese Zahl nicht zur Verfügung steht. Das ist um so bedenklicher, da wir den Wehrdienst verkürzt haben und gerade für die Ausbildung in nur zehn Monaten eine hohe Führerdichte notwendig wäre. Beim Offiziersnachwuchs sieht das Personalstrukturmodell 370 einen jährlichen Ergänzungsbedarf von 2 150 Offiziersanwärtern vor. Die tatsächliche Quote betrug 1995 nur 69 Prozent. Diese Unterschreitung, die bereits seit mehreren Jahren stattfindet - das ist das Schlimme - wird bald zu einem erheblichen Fehl an jungen Offizieren führen. Der dritte Offizier in der Einheit ist nicht mehr zu realisieren. Es wird insbesondere im Heer Probleme geben, überJürgen Augustinowitz haupt zwei Offiziere in der Einheit zu halten. Häufig wird der Kompaniechef der einzige Offizier sein - mit allen negativen Auswirkungen, die das auf die Ausbildung und die Erziehung der Soldaten hat. Man sieht an diesen Beispielen sehr deutlich, daß es für die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr insgesamt von Bedeutung ist, den Trend bei der Wehrdienstverweigerung zu stoppen und umzukehren. Bei dieser Aufgabe steht die gesamte Bundeswehr in der Pflicht. Die Bundeswehr muß sich noch stärker um die jungen Männer bemühen. Die Bundeswehr darf sich nicht nur als Eingriffsbehörde verstehen. Das betrifft insbesondere auch die Kreiswehrersatzämter. In dem heute zu beratenden Bericht heißt es dazu: Im übrigen gilt es, sich stets bewußt zu bleiben, daß die Wehrersatzbehörden für die Wehrpflichtigen der erste Berührungspunkt mit dem „Bund" sind. Ihre Einstellung zu dem von ihnen verlangten Dienst sowie das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit werden hierdurch mitgeprägt. Eine bürgerfreundlichere Gestaltung von Musterung und Einberufung fordert auch der Beirat für Fragen der Inneren Führung. Man sagt, der erste Eindruck sei der wichtigste. Das zeigt schon, welche Bedeutung der Arbeit der Kreiswehrersatzämter zukommt. Ihre Arbeit ist auch deshalb so wichtig, weil sie zu dem Zeitpunkt mit den Wehrpflichtigen in Kontakt geraten, zu dem die Entscheidung zur Verweigerung bei vielen noch nicht gefallen ist. Die Kreiswehrersatzämter müssen - wie die gesamte Bundeswehr - den Wehrpflichtigen als Kunden betrachten. Für einen solchen besseren Service am Kunden ist es allerdings dringend erforderlich, daß die personelle wie die materielle Ausstattung der Kreiswehrersatzämter verbessert wird. Der Gesetzgeber muß die Bundeswehr bei ihren Bemühungen unterstützen, zu einem attraktiveren Dienst für den Wehrpflichtigen zu werden. Wir haben als Koalition im letzten Jahr ein ganzes Maßnahmenpaket dazu vorgelegt. Ein Beispiel: Ein Grundwehrdienstleistender im fünften Dienstmonat, der ungefähr 100 Kilometer von zu Hause entfernt seinen Dienst tut, bekommt heute gegenüber dem letzten Jahr 60 Prozent mehr Wehrsold. Das haben wir in der Koalition umgesetzt, und das ist positiv. ({2}) Gefordert ist jetzt aber auch die Hardthöhe. Es ist die entscheidende politische Führungsaufgabe, den Fehlentwicklungen im Personalbereich mit geeigneten Maßnahmen wirksam entgegenzusteuern, um so die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte dauerhaft sicherzustellen. Auf diesem Gebiet hat es im BMVg in den letzten Jahren ein Umsetzungsdefizit gegeben. Die französische Regierung hat in der vergangenen Woche ihre Absicht erklärt, im Bereich der Wehrpflicht Änderungen vorzunehmen. Die Überlegungen in Frankreich werden in Deutschland von denjenigen dankbar aufgenommen und übereifrig auf unsere Streitkräfte übertragen, die seit jeher die Abschaffung der Wehrpflicht als Vorstufe zur Abschaffung der Bundeswehr betreiben. Die Grünen haben kürzlich wieder einen entsprechenden Antrag hierzu vorgelegt. Jeder Staat muß jedoch entsprechend seiner eigenen Voraussetzungen und Interessen in nationaler Entscheidung seine Wehrform festlegen. Deutschland hat eben nicht die Absicht, binnen weniger Tage 50 000 bis 60 000 Soldaten nach Übersee zu entsenden. Das ist nicht unsere Vorstellung von deutscher Verteidigungspolitik im nächsten Jahrhundert. ({3}) Der Hauptauftrag der Bundeswehr ist und bleibt die Landes- und Bündnisverteidigung. Die Wehrpflicht ist die Wehrform, die diesem Auftrag am besten entspricht. Deutschland ist die zentrale Landmacht in Europa. Bei unserer geostrategischen Lage und der politischen Bedeutung Deutschlands ergibt sich die Notwendigkeit, Landstreitkräfte in einem gewissen Umfang aufrechtzuerhalten. Die sicherheitspolitisch erforderliche Präsenzstärke der Bundeswehr kann qualitativ und quantitativ nur auf der Grundlage der Wehrpflicht gewährleistet werden. Der rasche Aufwuchs auf Verteidigungsstärke im Spannungsfall wäre ohne die in der Reserve befindlichen Wehrpflichtigen nicht möglich. Was übrigens die Qualität und Leistungsfähigkeit der Bundeswehr anbetrifft, ist es ein Trugschluß, zu glauben, die Bundeswehr werde besser, wenn man die Grundwehrdienstleistenden aus den Streitkräften herausdrängen würde. Wehrpflicht und Professionalität schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Die Wehrpflicht ermöglicht den Zugang zu allen Schichten unserer Jugend. Durch die Wehrpflicht erhält die Bundeswehr einen großen Teil ihres Führungsnachwuchses. Die Wehrpflichtigen dürfen auch nicht durch ständige Debatten über die Wehrpflicht verunsichert werden. Sie müssen - im Gegenteil - viel besser als bisher über die Wehrpflicht und ihre Bedeutung für unseren Staat informiert werden. ({4}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Initiative der Wehrbeauftragten, sich bei der Kultusministerkonferenz für eine bessere Information der Wehrpflichtigen in den Schulen einzusetzen. ({5}) Vor wenigen Wochen, meine Damen und Herren, hat dieses Parlament beschlossen, daß sich DeutschJürgen Augustinowitz land an der militärischen Absicherung des Friedensabkommens für Bosnien beteiligt. Seitdem erfüllen Soldaten der Bundeswehr mit hoher Motivation ihren Auftrag. Wir wissen, daß dieser Auftrag gefährlich ist. Wir alle hoffen, daß der Einsatz zu einem dauerhaften Frieden in Bosnien führen wird. Wir grüßen an dieser Stelle all unsere Soldaten im ehemaligen Jugoslawien. Wir hoffen - ich glaube, wir alle zusammen -, daß alle Soldaten wohlbehalten von ihrem Friedenseinsatz zurückkehren werden. Vielen Dank. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dieter Heistermann, SPD-Fraktion.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über den Jahresbericht 1994 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Alfred Biehle, dessen Amtszeit im April 1995 endete. Die Koalition hat sich über Monate hin geweigert, den Jahresbericht 1994 des Wehrbeauftragten auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen. Heute ist es nun soweit. Es handelt sich sozusagen um ein „last-minute-call"; denn am Dienstag der nächsten Woche wird offiziell der Jahresbericht von 1995 übergeben. Wir haben eine zweistündige Debatte gefordert. Die Koalition hat eine Stunde „genehmigt" - ein fürwahr sehr unverständliches Verhalten der Regierungsmehrheit im Parlament im Zusammenhang mit einem Thema, dem sie sonst angeblich immer oberste Priorität einräumt. ({0}) Hier klaffen - wie in so vielen anderen Fällen - Anspruch und Wirklichkeit der Koalition weit auseinander. Für die SPD-Bundestagsfraktion übe ich an diesem Verhalten der Koalition, aber auch ihrer Mehrheit im Ältestenrat unseres Hauses massive Kritik. Lippenbekenntnisse für unsere Soldaten reichen allein nicht aus. So darf man mit einem in unserer Verfassung begründeten Organ dieses Parlamentes nicht umgehen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der wohl bedeutendste Vorgang für das Parlament und die Soldaten war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 zur Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Jetzt ist klar: Die Bundeswehr ist ein „Parlamentsheer"; denn ohne die konstitutive Zustimmung des Parlamentes kann kein Einsatz der Bundeswehr erfolgen. Von gleicher Bedeutung war sicherlich die Entscheidung dieses Parlamentes im vorigen Jahr, sich mit Bundeswehrsoldaten an der militärischen Absicherung des Friedensabkommens von Dayton zu beteiligen. Beides bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Heute wissen die Soldaten, daß sie sich bei der Durchführung ihres Auftrages auf ein breites Vertrauen des Parlamentes und der Bevölkerung abstützen können. Wir wünschen - ich schließe mich ausdrücklich meinem Vorredner an -, daß alle Soldaten gesund zurückkommen. Wir wünschen aber auch, daß der Grundsatz dieses Einsatzes „Sorgfalt vor Eile" oberste Priorität behält. Die Übermittlung unseres Wunsches und unseres Dankes für ihren Einsatz kann sicherlich im Namen des ganzen Hauses erfolgen. ({2}) Wir danken aber auch den Soldaten, die nicht im Lichte der Fernsehkameras stehen, also jenen Soldaten, die die Ausbildung unserer Soldaten planen, vorbereiten und durchführen, die Material prüfen oder neu beschaffen. Auch die vielen zivilen Mitarbeiter möchten wir in diesen Dank einschließen. Der Verteidigungsminister sonnt sich zur Zeit in positiven Berichten der Presse über den guten Verlauf des Bosnien-Einsatzes unserer Soldaten, den auch wir alle begrüßen. Das darf uns aber nicht dazu verleiten, über den inneren Zustand der Bundeswehr hinwegzusehen. Auch in seinem letzten Jahresbericht übt der Wehrbeauftragte Biehle erneut heftige Kritik. Er fordert Wehrgerechtigkeit und Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes. Er moniert die Fehlentwicklungen in der Traditionspflege der Bundeswehr und kritisiert ihre Unterfinanzierung. Er weist auf gravierende Verstöße gegen die Grundrechte der Soldaten und die Menschenwürde hin, und er befürchtet die Diskriminierung der Soldaten. Die Bundeswehr befindet sich seit fünf Jahren in einem weitgehenden Wandlungsprozeß. Neue Strukturen, reduzierter Personalumfang und ein erweitertes Aufgabenspektrum kennzeichnen diesen Prozeß. Was da alles auf den Tischen der Truppe gelandet ist, war weltmeisterlich - nur kein Glanzstück. Das Wort „Planung" hat inzwischen einen bitteren Beigeschmack bekommen. Da ist unnötigerweise das Vertrauen in die Zukunft der Streitkräfte zerstört worden. Von einer ordnenden Hand war oft nichts zu spüren. Der Hinweis des Ministers, Planung sei ein dauernder Prozeß und die Umstrukturierung der Truppe ein langfristiger Vorgang, hilft den betroffenen Menschen wenig. Sie fühlen sich zu oft auf dem Schachbrett des Hauses hin- und hergeschoben. Nur durch Planungssicherheit kann Planungsvertrauen geschaffen werden, sonst nimmt die innere Kündigung Formen an, die niemand verantworten kann. Die Soldaten warten sehnsüchtig auf das ausgeplante Personalstrukturmodell von 340 000 Soldaten. Soldaten erwarten zu Recht, daß die Entscheidungen im BMVg auf einer soliden Personalplanung erfolgen. Die Soldaten wissen, daß sie umziehen müssen, aber doch bitte unter Beachtung und Einhaltung guter Personalführungsgrundsätze; von den unnötigen Kosten ganz zu schweigen. Wie wichtig ein klarer Auftrag für die Bundeswehr ist, kann man bei der Umsetzung des Bosnien-Auftrags in der Truppe sehen. Verantwortliche, deren Truppenteile jetzt im Bosnien-Einsatz sind, bekennen offen, daß sie seit vielen Jahren zum erstenmal wieder richtig gefordert sind. Sie identifizieren sich mit den neuen Herausforderungen; sie erkennen, wie wichtig, unter Umständen überlebenswichtig, eine solide Ausbildung der Soldaten ist, für die sie persönlich Verantwortung tragen. Die Fragen des Wofür und Wozu haben wieder Inhalt bekommen. In der jungen Generation ergibt sich ein anderes Bild: Die Verweigererzahlen steigen, die Tendenz geht auf 30 Prozent zu. Die Haltung der Jugend zur Bundeswehr läßt sich in etwa so erklären: im Prinzip gut und nötig, aber ohne mich. Diese Haltung nimmt zu, zumal die Heimatnähe des Zivildienstes attraktiver ist; denn etwa 37 Prozent der Wehrpflichtigen dienen 100 bis 700 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Bei einer Veranschlagungsstärke von 337 000 Soldaten für 1996 räumt das Bundesministerium der Verteidigung einen Ergänzungsbedarf von rund 196 000 Soldaten ein. Der Ergänzungsbedarf beträgt bei den Soldaten auf Zeit 30 000, bei den Grundwehrdienstleistenden und freiwillig Wehrdienstleistenden 180 000. Die 30 000 benötigten Soldaten auf Zeit sollen aus 16 000 Einstellungen als Soldat auf Zeit und aus 14 000 Weiterverpflichtungen während des Grundwehrdienstes gewonnen werden. Das Bundesministerium der Verteidigung rechnet damit, daß sich von den 180 000 nicht nur 14 000 zum Soldaten auf Zeit verpflichten, sondern zusätzlich 20 000 freiwillig länger Wehrdienst leisten. Wir können dem Verteidigungsminister nur wünschen, daß er diese Zahlen erreicht. Falls diese Zahlen nicht erreicht werden, wird die Bundeswehr von den Folgen noch lange belastet sein. Schon heute fehlen nach dem derzeitigen Planungsstand des Personalstrukturmodells 340 rund 2 600 Soldaten auf Zeit - Mannschaften - und 4 800 Unteroffiziere. Wie unter diesen Bedingungen die Bundeswehr im Inneren gesunden kann, bleibt das große Geheimnis des Bundesministers der Verteidigung. Lassen Sie mich an dieser Stelle auf ein besonderes Problem aufmerksam machen. Durch Eingaben an mich habe ich immer häufiger feststellen müssen, daß verstärkt auf lebensältere Wehrpflichtige zurückgegriffen und auf deren persönliche Situation keine Rücksicht genommen wird. Viele der lebensälteren Wehrpflichtigen sind bereits verheiratet und stehen schon in einem anspruchsvollen Arbeitsverhältnis. Einige sind selbständige Unternehmer und beschäftigen ihrerseits Mitarbeiter. Diese Einberufungspraxis ist absurd. Was sollen 27jährige Grundwehrdienstleistende in der Bundeswehr? In der Gesellschaft wird darüber nur noch der Kopf geschüttelt. Durch eine solche Praxis wird ein Bild von der Bundeswehr vermittelt, welches ihr nur schaden kann. Hier besteht Handlungsbedarf! Die Bundesregierung wäre gut beraten gewesen, unseren Gesetzentwurf zur Begrenzung des Einberufungshöchstalters auf 25 Jahre anzunehmen. ({3}) Sie hat sich in der Theorie zwar unseren Vorstellungen angenähert und will auch nur bis zu einem Alter von 25 Jahren einberufen, doch die Praxis besagt eindeutig etwas anderes. Was ist aus unserer Sicht zur möglichen Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu tun? - Wir wissen alle, daß das eigene Erleben und die Erlebnisberichte aus der Bundeswehrdienstzeit im Familien- und Bekanntenkreis das Bild von der Bundeswehr prägen. Aus meiner Sicht ist die „Mundwerbung" immer noch das beste. Hier liegt eindeutig das Manko: Die Realität in der Bundeswehr ist noch nicht so, daß von der Mundwerbung besonders positive Signale ausgehen. Diese Aufgabe ist nicht gelöst; hier gilt es anzusetzen. Vorfälle - auch bei Truppenteilen in meinem Wahlkreis -, die an Verwerflichkeit kaum noch zu überbieten sind, hielt ich für überwunden. Doch wächst auch in mir erneut die Sorge, daß sich einige Vorgesetzte in der Ausbildung sowie in der Menschenführung zunehmend brutal und menschenverachtend verhalten. Was da als harte, fordernde und professionelle Ausbildung praktiziert wird, ist nicht nur Ausdruck des Mißbrauchs der Befehls- und Kommandogewalt, sondern läßt auf ein Menschenverständnis schließen, welches in der Bundeswehr keinen Platz haben darf. ({4}) Es ist nicht mehr zu übersehen, daß in den Streitkräften bei der Frage der Menschenführung unterschiedliche „Modelle" praktiziert werden. Wir begrüßen deshalb das konsequente Vorgehen des Ministeriums, unfähige Vorgesetzte aus der Truppe zu entfernen. Nur durch intensive und sorgfältige Dienstaufsicht können die im Jahresbericht geschilderten Auswüchse vermieden werden. Es muß ohne Rücksicht auf Personen hart durchgegriffen werden. Bekommen aber die Streitkräfte die Auswüchse nicht in den Griff, sehe ich für unsere Wehrpflichtigenarmee fundamentale Probleme voraus. Die erhöhten Anforderungen im Bereich der Menschenführung erfordern gut ausgesuchte und ausgebildete sowie in der Demokratie gefestigte Vorgesetzte. Besonders wichtig sind auch die Feststellungen des Wehrbeauftragten zu der Entwicklung des Traditionsverständnisses in der Bundeswehr. Vielerorts sind Mängel des Traditionsverständnisses erkennbar geworden, was in dieser Form nicht zu akzeptieren ist. Wir wissen, daß nur durch besseren staatsbürgerlichen Unterricht - der aber auch durchzuführen ist - das falsche und gedankenlose Traditionsbewußtsein, das überzogene Elitedenken sowie das unkritische Verhalten zur jüngsten deutschen Geschichte zu verhindern ist. Die Bundeswehr hat in 40 Jahren eine eigene Tradition und Vorbilder geschaffen, die es zu wahren und weiterzuentwickeln gilt. Es obliegt dem Bundesminister der Verteidigung und der militärischen FühDieter Heistermann rung, die bestehenden Traditionsrichtlinien durchzusetzen und Fehlentwicklungen zu unterbinden. Wir bitten Sie und erwarten von Ihnen, Frau Wehrbeauftragte Marienfeld, daß Sie diesen Entwicklungen Ihre besondere Aufmerksamkeit schenken. Es ist wohl richtig, daß das Interesse der Jugendlichen an sicherheitspolitischen Themen unverändert gering ist. Daher reicht es auch nicht aus, Jugendoffiziere in die Schulen zu schicken. Wer allerdings meint, die Probleme der Bundeswehr durch Werbeanzeigen für Längerdienende und Berufssoldaten in bestimmten Zeitungen lösen zu können, die nicht einmal zur normalen Lektüre von jungen Menschen gehören, der verfehlt seine Aufgaben. Anzeigen aus Gefälligkeit bringen der Bundeswehr nichts. ({5}) Ganz bestimmt reicht es auch nicht aus, nur in Sonntagsreden ständig die „Armee unserer Söhne" zu beschwören, wie es der Herr Bundeskanzler bei entsprechenden Gelegenheiten immer tut. ({6}) Wir bieten dem Bundesminister der Verteidigung an, über die Probleme der Wehrpflichtarmee gemeinsam zu beraten und Lösungsansätze zu finden. In einer gemeinsamen Wehrstrukturkommission wäre das ein wichtiges Thema gewesen. Diesem Verfahren haben Sie sich aus unerfindlichen Gründen bisher immer widersetzt. Vielleicht gelingt jetzt der Versuch einer Annäherung. Das Parlament muß aufpassen, daß die innere Befindlichkeit der Bundeswehr nicht unter dem massiven öffentlichen Druck des Bosnien-Einsatzes übersehen wird. Dem gilt es sich zu widersetzen. Denn es gibt auch einen anderen Alltag in der Bundeswehr. Die SPD-Bundestagsfraktion wird unseren Soldaten und ihren Familien sowie den zivilen Mitarbeitern immer ein fairer Ansprechpartner und Interessenvertreter sein. Wir werden uns auch zukünftig konstruktiv an der Lösung der Probleme der Bundeswehr beteiligen. Ihren Bericht, Frau Wehrbeauftragte, werden wir demnächst zu diskutieren haben. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, Schaden und Fehlentwicklungen in und von unserer Bundeswehr abzuwenden. Frau Wehrbeauftragte, bitte übermitteln Sie allen Mitarbeitern Ihres Amtes unseren Dank für ihre vorbildliche Arbeit. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht 1994 ist für mich als parlamentarischer Neuling der erste Jahresbericht, an dessen parlamentarischer Beratung ich teilnehme. Gestatten Sie deshalb eine kurze, grundsätzliche Vorbemerkung dazu. In das Amt des bzw. der Wehrbeauftragten werden immer Persönlichkeiten gewählt, die sich durch besondere Loyalität zur Bundeswehr auszeichnen. Deshalb finde ich es bemerkenswert, wie offen und differenziert Mängel in der Bundeswehr beim Namen genannt werden und dabei das Risiko eingegangen wird, den einen möglicherweise als Nestbeschmutzer zu erscheinen oder von anderen pauschalisierend interpretiert zu werden. Für die parlamentarische Kontrolle der Bundeswehr ist der Bericht des Wehrbeauftragten wertvoll und unverzichtbar. ({0}) Wenn allerdings der Bericht erst 11 Monate und drei Wochen nach Herausgabe hier debattiert wird, dann ist das eine faktische Abwertung dieses Berichts, und das muß sich schleunigst ändern. ({1}) Zum Punkt Führungsverhalten in der Ausbildung: Im Rahmen des erweiterten Auftrags der Bundeswehr wird - so stellt auch der Wehrbeauftragte fest - der Forderung nach mehr Härte in der Ausbildung und größerer Professionalität ersichtlich entsprochen. Wenn der Wehrbeauftragte dann feststellt, daß Ausbilder bei ihren Rekruten wiederholt den Eindruck hinterlassen, daß befohlene Ausbildungsübungen vor allem als Strafe gedacht sind, daß sich Vorfälle häufen, daß Rekruten über sinnlose Bewegungsübungen berichten, und daß Vorgesetzte wiederholt Kollektivmaßnahmen wegen des Fehlverhaltens einzelner befehlen, dann ist das eine beunruhigende Tendenz; denn solche Schikanen geschehen nicht in einer Bundeswehr sozusagen als Überbleibsel aus der Wehrmacht, sondern in einer Armee mit 40 Jahren Innerer Führung. Zur politischen Bildung: Der Anspruch der politischen Bildung in der Bundeswehr ist hoch. Sie soll nämlich Überzeugungsarbeit für die demokratische Grundordnung und den Bundeswehrauftrag, für den „Staatsbürger in Uniform" leisten, und zwar durch das beispielhafte Verhalten der Vorgesetzten im Alltag und durch staatsbürgerlichen Unterricht. Zumindest die Realität des staatsbürgerlichen Unterrichts steht dem diametral entgegen. Der Wehrbeauftragte stellt fest, daß er in der Ausbildung der Grundwehrdienstleistenden und auch der Vorgesetzten einen „nachgeordneten Rang" einnimmt und, obwohl im Dienstplan festgesetzt, „vielfach nicht durchgeführt" wird. Das ist ein gravierendes Versäumnis. ({2}) Zur Vermittlung soldatischer Tugenden und zum Traditionswesen: Zu Recht kritisiert der WehrbeaufWinfried Nachtwei tragte die erhebliche Widersprüchlichkeit in diesem Feld: Einerseits wird der militärische Widerstand in die Traditionspflege der Bundeswehr einbezogen. Andererseits werden fortgesetzt Soldaten und sogenannte Leistungen der Wehrmacht als Vorbilder präsentiert, völlig losgelöst von ihrem verbrecherischen Gesamtzusammenhang. Daß Minister Rühe die Dietl- und die Kübler-Kaserne umbenannte, ist deutlich anzuerkennen. Doch die Strömung einer demokratiefernen Traditionspflege in der Bundeswehr ist damit noch längst nicht überwunden. Wir wissen alle, daß ungefähr 80 Kasernen weiterhin nach sogenannten Helden des Zweiten und Ersten Weltkriegs benannt sind. ({3}) ({4}) Schon die Umbenennung der Dietl- und KüblerKaserne führte bekanntlich in der CSU-Landesgruppe zu massivem Widerspruch, unter anderem bei dem Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses. In der „Gebirgstruppe", dem Mitteilungsblatt des Kameradenkreises der Gebirgstruppe, wurde im Dezember 1995 unter der Überschrift „Nach der Schlacht binde den Helm fester!" die Umbenennung als „rein opportunistisch-politische Entscheidung" bezeichnet und danach das Gelöbnis ausgesprochen: Wir werden allen Versuchen widerstehen, die Bundeswehr von der jahrhundertbewährten stolzen Tradition deutschen Soldatentums abzukoppeln. Der Wehrbeauftragte nennt Beispiele für eine völlig unkritische Übernahme von Überlieferungen der Wehrmacht, zum Beispiel „Die 10 Gebote der Fallschirmjäger" oder den letzten Tagesbefehl des Kommandierenden Generals des 1. FallschirmjägerKorps, des Generals Heidrich, vom 1. Mai 1945. Diese Texte - zumindest wir aus dem Verteidigungsausschuß kennen sie - triefen vor Kriegsverherrlichung, vor absolutem Elitebewußtsein und fanatischem Kämpfertum. Solche Dokumente in Bundeswehreinrichtungen aufzuhängen und zu verbreiten ist alltäglicher Rechtsextremismus. ({5}) Der Wehrbeauftragte stellt fest, daß solche „Traditionsgrundsätze" bei der Luftlandetruppe umfänglich bekannt sind. General Eckert, letzter Kommandeur der 1. Luftlandedivision, zitiert im Vorwort zum Gedenkbuch seiner Division, erschienen im letzten Jahr, diesen letzten Tagesbefehl des FallschirmjägerGenerals Heidrich auszugsweise. Das heißt: Diese Erscheinungen von alltäglichem Rechtsextremismus sind nicht einfach nur ein Bodensatz. Zum sogenannten Ehrenschutz für Soldaten: Der Wehrbeauftragte kritisiert scharf das sogenannte Mörder-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wie Bundesregierung und Teile der Bundeswehr nimmt er nicht zur Kenntnis, daß Beleidigungen der Bundeswehr oder einzelner ihrer Angehöriger auch heute schon strafbar sind. Der Vorstoß des ex-liberalen Justizministers, für Soldaten der Bundeswehr einen sogenannten besonderen Ehrenschutz einzuführen, ist nicht nur überflüssig. Er beschädigt auch die Meinungsfreiheit, indem Bundeswehr und Soldatenhandwerk insgesamt ein Stück mehr der scharfen Kritik entzogen werden. Er beschädigt die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft, indem er die Bereitschaft von Soldaten untergräbt, sich souverän im öffentlichen Meinungsstreit zu behaupten, und indem er der Entfremdung zwischen Bundeswehr und erheblichen Teilen der Gesellschaft Vorschub leistet. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Jahresbericht 1994 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages wird von der F.D.P.-Fraktion begrüßt. Ich denke, auch dieser Bericht ist wieder Beleg dafür, wie wichtig die Institution des Wehrbeauftragten für die einzelnen Soldaten der Bundeswehr ist, aber auch wie wichtig der Bericht für die Unterstützung unserer Arbeit hier im Hause ist. Es handelt sich, wie schon gesagt, um den Jahresbericht 1994. Ich möchte deshalb dem inzwischen ausgeschiedenen Wehrbeauftragten, Herrn Alfred Biehle, an dieser Stelle nochmals für seine gute Arbeit und für seine Objektivität danken. ({0}) Das gilt natürlich auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Amtes. Ich biete der Nachfolgerin, der Wehrbeauftragten Frau Marienfeld, die gute Zusammenarbeit mit der F.D.P.-Fraktion an und wünsche ihr guten Erfolg. ({1}) Meine Damen und Herren, die Integration der Angehörigen der ehemaligen NVA und der jungen Wehrpflichtigen aus Ostdeutschland in die Bundeswehr ist bis auf wenige Probleme, zum Beispiel das Schließen der Versorgungslücke, insgesamt positiv verlaufen. Die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft muß von uns bundesweit aber nach wie vor als besondere Aufgabe gesehen werden. In diesem Zusammenhang setzen wir uns vor allem auch für die weitere Steigerung der Attraktivität des Grundwehrdienstes ein. Ich will an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich sagen: Die Liberalen stehen weiterhin zum Prinzip der Wehrpflicht. Daran wird sich nichts ändern. ({2}) Wenn wir von Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft reden und von der Attraktivität des Dienstes, dann muß man, gerade in diesen Tagen und gerade auch nach dem, was Herr Kollege Nachtwei zu diesem Thema gesagt hat, auch vom Ehrenschutz für Soldaten der Bundeswehr sprechen. Ich betone hier ausdrücklich für meine Fraktion: Wir Liberalen stellen uns bei jeder Verunglimpfung vor die Soldaten der Bundeswehr. Dies ist keine Frage eines juristischen Proseminars. Vielmehr geht es hier um eine politische Frage. Denn die Bundeswehr erfüllt sowohl einen Auftrag von Verfassungsrang als auch einen politischen Auftrag, den wir alle hier in diesem Hause erteilen. Das heißt, Berufssoldaten, Zeitsoldaten und auch Wehrpflichtige führen den Auftrag aus, für den wir hier im Hause verantwortlich sind. ({3}) Auch deshalb müssen unsere Soldaten Anerkennung und unseren besonderen Schutz finden. ({4}) Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion unterstützt deshalb den Vorschlag des Bundesjustizministers, der einen Tatbestand „Verunglimpfung der Bundeswehr" zur Aufnahme in § 109b Strafgesetzbuch formuliert hat. Die Koalition wird in dieser Frage sehr schnell handeln, Herr Kollege Nachtwei. Und es ist richtig, daß die Koalition in dieser Frage sehr schnell handelt. ({5}) Ich hoffe, daß die SPD dies entsprechend unterstützen wird. Von Ihnen kann ich das leider nicht erwarten. Meine Damen und Herren, wir haben einen Rückgang der Eingaben zu verzeichnen. Ich bin froh darüber. Im Jahre 1994 sind es nur noch 6 000 Eingaben gewesen. Dies weist, so denke ich, unter anderem auf die Überwindung der einheitsbedingten Probleme, aber auch auf gesunde Strukturen im Bereich der Inneren Führung hin. Ich will das Stichwort Dienstzeitregelung hier kurz ansprechen. Ich bitte, Frau Wehrbeauftragte, in Zukunft besonders darauf zu achten, daß die Handhabung der gerade erlassenen Neufassung des Erlasses zur Dienstzeitregelung nicht zu einem Attraktivitätsverlust des Dienstes in den Streitkräften führt. Wir Liberalen werden prüfen, ob mehr geleisteter Dienst vom ersten Tag an zumindest finanziell ausgeglichen werden kann. Ich denke, dies gebietet auch der Gleichheitsgrundsatz in bezug auf die Zivildienstleistenden. ({6}) Dem Bereich Frauen in der Bundeswehr - dieses Thema will ich hier ausdrücklich ansprechen - wurde innerhalb des Berichtes erstmals ein eigenes Kapitel gewidmet. Wir werden weiterhin darauf hinwirken, daß auch in den Streitkräften für Frauen vermehrt Chancen und Berufsperspektiven entstehen. Die Chancen dürfen nicht auf den Musik- und Sanitätsdienst beschränkt werden. ({7}) In dem vorliegenden Bericht heißt es: Viele junge Frauen sind an einer Verwendung im Sanitätsdienst der Bundeswehr interessiert. Ich möchte dies für meine Fraktion ergänzen; denn aus den Berichten der Wehrdienstberater und Jugendoffiziere wissen wir, daß sich das Interesse junger Frauen gerade auf andere Tätigkeiten in der Bundeswehr richtet. Diese werden ihnen aber per Gesetz verboten. Das kann so nicht richtig sein. ({8}) Ich bitte die Kollegen aus der Union, den vorliegenden Antrag, den wir gemeinsam erarbeiten wollen und den wir von seiten der F.D.P.-Fraktion bei Ihnen zur weiteren Bearbeitung und Unterstützung eingereicht haben, sehr schnell umzusetzen. Es gibt eine Reihe von Petitionen, die dem Petitionsausschuß vorliegen. Die Frau Wehrbeauftragte hat einige Briefe aus dem Bereich der Frauen in der Bundeswehr vorliegen. Ich denke, wir sollten hier insgesamt zu einer Verbesserung kommen. Einen weiteren wichtigen Aspekt in der zukünftigen Arbeit der Wehrbeauftragten sehe ich in der stärkeren Berücksichtigung der Reservisten innerhalb der Bundeswehr. Sie sind aus vielen Gründen - auf Grund ihres Auftrages, aber auch wegen ihrer gesellschaftspolitischen Multiplikatorenwirkung - von enormer Bedeutung. Defizite bestehen zum Beispiel bei der Anerkennung der Leistungen der Reservisten. Ein besonderes Augenmerk muß auch der freiwilligen verwendungsunabhängigen Reservistenarbeit in den neuen Bundesländern gelten. Insgesamt müssen wir auch hierbei überlegen, wie die Soldaten der ehemaligen NVA in die Reservistenarbeit besser einbezogen werden können. Es ist richtig und wichtig, daß der Bericht der internationalen militärischen Zusammenarbeit ein eigenes Kapitel widmet. Einer immer größer werdenden Zahl von jungen Wehrpflichtigen wird es damit möglich, auch die sicherheitspolitische Dimension der europäischen Einigung praktisch zu erfahren, wobei ich zum Beispiel an die verschiedenen Korps, an die deutsch-französische Brigade oder die Multinationale Division denke. Meine Damen und Herren, die Jahresberichte des/ der Wehrbeauftragen wurden bisher in erster Linie - mein Vorredner hat darauf hingewiesen - als Mängelbericht verstanden. Da sich die Soldaten direkt an den Wehrbeauftragten wenden können, wird die Institution des Wehrbeauftragten zu einem Frühwarnsystem - so will ich es einmal nennen - für das Parlament. Dies soll, dies muß auch so bleiben. Aber ich denke, Frau Wehrbeauftragte, es ist auch zu überlegen, ob zukünftige Berichte auch erwähnenswerte positive Aspekte aufnehmen sollten, um auf diese Weise weitgehend zu einem Bericht über den GeGünther Friedrich Nolting samtzustand der Bundeswehr zu kommen; denn wir alle wissen, wie die Wirkung dieses Mängelberichts nach außen ist. ({9}) Hier ist der Rechtsextremismus angesprochen worden. Er wird auch im Bericht ausdrücklich erwähnt. Aber ich sage dazu: Der Wehrbeauftragte stellt fest - ich zitiere -: Nach meiner Auffassung gibt es keine rechtsextremistische Entwicklung in der Bundeswehr. ({10}) Dies ist so. Ich will einen zweiten Punkt ansprechen, weil hier das Traditionsverständnis sowohl vom Kollegen Heistermann als auch vom Kollegen Nachtwei angesprochen wurde. Hier ist - Sie haben recht - von Einzelfällen berichtet worden, aus einer einzigen Truppengattung. Ich wünsche mir hier weiterhin Aufmerksamkeit, aber auch mehr Differenzierung und keine pauschalen Urteile, Herr Kollege Nachtwei, wie Sie sie hier gerade abgegeben haben. ({11}) Zum Abschluß dies, Frau Präsidentin. Hier ist der Bosnien-Einsatz angesprochen worden. Herr Kollege Heistermann, ich bin froh darüber, daß es in dieser Frage weitgehend Konsens gibt. Nur, diesen Konsens hätten Sie bereits viel früher haben können, wenn Sie sich als SPD bewegt hätten. Aber dazu waren Sie politisch nicht in der Lage. Deshalb bitte ich Sie, in Zukunft solche Äußerungen, wie Sie sie heute gemacht haben, nicht mehr zu machen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Graf von Einsiedel.

Heinrich Einsiedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002645, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir schon mehrmals passiert, daß hier Zwischenrufe kommen oder Bemerkungen gemacht werden, aus denen man ersehen kann, daß offenbar nicht zugehört wird. Eben wurde gesagt, der Herr Nachtwei habe pauschalisiert. Ich bin der Meinung, daß er überhaupt nicht pauschalisiert hat, sondern er hat sehr gezielt, sehr genau und sehr differenziert die bedenklichen Dinge, die in der Traditionspflege geschehen, benannt. ({0}) Aber das ist Ihre Methode: Anderen werfen Sie immer sofort pauschale Urteile vor, aber darüber, wie Sie über uns pauschal urteilen, darf nicht geredet werden. Solange es die Bundeswehr noch geben wird - Sie wissen, daß wir die schrittweise Auflösung der nationalen Streitkräfte im Rahmen einer europäischen Friedensordnung anstreben -, so lange werden wir uns dafür einsetzen, daß die Grundrechte des Soldaten geschützt werden und die Bundeswehr durch dieses Parlament streng kontrolliert wird. Wir sind die ersten, die anerkennen, daß eine wichtige Institution des Parlaments dafür der bzw. die Wehrbeauftragte ist. Aber gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zu einigen in dem Bericht aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen. Es heißt in dem Bericht, daß viele das Gefühl hätten, die Bevölkerung entziehe der Bundeswehr ihren Rückhalt. Die Zahlen, die der Kollege Augustinowitz genannt hat, bestätigen das vollauf. Aber wen verwundert das eigentlich? Wen überrascht das? Die Hoffnung, nach der Selbstauflösung des Warschauer Pakts werde endlich radikal abgerüstet werden, ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Sicher, die Bundeswehr ist kleiner geworden - nach Zahl der Soldaten wie nach Zahl der Waffen. Aber diese ersten hoffnungsvollen Abrüstungsschritte werden jetzt konterkariert von Plänen für eine massive materielle und geistige Umrüstung der Bundeswehr zu einer weltweit einsatzfähigen Interventionsarmee. ({1}) Die Militärlogiker in diesem Lande haben nach einer kurzen Irritation wieder festen Tritt gefaßt. Der neue Auftrag lautet nunmehr Kampfeinsätze der Bundeswehr für die militärische Befriedung internationaler Konflikte. - Wenn Sie sagen, das ist totaler Schwachsinn, dann lesen Sie doch das, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Naumann, dazu geschrieben hat. ({2}) Damit glaubt die Bundesregierung offenbar die mangelnde Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft, nicht zuletzt unter jungen Menschen, überwinden zu können. Eine solche Akzeptanzkrise würde es aber nicht geben, hätte die Bundeswehr einen anderen Charakter: Strukturell nicht angriffsfähig, zumindest auf die Waffen verzichtend, die schreckliche Langzeitwirkungen haben, wie die Landminen, strikt auf die Landesverteidigung festgelegt, ohne Wehrpflicht und andere Zwangsdienste und mit einem demokratischeren Traditionsverständnis sowie mit der Perspektive, eines Tages im Rahmen einer europäischen Friedensordnung überflüssig zu sein. Leider ist dies eine Vision, von den heutigen Realitäten weit entfernt. Auch die Bundeswehr hat in ihrem Traditionsverständnis bis auf den heutigen Tag nicht konsequent mit dem Dritten Reich gebrochen. Es ist zweifellos zu begrüßen, wenn Frau Geiger erklärt, daß die Wehrmacht kein Vorbild für die Traditionen der Bundeswehr sein könne. Die Worte hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wie sind denn sonst die unbefriedigenden Antworten der Bundesregierung in der gestrigen FrageHeinrich Graf von Einsiedel stunde zu erklären, als es um das Machwerk „Stalins Vernichtungskrieg" von Joachim Hoffmann ging, der dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt angehörte und zu dem der leitende Archivdirektor des Militärarchivs, das dem Bundesarchiv unterstellt ist, und auch langjährige Mitarbeiter in diesem Forschungsinstitut das Geleitwort verfaßte? Muß man sich da nicht fragen, ob dies nicht Ausdruck einer ganz bestimmten geistigen Strömung in diesem Militärgeschichtlichen Forschungsamt ist, durch die Rechtsradikale Aufwind bekommen und durch die die vom Kollegen Nachtwei kritisch angemerkten rechtsradikalen Tendenzen in der Bundeswehr bestärkt werden? ({3}) Diejenigen, die ihr grundgesetzlich und international geschütztes Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Anspruch nehmen, sind, Frau Marienfeld, alles andere als eine Generation von Egoisten, die den bequemen Weg gehen. Vielmehr müssen sie psychisch wie körperlich harten Dienst an Schwerkranken und Behinderten oder in der Altenpflege leisten. Dabei müssen sie überdies als Lückenbüßer für eine verfehlte Sozialpolitik der Bundesregierung herhalten. ({4}) Als Vater eines Zivildienstleistenden - und nicht nur als solcher - weiß ich, wovon ich rede. Im übrigen erinnere ich hier an unseren grundsätzlichen Standpunkt, daß die Wehrpflicht und alle Zwangsdienste abgeschafft gehören. Bei der Bundesregierung dagegen scheint sich eine Art Wagenburgmentalität zu verstärken: Je mehr NATO-Partner die Wehrpflicht abschaffen, desto vehementer hält sie daran fest. Ja, aus der CSU hört man gar Stimmen, für Kriegsdienstverweigerer die Gewissensprüfung wieder einzuführen und den Zivildienst zu verlängern. Meine Damen und Herren, es ist Zeit, in diesem Hause endlich ernsthaft über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu reden. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger.

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Jahresbericht 1994 des Wehrbeauftragten haben wir eine umfassende Darstellung der inneren Lage unserer Streitkräfte in der Phase der Neuorientierung der Bundeswehr erhalten. Zugleich stellt er den Abschluß der Tätigkeit unseres ehemaligen Wehrbeauftragten Alfred Biehle dar, der nicht müde geworden ist, auf die inneren Zusammenhänge zwischen wehrhafter Demokratie und allgemeiner Wehrpflicht hinzuweisen. Sein letzter Jahresbericht macht dies noch einmal deutlich. Ich möchte deshalb von dieser Stelle aus Herrn Biehle und all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nochmals im Namen des Bundesverteidigungsministeriums ganz herzlich danken. ({0}) In den Dank beziehe ich seine Nachfolgerin ein, unsere frühere Kollegin Claire Marienfeld, mit der wir ebenfalls sehr konstruktiv zusammenarbeiten. Daran möchte ich eine Bitte an unser Präsidium anknüpfen: Es wäre sehr schön, wenn im nächsten Bundestag in Berlin der Wehrbeauftragte oder die Wehrbeauftragte ein etwas besseres Plätzchen bekäme. Heute muß man sich den Hals verdrehen, wenn man sie dahinten sehen möchte. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Bitte nehme ich gern entgegen. Gleichzeitig frage ich Sie, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer gestatten.

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Aber bitte.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, ich freue mich sehr darüber, welche Wertschätzung der Bericht des Wehrbeauftragten im Bundesverteidigungsministerium findet. Sie haben auch mit Recht darum gebeten, daß Frau Marienfeld beim nächstenmal einen besseren Platz hier im Raum bekommt. Darf ich dann zugleich an das Verteidigungsministerium die bescheidene Frage richten, ob es nicht vielleicht auch eine gute Idee gewesen wäre, heute hier eine Reihe von Soldaten auf die Tribüne zu bitten, damit auch bei den Soldaten selbst - ({0}) - Sind sie da? Ich habe mich umgeschaut und keine Uniformen gesehen. Ich hielte es eigentlich für eine gute Idee, wenn möglichst viele Soldaten mitbekämen, wie intensiv und auch besorgt sich der Bundestag mit diesen Fragen beschäftigt. ({1})

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Herr Kollege Irmer, das ist mir auch schon aufgefallen. Es sind zwar ein paar Soldaten anwesend, aber es könnten noch mehr sein. Ich habe das schon moniert. Ich werde zusehen, daß das beim nächstenmal noch besser läuft. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Aber bitte.

Dieter Heistermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000854, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Staatssekretärin, könnten Sie sich auch dem Hinweis dieses Hauses anschließen - ich denke, daß ich das im Namen aller Kolleginnen und Kollegen sagen darf -, daß die militärische Führung gut beraten wäre, bei dieser Debatte anwesend zu sein, um zu hören, wie Parlamentarier die Situation der Bundeswehr sehen? Ich muß leider feststellen, daß hier heute niemand von der militärischen Führung anwesend ist. ({0}) Ich glaube, daß wir das als Parlament nicht akzeptieren dürfen. ({1})

Michaela Geiger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000649

Ich nehme das gerne als Anregung mit, Herr Kollege Heistermann. Die Vorschläge und Anregungen wie auch die kritischen Anmerkungen des Wehrbeauftragten waren und sind für das Bundesministerium der Verteidigung stets ein ganz wichtiger Gradmesser für die Stimmung in der Truppe, aber auch für die Stimmung über die Truppe. In Zeiten des Umbruchs, der Umstrukturierung und der Neuorientierung unserer Streitkräfte kommt diesem Gradmesser eine ganz besondere Bedeutung zu. Das Bundesministerium der Verteidigung hat den Jahresbericht 1994 gewissenhaft geprüft und ausgewertet. Der Jahresbericht und eine ausführliche Stellungnahme wurden im November 1995 der Truppe bis auf die Einheitsebene bekanntgegeben und dort in der Führerweiterbildung behandelt. Wo immer möglich, hat das Bundesministerium der Verteidigung die Empfehlungen des Wehrbeauftragten aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Ich kann hier leider nicht auf alle der angesprochenen Probleme eingehen; aber ich werde versuchen, wenigstens die wichtigsten aufzugreifen. Die Bundeswehr hat im Berichtsjahr 1994 die Reduzierung und Umstrukturierung auf 370 000 Mann weitgehend abschließen können. Mit der Herausgabe des Weißbuches und mit den Konzeptionellen Leitlinien wurden die notwendigen Entscheidungen für die weitere Zukunft der Streitkräfte getroffen. Darüber hinaus wurden mit der Entscheidung über die Anpassung der Streitkräftestrukturen, der territorialen Wehrverwaltung, der Stationierung vom Juni 1995 und auch mit den jüngsten Entscheidungen zur Ausplanung der Binnenstrukturen die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß für viele Soldaten und ihre Familien die Zeit der Ungewißheit und der Verunsicherung zu Ende ging. Das ist das, was Sie, Herr Heistermann, gefordert haben. Damit wurde eine wesentliche Forderung des Wehrbeauftragten erfüllt. Es besteht jetzt Klarheit über die Strukturen, die Stationierung der Truppenteile und über Aufträge, die unsere Streitkräfte zukünftig zu erfüllen haben. Damit einher geht die Verpflichtung, die Soldaten auf die neuen Herausforderungen vorzubereiten und dafür auszubilden. Einsatznahe Ausbildung und Gewöhnung an Grenzsituationen sind wichtige Aspekte. Dabei müssen stets die Würde des Soldaten und die Prinzipien der inneren Führung beachtet werden. Unbestritten ist, daß die Gesundheit der Soldaten Vorrang vor den Erfordernissen der Ausbildung haben muß. Wie schon in früheren Jahren hat der Wehrbeauftragte in seinem letzten Bericht erneut auf Mängel und Verfehlungen im Truppenalltag hingewiesen, wo die Führung von Menschen in den Streitkräften nicht zeitgemäß und das Verhalten von Vorgesetzten nicht angemessen erschienen. Wir sind jedem einzelnen Hinweis nachgegangen und haben Verfehlungen konsequent geahndet. Darin sehe ich eine wichtige erzieherische Funktion für unsere Vorgesetzten und gleichzeitig eine Schutzfunktion für die ihnen untergebenen Soldaten. Die Beanstandungen des Wehrbeauftragten sind Mahnung für alle Verantwortlichen der Bundeswehr, Mißstände zu erkennen und abzuschaffen und die innere Führung als ein Grundprinzip der Wehrpflichtarmee in einem demokratischen Staat im Denken und Handeln zu beachten. ({0}) Wir machen damit auch deutlich, wie wichtig uns die Prinzipien der inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform sind. Sie gelten zu Recht als ein Markenzeichen unserer Streitkräfte und haben in den vergangenen Jahren große Wirkung auf die jungen Demokratien in Osteuropa entwickelt. Mit der Übernahme größerer internationaler Verpflichtungen und dem damit verbundenen Einsatz deutscher Einheiten im Ausland konzentrierte sich das öffentliche Interesse, aber auch das Interesse in der Truppe zwangsläufig auf die Krisenreaktionskräfte. Der Sorge des Wehrbeauftragten, daß damit die Landesverteidigung zu stark in den Hintergrund treten könnte, haben wir durch Verzahnung der Haupt- und der Krisenreaktionskräfte entgegengewirkt, und zwar in allen drei Teilstreitkräften. Der Einsatz in der Landes- und Bündnisverteidigung und im Rahmen der Krisenreaktion verlangt, daß der Soldat seinen Auftrag kennt und ihn vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte versteht, um ihn mit Überzeugung erfüllen zu können. Er muß überzeugt sein, daß sein Auftrag politisch notwendig, militärisch sinnvoll und moralisch begründet ist. Das Rüstzeug hierzu wird durch die politische Bildung vermittelt. Mit der Weisung zur Durchführung der politischen Bildung in den Streitkräften, die am 1. Januar dieses Jahres in Kraft gesetzt worden ist, stellen wir sicher, daß der gesetzliche Anspruch des Soldaten auf staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht auf allen Ebenen erfüllt und die zuvorderst militärische Ausbildung durch eine überzeugende politische Bildung ergänzt wird. Zum nächsten Punkt, der Traditionspflege. In der Traditionspflege der Bundeswehr kann es eine undifferenzierte und kritiklose Übernahme von Überlieferungen aus der Zeit der ehemaligen Wehrmacht nicht geben. Dies ist mit den Grundsätzen der inneren Führung und dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform nicht vereinbar, Herr Nachtwei. ({1}) Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß nicht die Wehrmacht als Institution, wohl aber der einzelne Soldat traditionsbildend sein kann. Dies gilt zum Beispiel für Offiziere des 20. Juli, aber auch für viele Soldaten im Einsatz an der Front. Unveränderter Bezugspunkt für die Traditionspflege der Bundeswehr bleibt die Werteordnung unseres Grundgesetzes. Bei der Frage der Traditionswürdigkeit beschränken wir uns nicht auf rein militärische Haltungen und Leistungen; entscheidend sind Gesamtpersönlichkeit und Gesamtverhalten. Pauschalurteile werden den ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht nicht gerecht. Dies hat auch Alfred Biehle so gesehen. Was die Kriegsgeneration an Beispielen militärischer Tüchtigkeit, Tapferkeit, Opfermut und Kameradschaft erbracht hat und in zahlreichen Zeugnissen sittlicher Bewährung und Menschlichkeit vorlebte, das gehört auch zum unbestrittenen Erbe der deutschen Militärgeschichte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, aus wenigen bedauerlichen Einzelfällen darf nicht auf eine generelle Neigung zu rechtsextremistischem Gedankengut in den Streitkräften geschlossen werden. ({2}) Die Statistiken, auch die jüngste Statistik vom letzten Jahr, zeigen, daß diese Sorgen unbegründet sind, so daß ich der Auffassung des Wehrbeauftragten, daß es keine rechtsextremistische Entwicklung in der Bundeswehr gibt, voll zustimme. Trotzdem müssen alle Vorgesetzten wachsam bleiben und auf potentielle rechtsextremistische Bewerber und auf rechtsextremes Gedankengut in der Truppe achten und jeden einzelnen Fall ahnden. Der Wehrbeauftragte widmet in seinem Bericht der sinkenden Bereitschaft, Wehrdienst zu leisten, breiten Raum. Folgerichtig hat er sich stets für die Steigerung der Attraktivität des Grundwehrdienstes eingesetzt. Sein stetiges Mahnen hat erheblich dazu beigetragen, die nötige Unterstützung für die Verbesserungen für unsere jungen Wehrpflichtigen zu finden, die wir im Wehrrechtsänderungsgesetz verwirklichen konnten, etwa den Mobilitätszuschlag für heimatfern eingesetzte Soldaten, eine schnellere Beförderung von Soldaten im Mannschaftsdienstgrad, die finanzielle Verbesserung des Dienstzeitausgleichs und andere fördernde Maßnahmen. Wir sind zuversichtlich, daß es durch diese Maßnahmen mittelfristig gelingen wird, das hohe Ansehen der Bundeswehr, das sich derzeit in allen aktuellen Umfragen zeigt, in eine erhöhte Bereitschaft junger Männer umzumünzen, Dienst in den Streitkräften zu leisten. Wir dürfen nicht vergessen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, daß unsere Maßnahmen soeben erst verabschiedet worden sind. Sie müssen sich erst noch herumsprechen, und sie müssen greifen. ({3}) Viele junge Männer sehen heute die Frage des Wehr- oder Zivildienstes leider nicht mehr als Gewissensentscheidung, sondern glauben, ein Wahlrecht zu haben. Dies schließen sie aus der täglich geübten Praxis. Daß der Wehrdienst die im Grundgesetz vorgesehene Pflicht des jungen Mannes ist und der Zivildienst die Ausnahme für diejenigen, die aus Gewissensgründen verweigern, ist fast in Vergessenheit geraten. ({4}) Die Wehrdienstleistenden kommen nicht mehr automatisch, sondern wir müssen intensiv um sie werben, und wir müssen energisch Maßnahmen ergreifen, damit der Wehrdienst einem Vergleich mit dem Zivildienst standhält. Das Bundesministerium der Verteidigung hat Arbeitsgruppen eingerichtet, die die Rahmenbedingungen des Wehrdienstes, insbesondere auf den Gebieten Umgang der Wehrpflichtigen vor dem Dienstantritt, Ausgestaltung des Grundwehrdienstes, berufliche Fort- und Weiterbildung während des Wehrdienstes und Informationsarbeit mit dem Ziel weiterer Verbesserung, untersucht haben. Wir sind jetzt bei der Auswertung, und wir wollen unsere Ergebnisse zügig in die Praxis umsetzen. Ganz wichtig ist für jeden Wehrpflichtigen die gesellschaftliche Anerkennung. Wo er die nicht bekommt, wird seine Neigung zunehmen, sich zu entziehen. In seinem letzten Jahresbericht hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages noch einmal zum Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht aufgerufen und vor einer Diskriminierung der Soldaten gewarnt. Dazu gehört auch, daß wir die Soldaten davor schützen, als Mörder beschimpft zu werden. Ich bin sehr froh, daß wir jetzt eine Regelung dafür gefunden haben. ({5}) Um das Wort unseres Bundeskanzlers aufzugreifen: Die allgemeine Wehrpflicht ist und bleibt Ausdruck der persönlichen Mitverantwortung des Bürgers für ein Leben in Frieden und Freiheit. Daran, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wird sich für uns auch angesichts der aktuellen Diskussion in Frankreich nichts ändern. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Höfer.

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht des ausgeschiedenen Wehrbeauftragten Alfred Biehle ist sprachlich sensiGerd Hafer bel, offen, aber auch offenlegend und teils direkt in Anerkennung und in Mahnung. Was mich zur Zeit am meisten beschäftigt und in den sechs Minuten, die mir hier zur Verfügung stehen, beschäftigen wird, ist die Frage, was mit diesem Bericht des Wehrbeauftragten eigentlich geschieht. Ich hoffe und wünsche, daß es dem Bericht von Frau Marienfeld, der am Dienstag folgt, nicht so geht wie dem jetzigen Bericht, der zwar formal korrekt behandelt, aber auf die lange Bank geschoben und damit marginalisiert worden ist. Diese Marginalisierung sieht man natürlich auch in der Anwesenheit hier im Plenum - ich nehme dabei die eigene Fraktion nicht aus -, besonders aber in der Nichtanwesenheit derer, um die es eigentlich geht. Ich kann Ihre Meinung, Frau Staatssekretärin, daß dieser Bericht gewissenhaft geprüft worden ist, nicht teilen. Es hat zwar eine Stellungnahme des Ministeriums gegeben - 165 Seiten sind gezählt worden; ich selber habe sie nicht gezählt, aber es steht dort drauf -, in der verschiedene Verfahrensweisen verfolgt werden, wie mit dem Bericht des Wehrbeauftragten umgegangen wird. Die Kommentierung des BMVg besteht im wesentlichen aus drei Punkten. Wenn es um allgemeine Aussagen geht, werden sie allgemein beantwortet. Tendenzen, die an verschiedenen Stellen des Berichtes stehen, werden auf der einen Seite durch die Darstellung der extremen Einzelfälle und auf der anderen Seite bei der Ausstattung der Räume nicht zusammengebracht. Die latente - ich sage es einmal vorsichtig, nicht im parteipolitischen Sinne - Rechtslastigkeit, die in der Bundeswehr vorhanden ist, wird damit auch marginalisiert und heruntergeredet, wobei ich den Ausspruch gerne wiederhole, daß die Bundeswehr mit Sicherheit - das wird sie auch nicht werden - nicht eine rechtsradikale Armee ist. Es wäre Quatsch, das aus diesen Einzelfallaufzählungen zu schließen. ({0}) Wenn es zum Beispiel um das Anmahnen einer Informationspflicht, einer Fürsorgepflicht des Vorgesetzten, geht, dann denke ich zum Beispiel an die 900 Leute, die bis heute noch nicht wissen - ich hoffe, sie wissen es bis heute; sie wußten es aber im Berichtszeitraum nicht -, welchen militärischen Dienst sie überhaupt tun sollten. Dazu wird in dem Bericht der Bundesregierung lapidar geschrieben: Es ging leider nicht anders. So nach dem Motto: Wo gehobelt wird, fallen auch ein paar Späne; das mußte man halt in Kauf nehmen. Wenn es um echte Kostenfaktoren geht, die in dem Bericht des Wehrbeauftragten angefordert werden, zum Beispiel bei der Frage der Dienstzeitregelung, dann wird gesagt, es ist zu teuer, das können wir nicht machen. Wenn Sie sich aber einmal die Praxis anschauen, so muß der Kommandeur oder Kompaniechef einen Zeitmesser haben, um den geleisteten Dienst sekundengenau auszurechnen, dieses zu summieren, um es nach sieben Monaten im Pfennigbereich aufzurechnen und darzustellen. Wenn der Wehrbeauftragte dort eine neue Regelung anmahnt, dann wird gesagt: zu kostenintensiv. So steht es im Bericht der Bundesregierung, Frau Staatssekretärin. Wenn es um den personellen Einsatz geht, dann wird nach oberflächlichen Recherchen gesagt: Na gut, dann lassen wir uns den Erfahrungsbericht geben. Aber bei Hinweisen, die darauf hindeuten, daß zum Beispiel bei den Sanitätszentren nicht die ideale Lösung gefunden worden ist, vielleicht auch nicht gefunden werden konnte, weil es Standorte gibt, die in 120 Kilometer Entfernung keinen Arzt haben, wird gesagt: Es hat sich im großen und ganzen bewährt. Daß aber dieser Sani-Tourismus, wie er in dem Bericht des Wehrbeauftragten vorkommt, in der Praxis noch ganz andere Auswirkungen hat, daß eine Kompanie weder schießen noch verladen kann, wenn der Sani aus irgendwelchen Gründen nicht rechtzeitig ankommt oder wenn keiner zur Verfügung gesteilt wird, oder daß die Übungsplatzaufenthalte gefährdet sind, weil ein Sanitäter nicht geschickt werden kann, oder daß dort T7-Soldaten in ziemlich hoher Menge produziert werden, weil die Einstellungsuntersuchungen mit nachgeordneten Facharztuntersuchungen bis zu vier Wochen dauern und die Ausbildungszeit dann nicht wieder zurückgeholt werden kann, zeigt, daß Sie dann in der Truppe T7 mehr haben, als sowieso schon für T7 gemustert sind. Das sind eine ganze Menge. Nur so kann ich den Befehl eines Divisionskommandeurs verstehen, wenn er sagt: Nehmt von vornherein 125 Prozent in die Truppe, damit ihr hinterher 100 Prozent habt. Das heißt, wenn man sowieso schon drei oder vier Tier zugewiesen bekommen hat, dann hat man hinterher über die langandauernden Untersuchungen noch zehn oder zwanzig dazubekommen, bei denen man nicht genau weiß, was mit ihnen gemacht werden soll. Darauf gibt die Bundesregierung keine Antwort. Es wird zum Beispiel gesagt, das militärische Konditionstraining sei in einem Sonderbefehl geregelt. Ich habe ihn gesehen. Wie bürokratisch er geregelt ist, sagt der Wehrbeauftragte auch. Ich habe mir einmal vor Ort angesehen, was ein Divisionskommandeur überhaupt regeln soll: differenzierte Ausbildungszeiten, differenzierte Vorhaben. Diese Dinge überhaupt in die Gänge zu bekommen ist ohne Bürokratismus riesigen Umfangs, ohne eine große Zeitleiste nicht möglich. ({1}) Ich sehe gerade, die letzte Minute läuft. Was war das für ein Zwischenruf? Ich habe ihn akustisch leider nicht verstanden. ({2}) Wenn ich dann aber sehe, daß mit der Annahme der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses in der heutigen Debatte der Bericht des Wehrbeauftragten praktisch in der Versenkung verschwindet, dann würde ich es doch schon besser finden, wir würden uns im Verteidigungsausschuß einmal zusammensetzen, um eine Positiv-Negativ-Liste zu erarbeiten, politisch zu bewerten, was sofort geändert werden sollte, was nicht sofort änderbar ist, um die Dinge, wie es der Wehrbeauftragte angemahnt hat, auf die richtige Schiene zu bringen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß das eine oder andere dabei gelobt werden wird. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Breuer. Er bezieht sich, glaube ich, auf den vorherigen Redebeitrag der Frau Staatssekretärin.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Es ist jetzt zwar etwas spät, aber ich kann es in den Zusammenhang stellen. Es geht um die Feststellung, daß nicht die Wehrmacht als Ganzes, wohl aber viele Menschen in der Wehrmacht traditionsbegründend für die Bundeswehr sein können. Ich will das noch einmal aufgreifen und mit dem in Zusammenhang bringen, was hier vom Kollegen Nachtwei gesagt worden ist. Ich sage es deshalb, weil ich beim Kollegen Nachtwei die Hoffnung habe, daß er der erste Grüne sein kann, der mit der Bundeswehr in einer sehr differenzierten Form umgeht. ({0}) Er hat gestern in einer. Rundfunksendung gesagt, daß sich die Bundeswehr von früheren deutschen Armeen sehr, sehr unterscheide. ({1}) - Sie haben es auch hier schon gesagt, um so besser. Aber Sie haben heute etwas gesagt, was mir zumindest in dieser Form nicht gefallen hat. Sie haben vom alltäglichen Rechtsradikalismus in den Streitkräften gesprochen. Ich sage Ihnen: Diesen alltäglichen Rechtsradikalismus in den Streitkräften gibt es nicht. ({2}) Es gibt sicher und ohne Zweifel - deswegen sind wir ja hier und bereden das kritisch - einzelne Soldaten, die sich den geltenden Maßstäben nicht unterwerfen und die versuchen, Rechtsradikalismen zu verbreiten. Aber sie haben keine Chance, die ganze Bundeswehr damit zu überziehen. Sie haben keine Chance! Lassen Sie mich eines in der aktuellen Diskussion sagen: Wenn Sie sich damit beschäftigen, wie die Frau Wehrbeauftragte in den Besitz von Erkenntnissen kommt, die dazu geeignet sind, so etwas zu rügen und öffentlich zu diskutieren, dann stellen Sie fest, daß es meistens so ist, daß Wehrdienstleistende, Wehrpflichtige, weil sie keine Beurteilung zu befürchten haben und danach wieder ins normale Zivilleben gehen, diejenigen sind, die es in die Öffentlichkeit bringen. Deshalb ist es so verfehlt, wenn Sie gleichzeitig fordern, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen. Das dient dieser Zielsetzung nicht. ({3}) Mit der allgemeinen Wehrpflicht halten wir diese Bundeswehr, die ein Erfolgsmodell ist, in jeglicher Hinsicht und gerade auch in der angesprochenen Hinsicht in der Mitte unserer Gesellschaft. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Antwort der Kollege Nachtwei, bitte.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Breuer, Ihre Stellungnahme bedarf der direkten und flexiblen Erwiderung. Sie werden es auch im Protokoll nachlesen können: Ich habe nicht von alltäglichem Rechtsradikalismus in den Streitkräften generell gesprochen, sondern ich habe gesagt, wenn man solche Dokumente, die ich mit Namen genannt habe, in Bundeswehreinrichtungen verbreitet und aushängt, dann ist das alltäglicher Rechtsextremismus. Das habe ich gesagt: wenn - dann. Herr Nolting, Sie haben das auch falsch gehört; jetzt haben Sie es hoffentlich richtig gehört. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Helmut Rauber.

