Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/19/1996

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich möchte Sie bitten, stehenzubleiben, um unseres Kollegen Rainer Haungs zu gedenken. Gestern abend verstarb unerwartet und auf tragische Weise unser Kollege Rainer Haungs mitten in der parlamentarischen politischen Arbeit in Bonn., Er verließ uns von einer Stunde auf die andere. Rainer Haungs wurde am 7. September 1942 in Lahr im Schwarzwald geboren. Er besuchte das Gymnasium in seiner Heimatstadt, der er sich sehr verbunden fühlte. Nach seinem Abitur absolvierte er eine Lehre, nahm danach ein Studium der Wirtschaftswissenschaft in Freiburg auf, das er als Diplom-Volkswirt abschloß. Er war verwurzelt in Lahr, unternehmerisch, politisch, und - was das wichtigste ist - dort lebt seine Familie. Sowohl als mittelständischer Unternehmer als auch in der politischen Arbeit in anderen Ausschüssen brachte sich Rainer Haungs mit seinem Sachverstand nüchtern und sachlich ein. Bereits im Jahre 1975 schloß er sich der ChristlichDemokratischen Union an, für die er im gleichen Jahr in den Gemeinderat seiner Heimatstadt einrückte. 1983 gelang ihm als Direktkandidat des Wahlkreises Emmendingen-Lahr der Einzug in den Deutschen Bundestag. Als Mitglied der Bundestagsausschüsse für Verkehr und Petitionen, später dann des Wirtschaftsausschusses gelang es ihm, seine Vorstellungen in die parlamentarische Arbeit einzubringen. Rainer Haungs war ein Politiker, der mit Mut und Offenheit nach vorne blickte und die Fähigkeit hatte, andere für seine Sichtweisen zu gewinnen. Zum Bild seiner Persönlichkeit gehörte auch, daß er Kunst und Musik liebte. Als Förderer junger Künstler richtete sich sein Interesse vor allem auf die moderne Kunst. Wir gedenken seiner in Dankbarkeit und Anerkennung. Seiner Familie, seiner Frau, seinen beiden Töchtern, seiner Mutter, gilt unsere tiefempfundene Anteilnahme. Sie haben sich zu Ehren unseres verstorbenen Kollegen Rainer Haungs erhoben. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben 1996 - Drucksache 13/3061 - ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rudolf Dreßler, Klaus Kirschner, Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesundheitsstruktur-Konsolidierungsgesetzes - Drucksache 13/3039 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 13/3498 Berichterstattung: Abgeordnete Eva-Maria Kors Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Eva-Maria Kors.

Eva Maria Kors (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben. Die Notwendigkeit solcher Gesetze wird von keiner Seite bestritten. Das Defizit der Krankenkassen und die Ausgabenentwicklung im Krankenhaussektor sind hinlänglich bekannt. Wenn wir die Ausgabendynamik im Krankenhausbereich jetzt nicht wirksam begrenzen, stellt sich die Frage nach der Funktionsfähigkeit der gesamten gesetzlichen Krankenversicherung. Um dies nicht zu riskieren, ziehen wir die Notbremse und budgetieren die Krankenhausausgaben für ein weiteres Jahr, indem wir sie an die Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst anbinden. Leider scheint es, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß Sie unseren Weg nicht gehen wollen. Ihr eigener Entwurf sieht zwar ebenfalls eine Budgetierung der Krankenhausausgaben vor, zusätzlich möchten Sie aber die Deckelung für alle Bereiche festlegen und außerdem eine dauerhafte globale Budgetierung der Krankenhausausgaben einführen. Sie setzen damit für die Zukunft auf staatliche Reglementierung, obwohl sich in der Vergangenheit gezeigt hat, daß die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen durch obrigkeitliche Verordnungen nicht in den Griff zu bekommen ist. Deshalb setzen wir auf den Vorrang der Selbstverwaltung, der nach unserer Vorstellung auch im Krankenhausbereich ab 1997 Wirklichkeit werden soll; denn den tatsächlichen Finanzbedarf und die Möglichkeiten zur Ausnutzung von Wirtschaftlichkeitsreserven kann doch ein Politiker nicht besser beurteilen als die Partner der Selbstverwaltung. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch unser Gesetz wird die drohende Kostenlawine 1996 aufgehalten. Es sieht daher auch keine Ausnahmetatbestände vor, durch die die Budgetierung unterlaufen werden könnte. Dies bedeutet aber nicht, daß es durch das Krankenhausstabilisierungsgesetz zu einem Systembruch mit der Krankenhausplanung oder Pflege-Personalregelung kommen soll. Deshalb werden zusätzliche medizinische Kapazitäten, die bereits in der Krankenhausplanung der Länder für 1995 vorgesehen waren, im Budget 1996 berücksichtigt. Krankenhäuser oder Krankenhausabteilungen, die erst 1996 in Betrieb gehen, müssen also nicht um ihre Existenz fürchten. Aus der Bezugnahme auf die Krankenhausplanung in dem Gesetzentwurf folgt, daß der Sondertatbestand auch dann erfüllt sein kann, wenn der Krankenhausplan selbst nicht geändert wurde. Auf diese Weise tragen wir den unterschiedlichen Festlegungen in den Krankenhausplänen der verschiedenen Bundesländer Rechnung. Darüber hinaus ist mit der Krankenhausplanung selbstverständlich nicht nur der Krankenhausplan im Wortsinn gemeint, sonst hätten wir diesen Begriff ja auch gewählt. Die Krankenhausplanung kann auch durch die Investitionsförderung der Länder berührt werden, da diese in einem engen Zusammenhang mit dem Krankenhausplan steht. Ein weiterer Sondertatbestand besteht darin, daß die Folgekosten von Veränderungen des Leistungsangebots nach Maßgabe der Krankenhausplanung, die 1996 erstmals ganzjährig anfallen, zu einer entsprechenden Erhöhung des Budgets 1996 führen. Entsprechendes gilt natürlich auch und erst recht für das im Laufe des Jahres 1995 auf Grund der PflegePersonalregelung eingestellte Personal. Auch diese Stellen müssen 1996 ganzjährig finanziert werden. Diese Klarstellung, meine Damen und Herren, halte ich für wichtig, auch um Mißverständnissen vorzubeugen. Keine Krankenschwester und kein Krankenpfleger, der 1995 eingestellt wurde, muß befürchten, durch unser Gesetz den Arbeitsplatz zu verlieren. Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle auch einmal auf die zum Teil doch etwas maßlose Kritik der Krankenhäuser oder aus dem Krankenhausbereich an unserem Gesetzentwurf eingehen. Die Krankenhäuser konnten mit der Deckelung von 1993 bis 1995 ganz gut leben. Um zirka 18 Prozent steigerten sich die Mittel für die stationäre Versorgung in den neuen und um zirka 40 Prozent in den alten Bundesländern. Die Steigerungsrate lag damit deutlich höher als der Einnahmenzuwachs der GKV. Dieser erheblichen Steigerungsrate stehen sinkende Belegungstage gegenüber. Diese sind um zirka 8 bis 10 Prozent zurückgegangen. Fairerweise muß man dazu sagen, daß dieser Rückgang politisch gewollt war. Jetzt ist es unser erklärtes Ziel, die Wirtschaftlichkeitsreserven im Krankenhausbereich voll auszuschöpfen. Denn daß es immer noch zahlreiche ungenutzte wirtschaftliche Reserven gibt, ist unbestritten. Die Krankenhäuser sind auch gar nicht so einfallslos, wie man das angesichts manchen Lamentos meinen könnte. Zahlreiche innovative Klinikleitungen haben sich bereits auf die neue Situation eingestellt und zum Beispiel ihre Labors mit denen anderer Krankenhäuser zusammengelegt oder durch den zentralen Einkauf von Medikamenten Kosten gespart. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß dies möglich ist. In meinem Wahlkreis spart ein kleines Krankenhaus 100 000 DM jährlich ein, weil es sich mit preisgünstiger einkaufenden Partnern zusammengetan hat. Es gibt weitere Beispiele für Einsparpotentiale etwa durch Maßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Ich wundere mich etwas, daß ich hierzu bisher nichts von der Fraktion der Grünen gehört habe, sondern das erst im „Ärzteblatt" gelesen habe. Bei einem Pilotprojekt am Städtischen Krankenhaus in München-Neuperlach, bei der das komplette Krankenhaus einer Umweltbetriebsprüfung unterzogen wurde, kam man zu folgenden Ergebnissen: Bis zu 25 Prozent der Energiekosten im Krankenhaus können durch eine konsequente Modernisierung der Heizungssysteme eingespart werden. Das gleiche gilt für Lüftungsanlagen. In einem 1 200-Betten-Haus sind auf diese Weise ohne irgendwelche Kosten für Neuinvestitionen 160 000 DM eingespart worden. Zudem kann ein beträchtlicher Teil der Einwegartikel im Krankenhaus ersetzt oder ersatzlos gestrichen werden. Vieles andere ist noch möglich. Meine Damen und Herren, ich finde nicht, daß wir zu viel verlangen, wenn wir die Krankenhäuser auffordern, diese und andere Potentiale zu nutzen. ({1}) Ein modernes Krankenhausmanagement braucht unsere Gesetzesinitiative nicht zu fürchten. ({2}) Ein Niedergang der deutschen Krankenhauslandschaft steht uns nicht bevor. Dies gilt um so mehr, als ja gar keine Kürzungen vorgesehen sind. Die BAT- Anbindung bedeutet auch für 1996 einen Zuwachs, und zwar auf dem hohen Niveau, das die Krankenhausausgaben heute erreicht haben. Hinzu kommt, daß die Pflegeversicherung den Krankenhäusern ermöglicht, Pflegepatienten früher zu entlassen oder sie nicht aufzunehmen und damit Fehlbelegungen oder lange Verweildauern abzubauen. Meine Damen und Herren, sollte dieses Gesetz den Bundestag heute nicht passieren - ich gehe nicht davon aus -, so ist nicht nur mit Mehrausgaben in Milliardenhöhe zu rechnen, sondern für meine Begriffe auch damit, daß alle anderen politischen Reformüberlegungen, zum Beispiel im ambulanten Bereich, obsolet wären. ({3}) Ich möchte auf einen Punkt zurückkommen, den ich bereits anläßlich der ersten Lesung dieses Gesetzes angesprochen habe. Sie ahnen es; ich komme auf die Frage der Instandhaltungsinvestitionen der Krankenhäuser zu sprechen. Ich habe kein Verständnis dafür, daß die Bundesländer - mit Ausnahme Bayerns, lieber Herr Kollege Zöller - versuchen, sich hier aus ihrer Verantwortung zu stehlen. Bis 1993 haben sie den Erhaltungsaufwand bezahlt. Eine juristische Spitzfindigkeit hat dazu geführt, daß sie von dieser Verpflichtung befreit sind. Seitdem laufen 500 bis 600 Millionen DM Instandhaltungskosten auf, 500 bis 600 Millionen DM, die zusätzlich in den Länderkassen verbleiben. Ihnen von der SPD-Bundestagsfraktion - ich bedauere das sehr - fällt dazu nichts Besseres ein, als diese Kosten nun ohne Kompensation der Krankenversicherung zuzuweisen. ({4}) Daß zusätzliche Ausgaben in dieser Größenordnung beitragsrelevant sind, müßte eigentlich jedem klar sein. Ebenso klar ist, daß ein Zusammenhang zwischen Lohnnebenkosten und Arbeitsplätzen besteht. Die SPD-Bundestagsfraktion sollte deshalb selbstbewußt und mutig genug sein, hier einen anderen, von der Sache her notwendigen Standpunkt einzunehmen als die SPD-geführten Bundesländer. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie alle wissen: Wir wollten die Budgetierung für 1996 an sich nicht. Wir wollten auch im Krankenhausbereich der Selbstverwaltung den Vorrang einräumen, was aber schließlich an Sachzwängen gescheitert ist. Auf gar keinen Fall möchten wir über 1996 hinaus die Kreativität, den Sachverstand und die Selbstverantwortung der Betroffenen durch eine obrigkeitliche Deckelung unterdrücken. An dieser Stelle möchte ich Herrn Minister Seehofer einmal Dank dafür sagen, daß er sein Ziel, eine freiheitliche und selbstverantwortliche Gestaltung des deutschen Gesundheitswesens, konsequent und unermüdlich verfolgt. ({6}) Deshalb haben wir vor, ab 1997 durch die Einbeziehung des Krankenhausbereichs der Selbstverwaltung die Gesamtverantwortung für die Ausgaben der GKV einzuräumen. Dabei knüpfen wir an die mit dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeleitete Reform an. Die leistungsorientierte Vergütung im Krankenhaus und die strukturelle Entwicklung zu mehr Wirtschaftlichkeit bei Sicherung der Qualität läßt sich nur so erreichen. Vor diesem Hintergrund ist die notwendige Stabilisierung der Krankenhausausgaben für 1996 zu sehen. Das vorliegende Gesetz wird deshalb einen Beitrag dazu leisten, daß wir eine zukunftsorientierte Krankenhausfinanzierung in Deutschland bekommen, die sowohl den Belangen der Patienten als auch denen der Beitragszahler und der Leistungserbringer gerecht wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Martin Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der 1. Januar 1996 sollte ein ganz besonderer Termin, ein ganz besonderes Datum werden, ein Datum, das mit Symbolen behaftet war, und manche würden sagen, ein Datum, das in die Geschichte der Gesundheitspolitik eingehen sollte. Denn am 1. Januar sollte die Welt der Budgetierung, die die wirtschaftlich arbeitenden Krankenhäuser bestraft und die weniger wirtschaftlich arbeitenden belohnt, zu Ende gehen. Am 1. Januar sollte die neue Welt der Fallpauschalen und Sonderentgelte, die Leistung entlohnen sollen, eingeleitet und eingeläutet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Realität sieht doch ganz anders aus: statt Strukturgestaltung mehr Kostendämpfung! Statt Stetigkeit und Selbststeuerung eine Gesetzgebungsflut von seiten der Regierungskoalition! Und statt Überschaubarkeit ein betriebswirtschaftliches Chaos! Das, Herr Bundesminister, haben vor allem Sie zu verantworten. ({0}) Die Tatsachen sprechen eigentlich für sich. Es gibt kein Krankenhaus in Deutschland, das heute, am 19. Januar - nicht nur am 1. Januar -, ein wirklich abgestimmtes, angepaßtes, prospektives Budget hätte ({1}) - nein, kein einziges -, auf dessen Grundlage es verbindlich planen könnte. Es gelten nur die Fortschreibungen der Vergangenheit, aber nicht die prospektiven Budgets unter neuen Bedingungen. Das ist das erste, was ich anmahnen muß, Herr Bundesminister. Zum zweiten. In mehr als zwei Dritteln aller Länder wissen die Krankenhäuser heute noch immer nicht, welche Punktwerte sie für die Fallpauschalen und für die Sonderentgelte bekommen werden. Auch das liegt im hohen Maße in Ihrer Verantwortung. Wenn ich die „Hohe Schule der gesundheitspolitischen Kunst" des Herrn Bundesministers charakterisieren darf, dann sage ich: Handwerklich mangelhaft! Politisch unverantwortlich! Und für die Krankenhäuser nicht tragbar! Das ist die Situation bei der heutigen Beratung. ({2}) Die Folgen für das Gesundheitswesen insgesamt gehen leider aber über den Krankenhausbereich hinaus; denn wenn die Steuerung im Krankenhausbereich versagt, dann wird dies auf alle anderen Bereiche ausstrahlen. Das heutige Gesetz, aber auch die anderen Gesetzeswerke, die sich in der Planung befinden, lassen nicht erkennen, daß Sie das alte Denken in Sektoren wirklich verlassen hätten. ({3}) Sie fordern Veränderungen für den Krankenhausbereich; Sie fordern Veränderungen für den ambulanten Bereich - aber Sie vernachlässigenden die Tatsache, daß das Kernstück der nächsten Reformstufe in sektorübergreifenden Konzepten bestehen muß: Die Frage, was für eine Patientin bzw. für einen Patienten die richtige Behandlung ist, unabhängig von dem Sektor, diese zentrale Frage lassen Sie unbeantwortet. Eine solche sektorübergreifende Gesamtverantwortung lassen Sie in Ihren Konzepten nicht erkennen. ({4}) Das trifft für dieses Gesetz zu. Es trifft übrigens auch für das andere Gesetz zu, das wir in wenigen Wochen beraten werden. Da werden sich viele Menschen zu Recht fragen: War das alles? War das das berühmte Gesundheitsstrukturgesetz im Krankenhausbereich? War das der Fortschritt, den wir mühsam erkämpfen wollten? Waren diese Reformen wirklich nötig? Beginnen wir doch mit der Ausgangslage. Es gibt keinen Zweifel, daß das Krankenhaus in Deutschland eine ganz wichtige, eine zentrale Funktion wahrzunehmen hat - als Auffangbecken für viele ungelöste Probleme unserer Gesellschaft. Es gibt auch keine Zweifel, daß dies auf sehr wirtschaftliche Art mit einem sehr hohen technischen Standard und mit einer sehr hohen Produktivität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschieht. Im übrigen sind wir im internationalen Vergleich hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs, also der Krankenhausausgaben pro Kopf oder des Anteils der Krankenhausausgaben am Volkseinkommen, im Mittelfeld plaziert. Das können also nicht die Gründe für die Reform gewesen sein. Nein, es gab Gründe für Reformen, und es gibt sie weiterhin. Nur sagt das heutige Gesetz der Regierungskoalition leider sehr wenig darüber aus. Der erste Grund: die mangelnde Transparenz im Leistungsgeschehen. Kein Sektor - das Krankenhaus ist neben anderen Dingen auch ein Wirtschaftssektor - könnte überleben, wenn nicht bekannt wäre, wie die Fixkosten und die variablen Kosten sind: Für das Krankenhaus heißt das, was die Kosten einer Operation sind und was speziell die Hüftoperation von Frau Meier gekostet hat. Deshalb brauchen wir mehr Transparenz, richtig! Der zweite Grund: Fehlsteuernde Anreize der tagesgleichen Pflegesätze führen zu Verweildauern, die im internationalen Vergleich zu lang sind, Auch richtig! Der dritte Grund: Die mangelnde Verzahnung zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich ist ein ganz großes Problem spezifisch für unser System. Auch das sollte angegangen werden; darüber hinaus die ungebührlich langen Verweildauern. Noch ein wichtiger Punkt für das heutige Gesetz: Im internationalen Vergleich, liebe Kolleginnen und Kollegen, lagen wir in Deutschland über Jahrzehnte mit bei den Schlußlichtern, wenn es um das Verhältnis von Pflegepersonen zu anderen im Krankenhaus Tätigen ging. Dies zu beseitigen war eine der Zielsetzungen der Pflege-Personalregelung, die Sie heute aussetzen wollen. Nun fragt man sich natürlich: Warum denn diese kritische Haltung, wenn doch auch die SPD ein Konsolidierungsgesetz, ein Stabilisierungsgesetz für dieses Jahr vorsieht? Ich möchte das kurz begründen. Es war geplant, daß die Budgetierungsphase auslaufen sollte. Und ich sagte schon: Die Budgetierung bestraft natürlich all diejenigen, die sich wirtschaftlich verhalten, und belohnt diejenigen, die dies nicht tun, weil für die letzteren auf einem höheren Sockel die Fortschreibung erfolgt. Dies war gerade nur deshalb übergangsweise akzeptabel, weil am 1. Januar 1996 die Fallpauschalen und die Sonderentgelte als leistungsgerechte Finanzierung eingeführt werden sollten. Nun wissen wir - da kommt der Sündenfall, Herr Bundesminister -, daß die Bundespflegesatzverordnung 1995 den Kriterien, die uns und allen, die sich für Fallpauschalen und Sonderentgelte aussprechen, in Lahnstein vorschwebten, nicht gerecht wird. Sie geht von Ist-Kosten aus; es werden also die verzerrten Strukturen der Vergangenheit fortgeschrieben. Zum zweiten war die Auswahl der Fälle nicht repräsentativ. Drittens gehen Sie von falschen Verweildauern aus, so daß die steuernde Wirkung der Pflegesatzverordnung nicht im erhofften Umfang eintreten wird, da die Fallpauschalen und Sonderentgelte eher noch kostensteigernd wirken werden. Nur 25 Prozent des Leistungsgeschehens werden nach den letzten Informationen, die mir vorliegen, über Fallpauschalen abgedeckt, weitere 5 Prozent über Sonderentgelte. ({5}) Wo bleibt die leistungsgerechte Honorierung im Januar 1996? Es ergibt doch nur einen Sinn, wenn 70, 80 Prozent und nicht 25, 30 Prozent über Fallpauschalen abgegolten werden! Für diese Umsetzung haben Sie, Herr Minister, die Verantwortung zu tragen. In einer Situation, in der ein Restbudget besteht, gibt es starke Anreize, Kosten von den Sonderentgelten zu den Fallpauschalen zu verschieben. Die Wirkung ist klar: Die