Helmut Rauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002755, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich in der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit auf lediglich einen Punkt beschränken. Es geht um die Frage, ob wir diese Bundeswehr in einer Zeit brauchen, in der es kein oder kein klares Feindbild gibt. Die russischen Truppen, die uns jahrzehntelang bedrohten, verließen Ende August 1994 in Würde unser Land. Die Sowjetunion gibt es ebensowenig mehr wie den Warschauer Pakt und den Eisernen Vorhang, die unser Land teilten. Ein möglicher Krieg wäre auf deutschem Boden ausgetragen worden. Die Politik von Helmut Kohl hat wesentlich dazu beigetragen, daß wir heute sicherer leben und daß es eine Friedensdividende in zweistelliger Milliardenhöhe gibt. ({0}) Dennoch fragen heute immer mehr junge Menschen, warum sie denn noch dienen sollen, wenn wir nur von Freunden umgeben sind. Richtig ist, daß die bisherige NATO de facto ein europäisches Verteidigungsbündnis war. Heute allerdings sind im Bereich der Sicherheitspolitik Faktoren von Belang, die bisher gar nicht oder kaum beachtet wurden. Dazu zählen Instabilitäten einzelner Staaten ebenso wie die Verbreitung von A-Waffen, die organisierte KriminaHelmut Rauber lität, religiöser Fanatismus und auch die Umweltgefahren verschiedenster Art. Auch in der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich liegt nicht nur ein sozialer, sondern auch ein politischer Sprengsatz, der weit über den regionalen Rahmen hinausreicht. Deshalb ist heute Sicherheitspolitik weit mehr als Verteidigungspolitik; sie ist eine Querschnittsaufgabe, die eine Reihe von Politikfeldern umschließt. Die Hauptaufgabe der Bundeswehr - das sei mit allem Nachdruck unterstrichen - bleibt nach wie vor die Bündnis- und auch die Landesverteidigung, und nur dazu werden Wehrdienstleistende eingesetzt. An Auslandseinsätzen können sie nur auf freiwilliger Basis und wenn sie die Bedingung erfüllen, daß sie dazu auch fachlich ausgebildet sind, teilnehmen. Daß wir heute, über 50 Jahre mittlerweile, in Frieden und Freiheit leben können, das haben keine „potentiellen Mörder" bewirkt - ich spreche hier vom „Mörder"-Urteil -, sondern junge Menschen, die ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht geworden sind. ({1}) Sie waren es - und nicht Pazifisten -, die das bewahrten, was menschliches Leben erst lebenswert macht: Würde, Freiheit, Demokratie und auch unsere sozialen und materiellen Errungenschaften. Diese jungen Soldaten und Reservisten waren es, die sich im In- und auch Ausland gegen Wasserfluten und Feuersbrünste stellten und die in den Dürregürteln dieser Welt Menschen vor dem Verhungern und auch vor dem Verdursten retteten. ({2}) Es waren Bundeswehrangehörige, die Brunnen gebohrt haben, Erdbebenopfer retteten und kranke Menschen ärztlich versorgten. Diese Form des Dienens ist mehr als alles andere praktizierte Nächstenliebe, und deutsche Soldaten und Reservisten haben als Helfer in der Not mehr für das gute Ansehen Deutschlands in der Welt getan als mancher Diplomat. ({3}) Diese Leistungen müssen endlich einmal akzeptiert und von allen Instanzen zur Kenntnis genommen werden. Wir als CDU/CSU sagen jedenfalls Dank für das Dienen unserer Soldaten für die Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte, wo Pazifismus oder Wehrlosigkeit ein mörderisches System, das mit Gewalt und Terror gegen Schwache vorgeht, aus der Welt geschafft hätten. Deshalb brauchen wir nicht eine, sondern diese Bundeswehr. Wer die Wehrpflicht abschaffen will, muß nicht nur mehr Bundeswehrstandorte und wehrtechnische Betriebe schließen, sondern er zerstört auch - und das ist mindestens ebenso wichtig - die enge Einbindung der Bundeswehr in unsere Gesellschaft. Die Verteidigung von Frieden und Freiheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und sie muß auch gesamtgesellschaftlich wahrgenommen werden. ({5}) Nach wie vor gilt die Idee vom Scharnhorst, daß alle Bewohner des Staates geborene Verteidiger desselben sind. Es gibt keine Alternative zur Wehrpflicht, und es gibt auch keine Wahl zwischen Wehrdienst und Zivildienst. Um mit Max Weber zu sprechen: Der einzelne kann gesinnungsethisch den Dienst an der Waffe verweigern, nicht aber der Staat als Ganzes, der nach dem Grundsatz der Verantwortungsethik handeln muß. Was das Engagement der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes betrifft, geht es nicht darum, daß am deutschen Wesen die Welt genesen soll. 1994 - 1995 war es nicht viel anders - gab es auf der Welt 121 mehr oder weniger grausam ausgetragene Konflikte, die sich durchaus in ihrem historischen und auch sozialen Umfeld unterschieden. Eine Feststellung allerdings läßt sich überall treffen: Es sind die Unterdrückung der Freiheit, die Mißachtung der Gerechtigkeit und das Verletzen der Menschenwürde, die überall in der Welt zu Gewalt, Zerstörung und Tod führen. Deshalb ist es auch ein ethisch-moralischer Beitrag, wenn wir uns zusammen mit anderen dafür einsetzen, daß Menschen nicht wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Rasse oder Religion verfolgt, mißhandelt oder gar getötet werden. ({6}) Noch eine Anmerkung zum Schluß: Jeder junge Mann, der als Soldat zur Bundeswehr kommt, nimmt Opfer auf sich, um der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen. Er hat Anspruch auf menschliche Behandlung und auf sinnvolle Beschäftigung. Im Bericht des Wehrbeauftragten sind eine Reihe spektakulärer Fälle genannt, in denen gegen die Grundsätze einer zeitgemäßen Menschenführung ebenso verstoßen wurde wie gegen bestehende Gesetze. Dieses Fehlverhalten hätte nicht passieren dürfen und darf sich auch nicht in dieser oder ähnlicher Form wiederholen. Auf eines muß aber immer wieder hingewiesen werden: Die überwiegende Masse der Vorgesetzten geht mit den ihnen anvertrauten Soldaten fürsorglich und auch anständig um. Der Wehrbeauftragte und jetzt die Wehrbeauftragte sind das wachsame Auge und der Zeigefinger für die Bundeswehr. Sie leisten einen wertvollen Beitrag für das reibungslose Funktionieren unserer Armee. Deshalb schließe ich mit einem schlichten „Vielen Dank für diese Arbeit!". ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Frau Claire Marienfeld. Claire Marienfeld, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahresbericht, der heute im Parlament diskutiert wird, ist der letzte Bericht meines Vorgängers Alfred Biehle, dem ich an dieser Stelle noch einmal für seinen Einsatz und seine Verdienste um die Bundeswehr danke. ({0}) In dem guten dreiviertel Jahr seit meiner Amtsübernahme konnte ich bereits viele interessante Gespräche mit Soldaten führen und in viele Kasernen und Dienststellen hineinschauen, übrigens fast ausschließlich unangemeldet. Ich habe dabei engagierte und tüchtige Menschen in der Bundeswehr erlebt, aber auch von Sorgen und Problemen erfahren. In meinen ersten eigenen Jahresbericht, den ich nächste Woche vorlege, werden meine bisherigen Erfahrungen wie auch die Erkenntnisse aus der Eingabenbearbeitung einfließen. Während wir heute zusammengekommen sind, beteiligen sich mit der Zustimmung des Parlaments so viele Soldaten der Bundeswehr wie nie zuvor an einer internationalen Friedensmission. Für den Frieden auf dem Balkan wünsche ich allen Soldatinnen und Soldaten viel Erfolg. Mögen sie gesund und wohlbehalten nach Hause zu ihren Familien zurückkehren! Denn ihr Einsatz ist mit Gefahren und mit nicht einzeln abzuschätzenden Risiken verbunden. Das zeigen uns die tödlich verunglückten Soldaten der Friedenstruppe im ehemaligen Jugoslawien leider nur allzu deutlich. Zwar haben alle Soldaten der Bundeswehr die gesetzliche Pflicht zu treuem Dienen, was in letzter Konsequenz den Einsatz von Leben und Gesundheit mit einschließt, aber auch wir haben eine Pflicht. Wir alle haben die Pflicht, uns immer wieder für drei Dinge einzusetzen: erstens für die Anerkennung des ethisch und moralisch wertvollen Dienstes unserer Soldaten durch Politik und Gesellschaft sowie den Schutz der Soldaten vor Diffamierung; zweitens für eine gute, umfassende Ausbildung der Soldaten und eine Ausstattung und Ausrüstung, die ihnen auch im Einsatz Sicherheit vermitteln und optimalen Schutz bieten; drittens für eine angemessene Betreuung und soziale Absicherung der Soldaten und ihrer Familien. Gegenstand der heutigen Debatte ist der Jahresbericht meines Amtsvorgängers. Alfred Biehle hat die Soldaten der Bundeswehr in einer schwierigen Zeit des Wandels und der Neuorientierung begleitet und sich auch nicht gescheut, notwendig gewordene Entscheidungen durch Parlament und Regierung anzumahnen. Dabei hat er zu Recht nicht erst abgewartet, bis sich Probleme in Eingaben niedergeschlagen haben. Es fällt mir nicht schwer, mich hinter die Aussagen des Jahresberichts 1994 zu stellen, auch wenn ich jetzt nicht alle wesentlichen Punkte ansprechen möchte. Auch in der schriftlichen Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung - Frau Geiger hat in Vertretung der Regierung mündlich Stellung dazu genommen -, die sich durch Sachlichkeit auszeichnete, wurde der Bericht der Wehrbeauftragten als „willkommene Hilfestellung für die weitere Optimierung der Aufgabenerfüllung der Bundeswehr und für Verbesserungen im Bereich der Inneren Führung" gewürdigt. Wichtige Hinweise und Anregungen aus dem Jahresbericht 1994 wurden inzwischen aufgegriffen. Ich verweise nur darauf, daß die Grundwehrdienstleistenden an Wochenenden und dienstfreien Tagen wieder doppeltes Verpflegungsgeld erhalten, heimatfern einberufene Wehrpflichtige seit Beginn des Jahres in den Genuß des Mobilitätszuschlags kommen und auf Weisung des Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 12. Juli 1995 die politische Bildung intensiviert wird. Dieser Punkt ist von allen Rednern hervorgehoben worden. Jetzt wird von uns allen darauf zu achten sein, ob diese Weisung durchgesetzt wird. Der Gesetzgeber hat weiterhin die versorgungsrechtliche Stellung der Soldaten in besonderer Auslandsverwendung verbessert. Der im Jahresbericht ebenfalls kritisierte Dienstzeitausgleich wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1996 geändert, und die finanziellen Vergütungssätze in dieser Regelung - allerdings erst ab dem elften Dienstmonat - wurden deutlich erhöht. Ich werde aufmerksam beobachten - damit komme ich auch einer Bitte von Herrn Nolting nach -, ob diese Neuregelung in der Praxis durchgesetzt wird, ob sie sich bewährt und auf Akzeptanz stößt. ({1}) Im Jahresbericht 1994 sind viele Punkte angesprochen worden, die in ihrer Bedeutung bis heute nichts eingebüßt haben. Stationierungs- und Strukturentscheidungen sowie die Auseinandersetzung mit dem erweiterten Auftrag der Bundeswehr sind für die Soldaten und ihre Familien nicht einfach zu verkraften. Unsere Soldaten brauchen daher jetzt eine Phase der Konsolidierung. Ich denke, dazu trägt auch der vorgestern vom Bundesminister der Verteidigung vorgelegte Bundeswehrplan 1997 bei. Im Jahresbericht 1994 wurden zum Teil gravierende Verstöße gegen die Grundsätze der Inneren Führung festgestellt. Ich erwarte, daß die Verantwortlichen alle Anstrengungen unternehmen, menschenunwürdiges Verhalten - auch wenn es sich nur um Einzelfälle handelt - aus der Bundeswehr zu verbannen. ({2}) Darüber hinaus bereitet mir Sorge, daß sich im täglichen Umgang und im täglichen Miteinander oft Nachlässigkeiten einschleichen und die Dienstaufsicht zu spät eingreift. Ich halte dieses übrigens für eines der herausragenden Probleme. Diese Probleme liegen oft unterhalb der Eingabenebene. Daher halten sie sich so lange. Die jungen Männer verhalten sich so, daß sie dies hinnehmen und die Zeit abwarten. Diese Umstände bleiben oft über einen längeren Zeitraum hinweg sehr hartnäckig bestehen. Auf diesen Bereich muß meines Erachtens noch sehr viel Wehrbeauftragte Claire Marienfeld mehr geachtet werden, und es muß mehr Sensibilität entwickelt werden. Meist ist es keine böse Absicht, sondern reine Nachlässigkeit, wenn dort solche Dinge passieren. Dies wird aber von denjenigen, die die zehn Monate ihrer Wehrpflicht erfüllen, nicht als günstig empfunden. Ich hoffe, daß eine ausreichende Sensibilität greift, um diesem entgegenzuwirken. Die Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes bleibt die wichtigste Zielvorgabe. Auch das wurde hier von fast allen Rednern betont. Ansatzpunkt der Überlegungen muß das sein, was der junge Wehrpflichtige, der seiner staatsbürgerlichen Pflicht nachkommt und Grundwehrdienst leistet, konkret in seinem neuen und ungewohnten militärischen Umfeld erlebt. Damit meine ich das, was ich soeben angesprochen habe. In Frankreich werden nach einer Entscheidung von Staatspräsident Chirac in den nächsten Jahren die Streitkräfte in eine Berufsarmee umgewandelt. In der Bundesrepublik Deutschland sprechen nach meiner Ansicht die besseren Argumente für die allgemeine Wehrpflicht. ({3}) Durch sie ist die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft stärker eingebunden. Der positive Einfluß der Wehrpflicht auf das innere Gefüge der Streitkräfte sollte nicht preisgegeben werden. Ich bin froh, daß ich mich in meiner Beurteilung in dieser Frage mit der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion einig weiß. Meine Damen und Herren Abgeordnete, lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen, der nach meiner Auffassung bei allen Entscheidungen, die die Bundeswehr betreffen, eine Rolle spielen muß. Das Zukunftspotential unserer Armee sind die Menschen. Ihr Wohl und Wehe, ihre Einsatzbereitschaft, ihre Motivation und Leistungsfähigkeit prägen die Bundeswehr. Von entscheidender Bedeutung für mich bleibt daher, daß die Werteordnung unserer Verfassung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, auch innerhalb der Streitkräfte gelebt und erlebt wird, dies unabhängig davon, wo die Soldaten ihre Pflicht erfüllen: im Inland oder - unter ganz anderen Vorzeichen - im Ausland oder in bi- und multinationalen Verbänden. Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und die Grundsätze der Inneren Führung, über deren Einhaltung ich zu wachen habe, müssen daher auch unter den neuen Rahmenbedingungen erhalten und weiterentwickelt werden. Dazu gibt es keine Alternative. In diesem Sinne appelliere ich an die Bundesregierung und die militärische Führung, bei der Durchsetzung dieser Prinzipien nicht nachzulassen. Ich danke insbesondere allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses für die intensive Erörterung und Beratung des Jahresberichts 1994 und die Unterstützung meiner Arbeit. Ihnen allen danke ich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Marienfeld, ich darf Ihnen und Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen im Namen des ganzen Hauses für Ihre Arbeit danken. ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 1994 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 13/700 und 13/ 2649, ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung des Bündnisses 90/ Die Grünen und der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({1}), Dr. Eckhart Pick, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von Deliktsopfern und zum Einsatz von Videogeräten bei Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung - Drucksache 13/3128 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Anfang der 80er Jahre ist der Opferschutz in vielen Ländern Europas mehr und mehr zu einem Schwerpunkt der Kriminalpolitik geworden. Wesentliche Anstöße für den Ausbau von Opferhilfeprogrammen und die Stärkung der Rechtsstellung des Opfers im Strafverfahren sind vom Europarat und den Vereinten Nationen ausgegangen. Es ist offensichtlich unangemessen, dem Opfer lediglich eine untergeordnete Stellung im Strafverfahren einzuräumen. Die überlieferte täterzentrierte Kriminalpolitik erscheint deshalb immer fragwürdiger. ({0}) Der Opferschutz mit dem Ziel der Sicherung und Wiederherstellung des Rechtsfriedens gewinnt zunehmend an Überzeugungskraft. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1974 zutreffend festgestellt, Dr. Jürgen Meyer ({1}) der Opferzeuge dürfe ungeachtet seiner prozessualen Funktion als Beweismittel nicht zum bloßen Objekt eines Verfahrens gemacht werden. Der Opferschutz ist seit langem auch ein wesentliches Element sozialdemokratischer Rechtspolitik. Ich nenne als Beispiel nur das Opferentschädigungsgesetz von 1976, das die Handschrift eines sozialdemokratischen Justizministers trägt, und aus jüngster Zeit die Weiterentwicklung des Täter-Opfer-Ausgleichs, die ohne die allerdings deutlich weiter reichenden Initiativen der SPD-Fraktion in der letzten Legislaturperiode, beginnend mit einer Großen Anfrage und fortgesetzt durch einen eigenen Gesetzentwurf, kaum zustande gekommen wäre. Was die Opferentschädigung angeht, ist nun endlich die europäische Konvention von 1983 auch in der Bundesrepublik umzusetzen. Es darf nicht sein, daß Ausländer, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten und Opfer von Gewalttaten werden, entsprechend den Vorschlägen der Bundesregierung als Opfer dritter Klasse behandelt werden. ({2}) Damit wird sich der Bundestag demnächst zu befassen haben. Das gilt auch für unseren Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Sanktionensystems, den wir demnächst erneut einbringen werden. Wir wollen, daß auch bei der Verhängung und Vollstreckung von Strafe die Interessen der Opfer stärker berücksichtigt werden, als es bisher möglich ist. In diesem kriminalpolitischen Gesamtzusammenhang steht auch der heute in erster Lesung vorzustellende SPD-Gesetzentwurf zur Verbesserung der Rechtsstellung von Deliktsopfern und zum Einsatz von Videogeräten bei Zeugenvernehmungen im Strafverfahren. Zu beiden Elementen unseres Entwurfs gibt es bereits eine Fülle von Forderungen und Formulierungsvorschlägen. Ich nenne nur Gremien und Einrichtungen wie die Justizministerkonferenz, die Jugendministerkonferenz, den Deutschen Richterbund, den Deutschen Juristinnenbund, den Deutschen Anwaltverein, den Deutschen Kinderschutzbund, den Weißen Ring und viele andere mehr. Erstes Ziel unseres Entwurfs ist es, die schon sehr lange dauernde Diskussion aus dem Stand des mehr oder weniger unverbindlichen Räsonierens und Resolutionierens voranzubringen und in das Stadium gesetzgeberischer Beratung und Entscheidung zu befördern. Das gilt für unseren ersten Vorschlag, der auf die Einführung des Opferanwalts im Strafverfahren hinausläuft. Empirische Untersuchungen des Freiburger MaxPlanck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht haben ergeben, daß vielen am Strafverfahren beteiligten Juristen und erst recht den meisten Opfern nicht bekannt ist, welche umfangreichen Rechte den Opfern durch das Opferschutzgesetz von 1986 eingeräumt worden sind. Das gilt zum Beispiel für das Recht auf Akteneinsicht, das Recht auf Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre, das unter bestimmten Voraussetzungen bestehende Recht auf Entfernung des Angeklagten während der Vernehmung des Opferzeugen in der Hauptverhandlung, das Recht auf Beistand, aber auch für die umfangreichen Rechte im Falle des Anschlusses als Nebenkläger. Die gesetzliche Bestimmung, nach der der Verletzte auf seine Befugnisse hingewiesen werden soll, wird in der Praxis vielfach nicht beachtet. Die Erweiterung der Nebenklage durch das Opferschutzgesetz hat sich aus der Sicht der Opfer aus zwei Gründen als unzureichend erwiesen. Erstens ist der Katalog der Nebenklagedelikte offensichtlich zu eng. Es ist schwer verständlich, daß sich das Opfer zwar bei einfacher Beleidigung oder bei Körperverletzung, nicht aber im Falle der räuberischen Erpressung als Nebenkläger anschließen kann. Zweitens und vor allem erhält das Opfer aber für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts nur dann Prozeßkostenhilfe, wenn es seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegt und dadurch glaubhaft macht, daß es die Kosten nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann. Für viele Opfer ist allein die Tatsache, daß die ihnen abverlangte Offenlegung über das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers auch zur Kenntnis des angeklagten Täters gelangt, eine nur schwer erträgliche und erneute Demütigung. ({3}) Der Angeklagte erhält hingegen ohne eine derartige Prozedur einen Pflichtverteidiger, wenn wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, dem Opfer jedenfalls dann dasselbe Recht einzuräumen, wenn es dieses beantragt. Bekanntlich erhält der Beschuldigte einen Pflichtverteidiger, wenn ersichtlich ist, daß er sich nicht selbst verteidigen kann. Seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse muß er dafür nicht offenlegen. Wir fordern ein entsprechendes Recht für den Verletzten, der seine Interessen und die höchst komplizierten Opferschutzrechte nicht ausreichend wahrnehmen kann. Wegen der besonderen Schwierigkeiten bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sollten diese Voraussetzungen bei solchen Straftaten von Gesetzes wegen anzunehmen sein. Durch die Annahme unseres Vorschlages würde mit der - in der Sprache des Bundesverfassungsgerichts einem fairen Verfahren immanenten - Forderung nach verfahrensmäßiger Selbständigkeit des in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers Ernst gemacht. Unser zweiter Vorschlag betrifft die Anerkennung der Videographie im Strafverfahren. Bekanntlich kann die Vernehmung von Kindern oder Jugendlichen, im Falle von Sexualdelikten auch von Erwachsenen, zu erheblichen und ganz und gar unzumutbaren Belastungen für diese Opferzeugen führen. Als Dr. Jürgen Meyer ({4}) Verteidiger und Nebenklägervertreter habe ich selbst erlebt, daß Opferzeugen in der Atmosphäre des Gerichtssaals überhaupt nicht sprachfähig oder jedenfalls nicht zu einer halbwegs unbefangenen Aussage in der Lage waren. Mit der mehr schlecht als recht durchgezogenen Vernehmung war weder dem Opferschutz noch der Wahrheitsfindung gedient. Deshalb verdient das bekannte Mainzer Modell der Videovernehmung durch den Vorsitzenden in einem von den übrigen Beteiligten getrennten Raum die Anerkennung durch den Gesetzgeber. Mein Kollege Eckhart Pick wird dazu nähere Ausführungen machen. Wir freuen uns, daß sich mehrere Bundesländer im Anschluß an unseren Entwurf zu einer entsprechenden Gesetzesinitiative entschlossen haben. ({5}) Unbestreitbar ist mit unserem Vorschlag ein wesentlich tiefer liegendes Problem noch nicht gelöst, nämlich das Problem der Vielfachvernehmungen von Kindern und auch von Frauen, die das Opfer von Sexualdelikten geworden sind. Diese Vernehmungen rufen immer wieder ein oft traumatisches und als tiefe und bleibende Verletzung erlebtes Geschehen in Erinnerung und erneuern es oft sogar. Darüber hinaus ist die Zeugin oder der Zeuge oft nicht imstande, frühere Vernehmungen und dabei gefundene Formulierungen klar von dem ursprünglichen, tatsächlichen Geschehen zu trennen. So entstehen durch häufig wiederholte Vernehmungen durch die Instanzen hindurch Widersprüche, die vielleicht dem Angeklagten, aber sicher nicht der Wahrheitsfindung dienen. Wir sind deshalb überzeugt, daß sich die rechtspolitische Entwicklung in Richtung auf die videotechnische Aufzeichnung und die Verwertbarkeit der Erst- und damit Einmalvernehmung des Opferzeugen hinbewegen wird. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der verantwortungsvolle Umgang mit dieser Technik zunächst einmal von der Justiz erprobt und gelernt wird. Insoweit ist unser Vorschlag ein erster Schritt in eine rechtspolitisch erwünschte Richtung. Beide Vorschläge unseres Gesetzentwurfs dienen der Verbesserung des Opferschutzes im Strafverfahren. Wir sind nicht so vermessen, anzunehmen, daß unsere Vorschläge bereits perfekt und nicht verbesserungsfähig seien. Wir hoffen sogar auf Verbesserungsvorschläge und werden deshalb demnächst zu einer Anhörung einladen, in der wir als SPD-Fraktion den Dialog mit Experten und Fachverbänden über unsere Gesetzesinitiative suchen wollen. Die übliche Anhörung durch den federführenden Fachausschuß mag sich anschließen. Wir sind aber schon heute fest davon überzeugt, daß der Opferschutz im Strafverfahren wichtig genug ist, um ihm auch in dieser Legislaturperiode einen weiteren Impuls und die verstärkte Anerkennung durch den Gesetzgeber zu geben. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Götzer.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der heute auf der Tagesordnung stehende Gesetzentwurf der SPD zum Thema Opferschutz hat zwei Schwerpunkte, zum einen die Einführung eines Opferanwalts und zum anderen die Verwendung von Videogeräten und Videoaufnahmen. Lassen Sie mich mit letzterem beginnen. Wir alle wissen, daß die Vernehmung in der Hauptverhandlung für Zeugen - vor allem dann, wenn es sich um Kinder oder Jugendliche handelt - eine schwere Belastung darstellen kann, bis hin zu traumatischen Folgen. Andererseits kommen wir nicht darum herum, daß ein Gericht bei der Wahrheitsfindung auf die Vernehmung von Zeugen angewiesen ist. Hierbei ist auch der Grundsatz der Unmittelbarkeit zu beachten, also die Vernehmung der Zeugen in der Hauptverhandlung. Wir müssen uns deshalb bemühen, die Belastung für die kindlichen und jugendlichen Zeugen zu verringern, und zwar nicht nur im Rahmen der bestehenden Zeugenschutzmöglichkeiten, sondern auch dadurch, daß wir uns der neuen technischen Möglichkeiten, und zwar insbesondere des Einsatzes von Videogeräten, bedienen, ohne dabei das unabdingbare Ziel außer acht zu lassen, nämlich eine rechtstaatliche Urteilsfindung im Strafprozeß. Der Einsatz von Videogeräten wird - ich glaube, das kann man sagen - von den juristischen Fachleuten überwiegend positiv beurteilt. Ich darf mir erlauben, aus einem Aufsatz der ZRP aus dem Jahr 1995 den Bochumer Gerichtspsychologen Dr. Arntzen zu zitieren, der über den ersten Mainzer Mißbrauchsprozeß sehr trefflich ausgeführt hat - ich zitiere -: Es verwundert nicht, daß im ersten Mainzer Mißbrauchsprozeß einzelne Kinder nicht bereit waren, Aussagen im Gerichtssaal zu machen, weil sie sich fünf Richtern, drei Ergänzungsrichtern, zwei Staatsanwälten, einer Protokollführerin, zwei Nebenklägern, sieben Verteidigern und vier Sachverständigen gegenüberfanden, insgesamt 24 Personen, teilweise schwarz berobt, jede von ihnen erwartungsvoll blickend. Wie kann da ernsthaft behauptet werden, das Kind könnte frei und ungezwungen gegenüber diesem Publikum von möglichen Mißbräuchen erzählen? Der SPD-Entwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in seiner grundsätzlichen Zielrichtung zu begrüßen. Ich habe allerdings den Eindruck, daß er ein bißchen mit heißer Nadel genäht ist und dann doch - Sie gestatten mir das - gewisse rudimentäre Züge aufweist. Besser scheint mir da der Bundesratsentwurf zu sein, der - wie könnte es anders sein - unter maßgeblicher Beteiligung des Freistaates Bayern und - das darf ich noch hinzufügen - Baden Württembergs entstanden ist. ({0}) Dieser Bundesratsentwurf ist umfassender, ausgereifter und, ich glaube, auch revisionssicherer. Das ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Gesichtspunkt. Der Kern der Neuregelung in diesem Entwurf des Bundesrats ist einmal ein neuer § 241b StPO. Dieser soll das sogenannte Mainzer Modell gesetzlich regeln, also die Vernehmung des kindlichen bzw. jugendlichen Zeugen allein durch den Vorsitzenden außerhalb des Verhandlungssaals und die Direktübertragung der Vernehmung in den Verhandlungssaal hinein. Der zweite Schwerpunkt ist der neue § 250 Abs. 2 StPO. Er ermöglicht künftig die Beweiserhebung durch Abspielen der Bild-Ton-Aufzeichnung einer früheren richterlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung. Außerdem sieht dieser Entwurf die Ausweitung des Mainzer Modells auch auf Vernehmungen durch den Ermittlungsrichter sowie die Regelung der Vernichtung von Aufzeichnungen nach Verwendung im Prozeß vor. Dieser Entwurf stellt das Abspielen von Bild-Ton-Aufzeichnungen dem Verlesen von Protokollen generell gleich. Der Bundesratsentwurf ist deshalb nach meiner Überzeugung die bessere Grundlage für die parlamentarische Beratung. Ich komme zum anderen Thema, dem Opferanwalt. Die Entwicklung zur Einführung ist schon durch das zitierte Opferschutzgesetz von 1986 eingeleitet worden. Die §§ 397a und 406g StPO erleichtern es dem Opfer einer Straftat, sich eines anwaltlichen Beistands im Verfahren gegen den Täter zu bedienen. Aber diese Regelungen werden von vielen als nicht ausreichend für den effektiven Opferschutz beurteilt. Deshalb - wieder darf ich auf den Freistaat Bayern zurückgreifen - hat die CSU im Rechtsausschuß des Bayerischen Landtags bereits im September 1995 - man höre, aber staune nicht etwa; denn es ist nicht erstaunlich, sondern war zu erwarten - die Forderung nach einem Opferanwalt erhoben. Der Bayerische Landtag hat am 30. Januar dieses Jahres auf Antrag der CSU beschlossen, in Bonn auf eine entsprechende gesetzliche Regelung hinzuwirken. Der Opferanwalt ist, wie gesagt, vom bayerischen Landtag beschlossen. Wir als Union stehen deshalb dieser Forderung grundsätzlich positiv gegenüber. Aber wir sollten den Opferanwalt im Rahmen einer umfassenden Initiative zum Opferschutz regeln. Da gehört dann auch noch ein ganz wichtiges Thema hinein, nämlich Täter-Opfer-Ausgleich. Wir sollten heute nicht einzelne Punkte herausgreifen. Allerdings muß erwähnt werden, daß der Opferanwalt ganz erhebliche Kosten verursachen wird, besonders natürlich beim SPD-Entwurf; denn hier ist keine Beschränkung auf bestimmte Delikte vorgesehen, wenn ich den Entwurf genau und richtig gelesen habe. Es ist keine Anbindung an die PKHGrundsätze, also an die Prozeßkostenhilfe geplant, wobei ich hier einräume, daß es Probleme gäbe, eine Anbindung an die Voraussetzungen zur Gewährung von Prozeßkostenhilfe vorzusehen. Denn was ist, wenn kein Anspruch auf PKH gegeben ist? Dann trägt der Verletzte das Kostenrisiko bekanntlich selbst. Das kann natürlich unbillig sein. Ich halte es für angemessen, aber auch angezeigt, die Beiordnung eines Opferanwalts für die schweren Nebenklagendelikte im § 395 StPO, also insbesondere die Sexualdelikte, vorzusehen. Die Kosten wären überschaubar, im Gegensatz zum Gesetzentwurf der SPD. Einem zentralen Wunsch vieler Opferschutzverbände wäre, glaube ich, damit Rechnung getragen. Werte Kolleginnen und Kollegen, die Koalition setzt sich seit jeher für einen besseren Opferschutz ein. Im übrigen ist es auch Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen, in dieser Legislaturperiode hierzu einen umfassenden Entwurf vorzulegen. Das BMJ bereitet einen solchen vor. Ich finde es erfreulich, daß auch die SPD den Gedanken des Opferschutzes nunmehr unterstützt, ({1}) um so mehr, als die Linke in Deutschland - wozu ich jetzt nicht die federführenden Kollegen der SPD bei diesem Gesetzentwurf zähle - bislang den Eindruck erweckte, sie würde sich mehr um die Täter sorgen als um die Opfer. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Daß es mit Ihrem Einsatz für den Opferschutz so weit her ist, kann ich nicht bestätigen. Noch kürzlich haben Sie eine Minimalverbesserung für ausländische Opfer von Straftaten im OEG, mit der wir uns auf Antrag unserer Fraktion beschäftigt haben, im Rechtsausschuß abgelehnt. Das war wirklich ein sehr bescheidener Vorschlag. Selbst das war mit Ihnen nicht zu machen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Spektakuläre Prozesse wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern und die Sexualstrafrechtsreform haben die Situation von Opferzeugen im Strafprozeß zu einem zentralen Gegenstand rechtspolitischer Erörterungen gemacht - und ich meine, mit Recht. Wir müssen den Blick dafür schärfen: Die Durchführung eines Strafverfahrens ist nicht nur eine Belastung für den Angeklagten; sie beinhaltet in vielen Fällen auch eine enorme Belastung für das Opfer. Meine Fraktion sieht einen erheblichen Reformbedarf bei der Stellung bestimmter Opfergruppen, insbesondere bei Kinderzeugen oder Opfern von Sexual- und anderen Gewaltdelikten. Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes oder einer anderen Vertrauensperson sowie deren Ausstattung mit bestimmten Schutzrechten ist in solchen Fällen auch angebracht. ({0}) Volker Beck ({1}) Wir müssen uns aber vor rechtspolitischen Schnellschüssen hüten. Auch für den Opferschutz darf man nicht Grundsätze über Bord werfen, die nach jahrzehntelanger Übereinkunft als tragende Grundpfeiler des Strafprozesses galten. Eine Durchbrechung dieser Prinzipien ist nur möglich, wenn unabweisbare Gründe angeführt werden können. Hier sind Sie von der SPD meines Erachtens im Übereifer etwas über das Ziel hinausgeschossen. Wir dürfen niemals aus den Augen verlieren, worum es beim Strafprozeß geht: Dies ist ein rechtlich geordnetes Verfahren zur Gewinnung der materiellen Wahrheit. Sein Ziel ist nicht die Überführung des Angeklagten - dem dient der Inquisitionsprozeß -, sondern ein objektiver Ausspruch über Schuld und Strafe. Dabei macht der Staat dem Beschuldigten den Prozeß und nicht das Opfer. Dies können Sie in jedem beliebigen Kommentar zur Strafprozeßordnung nachlesen. Ihr Entwurf krankt daher bereits an einer völlig verfehlten Ausgangsthese, wenn Sie in der Begründung als allerersten Satz formulieren: Opfer von Straftaten sollen in dem ihrem Verletzer geltenden Strafverfahren Restitution und Genugtuung erfahren. Entscheidender Anknüpfungspunkt für die Ausformulierung bestimmter Opferrechte kann nur eine besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers sein, und diese ist in der Tat bei einigen Opfergruppen gegeben. ({2}) Hier müssen wir Hilfe leisten. Wir müssen Gewähr dafür bieten, daß ein Opfer nicht zum Objekt gemacht wird. Es darf nicht ein zweites Mal viktimisiert werden; es muß Schluß damit sein, daß das Opfer quasi zum Angeklagten degradiert wird. Dies zu verhindern muß Ziel eines wohlverstandenen Opferschutzes sein. In einer besonderen persönlichen Betroffenheit begründen sich ja im übrigen auch gerade die Nebenklagedelikte. Ich vermag es nun aber überhaupt nicht einzusehen, warum etwa Rechte, die bislang nur der Nebenklage zustehen, nun auf jedes x-beliebige Verfahren - sagen wir einmal, ein Betrugsverfahren - ausgedehnt werden sollen. Wird hiermit nicht gleichfalls suggeriert, man sei im Prozeß einer Front von Angeklagten, Verteidigern, Staatsanwalt und Gericht hilflos ausgeliefert? Ich warne auch vor der Verstärkung der Tendenz, im Strafverfahren aufwendige Zivilverfahren vorzubereiten. Was sagen Ihre Kollegen aus den Länderjustizministerien eigentlich in diesem Punkt zu Ihren Vorschlägen? Dort ist man doch ansonsten recht erfindungsreich, wenn es um die Zurückdrängung von Rechten und die Vereinfachung des Strafprozesses unter Entlastungs- und Kostengesichtspunkten geht. ({3}) Wenn Ihr Vorschlag in dieser Form Gesetz würde, sehe ich schon das dritte Rechtspflegeentlastungsgesetz winken, bevor wir das zweite überhaupt vom Tisch haben. Wir begrüßen den Vorschlag, die Videovernehmung in der Hauptverhandlung gesetzlich zu regeln. Aber es gilt, auch die Warnung vor dem elektronisierten Strafprozeß ernst zu nehmen. Bei der Vernehmung kindlicher Zeugen überwiegen die Vorteile einer kindgerechten Vernehmung jedoch eindeutig gegenüber den hiergegen erhobenen Bedenken. Für Kinder kann das Strafverfahren eine enorme psychische Belastung bedeuten. Sie müssen über intime Details einer oftmals langandauernden Mißhandlung gegenüber fremden Menschen sowie gegenüber ihrem Peiniger in einer fremden Umgebung Auskunft geben. Dies kann dazu führen, daß Kinder im Prozeß überhaupt nichts oder gar falsche Dinge aussagen. Der vom Landgericht Mainz im letzten Jahr mutig eingeschlagene Weg der Übertragung der Vernehmung über Video ist daher durchaus diskussionswürdig. Hier dient gerade der Opferschutz der Wahrheitsfindung im Strafprozeß. Ob sich diese Überlegungen generell auf alle Opfer sexualisierter Gewaltdelikte übertragen lassen, vermag ich noch nicht abschließend zu beurteilen. Es ist aber nicht zu verkennen, daß sich weitere schwierige Rechtsprobleme stellen. Wie soll etwa das Fragerecht des Angeklagten oder der Verteidigung gestaltet sein, wenn das Opfer im Nebenraum vom Vorsitzenden allein vernommen wird? Hierauf wie auf viele andere Fragen bleibt der Entwurf noch einige Antworten schuldig. Ohne gravierende Eingriffe in unser Rechtssystem wäre es aber gerade im Bereich der sexualisierten Gewaltdelikte ein leichtes, die Stellung des Opfers erheblich zu verbessern. Die hierauf bezogenen Forderungen meiner Fraktion im Antrag zur Reform der Sexualdelikte haben in der Anhörung des Rechtsausschusses überwiegend Zustimmung der Sachverständigen gefunden: regelmäßige Anklage vor den Landgerichten, Schaffung von Schwerpunktzuständigkeiten bei Staatsanwaltschaften und Gerichten. Meine Damen und Herren, die Diskussion über Opferschutz im Strafverfahren ist nicht mit populistischen Argumenten zu führen. Wir sollten uns davor hüten, den Strafprozeß mit Hoffnungen und Erwartungen zu überfrachten, die er im Rechtsstaat nicht erfüllen kann. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf der SPD zum Anlaß nehmen, um den Opferanwalt und die gesetzliche Regelung der Videovernehmung auf eine klarere rechtsstaatliche Grundlage zu stellen. Als Rohling taugt der Entwurf allemal. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Herr Kollege Jörg van Essen das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Meyer hat berichtet, daß sich auch die Länder für dieses Thema interessieren. Wenn ich mir die Anwesenheit auf der Bundesratsbank anschaue, scheint das nicht besonders intensiv zu sein. Ich bedaure, daß wir erneut feststellen müssen, daß sich der Bundesrat für die Diskussion in diesem Hause nicht interessiert. Wie meine Vorredner möchte ich vorweg betonen, daß ich alle Anregungen begrüße, die die Stellung von Opfern krimineller Taten sinnvoll verbessern. Es ist doch ein Alarmsignal, daß Opfer in unserer Gesellschaft viel weniger interessieren als Täter, obwohl ständig in ihre Grundrechte eingegriffen wird: in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, in das Grundrecht auf Eigentum und viele andere. Über Täter lesen wir ausgefeilte Psychogramme in Hamburger Blättern, über Opfer dagegen selten oder nie. Wie weit das gehen kann, zeigt der Fall der Mutter in Lübeck, bei der sich niemand für ihr Leid und ihren Schmerz interessiert hat, nachdem sie ihre Tochter durch ein Tötungsdelikt verloren hatte, die aber in den Mittelpunkt des Medieninteresses rückte, als sie selbst zur Täterin wurde. Bei allen Überlegungen muß klar sein, daß in einem Strafprozeß die Stärkung der Rechte des Opfers nicht zu einer Beeinträchtigung der Rechte der Verteidigung führen darf. Es ist selbstverständlich, daß dies für den ersten Teil der Überlegungen der SPD zu einem Opferanwalt nicht gilt. Die sachkundige Betreuung durch einen Anwalt kann Befangenheit und Angst insbesondere nach Aggressions- und Gewaltdelikten vermindern und damit die Wahrheitsfindung erleichtern. In dem heute erstmals zu diskutierenden Antrag finde ich Ansätze, die sich mit meinen Überlegungen decken und diese treffen. Soweit allerdings die Unterscheidung zwischen nebenklageberechtigten und nichtnebenklageberechtigten Delikten aufgehoben wird, sollten wir darüber noch einmal nachdenken. Es wird das Beispiel der räuberischen Erpressung angeführt - auch Sie, Herr Kollege Meyer, haben das gerade in der Debatte getan -, die tatsächlich nicht zur Nebenklage berechtigt. Weitere Beispiele fehlen. Könnte es von daher nicht die naheliegendere Lösung sein, den Katalog der Nebenklagedelikte um die räuberische Erpressung zu erweitern und die grundsätzliche Unterscheidung weiter beizubehalten? Wer sich den Katalog der Nebenklagedelikte anschaut, wird sehr schnell zu dem Ergebnis kommen, daß sich in diesen Fällen die Schaffung eines Instituts eines Opferanwaltes in besonders hohem Maße rechtfertigt. ({0}) Die vorgesehene Anlehnung an ähnliche Formulierungen bei der Beiordnung eines Pflichtverteidigers erscheint mir diskussionswert. Ebenso halte ich es für einen guten Ansatz, es vom Antrag des Opfers abhängig zu machen, ob überhaupt ein Opferanwalt beigeordnet wird. Dieser sollte tatsächlich nicht aufgedrängt werden. Bei der Frage einer möglichen Vernehmung eines kindlichen oder jugendlichen Opfers oder auch eines Opfers von Sexualstraftaten spricht eine erste Überlegung für Vorsicht, um notwendige Verteidigungsmöglichkeiten nicht zu beeinträchtigen. Mich hat bei der Vorbereitung der heutigen Debatte sehr beeindruckt, was von Professor Köhnken vorn Institut für Psychologie der Universität Kiel in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Strafverteidiger", Heft 7/95, ausgeführt worden ist. Er berichtet, daß die bisherigen Erfahrungen mit der Verwendung der Videographie in Großbritannien durchweg sehr positiv sind. Die vor der Einführung geäußerten Bedenken und Befürchtungen haben sich im wesentlichen nicht bestätigt. Im Gegenteil, die überwiegende Mehrzahl der befragten Richter und Anwälte hat positive oder sogar sehr positive Erfahrungen gemacht. Diese subjektive Einschätzung wird durch die Ergebnisse der Verhaltensbeobachtungen in Hauptverhandlungen bestätigt. Allerdings wird auch ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Ausgangssituation vor Inkrafttreten der Reformgesetze in Großbritannien im Vergleich zu der nach deutschem Recht bestehenden Möglichkeit denkbar ungünstig war. Vor diesem Hintergrund müssen die sehr positiven Eindrücke relativiert werden. Meine Kollegen, Staatsanwälte und Richter aus der Praxis, sind, wie ich weiß, sehr skeptisch. Sie weisen darauf hin, daß mit großem Erfolg in diesen Verfahren geschulte und erfahrene Kriminalbeamte, Staatsanwälte und Richter der Eigenart und der Komplexität der Straftaten bei der Vernehmung von Kindern Rechnung tragen. Es wird die Befürchtung geäußert, daß die Kinder unter dem Eindruck der Bild- und Tonaufnahme nicht zu einer wahrheitsgemäßen Aussage in der Lage sind, etwa weil sie sich gehemmt oder befangen fühlen und weil ihre Aussage durch ein gewisses Geltungsstreben beeinflußt werden könnte. Interessant ist, daß sich auch die Mitarbeiter des gerichtspsychologischen Instituts, das für die Bewertung der Zuverlässigkeit kindlicher Aussagen in Nordrhein-Westfalen fast ausschließlich herangezogen wird, sehr kritisch dazu geäußert haben. Dies alles führt für mich zu dem Schluß, daß wir die Erfahrungen in anderen Ländern sorgfältig auswerten sollten, bevor wir zu einer gesetzlichen Regelung kommen. Es ist schon mehrfach der Versuch in Mainz angesprochen worden, wobei die Beteiligten davon ausgehen, daß dies in den Grenzen der schon bestehenden Regeln der Strafprozeßordnung geschieht. Mir ist es allerdings lieber, wir regeln das, wenn ein solches Verfahren angewandt wird, weil wir damit dann auch die Grenzen festlegen können. Ich glaube, da sind wir uns einig. Insgesamt ist der SPD-Antrag ein guter Anlaß, sich intensiv mit diesen und vielen anderen offenen Fragen der Verbesserung des Opferschutzes zu beschäftigen. Wir werden das mit Sicherheit konstruktiv tun. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Abgeordnete Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß der Opferschutz einer grundlegenden und gründlichen Verbesserung bedarf. Aber das sollte nicht auf die Weise geschehen, die die SPD mit ihrem Gesetzentwurf hier vorgeschlagen hat. So soll bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die persönliche Befragung von Opfern im Gerichtssaal durch die Übertragung von Videoaufnahmen von ihrer Vernehmung ersetzt werden. Dabei soll unter anderem der Angeklagte nach seiner Zustimmung gefragt werden, nicht jedoch das Opfer, meistens Frauen und Kinder. Das heißt in der Praxis: Selbst wenn eine vergewaltigte Frau Nebenklage erhebt, kann das Gericht gegen ihren Willen eine Befragung über Video außerhalb der Hauptvernehmung anordnen. Das kommt einer Entmündigung des Opfers gleich. Das Hauptproblem, der Schutz von betroffenen Kindern vor wiederholten psychisch belastenden Vernehmungen, wird dabei nicht einmal im Ansatz gelöst. Nach dem vorliegenden Entwurf ist eine Videovernehmung erst in der Hauptverhandlung möglich. Zu diesem Zeitpunkt haben - das ist hier auch schon angesprochen worden - die Kinder normalerweise bereits mehrere Befragungen hinter sich. Ich frage mich, weshalb die SPD eine solche Verfahrensweise vorschlägt. So, wie sie gegenwärtig konzipiert ist - wie ich sie verstehe -, könnte sie sogar ein Einfallstor für die Vermeidung des persönlichen Erscheinens von Spitzeln und V-Leuten - in sicher ganz anders gelagerten Prozessen - sein. Es wäre jedenfalls ungeheuerlich, wenn das berechtigte und wichtige Anliegen, die psychische Integrität von mißbrauchten und mißhandelten Kindern nicht noch durch das Strafverfahren zusätzlich zu verletzen, für dubiose Zwecke ausgenützt würde. Was die SPD hier vorschlägt, löst die Probleme des Opferschutzes nicht. Vom Grundsatz der persönlichen Vernehmung vor Gericht, also vom Prinzip der Unmittelbarkeit - von dem hier schon die Rede war - sollte nicht abgewichen werden. Für Kinder jedoch ist im Fall von sexualisierter Gewalt eine Ausnahmeregelung vorzusehen. Hier sind Voraussetzungen zu schaffen, daß man mit einer einzigen Vernehmung auskommt. Diese sollte mit einer Videoaufzeichnung durch einen Richter oder eine Richterin erfolgen und als Protokoll anerkannt werden. Sind jedoch Erwachsene Opfer von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, müssen die Angeklagten auf Antrag der Opfer für die Dauer der Vernehmung von der Verhandlung ausgeschlossen werden, vorausgesetzt natürlich, sie werden anwaltlich vertreten. Diese Forderung hat die PDS bereits im Februar 1995 in ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Sexualstrafrechts und der Strafprozeßordnung bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung formuliert. Statt sinnvollerweise, wie es auch von verschiedenen Seiten gefordert wird, die Nebenklagerechte auszubauen, will die SPD den Verletzten einen Rechtsanwalt bzw. eine Rechtsanwältin - ich nehme einmal an, daß es auch eine Frau sein darf, obwohl es nicht erwähnt wird - beiordnen. Diese Beiordnung soll mit deutlich weniger Rechten als die Nebenklage verbunden sein. Interessant dabei ist aber, daß bei der Beiordnung die gesamten Kosten übernommen werden, bei der Nebenklage jedoch nur teilweise, wie Sie wissen, und nur dann, wenn es sich um Bedürftige handelt. Das heißt, hier wird geradezu ein finanzieller Anreiz geschaffen, auf die Wahrnehmung von Rechten zu verzichten. Wir haben in unserem bereits erwähnten Gesetzentwurf die Ausweitung der Rechte der Nebenklage vorgeschlagen, wie es auch Notruf-Frauengruppen bereits seit Jahren fordern. Zum Beispiel ist der Nebenklägerin bei Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung eine Rechtsanwältin ihrer Wahl zu bestellen. Prozeßkostenhilfe wird nach unseren Vorschlägen ohne Einschränkung nach denselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten bewilligt. Auch im Vorverfahren soll das Recht auf eine Anwältin bestehen, deren Kosten von der Staatskasse getragen werden. Eine solche Regelung wäre eine wirkliche Verbesserung der Rechtsstellung der Opfer. Der hier vorliegende Entwurf der SPD leistet aus meiner Sicht dazu leider keinen Beitrag. Er verhilft - entgegen den vorgeblichen Zielen - Deliktsopfern nicht zu mehr Rechten vor Gericht, und er vermag es insbesondere nicht, kindliche Zeugen vor traumatischen Erlebnissen durch Vernehmungen zu bewahren. Hier ist also noch ein gewaltiges Stück Arbeit zu leisten. Es ist vielleicht sogar zu überlegen, ob es nicht besser wäre, die SPD zöge ihren Entwurf zurück, dächte noch einmal darüber nach und brächte dann einen neuen, verbesserten Entwurf ein. Danke schön. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Norbert Röttgen das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es besteht ja inzwischen Einigkeit - sie ist heute in dieser Debatte auch wieder zum Ausdruck gekommen -, daß der Verletzte einer Straftat im Strafprozeß nicht nur seine Rolle als Zeuge und Beweismittel findet, sondern daß er gerade wegen seiner Bedeutung als Instrument der Wahrheitsfindung im Strafprozeß erneut verletzbar wird und wegen dieser Gefahr auch des besonderen Schutzes und besonderer Rechte bedarf. Opferrechte und Opferschutz im Strafprozeß sind Gegenstand einer relativ jungen Rechtsentwicklung, haben aber in der Zwischenzeit an vielen Stellen in der Strafprozeßordnung und auch im Gerichtsverfassungsgesetz Ausdruck gefunden. Einen großen Fortschritt für den Opferschutz hat dabei insbesondere das Opferschutzgesetz aus dem Jahre 1986 gebracht. Dieser Fortschritt verdient auch in der heutigen Debatte noch einmal Anerkennung. ({0}) Es ist ein wichtiger Fortschritt für unseren Rechtsstaat. Ich bin davon überzeugt, daß der Schutz des Opfers wie auch die Rechtsstellung des Verletzten im Prozeß das Grundverhältnis und auch das Grundvertrauen des Bürgers zu seinem Staat berühren. Der Staat, der den Bürger schon nicht vor einer Straftat zu schützen vermochte, darf das Opfer im Prozeß nicht erneut im Stich lassen und es gewissermaßen nur als Objekt eines Verfahrens betrachten. ({1}) So unbestritten diese Feststellung sein dürfte und so anerkennenswert auch die bisherigen Fortschritte sind, kann man doch sicherlich nicht sagen, daß der Gesichtspunkt des Opferschutzes im geltenden Recht bereits zur Vollendung gekommen ist. Wir müssen mehr für den Opferschutz im Strafprozeß tun. ({2}) Die eigentliche rechtspolitische Aufgabe, die sich dabei stellt, besteht darin, diesen Gedanken des Opferschutzes mit dem Erfordernis einer effektiven Verteidigung und auch mit den haushaltspolitischen Realitäten der Länder in Ausgleich zu bringen. Nach diesen Maßgaben verdient der Gesetzentwurf der SPD in seiner Zielrichtung sicherlich Sympathie. In der Ausführung ist er dann allerdings auch deutlich schwächer; viele Redner haben es hier heute auch schon so gesehen. Der erste Vorschlag, der gemacht wird, sieht die Einführung von Videotechnik bei der Vernehmung von Kindern und bei Opfern von Sexualdelikten vor. Beide Opfergruppen sind in besonderer Weise im Strafprozeß erneut verletzbar und gefährdet. Es ist darum gut vorstellbar, daß der Einsatz von Videotechnik einen Beitrag leisten kann, die gerade von diesen Opfern häufig empfundene Bedrohlichkeit der Prozeßsituation, das Gefühl des Ausgeliefertseins, das Gefühl der Unterlegenheit abzumildern. Dieses Bemühen muß entgegen vielen gegenteiligen Behauptungen übrigens nicht zwingend mit der Wahrheitsfindung im Prozeß in Konflikt treten. Es gibt Berichte aus der Praxis, nach denen mehrere Kinder im Angesicht der Verfahrensbeteiligten kein Wort mehr herausgebracht haben, also gar nicht mehr in der Lage waren, überhaupt auszusagen. Andere Kinder mußten aus der Verhandlung herausgetragen werden, weil sie nicht mehr zu gehen in der Lage waren. Wiederum andere Kinder waren völlig verwirrt und haben am Ende behauptet, auch der Staatsanwalt habe sie sexuell mißbraucht. - Dies sind Berichte aus der Praxis, die zeigen, daß rechtspolitischer Handlungsbedarf besteht. Damit wird auch klar, daß der Konflikt zwischen Opferschutz und Wahrheitsfindung - dessen Existenz häufig behauptet wird - zumindest so nicht gegeben ist, daß es vielmehr Fälle gibt, in denen - geradezu umgekehrt - der Opferschutz der Wahrheitsfindung dient. Dieser Gesichtspunkt ist im Gesetzentwurf der SPD nicht vorgesehen. ({3}) Nach diesem Entwurf soll die Videotechnik nur dann zum Einsatz kommen, wenn Nachteile des Verletzten abzuwenden sind. Ich bin der Auffassung: Videotechnik muß auch dann zum Einsatz kommen - übrigens in Anlehnung an die Möglichkeit, den Angeklagten bei der Vernehmung auszuschließen -, wenn der Einsatz von Videotechnik aus Gründen der Wahrheitsfindung geboten ist. Dieser Gesichtspunkt muß unbedingt in einen solchen Gesetzesvorschlag aufgenommen werden. ({4}) Gegen den Einsatz von Videotechnik läßt sich meines Erachtens nicht einwenden, daß es bereits Schutzvorschriften gibt, insbesondere die Möglichkeit, die Öffentlichkeit und den Angeklagten auszuschließen; denn die Videotechnik würde gerade dann zum Einsatz kommen, wenn diese Instrumente versagen. Allerdings ist die Gefahr für eine effektive Verteidigung durch den Einsatz der Videotechnik ernst zu nehmen. Durch die Videoübertragung fehlt es an dem unmittelbaren Eindruck von dem Zeugen, der für die Vernehmung und auch für die Beweiswürdigung sehr wichtig sein kann. Wir müssen im übrigen auch in der Verfahrensgestaltung der Unschuldsvermutung gerecht werden. Der Angeklagte muß nicht der Täter sein, und der Zeuge muß nicht zwingend Opfer und Verletzter sein. Es kann also tatsächlich zu Konflikten zwischen der Schonung des Zeugen und der Wahrheitsfindung kommen. Auch steht fest, daß der Einsatz von Videotechnik Folgeprobleme aufwirft: Wie wird die Kommunikation zwischen den im Gerichtssaal befindlichen Prozeßbeteiligten und dem vernehmenden Richter ermöglicht? Findet eine Aufzeichnung der Vernehmung statt? Es stellen sich noch andere Fragen. Insgesamt wird man sagen können, daß jede technische Panne bei dem Einsatz von Videotechnik neue juristische Probleme aufwirft. Es ist somit klar, daß mit dem Einsatz von Videotechnik ein unsicheres Feld betreten wird - gerade in Deutschland, wo Erfahrungen fehlen. Ich sehe aber auch einen Vorteil in diesem Anstoß: Wir gewinnen Erfahrungen. Wir verlassen das Stadium der rein theoretischen Diskussion und ergreifen diese Chance. Ich bin deshalb der Auffassung: Um der Chancen für einen wirksameren Opferschutz und um einer besseren Wahrheitsfindung willen sollten wir uns dafür entscheiden, diese Erfahrungen zu machen. Ich spreche mich daher für die Einführung von Videotechnik aus, allerdings auf die Vernehmung von Kindern und jugendlichen Zeugen begrenzt. Es handelt sich hierbei um eine klar abgrenzbare Gruppe, die eine typische Problemsituation aufweist, während dies bei Erwachsenen viel stärker individuell zu beurteilen ist. Kinder und Jugendliche schützende Regelungen sind bereits im Strafprozeßrecht vorhanden. Das heißt: Diese Neuerung würde sich an das geltende Recht anfügen. Der zweite Vorschlag des SPD-Entwurfes zielt auf eine Ausweitung der Rechte des Rechtsbeistandes ab, noch viel mehr aber auf eine Ausweitung der Kostentragungslast. Diese soll nach dem SPD-Vorschlag entweder der Angeklagte oder die StaatsNorbert Röttgen kasse übernehmen. Dieser Vorschlag ist unausgereift. Das ist heute schon mehrfach ausgeführt worden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß mit dem Opferschutzgesetz das Recht des Verletzten auf einen Rechtsbeistand eingeführt worden ist. Die Ausweitung der Kostentragungslast ist problematisch. Sie ist im Hinblick auf den Angeklagten problematisch unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung. Es ist möglicherweise eine Gefahr für die Resozialisierung, den Angeklagten mit einem Kostenberg zu belasten. Wir dürfen nicht den Fehler machen, dann, wenn wir über Opferschutz reden, den Verurteilten außer Betracht zu lassen, und dann, wenn wir über Resozialisierung reden, den Opferschutz nicht zu berücksichtigen. Es wäre fatal, wenn wir diese beiden Elemente nicht in Übereinstimmung bringen könnten. In den allermeisten Fällen zahlt der Angeklagte aber nicht die Kosten und Auslagen, schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil er das Geld dafür nicht hat. In diesen Fällen soll nach dem SPD-Vorschlag der Staat, die Allgemeinheit also, die Kosten übernehmen. Meine Damen und Herren von der SPD, ich finde es schon ein Stück unverantwortlich, so zu tun, als wüßten Sie nicht, daß dieser Vorschlag in dieser Form nicht finanzierbar ist. Sollten Sie es tatsächlich nicht wissen, empfehle ich Ihnen, sich einmal mit Ihren Länderjustiz- und -finanzministern zu unterhalten; die werden Sie darüber informieren. Insgesamt kann gesagt werden: Die Kostentragungspflicht ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine objektive Notwendigkeit besteht, wenn der Verletzte selbst nicht in der Lage ist, seine Rechte wahrzunehmen. Eine solche Ergänzung des geltenden Rechts könnte ich mir vorstellen. Aber die weiteren Vorschläge, die Sie machen, gehen darüber hinaus. Sie schlagen vor, daß auch bei einer schwierigen Rechts- und Sachlage und bei bestimmten allgemeinen Delikten eine Kostentragungspflicht eintreten soll. Dies sind untaugliche Kriterien. Warum soll etwa bei der Frage, ob im Einzelfall ein Trickdiebstahl oder ein Betrug vorliegt, ein besonderes Interesse des Verletzten gegeben sein? Die Allgemeinheit zahlt Richter und Staatsanwalt, und damit ist den Interessen des Verletzten ausreichend Rechnung getragen. Es sind überzogene und unausgereifte Vorstellungen und Vorschläge, die Sie hier machen. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Der Gesetzesvorschlag der SPD-Fraktion ist in wesentlichen Teilen unausgewogen und auch unausgereift und darum nicht zustimmungsfähig. Genauso gilt aber auch: Der Opferschutz ist immer noch ein nicht befriedigend gelöstes Anliegen und Problem der Menschen in unserem Rechtsstaat. Hier muß noch mehr getan werden, im übrigen auch für die Einsicht, daß nicht nur der Sozialstaat, sondern auch der Rechtsstaat Geld kostet und dieses Geld auch wert ist. Herzlichen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Hanna Wolf, Sie haben das Wort.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD hat mit ihrem Gesetzentwurf zum Opferschutz eine Initiative ergriffen, um unser Recht in diesem Bereich weiterzuentwickeln. Wir befinden uns nun gemeinsam auf der Suche nach den besten Mitteln, wie wir einen Opferschutz situationsgerecht umsetzen können. Ich baue darauf, daß wir in diesem Prozeß auch über die Fraktionsgrenzen hinweg zu einer guten Lösung kommen können. Die Ausführungen heute ermutigen mich in diesem Glauben, daß es zu einer breiten Mehrheit hier im Hause kommt. Ich möchte auf den Opferschutz speziell in Prozessen zu Sexualdelikten eingehen. Wir suchen hier nicht nach Regelungen für singuläre Fälle. Jährlich werden 15 000 Fälle von sexuellem Mißbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer geht bis zu 300 000 Fällen. Das heißt, 300 000 Kinder jährlich können Opfer werden. Bei Sexualdelikten müssen wir auseinanderhalten, daß es sich im Prozeß um sehr unterschiedliche Zeugen handelt, die als Opfer aussagen: Die einen sind Kinder, die anderen erwachsene Frauen. Darüber hinaus sollten wir berücksichtigen, daß gerade Sexualdelikte von den Opfern individuell sehr unterschiedlich verarbeitet werden. Wir sollten also nicht von einem starren Bild des Opfers ausgehen. Was für die einen traumatisierend wirken kann, kann für die anderen ein Akt der Befreiung sein. Wenn wir also Regelungen treffen, dann sollten sie möglichst offen sein und dem Willen des Opfers genügend Gehör verschaffen. Ich komme zu den Frauen, die als Opfer eines sexuellen Mißbrauchs oder einer Vergewaltigung aussagen. Häufig, aber nicht immer ist ihnen eine Aussage in Gegenwart des Täters nicht zuzumuten. Für Frauen, auch für sehr junge Frauen, kann es auch ein Akt der Befreiung sein, wenn sie ihre Aussage angesichts des Täters und in aller Öffentlichkeit machen können. ({0}) Dem Opfer sollte also die Möglichkeit zu dieser Art der Aussage nicht genommen werden können. Welche Ziele wollen wir beim Opferschutzgesetz speziell im Fall von Sexualdelikten verfolgen? Das Gesetz soll zusätzliche Belastungen des Opfers durch Vernehmungen im Strafverfahren soweit wie möglich verhindern, und es soll zugleich den Wert der kindlichen Zeugenaussage stärken. Kinder können schwer begreifen, daß Mehrfachvernehmungen und ein Anzweifeln ihrer Aussage zu den üblichen prozessualen Vorgängen gehören. In einem Prozeß zum sexuellen Mißbrauch, der in die Revision geht, kann das Kind bis zu fünfzehnmal befragt worden sein. Da verschließt es sich oft. Der Wert der Zeugenaussage nimmt mit der Häufigkeit der Befragung ab. Kleine Kinder sagen oft nur ein einziges Mal aus. Dann sollte diese eine Aussage auch eine gerichtlich verwertbare Qualität haben. Wir müssen also auch das Problem der Mehrfachvernehmungen bei kindlichen Zeugen in Angriff nehmen. Statt Kinder immer wieder - zuerst von der PoliHanna Wolf ({1}) zei, dann von der Staatsanwaltschaft und später in der gerichtlichen Hauptverhandlung - zu vernehmen und damit die Belastungen des kindlichen Opfers zu erhöhen, sollte versucht werden, sich von vornherein auf eine - und zwar kindgerechte - Vernehmung zu beschränken. Die Videoaufzeichnung dieser Vernehmung ist eine Möglichkeit, diese erste Aussage in dem weiteren Verfahren zu verwenden. Hierüber müssen wir Entscheidungen treffen. Die heutige Praxis, daß Gerichte die Strafe des Täters erheblich mindern, wenn er schließlich in der Hauptverhandlung durch ein Geständnis weitere Vernehmungen des Kindes erspart, halte ich für eine Notlösung. Der Täter muß für die Verletzungen, die er dem Opfer - meist Mädchen - zufügt, dem Unrecht dieser Tat entsprechend bestraft werden. Unzulänglichkeiten des Verfahrensrechts müssen vom Gesetzgeber beseitigt werden und dürfen nicht länger zugunsten des Täters gehen. Abschließend noch ein weiterer Punkt: Es ist ein wesentlicher Fortschritt, wenn das Opfer auch in finanzieller Hinsicht die gleichen prozessualen Möglichkeiten hat wie der Angeklagte. Die Prozeßkostenhilfe für das Opfer, wie sie von uns vorgeschlagen wird, räumt mit der sozialen Ungerechtigkeit auf, daß sich die einen eine anwaltliche Vertretung leisten können, die anderen alleine gelassen werden. Dabei müssen wir darauf achten, daß die Möglichkeit einer Nebenklagevertretung nicht in den Hintergrund tritt, sondern gestärkt wird. Gerade bei Sexualdelikten ist eine juristische Begleitung des Opfers unerläßlich. Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard SchmidtJortzig, das Wort.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Minister:in)

Politiker ID: 11002781

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch für mich steht völlig außer Zweifel, daß alles getan werden muß, damit Opfern schwerer Straftaten, insbesondere Frauen und Kindern, nicht durch das Strafverfahren neues Leid zugefügt wird. Die Strafjustiz muß die aus Vernehmungen erwachsenden Belastungen in Grenzen halten, muß besonders schutzbedürftigen Zeugen einfühlsam und mit Verständnis begegnen. Das ist die Justiz den Zeugen schuldig. ({0}) Dieses Problem ist älter als die spektakulären Prozesse der jüngsten Zeit, die das Thema insbesondere in das Blickfeld der öffentlichen Diskussion gerückt haben. Die Verbesserung der Situation schutzbedürftiger Zeugen ist deshalb auch in den letzten zwanzig Jahren im Bundesministerium der Justiz Gegenstand vielfältiger Reformbemühungen gewesen. Zu den wichtigsten Erfolgen zählt hier das Opferschutzgesetz von 1986. Im übrigen haben sich ausdrücklich auch Vorgänger im Amt von den Sozialdemokraten darum sehr bemüht. Auch nach dem Opferschutzgesetz von 1986 hat das BMJ den Ausbau des Zeugenschutzes nie aus den Augen verloren. So hat mein Haus im Sommer 1994 ein umfangreiches Forschungsvorhaben bei der Freien Universität in Berlin in Auftrag gegeben, von dem ich mir wichtige Erkenntnisse darüber erwarte, wie die Situation kindlicher Opferzeugen im Strafverfahren verbessert werden kann. Gegenstand dieser Untersuchung, deren Ergebnisse im Herbst vorliegen, wird auch die Frage sein, ob und inwieweit die Videotechnologie im Interesse des kindlichen Opferzeugen genutzt werden kann. Dies ist auch der Grund für mich, warum ich dem vorliegenden Gesetzentwurf, in dessen Mittelpunkt der Einsatz der Videotechnologie in der Hauptverhandlung steht, zum jetzigen Zeitpunkt zurückhaltend gegenüberstehe. In der Sache - das ist schon häufiger gesagt worden - ist er als Anregung begrüßenswert. Die Zurückhaltung in diesem Moment geschieht - ich deutete es ja schon an - zwar nicht ohne innere Hemmungen; denn wer die nicht selten quälend hilflosen Versuche von Strafjuristen erlebt hat, kindliche Opferzeugen zwar rücksichtsvoll, zugleich aber nach den Regeln der Strafprozeßordnung zu vernehmen, wird sich gedrängt fühlen, der per Video übertragenen Vernehmung durch den Vorsitzenden außerhalb des Gerichtssaals spontan Beifall zu zollen. Doch ich bin der Ansicht, daß eine sorgfältige Bestandsaufnahme im Vordergrund stehen sollte, vor allem, weil die Chancen und Risiken, die die Videotechnologie für das Strafverfahren mit sich bringen mag - auch dazu sind schon viele Argumente und Anregungen gekommen -, kaum erforscht, jedenfalls noch nicht hinreichend durchdacht sind. Außerdem dürfen wir uns durch die Konzentration auf den Einsatz der Videotechnologie nicht den Blick für andere Maßnahmen verstellen lassen, die einem Opfer von Sexualstraftaten und auch anderen besonders schutzbedürftigen Zeugen die Zeugenrolle insgesamt erträglicher werden lassen. Mehr noch als bisher müssen die vielfältigen Möglichkeiten des geltenden Rechts in unseren Strafverfahren ausgeschöpft und in den Verhandlungssälen eine Atmosphäre geschaffen werden, die es auch besonders empfindsamen Zeugen ermöglicht, unbefangen und unbelastet auszusagen. Daß dies auch ohne gesetzliche Änderungen in vielen Fällen möglich ist, zeigen zahlreiche von engagierten Staatsanwälten und Richtern unterstützte Modellprojekte. Meine Damen und Herren Kollegen, nochmals, damit Sie mich nicht falsch verstehen: Auch ich will den Schutz von Zeugen so schnell wie möglich verbessern; nur warne ich davor, sich allzu engagiert und ausschließlich auf einen Entwurf zu verständigen, in dessen Mittelpunkt im wesentlichen der Einsatz der Videotechnologie steht. Um eine noch breiter angelegte Diskussion zu ermöglichen, hat mein Haus daher schon vor einigen Wochen ein knapp gefaßtes Regelungskonzept zur Verbesserung des Zeugenschutzes bei Vernehmungen erarbeitet, das den Landesjustizverwaltungen, den Berufsverbänden und den Strafrechtslehrern zur Prüfung zugeleitet worden ist. Es enthält Regelungsvorschläge erstens zur Bestellung eines Zeugenbeistands, zweitens zum Einsatz der Videotechnik im Ermittlungsverfahren, drittens zur Verwertung von Videoaufzeichnungen sowie viertens zur Videovernehmung in der Hauptverhandlung, wobei der Vorsitzende allerdings im Gerichtssaal verbleibt. Diese Vorschläge sollen später in ein breiter angelegtes Zeugenschutzkonzept Eingang finden, denn für Maßnahmen zur Verbesserung des Opfer- und Zeugenschutzes sieht auch die Koalition - ich will es noch einmal betonen, obwohl es schon betont wurde - in ihrer Vereinbarung zur laufenden, zur 13. Legislaturperiode besonderen Handlungsbedarf. Meine Damen und Herren Kollegen, ich meine, die Beratungen sollten ohne zeitlichen Druck fortgesetzt werden, um zu einem Ergebnis zu kommen, das den Anforderungen von Wissenschaft und Praxis gerecht wird; denn nur dann können wir erwarten, daß die Praxis von diesen Vorschriften im Interesse schutzbedürftiger Zeugen im notwendigen Umfang Gebrauch macht. Ein Wort zum Schluß noch zum „Opferanwalt auf Staatskosten": Ich habe, ähnlich wie mein Fraktionskollege van Essen, für diesen Vorschlag, den der Weiße Ring schon seit Jahren unterbreitet, durchaus Sympathie. Nur, diese Verbesserungen des Opferschutzes sind nicht zum Nulltarif zu bekommen. Deshalb müssen wir besonders bei den Ländern, die jetzt schon zum Teil in unverantwortlicher Weise im Justizhaushalt kürzen, dafür werben, daß sie den Vorschlag auch bei möglicher eigener Kostenbelastung unterstützen. Vielen Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion hat auf mich etwas zwiespältig gewirkt, aber es überwog doch die Befriedigung, daß Sie anerkennen, daß wir uns mit diesem Entwurf einem wirklich drängenden Problem zu stellen versucht haben. Auch ich spreche von „versucht haben". Ich denke, Frau Schenk, es ist nicht hilfreich, wenn man über einen Entwurf spricht, den man offensichtlich nicht gelesen hat. ({0}) Denn darin finden sich wohl einige Aussagen, die Ihre Vorbehalte durchaus zurückdrängen können. ({1}) Ich empfehle Ihnen, das einmal in Ruhe und Gelassenheit zu lesen. ({2}) Ich möchte darauf hinweisen, daß natürlich auch wir uns, was die Frage der Videovernehmung in der Hauptverhandlung betrifft, die Frage gestellt haben: Genügt es, wenn man sich mit diesem Problem befaßt? Gibt es nicht das weitaus größere Problem der Mehrfachvernehmungen im Rahmen eines Strafverfahrens, beginnend mit dem Ermittlungsverfahren? Natürlich ist uns das bewußt. Allerdings denke ich, daß hier noch erheblicher Klärungsbedarf besteht, wenn man eine generelle Regelung vorschlagen möchte. Deswegen haben wir uns auf die Hauptverhandlung beschränkt. Fast alle Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen, daß im Moment vor dem Landgericht in Mainz mehrere spektakuläre Prozesse geführt werden, die unter dem Namen Worms-Prozesse bekanntgeworden sind. An ihnen nehmen die Öffentlichkeit und die Medien großen Anteil. Bemerkenswert sind sicher nicht nur die äußeren Umstände, nämlich die mutmaßliche Verwicklung einer Vielzahl von Familienmitgliedern in Mißbrauchsvergehen gegenüber Kleinkindern, die offensichtlich hundertfach geschehen sind. In gleicher Weise nimmt die Öffentlichkeit an dem Versuch des Gerichts, zumindest einer Kammer, Anteil, die Vernehmungen der Kinder als Opfer und zugleich als Zeugen im Vergleich zum herkömmlichen Verfahren abzumildern. Die unvorstellbare Scheußlichkeit der gegen die Angeklagten erhobenen Vorwürfe verstellte nicht den Blick auf das gesetzlich offensichtlich nicht auszuschließende Martyrium einer wiederholten Vernehmung der Kinder, zunächst vor den Ermittlungsbehörden und schließlich auch in der Hauptverhandlung. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß angesichts der Tatsache, daß selbst bei Ausschluß der Öffentlichkeit eine Vielzahl von Personen notwendigerweise an einer Hauptverhandlung beteiligt ist, mit Blick zum Beispiel auf die Kinder kaum von einem Ausschluß der Öffentlichkeit gesprochen werden kann. Ich denke, daß diese Form der Vernehmung nicht mehr zeitgemäß ist. Das Gericht hat einen bemerkenswerten Versuch gestartet, der sicher auch mit einem gewissen prozessualen Risiko verbunden ist. Ich bin mit anderen der Auffassung, daß es durchaus noch nicht klar ist, ob diese Art der Vernehmung von der Strafprozeßordnung tatsächlich gedeckt ist. Ein Punkt, der mir am Herzen liegt und der heute nicht zur Sprache gekommen ist, ist: Wir müssen auch für Rechtssicherheit sorgen, wenn Gerichte diese Methode in Zukunft anwenden wollen. Deswegen bitte ich, daß bei allen Vorbehalten und sicher auch Verbesserungsmöglichkeiten diese Frage nicht mit dem Argument auf die lange Bank geschoben wird, daß wir die große, die überzeugende Lösung brauchen. Es geht darum, daß wir vielleicht in einem Teilbereich beginnen und uns danach weiteren Lösungen zuwenden. Wir laden Sie also dazu ein, daß Sie an dieser Diskussion konstruktiv teilnehmen. In diesem Sinne darf ich mich sehr herzlich für diese Diskussion bedanken und hoffe, daß wir in den Beratungen auch mit Hilfe von Sachverständigen und Vertretern entsprechender Organisationen zu einer einvernehmlichen Regelung kommen können. Schönen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/3128 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Peter H. Carstensen ({1}), Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Horst Friedrich, Dr. Klaus Röhl, Lisa Peters, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Der kombinierte Verkehr als Mittel zur Vernetzung der Verkehrsträger - Drucksachen 13/1842, 13/3370 Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Gegen die Dauer der Debatte erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Roland Richter das Wort.

Roland Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002760, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute die Debatte zu einer Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der CDU/CSU- und F.D.P.-Bundestagsfraktionen zum kombinierten Verkehr als Mittel zur Vernetzung der verschiedenen Verkehrsarten. Ich glaube, daß die Antwort zeigt, daß sich für uns im Rahmen der parlamentarischen Diskussionen in den nächsten Wochen eine Fülle von Anregungen, eine Fülle von Themenstellungen ergeben. Ich gehe davon aus, daß die beiden von SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vorgelegten Entschließungsanträge überwiesen werden und daß wir im Rahmen dieser parlamentarischen Beratungen eine Reihe von wichtigen Weichenstellungen gemeinsam treffen müssen. Die Dynamik der Güterverkehrsleistungen ist in Deutschland seit vielen Jahren ungebrochen. Das hat zahlreiche Gründe. Einmal haben wir seit 1983 ununterbrochen Wirtschaftswachstum. Seit Bundeskanzler Helmut Kohl die Regierungsgeschäfte übernommen hat, hatten wir in Deutschland niemals Minuswachstum. ({0}) Das ist eine Bemerkung, die ich mir nicht verkneifen konnte, weil wir gerade jetzt so viele Diskussionen haben. Da sollte man ab und zu auch einmal positive Meldungen bringen. ({1}) Zum zweiten gibt es eine Reihe von strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft. Wir haben die Globalisierung, wir haben die neuen Produktionsformen in der Wirtschaft, und wir haben insbesondere auch den Einsatz der modernen Informationstechnologien. Ich glaube, diese drei Punkte allein haben den Bereich des Güterverkehrs gewaltig anwachsen lassen, und zwar stärker, als wir das in allen Prognosen geglaubt haben. Die Globalisierung wird deutlich gemacht durch den Niedergang des Sozialismus in der ehemaligen DDR und in den osteuropäischen Staaten, mit der Folge, daß eine Fülle von zusätzlichen Verkehren innerhalb der europäischen Wirtschaft entstanden ist. Wir haben neue Produktionsformen in der Wirtschaft - ich nenne nur die Stichworte „Lean production" und „Just in time" -, die erhebliche zusätzliche Verkehre auf unseren Straßen verursacht haben. Die neuen Technologien bieten neben den Problemen aber auch Chancen. So haben wir einerseits durch den Transport von Informationen die Möglichkeit, Personenverkehre künftig zu vermeiden, und wir haben zum anderen durch die rationellere Nutzung von Verkehren die Chance, Güterverkehr und auch Personenverkehr rationeller einzusetzen. Dazu muß das Stichwort Telematik genannt werden. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das deutsche Autobahnnetz ist in der Tat überlastet. Bei 11 000 Kilometern ist mit 20 000 Einheiten am Tag ein Maß erreicht, das in Europa seinesgleichen sucht. Nehmen wir eine Vergleichszahl heran, die wir aktuell diskutieren, beispielsweise die Brenner-Autobahn: Dort sind es gerade 4 000 Einheiten. Wir haben auf Deutschlands Straßen tagtäglich 20 000 Einheiten zu bewältigen. Das heißt, wir müssen alles tun, um die anderen Verkehrsträger, die Schiene, aber auch die Wasserstraße, zu stärken. Wir müssen alles tun, um den Verkehr zu brechen und auf neue, auf andere Verkehrsträger, die umweltfreundlicher eingesetzt werden können, zu bringen. ({3}) - Für den Hinweis bin ich sehr dankbar. Sie sollten dann dafür Sorge tragen, daß wir vor jede Haustür in Deutschland einen Kanal bauen. Dazu wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. ({4}) Die Fragestellungen, mit denen wir es heute zu tun haben, sind nicht nur nationaler Art. Der Rat der Europäischen Union hat im März 1995 eine Resolution verabschiedet, die darauf hinweist, daß die kombinierten Verkehre in Europa verstärkt eingeführt werden sollen. Wir haben in Deutschland im Vergleich zu den europäischen Maßnahmen bereits einiges erfolgreich auf den Weg gebracht. Wenn man allein die Zahlen vergleicht, die im europäischen Raum zugrunde liegen, ist erkennbar, daß Deutschland, was den kombinierten Verkehr angeht, an der Spitze steht - auch wenn wir weiterhin noch zahlreiche Probleme bewältigen müssen und den eigentlichen Durchbruch im kombinierten Verkehr noch nicht geschafft haben. Von den anderen Verkehrsträgern sind die Wasserstraßen gerade bereits angesprochen worden. Alle Verknüpfungen - Schiene/Straße, Schiene/Wasserstraße, aber auch Wasserstraße/Straße - gehören in den Betrachtungen nach meinem Dafürhalten zusammen. Die Wasserstraße umfaßt aber nicht nur der Bereich der Binnenschiffahrt - wozu ich auch die Kanäle zähle -, was Sie gerade angesprochen haben, Herr Kollege Urbaniak, sondern auch die See, ({5}) die natürlich mit dem Stichwort „from road to sea", aber auch mit dem Stichwort „von der Schiene zur See" angesprochen werden muß. Bei der Variante „Schiene zur See" haben wir bei Streckenabständen von über 250 Kilometern einen Marktanteil im kombinierten Verkehr von bereits 65 Prozent erreicht. Ich meine, positive Zahlen darf man nennen, wenn es sie gibt. ({6}) Wir haben, was die beförderten Mengen angeht, im kombinierten Verkehr in Europa eine Spitzenstellung erreicht. Allein 1994 sind 30 Millionen Tonnen Güter im Rahmen des kombinierten Verkehrs transportiert worden. Das bedeutet, daß allein 2 Millionen Lkw-Fahrten überflüssig wurden. Das zeigt, daß wir im eigentlichen Fernstreckenverkehr einen sehr hohen Marktanteil von teilweise bereits über 30 Prozent haben. Den müssen wir natürlich noch steigern. Wir müssen dafür Sorge tragen, daß die Erfolge, die zweifellos vorhanden sind, nicht gefährdet werden und weiterhin Fortschritte möglich sind. ({7}) Ich bin froh, daß nach einer, wie ich meine, zu langen Zeit doch endlich eine Vereinbarung zwischen der DB AG und der Bundesregierung auf dem Tisch liegt, die es ermöglicht, daß in den nächsten Jahren immerhin sieben Terminals im Bereich des kombinierten Verkehrs gebaut werden können. Wenn man weiß, daß zu den 400 Millionen DM an bezuschußtem Investitionsvolumen der Bundesregierung 43 Millionen DM von seiten der Europäischen Union hinzukommen, dann wird einem deutlich, daß wir innerhalb Europas in einer guten Lage sind. Ich meine, diese Dinge müssen positiv herausgehoben werden. ({8}) Ich bin Bundesverkehrsminister Wissmann dankbar, daß er die Zusage gegeben hat, den Vor- und Nachlauf im kombinierten Verkehr von der Schwerverkehrsabgabe zu befreien. Die Verhandlungen auf Regierungsebene sind zwischenzeitlich erfolgt und waren positiv. Wir haben aber darauf zu achten, daß die notwendigen Abstimmungen mit den nationalen Parlamenten gut laufen. Daher möchte ich Sie von der SPD bitten, Ihre internationalen Kontakte zu nutzen, um entsprechende Weichenstellungen zu ermöglichen, damit wir die vor langem gemachte Zusage im kombinierten Verkehr, die im Speditionsgewerbe verlangt wird, einhalten können. ({9}) Die Belastungen des kombinierten Verkehrs bei den Trassenpreisen der Schiene unterscheiden sich sehr von denen bei der Straße. Wir haben diese Entwicklung zu beachten und dafür zu sorgen, daß sich diese Belastungen jeweils angleichen. Wir müssen aber auch daran denken, daß andere Staaten bereit sind, in diesem Bereich sehr viel höhere Subventionen zu leisten. Ich denke hier an die Niederlande. Wir müssen darauf achten, daß nicht zuungunsten der deutschen Seehäfen gravierende Wettbewerbsverzerrungen entstehen. ({10}) Ich glaube, wenn wir das nicht schaffen, verspielen wir vieles von unserem bisherigen Erfolg. Der kombinierte Verkehr ist derzeit nicht in der Lage, seine Arbeit kostendeckend zu leisten. Deswegen ist es notwendig, von seiten des Staates bzw. des Bundes darauf zu achten, daß gerade Infrastrukturmaßnahmen, die Terminals, weiterhin unterstützt werden. Hier sollten wir uns meines Erachtens auch überlegen, ob die Öffnung dieser Finanzierung für Dritte eine Möglichkeit ist, um den kombinierten Verkehr noch stärker nach vorne zu bringen. ({11})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erlauben Sie eine Zwischenfrage?

Roland Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002760, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Richter, wir sind uns, denke ich, einig, daß die Terminals für den kombinierten Verkehr weiter ausgebaut werden müssen und daß dafür auch Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Sind Sie mit mir der Meinung, daß dies über Baukostenzuschüsse und nicht über zinslose Darlehen erfolgen sollte?

Roland Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002760, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Ferner, Sie sprechen ein wichtiges Thema an. Die Antwort auf die Frage, in welcher Höhe diese Zuschüsse gezahlt werden sollten, hängt in ganz besonderer Weise davon ab, inwieweit diese jeweiligen Terminals wirtschaftlich arbeiten. Wenn nachgewiesen werden kann, daß diese Terminals in der Lage sind, wirtschaftlich zu arbeiten, obwohl sie nicht zu 100 Prozent durch Baukostenzuschüsse finanziert werden, dann wäre es meines Erachtens falsch, von seiten des Staates mehr Geld zu geben als notwendig ist. ({0}) Dann sollten genau die Mittel gezielt gegeben werden, die erforderlich sind. Ich meine, daß die Vereinbarungen, die zwischen DB AG und der Bundesregierung getroffen worden sind, eine erste Möglichkeit sind, diese Fragestellung zu prüfen. ({1}) Beim kombinierten Verkehr, meine Damen und Herren, kommt es in besonderer Weise darauf an, die Mengen so schnell wie möglich zu steigern, weil in diesem Bereich Quantität auch einhergeht mit Qualität: je mehr Menge desto besser auch die Leistungen. Von daher haben wir meines Erachtens im Ausschuß in den nächsten Wochen schöne Beratungen vor uns, ({2}) wenn wir gemeinsam über diese Frage ernsthaft und intensiv diskutieren. Der kombinierte Verkehr genießt einen hohen Stellenwert und hat eine hohe Bedeutung. Ich möchte mich bei der Bundesregierung und insbesondere bei Ihnen, Herr Staatssekretär Nitsch, und Ihren Mitarbeitern im BMV für die Antwort auf unsere Große Anfrage bedanken. Sie gibt Anlaß, darüber weiter zu diskutieren. Ich freue mich auf diese Diskussion. Vielen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Richter, ist meine Information korrekt, daß das Ihre Jungfernrede in diesem Hause war? ({0}) Ich glaube nicht, daß es eine Wertung ist, wenn ich sage, daß Sie auf Anhieb in den Debattenstil hineingefunden haben. ({1}) Ich erteile dem Kollegen Wieland Sorge das Wort.

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem Thema, das sowohl von der Koalition als auch von der Opposition gleichermaßen wichtig und ernst genommen wird. Kollege Richter, ich muß Ihnen sagen: Wir haben vom Verkehrsminister gehört, als es um die Luftfahrtsicherheit ging, daß die Bundesrepublik in dieser Richtung schon sehr positiv vorangeschritten ist, daß aber immer noch Möglichkeiten bestehen, sie zu verbessern. Deswegen von mir heute einige Bemerkungen zu dieser Diskussion, die Sie hier angesprochen haben. Diese werden wir demnächst im Ausschuß fortsetzen, wo wir unsere Standpunkte austauschen können. Vielleicht kommen wir dann doch zu einem gemeinsamen Konzept. Schon seit Jahren läßt sich beobachten, daß der wachsende Güterverkehr auf der Straße weder von der Infrastruktur noch von Mensch und Umwelt länger verkraftet werden kann. Der Straßengüterverkehr hat sich seit 1960 mehr als vervierfacht. Uns allen ist inzwischen klar, daß möglichst große Anteile des Güterverkehrs von der Straße auf umweltfreundlichere Verkehrsträger wie Bahn und Schiff verlagert werden müssen. Besondere Hoffnungen richten sich dabei auf den kombinierten Verkehr, also die Vernetzung der Verkehrsträger Bahn, Straße und Binnenschiffahrtsstraße sowie auf From-road-to-sea-Konzepte, die mein Kollege bereits erwähnt hat. Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Kooperation und Vernetzung dieser Verkehrsträger zu fördern, und zwar sowohl national als auch international. Bisher liegt der Schwerpunkt des Kombi-Verkehrs im internationalen Bereich. Über 75 Prozent des kombinierten Güterverkehrs der Deutschen Bahn AG haben internationalen Bezug, einschließlich des Verkehrs zwischen den deutschen Seehäfen und dem Hinterland. Rund 70 Prozent des europäischen Kombi-Verkehrs sind grenzüberschreitend. Die Zukunft des Kombi-Verkehrs hängt also entscheidend von der Gestaltung der internationalen Wettbewerbsbedingungen und dem freien Zugang zum Netz ausländischer Eisenbahngesellschaften ab. Der schnelle Aufbau integrierter Transportketten setzt dabei sowohl einen Abbau der nationalen und internationalen Wettbewerbsverzerrungen als auch eine gezielte Förderung der dafür notwendigen Infrastruktur voraus. ({0}) Dazu gehören die Errichtung von Terminals, die Anschaffung modernen Wagenmaterials und logistikunterstützte technische Leitsysteme. Politische Forderungen sind indes billig, entscheidend ist jedoch die Frage, ob der kombinierte Verkehr auch von den Speditionsunternehmen angenommen wird. Da sprechen die Fakten eine ganz andere Sprache. ({1}) In Deutschland stagniert der kombinierte Verkehr seit Anfang der 90er Jahre trotz einer hohen Zuwachsrate im gesamten Güterverkehr. Die Gründe dafür liegen vor allem in der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit des Kombi-Verkehrs und Kapazitätsengpässen bei den Umschlagterminals. Der Kombi-Verkehr ist um einiges teurer als der herkömmliche Transport über die Autobahnen. So kostet derzeit nach Angaben aus dem BMV ein Gütertransport von Hamburg nach München im kombinierten Verkehr allein an Trassenkosten rund 300 DM, während für den vergleichbaren LkwTransport über die Autobahnen nur der Preis einer Tagesvignette in Höhe von 11 DM zu entrichten ist. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, daß der Kombi-Verkehr seit den 80er Jahren überhaupt einen nennenswerten Aufschwung genommen hat. 1994 beispielsweise wurden in Deutschland immerhin rund 31 Millionen Tonnen auf der Schiene befördert; das hat auch mein Kollege Richter schon gesagt. Das bedeutet, daß rund 2 Millionen Lkw-Fahrten auf längere Distanzen eingespart wurden. Im Bereich der Binnenschiffahrt liegt der Anteil des Kombi-Verkehrs erst bei mageren 2,5 Prozent. Jeder dritte Container wird leer transportiert. In der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zum Kombi-Verkehr ist zu lesen, das erklärte Ziel der deutschen Verkehrspolitik sei es, Mobilität umweltgerecht zu bewältigen. Dort ist ebenfalls zu lesen, daß der Straßengüterverkehr durch die Senkung der Kfz-Steuer gegenüber den konkurrierenden Transportanbietern erheblich entlastet wurde. In der Folge sind die Transportpreise für den Straßengüterverkehr seit dem 1. Januar 1994 um zirka 20 Prozent gefallen. Dadurch hat die Bundesregierung dem Straßengüterverkehr einen hohen Wettbewerbsvorteil verschafft. Die Bundesregierung selbst gesteht dadurch eine „relative Schlechterstellung des kombinierten Verkehrs" ein. Mit keinem Wort geht die Bundesregierung auf die Initiative des EU-Verkehrskommissars Neil Kinnock ein, der durch eine Erhöhung der Kfz-Steuern und eine streckenbezogene Lkw-Vignette den reinen Lastwagenverkehr bremsen und den Kombi-Verkehr fördern will. Um den Kombi-Verkehr zu stärken, will Kinnock das Budget für das PACT-Programm sowohl erhöhen als auch um fünf Jahre verlängern, da es in diesem Jahr ausläuft. In dieser Initiative sollen auch externe Kosten des Straßenverkehrs erstmalig berücksichtigt werden. Zudem werden zusätzliche Nutzungsabgaben für sogenannte sensible Korridore gefordert; gemeint sind ökologisch wertvolle Strecken. Das ist nach meiner Meinung ein interessanter Vorschlag. Davon, ob die Bundesregierung diese Initiative unterstützt, begrüßt oder ablehnt, hört und liest man nichts. In jeder Hinsicht herrscht hier Schweigen im Walde. Wir von der SPD fordern Sie daher auf, hierzu endlich Stellung zu beziehen. Ich freue mich schon auf die Diskussion über diese Fragen im Ausschuß. ({2}) Herr Wissmann, wie stehen Sie denn in Brüssel zu dieser Initiative des Herrn Kinnock? ({3}) Unterstützen Sie die Bemühungen der EU, dem Straßenverkehr auch die externen Kosten anzulasten, oder äußern Sie sich nicht dazu, weil das eine alte Forderung der SPD ist? Der Kombi-Verkehr reagiert auf Verschiebungen der Wettbewerbsbedingungen außerordentlich empfindlich. Beispielsweise hat, als Österreich zur EU kam, der Verkehr über den Brenner in der Weise zugenommen, daß 25 000 Lkw mehr über den Brenner fuhren, als das vorher der Fall war, weil durch die Wegekosten-Richtlinie der Preis für den Straßenverkehr verbilligt wurde. Gerade dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit, sich in Brüssel gesamteuropäisch zu engagieren - eine dankbare Aufgabe für unseren Verkehrsminister. Unsere Forderung an die Regierungskoalition lautet, darauf hinzuwirken, so schnell wie möglich die bestehenden Harmonisierungsdefizite innerhalb der EU zu beseitigen. So sind die EU-Mitgliedstaaten gehalten, den grenzüberschreitenden Kombi-Verkehr von jeder Kontingentierung und Genehmigungspflicht zu befreien. Wir fordern deshalb, den Vor- und Nachlaufverkehr, also den ausschließlichen Transport von Gütern zur Bahn oder deren Abholung, von der Kfz-Steuer zu befreien. ({4}) Instrumente dazu bietet die EU-Richtlinie, z. B. durch eine pauschale oder anteilige Erstattung bestimmter Steuern für Lkw, wobei die Strecke, die diese Lastwagen mit der Bahn zurückgelegt haben, berücksichtigt werden muß. Das Problem ist nur, daß noch nicht alle EU-Staaten diese Richtlinie umgesetzt haben. Die Folge sind eine Fülle von unterschiedlichen administrativen Vorschriften, eine Fülle unterschiedlicher Prozeduren und tausend verschiedene Formulare, die ausgefüllt werden müssen. Noch immer sind nicht in allen Mitgliedstaaten steuerliche Ausnahmen für den Kombi-Verkehr eingeführt. Das gilt auch hinsichtlich der Ausnahmen für das Fahrverbot an Sonn- und Feiertagen sowie während der Ferien. Das alles sind Wettbewerbshemmnisse für den kombinierten Verkehr - eine dankbare Aufgabe für den Verkehrsminister, in Brüssel auf einen Abbau der Hemmnisse zu drängen. Aber auch die nationalen Möglichkeiten sind noch nicht voll ausgeschöpft. Es gibt noch viele Spielräume. So haben zum Beispiel die Holländer - Herr Richter hat das ebenfalls erwähnt - dem Kombi-Verkehr ihrer Bahn bis zum Jahre 2000 eine Befreiung von den Trassenkosten erteilt. Die EU läßt solche Fördermöglichkeiten zu. Die Mitgliedstaaten haben das Recht, den grenzüberschreitenden kombinierten Verkehr von jeder Kontingentierung und Genehmigungspflicht zu befreien. Als finanzielles Förderinstrument schreibt das EU-Recht zudem eine pauschale oder anteilige Erstattung bestimmter Steuern für den Transport Straße/Schiene vor. Wir fordern deshalb, zu prüfen, ob und in welchem Umfang der Bund eine Entlastung des kombinierten Verkehrs von Trassenkosten fördern kann. In Holland ging das schließlich auch. Wir alle wissen, daß gerade auf langen internationalen Strecken vielfach ordnungswidrig nur ein Fahrer eingesetzt wird, um die Personalkosten zu drükken. Die Folge ist ein erhöhtes Verkehrsrisiko. Um die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten kontrollieren zu können, brauchen wir ein einheitliches europäisches Kontrollsystem, das auch die Überprüfung des technischen Zustandes der Fahrzeuge vorschreibt und für die Einhaltung der Rechtsvorschriften sorgt. Das gilt insbesondere für die zum Teil verkehrsuntüchtigen Fuhrwerke, die aus dem osteuropäischen Raum zu uns kommen. In manchen Staaten existiert nicht einmal ein nationales Kontrollsystem. Dadurch können die gültigen Vorschriften natürlich von einzelnen Transportunternehmen spielend umgangen werden. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung unser deutsches Kontrollsystem, nämlich das Bundesamt für den Güterverkehr, durch den Abbau von Nebenstellen und Einsparungen beim Personal kontinuierlich aushebelt. ({5}) Wir müssen doch ganz im Gegenteil alles daransetzen, Wettbewerbsverzerrungen festzustellen und viel stärker als bisher Verstöße im Straßenverkehr zu ahnden. Deshalb fordert die SPD-Bundestagsfraktion die Bundesregierung dringend auf, diese Hemmnisse EU-weit abzubauen und sich für ein europäisches Kontrollsystem einzusetzen. ({6}) Ein weiterer Punkt ist die Kontingentierungspolitik gegenüber Drittstaaten. Wenn die billigen polnischen Lkw-Transporte weiterhin zunehmen, müssen wir uns nicht wundern, warum der Kombi-Verkehr so wenig akzeptiert wird. Zur Zeit gibt es etwa 300 000 Zeitkontingente pro Jahr, die die polnische Seite gerne verdoppeln würde. In puncto Kombi-Verkehr passiert dort aber überhaupt nichts. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, ihre restriktive Kontingentierungspolitik gegenüber Polen unbedingt beizubehalten und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß grenznah ein Netz kleiner Terminals entsteht. Erst mit diesen Terminals kann die Voraussetzung für die Verladung polnischer Lkw auf Güterzüge geschaffen werden. Auf die finanziellen Dinge geht mein Kollege im Anschluß ein. Ich möchte nur noch auf eines hinweisen: Bei der Errichtung von Terminals und der Güterverkehrszentren gibt es noch Probleme. Ich freue mich daher über die Meldung, daß sieben Terminals jetzt finanziert werden. Das ist ein sehr guter Schritt nach vorn und damit eine Möglichkeit, den KombiVerkehr voranzutreiben. Wie schwierig das aber ist, hat mein Kollege Norbert Otto aus Erfurt erfahren müssen, als es um das Güterverkehrszentrum ging. Die Länder-, die Bundes- und die kommunalen Interessen in Übereinstimmung zu bringen und auch die Finanzierungsmöglichkeiten - eines hängt vom anderen ab - miteinander in Einklang zu bringen bringt große Schwierigkeiten, und oftmals sind diejenigen, die gern investieren wollen, einfach nicht dazu in der Lage, weil sie nicht sehen, daß es vorwärtsgeht, und demzufolge ihr Kapital nicht einbringen. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Gila Altmann, Sie haben das Wort.

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so: Der Straßengüterverkehr boomt gewaltig. Es wurde aber so getan, als sei das ein Schicksal. Man muß in diesem Zusammenhang aber sagen, daß es so gemacht worden ist und zum Teil auch so gewollt worden ist. Was wir zu erwarten haben - eine Verdoppelung des Lkw-Verkehrs bis zum Jahr 2010 -, sind katastrophale Auswirkungen für die Umwelt. Schon heute stammen ein Viertel der CO2-Emissionen und ein Drittel der Stickoxidemissionen sowie 70 Prozent der Staub- und Rußemissionen aus dem Straßengüterverkehr, und - auch das ist nicht zu vergessen - die Kosten für den Straßenerhalt werden die Kosten für den Neubau in Zukunft um ein Vielfaches übersteigen. Die Bundesregierung gibt in ihrer Antwort auf die Große Anfrage Glaubensbekenntnisse zur Priorität des Umweltschutzes ab, daß es eine wahre Freude ist. Dem kann man eigentlich nur zustimmen. ({0}) - Ja, ich habe mich auch gefreut, aber nur am Anfang. - Sie will eine integrierte Verkehrspolitik, die die Umwelt schützt. Vergessen hat sie dabei allerdings, den Transrapid irgendwie mit einzubauen, den sie auch will. ({1}) Sie will die Verlagerung von Gütern auf die Schiene im allgemeinen und auf den kombinierten Verkehr im besonderen fördern, und sie will für den kombinierten Verkehr optimierte ordnungspolitische Rahmenbedingungen - was immer das auch sein mag. Schade ist allerdings, daß diese Bekenntnisse mit der Wirklichkeit herzlich wenig gemein haben. Denn die Fakten sehen leider anders aus. Das Aufkommen im kombinierten Verkehr stagniert seit Anfang der 90er Jahre, und das bei rasant Gila Altmann ({2}) ansteigenden Güterverkehrsmengen insgesamt. Im ersten Halbjahr 1995 hat es sogar erhebliche Rückgänge gegeben. Die Wettbewerbssituation des KV hat sich durch die übereilte Deregulierung des Straßengüterverkehrs und des damit verbundenen Verfalls der Transportpreise drastisch verschlechtert, und die Trassenpreise und Trassenzugangsregelungen, die Sie, Herr Richter, etwas vornehm mit „unterschiedlich" umschrieben haben, sind in der Realität überholt und undurchschaubar, man könnte auch sagen: chaotisch. Selbst die Bundesregierung räumt ein, daß die Trassenpreise im KV um fast 30 Prozent über der fiskalischen Belastung eines Lkw liegen. Die Senkung der Kraftfahrzeugsteuer - auch das räumt sie ein - hat bei gleichzeitiger Erhebung der Autobahnbenutzungsgebühr die Wettbewerbssituation des KV gegenüber dem Lkw weiter verschlechtert, und trotz erheblicher Kapazitätsengpässe beim Umschlag wurde seit 1994 kein einziges neues Terminal mehr gebaut. Das ist die Bilanz. Die Bundesregierung versucht dabei, die Schuld auf die DB AG abzuwälzen, und erklärt, daß diese im letzten Jahr nur 10 Millionen DM der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel abgerufen habe. Ich kann nur sagen, damit stellt sie sich ein Armutszeugnis aus; denn sie drückt sich um die wirklichen Ursachen herum. Die Bundesregierung hat nämlich die Hürden so hochgehängt, daß eine Wirtschaftlichkeit durch die DB gar nicht mehr möglich ist, und ein Ende dieses Trends ist trotz aller beschönigenden Worte nicht in Sicht. ({3}) - Dazu komme ich gleich. Angesichts dieser Tatsachen ist das Lob, das sich die Bundesregierung da ausstellt, von absurder Richtigkeit. Sie bescheinigt sich, daß Fördermaßnahmen „zu beachtlichen Ergebnissen im Kombinierten Verkehr geführt haben, vor allem beim KV Schiene/ Straße" . In der Tat haben sie das, aber nur, wenn man es so sieht, daß eine Verlagerung von der Schiene auf die Straße gemeint war. Bleiben wir einmal bei den Fakten, und sehen wir uns die Entwicklung insgesamt an. Die Bundesregierung ist stolz darauf - Herr Richter, auch Sie haben das noch einmal gesagt -, daß ein Aufkommen von über 30 Millionen Tonnen im KV inzwischen an der Tagesordnung ist. Man muß nur wissen: Dem stehen 500 Millionen Tonnen im Straßengüterverkehr gegenüber. ({4}) - Wir reden über die Bundesrepublik. Die Tendenz der letzten Jahre macht diese Fehlentwicklungen übrigens noch deutlicher; denn das Aufkommen im Straßengüterverkehr hat sich zwischen 1980 und 1993 um sage und schreibe 200 Millionen Tonnen noch einmal erhöht, im KV dagegen um 20 Millionen Tonnen. Das sind gerade einmal 10 Prozent. Auch die Binnenschiffahrt wird genannt. Sie wird immer als Alibi genommen und macht der Bahn auch noch Konkurrenz. Dazu kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! Statt einer blinden Deregulierung des Straßengüterverkehrs sind nämlich endlich gleiche Wettbewerbschancen der Verkehrsträger angesagt, sprich: Einführung von Ökosteuern im Verkehr. Deren Notwendigkeit wird formal anerkannt. Aber wenn es dann zum Schwur kommt, eiert die Bundesregierung herum ({5}) und will alle Maßnahmen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Ich muß sagen: Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, bei dem außer beim Wiener Walzer auch nichts mehr linksherum geht, eiert mit. Trotzdem: Im Entschließungsantrag der SPD ist die Ökosteuer wenigstens erwähnt, zwar ganz verschämt als letzter Punkt, aber immerhin. ({6}) - Warum sind Sie eigentlich so laut? Hören Sie doch einfach zu. Festzustellen ist: Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung zur Förderung des KV reichen bei weitem nicht aus. Dabei könnten gerade Tempolimits, verschärfte Nacht- und Wochenendfahrverbote die Rahmenbedingungen zugunsten des KV positiv verschieben; soviel zu den optimierten politischen Rahmenbedingungen. Dazu gehören übrigens auch wirksame Kontrollen mit dem entsprechenden Personal. Um die Blockade beim Terminalbau, den die Bundesregierung selber wortreich beklagt, zu beenden, muß sie endlich auf den Nachweis der Vollkostendeckung durch die Deutsche Bahn AG verzichten und statt der Darlehen Zuschüsse gewähren. ({7}) Auch private Investoren müssen endlich einmal die Möglichkeit der KV-Förderung bekommen, statt behindert zu werden. Das Ganze macht natürlich nur dann Sinn, wenn das Streckensterben und das Schließen weiterer Bahnhöfe endlich aufhört und eine Art von Stillegungsmoratorium erlassen wird. ({8}) Gerade für die private Transportwirtschaft ist es wichtig, daß die Bundesregierung ihre einseitige Förderung von Großterminals in Richtung auf dezentrale Umschlagtechnologien erweitert. Dazu hat die EU mit ihrem PACT-Programm immerhin ein gutes Beispiel geliefert. Dem kann man sich nur anschließen. Wie die bereits vorliegenden Ergebnisse zeigen, schlummert dort ein riesiges Potential, das für den KV gewonnen werden kann. Aber dazu sind eben Markteinstiegshilfen notwendig. Gila Altmann ({9}) Also, meine Herren von der Regierung: Schieben Sie nicht alle Versäumnisse des kombinierten Verkehrs auf die Deutsche Bahn und die Bahnreform, sondern handeln Sie im Sinne der Ansprüche, die Sie in Ihrer Antwort selbst formuliert haben. Ansonsten müssen Sie sich vorwerfen lassen, daß das einzige, was Sie verladen, die Spediteure des KV selbst sind. ({10})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf zunächst meiner Freude Ausdruck geben, daß die heutige Debatte von einem sehr interessierten Publikum auf der Empore verfolgt wird, das aus dem Maritim von einem Kongreß zum kombinierten Verkehr hierhergekommen ist, um wegweisende Worte der Parteien zu diesem Thema zu hören. ({0}) Ein Wort zu den Ausführungen der Kollegin Altmann. Liebe Frau Kollegin Altmann, die Politik, die wir betreiben, führt wenigstens nicht dazu, daß Arbeitsplätze vernichtet werden. Wenn ich an die Politik von Rot-Grün im Zusammenhang mit dem Flughafen Köln-Bonn denke, dann muß ich sagen: Das Fazit der Politik der Koalition ist natürlich um Längen besser. ({1}) Die Diskussion zum kombinierten Verkehr spielt sich ja auch vor dem Hintergrund ab, daß Deutschland das Land ist, in dem zwei Drittel des gesamten EU-Verkehrs im Güterbereich stattfinden, und daß es im Hinblick auf die europäische Wettbewerbssituation selbstverständlich notwendig ist, auch in diesem Bereich Überlegungen anzustellen. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage hat ja in der Konsequenz ergeben, daß trotz aller Probleme das Konzept des kombinierten Verkehrs nach wie vor ein zukunftsträchtiger Ansatz ist, wenn man die Wechselwirkungen von Mobilität und Verkehrsdichte im Güterverkehr bewältigen will. Es ist offensichtlich, daß in Zukunft die Straße die wachsenden Verkehrsströme alleine nicht aufnehmen kann. Genauso offensichtlich ist allerdings, daß auch die nur auf dem Papier stehende Forderung nach einer Verlagerung auf Schiff und Schiene - das wird als Totschlagargument gegenüber allen anderen Aspekten angeführt - nicht der Wahrheit letzter Schluß ist, wenn man nicht bedenkt, welche Verlagerungspotentiale insgesamt vorhanden sind. Eine Vernetzung und Verzahnung der einzelnen Verkehrsträger und ihrer Vorteile kann allerdings nachhaltig positive Entwicklungen in Gang setzen. Das wird allerorten so gesehen. Aber die Wirklichkeit schaut natürlich trotz einer tendenziell guten Entwicklung anders aus: Ich habe hier die neuesten Zahlen der Bahn vorliegen. Aus ihnen geht hervor, daß sich beim kombinierten Verkehr, insbesondere auch im Verkehr mit den mittel- und osteuropäischen Staaten, ein Zuwachs entwikkelt, der in bezug auf die Verkehrsleistung mehr als 11 Prozent beträgt. Ganz so schlimm, wie es manchmal dargestellt wird, schaut es nun auch nicht aus. Aber es ist ein sehr mühsamer Weg; das gebe ich ja zu. Wo liegen die Probleme? Der kombinierte Verkehr arbeitet nicht kostendeckend. Das ist schon festgestellt worden. Insbesondere die hohen Vor- und Nachlaufkosten schmälern die Wirtschaftlichkeit des kombinierten Verkehrs. Diese Entscheidung hat nun aber nicht die Politik zu treffen; sie ist vielmehr zunächst unternehmerisch zu treffen, und zwar vorwiegend von dem, der die Strecken bedient. Über die Kostentransparenz und die Aussagefähigkeit der Kalkulation der Deutschen Bahn ist hier schon mehrfach gesprochen worden. Es wäre vielleicht wirklich sinnvoll, sich einmal zu überlegen, ob es in der heutigen Zeit noch ausreichend ist, die Kosten zusammenzuzählen, sie durch die aufgelaufenen Bahnkilometer zu dividieren und so einen einheitlichen Kilometersatz zu errechnen. Das ist, um es überspitzt zu sagen, nicht mehr zielführend. Es muß schon eine etwas detailliertere Deckungsbeitragsrechnung erstellt werden, so schwer das auch ist, um hinsichtlich der Kosten wirklich konsequente Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu geben. Wir begrüßen die Absicht der Bahn, in wichtigen Bereichen die Kosten durch Effizienzsteigerungen zu senken. So sollen ab diesem Jahr beispielsweise selbstfahrende Gütereinheiten eingesetzt werden, mit denen die Zusammenstellung von Ganzzügen auf wenige Minuten verkürzt werden kann. Neue Produktions- und Umschlagtechniken wie Kombilifter, Wechselbehälter und Schnellumschlaganlagen sollen in Verbindung mit Direkt- bzw. Linienzügen zusätzliche positive Effekte zeitigen. Das Nabe-Speiche-System soll die Auslastung der Züge erhöhen, wobei die Anzahl von derzeit fünf Drehscheiben sicher noch erhöht werden muß. Eine bessere Bedienung der rund 11 500 Gleisanschlüsse, von denen bisher ein Fünftel ungenutzt ist, hat die Bahn ebenfalls in Aussicht gestellt - hervorragend! Mit ihrem am 1. September 1995 vorgestellten neuen Preistableau hat die Bahn endlich auch den Weg zu einer Angebotsstruktur beschritten, die den Markterfordernissen entspricht. Die Umsetzung und die Finanzierung der Standortkonzeption Kombiverkehr ist sicherzustellen. In diesem Bereich kann gleich an mehreren Stellen angesetzt werden. Die Bahn AG hatte bis vor kurzem offensichtliche Probleme bei der Abrufung der im Rahmen des Schienenwegeausbaugesetzes zur Verfügung stehenden Mittel, trotz zu erwartender Kapazitätsprobleme an zahlreichen Standorten. Seit Januar dieses Jahres liegt das Gesamtkonzept nun endlich vor. Eindeutig positiv ist in diesem Zusammenhang die Nachricht zu werten - das ist schon gesagt worden -, daß man nun eine Verständigung über Finanzvereinbarungen erreicht hat, so daß immerhin ein Investitionsvolumen von 400 Millionen DM abgerufen werden kann. Trotz alledem muß die Frage erlaubt sein, ob die sogenannte Konzernbetrachtung, die die Wirtschaftlichkeitsberechnung für jedes einzelne Terminal unter Einbeziehung des Fahrwegs und des Betriebs auf der Strecke erforderlich macht, unter den gegebenen Voraussetzungen die Entwicklung nicht zu sehr hemmt. Fest steht für mich genauso, daß es nicht darum gehen kann, den KV-Terminals Betriebskostenzuschüsse zu gewähren. Der kombinierte Verkehr muß sich ohne Subventionen am Markt behaupten. Darauf hat die Bundesregierung richtigerweise hingewiesen. Die Einbindung privaten Kapitals, die sogenannte Private-Public-Partnership, muß entsprechend vorbereitet sein. Diese Mittel werden allerdings - das ist ebenso sonnenklar - nur dann fließen, wenn ein Mengenzuwachs erreicht werden kann, um entsprechende Renditen zu erzielen. Von den Möglichkeiten, die ordnungs-, investitions- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen für den kombinierten Verkehr zu verbessern, hat die Bundesregierung zahlreiche verwirklicht. Gleichwohl - auch das ist schon angesprochen worden - hat die Erhöhung der Straßenbenutzungsgebühr in Verbindung mit einer Absenkung der KfzSteuer für schwere Lkw zu relativen Wettbewerbsnachteilen geführt. ({2}) Allerdings war diese Maßnahme notwendig, um die Wettbewerbssituation des deutschen Gewerbes sicherzustellen; denn sonst wäre die Ausgangsposition für den Kombi-Verkehr nämlich noch schlechter. ({3}) Er müßte sich dann mit portugiesischen, griechischen, französischen oder niederländischen Sätzen auf der Strecke am Markt behaupten. Damit wäre er von vornherein im Nachteil. Deswegen muß man dies in Gänze sehen und nicht nur einseitig mit Blick auf Deutschland. ({4}) - Man muß nicht jeden Zwischenruf kommentieren. Die Qualität dieses Zwischenrufes spricht für sich selbst. ({5}) Die Zusammenarbeit zwischen den Partnern im kombinierten Verkehr muß weiter verbessert werden. Mit gegenseitigen Schuldzuweisungen und Kompetenzstreitereien, die den Dialog in den vergangenen Jahren belastet haben, kann man das zarte Pflänzchen kombinierter Verkehr sicher nicht pflegen und zum Wachsen bringen. Im kombinierten Verkehr liegt ein erhebliches Wachstumspotential, das allerdings nur dann realisiert werden kann, wenn politisch, fiskalisch, planerisch, logistisch und technisch alle Rahmenbedingungen optimiert werden. Daran - davon bin ich überzeugt - haben die Koalitionsfraktionen und insbesondere auch die Liberalen erheblichen Anteil. ({6}) Deswegen werden wir diesen Weg fortsetzen. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr erfreut darüber, daß die F.D.P. inzwischen erkannt hat, daß es mit dem Straßengüterverkehr so nicht weitergehen kann. Aber, Kollege Friedrich - das richtet sich auch an die von ihm begrüßten Herren; ich weiß nicht, ob Damen dabei sind -: Interessant ist nicht so sehr das, was hier heute gesagt wird, sondern interessant ist das - wie der Kanzler immer zu sagen pflegt - was hinten herauskommt, was getan oder am Ende auch nicht getan wird. ({0}) In der Tat: Für den Straßengüterverkehr wird bis zum Jahr 2010 eine Verdoppelung prognostiziert. Bis heute hat der Straßengüterverkehr gegenüber dem Ausgangsjahr 1988 bereits um fast ein Drittel zugelegt. Die Verkehrsleistungen der Bahn hingegen haben sich gegenüber 1988 mit 125 Millionen Tonnenkilometern fast halbiert und betragen zur Zeit nur noch 71 Millionen Tonnenkilometer. Also genau an dieser Stelle findet, lieber Kollege Richter, Minuswachstum statt. Der für das Jahr 2010 prognostizierte Wert von 135 Millionen Tonnenkilometern - das wissen wir, denke ich, inzwischen alle - ist unrealistisch. Er wird auch bei allen Bemühungen der Bahn - ich nenne hier nur Cargo-Sprinter, Getrenntverkehre usw. - nicht zu erreichen sein. Die Prognosen für Bahn und Binnenschiffahrt müssen leider nach unten, die für den Lkw-Verkehr aber deutlich nach oben korrigiert werden. ({1}) Politischer Handlungsbedarf besteht, und zwar dringender. Dabei gilt es, die Rahmenbedingungen für den Güterverkehr neu zu setzen. Hier ist der Bundesregierung ausdrücklich zuzustimmen. Nur, was ist eigentlich konkret zu tun? Genau an dieser Stelle sind die Gemeinsamkeiten mit der F.D.P. schon wieder passé. ({2}) - Aber eine Seite haben wir geschafft. Natürlich ist der kombinierte Verkehr wesentlich umweltfreundlicher als der Straßengüterverkehr, und jede Steigerung seines Anteils an der Verkehrsleistung ist zu begrüßen. Nur, solange Sie über die Preis-, Ordnungs- und Investitionsbedingungen nicht den gesamten verkehrspolitischen Rahmen ändern, so lange können Sie Kombiverkehrs-Terminals bauen, bis Sie schwarz werden, und es wird sich trotzdem nichts ändern. ({3}) - Sie noch nicht ganz. Gegenwärtig deckt der Schwerlastverkehr seine reinen Wegekosten nicht einmal zur Hälfte, wie das DIW berechnet hat. Eine Studie des Heidelberger Umwelt- und Prognoseinstituts kommt sogar zu einem noch ungünstigeren Verhältnis. So ergaben Berechnungen unter Einbeziehung der ökologischen und gesundheitlichen Folgekosten insgesamt eine Summe von 34,5 Milliarden DM pro Jahr. Abzüglich der Steuereinnahmen von mehr als 7 Milliarden DM beläuft sich das Defizit auf 27,1 Milliarden DM, was einer Kostendeckung von lediglich 22 Prozent entspricht. Allein über preispolitische Instrumente, wie zum Beispiel über die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe, die Anhebung der Mineralölsteuern usw., können die Nutzung verbrauchsärmerer Fahrzeuge sowie eine bessere Auslastung erreicht werden. Vor allem aber wird die verladende Wirtschaft aus Kostengründen veranlaßt, den Verkehr auf die umweltfreundlicheren Verkehrsträger zu verlagern sowie über eine erhöhte Fertigungstiefe und die Erschließung kleinräumiger Absatz- und Bezugsquellen die Fahrleistung zu reduzieren. Sind hier die gleichen Wettbewerbsbedingungen gegeben, dann können auch die investitionspolitischen Instrumente greifen. Eine quantitative und qualitative Verbesserung der Netze und Umschlageinrichtungen wie Güterverkehrszentren und KV-Terminals kann dann neben der Beseitigung von Engpässen im Netz der Bahn dazu führen, daß die potentiellen Verlagerungen auch tatsächlich erreicht werden. Höhere Transportkosten haben über die Verlagerung hinaus auch verkehrsvermeidende Wirkung. Mit steigendem Transportkostenanteil werden bestimmte Güter für die Verbraucher unattraktiv; für die Unternehmer lohnen sich wieder höhere Fertigungstiefen und regionales Wirtschaften. Die PDS hat bereits im September 1995 einen Antrag auf Einführung einer Schwerverkehrsabgabe in den Bundestag eingebracht. Diese Abgabe soll gestaffelt nach dem Gesamtgewicht und der Kilometerleistung bemessen werden. Sie soll die zeitbezogene Straßenbenutzungsgebühr für Lkw ersetzen. Die Einnahmen aus der Schwerverkehrsabgabe können dann zweckgebunden zur Beseitigung der durch den Lkw-Verkehr verursachten Schäden sowie zum Ausbau bzw. zur Modernisierung des Schienengüterverkehrs und des Kombiverkehrs herangezogen werden. Daher kann ich Ihnen die Zustimmung zu diesem Antrag nur empfehlen. Die zum 1. Januar 1995 eingeführte Lkw-Vignette ist - ich denke, das hat sich inzwischen ziemlich deutlich gezeigt - kein geeignetes Mittel zur Vermeidung oder Verlagerung von Verkehr. Als zeitabhängige Gebühr schafft sie dazu auch keinerlei Anreize. Die SPD fordert in ihrem Antrag, Vor- und Nachlaufverkehre des Kombiverkehrs von Straßenbenutzungsgebühren freizustellen. Dies kann meines Erachtens nicht der richtige Weg sein; denn damit wird der Güterverkehr wieder billiger, und der Wettbewerb und der Preiskampf auf diesem Gebiet werden letzten Endes weiter verschärft. ({4}) Die gerechte Anlastung der gesamten Kosten sollte eigentlich hier das Stichwort sein. Wir werden den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen unterstützen, weil die gesamten verkehrspolitischen Rahmenbedingungen auf den Prüfstand müssen und nicht Stück für Stück und sozusagen in Einzelteilen. Ich danke Ihnen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr, unserem Kollegen Johannes Nitsch. ({0})

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allein auf Grund der Anwesenheit zu dieser Stunde im Parlament könnte man den heutigen Tag als Tag des kombinierten Verkehrs bezeichnen. ({0}) Ich glaube, die Debatte hat deutlich gezeigt, wie groß die verkehrspolitische Bedeutung des kombinierten Verkehrs heute einzuschätzen ist. Es wurde bereits mehrfach ausgeführt, daß der Anteil des nationalen kombinierten Verkehrs Schiene/Straße bei Entfernungen von über 400 Kilometern bereits bei über 32 Prozent liegt. Wir gehen davon aus, daß wir in den nächsten 15 Jahren eine Steigerung auf 90 Millionen Tonnen erreichen werden. ({1}) Dazu hat die Bundesregierung schon heute ein ganzes Bündel von Fördermaßnahmen entwickelt und umgesetzt. Aus diesem Bündel möchte ich folgende Punkte nennen: erstens die Ausnahmegenehmigungen für ein erhöhtes Gesamtgewicht von 44 Tonnen für Fahrzeuge, die im Straßenvor- bzw. -nachlauf Container und Wechselbehälter befördern, ({2}) zweitens die Ausnahme vom Fahrverbot an Sonn- und Feiertagen, ({3}) drittens die Ausnahme vom Ferienfahrverbot, ({4}) viertens die Anrechnung der vom Fahrer während der Beförderung mit der rollenden Landstraße im Zug verbrachten Zeit auf die tägliche Ruhezeit, fünftens, die Befreiung der ausschließlich im Vor- bzw. Nachlauf eingesetzten Fahrzeuge von der Kraftfahrzeugsteuer - Herr Sorge, das war ja eine Ihrer Forderungen, wenn ich mich recht erinnere - und sechstens: Hinsichtlich des Fahrverbots in Smogsituationen haben uns die Länder, die hierbei allein zuständig sind, im Bund-Länder-Fachausschuß zugesagt, daß sie im Umkreis von 50 Kilometern eines Terminals Ausnahmegenehmigungen für von Verboten betroffene Lkws erteilen wollen. Das ist gerade für die Wirtschaft eine unabdingbare Voraussetzung, um Planungssicherheit bei Just-intime-Transporten zu erhalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiterer Punkt muß dieser Liste hinzugefügt werden. Wir haben nach intensiven Gesprächen grundsätzliche Einigung mit den Verkehrsministern der anderen Verbundstaaten erzielt, den kombinierten Verkehr künftig von der Straßenbenutzungsgebühr für Lkw zu befreien. Natürlich ist zur Umsetzung noch eine Reihe von Hürden zu nehmen. Insbesondere müssen alle Parlamente der Verbundstaaten durch nationale Gesetzgebungsverfahren daran mitwirken. Herr Abgeordneter Sorge, ich wäre sehr dankbar, wenn die von Ihnen vorgetragenen Vorschläge von Herrn Kinnock in einem offiziellen Papier enthalten wären. Da werden wir aber, glaube ich, noch bis zur nächsten Verkehrsministerkonferenz im Juni warten müssen; Neil Kinnock hat diese Dinge zunächst ja nur in einem Interview geäußert.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Bitte.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte sehr.