Verweildauer wird verkürzt, die Fallzahlen werden steigen, und der Trend zur Spezialisierung wird fortgeführt werden. Die Pflegesatzverordnung enthält kein Instrument der Mengensteuerung, kein ausreichendes Instrument zur Qualitätssicherung. Krankenhausvergleiche, die früher eher möglich waren, werden erst im Jahr 1998 möglich sein. Das heißt, die Bundespflegesatzverordnung hat die Möglichkeit, aus dem Leistungsgeschehen zu lernen, sogar verschlechtert! Ich wäre ja nicht so kritisch, wenn man wenigstens eine Mechanik hätte, um aus dem Leistungsgeschehen zu lernen und die Fallpauschalen anzupassen. Nichts dergleichen! Wenn ich das zusammenfasse, dann sage ich, daß die Sofortbremsung, die Sie hier vorsehen, eigentlich weiterhin diejenigen bestraft, die in ihrem Bemühen, dieses Gesetz umzusetzen, rationalisiert haben, ({6}) und die Unwirtschaftlichen belohnt. Ähnliche Wirkungen bei der Pflege-Personalregelung: Diejenigen Krankenhäuser, die bereits ihren Personalbestand aufgestockt haben, können damit recht gut leben. Wie sieht es aber mit den Krankenhäusern aus, die von dieser Regelung sparsam und sorgfältig Gebrauch machen? Sie werden auch in Zukunft Probleme haben. Deshalb diskutieren wir in unseren Reihen - die Diskussion geht noch weiter, auch über die heutige Entscheidung über unseren Gesetzentwurf hinaus - intelligente und flexible Formen der sektoralen Budgetierung, beispielsweise ein System, bei dem die Krankenhäuser, die wirtschaftlich gearbeitet haben, Zuschläge bekommen, und die Krankenhäuser, die unwirtschaftlich waren, nicht noch für diesen höheren Sockel belohnt werden. ({7}) Das ist ein Ansatz, der eigentlich die Gesamtausgabenhöhe nicht erhöht. Zum zweiten: Ist es denn wirklich so problematisch, die Pflege-Personalregelung einfach um ein weiteres Jahr zu strecken? Was würde es denn beitragssatzmäßig bedeuten? Ich habe es einmal - „Pi mal Daumen" - umgerechnet. Es würde bedeuten, daß für die cirka 3 000 Stellen, die im Jahr 1996 zusätzlich geschaffen werden könnten, ein Beitragssatzeffekt von etwas mehr als einem Zehntel eines Beitragssatzpunktes anfallen würde. Herr Minister, wenn ich mich erinnere, mit welcher großartigen Nonchalance Sie den Ärzten noch vor einigen Wochen - vor Weihnachten wohlgemerkt -850 Millionen DM zugedacht haben, dann frage ich mich: Ist es nicht angemessen, daß den Frauen und Männern, die im Krankenhaus wirklich schweren Dienst leisten, eine weitere Anerkennung, eine weitere Unterstützung zukommt? ({8}) Herr Bundesminister, ich hatte Anfang letzten Jahres gesagt: Wenn Sie so weitermachen, sehen wir uns nicht in Lahnstein, sondern in Philippi wieder. Ich habe vor zwei Tagen gehört, daß der Redakteur einer bekannten Wochenzeitschrift, nachdem diese meine Prognosen über die Beitragssatzentwicklung im letzten Jahr abgedruckt hatte, mit Ihnen eine Wette „um eine Flasche edlen Whiskys" eingegangen ist, die Sie mittlerweile verloren haben, Herr Bundesminister. Ich befürchte nur, daß Sie mehr verlieren werden, daß wir alle sehr viel mehr verlieren werden, wenn wir dies nicht ernst nehmen. Deshalb sage ich, Herr Bundesminister: Ihr Philippi ist viel näher, als Sie meinen. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die bevorstehende Dramatik haben Sie, wenn ich es richtig gelesen habe, Herr Seehofer, mit den Worten „Die dritte Stufe Gesundheitsstruktur wird schmerzhaft werden" angekündigt. Es mag ja sein, daß Sie deshalb die SPD irgendwie zur Mitverantwortung einladen. Ich denke, uns gereicht es eher zur Ehre, keine solche Offerte erhalten zu haben. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu betreiben - um auf diesen Sachverhalt jetzt ernsthaft zu kommen -, halte ich für ein gefährliches Unterfangen. Es muß hier hervorgehoben werden, daß die Leistungsansprüche der Versicherten aus ihren eigenfinanzierten Kassen mit steuerfinanzierten Wohlfahrtsleistungen des Staates nichts gemein haben. Diese undifferenzierte Beitragsstabilitätsund Lohnnebenkostendiskussion im Gesundheitswesen will im Grunde genommen die Destruktion des Sozialstaates mit pseudoökonomischen Argumenten ausstatten. Das ist mein Eindruck, wenn ich Ihre Pressemeldungen lese. Gestern abend bekräftigte die versammelte Ärzteschaft Deutschlands, daß die gesetzliche Krankenversicherung eigentlich gesund ist, wären da nicht die durch die Politik verursachten Kostenverschiebungen in die Krankenkassen, die eigentlich zu großen Teilen der Staat leisten müßte. Herr Pfaff, ich danke Ihnen, daß Sie die Gelegenheit ergriffen haben, viel über die ökonomischen Zusammenhänge zu sagen. Die kurze Zeit reicht uns Rednerinnen und Rednern meist nicht aus, um darauf einzugehen. ({0}) Aber es geht doch hier um die Frage, wie der hochentwickelte Dienstleistungssektor Gesundheitswesen am Sozialstandort Deutschland künftig ausgestaltet sein muß, damit er den gleichen Zugang und die allgemein gleiche Versorgungsqualität gewährleisten kann, unabhängig davon, wo die Menschen versichert sind. Das Gesundheitswesen muß man vor marktwirtschaftlichen Vernutzungen schützen und die öffentlichen Krankenhäuser vor einer systematischen Auszehrung bewahren. ({1}) Zum vorliegenden Gesetzentwurf sagt der Marburger Bund, es sei die Tyrannei des Status quo. Ich meine, selbst der Status quo wäre dahin, wenn dieser Entwurf Gesetz würde. In deutschen Krankenhäusern herrscht Chaos. Darüber brauchen wir gar nicht mehr zu streiten; das ist eine Realität. Seit Januar gelten die angeblich leistungsorientierten neuen Entgeltsysteme. Ohnehin lassen sich die klinischen Leistungen mit rein betriebswirtschaftlichen Maßstäben nicht messen. Jetzt setzen Sie mittels Budgetierung Ihre eigene Logik außer Kraft. Dennoch wird dadurch nichts besser. Das sage ich gerade auch in Richtung SPD, die da einige Reformierungsvorschlägchen macht. Vielmehr ist es ein untrügliches Zeichen dafür, daß Sie, meine Damen und Herren, das öffentliche Krankenhaus politisch eigentlich aufgegeben haben. Wenn Sie Ihre Gesetze für den ambulanten Bereich vorlegen, wenn die Konkurrenz der Praxiskliniken durchbricht, wird der Einstieg in die allgemeine Unübersichtlichkeit und Steuerungslosigkeit, der Sie das allgemeine Gesundheitssystem aussetzen wollen, offenkundig werden. ({2}) Manchmal mag es notwendig sein, im Falschen nach dem Richtigen zu suchen. Aber es gibt nichts schönzubessern; die einseitige Budgetierung ist strukturell vollkommen falsch. Die anhaltende Kostenschraube der Budgetierung würgt Reformen ab; davon bin ich überzeugt. Die Pflege-Personalregelung von Lahnstein war gewollt. Jetzt, wo es vielen Häusern besser geht, die Krankenschwestern erträgliche, gute Arbeitsbedingungen vorfinden können, wird das als Kostenfaktor gebrandmarkt. ({3}) Die Arbeitsdichte hat zugenommen, das ist völlig unstrittig. Auch für die laut ÖTV notwendigen 6 000 Stellen soll jetzt kein Geld mehr da sein. Das Arbeitszeitgesetz ist rechtsgültig. „Bündnis für Arbeit" - ganz konkret, aber es ist kein Geld vorhanden. Ein hochqualifizierter Wirtschaftssektor mit 100 Milliarden DM Jahresumsatz und 1 Million Beschäftigten wird jetzt für die Lohnnebenkostensteigerung verantwortlich gemacht. Was ich nicht verstehe, ist, warum man die Tarifverhandlungen der ÖTV und anderer Gewerkschaften und den BAT in die Verantwortung für die Beitragssatzstabilität einbezieht. Ich kann mir einfach nicht erklären, was der Umfang und die Zahl medizinischer und pflegerischer Behandlungserfordernisse im Krankenhaus, der demographische Wandel usw. mit den Tarifverhandlungen und ihren Ergebnissen zu tun hat. Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf? Die Krankenhäuser brauchen eine stabile Voraussetzung für Entwicklung. Deshalb fürchten sie dieses Gesetz. Stabilität erhalten sie zum Beispiel durch ihre Umwandlung in ganzheitliche Gesundheitszentren. Sie müssen im ambulanten spezialärztlichen Versorgungsauftrag enthalten sein. Das geht nicht ohne eine integrierte Reform in beiden Sektoren. Der gesplittete Sicherstellungsauftrag muß in die Hände eines regionalen Gesundheitsrates kommen. Nur so lassen sich Versorgungsbedarfe wirklich ermitteln und sinnvoll steuern, und nur so bekommen die Krankenkassen auch eine planerische Kompetenz, gegen die wir überhaupt nichts haben. Sie konzeptionell einzubinden ist wirklich vernünftig. In den Krankenhäusern selber ruhen enorme wirtschaftliche Potentiale. Aber wenn man modernisieren will, muß man, denke ich, zuallererst die antiquierten Chefarztprivilegien abbauen und zu einem interdisziplinären Klinikaufbau kommen. ({4}) Überhaupt haben Sie eine für mich äußerst merkwürdige Einstellung, was modernes Management im Krankenhaus angeht. Qualitätsmanagement, Qualitätskontrolle schließt das Öko-Audit ein, ({5}) muß aber auf jeden Fall zu mehr Arbeitszufriedenheit für die Beschäftigten und zu einer höheren Transparenz und Sicherheit der Patienten im Krankenhaus führen. In den Krankenhäusern liegen wertvolle Potentiale verborgen. Wenn Sie integrierte Reformkonzepte hätten, würden sie wach werden. Was Sie hier vorlegen, führt dazu, daß diese wertvollen Schätze nicht gehoben, sondern zugeschüttet werden. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst darf ich von dieser Stelle meinen beiden Kollegen Dieter Thomae und Jürgen Möllemann gute Besserung wünschen. Die Tatsache, daß sie im Bett liegen, zeigt, daß Krankheiten auch vor Gesundheitspolitikern keinen Halt machen. Es ist wahrscheinlich für alle sehr erfreulich, daß es dabei keine Privilegien gibt. Frau Knoche, Sie haben, wie ich finde, hier gerade eine sehr interessante Formulierung benutzt, nämlich die, daß man das Gesundheitswesen vor der Marktwirtschaft schützen muß. Ich finde das sehr stark. Insbesondere habe ich mir überlegt, zu was ein planwirtschaftliches System, das in den neuen Bundesländern gerade völlig reformiert wird, führt. Am Ende Ihrer Rede haben Sie allerdings von Transparenz usw. gesprochen. Wenn ich das alles richtig verstanden habe, hatte das eine Menge mit Marktwirtschaft zu tun. Sie sollten einmal überlegen, was Sie unter Marktwirtschaft verstehen und was Marktwirtschaft bedeutet. Betriebswirtschaft ist sicherlich nicht alles. Aber wenn Sie daraus folgern, daß man Betriebswirtschaftlichkeit in das System eigentlich gar nicht einziehen lassen könnte, dann, glaube ich, sind Sie auf dem Holzweg. Davor, daß Sie diesen Weg beschreiten können, müssen wir Sie bewahren. Deswegen werden wir einen anderen Weg gehen. Die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung gibt uns sicher keinen Anlaß zu der Hoffnung, daß sich der Trend zu den hohen Defiziten in 1996 ohne gesetzgeberische Maßnahmen umkehren würde. Für die Entscheidung, wie diese Maßnahmen aussehen sollen, ist ein Blick auf die Ursachen der defizitären Entwicklung wichtig und interessant. Die bisher aufgelaufenen Defizite lassen sich fast vollständig durch zwei Faktoren erklären: erstens aus dem vom Gesetzgeber mit dem Rentenreformgesetz in Gang gesetzten Verschiebebahnhof zwischen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung auf der einen Seite und der Krankenversicherung auf der anderen Seite und zweitens aus der Ausgabenentwicklung im Krankenhausbereich, die mehr als doppelt so hoch liegt wie die Entwicklung der Löhne und Gehälter. Allein aus dem Krankenhausbereich wären für dieses Jahr Beitragssteigerungen in der Krankenversicherung in Höhe von 0,6 bis 0,8 Prozent zu erwarten. Dies ist, wenn man die Belastung der Arbeitskosten insgesamt anschaut, so wirklich nicht mehr hinnehmbar, weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber und schon gar nicht für die Arbeitslosen, die auf einen Job warten. ({0}) Sie wissen, meine Damen und Herren, daß wir Liberalen einer Ausgabendeckelung äußerst skeptisch gegenüberstehen, weil wir nicht der Auffassung sind, daß sich hierdurch mittelfristig ein vernünftiges gesundheitspolitisches Konzept realisieren läßt. Wir haben gerade im Krankenhausbereich immer darauf gesetzt, die marktwirtschaftlichen Mechanismen zu stärken und hierdurch zur Freisetzung von Rationalisierungsreserven zu kommen. Aber niemand weiß zum jetzigen Zeitpunkt hundertprozentig, wie sich das neue System auswirken wird. Wir haben zudem das nicht zu unterschätzende Problem, daß wirksame Mengen- und Preissteuerungselemente durch den Bundesrat bei der Umsetzung des neuen Systems in der Bundespflegesatzverordnung verwässert bzw. völlig konterkariert worden sind. Dies zu ändern und endlich zu ökonomisch sinnvollen Anreizsystemen zu kommen, das ist unser Ziel. Wir wissen aber auch, daß dieses Ziel nicht kurzfristig zu erreichen ist, weil die Verhandlungen mit den Bundesländern hierüber geraume Zeit und sicherlich noch sehr viel Energie in Anspruch nehmen werden. Wir haben deshalb zusätzlich zu dem Verfahren, das ab 1997 gelten soll, das heute zu beratende Krankenhausausgabenstabilisierungsgesetz für dieses Jahr eingebracht. Ich gebe gerne zu, daß die Sofortdeckelung nicht unsere Erfindung ist. Aber wir haben ihr zugestimmt, und wir werden aus den Gründen, die ich genannt habe, dazu stehen. Natürlich ist uns klar, daß es insbesondere für die Krankenhäuser schwierig ist, die bereits im vorausgegangenen Jahr auf das neue System umgestellt haben und die dementsprechend aus der Deckelung gefallen sind. Aber ich hoffe, daß sich diese nochmalige Übergangsphase von einem Jahr insoweit lohnen wird, als nunmehr vielleicht auch die Bundesländer erkannt haben, daß es im Krankenhausbereich so wie bisher nicht weitergehen kann. Wie sehr sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat, sieht man ja an den Bayern, die, getrieben durch die Beitragsentwicklung, in der Verhandlungskommission massiv die Forderung unterstützt haben, im Krankenhausbereich mit einer rigiden Deckelung jetzt sofort etwas für das Jahr 1996 zu tun. Wir gehen natürlich davon aus, daß sich diese Haltung auch bei der Entscheidung im Bundesrat widerspiegeln wird. Meine Damen und Herren, mit der Anhebung des Budgets um die BAT-Steigerungsrate ist sichergestellt, daß auf jeden Fall schon einmal die Personalkostensteigerungen hieraus finanziert werden können. In bezug auf die Sachkosten ist bei der jetzigen Inflationsrate auch davon auszugehen, daß die Steigerungen nicht über der BAT-Entwicklung liegen werden. Damit bleibt das Problem, wie in den Fällen zu verfahren ist, in denen bestimmte Maßnahmen erst im Laufe des Vorjahres eingeführt worden sind, so daß die entsprechenden Kosten nicht für die gesamten zwölf Monate angefallen sind. Wir haben dafür gesorgt, daß diese Krankenhäuser nicht benachteiligt werden. Berücksichtigt werden auch die Folgekosten einer Erweiterung medizinischer Kapazitäten, die 1996 auf Grund der Krankenhausplanung erstmals anfallen. Meine Damen und Herren, wenn wir den Krankenhausbereich nicht in den Griff bekommen, dann werden wir im Jahr 1996 wiederum mit einem erheblichen Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung bzw. mit stark steigenden Beitragssätzen zu rechnen haben. Ich hoffe deshalb sehr, daß Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sich dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung ebensowenig verschließen werden wie die Länder, zumal es vom Grundsatz her in der Sache kaum einen Dissens gibt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Kollegin Ruth Fuchs.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die zur Debatte stehenden Gesetzentwürfe der Koalitionsparteien bzw. der SPD- Fraktion zielen in ihrem Kern - wenn auch auf deutlich unterschiedliche Weise - auf eine Verlängerung der Budgetierung der Krankenhausausgaben für 1996. Die Notwendigkeit fortgesetzter Budgetierung, die in der gegebenen Situation überhaupt nicht verkannt werden kann, kommt aber zunächst einmal einem Offenbarungseid der Gesundheitspolitik von Regierung und Koalition gleich. Das für 1995 zu erwartende Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung liegt mit fast 10 Milliarden DM wieder in der Größenordnung von 1992, und bereits jetzt sehen sich die Krankenkassen zu Beitragserhöhungen auf breiter Front gezwungen. Dabei weiß man, daß sie das in keinem Fall leichtfertig tun, verringert das doch unter den Bedingungen der freien Kassenwahl ihre Attraktivität in entscheidendem Maße. Ein Sündenbock für die eingetretene Misere wurde allerdings schnell gefunden. Schuld sind die verantwortungslosen und mittelverschwendenden Krankenhäuser. Obwohl auch Minister Seehofer fairerweise die Verantwortung der Politik stets mitbenannt hat, ist davon in der Öffentlichkeit nur wenig angekommen. Aber auch wenn eingeräumt wird, daß sich ein beträchtlicher Teil des aktuellen Defizits aus gesetzlich verordneten Mindereinnahmen der Krankenversicherung und anderen Regelungen ergibt, also von der Politik hausgemacht ist, so bleiben die wesentlichsten Ursachen doch ausgeblendet. Sie liegen bekanntlich darin, daß auch mit dem Gesundheitsstrukturgesetz die entscheidenden kostentreibenden Sprengsätze im Gesundheitswesen nicht entschärft wurden. Ich nenne nur Einzelleistungsvergütung und enorme medizinisch nicht begründete Mengenausweitung, fehlende Zusammenarbeit der Akteure im Gesundheitswesen und die noch immer zunehmende Zahl von Doppel- und Mehrfachleistungen sowie unwirtschaftliche Betriebsformen und ähnliche grundlegende Fehlsteuerungen und Strukturmängel. ({0}) Meine Damen und Herren, die heutige Situation in der GKV ist keineswegs über Nacht hereingebrochen. Von daher gewinnt die Tätigkeit der Koalition im Jahre 1995 ihre eigentliche Brisanz. Sie erschöpfte sich bekanntlich in einer Abfolge überwiegend kontraproduktiver Minigesetze und in mehr oder weniger medienwirksamen Vorbereitungen der dritten Stufe der Gesundheitsreform. Das Thema Beitragsstabilität wurde leider verfehlt. Würde die Budgetierung für das Jahr 1996 nicht fortgesetzt - darüber sind sich alle im klaren -, liefen die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung endgültig aus dem Ruder. Die Folgen für die Versicherten, aber auch für die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes wären unabsehbar. Das ist die wirkliche gesundheitspolitische Bilanz dieser zerstrittenen Koalition seit Beginn der Legislaturperiode. Aber wenn schon budgetiert werden muß, dann meinen wir allerdings auch, daß dies nicht allein für die Krankenhäuser, sondern so wie bisher für alle wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens gelten muß. Das Aussetzen der Pflege-Personalregelung halten wir für einen empörenden Umgang mit diesem vielleicht sensibelsten Bereich des Krankenhauses. Natürlich muß im Gefolge von Budgetierung gespart werden. Aber gerade im Pflegesektor besteht noch immer ein erheblicher Nachholbedarf. Dabei handelt es sich hier um weniger als ein halbes Prozent der Gesamtausgaben der Krankenhäuser. Jeder weiß, daß die Krankenhäuser durchaus an anderen Stellen sparen können. Was die Instandhaltungskosten und generell die Investitionskosten betrifft, so plädieren wir erneut für die Beibehaltung einer dualen Finanzierung, natürlich verbunden mit dem notwendigen Mitspracherecht der Krankenkassen. Mit all dem hier Gesagten möchte ich zur Kenntnis geben, daß wir beiden Gesetzesvorlagen nicht zustimmen werden. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Ulf Fink, CDU/CSU.