Norbert Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich habe die Antwort der Bundesregierung sehr aufmerksam gelesen. Ein einziger Satz fehlt, nämlich die verbindliche Aussage, ob die Mittel, die im Haushalt eingestellt sind, nun endlich freigegeben werden. Mein Kollege Wieland Sorge hat das Debakel, das wir in Erfurt mit dem GVZ erlebt haben, hier angedeutet. Uns laufen die Investoren die Türen ein. Jetzt muß endlich gehandelt werden. Ich bitte Sie, in Ihre Ausführungen mit einzubeziehen, ob jetzt die Mittel verbindlich freigegeben werden, ob sofort mit der Ausschreibung und dem Bau der KV-Anlage in Erfurt und den anderen in den Startlöchern befindlichen KV-Anlagen begonnen werden kann. ({0})

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrter Herr Abgeordneter Otto, wenn ich jetzt Erfurt und Sie ganz persönlich anspreche, dann kann ich sagen, daß Sie am heutigen Tag des kombinierten Verkehrs besonders bedacht worden sind. Gerade für Erfurt sind heute die letzten Hürden ausgeräumt worden. ({0}) Wenn alle anderen Voraussetzungen erfüllt sind, kann es in Erfurt losgehen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Staatssekretär, nach dem Kollegen Otto möchten noch die Kollegen Urbaniak und Küster Ihnen eine Frage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ja, ich bin bereit.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Herr Kollege Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es sollen ja 90 Millionen Tonnen im Rahmen des kombinierten Verkehrs auf Bahn und Binnenschifffahrt umgeschichtet werden, wofür ich natürlich besonders bin. In unserem Bereich haben wir eine Landesförderung, die sich sehen lassen kann, für eine Aktiengesellschaft, an der die freie Wirtschaft und die Stadt beteiligt sind. Die Stadt selbst kann aber nicht finanzieren. Da hier von den Haushaltsmitteln gesprochen wurde und der mir bekannte Kollege Roland Richter hier einiges zur Binnen- und Seeschiffahrt gesagt hat - das ist alles in Ordnung -, möchte ich Sie fragen, ob Sie auch gemischtwirtschaftliche Gesellschaften, die mit großem Engagement den Umschlag zwischen Schiene, Binnenschiffahrt und Straße betreiben, um die Straße zu entlasten, fördern. Herr Kollege Richter hat nämlich gesagt, darüber werde nachgedacht bzw. dies werde gefordert. Werden Sie als Bundesregierung dem Ausschuß vorschlagen, solche verlorenen Baukostenzuschüsse auch für derartige Einrichtungen zu vergeben, weil sie ja unser Ziel der Umschichtung tatsächlich erreichen helfen? ({0})

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Urbaniak, ich begrüße zunächst einmal Ihre generelle Feststellung, daß Sie auch im Bereich der Binnenschiffahrt die Umschichtung und die Vernetzung sehr unterstützen. Es ist ja teilweise sehr schwierig, auf unseren Bundeswasserstraßen voranzukommen, wenn ich nur an Berlin denke. Ganz konkret zu Ihrer Frage: Es muß alles in Betracht gezogen werden, was dem Ziel dient, die Vernetzung und Verlagerung der Verkehre im Bereich der Schiene und im Bereich der Wasserstraße zu fördern, und nicht als Betriebskosten anzusehen ist, sondern im investiven Bereich liegt. Generell aber sind wir bereit, investitionspolitisch Unterstützung zu geben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Sie wollen eine zweite Zusatzfrage stellen? Herr Staatssekretär, lassen Sie sie zu?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ja, bitte, Herr Präsident.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich war schneller als die Bundesregierung. Ich habe nämlich den Präsidenten des Bundeseisenbahnamtes angeschrieben und die Bitte geäußert: Ich habe ein konkretes Projekt. Da wollen wir den kombinierten Verkehr betreiben. - Er teilte mir mit: ({0}) Das kann ausschließlich für DB-Anlagen finanziert werden. Sie gehen also darüber hinaus. Darf ich feststellen, es werden auch private Projekte finanziert? Können Sie das bestätigen?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Ich kenne den konkreten Fall, den Sie hier vortragen, nicht. Sie werden sicherlich verstehen, daß wir uns jedes einzelne Vorhaben daraufhin genau anschauen müssen, welchen Anteil es in der Verlagerung am Ende tatsächlich übernehmen wird. Wir gehen mit jeder einzelnen Mark, die wir dafür bereitstellen, sorgfältig um. Deswegen schließen wir Finanzierungsvereinbarungen ab, die auch eine Wirtschaftlichkeitsberechnung erfordern. Wenn wir das vorliegen haben, werden wir eine endgültige Antwort auf diese Frage geben können. Ich glaube, beides liegt im Moment nicht vor.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Küster, Ihre Frage.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß es Sinn macht, wenn wir im Bereich der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit das „blaue Kreuz Magdeburg", die Elbe, und in diesem Zusammenhang auch den Eisenbahnverkehr ausbauen, daß gleichzeitig aber bei dem sehr wichtigen Punkt, nämlich dem Güterverkehrszentrum Magdeburg, ein Loch besteht? Können Sie bestätigen, daß es nicht sehr sinnvoll ist, dieses Projekt weiterzuschieben?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Abgeordneter Küster, das ist eine sehr gute Frage. Ich selber habe mich nämlich dafür interessiert, warum es beim Ausbau der Elbe in Magdeburg nicht weitergegangen ist. Den Begriff „Ausbau" möchte ich gleich wieder zurücknehmen, weil es uns nicht um den Ausbau der Elbe geht. Wir wollen die Elbe vielmehr reparieren. Wir wollen sie wieder in den Zustand von 1913 versetzen. Damals wurden 15 Millionen Güter auf der Elbe befördert. Dieses Wasserstraßenkreuz Magdeburg ist das interessanteste Wasserstraßenkreuz, das wir in Deutschland haben werden. An diesem KV-Terminal in Magdeburg haben wir wirklich Schiene, Straße und Wasser an einer Stelle - nach Nord und Süd, nach Ost und West. Ich kann Ihnen auf Grund meiner Kenntnisse sagen, daß der Planfeststellungsbeschluß im Monat April, so glaube ich, rechtskräftig werden wird. Der Antrag auf Finanzierungsvereinbarung liegt beim EBA vor. Ich denke, daß wir die Vereinbarung bis zum Sommer abschließen können. Dann könnte noch Ende des Jahres mit der Baufeldfreimachung und Anfang 1997 mit der Baudurchführung begonnen werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wollen Sie noch eine Zusatzfrage stellen? ({0}) - Einen Moment. Wir hatten bis jetzt drei Fragesteller, die fünf Fragen gestellt haben. Normalerweise wird im Verlauf einer Debatte zu bestimmten Äußerungen eine Frage gestellt, die Regierung wird aber nicht wie in der Fragestunde befragt. Gleichwohl sieht die Geschäftsordnung nichts anderes vor, als daß ich als Präsident zu fragen habe, ob der Redner bereit ist zu antworten. Ich stelle die Frage: Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine weitere Frage des Kollegen Dr. Küster und - das sage ich gleich dazu, damit ich nicht noch einmal unterbrechen muß - anschließend eine Frage der Kollegin Elke Ferner zu beantworten?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Präsident, ich bin bereit.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Antwort heißt ja. - Bitte, Herr Kollege Dr. Küster.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Bereitschaft, eine weitere Frage zu beantworten. Können Sie bestätigen, daß alle Entscheidungen einschließlich Hafenausbau im Sommer zusammengeführt werden sollen, um den kombinierten VerDr. Uwe Küster kehr tatsächlich zu ermöglichen? Demnach würde Ihre Entscheidung nach meiner Kenntnis zu spät kommen. ({0})

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Über die beiden Punkte, die ich genannt habe - Rechtskraft des Planfeststellungsbeschlusses und Abschluß der Finanzierungsvereinbarung -, hinaus sehe ich keine Möglichkeit, etwas zu sagen.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, darf ich jetzt fragen, ohne daß Sie mir noch einmal ausdrücklich das Wort erteilen? ({0}) Herr Staatssekretär Nitsch, nachdem Sie bisher fast wortwörtlich die Rede, die Herr Wissmann heute früh auf dem DVZ-Forum gehalten hat, auch im Deutschen Bundestag vortragen, möchte ich zu dem Thema Bereitstellung von 400 Millionen DM für die in Rede stehenden Güterverkehrszentren fragen, aus welchem Haushaltstitel die Gelder kommen. Wird das über Baukostenzuschüsse oder zinslose Darlehen finanziert, und für welchen Zeitraum wird der Betrag bereitgestellt? ({1}) - Wieso keine Details? Ist das unangenehm?

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Frau Ferner, ich glaube, die Finanzierung wird sowohl über Baukostenzuschüsse als auch über Darlehen erfolgen. Es wird beides drin sein. Der Gesamtumfang, den wir aus dem Haushalt bereitstellen können, beläuft sich jährlich auf 200 Millionen DM. Dieser Betrag wird nicht auf ein oder zwei Vorhaben verteilt, sondern es werden gleichzeitig mehrere Güterverkehrszentren gebaut werden. Wir werden das Geld so bereitstellen, daß es entsprechend dem Bauablauf zur Verfügung steht. ({0}) - Aus unserem Haushalt, soweit ich weiß. ({1}) Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich jetzt in meiner Rede fortfahren. Ich beginne wieder an der Stelle, an der Herr Otto gefragt hatte. Eine erste Sammelfinanzierungsvereinbarung - Frau Ferner, Sie haben das sicherlich auch schon gehört - zum Bau von sieben Terminals des kombinierten Verkehrs mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von zunächst 400 Millionen DM ist in dieser Woche unter Dach und Fach gebracht worden. Es sind dies die Projekte Großbeeren, Köln-Eifeltor, Basel, Kornwestheim, Erfurt, Karlsruhe und Leipzig. Der Bau neuer Terminals und die Erweiterung bestehender Anlagen wird dadurch wesentlich erleichtert. Ziel ist es, die DB AG in die Lage zu versetzen, jährlich 200 Millionen DM in den Terminalbau zu investieren und so den zügigen und nachfragegerechten Ausbau zu gewährleisten. Für die Bundesregierung ist klar: Der Ausbau des kombinierten Verkehrs gehört zu den entscheidenden Faktoren für eine systematische Vernetzung aller Verkehrsträger. Zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung werden jedoch noch weitere innovative Technologien notwendig sein. Gemeinsam mit der DB AG wurden Untersuchungen zur weiteren Optimierung durchgeführt. Sie lassen erkennen, daß es effektivere Wege gibt. So ist die Einrichtung großer Drehscheiben, sogenannter Megahubs vorgesehen, die deutliche organisatorische und kostenmäßige Vorteile bringen. Die Umstellkapazität verdreifacht sich bei diesem System gegenüber den derzeitigen Rangierbahnhöfen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich kann nicht erkennen, ob der Kollege Professor Scholz eine Frage stellen möchte. ({0}) - Normalerweise hört man der Debatte im Sitzen zu, Herr Kollege. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, fahren Sie bitte fort.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Wir denken, daß wir diese Megahubsysteme möglichst schnell nutzen sollten, und wir hoffen, daß eines davon in Hannover-Lehrte noch rechtzeitig vor der Expo 2000 realisiert werden kann. Alle diese Maßnahmen reihen sich deutlich in unsere Strategie zum Abbau einseitiger Wettbewerbsvorteile der Straße ein, die die Marktposition von Bahn und Schiffahrt wirksam verbessern werden. Für die Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern ist und bleibt in erster Linie eine verursachergerechte Wegekostenanlastung unverzichtbar. Ein erster entscheidender Schritt wurde hier mit der Einführung der Autobahnbenutzungsgebühr für in- und ausländische Lkw erreicht. Ihre, den realen Bedingungen angemessene Erhöhung ist der nächste Schritt, um den es geht. ({0}) Vor diesem Hintergrund begrüßt die Bundesregierung ausdrücklich die Ankündigung der Europäischen Kommission zur Anhebung der Straßenbenutzungsgebühr für Lkw. Damit wird gleichzeitig allen der Wind aus den Segeln genommen, die immer wieder auf Mittel des Zwangs, auf Verbote und auf unnötige Restriktionen setzen. Die Bundesregierung versteht unter kombiniertem Verkehr sowohl den kombinierten Verkehr Schiene/ Straße als auch den kombinierten Verkehr Wasserstraße/Straße, das heißt, neben der Binnenschiffahrt auch den Bereich „From Road to Sea". Um das Verlagerungspotential auf die Küstenschiffahrt in Höhe von rund 14 Millionen Tonnen pro Jahr zu realisieren, hat Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann erst jüngst die Einberufung eines Runden Tisches der Praktiker angekündigt. Noch im März wird sich dieses Gremium zusammensetzen und konstituieren. Sie sehen, daß wir in allen Bereichen günstige Rahmenbedingungen für den kombinierten Verkehr schaffen und auch weiterhin schaffen werden. Damit stellen wir sicher, daß er als Mittel der Vernetzung der Verkehrsträger seine wichtige verkehrspolitische Aufgabe erfüllen kann. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Berthold Wittich, Sie haben das Wort.

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum ist eine radikale Kurskorrektur in der Verkehrspolitik auf der Grundlage eines integrierten Konzeptes, das die Vorzüge der verschiedenen Verkehrsträger koordiniert und vernetzt, eine existentielle Frage und das Gebot der Stunde? Die Antwort gibt die verkehrspolitische Realität. Auf den Straßen der Europäischen Union verdichtet sich der Verkehr immer mehr und treibt in den totalen Kollaps hinein. Das gilt vor allem für die Bundesrepublik als Transitland Nummer eins im Herzen Europas. Diese grundlegende Neuorientierung, deren Richtung insbesondere durch die Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf umweltfreundlichere Verkehrsmittel bestimmt sein muß, ist nicht nur aus verkehrspolitischer Sicht ein Akt der Vernunft. ({0}) Die Daten und Fakten der Klimakonferenzen der Vereinten Nationen in Rio, in Berlin, in Wien und in Genf, aber auch die Berichte der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" erinnern uns in dramatischer Weise daran, daß die Natur zurückschlägt, wenn sie vergewaltigt wird. ({1}) Wer die Lebensgrundlagen unserer Kinder, Enkelkinder und zukünftiger Generationen bewahren und die verkehrspolitische Katastrophe abwenden will, darf die umweltverträglichen Verkehrsträger nicht aufs Abstellgleis schieben oder gar zu Tode rationalisieren. ({2}) Auch die Bundesregierung betont in ihrer Antwort die Notwendigkeit, Mobilität umweltgerecht zu organisieren. In der Vorbemerkung heißt es weiter, unbestritten sei der „hohe Stellenwert einer integrierten Verkehrspolitik" auf der Basis einer engen Vernetzung und Kooperation der Verkehrsträger. Jedoch reicht allein die bloße Beschreibung eines hehren Zieles nicht aus. Da müssen schon den Worten auch die Taten folgen. ({3}) Weil die Passivität der Regierung im krassen Gegensatz zu den Zielen eines integrierten Verkehrskonzeptes steht, bleibt das Bekenntnis zu den Vorzügen und Vorteilen des kombinierten Verkehrs eine inhaltsleere verbale Bekundung. ({4}) Diesen Vorwurf würde ich nicht an die Bundesregierung adressieren, wenn sie ausreichende Mittel für den Neu- und Ausbau des Schienennetzes im Haushalt bereitgestellt hätte. ({5}) Obwohl die Regierung die Stärkung der Bahn, der Binnenschiffahrt und kombinierter Verkehre in offiziellen Erklärungen und in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Regierungsparteien propagiert, setzt sie in der Praxis - das sage ich mit Nachdruck - weiter auf Beton und Asphalt. ({6}) Damit schreibt sie den Vorsprung der Straße auf Dauer fest und verhindert die längst fällige Reform des Verkehrswesens. ({7}) Daß es der Bundesregierung an Mut und Entschlossenheit fehlt, die Kurskorrektur in der Verkehrspolitik durchzusetzen, notfalls gegen den Widerstand einer mächtigen Lobby, beweist die Streichorgie zu Lasten der Bahn. Ich muß es noch einmal hervorheben: Wer die Investitionsmittel für das Jahr 1996 um mehr als 2 Milliarden DM kürzt und für den Zeitraum von 1996 bis 1999 um 16 Milliarden DM zusammenstreichen will, setzt die Akzente falsch und hält konservativer denn je an der Maxime „Freie Fahrt für freie Bürger" fest. ({8}) Wer das tut, ist auch nicht fähig und willens, Strekken auszubauen, Netze zu entmischen und jede Möglichkeit zu nutzen, das brachliegende Potential des kombinierten Verkehrs auszuschöpfen. Geradezu skandalös ist die Tatsache, daß in den letzten beiden Haushaltsjahren die für den Ausbau der Terminals zur Verfügung stehenden Mittel verfallen sind. Nicht zuletzt haben die permanenten Interventionen des Bundesfinanzministers die Realisierung eines flächendeckenden Netzes von Terminals für den kombinierten Verkehr immer wieder verzögert und auf die lange Bank geschoben. Es ist von meinen Vorrednern schon erwähnt worden. Ich stelle fest: Dieser Regierung fehlt die Einsicht, daß wir nicht mehr zuwarten dürfen, daß wir jede verkehrspolitische Maßnahme ergreifen müssen, um den Verkehr als entscheidendes Kreislaufsystem unserer Wirtschaft funktionsfähig zu erhalten. ({9}) Orientiert an dem Entschließungsantrag der SPDBundestagsfraktion, fordere ich die Bundesregierung auf, das geplante Netz von Kombiverkehrsterminals grundsätzlich nur mit Baukostenzuschüssen zu fördern. Die Darlehensfinanzierung ist weder betriebswirtschaftlich noch politisch vertretbar. Hier, Herr Richter, sehe ich auch den Widerspruch in Ihrer Rede. Sie haben sehr deutlich darauf hingewiesen, daß der kombinierte Verkehr benachteiligt ist. Wenn Sie dann aber für Darlehensfinanzierung plädieren, ist das kein geeigneter Beitrag, um das Kostengefüge, meinetwegen für die Bahn, zu reduzieren und den Prozeß zu beschleunigen. ({10}) Wir Sozialdemokraten machen uns in Verbindung mit dieser Problematik für eine Lösung stark, die die Bereitstellung eines eigenen Haushaltstitels zur Förderung von Investitionen Dritter beinhaltet, damit auch Güterverkehrszentren, Schnittstellen zwischen der Binnenschiffahrt und der Straße und Road-toSea-Konzepte schneller als bisher umgesetzt werden können.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Wittich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Richter?

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Roland Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002760, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wittich, würden Sie bereit sein, zur Kenntnis zu nehmen, daß Mittel, die wir von seiten des Bundes geben, um Vorhaben voranzubringen, begrenzt sind, daß dann, wenn die Antwort Ja ist, die Mittel, sofern man sie nicht ausschließlich als Baukostenzuschuß gibt, sondern auch als Darlehen, für sehr viel mehr Projekte reichen und daß die Vereinbarungen, die zwischen der DB AG, also derjenigen, die diese Terminals bauen wird, und der Bundesregierung getroffen worden sind - somit hat diejenige, die wirtschaftlichen Sachverstand hat, ja gesagt zu der Sache -, Anlaß für Sie sein müßten, Ihre soeben geäußerte Ansicht zu revidieren? ({0})

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Richter, Sie haben sicherlich recht, wenn Sie sagen, daß die Mittel immer knapper werden. Aber wie wollen Sie eigentlich die Verkehrswende organisieren, wenn Sie in den nächsten Jahren zum Beispiel der Bahn Milliarden durch den Bau einer 285 Kilometer langen Transrapidstrecke entziehen? ({0}) Auch ich bin für diese Transrapidstrecke, aber ich meine, 50 Kilometer würden ausreichen, um eine faszinierende Technologie unter Ernstfallbedingungen zu präsentieren. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Auch der Kollege Urbaniak wollte eine Zwischenfrage stellen.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich höre zu meinem Schrecken, daß die Bundesregierung überall Terminals der Bahn AG fördern will. Es verfallen Mittel; in den letzten zwei Jahren sind lächerliche 10 Millionen DM für Planungskosten ausgegeben worden. Wie hoch sind denn eigentlich die Mittel, die verfallen sind? Ein Zeitraum von zwei Jahren ist ja völlig vertan worden, um den kombinierten Verkehr voranzubringen. ({0}) Wie hoch sind denn die Mittel, die auf Grund der Inaktivität von Koalition und Bundesregierung verfallen sind?

Berthold Wittich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002538, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das vermag ich im Moment nicht genau zu sagen. Nur, es handelt sich um einen erheblichen Betrag; nur das ist wesentlich. ({0}) - Bevor ich hier eine falsche Zahl nenne, sage ich die Wahrheit. Dazu bekenne ich mich. ({1}) Aber die Frage ist berechtigt. Es ist eine verheerende Entwicklung, daß Mittel, die dringend gebraucht werden, um den kombinierten Verkehr auszubauen, verfallen mußten. Wir fordern weiter, daß die Bundesregierung die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen dafür schafft, daß nicht abgerufene Infrastrukturinvestitionsmittel jeweils auch zur Förderung der Waggonbeschaffung im kombinierten Verkehr und zur Entwicklung von Telematik-Systemen zur logistischen Unterstützung von Umschlagvorgängen eingesetzt werden können. Wir fordern die Bundesregierung auf, umgehend die Voraussetzung für die Einführung einer gerechten Form der fahrleistungsbezogenen Wegekostenabgabe für den Straßengüterverkehr zu schaffen. Ich komme zum Schluß. Nach Aussage des für den Güterverkehr zuständigen Vorstandsmitgliedes der Deutschen Bahn AG, Dr. Eberhard Sinnecker, kann das Aufkommen im kombinierten Verkehr mittelfristig verdoppelt, langfristig sogar verdreifacht werden. Das setzt jedoch die Aufhebung der Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Bahn sowie der Binnen- und Küstenschiffahrt und die Umschichtung der investiven Mittel zugunsten des kombinierten Verkehrs voraus. ({2}) Wir brauchen - ich wiederhole - keine 285 Kilometer lange Transrapidstrecke, die Milliarden verschlingt. ({3}) Unser Land braucht Investitionen für den Aufbau von integrierten Transportketten, für den Infrastrukturausbau, für die Anschaffung modernen Wagenmaterials und für die Errichtung von Umschlageinrichtungen. ({4}) Das wäre auch ein gewaltiger Investitionsschub und ein entscheidender Beitrag zur Entschärfung der brisanten Lage auf dem Arbeitsmarkt. ({5}) Dieses qualitative Wachstum würde den Menschen Arbeit und Brot, eine berufliche Perspektive und damit Vertrauen in die Zukunft geben. Falls wir diese Chance nicht ergreifen, treiben wir in eine Sackgasse hinein, an deren Ende der Verlust der Mobilität und der Lebensqualität steht. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Georg Brunnhuber. ({0})

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich ist heute ein großer Tag für den kombinierten Verkehr. Denn heute konnte vom Bundesverkehrsminister bekanntgegeben werden, daß sieben neue Terminals gebaut werden. Da frage ich mich, was die wirklich sehr primitive Kritik der Opposition soll. Diese Regierung hat gezeigt: Sie ist handlungsfähig, ({0}) sie baut diese Terminals, und sie unterstützt diese Terminals. 400 Millionen DM werden freigegeben. Alle Redner der Opposition haben in den letzten zwei Jahren offensichtlich nicht mitbekommen, daß wir die Bahn reformiert haben, indem wir sie privatisiert haben. ({1}) Diese zwei Jahre waren bei der Bahn AG notwendig, um zu planen. Seit Januar liegt der Generalplan für den Kombi-Verkehr vor. Innerhalb von vier Wochen haben Verkehrsministerium und Finanzministerium gemeinsam entschieden, was gemacht wird: Sieben neue Terminals werden gebaut. Sie müßten sich eigentlich heute hierherstellen und „Danke" sagen, weil wir so gut gearbeitet haben. ({2}) Wenn wir jetzt in Großbeeren, Leipzig, Erfurt, Köln, Kornwestheim, Karlsruhe und Basel bauen, kann ich Ihnen nur sagen: Ihre Zeit wird kommen; denn vor Ort sehe ich schon jetzt, wie Rot und Grün mit der Tafel marschieren: Überall bauen, nur nicht bei uns. Da sind nämlich Sie gefordert. ({3}) Da können Sie dann zeigen, daß Sie wirklich für den kombinierten Verkehr sind, weil Sie nämlich vor Ort eine Verantwortung haben. Ich bin gespannt, was Ihre Genossen gerade in Kornwestheim, aber auch anderswo vor Ort organisieren werden, wenn wir sagen, daß dort gebaut wird. Dabei benötigen wir insbesondere in Basel diesen Verkehr, um über die Alpen zu kommen, wofür das eine ganz hervorragende Möglichkeit ist. Vorhin wurde von den Grünen eingewandt, der kombinierte Verkehr sei ständig im Rücklauf. Auch dies stimmt nicht. Beim Fernverkehr Köln-Mannheim-Mailand hat der Kombi-Verkehr 60 Prozent Anteile. Das muß man doch einmal festhalten. Das ist doch schon etwas bei all den Problemen in den letzten Jahren. Auch hier war die Opposition schlecht informiert. Wenn ich sehe, wie in Nordrhein-Westfalen Verkehrspolitik betrieben wird, daß vom Köln/BonnerFlughafen das Frachtflugunternehmen TNT, das hier einen großen Umschlagplatz hat, nach Lüttich abmarschieren muß - dieses Unternehmen ist im Bereich des kombinierten Verkehrs tätig -, ({4}) weil die rot-grüne Koalition nicht in der Lage ist, vernünftige Politik zu betreiben, dann wundert mich nichts mehr. Ich möchte hier aus einem Kommentar von Jens Feddersen zitieren, einem Journalisten, der sicherlich nicht der CDU zugerechnet werden kann. Er schreibt, von einem Kabinettsmitglied der SPD in Nordrhein-Westfalen sei über die Grünen gesagt worden, daß sie „lieber jede Mark für Lesben- und Schwulenbüros ausgeben als für auch nur einen Meter Autobahn" . Da kann man nur sagen: Verkehr ist halt Verkehr; jeder hat seine eigene Auffassung darüber. ({5}) Von Herrn Sorge und Herrn Wittich wurde nicht eindeutig nachvollzogen, daß die Regierung noch weiter gehandelt hat. Sie hat bereits Ausnahmegenehmigungen durchgesetzt, nämlich für die 44 Tonnen erhöhtes Gesamtgewicht bei der Containerbeförderung im Straßenvor- und -nachlauf.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie zwei Zwischenfragen? Der Kollege Oesinghaus hat sich als erster gemeldet und die Kollegin Altmann als zweite.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Interesse der Kolleginnnen und Kollegen, die diese Debatte jetzt schon über anderthalb Stunden anhören, meine ich, ist es sinnvoller, die Zwischenfragen nicht zuzulassen, ({0}) zumal die Fragen, die bisher von der Opposition gestellt wurden, nicht gerade von großer Sachkenntnis geprägt waren. Wir haben zur Finanzierung heute mehrere Einlassungen gehört. Ich persönlich und die CDU/CSUFraktion möchten natürlich, daß noch mehr privates Kapital für diese Terminals organisiert werden kann; denn ich glaube, daß dies auch eine Aufgabe der Verkehrswirtschaft ist. Wir haben auch ausschließlich privat organisierte Umschlagplätze, zum Beispiel in Nürnberg, wo Straße, Schiene und Wasser schon zusammengeführt sind. Die Synergieeffekte, die hierbei entstehen - Zusammenarbeit zwischen Spediteuren, privaten Betreibern und der Bahn AG, die ein großes Interesse daran haben muß, daß auf ihrer Infrastruktur Schiene Güterverkehr stattfindet -, ergeben sich auf Grund der guten Logistik. Auch dadurch ist gewährleistet, daß der sparsame Mitteleinsatz des Bundes sinnvoll angewandt wird. Denn wenn die Betreiber dafür verantwortlich sind, daß die Terminals wirtschaftlich arbeiten, werden sie auch beim Bau dieser Terminals dafür sorgen, daß diese nicht so teuer werden. ({1}) Ein wichtiger Punkt, der noch zu kurz kam und zumindest angerissen werden muß, betrifft die im Laufe der nächsten zwei Sitzungswochen anstehende Telematik-Debatte. ({2}) Der kombinierte Verkehr eignet sich ganz hervorragend für die Telematik, weil in diesem Bereich Informationen notwendig sind. Informationsbeschaffung, Informationsweitergabe, Schnittstellen - das sind die telematischen Grundvoraussetzungen. Vielleicht kann die Telematik über den kombinierten Verkehr in der Bundesrepublik Deutschland sogar eine Vorreiterrolle im Gesamtverkehr einnehmen; denn in diesem Bereich wird er benötigt, wird er teilweise auch schon angewandt. Die Bahn hat die Voraussetzungen für den kombinierten Verkehr zu schaffen. Sie muß ihre Güterwaggons mit einer Kennung versehen, damit man weiß, wo diese Güterwaggons gerade sind. Dazu sind telematische Einrichtungen notwendig. Wenn die Opposition das ablehnt, zeigt sie, daß sie nicht nur insgesamt technologiefeindlich ist, sondern gerade im Straßenverkehr alles vermeidet und verhindert, was zu einem umweltgerechten Verkehrsablauf führen kann. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Redezeit, Herr Kollege.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, ich komme zum Ende. Ich möchte deutlich machen: Man muß der Bahn AG ein Kompliment machen, die in dieser schwierigen Umstrukturierungszeit, im Zuge ihrer Neuformierung in der Lage war, ({0}) diesen kombinierten Verkehr neu zu organisieren und zum Erfolg zu führen. Wer in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsplätze erhalten und sichern will, wer umweltfreundlich transportieren will, der unterstützt die Politik dieser Regierung im kombinierten Verkehr. Danke schön. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Kolleginnen und Kollegen, bei mir wurde eine ganze Serie von Kurzinterventionen angemeldet. ({0}) - Einen Moment. - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die eine Kurzintervention angemeldet haben, um Verständnis dafür, daß ich angesichts der Vielzahl von Zwischenfragen, die diese Debatte ohnehin sehr ausgedehnt haben, keine Kurzinterventionen mehr zulasse. Ich will eine kleine Einschränkung machen. Die Kollegin Altmann fühlt sich in einer bestimmten Frage besonders angesprochen. Ich wäre dankbar, Frau Kollegin, wenn Sie Ihre Kurzintervention sehr kurz fassen würden, damit die Bewilligung Ihrer Kurzintervention keine Bevorzugung gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, denen ich sie ablehnen muß, darstellt. Ich darf Sie bitten. ({1})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich danke Ihnen, daß ich doch noch die Möglichkeit einer Kurzintervention bekomme. Ich möchte etwas zu einer Äußerung von Herrn Brunnhuber sagen, nämlich zu dem Zitat, daß die Grünen lieber Büros für Schwule und Lesben einrichten, statt in den Straßenbau zu investieren. Ich finde diese Äußerung unerträglich, zutiefst diskriminierend. ({0}) Gila Altmann ({1}) Ich muß sagen: Schwule und Lesben sind schon genügend Repressalien ausgesetzt. Es ist wirklich nicht im Sinne dieses Hauses, diese hier fortzusetzen. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Brunnhuber.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Altmann, ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Äußerung nicht aus meiner Feder stammt, sondern von dem bekannten Journalisten Jens Feddersen, der das in einer heute erschienenen Zeitung geschrieben hat. Ich habe diese Äußerung als Zitat weitergegeben, habe auch darauf hingewiesen, daß ich zitiere. Wenn Sie sich, Frau Kollegin Altmann, davon durch mich betroffen fühlen, dann tut es mir leid, dann entschuldige ich mich. ({0}) - Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich dabei um eine Kritik handelt, die in der Öffentlichkeit über Ihre Verkehrspolitik geäußert wird. Das wird ja noch erlaubt sein. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3883 an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3886 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Verkehr und zur Mitberatung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Herausnahme von Ghana aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten - Drucksache 13/3329 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort auf die Frage, in welchem Staat ein Mensch keine politischen Verfolgungen zu befürchten hat, fällt gewiß außerordentlich schwer. § 29 a des Asylverfahrensgesetzes bezeichnet einen Antrag als offensichtlich unbegründet, wenn der Bewerber oder die Bewerberin aus einem „sicheren Herkunftsstaat" kommt. Für den Flüchtling bleibt aber dennoch die Möglichkeit, nachzuweisen oder Tatsachen anzugeben, daß ihm selbst bzw. nach denen ihm selbst aus bestimmten Gründen politische Verfolgung droht, auch wenn das nach internationaler Einschätzung allgemein in seinem Land nicht gilt. Zusätzliche Sicherungen sind also im Gesetz eingebaut. Bekannt ist auch, daß sich schon vor der Neuregelung des Asylrechts die Entscheider beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in der Praxis grundsätzlich an solchen Länderlisten orientierten. Dennoch bleibt die förmliche Festlegung im Gesetz selber einer der heiklen Bestandteile des Asylkompromisses. Schließlich sind die Fristen für die Betroffenen knapp bemessen und die Beweise schwer zu erbringen. Wir dürfen uns da überhaupt nichts vormachen. ({0}) Wir Sozialdemokraten hatten aus diesem Grunde seinerzeit bei den Verhandlungen über das Asylverfahrensgesetz darauf gedrängt, auf die Liste der sicheren Herkunftsstaaten nach strengen Kriterien nur sehr wenige Länder zu setzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich muß die Liste - je nach aktueller Entwicklung in den Ländern - überprüft, gegebenenfalls auch korrigiert werden. Wir haben das vor einiger Zeit - wenn ich daran erinnern darf - im Konsens und ohne viel Aufhebens mit dem afrikanischen Land Gambia so gehalten. Darüber waren Sie sich sogar in der Koalition einig. Die Bundesregierung hat auf ihrer Kabinettsitzung am vergangenen Mittwoch Entsprechendes für Senegal beschlossen. Wir beantragen jetzt, Ghana von der Liste der sicheren Herkunftsstaaten zu streichen. Den - dies möchte ich betonen - strengen Ansprüchen an die Wahrung der Menschenrechte wird dieses Land nicht gerecht. Für die Bundesrepublik ist es ein Armutszeugnis, daß im Zuge der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe über das neue Asylrecht Mängel im Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu den Verhältnissen in Ghana zutage traten und die Bundesregierung diese Defizite zugeben mußte. Damit ist es aber noch nicht getan. Wir als Abgeordnete und Mitglieder des für Asylfragen federführenden Ausschusses rügen ausdrücklich, daß das Parlament über die aktuelle Situation mangelhaft informiert worden ist. Nach Erkenntnissen von Amnesty International sind seit Bestehen der PNDC-Regierung in jedem Jahr - das Jahr 1994 einmal ausgenommen - TodesDr. Cornelie Sonntag-Wolgast urteile ausgesprochen worden. Im Jahre 1990 wurden in Ghana neun Hinrichtungen vollzogen, drei Jahre später sogar zwölf: wegen Mordes, wegen Verrats und wegen Umsturzversuches - so die offiziellen Begründungen. Gerade die im Jahre 1993 vollstreckten Todesurteile lösten vor allen Dingen bei den Menschenrechtsorganisationen große Sorgen aus, da man befürchten mußte, daß nun der faktisch noch bestehende Hinrichtungsstopp aufgehoben sei und weiteren Todesurteilen freie Bahn gegeben würde. Wir betrachten es als schwerwiegendes Versäumnis des Auswärtigen Amtes, daß erst im November 1995, also erst vor wenigen Monaten, in einem geänderten Lagebericht die Vollstreckung eines Todesurteils eingeräumt wurde. Als das Parlament 1993 bestimmte, welches Land als sicher eingestuft werden könne, fand sich im Prüfungsbericht der Bundesregierung von Januar 1993 nur die Aussage, 1992 sei kein Fall einer Hinrichtung bekanntgeworden. Am 10. Mai 1993 hat dann der Auswärtige Ausschuß mit Mehrheit die Aufnahme Ghanas in diese Liste beschlossen. Der Innenausschuß stützte sich wiederum auf die Stellungnahme des Auswärtigen Ausschusses. Das Parlament hat sich bei wichtigen Entscheidungen, bei denen es um mögliche Gefahren für Leib und Leben von Menschen ging, offenkundig nicht auf verläßliche und aktuelle Berichte stützen können. Die Bundesregierung hat damit fahrlässig gehandelt und den Deutschen Bundestag unzureichend und mangelhaft unterrichtet. Das erfordert umgehend einschneidende Konsequenzen. ({1}) Die Diskussion unter Menschenrechtsgruppen über die Qualität der Lageberichte des Auswärtigen Amtes ist generell, über den aktuellen Fall hinaus, in vollem Gange. Ich will hier keine negativen Pauschalurteile ({2}) - das tue ich nicht, Herr Schäfer - fällen nach dem Motto: alles nur Schönfärberei. Aber unsere Erfahrungen mit diesen Lageberichten sind in der Tat unterschiedlich: Manche liefern eine durchaus kritische Schilderung der Zustände im jeweiligen Land, bei anderen wünschte man sich aber differenziertere Analysen. Wir fänden es auch sinnvoll, wenn in Ländern, aus denen viele Asylbewerber zu uns kommen, auch Entscheider des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vor Ort ihren Sachverstand und ihr Urteilsvermögen einbringen könnten. Was wir am Beispiel Ghana erlebt haben, muß unsere Skepsis schärfen. Deswegen die Konsequenz: Wir fordern die Bundesregierung auf, durch Rechtsverordnung im § 29 a des Asylverfahrensgesetzes unverzüglich zu bestimmen, daß Ghana nicht mehr als sicherer Herkunftsstaat aufgeführt wird. ({3}) Dafür wird eine Frist von sechs Monaten festgelegt, so entspricht es den Regularien. Wir verlangen außerdem einen sorgfältigen, aus seriösen Quellen gespeisten Bericht zur aktuellen Situation in Ghana. Wir brauchen konkrete und aktuelle Daten zu den rechtlichen und politischen Verhältnissen; das ist eine notwendige Sofortmaßnahme. Sie sagt - um auch das zu betonen - noch nichts darüber aus, ob das Land auch im Gesetz selbst von der Liste solcher Herkunftsstaaten langfristig gestrichen werden muß. Aber sie räumt das Risiko aus dem Weg, Fehlentscheidungen zu Lasten von Menschen zu treffen, die bei uns Schutz gesucht haben. Über weitere Konsequenzen kann der Gesetzgeber im Lichte des umfassenden und wahrheitsgetreuen Berichts entscheiden, den wir hoffentlich erwarten dürfen. Darüber muß man eigentlich keine langen Diskussionen und Beratungen mehr führen. Dies ist ein Schritt, den man sofort vollziehen kann. Und es ist auch der einzige Weg, den die Bundesregierung einschlagen muß, um ihren Fehler der mangelhaften Unterrichtung wiedergutzumachen. ({4}) Sie sollten ihn ohne weitere Diskussionen gehen. Das sind Sie uns, das sind Sie sich, das sind Sie dem Parlament schuldig. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Vorwurf, die Bundesregierung habe den Deutschen Bundestag im Gesetzgebungsverfahren hinsichtlich der Aufnahme Ghanas in die Anlage II zum Asylverfahrensgesetz unvollständig und damit falsch unterrichtet, muß ich auf das entschiedenste zurückweisen. Ich möchte hier auch klarstellen, daß die Entscheidung der Bundesregierung auf allen verfügbaren Erkenntnisquellen beruht, also auch auf Berichten, die nicht vom Auswärtigen Amt stammen. Auch diese Berichte haben sich bisher im Kern, auch im Hinblick auf Ghana, als zutreffend erwiesen. Lassen Sie mich deshalb ganz kurz darstellen, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist und wie sie insbesondere begründet war. Bei der Festlegung Ghanas als eines sicheren Herkunftsstaates hat die Bundesregierung den Obleuten der Fraktionen - wie Sie wissen, auch der Fraktion der SPD - die Aufzeichnung vom 5. Januar 1993 mit dem Titel „Prüfung sicherer Herkunftsstaaten: Ghana" übermittelt. Dieser Aufzeichnung, Frau KolParl. Staatssekretär Eduard Lintner legin, war seinerzeit ein Auszug aus dem Jahresbericht 1992 von Amnesty International als Anlage beigefügt, in dem es wörtlich heißt: Mindestens acht Personen wurden zum Tode verurteilt; Hinrichtungen haben dagegen, soweit bekannt, nicht stattgefunden. Das war also der allgemeine Erkenntnisstand bei der Verabschiedung des Asylverfahrensgesetzes. Erstmals wird in dem im August 1994 herausgegebenen Jahresbericht 1994 von Amnesty International auf Hinrichtungen hingewiesen, und zwar in folgender Passage: Die Gerichte verurteilten drei Personen zum Tode; zwölf Menschen wurden hingerichtet. Nun muß man wissen, daß als sicherer Herkunftsstaat nach Art. 16a Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes ein Staat bestimmt werden kann, bei dem auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Die Tatsache, daß ein Staat für bestimmte, festgelegte schwere Kapitalverbrechen, die nach Art. 1 F Buchstabe b der Genfer Flüchtlingskonvention sogar die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention ausschließen, die Todesstrafe verhängen kann und sie gegebenenfalls auch vollstreckt, steht einer Festlegung dieses Staates als eines sicheren Herkunftsstaates grundsätzlich nicht entgegen. Sonst müßten zum Beispiel auch - das läge in der Konsequenz -, wenn diese Frage tatsächlich zur Entscheidung anstünde, etwa die Vereinigten Staaten von Amerika als nicht sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden. Es kommt daher immer darauf an, für welche Straftaten die Todesstrafe verhängt und gegebenenfalls vollstreckt werden kann und ob die Gefahr eines Mißbrauchs des an sich korrekten Verfahrens besteht. In Ghana kann die Todesstrafe nur für „murder" - Mord -, „treason" - Verrat -, „subversion" - Umsturz - und für bestimmte spezielle Formen des Raubes verhängt werden. Wie auch Amnesty International schriftlich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, ist eine Erweiterung dieses Kataloges gegenwärtig nicht zu erkennen, auch nicht auf dem „kalten" Wege. Die zwölf Hinrichtungen im Jahre 1993 erfolgten nach Angaben von Amnesty International wegen Beteiligung an bewaffnetem Raub und Mord. Nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen waren drei Täter wegen Mordes, vier Täter wegen bewaffneten Raubüberfalls mit Todesfolge und fünf Täter wegen schweren bewaffneten Raubüberfalls zum Tode verurteilt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Kollegin Kerstin Müller?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Ja.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lintner, ich möchte Ihnen eine Frage bezüglich der Verhandlungen beim Bundesverfassungsgericht stellen. Das Auswärtige Amt bzw. Ihre Seite hat dort ähnlich argumentiert, wie Sie das jetzt dargestellt haben, und wurde von den Richtern darauf hingewiesen, daß die Todesstrafe auf europäischer Ebene durch das 6. Fakultativprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention geächtet sei und daß Art. 16a Abs. 3 Grundgesetz ausdrücklich mit Bezug auf dieses Protokoll entstanden sei. Würden Sie mir also zustimmen, daß Ihrer Argumentation an diesem Punkt nicht gefolgt werden kann?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Nein, Frau Kollegin. Maßgebend ist hier die Genfer Flüchtlingskonvention. Ich habe darauf hingewiesen, daß selbst die Flüchtlingskonvention, die sich mit dem Schutz von Flüchtlingen in den Mitgliedstaaten befaßt, genau die Differenzierung, die ich Ihnen vorgetragen habe, erlaubt. Ein Asylsuchender kann selbstverständlich das Vorliegen derartiger Tatbestände im Rahmen seines Asylverfahrens geltend machen. Bundesamt und Verwaltungsgerichte haben dann zu prüfen, ob im entsprechenden Einzelfall eine politische Verfolgung nach Art. 16a Abs. 1 Grundgesetz gegeben ist oder ob die Abschiebungshindernisse der §§ 51 und 53 des Ausländergesetzes vorliegen. Für den Erlaß einer Verordnung nach § 29 a Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes - also im Sinne des Antrags der SPD - besteht deshalb derzeit keine Veranlassung. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ergänzend auf folgendes hinweisen, Frau Kollegin: Selbst der UNHCR, eine an sich unverdächtige Quelle, hat keine Bedenken gegen die Einstufung Ghanas als eines sicheren Herkunftsstaates. So ist z. B. im Schreiben des UNHCR vom 11. Dezember 1995 an das Bundesverfassungsgericht wörtlich ausgeführt: Die in Deutschland getroffene gesetzliche Regelung nach Art. 16a Abs. 3 Grundgesetz in Verbindung mit § 29a Asylverfahrensgesetz, verbunden mit der Aufnahme Ghanas in die Liste „sicherer Herkunftsstaaten" , entspricht nach Auffassung des UNHCR in ihrer Ausgestaltung grundsätzlich den völkerrechtlichen Kriterien und ist auch insoweit prinzipiell mit den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar .. . Es heißt dann weiter: Zusammenfassend bestehen aus Sicht des UNHCR zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Einwände gegen die Einbeziehung Ghanas in die Liste sicherer Herkunftsländer, solange durch die Rechtspraxis des Bundesamtes und der Gerichte gewährleistet bleibt, daß in berechtigten Einzelfällen die Feststellung einer politischen VerfolParl. Staatssekretär Eduard Lintner gung im Sinne des Artikels 16a Grundgesetz bzw. nach § 51 Ausländergesetz getroffen wird und somit die allgemeine Vermutung der Sicherheit im Einzelfall tatsächlich widerlegt werden kann. Soweit das Zitat.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, würden Sie mir darin zustimmen, daß es bei einem solchen Auseinanderklaffen von hiesiger Rechtsnorm und der sich anders entwikkelnden Verfassungswirklichkeit oder Rechtswirklichkeit in Ghana sehr sinnvoll wäre, daß an unserer Botschaft, also auf sehr direktem Weg, auch ein Menschenrechtsbeobachter tätig ist, so daß wir nicht nur auf die vorzüglichen Berichte von Amnesty International und UNHCR angewiesen sind, sondern unser eigenes politisches Urteil stärker schärfen können?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Also, Herr Kollege, ich habe überhaupt keine Veranlassung, daran zu zweifeln, daß etwa das eigene politische Urteil unserer auswärtigen Vertretung - wo auch immer - getrübt wäre. Das ist ja unser „eigenes politisches Urteil". Für das Mißtrauen, das jetzt in Ihrem Ansinnen zum Ausdruck kommt, besteht überhaupt kein Anlaß. Im übrigen muß ich Ihnen sagen, daß ich schon ein bißchen verwundert bin: Üblicherweise halten Sie uns immer den Inhalt von ai-Berichten und von UNHCRStellungnahmen vor und fordern uns auf, uns danach zu richten und das zur Kenntnis zu nehmen. Jetzt aber, wo ich ausschließlich mit dem Inhalt dieser Berichte argumentiere, die genau mit dem übereinstimmen, was wir Ihnen an Informationen gegeben haben, reicht Ihnen das nicht. Jetzt wollen Sie noch zusätzlich Beauftragte. Ich meine, Sie sollten in dem Fall einsehen, Herr Kollege, daß es keinen Raum dafür gibt, einen solchen Schritt zu gehen, wie ihn die SPD-Fraktion vorgeschlagen hat. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend feststellen: Für irgendwelche Vorwürfe an die Adresse der Bundesregierung oder des auswärtigen Dienstes ist kein Raum. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident! Herr Lintner, wir werden uns auch künftig auf Erkenntnisse und Berichte von Amnesty International stützen. Ich hoffe, daß auch die Bundesregierung das macht. Ich habe die Verhandlungen beim Verfassungsgericht verfolgt. Das Verfassungsgericht sieht das offensichtlich anders. Auch der Vertreter des Auswärtigen Amtes mußte an diesem Punkt einen Rückzieher machen. Er hat ziemlich klar zugegeben: Auch 1993 wurden in Ghana Todesurteile vollstreckt; das Auswärtige Amt sei über diese Tatsache nicht informiert gewesen. Das ist, finde ich, ein ziemlicher Skandal. Das ist auch der Grund, warum wir hier fordern, daß Ghana aus der Liste der sicheren Herkunftsländer herausgenommen wird. ({0}) Wir werden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, aus diesem Grund natürlich Ihrem Antrag zustimmen. Ich möchte aber grundsätzlich noch zum Ausdruck bringen, daß uns das natürlich nicht reicht, wie Sie sich vorstellen können. Wir meinen, daß dieses Herumdoktern am sogenannten Asylkompromiß - die sicheren Herkunftsländer sind dafür nur ein Beispiel - an der unmenschlichen Rechtslage für die Flüchtlinge in diesem Land nicht viel ändern wird. Sie haben selbst schon darauf hingewiesen: Am Mittwoch ist Senegal aus dieser Liste herausgenommen worden. Auf Drängen des Verfassungsgerichts wurde Gambia schon ziemlich früh aus der Liste der sicheren Herkunftsländer herausgenommen. Ich weise auf Rumänien hin. Wird es möglicherweise das nächste Land sein? Sie wissen selbst, wie rumänische Roma in Rumänien behandelt werden. Ich muß für meine Fraktion ganz deutlich sagen: Das Konzept der sicheren Herkunftsländer taugt nicht; ({1}) denn - ich beziehe mich da noch einmal auf Amnesty International; auch in den Debatten zum Asylkompromiß ist das immer wieder gesagt worden - die Herkunft sagt nichts über die Gefährdung. Sie wissen eben nicht, ob dieser oder jener nicht doch politisch verfolgt ist. Sie schicken ihn einfach in sein Herkunftsland zurück, auch wenn er möglicherweise politisch verfolgt ist. Er hat überhaupt keine Gelegenheit, dies in einem entsprechenden Verfahren überprüfen zu lassen. Wir sind der Meinung: Um herauszufinden, ob ein Flüchtling politisch verfolgt ist, müssen wir seine Gründe überprüfen. Wir dürfen nicht pauschal auf die Herkunft und auch nicht auf den Fluchtweg abstellen. Ich habe daher vor zwei Tagen für meine Fraktion einen Antrag zur Asyl- und Flüchtlingspolitik vorgestellt. Ich bin der Meinung, daß wir uns nicht nur mit der Frage der sicheren Herkunftsländer befassen dürfen, sondern daß wir überhaupt einmal bilanzieren müssen, was der Asylkompromiß für die Flüchtlinge in diesem Land gebracht hat. Wir sind der Meinung, daß nicht nur an der Regelung der sicheren Herkunftsländer, sondern auch an der Drittstaatenregelung Korrekturen vorgenommen werden müssen. Bevor das Verfassungsgericht entscheidet, ist die Politik gefragt. Wir dürfen nicht wie das Kaninchen auf die Schlange auf das Verfassungsgericht starren. Vielmehr müssen wir jetzt handeln. Wir müssen Korrekturen vornehmen - ich hoffe, daß die Initiativen noch mehr Druck machen Kerstin Müller ({2}) werden; Kirchenasyl wurde angekündigt -, denn inzwischen stellt sich die Lage in der Bundesrepublik für die Flüchtlinge äußerst inhuman dar. Ich hoffe, daß sich das bald wieder ändert. Danke schön. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wort.

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es gehört nicht allzuviel Hellseherei dazu, daß wir uns nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts hier wahrscheinlich mit dem Thema beschäftigen müssen. Aber nun zu dem von der SPD vorgelegten Antrag, Ghana aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten zu streichen. Ihm wird die F.D.P. nicht zustimmen. Ich meine, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß Sie es sich hier ein bißchen zu einfach gemacht haben. Ich gehöre sicher nicht zu den Hardlinern bei der praktischen Anwendung unseres Asylrechts. Aber eines steht für mich fest: Wir können nicht einen Herkunftsstaat von Flüchtlingen allein deshalb als unsicheren Herkunftsstaat ansehen, weil es in ihm die Todesstrafe gibt und diese vollstreckt wird. Alle mir vorliegenden Berichte zur Situation in Ghana zeigen, daß dort in der Tat Todesurteile vollstreckt werden, jedoch nach Auskunft von Amnesty International ausschließlich wegen Raubes und Mordes. Daß wir eine solche Strafjustiz ablehnen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das ist klar. Auch der UNHCR hat anläßlich der Verhandlungen zum Asylrecht vor dem Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Einwände gegen die Einbeziehung Ghanas in die Liste sicherer Herkunftsländer ({0}), solange durch die Rechtspraxis des Bundesamtes und der Gerichte gewährleistet bleibt, daß in berechtigten Einzelfällen die Feststellung einer politischen Verfolgung ... getroffen wird .. . Genau darauf kommt es an. Eine Einzelfallprüfung darf natürlich nicht dadurch in ihrem Ausgang vorherbestimmt werden, daß ein Herkunftsland als sicher eingestuft wird. ({1}) Es liegen mir auch keine Erkenntnisse vor, daß dies im Falle von Flüchtlingen aus Ghana geschehen wäre und eine politische Verfolgung im Einzelfall zwar nachgewiesen werden konnte, aber dann kein Asyl erteilt wurde. Was Ihren Vorwurf angeht, die Bundesregierung habe „unvollständig und damit falsch unterrichtet", als es Anfang 1993 um die Aufnahme Ghanas in die Liste sicherer Herkunftsstaaten ging, so erscheint mir das in Ihrem Antrag etwas verwirrend; denn Sie müssen sich doch vorhalten lassen, daß Sie Ihren Vorwurf in der Begründung des Antrags dann als das darstellen, was er ist, nämlich nicht richtig, daß also doch richtig unterrichtet worden ist. Das Auswärtige Amt hatte nach allem, was wir wissen und was Amnesty International in seinem Jahresbericht bestätigt hat, mit seiner Auskunft recht, daß im Jahre 1992 in Ghana keine Todesstrafe vollstreckt worden ist. Sie selbst bestätigen das auf Seite 2 Ihres Antrags, wo Sie die Hinrichtungen aus den Jahren 1990 und 1993 erwähnen. Die Hinrichtungen im Jahre 1993 erfolgten nach Angaben von Amnesty International wegen Beteiligung an bewaffnetem Raub und an Mord. Ich habe hier eine noch genauere Aufstellung: Nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen waren drei Täter wegen Mordes, vier Täter wegen bewaffneten Raubüberfalls mit Todesfolge und fünf Täter wegen schweren bewaffneten Raubüberfalls zum Tode verurteilt worden. Ich finde es eigentlich merkwürdig, daß wir durch die Formulierung des Antrags förmlich dazu gezwungen werden, über eine bestimmte Praxis von Todesstrafen und Hinrichtungen zu debattieren. Die Genfer Flüchtlingskonvention sagt im übrigen aus - Herr Staatssekretär Lintner hat das zitiert -, daß Todesstrafe und Hinrichtungen die Festlegung, ob es sich um einen sicheren Herkunftsstaat handelt, nicht betreffen. Sie können sicher sein, daß die Bundesregierung weiterhin sehr sorgfältig die Entwicklung der Situation in Ghana und anderen als sicher eingestuften Herkunftsstaaten beobachten und darauf reagieren wird, wenn es erforderlich wird. Im Falle Gambias und Senegals ist dies geschehen. Ich meine deswegen, daß Ihre Vorwürfe ins Leere zielen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Lintner, erst einmal möchte ich sagen: Sie haben jetzt natürlich gut nachgelesen; aber wenn ich nicht ganz falsch informiert bin, dann war es auf der Anhörung des Bundesverfassungsgerichts für die Bundesregierung äußerst peinlich. Sie mußte sich von dem höchsten deutschen Gericht vorhalten lassen, daß ihr Lagebericht zu Ghana sachlich unzutreffend sei, im Gegensatz zu dem, was eine Vertreterin von Amnesty International dort vorgetragen hat, nämlich daß im Jahre 1993 12 Todesurteile in diesem westafrikanischen Land vollstreckt und 95 weitere Todesurteile verhängt worden sind. Die Bundesregierung hätte im übrigen schon früher auf Ghana aufmerksam werden müssen. Sie hätte nur ein einziges Mal prüfen und darüber nachdenken müssen, warum zum Beispiel im Januar 1993 in Mosach ein Ghanaer sich angesichts seiner drohenden Abschiebung das Leben genommen hat oder warum im April 1995 eine Mutter aus Ghana im Transitbereich am Flughafen mit der Selbsttötung bzw. der Tötung ihrer Kinder für den Fall drohte, daß sie zurückgeführt würde. Aber dem Bundesinnenministerium fällt in seinen Antworten auf Anfragen, die ich oder andere Kolleginnen und Kollegen gestellt haben, zynischerweise nur ein - das ist insbesondere von Herrn Kanther auch an anderer Stelle in der Öffentlichkeit gesagt worden -, diese Leute wollten „nicht ernsthaft Selbstmord" begehen, „sondern lediglich ihre Abschiebung verhindern". Konsequenzen müssen meiner Ansicht nach nicht nur im Hinblick auf Ghana gezogen werden. Das hat meine Kollegin Kerstin Müller schon gesagt. Vielmehr ist das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Bundesregierung beurteilt ein Land nämlich nicht auf Grund der Lage der Menschenrechte; Staaten werden schon einmal aus politischen oder diplomatischen Erwägungen als verfolgungssicher bezeichnet. Ich frage Sie zum Beispiel - das ist heute schon gefragt worden -, warum Rumänien nicht schon längst von dieser Liste gestrichen wurde; denn wenn sich das Auswärtige Amt ernsthaft mit Rumänien beschäftigen würde, dann wüßten Sie, daß Roma und Sinti dort Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt sind. Flüchtlingen aus sicheren Herkunftsstaaten ist es nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglich - da haben Sie zweifellos recht, Herr Lintner -, ihre politische Verfolgung prüfen zu lassen. Wer aber weiß, wie das verkürzte Asylverfahren am Flughafen im Transitbereich abläuft, kann hier meines Erachtens überhaupt nicht mehr von einem rechtsstaatlichen Verfahren sprechen, geschweige denn von einem ernstzunehmenden Asylprüfungsverfahren. ({0}) Das grundlegende Problem, das nicht erst im Falle von Ghana, sondern regelmäßig in Asylverfahren auftritt, ist das blinde und ausschließliche Vertrauen des Bundesamtes auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Ich nenne hier nur das Beispiel Türkei. Hier geht es nicht um Menschenrechte, insbesondere bei dem, was die West-Türkei angeht. Man will sich nämlich die inländische Fluchtalternative offenhalten, um weiterhin abschieben zu können. Meine Damen und Herren, wir werden dem Antrag der SPD zustimmen, auch wenn wir wie die Grünen der Meinung sind, daß die Herkunftsländer das jetzige Asylrecht generell neu zu diskutieren haben. Ich bin im übrigen der Meinung, daß eine unabhängige Kommission über Länder, in die gegenwärtig abgeschoben wird, beraten sollte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß. Denn ich glaube, daß das Auswärtige Amt und die Bundesregierung sich hier selber kontrollieren, und das darf wohl nicht wahr sein. Danke. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, den Antrag der Fraktion der SPD zur Herausnahme Ghanas aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten auf Drucksache 13/3329 zu überweisen: federführend an den Innenausschuß und mitberatend an den Auswärtigen Ausschuß. Die Fraktion der SPD verlangt sofortige Abstimmung. Der Überweisungsantrag geht vor. Wir stimmen also zunächst über den Antrag der CDU/CSU auf Überweisung ab. Wer diesem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Antrag auf Überweisung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist. Damit kann heute nicht in der Sache abgestimmt werden. Die Überweisung ist so beschlossen. Wir gehen über zu Tagesordnungspunkt 17: Debatte zur Entwicklungspolitik a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Zehnter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung - Drucksache 13/3342 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Helmut Haussmann und der Fraktion der F.D.P. Durchsetzung der deutschen Entwicklungspolitik in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neuorientierung der Deutschen Entwicklungspolitik - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt ({2}), Ludger Volmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reform der bundesdeutschen Entwicklungspolitik - Drucksachen 13/233, 13/241, 13/246, 13/2427 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen Feilcke Dr. Ingomar Hauchler Wolfgang Schmitt ({3}) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Willibald Jacob, Dr. Winfried Wolf und der Gruppe der PDS Auswertung und Umsetzung der Dokumente des Weltsozialgipfels - Drucksache 13/1586 Überweisungsvorschlag: Aussschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Verwendung der Mittel, die für die Finanzierung des Staudammprojektes Arun III vorgesehen waren - Drucksache 13/2285 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Matschie, Brigitte Adler, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Alternative Entwicklungsvorhaben zu Arun III in Nepal - Drucksache 13/2979 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({6}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine neue Initiative zur Entschuldung der Entwicklungsländer - Drucksache 13/2458 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Finanzausschuß Haushaltsausschuß g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Schmitt ({8}), Dr. Uschi Eid, Dr. Angelika Köster-Loßack und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der Weltbank - Drucksache 13/2495 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({9}) Finanzausschuß h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({10}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Wolfgang Vogt ({11}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Roland Kohn, Dr. Irmgard Schwaetzer und der Fraktion der F.D.P. Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ingomar Hauchler, Hans Büttner ({12}), Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Dr. Uschi Eid, Wolfgang Schmitt ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Weltsozialgipfel - zu dem Antrag der Abgeordneten der PDS Weltgipfel für soziale Entwicklung vom 6. bis 12. März 1995 in Kopenhagen - Drucksachen 13/556, 13/421, 13/539, 13/535, 13/2796 - Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({14}) Kredite fließt daher sofort zur Bedienung eben dieser Forderungen sofort an diese Institutionen zurück. Die Schuldenprobleme dieser ärmsten und mittleren Einkommensländer stellen, wie ich finde, die größte Herausforderung für die internationale Gebergemeinschaft dar. Deshalb werde ich mich schwerpunktmäßig mit eben diesem Themenbereich befassen. Niemand, übrigens auch nicht die multinationalen Institutionen, verkennen den Ernst der Lage. Die Weltbank hat in den vergangenen Jahren ihrerseits Instrumente entwickelt, um die Rückzahlungsverpflichtungen dieser Länder zu erleichtern. Hier denke ich vor allem an die IDA-Umschuldungsfazilität, die den ärmsten Ländern, den sogenannten IDAonly-countries, den Rückkauf ihrer kommerziellen Schulden ermöglicht. Sosehr die Einrichtung einer derartigen Fazilität zu begrüßen ist, bleibt das Problem bestehen, daß sie für die Entschuldung bei weitem nicht ausreicht und vor allem das Verschuldungsproblem gegenüber den multilateralen Finanzierungsinstitutionen nicht löst. Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwendig, und da es sich vorrangig um ein Problem der multilateralen Institute handelt, sollte von diesen auch die Initiative ausgehen. ({15}) Ein interessanter Vorschlag, der nach der Herbsttagung von IWF und Weltbank schon einmal hier im Hause diskutiert worden ist, ist die Idee eines internationalen Fonds zur Entschuldung der ärmsten Länder, der sogenannte Debt Reduction Fund. Mit einem derartigen Fonds, der außerhalb der Weltbank etabliert werden sollte, ließen sich zwei zentrale Probleme gleichzeitig lösen. Zum einen könnten durch Leistungen aus diesem Fonds die hochverschuldeten Länder in die Lage versetzt werden, ihre Schulden an die multilateralen Finanzierungsinstitutionen zu begleichen; zum anderen könnten die multilateralen Finanzierungsinstitutionen ihren bevorzugten Gläubigerstatus aufrechterhalten. Gerade dieser zweite Aspekt ist deshalb besonders wichtig, weil es fatal wäre, wenn aus kurzfristigen Zwängen heraus der bevorzugte Gläubigerstatus dieser Institutionen, der gerade für die Entwicklung in den ärmsten Ländern erhebliche Vorteile bringt, in Frage gestellt würde. Zwar ist dieser Vorschlag, Herr Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, noch in der Beratung. Zwar ({16}) wirft diese Idee Fragen und Probleme auf, ({17}) aber wir fordern die Bundesregierung schon jetzt auf, aktiv an der Ausgestaltung eben dieses Fonds mitzuarbeiten. Zur Zeit ist noch unklar, wie die gegebenenfalls erforderlichen Mittel für einen internationalen Schuldenfonds aufgebracht werden können. Nach Einschätzung der Weltbank müßte der Fonds auf ein Volumen von zirka elf Milliarden US-Dollar ausgelegt werden, um den betreffenden ärmsten Ländern eine wirksame und nachhaltige Schuldenentlastung zu ermöglichen. Hiervon wären bereits in den ersten drei Jahren zirka 1,5 Milliarden US-Dollar zu mobilisieren. An Finanzierungsvorschlägen hat es bisher nicht gefehlt; jedoch ist festzustellen, daß die meisten von ihnen einer näheren Prüfung nicht standhalten. Der Vorschlag zum Beispiel, die Mittel aus der sogenannten Tobin-Steuer zu finanzieren, entbehrt einer soliden Grundlage, da es eine solche Steuer nicht gibt und wahrscheinlich auch niemals geben wird. ({18}) In die gleiche Kategorie fallen die Vorschläge, dem Fonds Sonderziehungsrechte oder die Erlöse aus dem Verkauf der IWF-Goldbestände zur Verfügung zu stellen. Man kann sich bei derartigen Vorschlägen wirklich nur fragen, wann sich endlich die Erkenntnis durchsetzen wird, daß die Aufgaben und Instrumente der Währungspolitik von denen der Entwicklungsfinanzierung strikt zu trennen sind. Der Vorschlag, die Liquiditätsreserven der Weltbank einzusetzen, übersieht schließlich, daß diese bereits auf Grund von Projekt- und Programmzusagen der Weltbank zweckgebunden sind und ihre kurzfristige Anlage auf den Geldmärkten die wichtigste Quelle für Überschüsse in Höhe von zirka 1 Milliarde US-Dollar pro Jahr ist. Die Gewinne der Weltbank werden übrigens überwiegend der IDA überwiesen. Für eine seriöse Finanzierung eines derartigen Fonds kommen nur zwei Quellen in Betracht: bilaterale Beiträge und ergänzend die Gewinne der multilateralen Finanzierungsinstitutionen. Dies macht eine Lösung des Finanzierungsproblems zwar schwierig, aber schon deshalb nicht unmöglich, weil die Idee des Fonds ja richtig ist. Der Bundesfinanzminister wird von meinem Vorschlag sicherlich nicht auf Anhieb begeistert sein; ich trage ihn dennoch hier vor: In den Bundeshaushalt fließen jährlich 1 bis zirka 1,5 Milliarden DM an Rückflüssen aus Entwicklungsländern. Nach langen Bemühungen haben wir erreicht, daß ein Teil dieses Geldes wiederum für Entwicklungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt wird. Inzwischen sind es wohl ungefähr 200 Millionen DM, die für Naturprojekte und Projekte der Armutsbekämpfung verwandt werden. Grundbedingung für den Einsatz dieser Mittel ist, daß in den Entwicklungsländern selbst eben diese Umweltmaßnahmen oder Maßnahmen für Armutsbekämpfung finanziert werden. So verzichtet Deutschland bislang auf die FZ-Forderungen vollständig, wenn das Entwicklungsland einen Teilbetrag von 30 bis 50 Prozent für derartige Maßnahmen eingesetzt hat. Schuldenumwandlungen erfordern angesichts der bestehenden Liquiditätsengpässe besondere Anstrengungen der Entwicklungsländer, Inlandsmittel für Entwicklungsmaßnahmen einzusetzen. Jedoch akzeptieren die Entwicklungsländer diese Konditionen, um die angestrebte Verringerung des Schuldenüberhangs zu erreichen. Ich bitte nun die Bundesregierung ausdrücklich, im Laufe der Verhandlungen bei IWF und Weltbank über die Errichtung eines Schuldenreduzierungsfonds die Frage zu prüfen, ob bilaterale Beiträge Deutschlands auch aus den Rückflüssen aus den Entwicklungsländern erbracht werden können. In begründeten Fällen muß es möglich sein, daß ein Erlaß von multilateralen Schulden erfolgt. Wir haben nach meiner Auffassung guten Grund, uns dafür einzusetzen. Ich bin mir dabei darüber im klaren, daß hier eine Konkurrenzsituation zur 11. Wiederauffüllungsrunde der IDA entstehen könnte. Hier bin ich der Meinung, daß Schuldenreduzierung und IDA-Auffüllung in keinem konkurrierenden, sondern nach Möglichkeit in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen sollten. Meine Damen und Herren, mit Mißvergnügen müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die USA ihren Zahlungsverpflichtungen nicht regelmäßig und nicht in ausreichendem Umfang nachkommen. Das darf die anderen Geberländer der IDA auf keinen Fall veranlassen, ihrerseits Zahlungen zurückzuhalten. Darauf haben wir in der Beratung des Antrages der CDU/CSU-Fraktion zur 11. Wiederauffüllung der IDA besonders hingewiesen. Zwar hat die Bundesregierung rechtlich die Möglichkeit, die deutschen Leistungen in dem Umfange zu sperren, wie andere Geberländer ihre Verpflichtungen nicht erfüllen. Wir wollen aber nicht, daß die Bundesregierung von diesem Recht Gebrauch macht. Sollte sie dennoch die Absicht haben, muß sie nach unserer Auffassung den fachlich zuständigen Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vorher konsultieren. ({19}) Schließlich fließen IDA-Mittel an die ärmsten Länder. Sie sollen unserer Auffassung nach für Armutsbekämpfung ausgegeben werden. Hier ist eine noch deutlichere Akzentsetzung erforderlich. Wir begrüßen die Verhandlungsposition der Bundesregierung in diesem Zusammenhang. Insbesondere halten wir es für gerecht, daß amerikanische Unternehmen von der Auftragsvergabe ausgeschlossen sind, solange die USA ihre Beiträge zurückhalten, und daß die USA an den Entscheidungen auch so lange nicht beteiligt werden. Gerade weil die Bundesregierung in der Vergangenheit den Schwerpunkt ihrer Entwicklungszusammenarbeit darin gesehen hat, den ärmsten Ländern auf die Beine zu helfen, und gerade weil die Bundesregierung auf bilateraler Ebene bereits in erheblichem Umfang Schulden erlassen hat - weit mehr als andere Geber -, wollen wir, daß Deutschland auch hier weiterhin eine führende Rolle spielt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Jochen Feilcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, noch einen allerletzten Satz. Wir erwarten, daß sich die Bundesregierung sowohl an den Verhandlungen um die 11. Wiederauffüllung der IDA als auch an der Ausgestaltung des Schuldenreduzierungsfonds der Weltbank konstruktiv beteiligt. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Günter Verheugen das Wort.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige entwicklungspolitische Debatte ist eine willkommene Gelegenheit, noch einmal sehr grundsätzlich über die Ergebnisse, Ziele und Perspektiven unserer Entwicklungspolitik zu reden. Ich will nicht verschweigen, daß die Tatsache, daß diese Debatte mehrfach verschoben worden ist, schließlich auf den späten Abend, und damit wiederum unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, auch ein Zeichen dafür sein kann, daß die Entwicklungspolitik auch in diesem Haus nicht den Stellenwert hat, den wir ihr eigentlich gerne einräumen möchten und den sie auch verdient. ({0}) Entgegen den tatsächlich erkennbaren globalen Entwicklungen erleben wir einen schleichenden Bedeutungsverlust der Entwicklungspolitik in den Industriestaaten. Ich glaube, das hat zwei Ursachen. Die erste Ursache ist rein außenpolitischer Natur. In der Zeit der Blockkonfrontation gab es eine jenseits der eigentlichen Entwicklungspolitik liegende Legitimation für Entwicklungszusammenarbeit. Das haben die Entwicklungspolitiker selber nie gerne gesagt und zugegeben. Das ist aber ein Faktum. Die zweite Ursache ist, daß die weltwirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre die großen Industriestaaten sehr stark dazu gebracht haben und wahrscheinlich auch bringen mußten, sich auf ihre eigenen Probleme zu konzentrieren. Denken Sie nur daran, was Deutschland in den letzten fünf Jahren an zusätzlichen Aufgaben übernommen hat, die auch beachtliche finanzielle Auswirkungen haben, zum Beispiel die Finanzierung der deutschen Einheit, die oft eine Rolle spielt, aber auch die für uns naheliegenden, vitalen Leistungen, die bei der Hilfe der Transformation in den ehemaligen kommunistischen Staaten erbracht werden müssen. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf das bleiben, was in der übrigen Welt geschieht. Ich erinnere mich gut daran, daß schon 1990 und 1991 Staatsoberhäupter schwarzafrikanischer Länder besorgt gefragt haben: Werden wir diejenigen sein, die am Ende für die deutsche Einheit zahlen müssen? Werden wir diejenigen sein, die für euer Bemühen zahlen müssen, Osteuropa rasch an die Standards Westeuropas heranzuführen? Werden wir an den Rand gedrängt und marginalisiert? - Eines wird man zugeben müssen: Die weltpolitische, auch die wirtschaftliche Marginalisierung Afrikas südlich der Sahara hat geradezu erschreckende Ausmaße angenommen. Deshalb ist es an der Zeit, noch einmal ganz deutlich zu sagen, daß dieser Tendenz entgegengewirkt werden muß, weil sie von Grund auf falsch ist und weil sie unsere eigenen Interessen schädigt. ({1}) Entwicklungspolitik ist in Wirklichkeit das einzige wirksame Instrument, das wir haben, um präventiv zu wirken, wenn es darum geht, die erkennbaren und die erkannten globalen Risiken zu bekämpfen. Diese globalen Risiken sind in den letzten Jahren wahrlich nicht geringer geworden. Ich nenne als Stichworte das unkontrollierte, vielleicht auch unkontrollierbare Bevölkerungswachstum, die Umweltzerstörung und Verelendung, diesen Teufelskreis von Bedingungen, die sich gegenseitig verstärken und verschärfen. Das hat ja dazu geführt, daß die Welt in den letzten Jahren nicht etwa friedlicher geworden ist, sondern mehr und mehr Konflikte ausbrechen. Wenn man genau hinschaut, sieht man hinter den Konflikten, die uns auch hier im Deutschen Bundestag so oft und so dramatisch beschäftigt haben, in der Regel ökonomische und soziale Ursachen. Es ist schwer zu akzeptieren, wie leicht es auch uns hier fällt, notwendige Mittel für das zur Verfügung zu stellen, was man militärische Nachsorge der Konfliktbewältigung nennen könnte, während das, was politische Vorsorge in der Konfliktbewältigung ist, dahinter zurückstehen muß. Das krasse Mißverhältnis etwa des Aufwands für die ergebnislos gebliebene internationale Militäroperation in Somalia gegenüber dem, was insgesamt an Entwicklungszusammenarbeit in Afrika geschieht, ist geradezu auffällig und in meinen Augen wirklich obszön und nicht tolerabel. ({2}) Wir wollen die Entwicklungspolitik nicht als ein Instrument der nationalen Außenpolitik verstehen. Das wäre ein Fehler. Aber sie muß verstanden werden als ein ganz wesentlicher Faktor, als eine Komponente der Außenpolitik der Industriestaaten. Es geht eben um mehr als um Projekte in einzelnen Ländern. Es geht darum, einen Beitrag zu leisten, um weltweit die drei großen Sicherheiten, die die Menschen brauchen, zu realisieren. Was sind das für drei Sicherheiten? Die eine ist die Sicherheit vor Gewalt und äußeren Angriffen. Die zweite ist die Sicherheit vor Kriminalität, vor Willkürherrschaft und Unrecht. Und die dritte ist soziale Sicherheit, Schutz vor den großen Lebensrisiken. Es liegt auch in unserem wohlverstandenen Interesse, dafür zu sorgen, daß auf diesen Feldern nicht eine immer krasser werdende Ungleichheit auftritt, die sich letztlich auch in politischen und eines Tages vielleicht sogar in militärischen Konflikten entladen muß. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das bedeutet für uns, daß die Entwicklungspolitik ernstgenommen werden muß als eine politische Querschnittsaufgabe, die aus dem engen ressortbezogenen Denken herausgelöst werden muß. Es kann nicht angehen, daß ganz wesentliche Bereiche, die für die Entwicklung der Welt so entscheidend sind wie die Umweltpolitik, wie die Bevölkerungspolitik, wie die Sozialpolitik in unserem Regierungssystem und auch in unserer Parlamentsarbeit an anderer Stelle behandelt werden als dort, wohin sie gehören, nämlich in der Entwicklungspolitik. Entwicklungspolitik muß einen breiteren Ansatz haben, und dafür muß auch die entsprechende administrative und organisatorische Vorkehrung getroffen werden. ({3}) Was die langfristige Zielsetzung angeht, so kann es keinen Zweifel daran geben, daß die Vielzahl von Projekten, die wir finanzieren - seien es öffentliche Projekte, seien es Projekte über Nichtregierungsorganisationen, deren verdienstvolles Wirken man unbedingt loben muß -, noch nicht ausreicht, um die notwendigen langfristigen Strukturveränderungen auch zu garantieren. Ein einzelnes Projekt verändert eben noch nicht Entwicklungstendenzen. Ein einzelnes Projekt verändert keine Strukturen, sondern die Strukturen werden ganz anderswo verändert, nämlich dort, wo die Entscheidungen über das Weltwirtschaftssystem fallen, dort, wo die Entscheidungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds fallen, dort, wo die großen internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen organisiert werden. Dort fallen die Strukturentscheidungen, und diese Entscheidungen müssen nach unserer festen Überzeugung viel stärker unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklungsstrategie gesehen werden. Den Ländern des Südens muß es möglich gemacht werden, eine viel mehr aus eigener Kraft entwickelte, langfristig stabile Entwicklungsstrategie durchzusetzen. In dem Zusammenhang möchte ich sehr unterstreichen, was der Kollege Feilcke in seinem Beitrag gesagt hat, nämlich daß dazu ganz unbedingt die Lösung der Schuldenproblematik gehört. Wenn wir nicht dafür sorgen, daß die ärmsten Länder der Welt aus der Schuldenfalle, in der sie sind - ob durch eigene Schuld oder nicht, will ich hier gar nicht untersuchen, aber jedenfalls unter tatkräftiger Mitwirkung aller möglichen Regierungen und Institutionen in der Welt -, herauskommen, dann sind alle Entwicklungsanstrengungen vergeblich, ({4}) weil das, was möglicherweise an positiven Veränderungen erreicht wird, aufgefressen wird durch das, was in die reichen Industriestaaten zurückgezahlt werden muß. ({5}) Ich möchte Sie noch auf einen wichtigen Punkt aufmerksam machen, der vielleicht ein bißchen wehtut, ohne den es aber auch nicht gehen wird. Wir sind fest davon überzeugt, daß eine glaubwürdige Entwicklungspolitik auch die Bereitschaft zu Veränderungen in unserem eigenen Verhalten und Reformbereitschaft im eigenen Land voraussetzt. Es wird nicht funktionieren, insbesondere von den ganz großen Entwicklungsländern eine ökologisch verantwortbare, ressourcenschonende Entwicklungsstrategie zu verlangen, wenn wir selber nicht bereit sind, ein Beispiel zu geben, daß es funktioniert. ({6}) Wenn wir selber nicht schonend mit den Ressourcen umgehen, wenn wir selber nicht einen erkennbaren Beitrag dazu leisten, daß durch die umweltschädigenden Einflüsse unsere Produktionen drastisch zurückgehen, dann werden die anderen sagen: Warum verlangt ihr von uns, was ihr selber seit langer Zeit tut und worauf ihr euren Wohlstand gründet? Meine Damen und Herren, das Ziel einer Entwicklungsstrategie, wie wir sie uns vorstellen, ist nicht, irgendwo ein vorzeigbares Prestigeobjekt zu finanzieren, das man dann besichtigen kann, wenn man ein Land besucht, sondern das Ziel ist viel, viel schwieriger. Es geht darum, in den Entwicklungsländern Potentiale zu bilden, die sie selbst befähigen, eine langfristige und stabile Entwicklung voranzutreiben. Das bezieht sich auf den Bildungsbereich. Das bezieht sich auch auf den ökonomischen Sektor. Das bezieht sich aber auch - das möchte ich als letztes sagen - ganz ausdrücklich auf das politische System. Der Herr Bundesminister weiß, daß die Frage der Konditionalisierung von Entwicklungszusammenarbeit zwischen uns gar nicht besonders strittig ist, daß es in jedem Fall sinnvoll erscheint, solche politischen Systeme zu unterstützen und ihnen wirklich zu helfen, die Demokratisierung, die Achtung von Menschenrechten, die Rechtsstaatlichkeit und eine stabile soziale und marktwirtschaftliche Ordnung in ihrer Politik verwirklichen zu können. Ich denke, daß Maßnahmen, die dazu geeignet sind, demokratische, politische Systeme herbeizuführen und zu schaffen, gar nicht furchtbar teuer sein müssen und daß in diesem Feld, auch mit den bescheidenen Mitteln, die zur Verfügung stehen mögen, noch mehr geschehen kann. Ich glaube, daß die Wirkungen von Mitteln, die eingesetzt werden, um Potentiale in den Entwicklungsländern selbst zu schaffen, letztlich größer sein werden als die Wirkungen, die wir erreichen, wenn wir in großem Umfang Geld oder Warentransfer in diese Länder leisten. Ich glaube, daß wir in Wahrheit bei all diesen Fragen in diesem Hause nicht sehr weit auseinander sind. Ich hoffe, daß diese Debatte das zeigen wird. Meine Fraktion hat einen 20-Punkte-Katalog zur Neuorientierung der Entwicklungspolitik vorgelegt. Wir bitten Sie, diesen Katalog ernst zu nehmen und nicht einfach beiseite zu legen, weil er von der Opposition kommt. Er ist ein ernstgemeintes und ernsthaftes Angebot zur Zusammenarbeit in einem Politikfeld, das unserer Meinung nach eine immer größere Bedeutung erlangen wird. Danke schön. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Dr. Uschi Eid das Wort.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen mid Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen liegt mir daran, in Erinnerung zu rufen, was wir unter Entwicklung verstehen. Denn zu groß ist die Gefahr, daß wir Entwicklung mit dem gleichsetzen, was Entwicklungsorganisationen tun, oder mit dem, was Wissenschaftler in der Entwicklungsforschung sagen, das sie tun sollen. „Entwicklung ist ein Prozeß, der es Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu gewinnen und ein erfülltes und menschenwürdiges Leben zu führen. Entwicklung ist ein Prozeß, der die Menschen von der Angst vor Armut und Ausbeutung befreit. Sie ist der Ausweg aus politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung." - So bestimmte die Südkommission unter Vorsitz von Julius Nyerere den Entwicklungsbegriff. Heute, nach drei Jahrzehnten der Entwicklungszusammenarbeit, sind wir diesen Zielen kaum nähergekommen. Deshalb muß die Ausgangsfrage der Debatte sein: Ist die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in der Konzeption, aber vor allem in der Praxis geeignet, den weltweiten Herausforderungen zu begegnen? Erstens. Entwicklungspolitik ist durch die Zunahme von bewaffneten Konflikten in vielen Teilen der Welt gefordert. Obwohl wir alle gehofft hatten, die Welt würde nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes friedlicher werden, erleben wir eine Zunahme innerstaatlicher ethno-sozialer Konflikte. Die herkömmlichen Entwicklungsansätze gehen davon aus, daß Entwicklung unter Bedingungen des Friedens stattfindet. Dies ist indessen selten der Fall. In der Agenda für Entwicklung macht der UN-Generalsekretär deutlich, daß die meisten Völker ihre Entwicklung vor dem Hintergrund vergangener, aktueller oder drohender Konflikte verfolgen. Diese Konfliktsituationen erfordern eine Entwicklungsstrategie, die anders geartet sein muß, als sie dies unter Friedensbedingungen wäre. Die Bundesregierung hat es bisher versäumt, sich ernsthaft um friedliche Krisenprävention als Aufgabe einer nachhaltigen Entwicklungspolitik zu bemühen. ({0}) Ich fordere Sie, Herr Bundesminister Spranger, auf, dies zu korrigieren. Meine Fraktion ist Ihnen dabei gerne behilflich. Zweitens. Die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit wurden in den letzten Jahren zunehmend für die Behebung von Kriegsschäden und Naturkatastrophen verwendet. Weltweit sind die Anteile der bilateralen Nothilfe an der öffentlichen Entwicklungshilfe von 1980 bis 1992 von 2 Prozent auf 6,3 Prozent bzw. von 350 Millionen auf 2,6 Milliarden US-Dollar angestiegen. Dies macht eines deutlich: Entwicklungspolitik verkommt zum Reparaturbetrieb, so notwendig die Hilfe natürlich auch ist. Mittel für die eigentliche Aufgabe, nämlich den Aufbau langfristiger Strukturen für eine nachhaltige, sich selbst tragende Entwicklung, werden entzogen. Dies können wir nicht hinnehmen, das muß geändert werden. ({1}) Drittens. Entwicklungspolitik ist mehr und mehr durch Länder gefordert, in denen wir ermutigende Fortschritte beim Aufbau demokratisch-partizipatorischer und ziviler Gesellschaften beobachten. Bestes Beispiel hierfür ist das neue Südafrika, das ich erst vergangene Woche im Rahmen der Delegation der Bundestagspräsidentin besuchen konnte. Uganda, Äthiopien und Eritrea möchte ich als drei weitere Länder nennen, in denen sich die Staatsführung glaubwürdig und ernsthaft um den Aufbau des Landes, um die Verbesserung der Lebensbedingungen und um das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Völker in ihren Grenzen bemüht. Auch wenn die Voraussetzungen für Partizipation und Wahrung der Menschenrechte teilweise noch unzureichend sind, so bin ich doch davon überzeugt: Diese Länder verdienen unsere Unterstützung und unsere Geduld. ({2}) Viertens. Allerdings, absolute Voraussetzung hierfür ist Partnerschaftlichkeit. Die von außen gewährte Unterstützung kann nur in nationale Anstrengungen integriert sein und kann nur für die Zwecke derer eingesetzt werden, für die sie gedacht ist. Gutgemeinte Bevormundung ist ebenso fehl am Platze wie die Zurückstellung des Partnerschaftsgedankens hinter die Exportinteressen der deutschen Industrie. Dies führt mich zu Bundesaußenminister Kinkel. Vor Vertretern der Rüstungsindustrie in Kiel äußerte er sich kürzlich sinngemäß so: Für den deutschen Rüstungsexport gebe es kaum mehr Behinderungen. Zwar seien noch minimale Grenzen gesetzt - Zitat -, „aber wir haben schon einiges getan". ({3}) Als Beispiel führte der Außenminister den geplanten Verkauf von U-Booten an Taiwan an, und er appellierte an die Rüstungsvertreter, sich in Zweifelsfällen direkt an sein Ministerium zu wenden. ({4}) Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie können wir glaubwürdig die Höhe von Rüstungsausgaben eines Landes als Kriterium für die Vergabe von Entwicklungshilfe anlegen, wenn sich unser entwicklungspolitisch so bewegter Außenminister in einer derartigen Weise der Rüstungsindustrie andient? ({5}) Der Bundesaußenminister selbst hat vor fast einem Jahr die Entwicklungspolitik für sich entdeckt und im Januar seinen Dominanzanspruch in Sachen auswärtige Beziehungen bekräftigt.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ulrich Irmer? ({0})

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, daß Sie in Fahrt waren, habe ich gemerkt. Es war aber nicht meine Absicht, Sie jetzt mit meiner Zwischenfrage aus der Fahrt zu bringen. ({0}) Denn ich hatte den Eindruck, daß Sie gerade dabei waren, sich etwas zu verrennen. Ich will Sie eigentlich nur bitten, uns näheren Aufschluß über die Quelle zu geben, aus der Sie gerade zitiert haben. Das wäre nämlich hochinteressant. Wir haben ja in Deutschland das Problem, daß es eine Rüstungsindustrie gibt, die in beschränktem Rahmen auch exportieren will. ({1}) Ich habe die Rüstungsexportpolitik gerade des Auswärtigen Amtes bisher immer als derart restriktiv empfunden, daß man es manchmal gar nicht nachvollziehen kann. Deshalb würde ich sehr daran interessiert sein, von Ihnen die genaue Quelle zu erfahren, aus der dieses Zitat stammt, damit man dem einmal nachgehen kann.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Quelle ist German Watch. ({0}) - German Watch ist eine Nichtregierungsorganisation, eine Lobbyorganisation. - Habe ich Ihre Frage, Herr Kollege, beantwortet? - Sie wollten die Quelle wissen. Die Quelle ist German Watch. ({1}) - Ja. ({2}) Der Konflikt zwischen dem Bundesaußenminister und dem Entwicklungsminister Spranger wegen des Dominanzanspruches des Auswärtigen Amtes in Sachen Auswärtige Beziehungen wurde vom Bundesaußenminister als Sturm im Wasserglas abgetan. Er sagte damals, das sei ja alles gar nicht so gemeint. Ich hoffe, daß auch seine Kieler Äußerungen nicht so gemeint waren. Aber dieses Beispiel zeigt, daß wir mit unserem Antrag zur Reform der Entwicklungszusammenarbeit richtig liegen. Darin fordern wir zum einen, daß die Entwicklungspolitik Querschnittsaufgabe wird, und zum anderen, daß die Regierung ein Konzept vorlegen muß, wie die Reibungsverluste und der zum Teil kontraproduktive Ressortegoismus in der Außen- und Entwicklungspolitik überwunden werden könnte. Lassen Sie mich zum Schluß noch einen Hinweis an den Herrn Bundeskanzler geben. Willy Brandt begann auch erst spät, sich für die Nord-Süd-Fragen zu interessieren. In der Zeitung „Das Parlament" wurde kürzlich berichtet, daß auch Willy Brandt zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler zögerte, sich für entwicklungspolitische Fragen einzusetzen, mit der Begründung, das Thema sei zwar interessant, aber für ihn so schwierig und so komplex, daß er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen sehe. Viele Jahre später, so berichtet Erhard Eppler, als Brandt von einem Besuch bei dem damaligen algerischen Präsidenten Boumedienne zurückkehrte, sagte er: „Jetzt habe ich verstanden; jetzt können wir anfangen." Der Besuch des heutigen Bundeskanzlers in Südafrika und Namibia ist noch nicht so lange her. Wir Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker hätten es begrüßt, wenn auch der Kanzler aus dieser Reise gelernt hätte. Wir sind gespannt, ob wir noch vor dem Ende seiner Amtszeit etwas davon merken. Vielen Dank. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Roland Kohn.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die bipolare Welt, in der Entwicklungspolitik lediglich eine Funktion des Ost-West-Konflikts war, gibt es nicht mehr. Wir leben in einer Welt mit mehreren Kraftzentren, die unübersichtlicher geworden ist, die aber zugleich auch mehr Möglichkeiten bietet, die Lebenschancen der Menschen in den Entwicklungsländern in den Mittelpunkt zu stellen. Die Analyse der heutigen Entwicklungszusammenarbeit muß sich an folgenden drei Punkten orientieren. Erstens. Die Länder der Dritten Welt driften immer weiter auseinander: auf der einen Seite erfolgreiche Schwellenländer, auf der anderen Seite Länder, die im Chaos der Auflösung von Staat und Gesellschaft versinken. Zweitens. Die angespannte Haushaltslage, auch bei uns in Deutschland, setzt allem entwicklungspolitisch Wünschenswerten enge Grenzen. Aber hier hilft kein Klagelied; dies ist eine Herausforderung an die Kreativität und die Innovationskraft von uns allen. ({0}) Drittens. Der Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit wird heute immer noch weithin daran gemessen, wieviel öffentliche Gelder für die Entwicklungshilfe ausgegeben werden, nämlich an jenem allbekannten ominösen 0,7-Prozent-Ziel. ({1}) Unser Maßstab als Liberale zur Beurteilung der Politik ist hingegen die konkrete Verbesserung der Lebenssituation für möglichst viele Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Wir sagen aber auch ganz klar: Wir Deutsche können die Probleme dieser Welt alleine nicht schultern. ({2}) Alle wohlhabenden Staaten tragen Mitverantwortung. Ich sage ebenso deutlich: Ihr, die Eliten in den Entwicklungsländern, seid in erster Linie für das Wohl der euch anvertrauten Menschen verantwortlich. ({3}) Unsere Aufgabe ist es, sie dabei zu unterstützen. Deutschland braucht sich wegen seiner bisherigen Leistungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit wahrlich nicht zu verstecken. ({4}) Jahr für Jahr werden mehr als 11 Milliarden DM öffentliche Mittel für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ausgegeben. Wir müssen aber gemeinsam darüber nachdenken, ob wir manches in Zukunft nicht noch besser machen können. Das gesamte System der internationalen Entwicklungszusammenarbeit muß dazu auf den Prüfstand gestellt werden. Wir brauchen mehr Effizienz, mehr Wirksamkeit in der Entwicklungszusammenarbeit. Das heißt: möglichst geringer bürokratischer Aufwand und effizienter Mitteleinsatz. ({5}) Es bedarf auch einer vernünftigen Aufgabenteilung zwischen internationaler, multilateraler und bilateraler Entwicklungszusammenarbeit - ich kann hier nur das unterstreichen, was Kollege Feilcke schon gesagt hat -, denn nur so werden wir angesichts knapper Kassen auch die Zustimmung unserer Bürger zu einer solchen Politik auf Dauer erhalten können.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmitt?

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kohn, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Effizienz und Wirksamkeit hin überprüft werden sollen. Ich frage Sie deswegen konkret, welche Schlüsse Sie aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs hinsichtlich der Mißstände bei der Deutschen Entwicklungsgesellschaft ziehen. In dem Bericht, der auch im AWZ debattiert worden ist, wurde unter anderem angemerkt, daß der Vorsitzende des Aufsichtsrats, der Ihrer Partei angehört - ich glaube, er ist sogar Ehrenvorsitzender der F.D.P. -, sich mehrfach geweigert habe, mit den Verantwortlichen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zusammenzuarbeiten. Ich gehe davon aus, daß auch Sie dies für einen ineffektiven Zustand halten, und wäre sehr daran interessiert, zu erfahren, welche Verbesserungsvorschläge bzw. welche Schlüsse Sie aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs ziehen.

Roland Kohn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001168, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmitt, ich ziehe daraus die Konsequenz, daß die Aufsichtspflicht des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Hinblick auf diese Einrichtung verstärkt werden muß. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die traditionelle Entwicklungshilfementalität muß überwunden werden. Wir müssen weg von dem Glauben an die Allzuständigkeit des Staates. Wir müssen weg von der Idee, durch öffentlich finanzierte Subventionen aus den Geberländern auf Dauer die Lebensbedingungen der Menschen in der Dritten Welt verbessern zu können. Es ist und bleibt unstrittig, daß wir den Menschen in der Dritten Welt in Notsituationen durch die Lieferung von Nahrungsmitteln oder Medikamenten helfen müssen. Entwicklungspolitik ist aber mehr. Wir müssen die Länder durch Systemberatung und Systemmodernisierung mittelfristig in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen, damit Entwicklungshilfe und damit Abhängigkeit tendenziell überflüssig werden können. Zur Zeit werden von deutscher Seite über 7 000 Entwicklungshilfeprojekte aus öffentlichen Mitteln finanziert. Diese Projektinflation verursacht hohe Personalkosten, einen hohen Verwaltungsaufwand und macht eine sinnvolle Koordination und Kontrolle der einzelnen Vorhaben nahezu unmöglich. Ich fordere daher: weniger Einzelprojekte, statt dessen differenzierte, angepaßte Länderstrategien. Und ich sage auch ganz klar: Wir brauchen den Wettbewerb zwischen den privaten, halböffentlichen und öffentlichen Anbietern als Projektträger hier bei uns in Deutschland. Das ist der Schlüssel zu der Antwort auf die Frage von Herrn Kollegen Schmitt. ({1}) Meine Damen und Herren, ich sehe in dem Modell der dezentralen Budgethilfe eine mögliche Alternative zur bisher praktizierten Projekthilfe bei der Armutsbekämpfung. Diese sollte nicht pauschal an die Zentralregierungen, sondern als gezielte Hilfe für aussichtsreiche und funktionierende Programme auf Kommunal-, Bezirks- und Provinzebene sowie an Nichtregierungsorganisationen und Selbsthilfeorganisationen gegeben werden. Voraussetzung für die Förderung ist, daß es sich um grundbedürfnisorientierte, partizipative, also auf Teilnahme hin ausgestaltete Programme der unmittelbaren Armutsbekämpfung handelt. Im Falle von Korruption oder offensichtlicher Erfolglosigkeit eines Programms wird die Förderung sofort beendet. Selbstverständlich kann ein solches Modell nur für diejenigen Länder in Frage kommen, in denen es halbwegs funktionsfähige Organisations- und Verwaltungsstrukturen gibt. Viele Bürger wissen es nicht: Im Jahre 1994 stiegen die deutschen privaten Leistungen, wie zum Beispiel Direktinvestitionen oder Kredite von Banken und Unternehmen, auf mehr als 20 Milliarden DM an. Das ist fast doppelt so viel wie die öffentliche Hilfe. Diese Investitionen der Wirtschaft sind das entscheidende Potential zur Bekämpfung der Armut und zur Entwicklung dieser Länder. Unser Ziel muß es daher vor allem sein, die institutionellen Rahmenbedingungen für die Entwicklung marktwirtschaftlicher Wirtschafts- und Finanzsysteme voranzubringen. Wo die Rahmenbedingungen nicht stimmen, fließt auch kein privates Kapital. Aber kann es richtig sein, Fehlentscheidungen der Eliten in den Entwicklungsländern auf Dauer durch deutsche Steuergelder zu kompensieren? ({2}) Wir müssen den dortigen Eliten immer wieder klarmachen, daß sie für die Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen verantwortlich sind; sonst zerstören sie die Lebensbedingungen ihrer Landsleute. ({3}) Gerade angesichts des enormen privaten Kapitalflusses zeigt sich auch die geringe Aussagekraft des formalen 0,7-Prozent-Zieles. Diese Zielvorgabe berücksichtigt lediglich die Mittel der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit. Völlig vernachlässigt werden aber die sonstigen öffentlichen Leistungen Deutschlands, wie zum Beispiel Kredite der KfW, die privaten Leistungen an die Entwicklungsländer, ganz zu schweigen von den erheblichen öffentlichen Transferleistungen an die Transformationsstaaten Osteuropas. Entscheidend für die Entwicklungschancen unserer Partnerländer ist ihre volle Teilnahme am freien Welthandel. Hier gilt: „Trade better than aid", Handel ist besser als Hilfe. Ich trete daher ganz entschieden für die konsequente Öffnung unserer Märkte ein. An unsere eigene Adresse - auch Richtung Europa - sage ich: Wir verlieren jede marktwirtschaftliche Glaubwürdigkeit, wenn wir Protektionismus gegenüber Produkten aus Entwicklungsländern betreiben und unsere eigenen Exporte auf den Weltmärkten subventionieren. ({4}) Ich sage aber auch an die Adresse der Entwicklungsländer: Dort, wo eine konsequente Liberalisierung im Waren- und Dienstleistungsverkehr stattfindet, beobachten wir eine eindrucksvolle wirtschaftliche Entwicklung - wie in vielen asiatischen und auch in vielen lateinamerikanischen Ländern. Die Strategie wirtschaftlichen Wachstums setzt die Grundversorgung breiter Bevölkerungsschichten vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen voraus. Nur wenn es gelingt, in den Entwicklungsländern Grundstrukturen sozialer Systeme auch zur Altersversorgung aufzubauen, können wir es schaffen, das reproduktive Verhalten der Menschen zu verändern und damit die Bevölkerungsexplosion einzudämmen. Ich wiederhole auch heute - und ich bleibe dabei - meine Kritik an der katholischen Amtskirche. Ihre dogmatische Einstellung zur Frage der Geburtenkontrolle halte ich für nicht akzeptabel. ({5}) Für uns Liberale spielt vor allem die Verbesserung der rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Stellung der Frauen eine entscheidende Rolle. Der Durchsetzung von Frauenrechten muß ein deutlich höherer Stellenwert eingeräumt werden als bisher; denn es ist empirisch erwiesen: Frauen sind in vielen Ländern die wesentlichen Stützen des Entwicklungsprozesses. ({6}) Ein Wort zur Weltbank: Wir Liberalen sehen die Weltbank als eine unabhängige und der ökonomischen Vernunft verpflichtete Institution. Bestrebungen, die dahin gehen, die Weltbank irgendwelchen politisch-ideologischen Zwecken dienstbar zu machen, werden wir uns widersetzen. Ich möchte an dieser Stelle auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit von regionalen Entwicklungsbanken in ihrer bisherigen Form aufwerfen. Ich glaube, daß der Finanzbedarf mit den Mitteln der Weltbank und den anderen internationalen Fonds, die für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stehen, hinreichend gedeckt ist. Regionale Entwicklungsbanken - so wie sie heute vielfach organisiert sind - bedeuten lediglich ein Mehr an Bürokratie und Unübersichtlichkeit und erhöhen in manchen Fällen auch das Risiko der Korruption. Deshalb: Regionale Entwicklungsbanken in diesem Gesamtkonzept auf den Prüfstand! ({7}) Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Verschuldenssituation sagen. Ich möchte zunächst der Bundesregierung ({8}) für ihre aktive und engagierte Politik, im Rahmen des Pariser Clubs zu einer Lösung der Verschuldensproblematik beizutragen, - ({9}) - Frau Kollegin, wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie gemerkt, daß mir das ein Zurufer aus der Opposition bereits abgenommen hat. ({10}) Wir Liberalen stehen zu dem Grundsatz, daß Entschuldungen in der Regel nur im multilateralen Rahmen durchgeführt werden sollten. Dafür gibt es gute Gründe: Ein einseitiger Schuldenverzicht durch uns alleine würde zum einen die Partnerländer von der Notwendigkeit entbinden, ihren Verpflichtungen zur Rückzahlung nachzukommen. Diese Verpflichtungen aber erhalten den Druck, im eigenen Land die notwendigen marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Reformen durchzuführen. Zum anderen kämen wir in die absurde Situation, daß deutsche Steuerzahler über unseren Schuldenverzicht indirekt die Schuldenrückzahlungen der Entwicklungsländer an die anderen Geberländer mitfinanzieren würden. Das kommt nicht in Frage. ({11}) Was die Internationale Entwicklungsorganisation, IDA, angeht, so bedauere ich die Haltung der Vereinigten Staaten, was die 11. Wiederauffüllung betrifft. Die Gefahr besteht, daß sich auch andere Staaten daran ein schlechtes Beispiel nehmen und sich aus ihrer internationalen Verantwortung zurückziehen. Wir müssen alles daransetzen, durch ständige Kontakte mit unseren amerikanischen Freunden deutlich zu machen, daß sich die USA als einzig übriggebliebene Weltmacht nicht aus ihrer internationalen Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern verabschieden darf. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Spranger, für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken. ({13}) Wir werden sie in der Koalition mit großer Freude fortsetzen. ({14}) Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie sowie soziale und ökologische Marktwirtschaft sind am besten geeignet, globale Entwicklungs- und Umweltprobleme zu lösen. Deshalb fordern wir: Differenzierte Länderstrategien statt „Projektitis"! Wettbewerb zwischen allen Projektträgern! Dezentrale Budgethilfe zur Armutsbekämpfung! Regionale Entwicklungsbanken auf den Prüfstand! Intensivierung der privatwirtschaftlichen Zusammenarbeit! Schluß mit unserem Protektionismus! - Dies ist praktische Politik für die Menschen und ihre Lebenschancen. ({15}) Es geht uns um die Menschen in den Entwicklungsländern. Vor wenigen Tagen hat Stefan Klein in der „Süddeutschen Zeitung" einen bedrückenden Beitrag über das Problem der Kinderprostitution am Beispiel von Sri Lanka veröffentlicht. Erlauben Sie mir, daß ich zum Abschluß einige Sätze aus diesem Beitrag zitiere: Jetzt winken dich ein paar Halbwüchsige heran, die um einen alten Fischerkahn versammelt sind. Du kommst näher, weil sie freundlich wirken und dir anscheinend irgend etwas zeigen wollen. Und dann zeigen sie auf einen fast noch kleinkindhaften, höchstens sechsjährigen Buben in ihrer Mitte, der wie ein hungriges Vogelkind demonstrativ seinen Mund aufsperrt. Niedlich, der kleine Komödiant. So denkst du und bist plötzlich überwältigt von einer furchtbaren Ahnung. Dir wird schlecht, aber deine Konzentration gilt den Beinen, damit du nicht stolperst beim Weglaufen. Damit solche Kinder ihren Körper, ihre Kindheit und ihre Seele nicht mehr verkaufen müssen, deshalb machen wir Entwicklungspolitik. ({16})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Willibald Jacob das Wort.

Dr. Willibald Jacob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002689, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In allen Beiträgen findet sich die Ahnung, daß wir eine grundlegende Veränderung der Entwicklungszusammenarbeit vornehmen müßten. Deshalb möchte ich, wenn es um die grundlegende Frage geht, was wir unter Entwicklungszusammenarbeit verstehen, folgendes vorwegnehmen: Die Ansätze der PDS sind von dem Grundverständnis geprägt: Entwicklungszusammenarbeit heißt internationale Solidarität von Menschen und gerechter Ausgleich zwischen Nord und Süd. Dabei gehen wir von der Tatsache aus, daß unsere gegenwärtige Welt von der Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte und ihrem Bedingungsgefüge auf der einen Seite und der Globalisierung von Armut, Hunger, sozialer Apartheid, Diskriminierung und Ausgrenzung, Raubbau an natürlichen Ressourcen und Umweltzerstörung auf der anderen Seite geprägt ist. Dieser globale Widerspruch macht die Welt unteilbar. Entwicklungspolitik in Parallelität zur allgemeinen Wirtschaftspolitik steht aber immer noch in der Traditionslinie 500jähriger kolonialer Ausbeutung der Länder der sogenannten Dritten Welt. Sie ist meines Erachtens ein Instrument des Nordens zur globalen Durchsetzung seiner ökonomischen Interessen. Sie stülpt den Ländern des Südens neoliberale Wirtschaftsmechanismen über. Diese Art Entwicklungspolitik ist kritisch zu hinterfragen. Ich sage ausdrücklich: Ich spüre in den Beiträgen der Kolleginnen und Kollegen, daß auch sie dies ahnen und wissen. Die „Alternative Erklärung der Nichtregierungsorganisationen" während des Weltsozialgipfels 1995 hat die Antwort gegeben: „Das dominante neoliberale System hat als ein universales Entwicklungsmodell versagt." Die zwanghafte Anpassung der Strukturen des Südens an die des Nordens ist weithin Ursache von Menschenrechtsverletzungen. Der Norden tut sich schwer in der Bekämpfung von Folgeerscheinungen wie Bürgerkriege, die er durch seine ökonomische Politik aber mit verursacht. In diesem Licht sind auch Einzelaspekte zu sehen. Nehmen wir die Schuldenfrage, die jeder Redner hier als eine ernste und zentrale Frage aufgeworfen hat: Entwicklungs- und Integrationsfähigkeit aus eigener Kraft sind für die Länder des Südens, unter denen die ärmsten Länder, die am meisten verschuldeten Länder und die am wenigsten entwickelten Länder zu finden sind, nur durch Reduzierung der Auslandsverschuldung auf ein dauerhaft tragbares Niveau zu erreichen. Hier gäbe es ein ausreichendes Betätigungsfeld für multi- und bilaterale Aktivitäten der Bundesregierung. 1994 hatten die ärmsten Länder mehr als 50 Prozent ihres Schuldendienstes gegenüber internationalen Banken zu leisten. Die Schulden aus Handelsforderungen und Entwicklungshilfekrediten geDr. Willibald Jacob genüber der Bundesrepublik belaufen sich auf mehr als 3,2 Milliarden DM. Nehmen wir den Stellenwert der Entwicklungshilfe im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt - ein altes Thema -: Fast alle vorliegenden Anträge weisen auf die neuen globalen Zusammenhänge hin, denen sich die deutsche Entwicklungspolitik im ganzen wie auch in ihren Teilaspekten stellen müsse. Es gehört in diese Debatte, die zuletzt auf dem Weltsozialgipfel eingegangene Verpflichtung anzumahnen: Gebt endlich die geforderten 0,7 Prozent Entwicklungshilfe! Die gegenwärtig realisierten 0,33 Prozent sind ein Skandal; es sind gut 8 Milliarden DM abzüglich der Summen für Osteuropa. Dem stehen Einnahmen aus den armen Entwicklungsländern von mehr als 1,5 Milliarden DM aus Zins- und Tilgungsrückflüssen gegenüber. Es ist erfreulich, daß hier und heute neue Überlegungen zu diesem Thema beginnen. Bleiben wir beim Weltsozialgipfel des letzten Jahres. Mit den verabschiedeten nationalen und internationalen Verpflichtungen und Empfehlungen wird die Globalisierung des Widerspruchs sichtbar. So muß die Bundesregierung bezüglich der Umsetzung aus zwei Blickwinkeln heraus gefragt werden: Erstens. Wie kämpft sie auf nationaler Ebene gegen die wachsende Armut, gegen die steigende Arbeitslosigkeit, gegen die Verminderung der großen sozialen Disparitäten, für Gleichberechtigung und gleiche Chancen für Frauen und soziale Integration von Randgruppen? Der Fall Vulkan zeigt: Es ist auch eine nationale Aufgabe. Zweitens. Wie sieht in Umsetzung der internationalen Verpflichtungen und Empfehlungen die Bereitschaft der Bundesregierung aus, den ärmsten und hochverschuldeten Ländern durch Schuldenerleichterungen zu helfen, interne Ressourcen in den Entwicklungsländern zu stärken? Nichts geändert hat sich in der deutschen Entwicklungshilfe auch an ihrer Ausrichtung an den Exportinteressen der deutschen Wirtschaft, ob es dabei um Vermittlung, Unterstützung oder Mitfinanzierung von industriellen Großprojekten oder um Kredite für deutsche Unternehmen geht. Ein Neuansatz deutscher Entwicklungshilfe müßte aus unserer Sicht auch Regularien enthalten, mit deren Hilfe Einfluß auf die Verhaltensweisen deutscher Unternehmen im Ausland genommen werden kann, insbesondere wenn es um die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards bzw. die Verhinderung von Doppelstandards geht: im Norden gut, im Süden schlecht - und das in ein und demselben Betrieb! Die Wirklichkeit des Verhältnisses von Nord und Süd zeigt, wie weit wir noch von einem gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd und einer Entwicklungspolitik, die wirklich darauf ausgerichtet ist, entfernt sind. Der Widerspruch zwischen dem Streben nach wirtschaftlicher Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit und der Vertiefung und Ausweitung von sozialer Apartheid lastet mehr und mehr auf uns. Dieser Widerspruch zerstört immer stärker Ethik, Kultur und Moral - eine alltägliche Sache. Wer nur Wettbewerb sagt, kann nicht Solidarität sagen! Lassen Sie mich mit einem Wort von Konrad Raiser, dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, schließen: Wir stehen heute vor der Aufgabe einer grundlegenden Rekonstruktion der ethischen Kultur und der Wiederherstellung des moralischen Grundgerüstes der Gesellschaft. Das sagt Konrad Raiser von unserer Gesellschaft, also von uns, die wir meinen, unsere Werte in alle Welt exportieren zu können. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention zur Rede der Abgeordneten Dr. Eid erteile ich dem Abgeordneten Helmut Schäfer das Wort.

Helmut Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001932, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie haben vorhin angebliche Äußerungen des Bundesaußenministers zum deutschen Rüstungsexport zitiert, und dem muß ich widersprechen. Ich darf Ihnen folgendes mitteilen: In einem Schreiben, das heute vom Sprecher des Auswärtigen Amtes an einen Redakteur der „Zeit" ergangen ist, heißt es folgendermaßen: Die Kurzmeldung von DPA über angebliche Äußerungen von Herrn Kinkel ist in wesentlichen Aspekten unrichtig. Sie vermittelt den Eindruck, als habe der Minister sich für eine Lockerung der deutschen Rüstungsexportkontrollvorschriften ausgesprochen. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig. Bundesminister Dr. Klaus Kinkel hat in der ausführlichen Diskussion anläßlich des „Arbeitskreises Wehrtechnik der Industrie in Schleswig-Holstein" unzweideutig klargestellt, daß er an der bewährten restriktiven Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung festhalte. Dies haben alle anderen Teilnehmer auch so verstanden. Insofern gab es auch für andere Agenturen keinen Anlaß zu Meldungen. Insbesondere hat Minister Kinkel bekräftigt, daß eine Lieferung von Unterseebooten nach Taiwan nicht in Frage komme. Die Überschrift der „Kieler Nachrichten" am 13. 2. 1996 lautete dann auch dementsprechend: „Kinkel bleibt hart: keine HWD-U-Boote für Taiwan". Richtig ist, daß Minister Kinkel Unternehmen empfohlen hat, sich an das Auswärtige Amt zu wenden, wenn sie Zweifel darüber haben, ob ihre beabsichtigten Exporte unter die Rüstungsexportkontrollvorschriften fallen. Dies gilt insbesondere für den Export von dual-use-Gütern. Eine Vorabanfrage beim Auswärtigen Amt oder beim Bundesminister für Wirtschaft liegt im Interesse der Unternehmen und ganz sicher auch im InterHelmut Schäfer ({0}) esse der Bundesregierung. Über die Zulassung von Ausfuhren nach den Exportkontrollgesetzen entscheidet selbstverständlich nicht das Auswärtige Amt, sondern die Bundesregierung insgesamt. Ich wollte das nur klarstellen, damit ein falscher Zungenschlag über eine angebliche neue Rüstungsexportpolitik sofort im Keime erstickt wird. Vielen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Eid, Sie können darauf antworten.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich nehme das zur Kenntnis, Herr Kollege Schäfer, verweise aber trotzdem auf eine Meldung der „Wirtschaftswoche" Nr. 10 vom 29. Februar 1996. Diese Meldung lautet ähnlich wie das von mir vorhin Zitierte von German Watch. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger.

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einigen Anträgen, die zur heutigen entwicklungspolitischen Debatte vorliegen, wird eine Neuorientierung oder Reform der deutschen Entwicklungspolitik gefordert. So etwas klingt zwar gut, nur vermag ich keine substantiellen Verbesserungsvorschläge zu erkennen. Das entwicklungspolitische Fundament, auf dem Bundesregierung und Koalitionsfraktionen bauen, die Konzeption, die wir jetzt erfolgreich umsetzen, haben wir schließlich erst 1991 umfassend erneuert, rationalisiert und modernisiert. Wir haben damit den neuesten Erkenntnissen aus Evaluierung und Forschung Rechnung getragen und gleichzeitig auch die Chancen genutzt, die sich aus den weltpolitischen Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 auch für die Entwicklungspolitik ergeben haben. Zu Beginn der laufenden Legislaturperiode haben wir dieses Fundament fortentwickelt. Wir haben unsere Vorstellungen und Ansätze in Richtung auf eine Politik der globalen Zukunftssicherung, der Krisenvorbeugung und der Förderung des inneren Friedens in den Partnerländern präzisiert. Die Bundesregierung ist also tatsächlich schon etwas weiter, als einige Antragsteller bemerkt haben. Die gegenwärtige Konzeption der deutschen Entwicklungspolitik war Gegenstand einer langen Diskussion und wird inzwischen, soweit ich das sehe, in ihren Grundgedanken nicht nur von der gesamten Bundesregierung, sondern auch von allen Fraktionen hier im Hause mitgetragen. Wenn ich die Reden vom Kollegen Verheugen und von Frau Eid verfolge, dann wird dies darin bestätigt. Herrn Jacob möchte ich da nicht einschließen. Ich möchte Herrn Kollegen Kohn herzlich danken für die Zusammenarbeit, die wir auch innerhalb der Koalitionsfraktionen pflegen. ({0}) Aber auch über die offizielle Politik hinaus, meine Damen und Herren, ist festzustellen: Wohl noch nie war in Deutschland bei Regierung und Nichtregierungsorganisationen, in den Medien, in der Öffentlichkeit der Konsens über Grundprinzipien, Aufgaben und Inhalte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit so groß wie heute. Wir hatten am Dienstag im BMZ eine Wiederholung einer Veranstaltung vom Januar 1995 mit fast 100 Nichtregierungsorganisationen, und es war beeindruckend, wie in einer Fülle von Problemen und Herausforderungen Einvernehmen erzielt werden konnte. Das ist sicherlich nicht nur ein Erfolg unserer Öffentlichkeitsarbeit; das zeugt auch von der insgesamt guten Arbeit der Mitarbeiter des Entwicklungsministeriums, aber auch der Durchführungsorganisationen und der vielen Menschen, die sich privat oder beruflich in der Entwicklungszusammenarbeit einsetzen und denen wir alle dafür dankbar sind. ({1}) Auch der internationale Konsens über die Erfolgsbedingungen in der Entwicklungszusammenarbeit war noch nie so groß wie heute, und dazu hat der Zusammenbruch des scheinbaren Alternativmodells Sozialismus sicherlich beigetragen. Allgemein anerkannte Grundprinzipien sind heute am Markt orientierte Wirtschaftsordnungen, die gleichzeitig ökologische und soziale Verantwortung ernst nehmen, sowie die politische Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an den Entscheidungsprozessen. Diese Ausrichtung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wurde maßgeblich - gestatten Sie mir diese Unbescheidenheit - von Deutschland und unserer entwicklungspolitischen Konzeption mitgeprägt. ({2}) Die deutsche Entwicklungspolitik als neues Politikfeld hat es schon immer schwer gehabt, sich gegenüber anderen Interessen durchzusetzen. Daß sie dennoch - trotz aller legitimen Kritik im einzelnen - im großen und ganzen erfolgreich war und wesentlich dazu beigetragen hat, das Bild eines friedlichen, kooperativen Deutschland in der Welt zu schaffen, verdankt sie auch und vor allem der Geschlossenheit verantwortungsbewußter Entwicklungspolitiker. Der Grundkonsens über die Entwicklungspolitik, der sich über viele Legislaturperioden und wechselnde Regierungen hinweg fortsetzte, hat diese Politik gestärkt und ihr über manche Anfechtung hinweggeholfen. Dieses große gemeinsame Kapital sollten wir auch zukünftig nicht gefährden. ({3}) Der Antrag der Regierungskoalition „Durchsetzung der deutschen Entwicklungspolitik in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit" baut auf diesem Konsens auf. Es ist in der Tat konsequent, die Erkenntnisse, die unsere Konzeption, unsere Sektorkonzepte und unsere Länderstrategien prägen, auch in die internationalen Gremien zu tragen, um eine bessere Koordinierung und einen wirksameren Einsatz der Gelder zu erreichen. Dabei, meine ich, sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir haben zum Beispiel die deutsche Präsidentschaft in der Europäischen Union dazu genutzt, ein Pilotprogramm zur Länderkoordinierung durchzuführen und die Diskussion über Komplementarität und Kohärenz voranzutreiben. Die auf deutsche Initiative verabschiedete Entschließung des Rats zu Demokratie und Menschenrechten ist schon seit 1991 Richtlinie der europäischen Entwicklungszusammenarbeit. In dem Entwicklungsausschuß der OECD führt Deutschland die Arbeitsgruppe „Partizipative Entwicklung und gute Regierungsführung" an, die neue Richtlinien für die Entwicklungspolitik der OECD-Länder in den Bereichen Förderung der Menschenrechte, der Rechtssicherheit, des gesellschaftlichen Pluralismus und der Dezentralisierung erarbeitet. Das BMZ leistet Beiträge zu den großen internationalen Konferenzen der Vereinten Nationen, Beiträge, die sich in den Schlußdokumenten wiederfinden. Auf dem Weltsozialgipfel konnte Deutschland seine internationalen Leistungen auf dem Gebiet der Armutsbekämpfung zur Geltung bringen und gegen den Widerstand einiger EU-Länder das 20 : 20-Ziel vorantreiben. Auf der Weltfrauenkonferenz wurde die weitreichende Aussage der deutschen Delegationsleiterin zu den Menschenrechten vom BMZ vorformuliert. Auf der Menschenrechtskonferenz geht der Kompromiß zur Formulierung eines Rechts auf Entwicklung auf unser Konto. Das sind nur einige Beispiele. Auch in der internationalen Verschuldungsdebatte haben wir deutliche Akzente gesetzt. Herr Kollege Feilcke hat insbesondere dieses Thema angesprochen. Deutschland hat fast allen hochverschuldeten Niedrigeinkommensländern die Schulden aus der Finanziellen Zusammenarbeit erlassen und sich im Pariser Club für die Einführung der Neapel-Konditionen eingesetzt, die einen Erlaß von bis zu 67 Prozent ermöglichen. In Einzelfällen würden wir auch noch weitergehen, wenn wir nicht in die gemeinsame Politik der Geber eingebunden wären. Auch das Problem der multilateralen Verschuldung gehen wir als einflußreiches Mitgliedsland von Weltbank, IWF und den Regionalen Entwicklungsbanken konstruktiv an. Hier werden wir in den nächsten Wochen Studien vorlegen, die hoffentlich neue Handlungsspielräume für die internationalen Finanzierungsinstitutionen aufzeigen. ({4}) Ein weiteres Beispiel für unser Gewicht in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist der deutsche Beitrag zum globalen Umweltschutz. Zusammen mit Frankreich sind wir Initiator der globalen Umweltfazilität. Wir leisten weltweit den größten Beitrag zum Tropenwaldschutz. Eine neue Initiative zum Einsatz von Umwelttechnologie in unseren Partnerländern ist in Vorbereitung. Sie unterstreicht das erweiterte Mandat der Entwicklungspolitik als Politik der globalen Zukunftssicherung. ({5}) Auch in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist unsere Erfolgsbilanz beachtlich: Die konzeptionell und personell besonders anspruchsvollen Vorhaben der Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe erreichen inzwischen einen Anteil von 18,6 Prozent - das hat es noch nie gegeben - an den Zusagen im Rahmen der bilateralen Zusammenarbeit. Unsere Beiträge zur Familienplanung und Bevölkerungspolitik stiegen von 28 Millionen DM im Jahr 1990 auf inzwischen 147 Millionen DM. Dazu kommt noch der Anteil an entsprechenden multilateralen Finanzierungen, die ebenfalls erheblich gesteigert wurden. Die Förderung der Wasserversorgung ist ebenfalls ein Schlüsselsektor. Das hat im übrigen auch die jetzt laufende Fastenaktion von „Misereor" unter dem Stichwort „Jeder Tropfen zählt" eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Auch hier leisten wir mit etwa 740 Millionen DM im Jahre 1994 Erhebliches. Dies ist bei den Gebern eine Rekordmarke. ({6}) Ich verweise im übrigen auf den Zehnten Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung, der noch recht jung ist und in dem eine Fülle zusätzlicher Informationen enthalten ist. Meine Damen und Herren, bei allem Positiven, bei all dem, was wir erreichen konnten, sollten wir weit von Selbstzufriedenheit entfernt sein - und sind es auch. Natürlich gibt es Schwachpunkte; es gibt auch Rückschläge. Die mangelnde Koordinierung der zahlreichen im Inland und im internationalen Rahmen tätigen Institutionen der Entwicklungszusammenarbeit ist dafür nur ein Beispiel. Ein anderes ist die noch nicht ausreichende Konzentration unserer Mittel auf weniger und dafür um so mehr Erfolg versprechende Projekte. Dies möchte ich nicht verschweigen. Wichtig ist nur, daß wir die Defizite abzubauen versuchen und die Effizienz unseres Mitteleinsatzes stetig verbessern. Lassen Sie mich abschließend auf eine andere interessante Facette in der öffentlichen Diskussion eingehen. Es mehren sich bei uns die Stimmen, die die Rezepte, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit erproben und umsetzen, mit unseren Problemen in Deutschland in Verbindung bringen. Diese VerBundesminister Carl-Dieter Spranger gleiche sind sehr lehrreich. Schließlich können wir, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, für unsere Partner keine anderen Maßstäbe setzen, als wir sie für uns selbst gelten lassen. Herr Kollege Verheugen hat in seiner Rede darauf hingewiesen. Ich muß sagen: Hier geben wir teilweise ein nicht sehr gutes Vorbild ab. ({7}) Nehmen wir zum Beispiel den Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe. Würde es uns nicht vieler politischer Sorgen entheben, wenn wir uns auch in unserer deutschen Fürsorge- und Wohlfahrtsgesellschaft mehr auf das Prinzip Eigenverantwortung besinnen würden? ({8}) Sowohl in den Entwicklungsländern als auch bei uns ist der Staat überfordert, wenn ihm zugemutet wird, jedes individuelle Lebensrisiko mit sozialen Wohltaten aufzufangen. ({9}) - Manchen gefällt dieses Beispiel nicht; das ist mir klar. Aber ich habe noch einige andere; da kommt vielleicht auch noch Widerspruch. ({10}) So sagte mir Professor Yunus von der GrameenBank - ich kann nur empfehlen, sich intensiv mit ihm zu unterhalten - letzte Woche in Bangladesch, wo wir die wirklich faszinierende und beispielhafte Praxis dieser Selbsthilfeorganisation ausführlich besichtigen konnten: Als der Mensch auf den Planeten kam, betätigte er sich als Fischer und Jäger. Er wartete nicht, bis er angestellt wurde. Wenn er in seiner Entwicklung immer auf den Staat gewartet hätte, wäre die Menschheit schon lange ausgelöscht. Schon im Oktober 1995 hatte er mir hier in Bonn zur Philosophie der Grameen-Bank gesagt: Der Staat ist nicht der Übervater, der für alles sorgt. Übermacht des Staates hat Passivität des Einzelnen zur Folge. ({11}) Der Außenminister der Philippinen, Herr Siazon, ergänzte: Für sich selbst zu sorgen ist schon als Zeichen der Würde unabdingbar. ({12}) - Warten Sie nur auf die anderen Beispiele; dann werden Sie wirklich nur zustimmen können. Denn auch Sie zählen sicherlich zu denjenigen, die von unseren Partnerländern unter ungleich schwierigeren Bedingungen Deregulierung, Privatisierung, Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung fordern. Daß hier auch bei uns Verkrustungen unübersehbar sind, ist ebenfalls unumstritten. ({13}) Wir setzen Kommissionen ein, die Empfehlungen für einen schlankeren Staat erarbeiten sollen. Das kürzlich verabschiedete Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze zeigt, daß wir genau dasselbe tun müssen, was wir unseren Partnern abverlangen, nämlich die Rahmenbedingungen für privates Unternehmertum und eine Stärkung des Mittelstandes verbessern, die Staatsquote senken und uns von staatlicher Interventionspolitik verabschieden. ({14}) Ich könnte diese Beispiele beliebig fortsetzen. Mein Bemühen ist vor allem, daß wir uns in unserer Politik nach außen und nach innen nicht widersprüchlich verhalten. ({15}) In den Entwicklungsländern fördern wir die Nutzung erneuerbarer Energien und den Einsatz von Zukunftstechnologien. ({16}) Bei uns halten wir vielfach mit Milliardensubventionen, die uns haushaltspolitisch zunehmend Schwierigkeiten bereiten und oft auch aus ökologischer Sicht bedenklich sind, an veralteten und überholten Technologien fest. ({17}) Im Meinungsaustausch mit unseren Partnern lassen wir keine Gelegenheit aus, um den Segen der Liberalisierung und des freien Handels zu preisen. Wir selbst kommen aber bei der Reform des europäischen Agrarmarktes und dem Abbau des Protektionismus nur schleppend voran. ({18}) Meine Damen und Herren, Sie sehen, aus der Entwicklungspolitik ließe sich auch für die Lösung von Problemen in Deutschland und Europa einiges ablesen. In unserer Entwicklungspolitik sind die Akzente richtig gesetzt. Ihre Ausrichtung ist zukunftsweisend. Ihr Erfolg und ihre Glaubwürdigkeit hängen aber davon ab, wieweit wir auch in Deutschland tragfähige Konzepte verfolgen. Überfällige Reformen bei uns machen nicht nur neue Mittel für unsere Politik nach außen frei. Sie sind gleichzeitig ein Beitrag zu einer kohärenten globalen Strukturpolitik. Das eröffnet auch gute Perspektiven für unsere Partnerländer. Damit werden wir unserer Verantwortung ihnen gegenüber gerecht. Dies leisten wir als zuverlässiger Teil der Weltgemeinschaft. ({19})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Brigitte Adler das Wort.