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einiges an Nörgeleien an den Koalitionsplänen gehört, ohne daß wirklich eine grundsätzliche Alternative vorgestellt worden ist. In Wirklichkeit sind die Pläne der Koalition, die Pläne der Bundesregierung von denjenigen, die das aus einer unabhängigen Position beurteilen können, ausgesprochen positiv bewertet worden. Ich darf nur einmal die Presseinformation des AOK-Bundesverbandes zu Rate ziehen. ({0}) Dort heißt es unter der Überschrift „AOK begrüßt Koalitionspläne zur Krankenhausreform" wörtlich: Als dringend notwendigen Beitrag zu mehr Wirtschaftlichkeit im Krankenhaus hat Dr. Hans Jürgen Ahrens, Geschäftsführer des AOK-Bundesverbandes, die von Minister Seehofer vorgestellten Koalitionspläne zur Fortführung der Krankenhausreform begrüßt. ({1}) Das ist die Wertung von unabhängigen Sachverständigen. Ich denke, der könnten Sie sich anschließen, zumal, lieber Herr Pfaff Sie wissen, daß ich Ihre Sachbeiträge schätze, aber heute war doch der eine oder andere falsche Zungenschlag dabei -, der der SPD angehörende Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz in einem Interview der „Wirtschaftswoche" die Vorstellungen, die Herr Seehofer dazu entwickelt hat, ausdrücklich begrüßt hat. Er hat hinzugefügt: Wir sind zu Gesprächen bereit. - So sieht es in Wahrheit aus! ({2}) Dann wollen wir uns vielleicht doch einmal mit den kleineren Abweichungen in den Gesetzentwürfen zur Krankenhausreform, die die SPD vorgelegt hat, näher beschäftigen. Denn in Wirklichkeit, Herr Pfaff, sind Sie da eingeknickt, und zwar gegenüber dem einen oder anderen Interesse Ihrer Länder, was die Krankenhauspolitik insgesamt angeht. Zu diesem Punkt gab es ein Hearing des Gesundheitsausschusses. Dort habe ich den Vorsitzenden des Vorstandes des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen, Herrn Rebscher, einmal gefragt, wie er denn nun die Pläne der SPD bewertet, ob sie nun wirklich zu mehr Kostendämpfung oder aber zu mehr Kosten beitragen. Ich will nun einmal wiederholen, was Herr Rebscher dazu gesagt hat - denn der kann das wirklich beurteilen -: Ihre Pläne bedeuten - ich komme gleich auf das Thema Instandhaltung -, weil sie eine Preisbudgetierung und keine wirkliche Budgetierung beinhalten, ein Kostenrisiko von 1,5 bis 1,8 Milliarden DM. - Wenn wir also Ihre Pläne verwirklichen würden, würde das für die Krankenkassen im Krankenhaussektor zusätzliche Risiken in Höhe von 1,5 bis 1,8 Milliarden DM bedeuten. Noch nicht berücksichtigt ist dabei, daß Sie die Instandhaltungskosten den Krankenkassen auflasten wollen. Er bewertet auch dieses Risiko: Unter diesen Prämissen ergibt sich aus einem finanziellen Vergleich, daß für die Krankenkassen ein zusätzliches Risiko in Höhe von 3 Milliarden DM entsteht. Lieber Martin Pfaff, wenn man sich das einmal vor Augen führt, dann versteht man sehr wohl, daß Sie gesagt haben: Wir überlegen, über die vorhandenen Gesetzentwürfe noch neue, intelligente Formen in die Gesetzgebung einzubringen. Aber die Wahrheit ist: Sie reden auf der einen Seite von Kostendämpfung, wollen aber den Krankenkassen zusätzliche Kosten in Milliardenhöhe auflasten. Ich finde, das kann doch nicht richtig sein. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte, Herr Kollege Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fink, ist es richtig, daß sich Herr Rebscher bei dieser Anhörung auf einen ganz konkreten Punkt bezogen hat, nämlich auf die Tatsache, daß bei der Budgetierungsfortschreibung, die ja auch im SPD-Entwurf enthalten ist, die Fallpauschalen und Sonderentgelte eben nicht in dem Gesamtdeckel enthalten sind? Er meint, dies würde eine Mengendynamik entwickeln. Mit anderen Worten: Wir setzen genau hier Vertrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit von preisähnlichen Instrumenten - von Fallpauschalen und Sonderentgelten - und müssen Ihnen vorwerfen, daß Sie diejenigen sind, die die staatliche Bürokratie auf die Spitze treiben. Sie trauen Ihren eigenen Instrumenten nicht. ({0}) Stimmt das, oder stimmt das nicht?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihre grundsätzliche Alternative, die das Präsidium der SPD gegenüber den Vorstellungen der Union entwickelt hat, besteht doch darin, sämtliche Bereiche budgetieren zu wollen. ({0}) Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen. Zum Thema Gesamtbudgetierung noch folgendes: Wir wollen nur das budgetieren, was budgetiert werden muß. Das ist doch viel richtiger. In den Bereichen, in denen sich Ärzte und Krankenkassen auf eine freiwillige, sogar anderthalbjährige, Budgetierung eingelassen haben, wollen wir eben nicht zwangsweise budgetieren. Sie müssen in Ihrer eigenen Partei endlich einmal klären, was Sie nun wirklich wollen. ({1}) Ich komme zu einem zweiten Punkt. Aus einer ganz anderen Richtung wird gesagt: Jetzt kommt diese ganze Kostendämpfung im Krankenhauswesen; jetzt können wir schon wieder erwarten, daß Wartelisten aufgestellt werden müssen und notwendige Operationen nicht mehr vorgenommen werden können. Auch so etwas haben wir gehört, zum Beispiel von Herrn Montgomery, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Dazu will ich ein ganz klares Wort sagen. Die Krankenhäuser haben, global gesehen, im Jahr 1993 kein Defizit gemacht, sondern sogar einen Überschuß von 4 Milliarden DM erzielt und in 1994 sogar einen Überschuß von über 5 Milliarden DM. Wir sagen: Wir wollen in Zukunft eine maßvolle Kostenentwicklung und keine Steigerung über die des BAT hinaus haben. Wer in dem Zusammenhang von unmöglichen Einschränkungen und dergleichen mehr spricht, der ist nun wirklich unglaubwürdig. Das kann überhaupt nicht sein. Ich finde, das ist etwas, was man auch als gesundheitspolitisch Verantwortlicher wirklich sagen kann. Die Vorstellungen, die die Bundesregierung und die Koalition entwickelt haben, sind auf der einen Seite unerhört sachgerecht. Sie dienen der Erhaltung eines freiheitlich organisierten Gesundheitswesens. Auf der anderen Seite zeigen sie aber auch die finanzielle Verantwortung, die wir gegenüber den Menschen, die nach Arbeit suchen, in jedem Falle an den Tag legen müssen. ({2}) Herzlichen Dank. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Fink, gestatten Sie - - Zu spät. Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn, SPD.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die SPD-Fraktion will die Stabilität der Krankenkassenbeiträge. ({0}) - Richtig. - Es ist deshalb keine Frage, daß gespart werden muß. Es ist aber sehr wohl eine Frage, wo und wie gespart werden soll. ({1}) CDU/CSU und F.D.P. offenbaren mit dem, was sie hier heute vorlegen, eindeutig, daß sie überhaupt nicht in der Lage sind, ein Gesamtpaket, das dringend erforderlich wäre, auf den Weg zu bringen. Für diese Salamitaktik der Koalition gibt es zwar keine guten Gründe, aber sehr eindeutige Erklärungen. Wenn diese Taktik nämlich aufginge, den von der Zustimmung des Bundesrates abhängigen Krankenhausbereich vorab zu regeln, wäre danach der Weg für sie frei, beim zustimmungsfreien Teil ohne Hemmungen - ohne Scham sowieso - die bekannten Koalitionsforderungen anzugehen, ({2}) wie zum Beispiel mittelbare Leistungsausgrenzungen, höhere Patientenzuzahlungen, Eintrittsgelder der Patientinnen und Patienten für die medizinische Versorgung. Letztlich würde auch nicht vor den bekannten Forderungen der F.D.P. und des CDU-Wirtschaftsflügels nach dem Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritätischen Beitragsfinanzierung haltgemacht. Damit wäre das Ende der solidarisch finanzierten Krankenversicherung ohne jede Frage eingeleitet. Aber eine Krankenversicherung, bei der die persönlichen finanziellen Mittel des einzelnen Patienten über den Zugang zu medizinischen Leistungen entscheiden, wird es mit uns nicht geben. ({3}) Meine Damen und Herren, wir machen auch nicht bei dem - zugegeben kläglichen - Versuch der Koalition mit, von eigenen Fehlern abzulenken, auf die Herr Pfaff vorhin bereits aufmerksam gemacht hat, und den Krankenhäusern allein die Verantwortung für Fehlentwicklungen im Gesundheitsbereich aufs Auge zu drücken. ({4}) Erst recht widersprechen wir ausdrücklich Ihren Vorstellungen, die Ursachen von Unwirtschaftlichkeit in Krankenhäusern den dort beschäftigten Schwestern und Pflegern aufs Auge zu drücken. ({5}) - Wer schreit, hat nicht unbedingt immer recht. ({6}) CDU/CSU und F.D.P. wollen die Pflege-Personalregelung gänzlich aussetzen. So einfach geht das nicht. Die Pflege-Personalregelung ist eine leistungsbezogene Personalbemessung, das heißt, die Personalstellen im Pflegebereich werden auf genau beschriebenen Grundlagen von Minutenwerten ermittelt. ({7}) Diese Grundlagen wurden von Experten beraten und vorgelegt und hier beschlossen. Die Pflege-Personalregelung hat sich ohne jede Frage als ein geeignetes Steuerungsinstrument erwiesen. Niemand, auch niemand von Ihnen, ist aufgestanden und hat gesagt, daß wir hier eine Korrektur der qualitativen Sicherstellung der Pflege einleiten müßten. Auf dem Tisch liegt allerdings Ihre Absicht, die vierte Stufe der Pflege-Personalregelung nicht umzusetzen, ({8}) und dies allein aus fiskalischen Gründen. Wenn aber nicht die Qualität, sondern die Quantität das Problem ist, muß man die Lösung auch bei den quantitativen Vorstellungen suchen. Sie wollen hingegen etwas zurücknehmen, was man inhaltlich sowohl in der Vergangenheit als auch derzeit für unstreitig hält. Wenn man sich bei der Pflege-Personalregelung als Teil des Gesundheitsstrukturgesetzes in der Menge geirrt hat, wenn man geglaubt hat, 13 000 Stellen würden ausreichen - 20 000 haben wir inzwischen, und weitere 6 000 oder 7 000 könnten dazukommen -, dann könnte das dazu führen, daß ich Herrn Minister Seehofer zwei