Brigitte Adler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Modell einer nachhaltigen menschlichen Entwicklung geht vom Wert des menschlichen Lebens an sich aus. Es achtet Leben nicht nur, weil Menschen materielle Güter erzeugen können - so wichtig dies sein mag. Es schätzt auch nicht ein Leben höher ein als ein anderes. Kein neugeborenes Kind sollte zu einem verkürzten oder elenden Leben verurteilt sein, nur weil es zufällig in die „falsche Gesellschaftsschicht" oder das „falsche Land" hineingeboren wird oder dem „falschen Geschlecht" angehört. Dieses Zitat, verehrte Kolleginnen und Kollegen, aus dem Bericht der UNDP von 1994 über die menschliche Entwicklung zeigt die Zielrichtung, in die Entwicklung sich vollziehen muß. Ebenso wird daran jedoch auch eindrucksvoll deutlich, wie weit die Menschheit von einer wirklich nachhaltigen Entwicklung entfernt ist. Denn nach wie vor sterben in den Ländern des Südens nach Schätzungen der FAO täglich etwa 40 000 Kinder auf Grund unzureichender Ernährung. Das drängende Problem der Armut ist nicht bewältigt. Das Menschenrecht auf Ernährung, das sich nicht nur in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, sondern auch in Art. 11 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wiederfindet, und das Menschenrecht auf Wohnung seien hier eindringlich ins Gedächtnis gerufen. Weder den unmittelbar betroffenen Menschen noch uns selbst wird es nützen, in Erklärungen aller Art lediglich Betroffenheit zu zeigen und den Willen zu bekräftigen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. De facto steigt die Zahl der chronisch Unterernährten. De facto steigt die Zahl der Wohnungssuchenden in den Städten, in denen im Jahr 2000 bereits zwei Drittel der Weltbevölkerung leben werden. De facto steigt im Jahrhundert der Flüchtlinge die Zahl der Migranten. Immer deutlicher wird aber auch, daß unser wachstumsorientiertes Entwicklungsmodell hier keine Lösungen bietet. Denn obwohl sich die ökonomische Weltproduktion seit 1950 verfünffacht hat, leben heute mehr als 1,2 Milliarden Menschen in Armut. Trotz anhaltendem Wirtschaftswachstum nehmen Verarmung und Massenarbeitslosigkeit auch in den industrialisierten Ländern immer stärkere Ausmaße an. Wachstum allein beinhaltet keine Lösung der derzeit aktuellen Probleme, da die Ungleichverteilung von Einkommen, Arbeit und Ressourcen nicht verhindert wird. Gleichwohl beinhaltet das vom Wachstum und von seinen Vertretern heraufbeschworene Bild eines immer größer werdenden Kuchens eine machtvolle Verführung, nämlich zu glauben, von diesem immer größeren Kuchen werden schon auch alle ein wenig mehr abbekommen. Unbequeme Fragen nach der Ungleichheit der Einkommen und der Vermögensverteilung bleiben außen vor. In Wirklichkeit ist die Errichtung einer ökologisch dauerhaften Weltwirtschaft ohne eine Abkehr von der Wachstumsideologie nicht möglich. Eine Neubestimmung der Prioritäten für die Entwicklung ist erforderlich. Durch ein Konzept von Nachhaltigkeit, das allein auf Technologieentwicklung beruht, werden keine Problemlösungen geliefert. Genausowenig ist nachsorgender Umweltschutz in der Lage, die negativen Wachstumseffekte völlig zu kompensieren. Die Überwindung der Armut in der Welt kann nur erfolgen, wenn die Verteilung von Einkommen und Ressourcen in den Brennpunkt der Debatte gestellt wird. Dies bedeutet konkret die Begrenzung des Konsums der Begünstigten zugunsten der Armen, und genau hier liegt die Ursache, warum strukturelle Veränderungen im Norden im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung lediglich angedacht werden. Bisher war es weder möglich, der Verantwortung der Länder des Nordens eine entsprechende Organisationsform zu geben, noch ist es gelungen, bereits bestehende Ansätze zur Umstrukturierung der Länder des Nordens im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung umfassend umzusetzen. Nicht die „freie, ungezügelte Marktwirtschaft" darf Handlungsmaxime sein. Der Blick muß gerichtet sein auf die soziale und ökologische Entwicklung. Menschenrechte, partizipatorische Demokratie, Selbstbestimmungsrecht der Menschen und der Völker, Respektierung der indigenen Völker und ihrer Lebensbereiche, Kulturen und Traditionen sowie die Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen müssen das Denken und Handeln aller Verantwortlichen bestimmen. Ethische Grundsätze müssen die ökonomische Ratio als bislang alleinige Handlungsgrundlage ablösen. Werte wie Selbstbestimmung, Partizipation, Verantwortung müssen gesellschaftlich dergestalt eine Neubewertung erfahren, daß sie auch in praktisches Handeln umgesetzt werden. Die heute kosten- und damit wertlosen Güter müssen wieder zu den eigentlich wertvollen Gütern werden und ihre Produzentinnen und Produzenten ein entsprechendes soziales Ansehen erhalten. Dies bedeutet eine Produktion, die sich nicht in erster Linie an Kriterien wie Produktions- und Umsatzsteigerungen, technischer Rationalisierung oder Profitmaximierung orientiert, sondern an Kriterien wie Bedarfsgerechtigkeit, Minimierung des Ressourcenverbrauchs, Menschen- und Umweltfreundlichkeit der Produktionsbedingungen. Die Neuorientierung des heute dominierenden Wertesystems wird damit zur Basis nachhaltiger Entwicklung sowohl im Norden als auch im Süden. Eine neue Art des Produzierens, des Handelns und des Konsums muß Kernpunkt des neuen EntwickBrigitte Adler lungsmodells sein. Die Grundbedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit müssen unter Wahrung der Integrität der Natur befriedigt und damit das Überleben zukünftiger Generationen gesichert werden. Nachhaltigkeit darf nicht überwiegend technologisch interpretiert werden. Ausgangsbasis für Nachhaltigkeit muß der Mensch sein. Dies bedeutet ein Verständnis von Nachhaltigkeit, das allen Menschen die vollen Menschenrechte garantiert. Der Zugang zu Nahrung, Unterkunft, sauberer Luft und Wasser, Gesundheit, Bildung, Information, die bürgerlichen Freiheitsrechte und die Wahrung der kulturellen und religiösen Identität sind darin eingeschlossen. Grundbedürfnisse werden hier zu einklagbaren Grundrechten. Die Entwicklung kultureller Werte wird zur notwendigen Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung der Menschen überhaupt. Für die konkrete Ausgestaltung der Entwicklungspolitik erfordert dies praktische ökonomische Reformen auf nationaler und internationaler Ebene. Notwendig ist hier vor allem der Abbau der schweren Schuldenlast der Entwicklungsländer, um eine ökologische dauerhafte Entwicklung zu ermöglichen. Es ist notwendig, daß eine Reduzierung der Schulden um mindestens 60 Prozent erfolgt. Ohne eine erhebliche Schuldenreduzierung bleibt das Weltfinanzsystem risikobehaftet. Eine Kürzung in der vorgeschlagenen Höhe ließe sich bei allmählicher Realisierung über ein Jahrzehnt durchführen. Der Schuldenabbau sollte dabei in Verbindung mit Programmen zur nachhaltigen Entwicklung verbunden werden. In der Abschlußerklärung des Weltgipfels für soziale Entwicklung verpflichteten sich die teilnehmenden Staaten, die für die soziale Entwicklung bereitgestellten Ressourcen signifikant zu erhöhen und/oder effektiver einzusetzen. Wenn hier bedauerlicherweise durch eine Und/oder-Formulierung wenig Verpflichtung zur praktischen Umsetzung übriggeblieben ist, so wurde im fünften Kapitel des Aktionsprogrammes die Notwendigkeit substantieller Schuldenreduzierung wenigstens genannt. ({0}) Machen wir uns nichts vor: Ohne konkreten Schuldenabbau können die Ergebnisse von Kopenhagen nicht umgesetzt werden. Daß erstmals in einer UNErklärung für das Problem multilateraler Schulden Lösungen gefordert und schließlich die Möglichkeiten der Umwandlung von Schulden in Gegenwertfonds für soziale Entwicklung ausdrücklich erwähnt werden, läßt Hoffnung aufkommen. Die Senkung der Militär- und Rüstungsausgaben sind ein weiterer wichtiger Schritt im Sinne der sozialen Entwicklung. Globale Rahmenbedingungen sind zu schaffen, die die Bewältigung der sozioökonomischen, kulturellen und ökologischen Krisen ermöglichen. Die derzeit bestehenden internationalen Institutionen wie Weltbank, Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation müssen ihre Arbeit an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung ausrichten. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UN soll ein entsprechendes Monitoring gewährleisten. Transnationale Konzerne sind ebenfalls einer Verhaltenskontrolle in diesem Sinne zu unterziehen. ({1}) Der derzeitigen Tendenz der Globalisierung mit allen Problemen, die hierdurch aufgeworfen werden, muß die regionale Entwicklung entgegengesetzt werden. Notwendig sind Initiativen zur Unterstützung der Bildung von dezentral organisierten Gesellschaften. Deren soziale Einheiten sollten durch ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit, Egalität sowie partizipatorischen Entscheidungs- und Handlungsstrukturen gekennzeichnet sein. Lokale Regierungen und Bevölkerungsgruppen müssen mehr Möglichkeiten bekommen, ihre Situation entsprechend den regionalen Gegebenheiten zu verändern. Regionale Ansätze einer nachhaltigen Entwicklung sind daher zwingend notwendig und müssen eine größtmögliche Unterstützung erfahren. ({2}) Die Überarbeitung und Neukonzeption der Hilfsprogramme auf die bereits genannten Prioritäten und Wertvorstellungen ist eine weitere wichtige Aufgabe. Echte Glaubwürdigkeit und Konsistenz der Ziele hinsichtlich der Ausrichtung der Hilfsprogramme an dem Leitziel der nachhaltigen Entwicklung können aber nur erreicht werden, wenn auch der Norden endlich die notwendigen strukturellen Änderungen umsetzt. ({3}) Produktions- und Verbrauchsmuster sind derart zu ändern, daß knappe Ressourcen eine ökonomische Bewertung erfahren und entsprechend umsichtig behandelt werden. Unter knappen Ressourcen verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht nur den Verbrauch von Umweltgütern, sondern zum Beispiel auch Arbeitsqualität und die damit verbundene menschliche Zufriedenheit. Wertvorstellungen sind auch hier mit neuen Gewichtungen zu belegen. Die Schaffung von mehr Lebensqualität kann nicht weiter durch mehr Konsum erfolgen. Lebensqualität, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bedeutet Mitmenschlichkeit, Solidarität, Verantwortung für kommende Generationen, befriedigende Arbeitsverhältnisse und die Entwicklung kultureller Werte. Lebensqualität ist die Basis für nachhaltige Entwicklung. Wir Politikerinnen und Politiker sind gefragt, in diesem Sinne zu handeln. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Kollege Dr. Manfred Lischewski, CDU/CSU.

Dr. Manfred Lischewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001354, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Weltgipfel für soziale Entwicklung, an dem 112 Staats- und Regierungschefs sowie eine große Anzahl von Nichtregierungsorganisationen teilgenommen haben, ist der erste Weltgipfel gewesen, der sich ausschließlich mit sozialen Fragen befaßt hat. Das Thema Armut ist erstmals mit dieser Deutlichkeit auf die internationale Tagesordnung gesetzt worden. Die drei Hauptthemen der Konferenz waren die Bekämpfung der Armut, die Schaffung von produktiven Beschäftigungsmöglichkeiten und die Förderung der sozialen Integration benachteiligter und marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Das Ergebnis der Verhandlungen ist in einer Abschlußerklärung und in einem Aktionsprogramm niedergelegt. Darin ist die Verpflichtung sowohl der Industrieländer als auch der Entwicklungsländer zu einer sozial orientierten nationalen Politik und zur Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft enthalten. Im Mittelpunkt der Abschlußerklärung stehen zehn politische Verpflichtungen, die sogenannten „commitments". Mit ihnen soll ein neuer globaler Vorstoß für den sozialen Fortschritt unternommen werden. Sie sind in ihrer Zielsetzung weitgehend unverbindlich. Größere Verbindlichkeit ergibt sich erst durch die Kopplung der „commitments" an konkrete Politikmaßnahmen, spezifische Zeitpläne und quantitative Zielgrößen. Diesem Zweck soll das Aktionsprogramm dienen, dessen Aufgabe es ist, für die zehn Verpflichtungen konkrete Umsetzungsempfehlungen zu formulieren. ({0}) Zum vorrangigen Ziel nationaler Politik und internationaler Zusammenarbeit hat der Gipfel die Beseitigung der absoluten Armut erklärt. Die Möglichkeiten zur Selbsthilfe und zur aktiven Beteiligung der Zivilgesellschaft sollen verbessert und ausgebaut werden. Für die Lösung der weltweiten sozialen Frage und die Bekämpfung der Armut kommt es nicht in erster Linie auf den Staat, sondern auf die schöpferischen Kräfte der Menschen an, meine Damen und Herren. ({1}) Den Menschen muß geholfen werden, ihre Selbsthilfekräfte im wirtschaftlichen Bereich zu entfalten. Durch eigene Arbeit und eigenes Einkommen müssen sie die Möglichkeiten erhalten, ihre Existenz in bezug auf die Ernährung, die Gesundheit und die Bildung zu sichern. Vielfache Beispiele haben bewiesen, daß auch Ärmste, zum Beispiel durch Sparen und Kredite, in der Lage sind, ihre Lebenssituation nachhaltig zu verbessern. Die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland hat gezeigt, wie die Selbsthilfekräfte gestärkt werden können. Für die selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung sind unsere finanziellen Mittel von 7 Prozent im Jahr 1991 auf 18,6 Prozent im Jahr 1995 gesteigert worden. ({2}) Dementsprechend sind die armutsbezogenen Vorhaben erhöht worden. Wie EZ-Organisationen beobachten, erhöhte sich aber auch in den Entwicklungsländern die Bereitschaft, entsprechende Projekte und Programme auszuweiten. Der Weltgipfel hat auch der Durchsetzung der Menschenrechte in der Welt große Bedeutung zugemessen. Die deutsche Politik nimmt diese Forderung sehr ernst. Die Tendenz geht dahin, daß Entwicklungsländer nur noch dann Hilfe erhalten, wenn sie die Menschenrechte nicht eklatant verletzen. Ich sehe es als die Aufgabe der deutschen Entwicklungspolitik an, die Entwicklungsländer immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Wahrung der Menschenrechte für die Leistung von Entwicklungshilfe unabdingbar ist.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Lischewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dietert-Scheuer?

Dr. Manfred Lischewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001354, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte fortfahren. In diesem Zusammenhang möchte ich zum Ausdruck bringen, daß die Entwicklungsländer selbst für die Entwicklungen in ihren Ländern verantwortlich sind. Insbesondere die Eliten in den Ländern tragen die Verantwortung; das hat vorhin auch Kollege Kohn dargelegt. Es gibt zum Beispiel in Afrika Entwicklungsländer, deren Staatsverschuldung genauso hoch ist wie das Privatvermögen des jeweiligen Staatsführers. Das heißt: Die Verschuldung der betreffenden Länder könnte durch diese, bei europäischen und amerikanischen Banken befindlichen Vermögen ausgeglichen werden, so daß sich die Länder weitgehend selbst helfen könnten und auf Hilfe von außen kaum noch angewiesen wären. Die Eliten in jenen Ländern sind also vielfach für die Armut mitverantwortlich. ({0}) Im Hinblick darauf ist es mehr als gerechtfertigt, ihre Verantwortlichkeit anzumahnen. Dies gilt auch für die Bürgerkriege in manchen Entwicklungsländern. In diesem Zusammenhang muß auch erwähnt werden, daß die Rüstungsausgaben in vielen Ländern des Südens noch immer zu hoch sind. Mehr noch als bisher sollte bei der Vergabe von Entwicklungsmitteln darauf geachtet werden, ob nicht die Armut eines Landes auch die Folge von nach wie vor zu hohen Rüstungsausgaben ist, ({1}) wozu freilich die Industrieländer durch Waffen- und Technologieexporte beigetragen haben. Dies ändert nichts daran, daß zu hohe Rüstungsausgaben eine Ressourcenverschwendung darstellen und daß sie sozioökonomische Konflikte verschärfen. Deshalb ist von den Regierenden in den Ländern die Reduzierung der Rüstungsausgaben zu fordern. ({2}) Wenn die Entwicklungsländer ihre Rüstungsausgaben für zehn Jahre auf das Niveau von 1990 einfrieren würden, reichten die dadurch freigesetzten Mittel in Verbindung mit wirksamer eingesetzten Entwicklungshilfeleistungen nach Schätzungen des UNDP aus, um im Jahre 2000 weltweit Alphabetisierung, grundlegende Gesundheitsfürsorge und Versorgung mit sauberem Trinkwasser zu ermöglichen. Ein weiteres wichtiges Ergebnis des Gipfels ist die Anerkennung der zentralen Rolle der Frau für die soziale Entwicklung. Besonders herausgestellt wird die Notwendigkeit einer stärkeren Teilhabe der Frauen am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Der Zugang von Frauen und Mädchen zu traditionell von Männern beherrschten Berufen soll dadurch erleichtert werden. Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik hat international das Ziel der Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts mehrfach anerkannt, unter anderem auch in Kopenhagen, ohne einen Zeitpunkt für die Erreichung festzulegen. In den letzten Jahren ist die öffentliche Entwicklungshilfe mit rund 11 Milliarden DM relativ konstant geblieben. Ihr Anteil am Bruttosozialprodukt sank jedoch auf zuletzt 0,3 Prozent. Ich habe den Eindruck, daß hier mit dem Haushalt 1996 eine Trendumkehr geglückt ist. In den nächsten Jahren muß es darum gehen, die Entwicklungshilfemittel zu erhöhen, ({3}) wobei mir klar ist, daß sich die Verteilungskämpfe in Deutschland noch verschärfen werden, was die Situation der Entwicklungshilfe nicht erleichtert. Nicht zuletzt dem Bemühen der Bundesregierung ist es zu verdanken, daß die sogenannte 20 : 20-Initiative gegen den Widerstand einiger EU-Länder konsensfähig wurde. Letztendlich konnte so im Aktionsprogramm verankert werden, daß interessierte Staaten jeweils 20 Prozent der Entwicklungshilfe bzw. 20 Prozent vom nationalen Haushalt des Empfängerlandes für die Grundversorgung der Bevölkerung einsetzen können. Der Deutsche Bundestag hat der Bundesregierung für die schnelle Unterrichtung seiner Ausschüsse über die Ergebnisse des Weltgipfels für soziale Entwicklung zu danken. Wir fordern die Bundesregierung auf, erstens sich für die Umsetzung der Verpflichtung von Kopenhagen auf nationaler und internationaler Ebene einzusetzen, zweitens am Nachfolgeprozeß der Konferenz aktiv mitzuwirken und drittens die Sozialpartner und die Nichtregierungsorganisationen am nationalen Nachfolgeprozeß zu beteiligen. Auf die Umsetzung der Verpflichtung von Kopenhagen wird es ankommen. Dann wird sich entscheiden, ob der Gipfel letztendlich ein Erfolg war oder nicht. Meine Damen und Herren, bei den UN-Weltgipfeln in den letzten Jahren hat sich herausgestellt, daß ganz überwiegend entwicklungspolitische Themen auf der Tagesordnung standen. Es wäre deshalb nur normal - das möchte ich als Ausschußvorsitzender heute hier sagen -, wenn die deutsche Vertretung dieser entwicklungspolitischen Themen dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung übertragen würde ({4}) und nicht immer anderen Ressorts, die sicherlich weniger zuständig sind. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Schmitt, Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entwicklungspolitik hat es in Zeiten der großen Standortdiskussion schwer. Auch die Zahl der Kolleginnen und Kollegen, die sich um diese Zeit noch hier eingefunden haben, ({0}) um sich mit entwicklungspolitischen Fragen zu beschäftigen, könnte größer sein. ({1}) Dabei trägt die Entwicklungspolitik mit Sicherheit mittel- und langfristig zur Beantwortung einer der wichtigsten Zukunftsfragen überhaupt bei, nämlich der: Was müssen wir tun, damit die Welt im nächsten Jahrhundert ein lebenswerter Ort bleibt?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Schmitt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hornhues?

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte, Herr Kollege.

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben eben angemerkt, daß bei unserem Thema die Zahl der Anwesenden größer sein könnte. Würden Sie konzedieren, daß viele andere Kollegen sich das bei ihren Themen auch wünschten, wenn Sie nicht da sind?

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das kann ich mir gut vorstellen. ({0}) - Weil ich glaube, daß ich als Entwicklungspolitiker angesichts der großen Probleme, mit denen wir es zu tun haben, und auch angesichts mancher NichtigkeiWolfgang Schmitt ({1}) ten, mit denen sich dieses Haus mitunter beschäftigt, das Recht habe, diesen Zustand zu beklagen. Wir diskutieren nicht allzuoft über entwicklungspolitische Fragen; da werden Sie mir sicherlich zustimmen. Ich finde, alle Kollegen können für ihr Thema werben. Aber wenn Sie sich den Zustand der Welt angucken - Herr Hornhues, Sie kommen als Außenpolitiker sehr weit in der Welt herum -, dann werden Sie zugestehen müssen, daß es wegen der Komplexität der Problemlage und wegen der auch von Ihren Kolleginnen und Kollegen eingeforderten Kohärenz bei entwicklungspolitischen Fragen, von denen auch andere Ressorts betroffen sind, ganz nützlich wäre, wenn beispielsweise Vertreter des Landwirtschaftsausschusses dieser Debatte hier und heute folgen würden. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte. ({0})

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege - darum geht es hier nicht -, würden Sie, um im Sprachgebrauch des Kollegen Hornhues zu bleiben, auch konzedieren, daß angesichts der vorgerückten Stunde - zumindest mir - die Besetzung dieses Plenums geradezu sensationell gut erscheint? Ich konzediere es der kurzen Zugehörigkeit Ihrer geschätzten Person zu diesem Hohen Hause, daß Sie andere Ereignisse dieser Art noch nicht erlebt haben. Ich muß sagen, als ich vorhin hierhin gekommen bin, habe ich gesagt, ich freue mich, daß ganz offensichtlich gerade dieses Thema ein so hohes Interesse produziert, daß auch Leute aus den unterschiedlichsten Ausschußbereichen anwesend sind. Konzedieren Sie, daß Ihre Eingangsbemerkung daher eher in eine Debatte über eine etwaige Parlamentsreform als in eine entwicklungspolitische Debatte gehört?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Schmitt.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Irmer, der Respekt vor Ihrer langjährigen Erfahrung als Parlamentarier in diesem Hause gebietet es natürlich, daß ich angesichts dessen, was Sie mir über die üblichen Besuchs- und Präsenzzahlen im Plenum des Deutschen Bundestages gesagt haben, dies zur Kenntnis nehme. Ich konzediere gerne, wenn es noch dünnere Besetzungen im Plenum bei vielleicht noch wichtigeren Fragen um diese Zeit gegeben hat, dann muß man als Entwicklungspolitiker offenbar sehr bescheiden sein und zur Kenntnis nehmen, daß dies ein relativ großes Auditorium ist. Trotz allem, gerade als Grüne möchten wir uns nicht nur mit dem beschränken, was existiert, was da ist, sondern wir wären froh, wenn der zur Zeit beobachtbare Zustand verbessert werden könnte. Vielleicht könnten Sie dazu beitragen, indem Sie in Ihrer Fraktion für eine stärkere Präsenz bei solchen Debatten werben. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Schmitt, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Weng? Bitte keine Dialoge, Herr Kollege Irmer. ({0})

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, bitte.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte sehr, Herr Kollege Weng.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmitt, auch in der Konsequenz gerade Ihrer letzten Bemerkung: Halten Sie es nicht für reizvoll, wenn man sich bei einer solchen Klage zunächst einmal an die eigenen Reihen wendet und sich vielleicht in der eigenen Fraktion um eine verstärkte Präsenz bemüht, ehe man bei anderen klagt?

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jeder Parlamentarier hat das Recht, auch die eigene Fraktion zu kritisieren. Bei uns ist es jedenfalls üblich. Ich weiß nicht, wie es in anderen Fraktionen ist. ({0}) Ich gebe Ihnen recht, daß auch die Präsenz der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen besser sein kann. Ich wundere mich übrigens, daß Sie hier nicht angeführt haben, daß die prozentuale Präsenz der F.D.P.-Fraktion bei diesem Tagesordnungspunkt - das kann man abzählen - höher ist als die von Bündnis 90/Die Grünen. Sie sehen, ich bin großzügig und beglückwünsche die Liberalen zu dieser hohen Präsenz. ({1}) Kommen wir zum Thema. Meine Damen und Herren, Bundesentwicklungshilfeminister Spranger, aber auch der Kollege Lischewski, haben einschneidende Verhaltensänderungen, Politikänderungen in den Ländern des Südens verlangt. Dies ist richtig. Herr Kollege Spranger hat auch darauf hingewiesen, daß die Bundesrepublik Deutschland und die anderen Länder des Nordens Vorbildcharakter für die Länder des Südens haben. Ich wunderte mich allerdings etwas über Ihre Akzentsetzung, daß Sie diesen Vorbildcharakter zum Anlaß nahmen, weitere gravierende Schritte in Sachen Strukturwandel in der Bundesrepublik Deutschland einzufordern. So richtig dies ist, so meine ich doch, daß dies nur die halbe Wahrheit war. Wir brauchen einen ökonomischen Strukturwandel, auch in den Ländern des Südens, Wolfgang Schmitt ({2}) auch hierzulande, aber ich meine, wir brauchen auch einen ökologischen Strukturwandel. Auch was unseren Lebensstil anbetrifft, dienen wir dem Süden als Vorbild. Sie wissen genausogut wie ich, daß der Lebensstil des Nordens nur auf Kosten der Zukunft des gesamten Planeten verallgemeinert werden kann. Ich meine, als Minister hätte es Ihnen gut angestanden, etwas zur Initiative von Misereor und dem Wuppertal-Institut zu sagen, die unter dem Motto nachhaltiges, dauerhaftes Deutschland - sustainable Germany - versucht haben aufzuzeigen, welche nicht nur ökonomischen, sondern auch ökologischen Veränderungen in diesem Lande notwendig gewesen wären. ({3}) Ebenso, Herr Kollege Lischewski, verhält es sich übrigens mit dem Ruf nach Reduzierung der Rüstungshaushalte. Als Grüner bin ich natürlich mit Ihnen einverstanden, aber ich denke, auch da haben die Länder des Nordens eine Vorbildfunktion. Und wer für sich reklamiert, daß staatliche Souveränität auch das Recht auf militärische Verteidigung einschließt und hier nachhaltige und nachdrückliche Bemühungen vermissen läßt - Stichwort „Jäger 90" -, der hat das Recht verspielt, Regierungen des Südens Lektionen über die Höhe ihrer Rüstungshaushalte zu erteilen. ({4}) Meine Damen und Herren, ich habe schon auf die Komplexität der Problemlage hingewiesen. Der vorliegende entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung, das sei auch mal gesagt, beschreibt zutreffend die Komplexität der Problemlagen, und wir sind weit von einer Lösung der Probleme entfernt, die in diesem Bericht von A wie zunehmender Armut bis B wie Bevölkerungswachstum gehen, V wie Verschuldung oder Verstädterung bis Z wie Zerstörung der natürlichen Ressourcen. ({5}) Die Entwicklungspolitik - und das ist hier auch schon verschiedentlich erwähnt worden - sollte als politische Querschnittsaufgabe verankert werden. Der letzte Besuch des Parlamentarischen Staatssekretärs des Landwirtschaftsministeriums im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat allerdings gezeigt, daß selbst diese Bundesregierung weit davon entfernt ist, eine unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten kohärente Politik zu gestalten, zum Beispiel im Bereich der Landwirtschaft. ({6}) Der Staatssekretär sah sich nicht in der Lage, für eine grundsätzliche Änderung der Exportsubventionspraxis der Europäischen Union einzutreten. Statt dessen wies er darauf hin, daß die derzeit leeren Vorratslager der Europäischen Union dazu führten, daß es zur Zeit keine Exportsubvention, daß es zur Zeit kein Lebensmitteldumping in Staaten der Dritten Welt gebe. Auf Befragen konnte er allerdings nicht ausschließen, daß sich die unselige Praxis der Exportsubvention bei anderer Marktlage in Zukunft wiederholen würde. Solange die Bundesregierung dieses System der Exportsubvention nicht grundsätzlich in Frage stellt, so lange muß man den Eindruck bekommen, daß Entwicklungspolitik als reine Alibiveranstaltung betrieben wird; denn wir wissen ganz genau, daß Handelsfragen, daß die Öffnung der Märkte des Nordens bzw. die unterbliebene Öffnung sehr viel nachhaltigere Auswirkungen in den Ländern des Südens zeitigt als eine noch so gut gemeinte Erhöhung der Entwicklungshilfeausgaben. Meine Damen und Herren, der Ruf nach Kompetenzbündelung, Verkürzung der Entscheidungswege innerhalb der Regierung gehört zum Morgenlied eines jeden sich modern und dynamisch gebenden Regierungspolitikers. Doch die Praxis sieht ganz anders aus. Noch immer dominiert der Ressortegoismus nach dem Motto: „Mein Schrebergarten gehört mir." In der ihm eigenen zurückhaltenden Art beschrieb Minister Spranger den Kompetenzwirrwarr in Sachen Hilfe für die Transformationsländer Ost- und Mitteleuropas. Er spricht laut „Spiegel" von verlängerten Wegen zwischen den Partnern. Diese Mißstände, so der Minister, erleichterten nicht gerade die Verfolgung integrierter Politikkonzepte. Meine Damen und Herren, dahinter verbergen sich die personellen und ministerialen Querelen einer Regierungskoalition, die offensichtlich in die Jahre gekommen ist und der die Kraft für notwendige Reformen fehlt. ({7}) Die Konsequenz? - Verschleuderte Steuergelder und die Wahrscheinlichkeit, daß im Ergebnis keine nachhaltigen Entwicklungen gefördert werden. Fehlschläge sind so gerade vorprogrammiert. Statt dessen brauchen wir eine Art Wapenhansbericht. Der Wapenhansbericht ist von der Weltbank als beeindrukkendes Dokument ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik verfaßt worden. Wenn wir uns ansehen, mit welcher Geheimhaltungspraxis die Kreditanstalt für Wiederaufbau selbst dem Informationsbegehren bundesdeutscher Parlamentarier gegenübertritt, wenn man sieht, mit welcher Vehemenz die Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zuletzt an dem auch ökonomisch zweifelhaften Staudammprojekt Arun III in Nepal festgehalten hat, bekommt man den Eindruck, daß die vielfach beklagten Mißstände bei der Weltbank, auf die auch reagiert worden ist, offensichtlich auch bei bundesdeutschen Durchführungsinstitutionen der Entwicklungszusammenarbeit zu vermuten und vorzufinden sind. Ich fordere Sie, Herr Minister, auf, sich darum zu bemühen, daß mit der zurückliegenden Praxis dieser Durchführungsorganisation endlich aufgeräumt wird, daß Mißstände benannt werden und daß das Parlament, daß der Deutsche Bundestag in die Lage versetzt wird, sich umfassend zu informieren. Es geht Wolfgang Schmitt ({8}) nämlich um nicht mehr und nicht weniger als um Steuergelder, um die sachgerechte Verwendung dessen, was uns die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes anvertraut haben. Die Vorkommnisse - ich habe es eben schon erwähnt - um die Deutsche Entwicklungsgesellschaft zeigen nicht nur, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit darüber Klage führt, daß es mit dem Aufsichtsrat einer bundeseigenen Unternehmung nicht zu Rande kommt, sondern sie zeigen ebenfalls, daß es den Aufsichtsratsvorsitzenden, über den gerade Klage geführt wird, wenige Monate, nachdem entsprechende Schreiben im Hause verfaßt worden sind, erneut in dieses Amt beruft. Dies ist für mich, Herr Minister, kein Zeichen dafür, daß Sie die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland erhöhen, sondern es scheint mir die Kapitulation vor Koalitionsarithmetik zu sein. Im Sinne der Entwicklungszusammenarbeit ist ein solches Verhalten, auch eine solche Berufung, jedenfalls nicht. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Schmitt, Sie werden verstehen, daß ich Ihr Bekenntnis zu offenen Märkten gern gehört habe. Ich hoffe sehr, daß Sie den protektionistischen Unsinn, der sich in den Anträgen für Ihren nächsten Parteitag findet, auch kräftig verhindern werden. ({0}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir bitte, auch in meiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, auf die spezifische Rolle der politischen Stiftungen in der Entwicklungspolitik einzugehen. Die politischen Stiftungen haben nach drei Jahrzehnten Auslandsarbeit - nur mit dieser beschäftige ich mich heute - eine beeindruckende Leistungsbilanz aufzuweisen. ({1}) Wir alle in den Stiftungen haben uns darüber gefreut, als Bundespräsident Herzog dies in seiner Rede anläßlich des 70jährigen Bestehens der Friedrich-Ebert-Stiftung gewürdigt hat. ({2}) Das gibt mir Anlaß, daran zu erinnern, daß ein früherer Bundespräsident, nämlich Walter Scheel, den Anfang der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, mit deren Fortsetzung wir uns heute beschäftigen, gestaltet hat. ({3}) Die gesellschaftspolitischen Projekte der Stiftungen konzentrieren sich auf die Kooperation mit Parteien, Regierungen, Gewerkschaften, Verbänden, Medien, Bildungs- und Forschungseinrichtungen und einer Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen unterschiedlicher Ausrichtung. Seit 1962 haben insgesamt etwa 3 800 Projekte in mehr als 120 Partnerländern nachweislich bedeutsame Beiträge zum Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, marktwirtschaftlicher Ordnungen, pluralistischer und ziviler Bürgergesellschaften geleistet. Ihr Einzugsbereich umfaßt mit Afrika, Asien, Lateinamerika, dem Nahen Osten und jüngst auch Mittel-, Ost- und Südosteuropa heute alle Entwicklungsregionen. Die Stiftungen sind ein wichtiger Teil der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands. Ihr Auftrag ist politischer Natur. Sie haben seit Anfang der 60er Jahre als nichtstaatliche Akteure im Bereich der politischen Bildung, der Politikberatung und des Politikdialogs eine originäre und bedeutende Rolle im Rahmen der deutschen Entwicklungspolitik übernommen. ({4}) Durch ihre Programme und Projekte tragen sie wesentlich dazu bei, daß von relevanten gesellschaftlichen Kräften in den Partnerländern entscheidende Impulse für Veränderungen und Wandel der politischen Rahmenbedingungen und Entwicklungsprozesse ausgehen. Damit entstehen vielfach erst Grundlagen und notwendige Voraussetzungen für die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Einzelprojekten der technischen Zusammenarbeit. Ungeachtet der von den hiesigen Medien so gern geäußerten populistischen Kritik und weithin unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, haben sich die politischen Stiftungen auf internationaler Ebene eine Stellung geschaffen, die von den Regierungen, Medien, Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit der Partnerländer zumeist rückhaltlos anerkannt wird. Die überzeugende Erfolgsbilanz und Reichweite ihres jahrzehntelangen Einsatzes für Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit, Pluralismus und sozial gerechte Wirtschaftsordnung auf rechtsstaatlicher Basis haben die Parlamente der USA, Kanadas, Großbritanniens und Schwedens in den 80er Jahren veranlaßt, nach dem deutschen Modell ihre eigenen politischen Stiftungen bzw. Institutionen zu schaffen, die in ähnlicher Weise aus öffentlichen Mitteln finanziert werden und heute weltweit arbeiten. Gerade in diesen Tagen fand in London die dritte Weltkonferenz der inzwischen 19 international tätigen politischen Stiftungen aus acht Industrieländern statt. Ich will dem Bundestag gerne berichten, daß sich die verschiedenen politischen Stiftungen im Ausland nicht als Konkurrenzunternehmen sehen. Anfang dieses Jahres habe ich dieses Urteil während einer Reise zu den Projekten der Friedrich-Naumann-Stiftung in Indien und Sri Lanka erneut bestätigt gefunden. So ist es grundsätzlich, und zwar weltweit. Der Bundestag hat im Haushaltsgesetz 1992 beschlossen, in die technische Entwicklungszusammenarbeit auch Maßnahmen zur Demokratieförderung einzubeziehen. Daraus ist ein Konkurrenzverhältnis der GTZ zu den politischen Stiftungen entstanden. Wir haben für die Lösung dieses Problems dankenswerterweise viel Verständnis bei Ihnen, Herr Bundesminister Spranger, gefunden. Die Stiftungen führen seit 1994 einen konstruktiven Dialog mit dem BMZ über die Konkurrenzproblematik, und wir haben in den letzten Wochen eine einvernehmliche Abstimmung verbindlicher Verfahrensregeln in der Zusammenarbeit mit der GTZ erzielt. ({5}) - Ja, das ist in der Tat sehr gut. ({6}) Auch für den neuen und konkurrierenden Bereich staatlichen Handelns im Bereich der Demokratieförderung muß der Grundsatz der Subsidiarität gelten, das heißt, der Vorrang privater Initiativen vor staatlicher Gesellschaftspolitik. Überall dort, wo die Stiftungen mit ihren Programmen und Projekten Maßnahmen zur Förderung der demokratischen Entwicklung leisten können, sollen sie das vorrangig tun. In allen Ländern, in denen die Stiftungen tätig sind und in denen sie durch eigene Initiative solche Programme durchführen, dürfen diese nicht von der GTZ übernommen oder durch deren Maßnahmen unterlaufen werden. ({7}) Ich sage noch einmal: Wir sind in dieser Frage mit dem Minister, mit dem BMZ, einig geworden, alle Stiftungen miteinander. Eine in jüngster Zeit im Auftrage des BMZ erfolgte Querschnittsevaluierung der Aktivitäten aller politischen Stiftungen in Südafrika und Chile belegt die komparativen Vorteile der Stiftungen in dem besonders sensitiven Feld der politischen Rahmenbedingungen. Nach dem Urteil der sechs unabhängigen Gutachter haben die Stiftungen als freie, wertorientierte Träger, die zumindest in keinem unmittelbaren Sinne den normalen Rücksichtnahmen der offiziellen staatlichen Außenpolitik unterliegen, durch ihre Vorgehensweise im Hinblick auf ein breites Spektrum verschiedenster Partner in der Transitionsphase beider Länder wichtige Beiträge zur Stärkung des politischen Pluralismus und der Zivilgesellschaft geleistet. In beiden Fällen wurde deutlich, daß das gleichzeitige Engagement aller Stiftungen in einem Land nicht zu ruinöser Konkurrenz führt, sondern zu einer Erhöhung der Effizienz im Sinne echter Komplementarität. ({8}) Nach dem Urteil der Gutachter ist der Mitteleinsatz bei zivilgesellschaftlichen Interventionen dieser Art oder politischer Entwicklungshilfe eine Risikoinvestition mit hoher Renditeerwartung. Die gelungenen Fälle - in Chile und Südafrika waren es gelungene Fälle - rechtfertigen auch die nicht so erfolgreichen Versuche. Die hat es auch gegeben. Auf Grund der seit 1993 im Zuge der Haushaltskonsolidierung erfolgenden jährlichen Mittelkürzungen des Bundestages im Gesamtbudget der politischen Stiftungen gehen diese trotz konsequenten Personalabbaus und schärfster Rationalisierungsmaßnahmen in allen nur denkbaren Bereichen der schwersten strukturellen Finanzkrise ihrer Geschichte entgegen. Setzen sich die Mittelkürzungen des Bundestages in den kommenden Jahren fort - dies ist durch die proportionale Aufstockung der grünen Regenbogenstiftung bei konstantem Gesamtvolumen aller Stiftungen praktisch vorprogrammiert -, werden schmerzhafte Substanzverluste in ihrem internationalen Engagement eintreten. Der weitere Abbau und die Zerschlagung bewährter nichtstaatlicher Strukturen auf seiten der Partner sowie eine Demontage der langjährig aufgebauten politischen Beziehungen und Kontaktnetze in zahlreichen Projektländern werden die unvermeidlichen Folgen sein. Angesichts hoher Erwartungen an die neue Rolle Deutschlands und seiner Institutionen in Europa und der Welt sowie des nach 1989 erheblich gewachsenen Nachfragepotentials für den Aufbau demokratischer Strukturen in den Staaten des Südens und Ostens kann dies nicht im deutschen Interesse liegen. Besonders kritisch ist die Finanzierung der Projekte für die Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas. Die Haushaltsmittel und Stiftungsanteile an den beiden Haushaltstiteln sinken jährlich. So soll der Titel des Transformprogramms, dem Beratungskonzept der Bundesregierung für Osteuropa, kontinuierlich abgebaut werden, da der Beratungsbedarf für die erforderlichen Transformationsprozesse in den Reformländern in fortschreitendem Maße als gedeckt angesehen wird. Die bisherigen Erfahrungen der Stiftungen aus der Kooperation mit staatlichen und privaten Partnern in Osteuropa zeigen aber unzweifelhaft, daß der Aufbau und die Konsolidierung von Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Institutionen der Bürgergesellschaft nicht kurz- oder mittelfristig abgeschlossen sein werden. ({9}) Vordergründige Erfolge in der Transformation der Wirtschaftssysteme dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen zumeist noch sehr fragil und nicht im Bewußtsein der Menschen verankert sind.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gern.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich stimme in der Wertschätzung mit Ihnen überein. Wir haben zwei Alternativen: Entweder stocken wir den Etat auf, oder wir schichten um. Welche der beiden Alternativen wird Ihre Fraktion für den nächsten Haushalt vorsehen?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann Ihnen das, Herr Kollege, nicht vorhersagen. Ich stelle das auch nicht auf die eine oder andere Fraktion ab. Wir haben uns als Vorstände aller Stiftungen, einschließlich der neuen Regenbogenstiftung, während der letzten Haushaltsberatungen mit den Haushaltsberichterstattern zusammengesetzt. Ich muß Ihnen aber sagen: Das kann nicht vom Bundestag erwartet werden; sondern die Aufforderung, einen möglichst besseren Ansatz für die Finanzierung der Stiftungen zu ermöglichen - ich weiß, wie schwierig das ist -, muß an die Bundesregierung gehen. Dahin geht dieser Appell. ({0}) Ein längerfristiges Engagement vor allem der politischen Stiftungen in dieser Westeuropa benachbarten Problemregion, also in den Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, ist deswegen zwingend erforderlich. Die Bereitstellung der dafür notwendigen Finanzmittel liegt nicht nur im Interesse der Reformstaaten, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse Deutschlands. Ich kann hinzufügen, daß wenigstens der scharfe Schnitt, der im Jahre 2000 erfolgen sollte, in den letzten Wochen durch Gespräche und Verhandlungen abgewendet worden ist. Es sieht also etwas günstiger aus. Was ich hier zu den Reformstaaten gesagt habe, gilt selbstverständlich auch für Bosnien, wo die Stiftungen gefordert sind - ich sage das nicht theoretisch; sie werden heute gefordert, und sie sind dort tätig -, sich beim politischen Wiederaufbau aktiv zu engagieren. Ich komme zurück auf Ihre Frage, Herr Kollege Schuster. Ich bedanke mich im Namen aller Stiftungen beim Haushaltsausschuß für seine verständnisvolle Unterstützung in Fragen der Stiftungsfinanzierung. Entscheidend ist, daß die Bundesregierung für die kommenden Jahre eine entsprechende Schwerpunktsetzung vornimmt. Der Dank der Stiftungen geht an Bundesminister Kinkel und das Auswärtige Amt für die substantielle Förderung der Stiftungen in der Kooperation mit den Industrieländern, den Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas sowie im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs. ({1}) Ganz besondes danke ich Ihnen, Herr Bundesminister Spranger, und auch Ihrem Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Hedrich. Wir wissen, daß wir mit Ihnen einen Freund der Stiftungen im BMZ haben. Wir haben, Herr Spranger, in der Zusammenarbeit mit Ihnen Verständnis, offene Ohren und Hilfsbereitschaft für unsere Anliegen gefunden; ohne das können wir nicht arbeiten. Dafür sind wir Ihnen - ich sage das im Namen aller politischen Stiftungen - sehr dankbar. ({2}) Wir ziehen auf diesem Feld alle am gleichen Strang. Ich denke, daß es so bleibt. Wir meinen in den Stiftungen, daß wir damit unseren Partnerländern und unserem Land gleichermaßen einen Dienst erweisen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Adelheid Tröscher, SPD-Fraktion.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, Sie sind noch munter zu so später Stunde? Einige von uns sind auch noch ganz wachsam. Vor einer halben Stunde hatte ich den Eindruck, daß wir ein Happening statt einer Debatte bekommen. Ich bin sehr froh, daß wir wieder zu ernsthafter Diskussion und Debatte zurückgekehrt sind. ({0}) Die Entwicklungspolitik ist viel zu ernst, als daß wir hier unsere Späße machen könnten. ({1}) - Ja, sie ist viel zu ernst, um unqualifizierte Späße abzulassen. ({2}) Wir sollten uns meines Erachtens überlegen, wann wir Zwischenfragen stellen oder nicht. Bei aller Unterschiedlichkeit in Einzelfragen sollte die heutige entwicklungspolitische Debatte eines deutlich machen: Die Entwicklungspolitik muß von seiten der Regierung mehr Gewicht bekommen. Sie muß offensiv vertreten werden, um in der Bevölkerung Akzeptanz zu erreichen. Das Bewußtsein für die „eine" Welt muß wachsen. ({3}) Wir alle bemühen uns mit Anträgen, Gesetzesinitiativen, Anhörungen, aber auch mit unserem eigenen Verhalten, die deutsche Entwicklungspolitik effektiver und erfolgreicher zu gestalten sowie der Nord-Süd-Politik einen höheren politischen Stellenwert einzuräumen. Leider werden dabei von der ÖfAdelheid Tröscher fentlichkeit und den Medien unsere Bemühungen nicht so beachtet, wie dies eigentlich sein müßte. ({4}) - Das ist die eine Sache. - Wahrgenommen werden leider - das ist das andere - die unhaltbaren Zustände zum Beispiel bei der Deutschen Investitions-und Entwicklungsgesellschaft. Der Bundesrechnungshof rügt in einem Bericht die üppigen Aufwendungen für Dienstreisen und Bewirtungen des Geschäftsführers und seiner Ehefrau. Auch mir leuchtet nicht ein, warum die Begleitung durch die Ehefrau des Geschäftsführers im Interesse der DEG liegen soll und dies die Akquisition von Finanzierungsgeschäften erleichtert. ({5}) - Das lassen Sie einmal meine Sorge sein. Herr Irmer, ich möchte Sie bitten, sich meine Rede erst einmal anzuhören. Ich kann mir denken, daß gerade Sie bei der DEG nicht so gute Karten haben. ({6}) Allein für die Ehefrau sind zwischen 1990 und 1994 170 000 DM an Fahrtkosten und Tagegeldern angefallen - 170 000 DM, die an anderer Stelle für wirklich wichtigere Projekte gebraucht worden wären. ({7}) Wenn ich mir überlege, wie wir uns bei den Haushaltsverhandlungen um jede Mark, die wir für Projekte ausgeben, winden, dann ist das doch ein ganz gewichtiger Betrag. Im genannten Berichtszeitraum entfielen auf die DEG rund 200 000 DM an Bewirtungskosten, davon allein rund 40 000 DM auf den Geschäftsführer. Der Bundesrechnungshof - das ist nicht irgend jemand, sondern eine wichtige Institution unseres Staates - fragt hier zu Recht, ob solch hohe Bewirtungskosten für ein der Gemeinnützigkeit verpflichtetes Bundesunternehmen angemessen sind. Der Aufsichtsratsvorsitzende - ein ehemaliger erster Bürger unseres Landes - hat dies im übrigen alles genehmigt. Der Bundesrechnungshof rügt weiter, daß die Berufung von Aufsichtsratsmitgliedern im Widerspruch zu den Berufungsrichtlinien der Bundesregierung stehe, vertragswidrige Zahlungen für doppelte Haushaltsführung jahrelang akzeptiert worden seien und der Aufsichtsratsvorsitzende den Wunsch des BMZ monatelang abgeblockt habe, genauer über die Geschäfte der DEG informiert zu werden. Das sind Vorgänge, die zu Recht kritisiert werden und abgestellt werden müssen. Dieses Verhalten einzelner erschüttert die Glaubwürdigkeit unserer Politik. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Tröscher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das tue ich nicht. ({0}) - Ich weiß ja, wozu die Zwischenfragen mißbraucht werden. Das kommt nicht in Frage. Vielleicht ein anderes Mal, wenn ich wieder einmal rede. ({1}) - Das kann ja sein. Wir können das ja vielleicht im Ausschuß regeln. ({2}) - Es wird hier ziemlich viel geredet, Herr Präsident. Ich finde, Sie könnten dazu einmal etwas sagen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Seien Sie nett und ein bißchen ruhiger! Bitte, fahren Sie fort. ({0})

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kommt noch, keine Sorge. ({0}) Dieses Verhalten einzelner - Herr Präsident, ich hoffe, daß diese Unterbrechungen mir nicht von meiner Redezeit abgezogen werden - untergräbt den Stellenwert unseres Bemühens für eine effektivere Entwicklungspolitik. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Einen Augenblick! Es muß jetzt wirklich leiser werden. Es geht nicht, daß die Mitglieder des Plenums hin und her rufen und man hier im Präsidium nicht einmal mehr hört, was die Rednerin sagt. Ich bitte um ein bißchen mehr Ruhe!