Fragen stelle. Allerdings würde ich sie ihm wirklich nur stellen, wenn ich auf eine ehrliche und offene Antwort hoffen könnte. Ich würde erstens fragen: Wollen Sie wirklich, daß wir - wie vor Inkrafttreten der Pflege-Personalregelung - in Europa wieder das Schlußlicht im Verhältnis von Patient und Patientin zu Schwester und Pfleger bilden? Zweitens würde ich fragen: Ist es wirklich Ihre Überzeugung, daß die notwendige Kostenbegrenzung im Krankenhaus auf dem Rücken von Patientinnen und Patienten und auf dem Rücken des Pflegepersonals ausgetragen wird? ({9}) Weil ich, wie gesagt, auf entsprechende Antworten nicht hoffen kann und „Blödsinn" in der Tat eine Bemerkung, aber keine Antwort ist und weil ich eine solche Antwort nicht erwarte - dafür wird die F.D.P. schon sorgen, solange sie es jedenfalls noch kann -, hier unsere Antwort: ({10}) Die qualitätsgerechte Pflege der Patienten und Patientinnen darf nicht ernsthaft gefährdet werden. Deshalb darf das bisher in diesem Bereich Erreichte auch nicht rückgängig gemacht werden. ({11}) Bereits jetzt gibt es personelle Engpässe, und eine Minderung der Qualität wird eine Flucht aus der Pflege verstärken. Jeder Angriff auf den Wert der Pflege - daß das als Angriff verstanden wird, müßten doch selbst Sie, die Sie vielleicht bisweilen noch Stellungnahmen von Betroffenen lesen, inzwischen kapiert haben -, jede Verschlechterung der Patientenversorgung ist nicht nur unangemessen, sie ist auch falsch. ({12}) Die Pflegenden in den Krankenhäusern leisten viel. Ihre physische und auch ihre psychische Belastung ist überdurchschnittlich groß. Niemand kann den Eindruck haben, daß sie unterbeschäftigt sind, und niemand geht doch her und sagt, sie irrten auf den Fluren umher und wüßten nicht, was sie tun sollen. Wenn also der Stellenzuwachs größer ist, als er eingeschätzt wurde, dann hat hier die Realität die Theorie eingeholt. So ist das manchmal. ({13}) Dem muß man dann entweder Rechnung tragen, oder man muß die Realität verändern. Die CDU/CSU und die F.D.P. wählen nun eine dritte Variante. Sie ignorieren die Realität. Aber das ist dann ihr Problem. Zu Recht können Sie sich aufregen, wenn das aufgedeckt ist. Das würde mir auch nicht gefallen, aber ich müßte es mir anhören. Richtig ist es, mehr Wirtschaftlichkeit zu fordern und Überkapazitäten im Krankenhaus abzubauen. Das wird auch nicht ohne Auswirkungen auf den Stellenbereich bleiben. 8 000 Betten allein in Nordrhein-Westfalen - jeder kann sich ausrechnen, was das, auch auf Stellen bezogen, ausmacht. Die Lösung liegt nicht darin, die Qualität der Pflege anzugreifen. ({14}) - Es ist interessant zu hören, daß Sie die Qualität der Pflege angreifen wollen. ({15}) Lassen Sie mich bitte auf folgendes zu sprechen kommen. Grundsätzlich falsch ist es, ein Gesundheitswesen in Sektoren aufzuteilen. Es ist fachlich falsch, aber ich meine, es ist auch politisch falsch. Wenn Sie hier gerade angesprochen haben, die AOK habe gesagt, daß die Budgetierung etwas ganz Wunderbares sei, so muß ich hinzufügen: Die gleiche AOK hat im gleichen Zusammenhang gesagt, es müsse aber auch ein Gesamtkonzept her. ({16}) Wer ein Gesundheitswesen will, das kranken Menschen hilft und nutzt, wer ein Gesundheitswesen will, das weder zu Lasten der Patientinnen und Patienten noch zu Lasten der in diesem Bereich Beschäftigten geht, der muß dieses Gesundheitswesen als Gesamtheit betrachten, und er muß vor allem entsprechend handeln. Wer sich nur auf den stationären Bereich einigt - lassen Sie uns in diesem Punkt einander nichts vormachen -, der hat den kleinsten koalitionsinternen Nenner gewählt, der gleichzeitig wohl auch der größte koalitionsinterne Nenner ist. Ich war vorhin fast geneigt, bei der Entschuldigung der beiden erkrankten Gesundheits- „ experten" aufzustehen und zu fragen, ob die Botschaft von Herrn Seehofer, die heute morgen in der Presse zu lesen war, ihnen derart auf den Magen geschlagen ist. Ich habe das allerdings unterlassen. Wir finden hier den zweiten Grund der von Ihnen gewählten Salamitaktik. Ein Einzelgesetz nach dem anderen durchzusetzen ist nicht nur politisch falsch. ({17}) Man gewinnt außerdem zunehmend den Eindruck, daß der Gesundheitsminister - vielleicht muß man demnächst, um im Bild der Salamitaktik zu bleiben, weil das anscheinend beherrschend ist, vom Dauerwurstminister sprechen - bei der Vielzahl von Einzelregelungen den Überblick über die Gesamtproblematik längst verloren hat. Der Spagat zwischen Kostendämpfung und Qualitätssicherung ist schwierig. Die F.D.P. setzt auf die Amerikanisierung des Gesundheitswesens nach dem Motto: Wer im Gesundheitsbereich arbeitet und nicht daran verdient, ist selber schuld. Oder: Wer gute Qualität in der Versorgung haben will, der soll dafür bezahlen. - Die Freidemokraten streben nach einer Grundversorgung für alle und Wahlleistungen für diejenigen, die sie bezahlen können. In diesem Zusammenhang muß man, so denke ich, auch darauf hinweisen, daß sich hinter der vielfach zitierten Überschrift „mehr Wettbewerb im Krankenhaus" jedenfalls auf seiten der F.D.P. nichts anderes verbirgt als die Absicht, den Krankenhäusern zum Wohle der F.D.P.-Klientel ein Standbein abzuhacken. ({18}) Eine der Äxte, die hier ins Spiel gebracht werden, heißt Praxiskliniken. Anstatt bestehende gute Strukturen zu sichern, wird ein zusätzlicher und, so sage ich, sinnloser Bereich geschaffen, der sich nur als lukratives Projekt für Investitionsgesellschaften lohnt. Die Gesundheit ist kein Konsumgut, das der Versicherte auf dem freien Markt kauft, wie zum Beispiel ein Auto. Würden allein marktwirtschaftliche Prinzipien zur Grundlage unseres Gesundheitswesens, sähe es bald so aus, daß sich die einzelnen Patienten auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten die Leistungen kaufen und nicht mehr auf der Basis des medizinisch Notwendigen versorgt werden. Meine Damen und Herren, mehr als die Scheibchenpolitik läßt die Zerstrittenheit zwischen CDU/ CSU und F.D.P. wohl nicht mehr zu. Die Kosten für diese Stückelei werden die Versicherten und die Patienten zu zahlen haben. Ich denke, das können und werden wir nicht hinnehmen. Sie wären gut beraten, über die Art Ihrer Vorgehensweise - gar nicht einmal so sehr über jeden Ihrer Vorschläge -, nämlich Dinge auseinanderzuziehen, die zusammengehören, noch einmal gründlich nachzudenken. Sie zahlen einen verflixt hohen Preis dafür, daß Sie unfähig sind, sich mit der F.D.P. zu verständigen. ({19})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Bundesminister Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bei jeder gesundheitspolitischen Debatte der letzten Monate erleben wir hier starke Worte der SPD und einige Wochen später im Bundesrat die Tatsache, daß die SPD die hier kritisierten Gesetze passieren läßt. Das ist die Realität. ({0}) Frau Lehn, wir haben den totalen Überblick. Der genialste Einfall der Koalition seit der neuen Regierungsbildung war, die Gesundheitspolitik auf einzelne Sektoren und einzelne Gesetze aufzuteilen; die SPD hat das bis heute gar nicht so richtig erkannt. Wir haben alle bisher eingebrachten Gesetze, von den Hausärzten bis zur Positivliste, im Bundesrat durchgesetzt. Deshalb stimmt unser Kompaß, Frau Lehn. Meine Damen und Herren, weder Gesundbeterei noch Schönfärberei führen an der Realität vorbei: Die Ausgabendynamik in den Sozialsystemen ist nicht mehr finanzierbar. Wir werden in diesem Jahr in der Sozialversicherung insgesamt durch Gesetze, die wir im Konsens beschlossen haben, Beitragserhöhungen bekommen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Die gemeinsam beschlossene Pflegeversicherung wird Mitte dieses Jahres zu Beitragserhöhungen von 0,7 Prozentpunkten führen; die gemeinsam beschlossene Rentenreform hat bereits zu einer Beitragserhöhung von 0,6 Prozentpunkten geführt. Ich bleibe dabei: In der gesetzlichen Krankenversicherung bekommen wir im Laufe des Jahres eine durchschnittliche Beitragserhöhung von mindestens 0,5 Prozent, was auf einen Verschiebebahnhof zurückzuführen ist, der 1989 parteiübergreifend zwischen der SPD und der Koalition im Zuge der Rentenreform beschlossen worden ist: Für Arbeitslose werden nämlich ab 1995 geringere Beiträge zur Krankenversicherung gezahlt. Des weiteren sind Beitragserhöhungen in der Krankenversicherung auf Druck der Bundesländer im Zuge der Krankenhausreform 1992 zustande gekommen. Beitragserhöhungen um höchstens 1,8 Prozent -0,7 Prozent bei der Pflegeversicherung, 0,6 Prozent bei der Rentenversicherung, durchschnittlich 0,5 Prozent bei der Krankenversicherung - werden nur dann Realität bleiben, wenn es gelingt, diese Gesundheitsreform zu realisieren. Wenn sie scheitert, werden wir allein im Jahr 1996 eine Erhöhung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge von über 2 Prozent bekommen. ({1}) Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um den Solidaritätszuschlag, dessen jährliches Aufkommen 29 Milliarden DM ausmacht, möchte ich darauf hinweisen, daß die Gesamtbeitragsbelastung in der Sozialversicherung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwa 35 Milliarden DM jährlich beträgt. Ich bin immer wieder überrascht, daß man über diese Größenordnung, die ja weit über die des Solidaritätszuschlags hinausgeht, so gut wie keine Diskussion führt. Ich spreche von diesem Aspekt zu Beginn meiner Rede, weil immer noch viele Politiker und Funktionäre die Träume hegen, man könnte die Finanzgrundlagen in der Sozialversicherung stabilisieren, ohne daß es jemand merkt. ({2}) Ich trete mit Nachdruck dafür ein, daß man dieses realistische Bild der Öffentlichkeit auch vor Wahlen mitteilt; denn die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, daß sie vor dem 10. und 24. März dieses Jahres die Wahrheit erfährt. ({3}) Mich muß niemand überzeugen, daß die Mobilisierung der Wachstumskräfte und die Steigerung der Beschäftigung die zentralen Aufgaben der nächsten Wochen sind. Wir müssen aber auch die Spirale durchbrechen - die Sozialpolitik muß dazu ihren Beitrag leisten -, daß steigende Sozialausgaben durch Kostensteigerungen zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen und Arbeitslosigkeit ihrerseits wieder steigende Sozialausgaben bewirkt. Wer diese schlimme soziale Spirale durchbrechen will, muß auch über die Sozialpolitik einen Beitrag zur Stabilisierung der Finanzgrundlagen in unseren Sozialhaushalten leisten. Dazu zählt auch der Krankenhausbereich. ({4}) Von 1992 bis heute sind die Krankenhausausgaben in Deutschland von 64 Milliarden DM auf 80 Milliarden DM gestiegen. Das ist ein Zuwachs von 24,3 Prozent. Allein durch diesen Zuwachs ist in der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Zeitraum ein Defizit von 8,5 Milliarden DM entstanden. Wir müssen aber hinzufügen, daß dieses Defizit der Krankenversicherung gleichzeitig einen Milliardenüberschuß für die Krankenhäuser bedeutet

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

- sofort -, weshalb die Krankenhäuser finanziell im Moment besser dastehen, Herr Professor Pfaff, als jemals zuvor in den 90er Jahren. Jetzt bitte die Zwischenfrage.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte, Herr Kollege Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie beklagen die Finanzprobleme der sozialen Sicherung. In diesem Zusammenhang möchte ich eine zweiteilige Frage aufwerfen: Ist Ihnen bekannt, daß die Sozialleistungsquote in den letzten 20 bzw. 30 Jahren überhaupt nicht gestiegen ist und daß die Beitragssatzeffekte zum einen daraus resultieren, daß die Lohnquote - also die Finanzierungsgrundlage - gesunken ist, und zum anderen daraus, daß gesamtgesellschaftliche Auf gaben, beispielsweise die Finanzierung der deutschen Einheit, über Beiträge zur Sozialversicherung finanziert werden? Folglich müßte man an den Ursachen und nicht an den Wirkungen ansetzen. Stimmen Sie dem zu?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Professor Pfaff, das ist in der Ursachenanalyse eine Wahrheit, sogar eine sehr zentrale Wahrheit, die ich auch öffentlich immer ausspreche. Nur werden Sie andererseits nicht bestreiten können, daß dieser gewaltige Zuwachs in den Krankenhäusern, von dem ich gerade sprach und über den sich die Krankenhäuser freuen, weil die Politik ihn ermöglicht hat - das sind nämlich Milliardenüberschüsse in den Krankenhäusern -, mit der deutschen Einheit überhaupt nichts zu tun hat, sondern darauf zurückzuführen ist, daß die Politik im Jahr 1992 insbesondere auf Druck der Bundesländer die Krankenhausbudgets so großzügig gestaltet hat, daß diese Defizite von 1992 bis 1995 entstanden sind. Deshalb teile ich Ihre Meinung, daß man die Ausgabenentwicklung dort beenden muß, wo die Ursachen entstanden sind, nämlich bei den großzügigen Budgetierungen. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, ist Ihnen bekannt, daß das Defizit im Krankenhausbereich, das durch die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben entstanden ist - Sie haben das richtig geschildert -, nicht insbesondere auf die Pflege-Personalregelung zurückgeht, sondern daß von den 3,2 Prozentpunkten laut Krankenhausbericht im Nettoeffekt dadurch „nur" 0,45 Prozentpunkte entstanden sind, so daß eine Aussetzung der Pflege-Personalregelung, die auch ein Teil Ihres Paketes ist, keinerlei Lösung der Probleme bringt?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wer sagt denn, daß die Aussetzung der Pflege-Personalregelung allein die Lösung der Probleme bringt? Ich darf Ihnen hier sagen, Herr Professor Pfaff: Keine Regierung und keine Koalition hat für die Schwestern und Pfleger in den Krankenhäusern mehr getan, als in den letzten drei Jahren zugunsten der Pfleger und Schwestern geschehen ist. ({0}) Annähernd 25 000 zusätzliche Stellen sind in den deutschen Krankenhäusern geschaffen worden, meine Damen und Herren, trotz des gewaltigen Finanzdrucks, der in der gesetzlichen Krankenversicherung besteht! Herr Professor Pfaff, ich respektiere Ihre hohe Sachkunde. Nur: Sie haben heute eine, jedenfalls aus meiner Sicht, höchst unglaubwürdige Rede gehalten. Sie haben auf der einen Seite die Budgetierung im Krankenhausbereich kritisiert und haben auf der anderen Seite den am deutschen Gesundheitswesen Beteiligten verschwiegen, daß exakt zur gleichen Zeit die SPD im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der alle Bereiche des deutschen Gesundheitswesens budgetieren will, einschließlich des Krankenhauses. ({1}) Und was auch unfair ist, Herr Professor Pfaff: Sie bringen diese Pflege-Personalregelung in die öffentliche Diskussion ein, natürlich immer wieder vor Wahlen, weil es bei Schwestern und Pflegern um viele Personen geht, und verschweigen der Öffentlichkeit, daß auch die SPD dem Deutschen Bundestag die Aussetzung der Pflege-Personalregelung für 1996 vorgeschlagen hat. ({2}) Das ist kümmerlich, Herr Professor Pfaff, so daß ich Verständnis dafür habe, wenn die Bevölkerung gelegentlich bezüglich der Geradlinigkeit und Glaubwürdigkeit der Politik so ihre Zweifel hat: Politiker der SPD bringen auf der einen Seite Gesetzentwürfe hier im Deutschen Bundestag ein, die fast identisch sind mit den Vorschlägen der Koalition. Dann kommt der Gegenwind in der öffentlichen Diskussion, und schon laufen sie wie aufgescheuchte Hasen von ihren eigenen Vorschlägen weg und bekennen sich hier im Deutschen Bundestag nicht mehr zu ihren eigenen Gesetzentwürfen. ({3}) Niemand hat für die Pflegekräfte mehr getan als wir. Wenn wir das Defizit, das in den letzten drei Jahren durch die Krankenhäuser entstanden ist, hier ansprechen, dann kritisieren wir nicht die Mediziner, die Schwestern, die Pfleger, das Funktionspersonal in den Krankenhäusern. Ich teile die Meinung, daß die ganz hervorragende Arbeit leisten. Ich meine vielmehr, daß diese Steigerungsraten politisch und nicht medizinisch indiziert sind und daß es angesichts der gesamten wirtschaftlichen Probleme die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Politik ist, diese politisch indizierten Wachstumsraten für die Zukunft abzuschneiden. ({4}) Ich könnte auch für die ganze Koalition hier heute sagen: Wir tun noch mehr für Stationsärzte, wir tun noch mehr für Schwestern und Pfleger, wir tun noch mehr für die Patienten in den Krankenhäusern. Aber wenn wir die hohe Leistungskraft der Krankenhäuser mittel- und langfristig erhalten wollen, dann müssen wir vermeiden, daß es zum Kollaps der Finanzgrundlagen in den Krankenhäusern kommt. Sonst können wir diese Leistungsfähigkeit nicht erhalten. ({5}) Ein zweites gehört hinzu - da bin ich den deutschen Ärzten sehr dankbar -: Wir werden die Strukturreform im Krankenhaus nur beherrschen, wenn die niedergelassenen Ärzte die Versorgung im ambulanten Bereich optimieren. Denn ein Argument der Krankenhäuser stimmt: Sie können gar nicht so viel sparen und ihre Effizienz steigern, wie auf der anderen Seite zusätzliche Kosten dadurch entstehen, daß die Krankenhaushäufigkeit so überdurchschnittlich wächst wie in den letzten zehn oder 15 Jahren. Dieses Argument stimmt. Deshalb bin ich der deutschen Ärzteschaft dankbar, daß sie der Öffentlichkeit jetzt ein Konzept vorgestellt hat, durch das die ambulante Versorgung in der Weise optimiert wird, daß Ärzte rund um die Uhr im ambulanten Bereich stärker präsent sind, als das in der Vergangenheit der Fall war. Sie werden den Notfalldienst am Wochenende wieder verstärkt durchführen. Damit wird vermieden, daß Patienten nur deshalb ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen oder sich selbst ins Krankenhaus einweisen, weil der niedergelassene Arzt zu einer bestimmten Uhrzeit nicht zur Verfügung steht. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja, Herr Dr. Schuster.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, würden Sie mir zustimmen, daß mit Ihrem Vorschlag das zentrale fiskalische Problem des Gesundheitsversorgungssystems, nämlich die wirkliche Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung, bei der nach meinem Verständnis immer noch Rationalisierungsreserven von - beide Seiten zusammen gesehen - 20 Prozent liegen, nicht gelöst wird?