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich fordere Herrn Minister Spranger auf, seiner Aufsichtspflicht nachzukommen. Wir Entwicklungspolitikerinnen und -politiker lassen uns diese Schlamperei nicht gefallen. Wir lassen uns unsere politische Arbeit durch Fehlverhalten an der Spitze Ihres Hauses in Ihrer Verantwortung nicht kaputtmachen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der heutigen Debatte geht es aber auch um die zur Zeit laufenden Verhandlungen für die 11. Wiederauffüllung der Mittel für die International Development Association, called IDA. Hier zeichnet sich ab, daß der amerikaniAdelheid Tröscher sche Kongreß entgegen den Vereinbarungen zur 10. IDA-Auffüllung eine Kürzung der letzten Raten beschließen und seine Beiträge für die 11. IDA-Auffüllung deutlich senken wird. Nach den letzten Erkenntnissen ist davon auszugehen, daß die USA im Haushaltsjahr 1996 nur 700 Millionen US-Dollar auf die 10. IDA-Auffüllung einzahlen und somit für den letzten Dreijahreszeitraum noch 935 Millionen US-Dollar ausstünden. Damit wären wir in einer Situation, daß wir uns bei IDA nicht mehr nur über eine notwendige Umorientierung und Verbesserung der Politik unterhalten, sondern daß das ganze Gebäude wegen des Rückzugs der Amerikaner erschüttert würde. Es bleibt zu befürchten, daß die Bundesregierung auf Grund der IDA-10-Resolution die Inanspruchnahme ihrer Verpflichtungen gegenüber der IDA in anteilsmäßig entsprechender Höhe sperren wird. So kann man zumindest die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Hedrich auf eine Frage meines Kollegen Brecht im November letzten Jahres verstehen. Isolationismus eines konservativen Kongresses - nicht der Administration - muß als schädlich für die Entwicklungszusammenarbeit angesehen werden. Angesichts der zunehmenden Verarmung, des Bevölkerungswachstums, fortschreitender Umweltzerstörung, deren Interdependenzen bekannt sind, bleibt die Arbeit von IDA ein tragender Pfeiler der Entwicklungsfinanzierung. Aus dieser Erkenntnis heraus haben denn auch die G-7-Staaten auf ihrer Tagung in Halifax im Juni 1995 ein Significant replenishment von IDA 11 beschlossen. Zwar hat die Bundesregierung im Bundeshaushalt 1996 die Mittel für die 11. IDA-Auffüllung eingestellt, jedoch nur in Höhe des bereits für die 10. Auffüllung vereinbarten Betrags. Dies bedeutet, daß die Bundesregierung ihren Beitrag zu IDA 11 real senken würde, eine Situation, die auf Grund gestiegener und komplexer gewordener Aufgaben von uns nicht akzeptiert werden kann. Deshalb haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten bei den Antragsberatungen auch gefordert, daß real mindestens der Betrag der 10. Auffüllung erreicht werden muß. Um es vorwegzunehmen: Meine Fraktion wird dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. nicht zustimmen. Zwar gibt es einige Elemente in diesem Antrag, die wir wie Sie als notwendig betrachten, zum Beispiel die Intensivierung des Engagements im Bereich der Grundbildung mit einer verstärkten Beteiligung von Frauen und Mädchen; dennoch bleibt der Antrag in den entscheidenden Punkten zu ungenau und unverbindlich. ({1}) Bedauerlich ist auch, daß der hier vorliegende Antrag keinerlei finanzielle Vorstellungen und Vorgaben enthält, die nötig wären. So enthalten Sie dem Parlament ein Vorschlagsrecht im Bereich finanzieller Engagements vor und überlassen es allein der Bundesregierung, über Erhöhung, Nichterhöhung, Sperrung oder Nichtsperrung der Mittel zu verhandeln. Unsere Zustimmung erhält der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen auch deshalb nicht, weil etwa in Punkt 10 des Antrags Möglichkeiten eröffnet werden, die eine Schuldentilgung durch IDA-Mittel ermöglichen könnte. ({2}) Das Problem der Schuldentilgung kann nicht über IDA-Mittel gelöst werden. Hier müssen die multilateralen Institutionen andere Wege beschreiten. Das ist ein Punkt, auf den ich noch näher eingehen werde. Ich halte Ihnen zugute, daß Sie dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Antrag mit einer Konsultationsverpflichtung den Stellenwert einräumen wollten, der ihm auch zusteht. Herr Feilcke hat davon gesprochen. Letztendlich entscheidet - das haben wir schon bitter erfahren - der Bundesminister der Finanzen. ({3}) Sinnvoller wäre es gewesen, wenn Sie in dieser Frage unserem Antrag gefolgt wären, daß im Fall der Verweigerung des vereinbarten „burden-sharing" durch die Vereinigten Staaten mit anderen Geberländern die Errichtung eines Sonderfonds geprüft würde, in den die übrigen IDA-Länder unter Lastenteilung einzahlen. Sie würden damit gleichzeitig Sorge dafür tragen, daß an Entscheidungsstrukturen eines solchen Sonderfonds nur die tatsächlichen Geberländer beteiligt wären. Insgesamt bleibt für uns die konkrete Vorstellung der Koalitionsfraktionen im verborgenen. Wir hätten uns gewünscht, daß die Bundesregierung heute hier aufgefordert würde, sich dafür einzusetzen, daß gemäß den Dokumenten der Verhandlungen zu IDA 9 und IDA 10 und gemäß dem Beschluß des Deutschen Bundestages zu „50 Jahre Weltbank" konkrete Vorstellungen zur Verbesserung der Qualität der lauf enden und künftigen Projekte in den Bereichen Armutsbekämpfung, Umwelt und Energie entwickelt und kontrolliert umgesetzt werden, das heißt unter anderem, Verhandlungsvorschläge zur Integration verbesserter Umweltaktionspläne, zur Erhöhung des prozentualen Anteils der Programme, zur Prüfung der Möglichkeiten einer überproportionalen Förderung der Länder des afrikanischen Kontinents und einiges andere mehr zu unterbreiten. Von zentraler Bedeutung ist - ich habe es bereits kurz erwähnt - für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, neue Initiativen zur Entschuldung der Entwicklungsländer zu entwickeln und zu fördern. Eine isolierte Beseitigung von Altschulden der ärmsten Länder ohne Verbesserung ihrer strukturellen Entwicklungschancen stellt keine sinnvolle Lösung dar. An der Verschuldung vieler Staaten hat sich seit Beginn der Schuldenkrise 1982 kaum etwas geändert. Im Gegenteil: Für viele als Entwicklungsländer eingestufte Staaten hat sich die Situation noch verAdelheid Tröscher schärft. Das führt dazu, daß die Entwicklungschancen vieler Länder durch eine anhaltende öffentliche Verschuldung massiv beeinträchtigt sind. ({4}) Selbst die Weltbank, neben den IWF, privaten Geschäftsbanken und einzelnen Staaten Hauptgläubiger vieler Entwicklungsländer, fordert mittlerweile neue Initiativen ein, um zumindest die Verschuldung der allerärmsten Länder in den Griff zu bekommen. Der von der Weltbank eingeschlagene Weg, einen internationalen Fonds zur Entschuldung der multilateralen Forderungen zu schaffen, könnte auch für die Entschuldung privater und bilateraler Forderungen wegweisend sein. Die bisherigen Bemühungen von IWF und Weltbank gegenüber den hochverschuldeten armen Ländern sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Dennoch sind beide weiterhin gefordert, innovative Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastungen der armen Schuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren. Eine volle Aufrechterhaltung der Finanzforderungen ist nicht zu rechtfertigen. Das ist ein Punkt, in dem wir uns mit der gemeinsamen Konferenz von Kirche und Entwicklung und der Stiftung Entwicklung und Frieden einig sind. Auch die Bundesregierung könnte in diesem Bereich mehr erreichen, als sie bislang gewillt oder fähig war. Sie bleibt deutlich hinter ihren Möglichkeiten zurück; das wurde auch schon im Pariser Club kritisiert. Wenn wir den Menschen in den Entwicklungsländern ihre Chancen zu einer umfassenden Entwicklung nicht nehmen wollen, müssen wir jetzt neue Initiativen ergreifen und von unserer Seite zur Entschuldung dieser Länder beitragen. Die SPD-Fraktion begrüßt daher ausdrücklich den jüngst von der Weltbank erarbeiteten Plan, einen Fonds zu errichten, der unseres Erachtens unverzüglich auf einer internationalen Schuldenkonferenz im Hinblick auf Umsetzung und Konzeption diskutiert und geprüft werden müßte. Wir haben dazu in unserem Antrag eine Reihe von Fragen formuliert, auf die ich jetzt leider nicht mehr eingehen kann. ({5}) Aber Sie haben sie ja bestimmt alle gelesen und waren sehr froh darüber, daß wir Ihnen so viele Vorschläge machen konnten. Ein konkreter Vorschlag, den Minister Spranger heute machen könnte, wäre - um noch einmal auf IDA zurückzukommen -, die durch die eingeschränkten Möglichkeiten einiger Geberländer eingesparten Verpflichtungsermächtigungen, die um rund 30 Prozent geringer ausfallen, als ursprünglich an IDA 10 ausgerichtet, für Entschuldungsmaßnahmen bereitzustellen. Herr Minister - ist er noch da? Ja -, ({6}) in diesem Punkt bekämen Sie sofort unsere Unterstützung und würden einen aktiven Beitrag zur Entschuldung leisten. Der Entwicklungspolitik der Bundesregierung fehlt der entscheidende „drive", Politik so zu gestalten, daß etwas bewegt wird und daß die Menschen begreifen, daß die eine Welt nur einmal zu vergeben und nur einmal vorhanden ist. Eigenverantwortung für die Entwicklungsländer ja, aber die Voraussetzungen müssen wir schaffen! Wir müssen helfen, daß die Voraussetzungen stimmen, damit die Eigenverantwortung auch wirklich übernommen werden kann. Wir müssen die Abhängigkeit dieser Länder von uns reduzieren. Machen wir eine Kampagne! Bringen wir's rüber! ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSU-Fraktion.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne noch einmal auf den Weltsozialgipfel zurückkommen. Das Wort Gipfel beinhaltet im allgemeinen die Vorstellung, danach könne nichts mehr kommen. Bei politischen Gipfelkonferenzen verhält sich das anders, und zwar umgekehrt zum Bergsteigen. Nach dem Gipfel kommt nämlich der schwierigste und wirklich anstrengendste Teil des Unternehmens: die Umsetzung der Erklärungen und der Programme. Wenn wir also heute - knapp ein Jahr nach dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen - die Frage stellen, was eigentlich seit dem März 1995 geschehen ist, dann ist das, denke ich, eine sehr berechtigte Frage. Die magere Bilanz, die manche hier im Hause ziehen, kann ich so nicht erkennen. Es war, so schön diese Vorstellung auch sein mag, überhaupt nicht zu erwarten, daß nach Kopenhagen die Armut in der Welt nun plötzlich ein Ende hat. An dieser Stelle möchte ich anmerken, daß ich den Weltsozialgipfel für eine Veranstaltung halte, in der vorrangig die Probleme der unterentwickelten Regionen dieser Erde behandelt werden sollten und bislang auch wurden. Ich denke, wenn wir mithelfen, diese sozialen Mindeststandards durchzusetzen, dann haben wir gut und reichlich zu tun. ({0}) Wer auf den Gedanken kommt, daß die Beschäftigten in unserem Lande mit Armen in Afrika, in Ostasien oder in Lateinamerika gleichzusetzen und die Probleme dort mit den Problemen hier zu vermischen seien, der verkennt eine entscheidende Tatsache: In Europa und ganz speziell in Deutschland sind Armut und materielle Bedürftigkeit schlimme und zu bekämpfende Erscheinungen, aber sie sind kein Massenphänomen. Insofern halte ich das vereinzelt geforderte Projekt eines nationalen Armutsberichts der Bundesregierung für ein Unterfangen, das niemandem hilft, ({1}) und zwar insbesondere dann nicht, wenn man berücksichtigt, was es schon alles für Berichte in diesem Bereich gibt: kommunale Armutsberichte, Sozialbericht, Miet- und Wohnungsbericht, Familienbericht, Große Anfragen. An Papier mangelt es also nicht, aber an Taten. ({2}) Deswegen freue ich mich auf den Bericht der von der Koalition eingesetzten Notlagenkommission, der in diesem Jahr erscheinen wird und der außer Analysen konkrete Maßnahmen vorschlagen wird, und konkrete Maßnahmen sind es, die den Menschen hier weiterhelfen. ({3}) Vor allem muß man sich im Unterschied zu Deutschland eines wirklich vor Augen führen: In den Entwicklungsländern bedeutet Armut ja nicht nur eine menschenunwürdige Existenz, sondern massenweisen Tod, Tod durch Unterernährung, Epidemien, Drogen und Gewalt. Wenn Sie die Armut und das Elend in anderen Teilen des Globus betrachten, dann werden Sie verstehen, daß ich für Deutschland von Menschen in Notlagen spreche. Ich denke, das ist ein Unterschied. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Abschlußdokument, das auf dem Weltgipfel erarbeitet wurde, hat ja völkerrechtlich keinen verbindlichen Charakter. Es bindet aber die Staaten und Regierungen politisch. Ich denke, es ist ein Fortschritt, daß 180 Nationen dieser Erde, reiche und arme, sich hier zusammengesetzt und gemeinsam über die Bekämpfung von Hunger und Elend beraten haben. ({4}) Ist es nicht auch ein Erfolg, daß trotz völlig unterschiedlicher Ausgangspositionen der Konferenzteilnehmer ein Schlußdokument mit richtungsweisendem Inhalt zustande gekommen ist und einstimmig angenommen wurde? ({5}) Ist es letztlich nicht auch ein Fortschritt, daß sich Politiker, Beamte, Sozialpartner und andere Nichtregierungsorganisationen aus den jeweiligen Ländern an einen Tisch gesetzt haben, um an Lösungsstrategien zu arbeiten? Die deutsche Delegation in Kopenhagen gehörte hierbei ja zu den Delegationen, die gerade durch die Einbeziehung möglichst vieler Nichtregierungsorganisationen bemerkenswert konstruktiv und effizient gearbeitet hat und inzwischen auch einen intensiven Gedankenaustausch über die Umsetzung der Ergebnisse von Kopenhagen begonnen hat. ({6}) Es hat sich auch einiges verändert seit Kopenhagen: Industrienationen und Entwicklungsländer haben sich darauf verständigt, daß die soziale Entwicklung künftig den gleichen Rang wie die wirtschaftliche Entwicklung haben soll. Das ist eine Absichtserklärung, mögen vielleicht Skeptiker sagen. Aber stellen Sie sich einmal vor, es hätte eine solche Proklamation zu Beginn der Industrialisierung zwischen den deutschen Staaten gegeben. Stellen Sie sich einmal vor, Bismarck hätte damals für Preußen eine solche Erklärung unterschrieben und damit die enge gegenseitige Verquickung von Sozialem und Ökonomischem anerkannt. Die soziale Frage - davon bin ich überzeugt - hätte sich weniger dramatisch entwickelt, die Soziale Marktwirtschaft wäre vielleicht früher zum Zuge gekommen, und viel Energie wäre nicht in den Klassenkampf, sondern in den Kampf gegen das Elend geflossen. ({7}) Eine solche Chance ist mit der Absichtserklärung von Kopenhagen den Reformern und Sozialpolitikern in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern gegeben, in denen die allgemeine Wohlfahrt bislang kleingeschrieben wurde. Sie haben nun die Möglichkeit, auf das Abschlußdokument zu verweisen und die Wechselwirkung zwischen Wachstum und sozialer Entwicklung einzufordern. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal ganz besonders dem Kollegen und Bundesminister Dr. Blüm danken - leider kann ich das nicht persönlich machen, was ich gern getan hätte -, ({8}) der sich in der Vergangenheit vor Ort gegen die menschenverachtende Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft gewandt hat. Er hat deutlich betont, daß Protest gegen Kinderarbeit allein nicht ausreicht, sondern daß versucht werden muß, Abhilfe zu schaffen, und dies kann nur, wie im Kopenhagener Abschlußkommuniqué hervorgehoben, durch bessere Bildungsangebote, durch mehr Möglichkeiten für Kinder und Erwachsene geschehen, um endlich diesen Teufelskreis von schlechter Ausbildung und mangelnder Arbeitsmöglichkeit, zu niedrigen Einkommen und Ausbeutung der eigenen Kinder zu durchbrechen. Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen in wenig Zeit einige Punkte aus der Schlußdeklaration von Kopenhagen nahezubringen, die ich für wichtig halte. Der Folgeprozeß wird zeigen, inwieweit die beteiligten Staaten sich tatsächlich an die Absichtserklärung halten, und wir sollten da genau hinschauen. ({9}) Aber abgesehen davon, wie lange auch die Umsetzung der Deklaration dauern wird: Der Weltgipfel für die soziale Entwicklung war eine wichtige und lange überfällige Konferenz, auf der entscheidende Weichen für die soziale und wirtschaftliche Zukunft aller Menschen gestellt wurden. Dies gilt für die Bewohner der nördlichen Hemisphäre ebenso wie für die der südlichen. Armutsbekämpfung in unterentwickelten Ländern - das müssen wir begreifen - ist stets auch ein Beitrag zur Erhaltung unseres Wohlstands und unseres Friedens. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Weltsozialgipfel in Kopenhagen hat zwar keine konkreten Umsetzungsstrategien zur Lösung der brennenden sozialen Probleme in der Welt entwickelt. Er lenkt aber zumindest teilweise den Blick auf die drängendsten Probleme der Menschen, nämlich Armut, Erwerbslosigkeit und soziale Ausgrenzung. Das Wichtigste an internationalen Gipfeln - das wurde gerade schon gesagt - ist natürlich der Follow-up-Prozeß. Ich würde gern die Frage stellen, was die Bundesregierung in diesem Jahr eigentlich unternommen hat, um konkrete Umsetzungsschritte einzuleiten, wie das im Mai 1995 im Gespräch mit den Vertretern des Deutschen NRO-Forums zugesagt wurde. 1996 wurde von der UNO zum Internationalen Jahr für die Beseitigung der Armut erklärt. Nicht nur in den Ländern des Südens, auch in der Bundesrepublik gibt es immer mehr arme Menschen ohne Aussicht auf Arbeit, die unter sozialer Ausgrenzung leiden. Diesen nationalen Aspekt hat die Bundesregierung sowohl im Vorfeld als auch auf dem Gipfel von Kopenhagen selbst ausgeblendet. Wir fordern die Bundesregierung deshalb nachdrücklich dazu auf, noch, wie dort vereinbart, 1996 einen nationalen Plan zur Armutsbekämpfung vorzulegen. ({0}) Wie in allen Gipfelerklärungen der letzten Jahre wurde auch in Kopenhagen betont, daß vor allem das Wohlstandsmodell der Industrieländer für die globalen ökologischen und sozialen Probleme mit verantwortlich ist. Erst unsere Umorientierung auf eine nachhaltige Entwicklung in Produktion und Verbrauch würde den Menschen des Südens die Chance geben, langfristig eigene Wege der Entwicklung zu beschreiten. Obwohl die bahnbrechenden Beschlüsse von Kopenhagen für die Regierungen nicht bindend sind, hat sich die Bundesregierung immerhin bereit erklärt, mit den Ländern, die dies wünschen, die Eckpunkte der 20/20-Initiative zu diskutieren und gegebenenfalls umzusetzen. Leider ist damit nur eine interne Umschichtung der Entwicklungsgelder und keine Erhöhung verbunden. Leider müssen wir diese Bundesregierung in jeder entwicklungspolitischen Rede, auch heute, noch einmal an ihr Versprechen, diese Gelder auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen, erinnern. Wir fordern allerdings auch verbindliche Vorgaben zur Erreichung dieses Ziels und keine Verzögerung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. ({1}) Es ist aber noch dringlicher, auf einen umfassenden Schuldenerlaß für die ärmsten Länder und auf eine spürbare Reduzierung der Schulden für weitere Länder des Südens hinzuarbeiten. Sonst kann die Armutsbekämpfung, die eine Priorität der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung ist, nicht erfolgreich sein. In der Schlußerklärung von Kopenhagen werden unter anderem die weltweiten negativen Effekte hoher Militärausgaben und des internationalen unkontrollierten Waffenhandels herausgestellt. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich nicht nur für eine Reduzierung der Rüstungsausgaben in Nord und Süd auszusprechen, sondern selbst Rüstungsexporte wirksam zu unterbinden. ({2}) So könnte eine dringend benötigte Friedensdividende für die Länder des Südens erwirtschaftet werden. Entwicklungszusammenarbeit muß zu einem integralen Bestandteil einer friedensorientierten Außenpolitik werden. Diese kann allerdings nur dann zustande kommen, wenn die Erfahrungen und Kenntnisse der Entwicklungspolitik für mutige Schritte in der Konfliktprävention genutzt werden. Die Lehre aus dem Völkermord in Ruanda wird hoffentlich noch rechtzeitig gezogen, um in Burundi das Schlimmste zu verhüten. ({3}) In ihrer Resolution zu den Strategien einer wirksamen Umsetzung der in Kopenhagen vereinbarten nationalen und internationalen Verpflichtungen forderte die Interparlamentarische Konferenz am 13. Oktober 1995 in Bukarest die Regierungen der Welt auf, ihren Parlamenten ab 1996 jährlich einen Bericht über die Folgemaßnahmen des Weltsozialgipfels vorzulegen. Dort waren die internationalen Parlamentarierinnen und Parlamentarier aller Fraktionen dieses Bundestages beteiligt. Insofern tragen auch die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen diese Forderungen mit. Lassen Sie das UNO-Jahr zur Beseitigung der Armut nicht tatenlos vorübergehen. Das Bündnis für Arbeit muß, wenn es erfolgreich sein soll, durch ein Bündnis gegen die Armut sowohl national als auch international ergänzt werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Winfried Wolf, PDS.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich bekannt, wie Herr Kinkel versucht, Herrn Spranger ins Portemonnaie zu greifen. Herr Spranger muß hier nolens volens PDS-Unterstützung zur Kenntnis nehmen. ({0}) Es ist natürlich ein Skandal, wenn wie in einem Gockelkampf die zwei Minister, weil im Streit, mit getrennten Maschinen für jeweils 150 000 DM von Addis Abeba zurück nach Deutschland jetten - zufällig der gleiche Betrag, den die Kollegin Tröscher vorhin genannt hat. ({1}) In einem hat Herr Kinkel allerdings recht: Deutsche Entwicklungshilfe und deutsche Außenpolitik lassen sich nicht trennen. Also werde auch ich es bei den folgenden drei Beispielen nicht immer tun, zumal mir der Kollege Kohn von der F.D.P. das Stichwort für das erste Beispiel gab. Beispiel eins: Gewalt gegen Kinder in der Dritten Welt. In den letzten Wochen wurde unter anderem von Journalisten des ZDF und der „Woche" in drei Fällen die Beschuldigung gegen die deutschen Botschaften in Manila, Bangkok und Kuala Lumpur erhoben, bei dem Verbrechen Gewalt gegen Kinder Hilfe geleistet zu haben. In Manila hat Father Shay Cullen im Namen der Kinderorganisation Preda Foundation unter anderem den schweren Vorwurf gegen die deutsche Botschaft am Ort erhoben, einem deutschen Bürger, der dieser Schwerstkriminalität beschuldigt wird, durch das Ausstellen neuer Papiere zur Flucht verholfen zu haben. Der Priester warf die Frage auf - ähnlich tat dies die Kollegin Ulla Schmidt von der SPD -, ob die Verpflichtung einer Botschaft, deutschen Staatsangehörigen zu helfen, nicht dann ende, wenn „diese Hilfe dazu führt, Gerechtigkeit zu verhindern". Father Cullen hat mir heute nachmittag fernmündlich versichert, er gehe weiterhin davon aus, daß es durch die Fluchthilfe der deutschen Botschaft nun weit schwieriger sei, den Fall auf deutschem Boden zu verfolgen, auch wenn er versuchen werde, dies zu tun. Beispiel zwei: Entwicklungshilfe und militärische Aufstandsbekämpfung. Ort: Halbinsel Bondoc, erneut auf den Philippinen. In einer umfangreichen Dokumentation hat der Kölner Journalist Karl Rössel dargelegt, daß an diesem Ort das mit deutscher Hilfe finanzierte Bondoc Development Program, das wichtigste deutsche Projekt in diesem Land, von den philippinischen Militärs in direktem Zusammenhang mit der militärischen Aufstandsbekämpfung in derselben Region gesehen, genutzt und instrumentalisiert wird. Er hat belegt, daß die deutschen Entwicklungshelfer sich regelmäßig mit Militärs, die dieses Aufstandsbekämpfungsprojekt betreiben, treffen. Inzwisehen fordern das Philippinenbüro in Essen und andere entwicklungspolitische Gruppen die Einstellung dieses Projekts, weil es „den Interessen des Militärs und der Machthaber der Region" diene. Beispiel drei: Luftqualität in Mexiko-Stadt. Eine Delegation des Deutschen Bundestages, an der ich teilnahm, war in Haiti und in Mexiko. Zu der damit zusammenhängenden Abberufung des deutschen Botschafters in Port-au-Prince gibt es seit heute einen offenen Brief an den Außenminister, den ein großes Spektrum christlicher und entwicklungspolitischer Gruppen unterzeichnet hat. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Diese Delegation war auch in Mexiko. In MexikoStadt wurde uns das wichtigste Projekt, das die Bundesregierung dort vor Ort finanziert, gezeigt: ein aufwendiges elektronisches System zur Überwachung der Luftqualität. ({2}) Seit die Bundesrepublik, die in dem Land noch einen guten, einen grünen Namen, hat, dieses System der Luftqualitätsüberwachung 1993 installierte, wird die gemessene Luftqualität in der Stadt von Jahr zu Jahr besser. Nun gab es durchaus Verbesserungen bei der Qualität des Kraftstoffs der Kfz. Verblüfft hat mich jedoch, daß diese Verbesserungen so groß sein sollen, daß unter anderem ein Anstieg des Benzinverbrauchs um 20 Prozent wettgemacht werden konnte, zu dem es in dieser Zeit in Mexiko-Stadt kam. In eigener Regie besuchte ich vor Ort Umweltgruppen. Ergebnis: Diese schenkten in ihrer Mehrzahl den offiziellen Daten der Luftqualität kein Vertrauen. Greenpeace Mexiko legte eigene Messungen der Luftqualität, übrigens durch einen Meßwagen von Greenpeace Deutschland aufgezeichnet, vor. Danach liegen die Werte je nach Schadstoff bei dem Drei- bis Zehnfachen der offiziellen Werte. ({3}) Besonders verblüffend: Die Delegation wurde von den offiziellen deutschen Stellen vor Ort nicht über diesen Disput informiert. Erst nach meiner Rückkehr konnte ich ermitteln, daß es dazu in unserem Land bereits eine sehr kritische Berichterstattung gegeben hatte, in der „Frankfurter Rundschau" vom 16. Dezember 1994. Darin wurde die Koordinatorin des TÜV Rheinland vor Ort in Mexiko zitiert, die die Greenpeace-Messungen im wesentlichen bestätigte, nur sagte, es sei „ein anderer Ansatz". Der eine, von deutscher Seite finanziell massiv unterstützte „Ansatz", mißt die Luftqualität in drei bis sechs Metern Höhe und bevorzugt Meßorte weitab von Straßenschluchten voll mit Pkw-Verkehr, wobei die Modelle von VW dominieren. Der andere, von Greenpeace praktizierte Ansatz, mißt die Luft in Höhe der Atemorgane und an Orten, die für das Alltagsleben weit realistischer sind. Alejandro Calvillo Unna, der Sprecher von Greenpeace Mexiko, betonte mir gegenüber - ich zitiere -: Eines unserer Hauptziele ist es, die Informationssperre zu durchbrechen, die es bei der systematischen Verfälschung der Messungen der Luftverschmutzung gibt, an der deutsche Hilfe nicht unbeteiligt ist. Das waren drei Beispiele für deutsche Hilfe, die nicht verallgemeinern sollen, die aber hinsichtlich der Finanzvolumina einen erheblichen Teil der Entwicklungshilfe charakterisieren und die den Interessen der Menschen vor Ort zuwider laufen. Dabei sei zur Ehre der Entwicklungspolitik gesagt, daß diese Hilfe oft am Ausschuß und an den Ministern vorbei beschlossen wird, weil die Projekte andere Interessen, unter anderem die des Exports oder die deutscher Firmen, zum Ausdruck bringen. Danke schön. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Michael Wonneberger, CDU/CSU.

Michael Wonneberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit der Behandlung der Drucksachen 13/2979 und 13/ 2285 möchte ich einmal etwas mehr ins Detail gehen. Beide Anträge beschäftigen sich mit der Frage, ob und wie bereits zugesagte finanzielle Mittel für das im Sommer 1995 von der Weltbank gestoppte Projekt des Wasserkraftwerkes Arun III in Nepal für andere Entwicklungsvorhaben in diesem Land zur Verfügung gestellt werden können. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hält daran fest, die ehemals gegenüber der Weltbank zugesagten Mittel in Höhe von 235 Millionen DM nicht nur in Nepal zu belassen, sondern auch an den mit dem Arun-III-Projekt verbundenen entwicklungspolitischen Zielen festzuhalten. Dazu zählen ganz allgemein: die Bereitstellung von Energie für einen sich selbst tragenden Entwicklungsprozeß im landwirtschaftlichen und industriellen Bereich, der Abbau der Abhängigkeit von importierten Energieträgern, die intensive Nutzung erneuerbarer Energien sowie eine kostendeckende, umweltschonende Energiepolitik in den Entwicklungsländern selbst. Auf das konkrete Beispiel bezogen, bedeutet das erstens, Nepal bei der Überwindung seines eklatanten Energiedefizits zu helfen, und zweitens, dringende soziale und infrastrukturelle Verbesserungen für die Menschen im Arun-Tal zu erreichen. ({0}) Während Sie, meine Damen und Herren der Opposition, noch an Ihrem Antrag formulierten, hat die Bundesregierung, hat das BMZ in entwicklungspolitisch sinnvoller Art und Weise bereits gehandelt. Von den schon erwähnten 235 Millionen DM Projektmitteln stehen nach Abzug der Vorstudienkosten für Arun III noch 211,5 Millionen DM bereit. Davon wurden bei Regierungsverhandlungen im Dezember 1995 11,5 Millionen DM für ein landesweites Biogasprogramm und für die Wiedererrichtung einer 1993 bei einer Flutkatastrophe zerstörten strategisch wichtigen Brücke reprogrammiert. Der beträchtliche Rest in Höhe von 200 Millionen DM soll in einen Investitionsfonds der Weltbank für erneuerbare Energien einfließen, aus dem unter anderem zwei kleinere Wasserkraftwerke am Marsyandi-Fluß finanziert werden sollen. Ein ländliches Entwicklungsvorhaben im Arun-Tal soll mit zusätzlich 5 Millionen DM gefördert und noch im ersten Halbjahr 1996 gestartet werden. Soweit, so gut, und soweit zur Beantwortung Ihrer Fragen, die aus den beiden eingangs erwähnten Drucksachen hervorgehen. Unter dem Eindruck eines Gespräches, welches ich vor wenigen Stunden mit einer Parlamentarierdelegation aus Nepal hatte, die - das sei nicht am Rande erwähnt, sondern mit Bedacht - alle politischen Parteien in ihren Reihen hatte, wachsen meine Zweifel, ob diese Konzeption tatsächlich eine tragfähige Alternative zu Arun III sein kann. Für meine Begriffe hat sich die Weltbank zu stark vom Trend der weltweiten Skepsis gegenüber Großprojekten beeindrucken lassen. Noch im April vergangenen Jahres wurde uns während der Inspektionsreise in Nepal von allen Gesprächspartnern versichert, daß es zum Bau des Arun-Wasserkraftwerkes eigentlich keine Alternative gibt, allerdings mit einer Ausnahme. Die Argumente dieses Projektgegners wurden von zahlreichen Initiativen in Deutschland gegen das Arun-IIIProjekt übernommen, oftmals kritiklos übernommen, und blieben natürlich nicht ohne Wirkung. Nachdenklich stimmt mich dabei eine Tatsache, nämlich die, daß die Visitenkarte dieses Herrn ihn als Programm-Manager für Kleinwasserkraftwerke in Nepal ausweist. ({1}) Unabhängig davon gab und gibt es einige ernstzunehmende Gründe für die Ablehnung des Projektes. Ich denke da an Ungewißheiten hinsichtlich der Refinanzierung oder an Bedenken, ob das staatliche Energieunternehmen in der Lage gewesen wäre, ein Wasserkraftwerk der Größenordnung von 2 mal 201 Megawatt in eigener Regie betreiben zu können. ({2}) Zumindest für Nepal hat das Aufgeben dieses Projektes - von einem Großprojekt kann man bei 400 Megawatt in der Tat nicht reden - jedoch nicht nur erhebliche wirtschaftliche, sondern auch entwicklungspolitische und ökologische Folgen. So kann der Planungsvorsprung von vier bis fünf JahMichael Wonneberger ren, den Arun III gegenüber den jetzt vorgesehenen zwei kleineren Wasserkraftwerken besaß, nicht kompensiert werden. In dieser Zeit unterliegen die Waldbestände des Himalaja weiterhin dem Raubbau; potentielle Investoren vermissen schmerzlich die jährlich notwendigen Kapazitätszuwächse von 25 Megawatt Elektroenergie, und die Menschen des ArunTales werden leider auf die Anbindung ihrer Region an Märkte und Industriestandorte weiter vergeblich warten. Unter dem Druck dieser Tatsachen hat in diesem Monat die nepalesische Regierung entschieden, gemeinsam mit Indien am Makahaly-Fluß ein Wasserkraftwerk in der Größenordnung von 6 000 Megawatt zu bauen. Ich glaube nicht, daß das der Effekt ist, den sich alle Gegner davon versprochen haben. Diesen Folgen gilt es Rechnung zu tragen, weshalb wir das rasche Handeln der Bundesregierung im Verbund mit der Weltbank nachdrücklich unterstützen. ({3}) Die Anträge von SPD und PDS sind damit, so meine ich, substantiell überholt. ({4}) Was noch übrig bliebe, wäre reine Lyrik. Verzichten Sie deshalb darauf, uns darüber zu so später Stunde noch abstimmen zu lassen. Danke. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Werner Schuster, SPD-Fraktion.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn einer eine Reise tut, dann kann er in der Regel etwas berichten. ({0}) Wir waren im Sommer zusammen in Niger und in Kamerun, ({1}) und die Betroffenen werden sich daran erinnern, daß die Reiseerlebnisse beeindruckend waren, aber sie haben auch nachdenklich gemacht. Was lag näher, als bei der Vorbereitung dieser Reise ein Buch von einer kamerunischen Schriftstellerin zu lesen, Axelle Kabou, „Weder arm noch ohnmächtig " . ({2}) - Das kann doch sein, Frau Eid, daß Sie einmal einen Schritt schneller sind. ({3}) Das Buch „Weder arm noch ohnmächtig" liest sich erstens sehr spannend und beschreibt in eindrucksvoller Form das Versagen der schwarzen Eliten, macht zweitens aber auch den Anteil der weißen Entwicklungszusammenarbeit an der Verführung deutlich. Die Autorin fordert deswegen auf, daß sich die Afrikaner selbst für ihre Entwicklung engagieren sollen. Dieses Beispiel, meine Damen und Herren, stellt für mich die Frage nach der Nachhaltigkeit unserer Entwicklungszusammenarbeit in den Mittelpunkt. Wir beraten heute den Zehnten Bericht zur Entwicklungspolitik. Er enthält viele Zahlen und bietet einen guten Überblick. Er ist eine Fleißarbeit und insofern zu loben. Aber das zentrale Thema der Nachhaltigkeit führt nicht nur technisch ein Schattendasein - es umfaßt nur drei Seiten -, sondern ich habe auch den Eindruck, Herr Minister Spranger, es könnte symptomatisch für das Bewußtsein in Ihrem Hause sein. Wie aktuell das Problem der Nachhaltigkeit ist, haben wir auf genau dieser Reise erlebt. Wir haben auf dieser Reise Projekte gesehen, die beispielhaft waren: grassroots-orientiert, frauenorientiert, mit partizipativem Charakter, mit einer Zusammenarbeit zwischen GTZ, KfW und DED. Aber wir haben genauso neu begonnene Großprojekte gesehen, die vorhersehbar zu „weißen Elefanten" werden. Insofern, Herr Minister, habe ich kein Verständnis für Ihre hier demonstrierte zufriedene Selbstgefälligkeit. Was heißt eigentlich „Nachhaltigkeit"? Sie bedeutet, daß, wenn wir uns mit unseren Maßnahmen zurückziehen, nach deren Auslaufen vor Ort selbsttätig ein Entwicklungsprozeß weitergehen muß. Nachhaltigkeit bedeutet, daß unsere Maßnahmen sich in eine Strategie einfügen, die auf Dauer tragfähig, ökonomisch produktiv, sozial gerecht, umweltverträglich und menschenwürdig ist. Das sind die berühmten fünf Sterne aus dem entwicklungspolitischen Gesetz der SPD. Nachhaltigkeit stellt den Menschen oder seine Gruppe in den Mittelpunkt. Entwicklungsmaßnahmen, die die Menschen vorhersehbar überfordern, können von daher nicht nachhaltig sein. Nicht der Mittelabfluß darf entscheidend sein, sondern die Aufnahmekapazität der Betroffenen. Das heißt für uns Entwicklungspolitiker: Wir müssen lernen, unsere Partner nicht zu überfordern. Herr Wonneberger, bei aller Wertschätzung: Ich glaube, wir hätten mit Arun III unsere Partner überfordert und ein von vornherein nicht nachhaltiges Projekt finanziert. ({4}) Meine herzliche Bitte ist, die Alternativen, die wir zu diesem Projekt vorschlagen, ernsthaft prüfen zu lassen. Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Nachhaltigkeit von vielen Faktoren abhängig ist. Auf einige haben mein Kollege Herr Verheugen und meine Kollegin Frau Adler hingewiesen, als sie auf die Rahmenbedingungen zu sprechen kamen. Aber auch in den vorliegenden Anträgen von SPD, Grünen und CDU/CSU ist auf diese externen Faktoren hingewiesen worden. In meinem Beitrag möchte ich mich auf einen Aspekt beschränken, auf die Einflußfaktoren, die wir auf nationaler Ebene haben, wo wir also nicht auf den anderen schielen können, sondern wo wir selber, Herr Spranger, etwas ändern können. Das sind fünf Punkte. Der eine ist die in den schon mehrfach angesprochenen Memorandumsvorschlägen von 1994 enthaltene Bündelung der entwicklungspolitischen Zuständigkeiten bei Ihnen. Damit kein Mißverständnis entsteht - leider ist niemand vom Außenamt da -: Wir wollen nicht das BMZ als Ersatzaußenministerium. Darum geht es nicht. Vielmehr wollen wir nach Know-how und nach den Methoden trennen. Wenn wir gemeinsam reisen, formuliere ich das mit meinem Freund Tappe immer so: Das Auswärtige Amt repräsentiert die Macht und ist für die internationalen Rahmenbedingungen verantwortlich, und das BMZ repräsentiert das Geld und ist für die Förderung der Zivilgesellschaft in dem Entwicklungsland verantwortlich. Warum ist es nicht möglich, meine Damen und Herren, mit abgestimmten und verteilten Rollen zusammenzuarbeiten? Das Spektakel der F.D.P. vom Januar dieses Jahres war eher karnevallike als ernsthafte und seriöse Politik. ({5}) Ein zweiter Punkt: Wir brauchen eine Umstrukturierung Ihres Ministeriums, Herr Minister, zu einem Querschnittsministerium. Das heißt, wir müssen von der „Projektitis" wegkommen. Sie müssen Kraft freibekommen, um die politische Steuerung wirklich wahrzunehmen und vor allem den Politikdialog in den Entwicklungsländern führen zu können. Das bedeutet, Sie müssen an die Vorfeldorganisationen delegieren, und diese wiederum müssen in den Entwicklungsländern delegieren. Das, meine Damen und Herren, habe ich einem CDU-Papier entnommen. ({6}) Herr Spranger, könnte es sein, daß die Pinger-Truppe progressiver als die Spranger-Truppe ist? Ein dritter Punkt: die Länderkonzepte. Die ersten Ansätze hierzu, Herr Minister, sind richtig. Nur ist meine Frage: Ist es nicht vernünftiger, die Länderkonzepte im ersten Schritt im jeweiligen Entwicklungsland mit den Betroffenen im Sinne eines Politikdialogs erarbeiten und erst im zweiten Schritt in Bonn überarbeiten zu lassen? Oder im Bereich des Einzelplans 23: Warum trennen wir eigentlich die FZ, die TZ und die PZ sauber nach Titeln, obwohl wir wissen, daß diese Bereiche in den Ländern vor Ort eigentlich kooperativ zusammenarbeiten? Wäre es nicht viel sinnvoller, Länderbudgets mit Wettbewerb der Vorfeldorganisationen einzurichten? Auch hier, Herr Pinger, sehe ich in Ihrem Antrag deutlich mehr Zukunft als in dem Zehnten Bericht von Herrn Spranger. Oder: Müssen wir nicht anfangen, Prioritäten zu setzen? 50 Prozent unseres Etats sollten für Armutsbekämpfung, für Hilfe zur Selbsthilfe im engeren Sinne ausgegeben werden. Das ist Ihre Forderung, Herr Pinger. Das ist unsere Forderung. Das ist nur leider nicht Ihre Forderung, Herr Spranger, schon gar nicht Ihre Realität. Viertens. Wir brauchen eine Entwicklungsverträglichkeitsprüfung. Sie wissen selber, wie häufig Sie von Ihren Kollegen Herrn Borchert, Herrn Rexrodt und Herrn Waigel konterkariert werden. ({7}) Nur, Herr Spranger, dann muß man kämpfen und darf nicht einfach wegtauchen. Das Vorbild für eine solche Entwicklungsverträglichkeitsprüfung hätten wir methodisch im Bereich der Umweltverträglichkeitsprüfung. Wir müssen politisch nur wollen. Fünfter Punkt: externe Evaluierung. Leider ist bei der Entwicklungszusammenarbeit die richtige Buchführung nach wie vor wichtiger als eine nachhaltige Wirksamkeit unserer Mittel. Ich will nicht falsch verstanden werden: Eine Kontrolle durch den Bundesrechnungshof ist notwendig; das sieht man am Beispiel DEG. Diese formale Kontrolle darf aber nicht zu Lasten der eigentlichen Aufgabenerfüllung gehen. Wie Sie wissen, meine Damen und Herren, gibt es Ansätze dafür in der GTZ, in der MW, bei der DED, bei den Kirchen und den NROs. Das aber sind interne Versuche; sie sind vor allem nicht trägerübergreifend. Notwendig wäre unseres Erachtens erstens eine verbindliche, operationalisierbare Definition dessen, was Nachhaltigkeit eigentlich heißt, zweitens, dies in Form eines überprüfbaren Kriterienkatalogs darzulegen, und drittens eine unabhängige Überprüfung unserer Maßnahmen sofort nach deren Beendigung und möglichst noch einmal fünf Jahre später, um zu sehen, ob dieser Prozeß wirklich fortgedauert hat. Eine derartige, trägerübergreifende Evaluation hätte den Vorteil, daß die beteiligten Vorfeldorganisationen miteinander redeten und lernen würden, warum wir in dem einen Fall erfolgreich, in dem anderen Fall erfolglos sind. Das wäre doch etwas. Eine Reform der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in diesem Sinne, schnell und professionell, ist, so meine ich, Herr Spranger, überfällig. Sie wissen selber: Die Erwartungen an die Bundesrepublik steigen. Wir kommen gerade aus Südafrika; Frau Eid hat das ausgeführt. Natürlich haben diese Länder viele Erwartungen an uns. Wenn wir redlich sind, wissen wir selber, daß das Finanzvolumen auch in Zukunft weit unter 0,7 Prozent bleiben wird. Wenn dies aber so ist, meine Damen und Herren, dann stehen wir als Parlamentarier gegenüber der deutschen Öffentlichkeit und den Steuerzahlern unter einem Legitimationsdruck. Wir müssen nachweiDr. R. Werner Schuster sen, wofür wir EZ-Mittel ausgeben und daß wir sie effizient und wirksam einsetzen. Diesen Herausforderungen sollten vor allem wir Entwicklungspolitiker uns offensiv stellen; denn wir tragen letztlich die Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung. Daß dies keine Utopie sein muß, beweisen viele positive Beispiele, die wir auf unseren Reisen gesehen haben. Meine herzliche Bitte ist, daß diese positiven Beispiele von nachhaltiger Entwicklung nicht die Ausnahme bleiben, sondern die Regel werden. Ich bedanke mich. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Professor Dr. Winfried Pinger, CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme nachher zu der SchusterTruppe. Lassen Sie mich zunächst zwei Vorbemerkungen machen. Erste Vorbemerkung. Entwicklungspolitik ist Zukunftsaufgabe und verdient einen hohen Stellenwert. ({0}) Darum bemühen wir uns alle zusammen. Dann sollten wir aber auch den Stellenwert nicht selbst herunterreden. Wir wissen, daß wir heute zu später Stunde diskutieren, was bedauerlich ist. Wir wissen aber auch, daß diese Debatte zu einer guten Zeit vorgesehen war, nämlich für morgen früh, und daß es besonders traurige Umstände gibt, sie heute abend zu führen. Das ist doch anders als früher. Wer schon etwas länger Mitglied dieses Hauses ist - ich will noch einmal darauf hinweisen -, der weiß, daß solche Debatten vor noch gar nicht allzu langer Zeit typischerweise nach 22 Uhr geführt worden sind. Wenn sie seit geraumer Zeit morgens angesetzt werden über anderthalb, zwei oder zweieinhalb Stunden - das war für morgen vorgesehen -, zeigt das doch, daß der Stellenwert in den Fraktionen übereinstimmend nicht gesunken, sondern gestiegen ist. ({1}) Zweite Vorbemerkung. Es gibt Beanstandungen des Bundesrechnungshofs zur DEG. Die DEG ist keine Behörde, sie ist eine GmbH, 100prozentige Tochter des Bundes. Da gibt es gesellschaftsrechtliche Regelungen und Verantwortlichkeiten. Soweit es um das geht, was der Minister zu tun hat, bin ich sicher, daß nach Erörterung der Vorgänge im Rechnungsprüfungsausschuß das getan werden wird, was nötig ist. Nun zu der eigentlichen Thematik. Ich will nicht widersprechen, lieber Werner Schuster, daß die Truppe, die ich anführe - ich nehme die F.D.P. dazu -, progressiv ist. ({2}) Ich würde das gleiche deiner Truppe, Werner Schuster, und den Grünen bescheinigen; und das sage ich nicht nur so dahin. Ich bin wirklich der Auffassung, daß wir in den letzten 10, 15 Jahren zusammen ein gutes Stück weitergekommen sind. Ich werde nachher die Beispiele dazu nennen und sagen, warum dem so ist. Anspruch und Wirklichkeit gehen in der Entwicklungspolitik immer etwas auseinander. Das geht gar nicht anders. Wer praktische Politik umzusetzen hat, tut sich schwerer als die, die versuchen, Vorgaben zu machen. Wenn wir alle zusammen progressiv sind, möchte ich daher den Minister gerne dazunehmen. Nun zu den einzelnen Punkten, daß und warum ich meine, daß wir für uns in Anspruch nehmen können, ein Stück weitergekommen zu sein. Ich will die Unterschiede, die vorhanden sind, durchaus nicht unter den Teppich kehren. Ich behaupte aber, daß die Übereinstimmung größer ist, als es manchmal erscheint. Auch dazu komme ich nachher noch. Wir haben drei Felder, auf denen wir tätig zu sein haben. Die Akzente werden, wie ich meine, nicht immer richtig gesetzt; auch dazu komme ich nachher. Das eine Feld sind die internationalen Rahmenbedingungen, das zweite Feld sind die nationalen Rahmenbedingungen, und das dritte Feld ist die Projektpolitik. Ich finde, daß bezüglich der internationalen Rahmenbedingungen jahrzehntelang an der falschen Stelle und falsch diskutiert worden ist; ich meine die fruchtlose Diskussion über die neue Weltwirtschaftsordnung. Das ist Gott sei Dank vorbei. Aber es bleiben durchaus Themen der internationalen Rahmenbedingungen. Man sagt auch globale Strukturpolitik; ich habe nichts dagegen. Ich meine, daß auch wir heute deutlicher als früher erkennen, wie sehr es auf bestimmte wichtige internationale Rahmenbedingungen ankommt: Abbau des Protektionismus, Entschuldung, globale Umweltpolitik. Ich nehme die drei, die ich für die wichtigsten halte. Aber man sollte auch nicht verkennen, daß wir zum Beispiel auf dem Gebiet des Abbaus des Protektionismus durch den erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde mit der Reduzierung der Zölle um 40 Prozent ein gutes Stück weitergekommen sind. Es wurde über die Verschuldung diskutiert. Jochen Feilcke hat dazu einiges gesagt. Ich meine, daß es bei aller Notwendigkeit, an dieser Front weiterzukämpfen, erforderlich ist, eine Relativierung vorzunehmen. Wenn wir Entschuldungsmaßnahmen durchführen, indem wir Schuldenerlaß herbeiführen oder - was wir bei der Weltbank diskutieren - ein eigenes Fenster einräumen, um Entschuldung vorzunehmen, dann müssen wir wissen, daß wir das Geld nur einmal ausgeben können: für Entschuldung oder für neue Projekte. Es gibt natürlich Fälle - Herr Verheugen, darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu -, in denen es ohne eine Entschuldung keine Entwicklung gibt. ({3}) Dann muß aber entschuldet werden, unabhängig davon, durch welche Ursachen die Verschuldung herbeigeführt worden ist. Ich glaube aber, das darf man nicht zu sehr verallgemeinern. Wir müssen auch sehen, daß es viele Fälle gibt, in denen eine Teilentschuldung case by case ausreichend ist. Wir sollten das Thema auch nicht überziehen. Ein weiterer Punkt, der alle wichtigen internationalen Rahmenbedingungen betrifft: Ein isoliertes Vorgehen der Bundesrepublik hilft nicht weiter. Das betrifft auch den globalen Umweltschutz. Ich gestehe aber zu, daß wir auf allen drei wichtigen Gebieten, die ich genannt habe, als Deutsche eine Vorreiterrolle zu spielen haben. Ich behaupte, das tun wir. Wir müssen dranbleiben: beim Protektionismus, bei der Entschuldung bzw. der Lösung der Verschuldungsproblematik und beim globalen Umweltschutz. Das ist das eine Feld, auf dem wir, wie ich meine, ein Stück weiter sind. Das zweite Feld: nationale Rahmenbedingungen. Gerade auf dem Feld sind wir insofern weiter, als es früher die verfehlte Nichteinmischungstheorie gab: Die sollen ihre Fehler selbst machen und wir zahlen; es wurde nur die Shoppingliste überreicht. Da sind wir weiter. Herr Verheugen hat in seinem Beitrag formuliert - so habe ich es jedenfalls im Kopf -: Konditionalität ist notwendig. Jawohl, sie ist notwendig. Wir wollen das mit unseren Mitteln durchsetzen. Die Mittel wären dann eventuell keine Entwicklungshilfe oder weniger Entwicklungshilfe. Jawohl, wir wollen die Menschenrechte durchsetzen, wir wollen Partizipation und Demokratie, wir wollen Rechtsstaatlichkeit und halten etwas davon, daß die Wirtschaftspolitik nach den Kriterien der Marktwirtschaft gestaltet wird. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Pinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Pinger, ich stimme Ihnen zu, daß die Konditionalität in der Entwicklungszusammenarbeit, die auch wir begrüßen, dazu beitragen soll, unter anderem die Lage der Menschenrechte in den jeweiligen Empfängerländern zu verbessern. Ich frage Sie ganz konkret: Sehen Sie im Falle der Volksrepublik China, die in den letzten Jahren in erheblichem Ausmaße bundesdeutsche Entwicklungsgelder bekommen hat, erstens ein Anwendungsfeld für die Konditionalität? Und zweitens: Sehen Sie in der Volksrepublik China in den vergangenen Jahren nachhaltige Verbesserungen auf dem Feld der Menschenrechte, die es rechtfertigen, sich in dem bisher gezeigten Ausmaße in diesem Land entwicklungspolitisch zu engagieren?

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich bin mit dieser Frage und damit, daß wir das immer wieder diskutieren, sehr einverstanden. Ich gehe davon aus, daß die Konditionalität für alle Länder gilt. Wir müssen sehen, was wir mit der Konditionalität erreichen können. Ich gehe davon aus, daß eine Zusammenarbeit mit China auf wirtschaftlichem Gebiet im Sinne der Öffnungspolitik und der Herbeiführung der Marktwirtschaft länger- oder langfristig auch zu einer Liberalisierung im politischen Bereich führt und dies zu einer Verbesserung der Menschenrechte beiträgt. Das mag in China ein langer Prozeß sein. Dies gilt auch für Vietnam. Das gilt auch - was ich persönlich für richtig halte - für Myanmar, wenn wir dort die Entwicklungszusammenarbeit wiederaufnehmen. Ich gebe zu, daß diese Zusammenhänge in der Öffentlichkeit nicht immer leicht darzustellen sind. Ich sehe es jedenfalls so. Sie wissen, daß ich mich für die Entwicklungszusammenarbeit mit Vietnam eingesetzt habe. Auch da haben wir einen langen Weg vor uns. Aber die Kriterien gelten auch da.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Pinger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Dietert-Scheuer?

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Amke Dietert-Scheuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002640, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich wollte gern an die Frage meines Kollegen Schmitt anknüpfen und sie ergänzen mit dem Hinweis auf die Länder, die neben China zu den Hauptempfängern deutscher Entwicklungshilfe gehören, zum Beispiel die Türkei und Indonesien. Wie bewerten Sie da die Frage der Konditionalität im Hinblick auf die Menschenrechte und könnten Sie auch da sagen, daß die Menschenrechtslage eine hohe Berücksichtigung im Bereich der Entwicklungshilfe rechtfertigt?

Prof. Dr. Winfried Pinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001719, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Konditionalität so verstanden werden sollte, daß wir generell keine Entwicklungshilfe leisten sollten in Ländern, in denen die Menschenrechte verletzt werden, ({0}) dann würden wir die Zahl der Länder, mit denen wir zusammenarbeiten, ({1}) mindestens auf ein Zehntel oder noch weiter reduzieren. Das heißt dann allerdings nicht, daß wir der Meinung sind, es komme in diesen Ländern nicht auf die Verwirklichung zum Beispiel der Menschenrechte an. Sich für Menschenrechte einsetzen kann nach außen plakativ und deklamatorisch sein. In aller Regel hilft es mehr, intern immer wieder darauf zu insistieren, daß sich die Situation verbessert, in der Türkei, in Indonesien und in anderen Ländern. ({2}) Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, daß es für uns, was die Menschenrechte und andere Kriterien betrifft, nicht auf den Status quo ankommt. Wenn wir auf den Status quo abstellen würden, dann würden wir in der Tat die Entwicklungszusammenarbeit mit sehr vielen Ländern einstellen müssen. Wir müssen auf die Perspektive setzen. Ich gebe zu, daß die Entwicklung über längere Frist nicht genau vorhersehbar ist. Eine solche Perspektive ist das, worauf es ankommt. Ich will dazu noch ein weiteres Beispiel nennen. Der Bundespräsident ist in Uganda gewesen, in Äthiopien und in Eritrea. Ich halte es für richtig, daß er gerade in die drei Länder gefahren ist, um zu dokumentieren: Da haben wir eine Entwicklung, die im Verhältnis zu früher eindeutig positiv ist. Wenn wir an die Zustände unter Idi Amin in Uganda denken, dann haben wir unter Museweni jetzt eine eindeutig bessere Situation und eine bessere Perspektive. ({3}) Damit kann ich aber nicht feststellen, daß wir in Uganda heute ideale demokratische Zustände hätten. Wir haben eine demokratische Partizipation, die so indirekt ist, daß man bei sehr kritischer Betrachtungsweise auf nationaler Ebene sagen müßte, es gibt noch keine demokratische Verfassung. Da es jedoch eine demokratische Entwicklung auf örtlicher Ebene gibt und uns versprochen wird, daß längerfristig die demokratische Verfassung auch auf nationaler Ebene eingeführt wird, haben wir eine positive Perspektive. Es war richtig von seiten des Bundespräsidenten, gerade in diesem Lande zu dokumentieren, daß wir eine solche Entwicklung positiv bewerten und dies für die Zusammenarbeit auch relevant ist. ({4}) Lassen Sie mich das dritte Feld kurz anschneiden: die Projektpolitik. Dort gibt es in der Tat beachtliche Fortschritte und auch Übereinstimmung. Ich stimme Werner Schuster ausdrücklich zu: Was die Nachhaltigkeit der Projekte betrifft, kommt es, soweit es um Partizipation geht, in der Tat darauf an, daß die Menschen und ihre Selbsthilfegruppen und Selbstverwaltungsorganisationen Träger der Projekte werden. Dann ist auch gewährleistet, daß diese Projekte auf Dauer Bestand haben. Auch da haben wir lernen müssen. Ich glaube, daß wir da national und international auf einem guten Stand sind. Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zur Kohärenz sagen. Ja, es kommt sehr darauf an, daß die Entwicklungspolitik in Übereinstimmung ist mit der internationalen Agrarpolitik, insbesondere der Europäischen Union, daß sie in Übereinstimmung ist mit der Außenwirtschaftspolitik, natürlich mit der Außenpolitik und auch mit der Sicherheitspolitik. Ich behaupte, daß die Situation in bezug auf die Kohärenz immer noch zu verbessern ist, aber daß sie in den letzten Jahrzehnten nicht so gut war, wie sie heute ist. Das zeigt sich an der Übereinstimmung der Papiere und der Konzeptionen des Auswärtigen Amtes mit denen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. ({5}) Das zeigt sich in bezug auf die europäische Agrarpolitik, in der es skandalöse Vorfälle gegeben hat, die abgestellt worden sind. Das zeigt sich bei der Rückführung der Überschüsse im europäischen Agrarmarkt. ({6}) Damit ist eine kohärentere Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern möglich. Lassen Sie mich dazu ganz deutlich sagen: Ich halte nichts davon, wenn dann eines der gleichwertigen Ressorts eine Führungsrolle für sich in Anspruch nimmt. Das führt nicht weiter. ({7}) Das führt zu Reibungsverlusten, die nicht nötig sind. Koordinierung ist notwendig. Sie sollte dadurch gewährleistet werden, daß man sich an einen Tisch setzt, aber nicht dadurch, daß man Koordinierungsfunktionen für sich in Anspruch nimmt. Nachdem wir dieses Thema diskutiert haben, hoffe ich, daß dies nun abzuhaken ist und daß es in dieser Beziehung keine weiteren Reibungsverluste gibt. Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend festhalten: Ich glaube, daß wir in der Entwicklungspolitik bei den Fraktionen - ich nehme die Gruppe der PDS aus - einen Bestand an Gemeinsamkeiten haben, der wichtig ist. Wir ringen weiter um den richtigen Weg. Da gibt es Meinungsverschiedenheiten. Ich glaube, Werner Schuster, daß alle Truppen hier progressiv sind und daß wir weitergekommen sind. Wir werden mit dem Ministerium dafür sorgen, daß sich gute Vorstellungen und Konzeptionen nach und nach möglichst bald umsetzen lassen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 17 a. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Berichts der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik auf Drucksache 13/3342 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. ({0}) Tagesordnungspunkt 17 b, Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Durchsetzung der deutschen Entwicklungspolitik in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit auf Drucksache 13/ 2427. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe a, den Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 13/233 unverändert anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich komme jetzt zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Neuorientierung der deutschen Entwicklungspolitik. Das ist Drucksache 13/2427 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/241 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! ({1}) - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD sowie der Gruppe der PDS bei einer Enthaltung angenommen. Jetzt die Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Reform der bundesdeutschen Entwicklungspolitik, Drucksache 13/2427 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/246 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei mehrheitlicher Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkte 17 c bis 17 e: Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Anträge der Gruppe der PDS zur Auswertung und Umsetzung der Dokumente des Weltsozialgipfels und zur Verwendung der Mittel, die für die Finanzierung des Staudammprojektes Arun III vorgesehen waren, auf den Drucksachen 13/1586 und 13/2285 sowie des Antrags der Fraktion der SPD zu alternativen Entwicklungsvorhaben zu Arun III in Nepal auf Drucksache 13/2979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17f: Antrag der Fraktion der SPD zu einer neuen Initiative zur Entschuldung der Entwicklungsländer, Drucksache 13/2458. Es wird Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll beim Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17 g: Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle der Weltbank auf Drucksache 13/2495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17 h: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den Anträgen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P., der Fraktion der SPD, der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Gruppe der PDS zum Weltsozialgipfel in Kopenhagen. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt unter I seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/2796 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion und der Gruppe der PDS angenommen. Jetzt zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Weltsozialgipfel in Kopenhagen, Drucksache 13/2796 Ziffer II. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 556 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({2}) - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei überwiegender Stimmenthaltung der SPD-Fraktion und der Gruppe der PDS sowie bei gesplittetem Abstimmungsverhalten von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zum Weltsozialgipfel. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/421 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Mehrheit der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Gruppe der PDS und einer Stimme aus der SPDFraktion angenommen. ({3}) Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Weltsozialgipfel. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/ 539 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Vizepräsident Hans-Ulrich Klose - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS zum Weltsozialgipfel. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/535 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS, einen Teil der Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen, einen Teil der Stimmen der Fraktion der SPD bei Enthaltung der übrigen Abgeordneten vom Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 17 i: Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Wiederauffüllungsrunde der International Development Association, Drucksache 13/3394 Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/740 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur 11. Wiederauffüllung der International Development Association, Drucksache 13/3394 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2401 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen, der SPD-Fraktion und eines Teils der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung des anderen Teils der Gruppe der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 17j: Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu den Verhandlungszielen für die 11. Wiederauffüllung der International Development Association, Drucksache 13/3581. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3041 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 17k: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu einer neuen Strategie der internationalen Finanzinstitutionen zur Entschuldung und zur Finanzierung von umweit- und entwicklungspolitischen Maßnahmen, Drucksache 13/ 2842 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1018 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einem sofortigen und vollständigen Schuldenerlaß für die 30 ärmsten Länder, Drucksache 13/2842 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/673 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung vom Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. ({4}) - Die habe ich nicht gesehen. ({5}) - Ihr Zwischenruf steht aber im Protokoll. ({6}) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Initiativen zur Beendigung der Gewalt und Schaffung eines dauerhaften Friedens in Burundi - Drucksache 13/3551 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Burundi ({8}) - Drucksache 13/3700 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({9}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht, Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Initiativen zur Sicherung des Friedens in Burundi - Drucksache 13/3718 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({10}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen 10 Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Graf von Waldburg-Zeil, CDU/CSU-Fraktion.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns auf allen Seiten dieses Hauses sehr viel Mühe gemacht und zu einem brennenden Thema drei Anträge vorgelegt. Der erste Antrag kam vom Bündnis 90/Die Grünen. Sie haben in der Überschrift Ihres Antrages im Grunde genommen etwas sehr Wichtiges vorweggenommen. Sie sprechen nämlich nicht mehr - wie wir es im Koalitionsantrag tun - von der „Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung" . Auch Sie von der SPD sprechen in der Überschrift Ihres Antrags von der „Sicherung des Friedens". Sie vom Bündnis 90/Die Grünen sprechen statt dessen von der „Beendigung der Gewalt" und von der „Schaffung eines dauerhaften Friedens". Man sollte in der Tat über die Formulierung „Sicherung des Friedens" nachdenken. Was ist das für ein Frieden? - Ein Frieden, in dem ethnische Säuberungen durch Vertreibungen aus den Vorstädten stattfinden. Ein Frieden, in dem außerhalb der Städte in den Hügeln immer wieder Massaker stattfinden - immer nach demselben Muster: Irgendwo ist ein Widerstandskämpfer gesichtet worden, schon stehen die Truppen bereit, umstellen das Dorf und töten die Menschen. Was ist das für ein Frieden, in dem Studenten und Professoren getötet werden, weil sie einer Ethnie angehören? Es geht aber nicht nur um den Frieden, es geht auch um die Demokratie. Was ist von dieser Demokratie noch zu sichern? Was ist von der Hoffnung auf Demokratie aus dem Jahre 1973 übriggeblieben? - Das Parlament ist übriggeblieben, ebenso der Staatspräsident; aber hier sind Einschränkungen zu machen; denn der - wie es nach der Verfassung vorgeschrieben ist - vom Volk gewählte Präsident ist ermordet worden. Man hat sich dann darauf geeinigt, daß das Parlament den Nachfolger wählt. Von den demokratischen Prinzipien aber hat man sich daraufhin entfernt und eine Machtteilung vorgenommen - vielleicht gut gemeint, um den Konflikt zu entschärfen. Die Folge aber ist, daß der Präsident nichts verfügen kann und der Ministerpräsident hinter sich eine monoethnische Armee stehen hat, die praktisch alles durchführen und verlangen kann. In der Tat, „Sicherung des Friedens" und „Sicherung der Demokratie" sind schwierige Formulierungen. Warum haben wir von der Koalition - ich nehme fast an, daß die SPD dasselbe im Hinterkopf gehabt hat - dennoch den Begriff „Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Burundi" verwendet? - Weil wir ganz bewußt Bezug nehmen wollten auf eine gemeinsame Resolution, die wir am 22. Juni des letzten Jahres ohne Gegenstimme in diesem Haus gefaßt haben. Ein Blick zurück also. Dieser Blick zurück wird von Ihnen, den Grünen und der SPD, auch ein bißchen im Zorn getan. Sie werden sich fragen, was aus all den schönen Vorschlägen geworden ist. Sie werden verstehen, daß der Antrag der Koalitionsfraktionen anderen Inhalts sein muß, weil sehr viel im stillen getan worden ist. Ich glaube, Herr Staatsminister und Herr Staatssekretär, Sie werden das beide bestätigen können. Es ist versucht worden, viele Punkte dieses Antrags in die Tat umzusetzen. Die Chancen dazu waren aber sehr gering. Manches ist zudem gar nicht mehr durchführbar gewesen, zum Beispiel der Einsatz von mehr Beobachtern, von mehr Fachleuten. Wenn ich die Sicherheit dieser Fachleute nicht mehr gewährleisten kann, dann wird die Sache schwierig. Deshalb ist es um so wichtiger, daß wir uns im Ausschuß alle zusammensetzen und versuchen, von diesen drei Denkansätzen wieder einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. ({0}) Das, worauf es dabei ankommt, ist, daß wir nicht nur das nennen, was an guten Vorschlägen immer noch umgesetzt werden könnte, sondern wir müssen in neuen Situationen auch über neue Vorschläge nachdenken. Ich möchte einen einzigen Punkt herausgreifen. Das ist ein Punkt, der mit der Art des Genozids zusammenhängt. Aus der Geschichte kennen wir den Genozid, den Mehrheiten an Minderheiten verüben. In Burundi haben wir seit nunmehr 30 Jahren das entgegengesetzte Muster: eine Minderheit, die versucht, an der Mehrheit den Genozid zu verüben. Kluge Menschen müssen begreifen, daß das nicht gehen kann. 20 Prozent der Bevölkerung können nicht 80 Prozent der Bevölkerung umbringen. Deshalb gibt es sehr vernünftige Leute bei der bisher herrschenden Ethnie der Tutsi, die sagen: Es hat keinen Sinn; wir können die Macht nicht aufrechterhalten, wir müssen das demokratische Muster ausprobieren; nur so können wir den Machtausgleich gewinnen. Es ist übrigens kein Zufall, daß es auch in der FRODEBU eine ganze Menge Tutsi gibt. Es ist nicht nur eine rein ethnische Partei der Hutu gewesen. Wenn es auf der einen Seite die Ethnie der Mehrheit gibt, die man nicht umbringen kann, was macht man dann? Man verübt den „Bildungsmord". In den Jahren 1972/73 fand in Burundi der wohl scheußlichste Mord in der Geschichte Afrikas statt. Es war ein gezielter Mord; man hat bewußt die Bildungselite getötet, und zwar nicht nur die Akademiker, sondern auch die jungen Leute mit mittlerer Reife, die man aus der Schule herausgeholt hat. Der damalige Militärdiktator Mikombero, der hinterher vielleicht auch etwas von schlechtem Gewissen gespürt und sich ganz und gar der Flasche ergeben hat, wurde abgelöst. Sein Nachfolger war ein gewisser Herr Bagaza, der heute eine wichtige Rolle spielt. Die Leute von damals sind heute wieder mit dabei und mischen mit. Der Intellektuellenmord, die Ermordung von Professoren, Studenten und selbst von Gymnasiasten findet wieder statt. Hier, meine ich, müssen wir einen Ansatz finden; das können wir nicht einfach zulassen. Wir müssen sehen, daß diese jungen Menschen eine Ausbildung erhalten. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Graf von Waldburg-Zeil, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Graf von Waldburg-Zeil, es tut mir leid, daß ich Sie unterbrechen muß, aber Sie haben bei Herrn Bagaza aufgehört, als Sie die Militärdiktatoren genannt haben. Nun ist in diesen Tagen Herr Buyoya zu Besuch in der Bundesrepublik, und es gibt Stimmen, die sagen: Er hat zwar zur Durchführung und zur Vorbereitung der ersten demokratischen Wahlen Entscheidendes beigetragen, aber er hat auch eine gewisse Verantwortung für den Mord an Melchior Ndadaye, dem ersten frei gewählten Präsidenten. Teilen Sie diese Einschätzung mancher burundischen Freundinnen und Freunde und mancher Burunder?

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin, ich glaube, es steht einem nicht an, in einem solchen Konflikt mit Vermutungen zu arbeiten. Das, was man Buyoya hoch anrechnen muß, ist, daß er, nachdem er Militärdiktator gewesen war, gesehen hat, daß der Weg nur über die Demokratie führt. Er hat zuerst die Verfassung beschließen lassen, und er hat, nachdem die Verfassung beschlossen war, Wahlen anberaumt. Zuerst wurde der Präsident gewählt, anschließend die Parteien. Und er hat - so schien es jedenfalls für uns in der Weltöffentlichkeit - hingenommen, daß nicht er, wie er geglaubt hat, Präsident geworden ist, sondern Ndadaye. Von daher gesehen muß ich als auswärtiger Betrachter sagen, ich hätte eigentlich gedacht, daß er nicht hinter dem Putsch steht. Aber es gibt sehr viele - das weiß ich - in Burundi, die sagen: Es ist seine Leibgarde gewesen, die den Nachfolger-Präsidenten umgebracht hat. Aber darüber sollten wir, die wir nur Vermutungen kennen, kein Urteil fällen. ({0}) Noch einmal: Wir dürfen nicht erlauben, daß diese jungen Menschen jetzt nicht weiter lernen können. Wir müssen versuchen, ihnen eine Ausbildungshilfe für die Zukunft zu geben. Zudem hat sich in der Zwischenzeit etwas ereignet, was es bisher nicht gab: Es ist Widerstand aufgekommen, ein Widerstand, der von der Bewegung für die Verteidigung der Demokratie ausgeht. Ich glaube, wir dürfen nicht sagen: Das sind bösartige Banden. Vielmehr müssen wir sagen: Wer sich wehrt, den müssen wir auch als Widerstandsbewegung anerkennen, mit der geredet werden muß. Ein Ausgleich kann nur im Gespräch mit allen Gruppen erfolgen. ({1}) Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Eberhard Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Angaben der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen" sind seit Anfang dieses Jahres mehr als 15 000 Menschen in Burundi getötet worden, darunter Minister, Studenten, Gouverneure, hohe Beamte und Menschen aus der Landbevölkerung. Die Folgen der wahllosen Massaker sind Fluchtbewegungen, Hunger, Grenzkonflikte und die wachsende Gefahr einer Destabilisierung der Region. Ein ganzes Land ist auf der Flucht vor sich selbst. Eine Befriedung Burundis aus eigener Kraft ist nicht in Sicht. Einige Hutu-Chauvinisten träumen nach wie vor von einer Lösung „à la ruandaise", und seitens der Tutsi gibt es Bestrebungen, die Macht des Landes vollständig in die Hand des Militärs zu geben. In dieser Situation ist die Welt aufgerufen, das immer wahrscheinlicher werdende Überspringen des Völkermordes von Ruanda auf den Nachbarstaat Burundi zu verhindern. Die intellektuelle Redlichkeit gebietet es, einander nicht das aufrichtige Bemühen und den guten Willen zur Hilfe für die Menschen in Burundi abzusprechen. Ich weiß sehr wohl, daß Kollegen aus verschiedenen Fraktionen, aber auch das Auswärtige Amt diplomatisch und humanitär um Hilfe bemüht waren und sind. Jeder von uns weiß, daß es keinen Königsweg gibt. Dennoch ist es unsere Pflicht, zugunsten der bedrohten Menschen in Afrika einander unangenehme Fragen zu stellen, um auf diese Weise die beste Lösung zu finden. Außenminister Kinkel war im Juli vergangenen Jahres in Mittelafrika und hat mit den Regierungen in Kigali und Bujumbura gesprochen. Natürlich ist es lobenswert, daß diese Reise überhaupt zustande gekommen ist. Aber warum in aller Welt hat er nicht mit den Führern der ruandischen Flüchtlinge oder mit Vertretern des Nationalrats für die Verteidigung der Demokratie, CNDD, gesprochen? Eine Grundregel vorbeugender Diplomatie lautet: Wer präventiv sein will, muß möglichst mit allen Konfliktparteien sprechen. So stand es schon in Punkt 5 des fraktionsübergreifenden Antrages vom Mai letzten Jahres. Auch der neue Koalitionsantrag fordert das wiederum ausdrücklich. Allerdings hätte man das schon bei der Reiseplanung wissen können. In diesem Zusammenhang kann ich mich nur den Worten meines Vorredners anschließen. Herr Kinkel hat vorgeschlagen, noch mehr Beobachter nach Burundi zu schicken. Warum eigentlich? Die Situation in Burundi ist doch klar: Frühwarnung und „fact-finding" sind nicht mehr nötig. Nicht die Situation in Burundi ist unklar, sondern vielmehr, wie der Sicherheitsrat und die internationale Gemeinschaft auf diese dramatische Krise reagieren werden. Der Sicherheitsrat der UNO, der doch zuständig ist, zögert und zeigt sich wenig entscheidungsfreudig. Noch zu Beginn dieses Jahres haben die Mitglieder des Rates die alarmierenden Berichte der Presse und der Hilfsorganisationen als wenig glaubwürdig hingestellt. Der Sicherheitsrat hat daraufhin verlangt, daß es eine eigene UNO-Erhebung gibt. Sie liegt mittlerweile vor und damit Berichte, die bestätigen, was schon lange bekannt ist. In einem Brief des UN-Generalsekretärs an den Sicherheitsrat vom Dezember 1995 ist von „täglichen Morden, Massakern, Folter und willkürlichem Arrest" die Rede. Kann man sich wirklich noch über die explosive Situation in Burundi im unklaren sein? Boutros-Ghali forderte in seinem jüngsten Bericht vom 15. Februar die Stationierung einer 25 000 Mann starken Stand-by-Truppe in den Nachbarländern von Burundi. Ihm geht es um eine präventive militärische Präsenz zur Verhinderung von Völkermord. Mit einer solchen Flankierung könnten zivile Vorhaben im Land ermöglicht werden, die zur Zeit nicht möglich sind: Konsolidierung der demokratischen Institutionen, Reform der Justiz, der Armee und der Polizei, um dem Recht bei allen Konfliktparteien Glaubwürdigkeit und Respekt zu verschaffen, Aufbau eines zur Deeskalation beitragenden unabhängigen Rundfunksenders, Wiederaufbau der zerstörten Produktion und Wohnstätten sowie vieles andere mehr. Es mag ja sein, daß die Vorschläge des Generalsekretärs durch bessere ersetzt werden können. Ich kenne nur keine besseren. Ich stelle fest: Die UNO als Organisation hat, vertreten durch ihre Repräsentanten wie den Generalsekretär und die Hohe Flüchtlingskommissarin, durch Sonderbeauftragte und Kommissionen, durch präventive Diplomatie und humanitäre Hilfsmaßnahmen bisher das getan, was sie tun konnte. Sie trifft als Organisation keine Schuld. Hingegen reagieren die im Sicherheitsrat sitzenden Staaten lediglich mit der üblichen Resolutionslyrik: Man beobachtet die Situation mit größter Aufmerksamkeit und ist zutiefst besorgt. - Offenbar ist kein Mitglied des Sicherheitsrats wirklich bereit, eigene Soldaten im afrikanischen Krisengebiet präventiv zu stationieren. Nun stellt sich die Frage: Wie verhält sich die Bundesregierung in dieser Situation als derzeitiges Mitglied im Sicherheitsrat? Hat sie etwas unternommen, um die Vorschläge des Generalsekretärs zu unterstützen? Ich kenne ihre Position nicht. Richtet sich die Bundesregierung im wesentlichen nach amerikanischen Maßstäben? Die USA verwerfen ja die Entsendung einer UNO-Truppe als nicht im nationalen Interesse liegend. Nach der Doktrin des Verteidigungsministers Volker Rühe, die vom Auswärtigen Amt wohl überwiegend nicht geteilt wird, sind Friedenseinsätze der Bundeswehr in der Regel auf Europa zu beschränken. Bedeutet dies, daß unsere Moral im Quadrat zur Entfernung des Konfliktgebiets und proportional zur Armut der Krisenregion abnimmt? ({0}) Die sogenannte Realmoral des Westens, von der der südafrikanische Schriftsteller Breiten Breytenbach gesprochen hat, trägt mit dazu bei, daß Extremisten immer wieder die Erfahrung machen, daß sich Gewalt und Aggression lohnen. Wenn nichts getan wird, wird selbst Völkermord ungehindert und unbestraft begangen werden können. ({1}) Die - sicher ungewollt - bittere Lektion lautet: Wenn westliche Interessen nicht ernsthaft berührt sind, steht das humanitäre Völkerrecht nur auf dem Papier. Wenn aber einmal das große Schlachten ausbrechen wird, dann lauten die Schlagzeilen wieder: Die UNO hat erneut versagt. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Brecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laschet?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, Herr Laschet.

Armin Laschet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002718, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich teile einiges von dem, was Sie in Ihrer Situationsanalyse beschreiben. Aber heißt das, daß Sie - Sie persönlich oder Ihre Fraktion - in diesem Konflikt empfehlen würden, da Sie ja den Verteidigungsminister etwas kritisiert haben, deutsche Soldaten nach Burundi zu schicken, um dort den Frieden zu garantieren? Habe ich das richtig verstanden?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Laschet, es geht zunächst einmal darum, daß im Sicherheitsrat eine Situationsanalyse gemacht wird, aus der hervorgeht, inwieweit Blauhelmsoldaten dort präventiv-stabilisierend wirken können. Das setzt voraus, daß die Länder, um die es hier geht, ihr Signal aussenden: Ja, wir sind bereit dazu. Ich meine, daß wir generell darüber nachdenken müssen, daß der Einsatz auch deutscher Blauhelme nicht auf Europa beschränkt sein kann. Das ist so. ({0}) - Ja, bitte.

Armin Laschet (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002718, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Würden Sie im konkreten Fall dem Sicherheitsratsmitglied Deutschland empfehlen, jetzt Bundeswehrsoldaten als UNOBlauhelmsoldaten nach Burundi zu schicken, dies zumindest anzubieten?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Laschet, zäumen Sie das Pferd doch nicht vom Schwanze her auf. Ich meine, daß wir zunächst einmal im Sicherheitsrat zu einer Entscheidung kommen müssen, was wir wollen. Wenn Sie sich die neueste Beschlußlage vom 15. Juli anschauen, dann sehen Sie, daß z. B. Frankreich und China grundsätzlich dagegen sind, eine solche Operation durchzuführen. Infolgedessen stellt sich die Frage nach dem Einsatz deutscher Blauhelmsoldaten dort derzeit nicht. Aber ich denke, wir sollten an einer politischen Lösung interessiert sein und von deutscher Seite entsprechende Signale aussenden. Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle noch folgendes anfügen: Wenn die UNO wieder ihre Schelte einsteckt, dann wird zu fragen sein, was wir denn eigentlich tun, um diese Institution zu stärken. Die schlechte Zahlungsmoral der Vereinigten Staaten und anderer Länder führt gegenwärtig dazu, daß nicht einmal die Reisen von Menschenrechtsbeobachtern nach Burundi finanziert werden können. „Waiting for genocide", so lautet die Schlagzeile in der „International Herald Tribune" am 16. Januar 1996. Als Parlamentarier sollten wir nicht warten und wegschauen. Auch wenn die Erfolgschancen für eine Befriedung des Landes mit Hilfe von außen als eher gering einzuschätzen sind, so sind sie ohne diese Hilfe ungleich kleiner. Auch verschüttete Bergleute können nur darauf hoffen, daß die Rettungstruppe es schafft, noch rechtzeitig bis zu ihnen vorzudringen. Die Bedrohten selbst können lediglich durch Klopfzeichen auf sich aufmerksam machen. Auch aus Burundi erreichen uns solche Klopfzeichen. Warten wir nicht darauf, bis diese Hilferufe verstummen, sondern sorgen wir dafür, daß der Sicherheitsrat endlich handelt, wie es auch der SPDAntrag fordert. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Kollegin Dr. Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt über sieben Monate her, daß wir hier im Bundestag über einen gemeinsamen Antrag debattiert und ihn verabschiedet haben. Damals war es noch möglich, über die „ Sicherung des Friedens und der demokratischen Entwicklung in Burundi" zu reden. Sie, Herr Kollege Graf Waldburg-Zeil, haben klar gesagt, daß dies heute so nicht mehr zutrifft. Aber damals war diese Forderung noch gerechtfertigt; denn damals war die Gewalt noch nicht so weit eskaliert, daß man nicht noch von „Sicherung des Friedens" hätte reden können. Wir erinnern uns an das Dankesschreiben des Parlamentspräsidenten aus Burundi, in dem uns die Abgeordneten des burundischen Parlaments gedankt, aber auch ihre Hoffnung ausgedrückt haben, daß nach unserem gemeinsamen Antrag neue internationale Initiativen ergriffen werden, um die Gewalt einzudämmen und eine friedliche Entwicklung sichern zu helfen. Aber die in der damaligen Debatte geäußerten Befürchtungen, nämlich daß die Gewalt in Burundi weiter eskalieren könnte, haben sich leider bewahrheitet. Bis heute - das wurde schon gesagt - haben nach Schätzungen der Vereinten Nationen über 100 000 Menschen ihr Leben verloren. Sie sind ermordet worden. Täglich fallen bis zu 50 Menschen dem Terror und den sogenannten ethnischen Säuberungen zum Opfer. Der Konflikt steigert sich zum blutigsten Bürgerkrieg in Afrika. Es gibt Beobachter, die bereits von einem schleichenden Völkermord reden. In Ruanda war das Morden auf eine kurze Zeit begrenzt. Aber in Burundi ist es so, daß die Menschen über einen langen Zeitraum ermordet werden. Trotzdem ist es, glaube ich, ein Völkermord. Seit den ersten freien Wahlen 1993 bzw. seit der Ermordung des ersten frei gewählten Präsidenten Melchior Ndadaye sind 15 der 65 Abgeordneten der Gewinnerpartei FRODEBU ermordet worden. Das muß man sich einmal vorstellen: 15 von 65 Abgeordneten. Über 20 Abgeordnete, darunter auch der stellvertretende Parlamentspräsident, sind geflohen. Manche haben sich sogar dem Widerstand angeschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es besteht die Gefahr, daß sich unter den Augen der Weltöffentlichkeit das Schreckliche ereignet, was 1994 in Ruanda passiert ist, nämlich ein Völkermord. Dies dürfen wir nicht zulassen. ({0}) Die internationale Gemeinschaft ist gerade jetzt besonders gefordert, neue Anstrengungen zur Eindämmung der Gewalt und zur Schaffung eines dauerhaften Friedens in Burundi zu unternehmen. Erste zaghafte Ansätze sind gemacht. Ich möchte dies nicht verschweigen. Es ist gut, daß ein neuer Rundfunksender in Burundi errichtet wurde, der von der EU finanziert wird und der die Aufgabe hat, für Frieden zu werben. Hoffen wir nur, daß dieser Sender nicht zu anderen Zwecken mißbraucht wird. Zweitens. Die UNO schickte einen neuen Sonderbotschafter. Ich finde - das mögen andere anders sehen -, daß dies eine richtige Entscheidung war. Denn der Vorgänger hatte die Erwartungen der Demokraten Burundis enttäuscht. - Ich komme auf das zurück, was Sie, Graf Waldburg-Zeil, gesagt haben. - Unter seiner Leitung war nämlich die sogenannte Regierungskonvention 1994 verhandelt worden. Auf Grund dieser Regierungskonvention war Macht geteilt worden und hatte die Gewinnerpartei eine ganze Menge ihrer demokratisch legitimierten Macht abgegeben, weil man etwas dafür tun wollte, das Land zu befrieden. Aber diese Convention hat eben nicht zur Befriedung beigetragen. Das heißt, sie ist gescheitert. Deswegen denke ich, daß diese Entscheidung richtig war. Drittens. Die EU ernannte einen Sondergesandten für die Krisenregion der Großen Seen. Der italieniDr. Uschi Eid sehe Diplomat soll insbesondere Verhandlungen zwischen den burundischen Gruppen in Gang setzen. Dies ist zu begrüßen. Ich frage den Herrn Außenminister, warum all diese Maßnahmen nicht schon vor einem Jahr ergriffen wurden. Diese Forderungen waren in unserem Antrag vom Juni enthalten. Die Kollegen Tappe, Schuster und ich waren im April im Auftrag des Deutschen Bundestages in Burundi und kamen mit diesen Vorschlägen zurück. Ich glaube, die Lunte brannte damals schon. Daß da nicht sofort etwas getan wurde, das werfe ich dem Außenminister vor. ({1}) Ich möchte aber nicht verhehlen, daß es jüngsten Berichten zufolge in Burundi Bewegungen zu geben scheint, in deren Zuge die Armee und die Widerstandsbewegung CNDD dialogfähig oder zumindest dialogbereit sind; ob sie wirklich dialogfähig sind, wird sich noch herausstellen. Aber ich glaube, jeder kleine Funke Bereitschaft muß von uns unterstützt werden. Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung am 22. Juni 1995 einstimmig dazu aufgefordert, auf allen politischen Ebenen aktiv zu werden und auf ein stärkeres Engagement zur Wiederherstellung der Demokratie und zur Förderung eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen in Burundi zu drängen. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Der einstimmig beschlossene Antrag wurde nicht umgesetzt. Dies ist zu kritisieren. Ein einstündiger Besuch im Flughafengebäude von Bujumbura im Juli letzten Jahres - ich hätte es dem Herrn Bundesminister gerne selber gesagt - ist keine krisenpräventive Außenpolitik, wie wir sie uns vorstellen. Auch wenn der Besuch als solcher richtig war, war er doch völlig unzureichend. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Voraussetzungen, unter denen eine friedliche Entwicklung in Burundi möglich ist, sind bekannt: ({2}) sofortiger Waffenstillstand, Trennung von Armee und Gendarmerie, Aufbau eines demokratischen, multiethnischen Polizei- und Militärwesens, Verfolgung und Bestrafung der Verantwortlichen für den Mord an Präsident Ndadaye und die seitdem verübten Massaker, Aufbau eines unabhängigen und effektiven Justizwesens, Sicherung von freien und demokratischen Kommunal- und Präsidentschaftswahlen und Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für die entwurzelten Jugendlichen, um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Die in der heutigen Debatte vorliegenden Anträge beweisen erneut, daß zwischen den Fraktionen ein hohes Maß an Übereinstimmung in dieser Frage herrscht. Ich hoffe, daß wir in den Beratungen der Ausschüsse wieder zu einem gemeinsamen Antrag kommen werden. Frau Präsidentin, lassen Sie mich - ({3}) - Die Präsidentin war da, als ich anfing. ({4}) Aber bitte, Herr Präsident, geben Sie mein Petitum weiter: In dem damals beschlossenen Antrag ist nämlich auch eine Selbstverpflichtung des Deutschen Bundestages beschlossen worden. Wir dürfen also mit dem Finger nicht nur auf die Exekutive zeigen. ({5}) Der Deutsche Bundestag hat nämlich damals für sich selber beschlossen, eine enge Zusammenarbeit mit dem burundischen Parlament einzuleiten, um auf diese Weise die demokratischen Kräfte in Burundi zu fördern und zu stärken. Ich habe Mitte Januar einen Brief an die Präsidentin geschrieben und Vorschläge gemacht, wie diese Selbstverpflichtung umzusetzen wäre. Ich hätte mich gefreut, wenn wir dazu bis heute eine Antwort gehabt hätten; denn ich meine, wir müssen, wenn wir etwas für uns selber beschließen, dies auch ernst nehmen. Da die Situation in Burundi viel zu ernst ist, als daß wir damit nonchalant umgehen könnten, möchte ich darum bitten, daß wir dazu diese Woche noch - ich weiß, es ist nur bis morgen Zeit - eine Antwort bekommen werden. Ich bedanke mich. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer, F.D.P.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sieben Monate sind seit der letzten Debatte und seit dem gemeinsamen Antrag verstrichen. In Burundi ist die Situation schlimmer geworden. Ich denke - hier möchte ich Ihnen widersprechen, Frau Kollegin Eid -, wir waren uns sehr wohl darüber im klaren, daß unsere Beschlüsse, die 14 Punkte, möglicherweise wegen der fortgeschrittenen Situation tatsächlich nicht mehr umzusetzen sind. Wir haben alle betont: Es soll ein Versuch sein. Die Bundesregierung hat diesen Versuch gemacht. Einiges kann jetzt einfach nicht umgesetzt werden, weil - das macht die Situation noch sehr viel schwieriger als vor einem halben Jahr - der Wille, etwas zu verändern, noch weniger erkennbar ist, als das vor mehreren Monaten der Fall war. Es würde mich ja freuen, Frau Kollegin Eid, wenn tatsächlich innerhalb der Armee und zwischen den verschiedenen politischen - auch bewaffneten - Gruppierungen die Ansätze einer Bereitschaft zum Dialog vorhanden wären. Wir sollten diese Ansätze, wenn sie da sind, selbstverständlich fördern. In den täglichen Massenmorden, die passieren, kommt das allerdings nicht zum Ausdruck. Ich muß Ihnen sagen: Ich finde es wirklich unerträglich, daß auch gegen das Morden demokratisch gewählter Abgeordneter nicht wirklich etwas unternommen wird, auch nicht von seiten der Regierung, die dafür zuständig wäre. Natürlich stehen wir alle hier und fragen uns: Was hilft? Vielleicht hilft auch einmal Klartext reden. Es ist nämlich für uns nicht erkennbar, daß diese Regierung, die, sagen wir einmal, über einen Überraschungscoup mit Hilfe des Militärs ins Amt gekommen ist, bereit ist, in dem Militär, das nach wie vor monoethnisch ist, etwas zu verändern. Wir alle wissen, daß die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und für Ansätze zum Frieden ganz entscheidend davon abhängen, daß eine multiethnische Armee aufgebaut wird, daß die Ethnien zusammenleben. ({0}) Die Frage ist, was getan wird, um dieses Angebot auch durchzusetzen, Herr Kollege Schuster. Das können wir nicht von außen machen. Wir können es befördern. Es gibt eine Menge Militärs, die in Deutschland ausgebildet sind. Die Kooperation burundischen Militärs mit der Bundeswehr hat über viele Jahre funktioniert. Es gibt viele, mit denen der Dialog zu versuchen wäre, und zwar der Dialog über den Aufbau demokratischer Strukturen. Das können wir tun. Aber was tut die Regierung in Bujumbura, um das zu befördern? Ist es denn wirklich richtig, was da gesagt wird, daß sich niemand bewirbt? Zumindest drastische Zweifel an solchen Aussagen dürften wohl angebracht sein. Ich denke, daß der Deutsche Bundestag hier - Frau Kollegin Eid hat das angemahnt - einen Nachholbedarf hat. Ich möchte Respekt vor dem Mut der Abgeordneten äußern, die noch heute ihr Mandat in Burundi ausüben. ({1}) Aber ich halte es für zwingend erforderlich, daß wir als Deutscher Bundestag denen wirklich den Rücken stärken mit dem politischen Druck des internationalen Beobachters dessen, was dort passiert; denn - und das ist meine Schlußbemerkung - wenn wir überlegen, was wir tun können, so sind wir uns alle darin einig, daß Morden unter den Augen der internationalen Öffentlichkeit für die Mörder - egal, von welcher Seite sie kommen - immer schwerer ist. Deswegen ist es richtig, daß die UNO endlich über die Vorschläge des Generalsekretärs beschließen muß; deswegen ist es richtig, trotzdem mehr internationale Beobachter dort hinzusenden, aber deshalb ist es auch richtig, daß wir als Bundestag, der gehört wird, dem Parlament den Rücken stärken. Deswegen ist es richtig, daß Burundi jetzt auf die Tagesordnung der Menschenrechtskonferenz in Genf kommt und daß dort die Dinge klar beim Namen genannt werden. ({2}) Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß wir mit der Bundesregierung und die Bundesregierung von sich aus zusätzliche Schritte einleiten können, die Bundesregierung mit der Europäischen Union, aber auch in der UNO, um Entscheidungen zu treffen, nicht mehr zu verschleppen, wie das auch von seiten unserer Partner in den letzten Monaten zu beobachten gewesen ist, um dafür zu sorgen, daß gehandelt wird. Schleichender Völkermord ist auch Völkermord. Wir dürfen da nicht zuschauen. Danke. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Willibald Jacob, PDS.

Dr. Willibald Jacob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002689, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal stehen wir vor einem eskalierenden Konflikt, in dem sich die Menschen in Burundi und ihre gewählten politischen Vertreter nicht mehr selbst helfen können. Sie brauchen die Hilfe der Staaten, die in der UNO zusammengeschlossen sind, aber auch den Beitrag der Nicht-Regierungsorganisationen, der Vertreter der zivilen Gesellschaften, die von der regionalen Situation etwas verstehen. Die Fakten sind in der Zwischenzeit allseits bekannt, wobei ich persönlich hinzufügen muß, daß ich selber natürlich immer nur von den Informationen derjenigen lebe, die dort gewesen sind und mir berichtet haben. Ich erinnere aber an drei Bedingungen, die zu der Situation geführt haben, und zwar langfristig: Erstens. Der Konflikt ist im Grunde heute kein ethnischer, sondern ein Kampf um ökonomische Besitzstände. Zweitens. Die Kolonialmächte Deutschland und Belgien haben eine Politik des „teile und herrsche" in dieser Region betrieben, und Afrika hat kein kurzes Gedächtnis. Drittens. Die Abschottung Europas wirkt auf viele einzelne Menschen auch dieser Weltregion demoralisierend; Menschen fühlen sich allein gelassen. ({0}) Jetzt schnell zu konstatieren, daß die Gesprächsdiplomatie versagt hat und Soldaten her müssen, würde nur von Phantasielosigkeit zeugen. Die Besuche von deutschen Politikern in der Region sollten nicht die letzten Versuche gewesen sein, durch persönliche Autorität zu vermitteln und die Situation zu verstehen. Die PDS unterstützt daher die Vorschläge der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, eine regionale Friedenskonferenz durchzuführen. Die Teilnahme aller Konfliktparteien und der benachbarten Staaten Uganda, Ruanda und Zaire muß gesichert sein. Die Konferenz sollte Maßnahmen und Ziele bestätigen, die von den Vereinten Nationen als Versprechen längst festgelegt wurden: Erstens: die weitere Arbeit der noch bis Ende April im Lande agierenden UN-Untersuchungskommission. Zweitens: die flächendeckende Präsenz von Beauftragten der UN-Menschenrechtskommission in Burundi. Drittens: ein umfassendes Waffenembargo gegenüber Burundi und der gesamten Region. Es sollten Regularien geschaffen werden, die auch zur Entwaffnung aller kämpfenden Milizen führen. Des weiteren fordern Kenner der Situation Ausbildung und Menschenrechtsschulung der Polizeikräfte in dieser Region durch die Vereinten Nationen. Meine Damen und Herren, es wirkt sich schmerzlich und hinderlich aus, daß der Friedens- und Konfliktforschung in unserem Lande keine Unterstützung mehr zuteil wird. Gerade die Konflikte in Südostafrika zeigen einmal mehr, daß wir Ergebnisse dieser Forschung als Frühwarnsystem und Anleitung zum Handeln bitter nötig hätten. Es genügt nicht, den Limes zwischen Nord und Süd zu errichten und dann ab und zu einen militärischen Ausfall zu machen. Die Bürde der Kolonialgeschichte lastet auf der Region Burundi, Ruanda, Zaire und Uganda wie eh und je. Nur im Wissen darum wird sich die Bundesregierung und werden wir alle uns an der Lösung des Konfliktes beteiligen können. Danke sehr. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Staatsminister Helmut Schäfer.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal habe ich hier den Eindruck, als glaubten einige, die Bundesregierung oder Deutschland sei in der Lage, Konflikte in Afrika zu lösen. Der letzte Kollege machte sogar noch die deutsche Kolonialgeschichte für das mit verantwortlich, was dort geschieht. Lieber Herr Jacob, fahren Sie bitte dorthin und erkundigen Sie sich bei den Streitparteien selbst. Niemand wird dort auf Ihre Ideen verfallen, daß das deutsche Kolonialregime hier Verantwortung hätte. Die Situation in Afrika sieht etwas anders aus. ({0}) Frau Kollegin Eid, es ist ja auch nicht so, als hätten wir seit der letzten Debatte nichts getan. Wir haben sehr viel unternommen. Aber wiederum muß ich sagen, daß es nicht an uns allein liegt, daß sich die Situation in Burundi in keiner Weise, so möchte ich beinahe sagen, verbessert hat. Auch wenn in den letzten Tagen behauptet wurde, sie habe sich etwas verbessert und es sei etwas ruhiger geworden, kann ich nur feststellen, daß die Berichte der Botschaft alles andere als erfreulich sind. Ich hatte heute vormittag Gelegenheit zu einem sehr ausführlichen Gespräch mit dem hier mehrfach erwähnten ehemaligen Präsidenten Buyoya. Er ist nicht im Auftrag der Regierung hiergewesen, was er mir versichert hat, sondern er ist angeblich hierhergekommen, um selbst sowohl in Frankreich als auch in anderen europäischen Staaten noch einmal uns zu bitten, alles zu tun, damit sich die Situation verbessert. Ich habe ihm sehr deutlich gesagt - das hat Frau Kollegin Schwaetzer auch angesprochen -, daß er seiner Regierung bitte ausrichten möge, daß wir sichtbare Bemühungen dieser Regierung um eine nationale Verständigung brauchen. Wir brauchen Fortschritte im Hinblick darauf, daß etwas getan wird, um die Menschen zu schützen. Wenn das nicht der Fall ist, wenn diese Regierung nichts tut - aus welchen Gründen auch immer -, dann kann sie nicht mehr damit rechnen, daß das Interesse der Weltöffentlichkeit noch bestehen bleibt, weiterhin Entwicklungshilfe zu geben. Ich habe sehr deutlich gesagt: Die Geduld geht aus, und es gibt auch noch Sanktionsmechanismen, die gegen diese Regierung anzuwenden sind, wenn sie nicht bereit ist, den notwendigen Dialog zu führen. Ich habe allein im vergangenen Oktober hier Gespräche mit dem Parlamentspräsidenten, dem Parteivorsitzenden der FRODEBU, dem Staatssekretär für Kooperation und dem Bischof von Bujumbura geführt. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß sie einen Dialog führen, sich zusammensetzen und auch mit denen, die gegen diese Regierung oder einen Teil der Regierung operieren, zu solchen Gesprächen kommen müssen, und wenn es außerhalb des Landes ist.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

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Ja. Es wird dann aber sehr viel länger, und ich sehe schon die besorgten Mienen meiner Freunde, die über die Westsahara reden wollen. Frau Eid, Sie haben zwölf Minuten gesprochen, ich habe fünf Minuten. Ich bitte um Verständnis, wenn ich dann mehr Redezeit in Anspruch nehmen muß. - Bitte.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, gerade das Problem der Convention, also dieser nationalen Konvention, habe ich vorhin angesprochen, um klarzumachen, daß sich diese Regierung durch die Machtteilung in einer Falle befindet. Jetzt sagen Sie, die Regierung sei nicht handlungsfähig. Stimmen Sie nicht mit mir überein, daß die Konstellation, die ausgehandelt wurde, genau dazu geführt hat, daß die Regierung nicht handlungsfähig ist? Sie aber verlangen nun, daß die Regierung handeln müsse. Das paßt nicht zusammen.

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Frau Kollegin Eid, solange sich die Regierung in ihrem Amt befindet und solange der Premierminister alle möglichen Kontakte zu bestimmten PersönStaatsminister Helmut Schäfer lichkeiten hält, die nicht ohne Einfluß sind, auch wenn der Präsident offensichtlich an Einfluß in Burundi verloren hat, kann ich immer wieder nur sagen, daß wir die Regierung auffordern müssen, etwas zu tun. Wenn sie das nicht mehr kann, müßte sie die Konsequenzen ziehen. ({0}) Aber sie kann nicht immer weiterregieren wollen, ohne etwas zu unternehmen, um die Menschen zu schützen. Darum geht es doch. Der Bundesaußenminister wurde kritisiert, er sei zu kurz dort gewesen. Er ist gerade am Rande der 50-Jahr-Feierlichkeiten der UNO mit dem burundischen Staatspräsidenten zusammengetroffen. Ich kann Ihnen sagen, daß wir über den Afrikabeauftragten der Regierung nahezu pausenlos im Gespräch waren. Wir haben in letzter Zeit wiederholt den Sondergesandten der EU für die Region der Großen Seen angesprochen, der in Burundi war. In Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen und der Organisation der Afrikanischen Einheit haben wir versucht, die Regionalkonferenz mit vorzubereiten, von der Herr Buyoya mir heute morgen gesagt hat, daß sie die dringend notwendige Vorbereitung für die große Konferenz mit den Präsidenten ist. Eine Troika-Mission hat Burundi in diesem Monat, vor wenigen Tagen, besucht. Die fünf von der Europäischen Union geförderten Menschenrechtsbeobachter sind auf dem Weg dorthin. Wir haben eine internationale Untersuchungskommission zum damaligen Massaker eingerichtet. Jetzt endlich, da die Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat, werden in Burundi auch die Verdächtigungen, die vorhin ausgesprochen wurden, zu untersuchen sein. Herr Kollege Brecht, da Sie hier fordern, die UNO müsse möglicherweise militärisch intervenieren, muß ich Ihnen ganz klar sagen: Eine präventive Stationierung von UN-Blauhelmen in Burundi ist zur Zeit nicht realisierbar. Warum nicht? Erstens weil es aus den verschiedensten Ländern keine Bereitschaft gibt, Truppen zu stellen, zweitens weil die burundische Regierung nicht ihr Einverständnis gibt, was sie tun müßte, drittens weil konkrete Vorstellungen über ein Mandat der UN-Truppen fehlen, und schließlich auch weil damit zu rechnen wäre - das hat Herr Buyoya heute bestätigt -, daß es bei einer Stationierung zum Widerstand der burundischen Armee käme und mit entsprechenden Konsequenzen auch für die dort stationierten deutschen Truppen zu rechnen wäre. Es kommt hinzu, daß - Herr Brecht selber hat das gesagt - die UNO zur Zeit natürlich nicht über die Mittel verfügt, wiederum eine Militäraktion, von wem auch immer sie getragen wird, zu starten. Von daher sehe ich die Blauhelm-Aktion derzeit als keine realistische Möglichkeit an. Ich bleibe aber dabei - ich teile Ihre Auffassung -: Wir können nicht zusehen, wie diese Eskalation weitergeht, wie nach Schätzungen der Botschaft auf schleichende Weise pro Tag etwa 100 Menschen umkommen, was letzten Endes auch ein Genozid ist. Deshalb ist es so ungeheuer wichtig, daß alles unternommen wird und auch die von Carter gestartete Initiative mit Hilfe der Präsidenten der Nachbarstaaten Erfolg hat. Ich muß immer wieder betonen: Wir müssen auch den Afrikanern immer wieder sehr deutlich sagen, daß es nicht angehen kann, daß alle innerafrikanischen Konflikte permanent von westeuropäischen Staaten gelöst werden. Es muß natürlich auch von seiten Afrikas Bereitschaft bestehen, aktiv etwas zu tun, bereit zu sein, in das Land hineinzugehen. Sie selber sind doch durch die Eskalation und die Flüchtlingswellen, die entstehen und über die Grenzen hinwegeilen, betroffen. ({1}) - Ich weiß, daß man sicher auch Herrn Buyoya Vorwürfe machen kann, will das jetzt aber nicht im einzelnen ausführen. Ich wäre aber sehr gerne bereit, im Ausschuß über einige Einzelheiten des Gesprächs mit Herrn Buyoya zu sprechen, die nicht uninteressant sind, die ich hier aber nicht ausbreiten möchte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir müssen gegenüber Wünschen, die uns vorgetragen werden, sehr vorsichtig sein, wenn uns nicht die Garantie gegeben wird, daß die Erfüllung dieser Wünsche dazu führt, daß sich die Situation dort verbessert. Ich sage noch einmal zum Schluß: Wir müssen in den Ausschüssen sehr ernsthaft darüber nachdenken, inwieweit die Möglichkeiten, Druck auf die Regierung auszuüben, schon ausgeschöpft sind. Wenn nicht, müssen diese Möglichkeiten ergriffen werden, und zwar sehr viel weitgehender, als das bisher der Fall war. ({2}) - Mit Frankreich. Vielen Dank. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3551, 13/3700 und 13/3718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Verwirklichung des Westsahara-Friedensplanes der Vereinten Nationen - Drucksache 13/3702 ({0}) Nach interfraktioneller Vereinbarung ist eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Anneliese Augustin, CDU/CSU-Fraktion.

Anneliese Augustin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor knapp fünf Jahren, am 29. April 1991, billigte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig den WestsaharaFriedensplan. Selbstverständlich wurde das auch von den beteiligten Konfliktparteien, sowohl dem Königreich Marokko als auch der Frente Polisario, akzeptiert. Wir alle hatten damals die Hoffnung, daß die Verwirklichung dieses Friedensplanes den seit 1975 schwelenden und zum Teil bewaffnet ausgetragenen Konflikt beenden würde und damit ebenso ein Kapitel der Dekolonisierung Afrikas abgeschlossen werden könnte. Wir hatten die Hoffnung, daß es den Konfliktparteien gelingen würde, nicht nur den Krieg zu beenden, sondern einen wirklichen Frieden zu erlangen. Leider haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. Der vorliegende Antrag ist daher auch der klare Ausdruck unserer Enttäuschung und Verärgerung über die schleppende Umsetzung des Friedensplans der Vereinten Nationen. ({0}) Der Antrag ist darüber hinaus eine sehr bewußte und nachdrückliche Unterstützung des UN-Generalsekretärs und des UN-Sicherheitsrates in ihrer Politik gegenüber den Konfliktparteien. Ich bin der festen Überzeugung, daß nur eine auf internationalem Recht beruhende Lösung, wie sie von den Vereinten Nationen angestrebt wird, ein friedvolles und gedeihliches Miteinander in dieser Region garantieren wird. Einseitige Lösungen, die im Zweifel wieder gewaltsame Reaktionen einer zweiten Seite hervorrufen würden und an die sich wieder eine Spirale der Gewalt anschließen würde, können für niemanden von Interesse sein, der das Wohl der Menschen, die dort leben, im Auge hat. Ich hoffe daher, daß es in absehbarer Zeit gelingt, eine Lösung zu finden, die dem Willen der in der Westsahara lebenden Bevölkerungsgruppen entspricht und deren wirtschaftliche Situation verbessert. ({1}) Dies kann allerdings nur gelingen, wenn der Wille zu einer einvernehmlichen Lösung unter den Parteien vorhanden ist. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heißt es bei uns. Den Leuten, die dort die Verantwortung tragen, sollte man dieses geflügelte Wort einmal nahebringen. Nicht nahebringen sollte man ihnen aber die Worte Goethes aus dem „Erlkönig": „Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!" Denn Gewalt kann und darf nicht die Antwort auf Enttäuschung und auf Frust sein. ({2}) - Das können Sie ja nachher machen, lieber Herr Bindig. Machen Sie es doch! Auch ich kenne die vielen Berichte und Artikel, in denen Marokko Täuschung, Verschleppung, Manipulation und ähnliche unfreundliche Akte vorgeworfen werden. Ich stelle aber auch fest, daß die andere Seite nicht jeder Verzögerung abhold ist, wie ich dem Bericht des UN-Generalsekretärs vom 19. Januar dieses Jahres entnehme. Leider wurde in den fast fünfjährigen Bemühungen um die Abhaltung des Referendums der Konflikt um die Wählerlisten zur wirksamsten Waffe derer, die den Friedensplan verhindern wollen. Es wird zu Recht als Skandal bezeichnet, daß im Januar dieses Jahres erst rund 60 000 Wahlberechtigte von beiden Seiten akzeptiert worden waren. Ich will an dieser Stelle nicht über die Schuldfrage diskutieren und philosophieren, sondern ich werde das lieber den Historikern später überlassen. Mir liegt am Herzen, daß die kritische Phase, in der sich die Umsetzung des UN-Friedensplans zur Zeit befindet, so bald wie möglich beendet wird. Gegenüber den Konfliktparteien sollten wir daher sehr deutlich unsere Verärgerung und Enttäuschung artikulieren und intensiv auf die zügige Umsetzung und volle Verwirklichung des Friedensplans drängen. Wir müssen auch ganz klar sagen, daß es nicht akzeptabel ist, daß ein Referendum möglicherweise erst dann durchgeführt werden soll, wenn man weiß, welche von den beiden Seiten bei diesem Referendum wohl gewinnen wird. Das ist nicht und kann nicht der Sinn eines freien Referendums sein. ({3}) Man kann nur hoffen, daß sich die betroffenen Parteien wieder auf ein Miteinander verständigen. Denn sonst hätte Frank Ruddy, US-Diplomat und ehemals an verantwortlicher Stelle bei Minurso tätig, völlig recht, daß es einfach genug für die Vereinten Nationen zu tun gibt, als daß sie ihre Zeit mit Parteien verschwenden könnten, denen es am Willen fehlt, ihre Schwierigkeiten zu lösen. ({4}) Beide Parteien sollten sich auch in der Verantwortung gegenüber den Nachbarn in der maghrebinischen Region sehen. Ich denke hier beispielsweise an Mauretanien, dessen Staatspräsident Taya mir bei meinem Besuch eindringlich seine Sorgen vorgetragen hat. Wir alle wissen, daß Mauretanien einer der Leidtragenden eines unfriedlichen Ausgangs wäre. Neu entstehende Flüchtlingsströme wären geeignet, das Land Mauretanien, über dessen Stabilität wir uns gerade freuen, wieder zu destabilisieren. Ich baue aber trotz aller Schwierigkeiten auf eine friedliche und konstruktive Lösung. Vielleicht ist es auch ganz vernünftig, einmal über das Referendum hinauszublicken. Vielleicht ist es nötig, um wirklich Frieden zu gewährleisten, über Modelle der Regionalisierung und irgendeiner Form der Autonomie nachzudenken und zu reden. Wie auch immer eine friedliche und konstruktive Lösung aussehen würde: Ich bin sicher, daß die Völkergemeinschaft eine solche Lösung honorieren würde und daß dies der Entwicklung der Region und dem Wohl der dort lebenden Menschen in ganz hohem Maße zugute käme. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Jelena Hoffmann, SPD-Fraktion.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß zu so einer späten Stunde noch einige Kolleginnen und Kollegen im Saal sind, um meine erste Rede im Plenum zu verfolgen. ({0}) Wir beraten heute den interfraktionellen Antrag zur Umsetzung des Westsahara-Friedensplanes der Vereinten Nationen. Doch ich glaube, wir müssen uns an den Verlauf des sogenannten Polisario-Konfliktes erinnern. In der Westsahara lebt ein kleines Volk, welches um seine Rechte nun schon seit 20 Jahren kämpft. Es geht um die Frage, ob das Volk der Polisario seine Unabhängigkeit oder die Eingliederung in das Königreich Marokko wünscht. Doch anscheinend waren beide Partner überfordert, das Problem aus eigener Kraft zu lösen. Erst die Vermittlung der UNO brachte Marokko und die Polisario einander wieder näher. Am 17. Mai 1991 stimmte die UN-Vollversammlung dem Westsahara-Friedensplan zu und bewilligte für den vorgeschlagenen Zeitrahmen und die knapp 3 000 Mann starke UNO-Truppe ein Budget von 180 Millionen Dollar. Vier Monate später, am 6. September 1991, sollte der Waffenstillstand in Kraft treten. Danach sollten in genau 20 Wochen folgende Schritte bis zur Durchführung des Referendums erfolgen: Austausch der Kriegsgefangenen von beiden Seiten; Reduzierung der marokkanischen Besatzungstruppen in der Westsahara; Überwachung der verbleibenden Truppenkontingente beider Seiten durch die Minurso; Identifizierung der Wahlberechtigten auf der Grundlage des spanischen Zensus von 1974; Aufhebung aller Gesetze und Maßnahmen, die die Freiheit des Referendums beeinträchtigen könnten; Rückführung der Flüchtlinge zur Abstimmung in die Westsahara; freier, unbehinderter dreiwöchiger Wahlkampf und Ende Januar 1992 Referendum, Auszählung und Bekanntgabe des Ergebnisses. Heute, fünf Jahre später, ist kaum etwas erreicht worden. Beide Konfliktparteien stimmten zu, nach Verabschiedung des UN-Friedensplanes auch schon vor Beginn des offiziellen Waffenstillstandes die Waffenruhe einzuhalten. Doch dazu kam es nicht. Im selben Jahr ließ König Hassan die seit Jahren schwersten Bombenangriffe auf Stellungen der Frente Polisario im Osten der Westsahara zu. Auch der Prozeß der Vorbereitung des Referendums verzögerte sich. Erst konnten sich die Konfliktparteien nicht auf die Liste der Stimmberechtigten einigen. Die Polisario wollte die Liste auf die im Zensus von 1974 erfaßten Bewohner der Gebiete begrenzen. Marokko hingegen wollte auch jene Einwohner erfassen und an dem Referendum beteiligen, die zuvor nach Marokko geflüchtet waren. Man einigte sich dann auf gemeinsame Kriterien, nach denen die Anerkennung der Wahlberechtigten stattfinden soll. Eine weitere Verzögerung ergab sich dann nochmals aus der Frage von Beobachtern der Organisation der Afrikanischen Einheit bei der Erstellung der Listen der Wahlberechtigten. Die Polisario bestand auf einer Teilnahme der OAU-Beobachter, Marokko lehnte dies mit der Begründung ab, es habe die OAU wegen der Parteinahme für die Polisario verlassen und wünsche nun auch keine Beobachter dieser Organisation. Dieses ständige Suchen nach Kompromissen kostete Kraft und vor allem Zeit. Als dann endlich im August 1994 die Identifizierungskommission ihre Arbeit aufnahm, sah der Zeitplan vor, daß die Übergangsperiode - also Austausch von Kriegsgefangenen und Limitierung von Kampfgruppen auf bestimmte Orte - am 1. Oktober 1994 beginnen sollte. Für Mitte November war der Abschluß der Anerkennung der Wähler vorgesehen und das eigentliche Referendum für den 14. Februar 1995. Ich würde jetzt hier nicht stehen und Ihnen dies alles vortragen, wenn es gelungen wäre, den Zeitplan Jelena Hoffmann ({1}) einzuhalten. Im März 1995 waren erst etwa 17 000 Personen vor den Identifizierungskommissionen erschienen, bei einer zu erfassenden Gesamtzahl von rund 200 000 Personen. Auf Grund dieser Entwicklung kündigte die Polisario eine Rückkehr zum bewaffneten Kampf an. Die Polisario befindet sich in einer verzweifelten Lage. Das Referendum ist vorerst in weite Ferne gerückt und damit auch mittelfristig die internationale Hilfe, sowohl finanziell als auch politisch. Bis jetzt sind meiner Kenntnis nach etwa 50 000 Personen identifiziert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, keine Aufzählung von Daten und Fakten kann das wiedergeben, was ich bei meinem Besuch in Marokko und vor allem bei meinem Besuch der polisarischen Zeltlager auf algerischer Seite gesehen habe. Tausende von Menschen leben seit 20 Jahren in Zelten in der glühend heißen Wüste. Im Winter stehen den Familien noch kleine Lehmhäuschen zur Verfügung, die jedoch in der Regenperiode aufweichen und zum Teil zerstört werden. Es gibt dort fünf Zeltlager, die genauso organisiert sind wie die Städte in der Westsahara auf dem jetzigen marokkanischen Territorium. Es gibt dort Schulen, Hospitäler, Einrichtungen, Verwaltungen und Ministerien, zum Teil in befestigten Gebäuden. Neben dem Eindruck der Trostlosigkeit, der uns vermittelt wurde, erschien es uns bewundernswert, mit welcher Fröhlichkeit und Geduld die Polisario alle Entbehrungen ertragen. Die Kinder schienen fröhlich, die jungen Frauen waren bunt, fast europäisch gekleidet. Männer sah man aber kaum. Es wäre aber auch nicht richtig, zu vergessen, daß die marokkanische Seite große Anstrengungen unternimmt, in den von Marokko besetzten Gebieten in der Westsahara das Leben zu erhalten und auch die Lebensbedingungen weiter zu verbessern. Dort werden Häuser und Straßen gebaut, zur besseren Wasserversorgung entsteht eine Meerwasserentsalzungsanlage. Manchmal tut es mir leid, daß wir hier im Plenum keine Möglichkeit der visuellen Unterstützung unserer Reden haben; denn es ist bekanntlich besser, eine Sache einmal zu sehen, als tausendmal davon zu hören. ({2}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, jetzt müssen wir uns die Frage stellen, wie lange noch Tausende von Menschen mit nur geringer Aussicht auf ein Ende des Flüchtlingsdaseins ausharren werden. Wie lange noch kann die Polisario die Flüchtlingslager unter Kontrolle halten? Wir müssen uns ebenfalls fragen, wie lange wir noch die schleppende Umsetzung des Westsahara-Friedensplanes der Vereinten Nationen dulden, wie wir die friedvolle Konfliktlösung unterstützen können und was wir tun können, um die Durchführung des Referendums über die Selbstbestimmungsrechte des Polisario-Volkes zu beschleunigen. Aus diesem Grund möchte ich Sie auffordern, unserem gemeinsamen Antrag zuzustimmen. Denn es ist wichtig, daß die Bundesregierung Schritte einleitet, um die unverzügliche Verwirklichung des Friedensplanes zu erreichen. Die Bundesregierung muß beide Parteien auffordern, den Friedensplan in vollem Unfang anzuwenden, ihn vor allem zügig umzusetzen und alle Verpflichtungen einzuhalten. Lassen Sie uns heute dazu beitragen, den Menschen in der Westsahara eine lebenswerte Zukunft in Frieden zu ermöglichen. Erlauben Sie mir bitte noch eine letzte Bemerkung. Marokko hat sich der ehrgeizigen Aufgabe der Demokratisierung gestellt. Der Weg aus der Monarchie, in der der König als weltlicher Herrscher und geistiger Führer über Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit steht, hin zur Demokratie ist sehr schwierig und dornig. Die Lösung des Polisario-Konflikts ist bestimmt nicht einer der ersten Schritte auf diesem Weg, doch ein sehr schwieriger. Lassen Sie uns diese Schritte der Demokratisierung in Marokko unterstützen, indem wir den Weg zum Referendum ebnen und beschleunigen. Lassen Sie uns die Gefahr der Eskalation verringern, indem Sie unserem gemeinsamen Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Freunde in dieser späten Stunde! - In dieser frühen Stunde. Es hat ja viele Ansätze gegeben, darüber nachzudenken, ob wir nicht unsere Reden zu Protokoll geben sollten. ({0}) - Nein. Ich will Ihnen sagen, warum ich es nicht konnte. Wir verabschieden einen gemeinsamen Antrag. Er ist nötig; denn eine Delegation dieses Hauses wird sich in das in Rede stehende Gebiet begeben. Natürlich ist es sinnvoll, wenn man dann einen Antrag hat. Nur, da er ein interfraktioneller Antrag ist, enthält er sich so sehr jeglicher Wertung - er spricht die Probleme richtig an -, daß meine Fraktion meinte: Dann müssen die Wertungen eben bei der Verabschiedung mündlich nachgeholt werden. So entstehen solche Debatten. Ich denke, daß das, was wir machen, richtig ist. Ich denke auch, daß der Antrag nicht anders hätte ausfallen können. Aber ich erlaube mir, jetzt eben doch einige Wertungen nachzuholen. Der erste Punkt ist: Wir haben es hier - trotz all der Schrecklichkeiten, über die vorher gesprochen worden ist - mit dem letzten Dekolonialisierungskonflikt in Afrika zu tun. Es ist eigentlich ein Skandal, daß wir es, nachdem so komplizierte Vorgänge wie in Südafrika, in Namibia, in Mosambik, in Angola in Friedensprozesse umgewandelt werden konnten, hier immer noch hinnehmen, daß hunderttausend Leute - mehr sind es nicht - abgeschoben wurden und hinter einem hohen Sandwall leben, der mit mehr Soldaten bewacht wird, als diese Flüchtlingslager dort Menschen haben. ({1}) - Zu wissen, daß dieser Konflikt mit der verfrühten Freigabe der spanischen Westsahara zu tun hat, das gehört nun wirklich zur „Achtelsbildung" Herr Irmer; es tut mir leid. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Überwiegend hat Herr Dr. Lippelt das Wort, und ich wünschte, er hätte es jetzt ausschließlich.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Ich freue mich, daß gelegentlich meine alten Fähigkeiten als Lehrer noch so weit durchschlagen, daß ich die Klasse zum Reden bringe. Der zweite Punkt: Der Friedensprozeß ist natürlich von beiden Seiten eingeleitet, von beiden Seiten unterschrieben, und trotzdem wird er einseitig sabotiert. Das ist so. ({0}) Ich bin 1988, drei Jahre vor Unterschrift, als aber schon über die Struktur, das Referendum usw., nachgedacht war, mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses in Marokko gewesen. Ich erinnere mich sehr wohl der Gespräche mit marokkanischen Politikern, die sagten: Selbstverständlich machen wir das, aber wir werden dann über die Modalitäten reden. - Genau das ist es. Es geht um die Modalitäten mit den Listen. In den fünf, sechs Jahren sind 60 000 Wahlberechtigte anerkannt worden, aber 100 000 werden nachgereicht. Es ist ein klarer Prozeß der Sabotierung bei der Diskussion der Modalitäten. Es ist ja einfach, 100 000 Menschen, die hinter einem Sandwall leben, am ausgestreckten Arm letztlich verhungern zu lassen. Der dritte Punkt: Leider hat in dieser Angelegenheit auch die UN etwas Schaden genommen. Daß sie sich sehr stark marokkanisch hat beeinflussen lassen, wird von vielen UN-Leuten, die in der Mission waren, bestätigt. Daß dem vorherigen Generalsekretär nach Ablauf der Legislaturperiode ein hohes Amt in einem marokkanischen Unternehmen angeboten wurde, ist ein weit verbreitetes Gerücht.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Lippelt, Sie müssen zum Schluß kommen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gut. Vierter Punkt - wenn ich das noch sagen darf -: Ich glaube nicht, daß die deutsche Position, sich strikt herauszuhalten, so richtig ist, denn wenn der eine im Besitz ist, dann kann er sehr wohl darauf sitzenbleiben, und dann ist die Neutralität gegenüber der Legitimität des Eroberns auf der Seite, die man nicht anerkennen will, und gegenüber der Unabhängigkeitsbestrebung auf der anderen Seite nur scheinbar.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Dr. Lippelt, ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich sehe es ein, Herr Präsident. Ich darf aber noch den letzten Satz sagen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Es muß ein kurzer sein.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hoffe, daß wir Wege finden, den versteinerten Dialog zwischen den beiden Partnern, den ihnen der UNO-Generalsekretär jetzt noch einmal bescheinigt hat und von dem die eine Seite ganz deutlich sagt, er sei kontraproduktiv, zu verflüssigen. Wenn Sie das schaffen würden, wäre es sehr schön. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Burkhard Hirsch, F.D.P.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Vorredner haben mit großer Liebe zur Sache wirklich alles Wesentliche hier vorgetragen. Man kann vielleicht noch ergänzen, daß es fast auf den Tag genau 20 Jahre her ist, daß die Sahraouis ihre Republik mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung ausgerufen haben und daß seitdem das Königreich Marokko, das ohne völkerrechtliche Grundlage die Westsahara okkupiert hat, mit allen Möglichkeiten versucht, den Friedensplan der Vereinten Nationen, der nun auch schon über sieben Jahre alt ist, nicht zu verwirklichen, indem sie dazu beitragen, daß sich die Bedingungen, unter denen die Volksabstimmung stattfinden soll, gegenseitig blockieren. Die Marokkaner wollen die Teilnahmeberechtigung fast grenzenlos ziehen und jede mündliche Erklärung ausreichen lassen, um eine Teilnahmeberechtigung darzustellen. Wenn sie vorher gut 100 000 Menschen in das Gebiet hineingebracht haben, dann ist klar, daß von einem solchen Verfahren eine befriedende Wirkung nicht ausgehen kann. An diesem Status haben sich beide Parteien gegenseitig festgefressen. Der letzte Bericht des Generalsekretärs stammt vom 19. Januar dieses Jahres. Er stimmt wenig hoffnungsfroh. Man kann ihm nur zustimmen, daß dann, wenn die MINURSO zurückgezogen wird, die Hoffnungen auf eine friedliche Lösung gegen null gehen. Man muß sich fragen: Worin liegt eigentlich unser Interesse, uns mit diesem Bereich überhaupt zu befassen? Das Interesse der Weltöffentlichkeit an der Westsahara ist nicht besonders groß: Es gibt dort kein Öl. Ich glaube, daß es eine der wichtigen Vorhaltungen der arabischen Welt gerade uns Europäern gegenüber ist, daß wir die Menschenrechtsgesichtspunkte nicht überall mit gleicher Intensität verfolgen, sondern nur dort in besonderer Weise, wo sie sich mit wirtschaftlichen Interessen decken. Darum steht in einem gewissen Umfang das Ansehen der Vereinten Nationen auf dem Spiel. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich glaube, wir sollten und wollen durch diese gemeinsame Erklärung die Bundesregierung ermutigen, einen europäischen Vorstoß zu unternehmen. Man könnte sich vorstellen, beide Parteien aufzufordern, sich in den streitigen Fragen einem Schiedsgericht oder dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu unterwerfen, damit klar wird, welche Seite durch Verfahrensvorbehalte den eigentlichen Friedensprozeß behindern will. Ich sehe kaum eine andere Möglichkeit, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wir sollten uns darum bemühen. Wenn man die Lager der Frente Polesario in der Sahara gesehen hat, kann man jedenfalls den Menschen, die dort leben, seine Hochachtung nicht verweigern. Dort, fernab von den Segnungen unserer Zivilisation, fristen sie ihr Leben - um ihrer Freiheit willen. Wir sollten uns darum bemühen, ihnen eine friedliche Zukunft zu sichern. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Steffen Tippach, PDS.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lippelt, an einem Punkt muß ich Ihnen widersprechen: Es ist nicht der letzte Dekolonialisierungsprozeß. Auch Centa und Melilla warten noch auf derartige Ereignisse. Herr Kollege Hirsch hat es gerade angesprochen: 20 Jahre nach Ausrufung der Demokratischen Arabischen Republik Westsahara ist dieses völkerrechtliche Subjekt nach wie vor ein besetztes Land. 70 Staaten der Welt haben die DARS anerkannt; sie ist Mitglied in der Organisation Afrikanische Einheit. Obwohl der Internationale Gerichtshof in Den Haag festgestellt hat, daß Marokko keinerlei historisch begründete Ansprüche auf das Territorium der Westsahara hat - ebenso wie Mauretanien, das diesen Schiedsspruch akzeptiert hat -, ist es der internationalen Staatengemeinschaft nicht gelungen, den völkerrechtswidrigen Zustand der Besetzung zu beenden und das legitime Selbstbestimmungsrecht des sahraonischen Volkes durchzusetzen. Warum? Der UN-Friedensplan, der 1991 in Kraft trat und zur Einsetzung der MINURSO führte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die strategischen und ökonomischen Interessen insbesondere der EU-Staaten dazu geführt haben, den Status quo der Westsahara eher zu zementieren, als das Problem einer Lösung im Interesse der sahraonischen Bevölkerung näherzubringen. Die Position Marokkos als verläßlicher Vorposten der Festung Europa bei der Abschirmung vor allem der Straße von Gibraltar gegen Flüchtlinge sowie als stabiler Einflußpartner im Maghreb hat das Interesse Westeuropas und auch der USA an einer Verärgerung König Hassans in der Westsahara-Frage auf bescheidenem Niveau stagnieren lassen. Das ist übrigens eine Konstellation, die Regelungsversuchen der OAU kaum eine Chance gelassen hatte und hat. Laut „medico international" lieferte die Bundesrepublik seit Kriegsbeginn Militärgüter im Wert von einer Milliarde DM, darunter auch Alpha Jets. Dies mag wenig sein im Verhältnis zum militärischen Engagement Frankreichs und Spaniens in Marokko. Es ist jedoch viel - und es ist vor allem unakzeptabel -, wenn diese Waffen einem Land zur Verfügung gestellt werden, das mit seiner Armee einen anderen, international anerkannten Staat besetzt hält und bereit war und ist, dort auch Waffen einzusetzen. Auch im aktuellen Plan der militärischen Ausstattungshilfe sind 4,5 Millionen DM für Marokko angesetzt. Herr Staatsminister Schäfer wird gleich sagen, daß das für die zivile Ausbildung von Soldaten sein soll. Nur ist die Frage zu stellen, warum deutsche Soldaten marokkanische Soldaten in vermeintlich zivilen Berufen ausbilden sollen, die die Kfz-Techniker oder Elektrotechniker - ich bin selber lange genug in der Armee gewesen, um das beurteilen zu können - sehr wohl zumindest in Dual-use-Funktionen ausüben können. Ich frage mich auch, ob dies für den richtigen politischen Willen, der dem vorliegenden Antrag zweifellos zugrunde liegt, das angebrachte Zeichen ist und, wenn ja, ob Ernsthaftigkeit dahintersteckt. Das ist um so uneinsichtiger, als andererseits über das BMZ und einzelne Bundesländer Mittel zur Verfügung gestellt werden, um die Lebenssituation der 165 000 sahraonischen Flüchtlinge in Südalgerien zu stabilisieren. Die Politik Marokkos, durch Interpretation des UN-Friedensplanes den Registrierungsprozeß von Wahlberechtigten für die vorgesehene Volksabstimmung in die Länge zu ziehen und somit letztendlich den Friedensplan zu gefährden, birgt die akute Gefahr neuer bewaffneter Auseinandersetzungen in sich. Der interfraktionelle Antrag fordert unter Ziffer 3 die Fortführung und Verstärkung der bisherigen Politik der Bundesregierung. Wenn die nachfolgenden konkreten Anliegen, die im Antrag genannt werden, ernsthaft umgesetzt werden sollen, um das drohende Scheitern des UN-Friedensplans zu verhindern, sind jedoch statt bloßer Fortführung einige Korrekturen nötig.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Tippach, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.

Steffen Tippach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002820, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich habe nur noch wenige Wörter. - Aus dem eben angesprochenen Grund werden wir uns bei diesem Antrag der Stimme enthalten. Danke. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, sagen zu dürfen, daß die Bundesregierung Ihren Antrag nachhaltig unterstützt. Wir wissen, daß dieser UN-Friedensplan die einzige Möglichkeit ist, zu einer Lösung zu kommen. Das ist nicht so sehr eine Frage des Engagements der Europäischen Gemeinschaft, auch wenn der Vorschlag von Herrn Hirsch sicher erwägenswert ist. Ich bin nicht ganz sicher, ob an einem solchen Vorstoß alle Mitglieder der Europäischen Union interessiert sind. Man kann das ja ventilieren. Wir müssen ganz klar sehen, daß sich der Friedensprozeß in einer sehr kritischen Phase befindet, und zwar deshalb, weil in den nächsten vier Monaten entschieden sein muß, ob die beiden Parteien bereit sind, sich auf die Umsetzung des Planes und die Durchführung des Referendums einzulassen. Wenn sich nicht schon sehr bald ein nennenswerter Fortschritt in der Wählerregistrierung abzeichnet, wird der UN-Generalsekretär die Mitglieder des Sicherheitsrates entsprechend unterrichten und zugleich ein Konzept für einen stufenweisen Rückzug der UN-Friedensmission in der Westsahara vorlegen. Es ist für die ganze Region sicher von Bedeutung, daß sich die UNO unter dem Aspekt der Lösung dieses Problemes nicht zurückzieht. Die Geduld aber geht zu Ende. Unter dem Aspekt der beträchtlichen Kosten einer weiteren Präsenz in der Westsahara wird wohl auch in New York nicht anders entschieden. Wir sehen also mit großer Sorge, daß dieser Prozeß zu einem Stillstand kommt und gekommen ist. Die Wähleridentifizierung für das Referendum war ein entscheidender Grund für diese ungeheure Ausdehnung der Entwicklung. Ich kann nur darauf hinweisen, daß wir nachhaltig die neuen Ansätze des Generalsekretärs unterstützen, noch einmal zwischen den Konfliktparteien Gespräche zustande zu bringen, um einen neuen Anschub zu geben. Beide Seiten können einfach nicht wollen, daß die UN abzieht, weil dann mit Sicherheit für beide Teile die Destabilisierung viel, viel größer wäre, als wenn es nun endlich zu diesem Referendum käme, das wir wollen. Der Vorstoß des Sicherheitsrates vom 31. Januar - mit unserer Unterstützung übrigens -, das Mandat nur um vier Monate zu verlängern, hat deutlich gemacht, daß es jetzt an der Zeit ist, zu einer Entscheidung zu kommen. Dies kann sich nicht noch länger hinauszögern. Marokko muß meines Erachtens erkennen, daß sich die Öffentlichkeit natürlich fragt, weshalb ein möglicher Schritt nach vorne durch diese Registrierungsmethodik bisher verhindert worden ist. Für die Bundesregierung gibt es überhaupt keine Frage, daß wir die Politik des UN-Generalsekretärs auch weiterhin unterstützen. Nur - ich habe das schon bei meiner Rede zu Burundi gesagt -, die Vorstellung, wir könnten von uns aus über das hinaus, was die Vereinten Nationen tun, durch bilaterale Einflußnahme eine Veränderung dieses Prozesses herbeiführen, ist meiner Ansicht nach eine Vision, die der Wirklichkeit leider nicht entspricht. Wir müssen weiter darauf setzen, daß die UN das durchsetzt, was sie beschlossen hat. Wir werden dazu alles tun, auch als Sicherheitsratsmitglied. Vielen Dank. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur Verwirklichung des Westsahara-FriedensVizepräsident Hans-Ulrich Klose planes der Vereinten Nationen auf Drucksache 13/ 3702 ({0}). Wer stimmt für den Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen. Wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 1. März 1996, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. Gute Nacht.