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Dr. Schuster, wenn es nur um den heute zu beratenden Gesetzentwurf ginge, dann würde ich Ihnen recht geben. Aber es liegt dem Deutschen Bundestag gleichzeitig ein Gesetzentwurf vor, der all die Fragen, die Professor Pfaff und Sie angesprochen haben, beinhaltet. Eine intelligente Budgetfindung für 1997 und ab 1997 auf Dauer ist unser gesetzgeberischer Vorschlag. Er beinhaltet, daß Krankenhäuser, die mehr Leistungen erbringen, eine höhere Gesamtvergütung mit den Krankenkassen vereinbaren können und daß Krankenhäuser, die ihre Leistungen - aus welchen Gründen auch immer - reduziert haben, einen Abschlag seitens der Krankenkassen erwarten müssen. Diese intelligente Budgetierung, die Herr Professor Pfaff reklamiert hat, hat die intelligente Koalition bereits in einem Gesetzentwurf, der hier eingebracht wurde, vorgesehen. ({0}) Herr Dr. Schuster, ich komme nun zu dem von Ihnen angesprochenen Problem. Natürlich muß es zu mehr Koordination und Kooperation kommen. Ich nannte das Beispiel der niedergelassenen Ärzte zur Optimierung des niedergelassenen Bereichs. Die Koalition schlägt vor, daß in Regionen, in denen es notwendig ist, ein Spezialist, der nur im Krankenhaus, aber nicht im ambulanten Bereich vorhanden ist, die Patienten unter bestimmten Voraussetzungen im Krankenhaus ambulant behandeln kann, weil damit die Unwirtschaftlichkeit vermieden wird, daß sich ein Patient, der von diesem Spezialisten behandelt werden will, zunächst ins Krankenhausbett legen muß. Das alles ist Bestandteil unserer Strukturreform, die wir dem Parlament vorgelegt haben. Herr Dr. Schuster, diese Reform ist zustimmungspflichtig und wird deshalb mit Sicherheit zu Verhandlungen und Gesprächen zwischen Ihnen und uns führen. Heute geht es nur darum, den finanziellen Kollaps in der gesetzlichen Krankenversicherung zu vermeiden. Ich hoffe, dabei haben wir Ihre Unterstützung. Meine Damen und Herren, es ist Dreh- und Angelpunkt, daß wir die überproportionalen Ausgabenzuwächse im Krankenhausbereich reduzieren. Wenn uns das nicht gelingt, werden uns 1996 und 1997 Ausgabensteigerungen um die Ohren fliegen, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Deshalb muß uns diese Operation gelingen. Ich weiß, daß ich bis tief hinein in meine eigene Partei - auch weil Wahlen sind - mit diesen Vorschlägen manche Diskussion ausgelöst habe. Ich werde diesen Weg ganz konsequent weitergehen, und ich möchte öffentlich sagen: Wenn die Reform für den Krankenhausbereich mit dessen Stabilisierung im Bundesrat - aus welchen Gründen auch immer - scheitern sollte, werde ich die Reformbemühungen für den ambulanten Bereich, die den Patienten, den Ärzten, den Masseuren und Krankengymnasten Opfer abverlangen, postwendend einstellen, weil wir die Politik der letzten 25 Jahre nicht fortsetzen dürfen. Wir dürfen die Krankenhäuser dort, wo öffentliche Verantwortung gegeben ist, nicht schonen und auf der anderen Seite Patienten, Ärzten, Masseuren, Krankengymnasten und anderen Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen Reformopfer zumuten. ({1}) Eine solche Politik, meine Damen und Herren, werde ich nicht vertreten. Wir können nicht diesen Personen Opfer zumuten und die Krankenhäuser verschonen. ({2}) Ich komme zu Ihrem Vorwurf, Frau Kollegin Lehn, wir würden hier einen Trick anwenden und deshalb eine Entscheidung im Krankenhausbereich vorwegnehmen. ({3}) - Der Herr Büttner hört bei mir im Wahlkreis auch nie zu. Deshalb hat er bei Wahlen noch nie 30 Prozent erreicht. Es wäre für ihn besser, wenn er mir manchmal zuhören würde. ({4}) Meine Damen und Herren, sowohl Maßnahmen im ambulanten Bereich als auch beim strukturellen Teil im Krankenhaus sind zustimmungspflichtig, nur die Budgetierung für 1996 ist zustimmungsfrei. Wir müssen diesen budgetierten Bereich im ersten Quartal im Parlament verabschieden; denn das Bundesjustizministerium sagt uns, ein rückwirkendes Inkrafttreten zum 1. Januar 1996 ist nur möglich, wenn Bundestag und Bundesrat die Budgetierung im ersten Quartal 1996 verabschieden. Diese Budgetierung nimmt keine Strukturmaßnahme vorweg, - weder im Krankenhaus noch im ambulanten Bereich. Anschließend haben wir alle Ruhe und auch Zeit, im Deutschen Bundestag und im Bundesrat, zwischen Koalition und Opposition einerseits und Koalition und Bundesländern andererseits die dauerhaften Strukturreformen im Gesundheitswesen miteinander zu besprechen, zu verhandeln und dann zu entscheiden. Wir wissen, daß wir Ihre Zustimmung brauchen. Wir bitten Sie darum, daß Sie diese Verhandlungen dadurch ermöglichen, daß wir die Budgetierung im Krankenhaus vorwegnehmen. Wir nehmen damit keine Entscheidung im Strukturbereich vorweg. Deshalb ist es auch kein Trick. Wenn Sie das im Bundesrat nicht mitmachen, dann macht eine Reform im ambulanten Bereich keinen Sinn. Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß noch einmal betonen: Es geht bei der Budgetierung im Krankenhausbereich nicht um eine Kürzung der Krankenhausausgaben, sondern um eine pure Maßnahme der Vernunft, nämlich dafür zu sorgen, daß die Ausgabenzuwächse in den Sozialhaushalten in einer Balance mit den Zuwächsen in unserer Volkswirtschaft bleiben. Wenn wir keinen gesellschaftlichen Konsens erzielen, daß angesichts der riesigen Arbeitslosigkeit, unserer großen wirtschaftlichen Probleme, unserer Probleme auf dem Arbeitsmarkt die Zuwächse in den Sozialhaushalten und damit auch die Zuwächse in den Krankenhäusern nicht stärker steigen dürfen als die Zuwächse in unserer Volkswirtschaft, dann können wir jede Hoffnung begraben, daß wir unsere Sozialhaushalte und unsere öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen. ({5}) Wir kürzen nicht, sondern wir begrenzen das Ausmaß des Zuwachses. Deshalb werden die Schwestern, die Pfleger und die Ärzte in den Krankenhäusern ihren Dienst weiterhin auf hohem Niveau erbringen können. Die Personalkosten sind damit zu 100 Prozent gedeckt. Die Sachkosten werden sich in diesem Bereich bewegen. Meine Damen und Herren, deshalb kann ich der Öffentlichkeit guten Gewissens sagen: Es wird keinem Patienten im Krankenhaus etwas weggenommen. Ich kann den Beschäftigten im Krankenhaus sagen: Sie werden weiterhin ihre segensreichen Dienste auf hohem Niveau erbringen können. Deshalb appelliere ich an die Opposition: Beenden Sie diese Diskussion, die Sie heute wieder begonnen haben, als würde auf dem Rücken der Patienten gespart, als würde die Krankenhauslandschaft zerschlagen. Diese Argumente haben wir jetzt drei Jahre lang gehört. Aber die Krankenhauslandschaft blüht, sie steht finanziell so gut da wie selten zuvor in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Professor Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, daß die SPD gesprächsbereit ist, wissen wir alle schon lange. Nur: Wir müssen die Gespräche führen, die wirklich zu einer Lösung des Problems beitragen. Dazu bedarf es eines umfassenden Konzepts, und man kann nicht scheibchenweise einen Sektor nach dem anderen behandeln. Zu Ihren Ausführungen möchte ich in gebotener Kürze einige wenige Fragen aufwerfen. Erster Punkt. Sind die Vorschläge, die ich genannt habe - das ist vielleicht auch für die andere Seite des Hauses wichtig -, nämlich keine Durchbrechung der gesamtsektoralen Budgetierung, sondern Zu- und Abschläge, nicht gerechter? Sie haben es selbst als intelligente Form der Budgetierung bezeichnet, und Sie haben selbst gesagt, Sie wollen es im nächsten Jahr einführen. Ich sehe nicht ein, warum Sie das nicht schon jetzt einführen können und wollen. Ist das nur deshalb so, weil wir diesen Vorschlag machen? Können Sie mir das erklären? Ich kann das nicht nachvollziehen. Ein zweiter Punkt, die Devise: Haltet den Dieb! Herr Bundesminister, Sie tun so, als ob es hier finstere Mächte gäbe, die diese Ausgabendynamik verursachen. Andererseits gestehen Sie sehr bescheiden ein: Ja, die Politik hat einiges zu verantworten. Wir haben die Konzeption gemeinsam formuliert und gemeinsam zu verantworten, aber die Umsetzung haben Sie zu verantworten, wenn Sie die Positivliste aussetzen, wenn Sie bei der EBM-Reform keine steuernde Wirkung vorsehen, wenn Sie den Ärzten Geschenke machen. Wenn Sie, Herr Bundesminister - ich sage das etwas polemisch; ich bin mir dessen bewußt -, statt Schauveranstaltungen auf dem Petersberg die Knochenarbeit geleistet hätten, die Bundespflegesatzverordnung derart umzusetzen, daß sie wirklich steuernde Wirkung hat - Sie hatten drei Jahre Zeit dafür -, dann hätten Sie sich diese Form der Sektoralbudgetierung ersparen können. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Minister, bitte.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Professor Pfaff, nur zwei Realitäten. Das, was Sie auch in Ihrer Rede eben gefordert haben bezüglich Fallpauschalen, Sonderentgelten, mehr Wirtschaftlichkeit, geringeren Beiträgen, anderen Strukturen, haben wir fast deckungsgleich mit dem, was Sie hier gesagt haben, in den Bundesrat eingebracht. Aber es waren die SPD-regierten Länder, die uns unsere gemeinsamen Vorstellungen im Bundesrat zerschlagen haben. Auch das gehört zur Wahrheit. ({0}) Das ist doch die fatale Situation, daß Ihre Einlassungen hier nicht mit dem übereinstimmen, was mir im Bundesrat präsentiert wird. Das zweite: Ich habe ein Verhandlungsangebot für den Gesundheitsausschuß des Bundestages und für den Bundesrat gemacht. Eine Voraussetzung für Verhandlungen ist allerdings, daß man weiß, was der Gesprächspartner will. Herr Professor Pfaff, Sie werden nicht bestreiten können: Alles, was wir bis zur Stunde von der SPD für eine parlamentarische Beratung haben, ist ein Gesetzentwurf zur Budgetierung in allen Bereichen, aber keinen Gesetzentwurf dazu, wie es nach dem Jahre 1996, wenn die von Ihnen vorgesehene einjährige Budgetierung ausläuft, strukturell weitergehen soll. Deshalb appelliere ich an Sie: Legen Sie so schnell wie möglich, und zwar vor dem 24. März 1996, konkrete Gesetzentwürfe vor. Auf die warten wir. Ich verspreche Ihnen: Wenn Sie sie hier einbringen, nehmen wir innerhalb von 24 Stunden das Gespräch mit Ihnen auf. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst - in Abweichung von der Reihenfolge der Tagesordnung - zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesundheitsstruktur-Konsolidierungsgesetzes auf Drucksache 13/ 3039. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/3498 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3039 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS gegen die Stimmen der SPD abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Stabilisierung der Krankenhausausgaben 1996 auf Drucksache 13/3061. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/3498 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Übernahme befristeter Kündigungsmöglichkeiten als Dauerrecht zu erweitern. Die Vorlage soll gleich jetzt hier behandelt werden. Gibt es darüber Einverständnis? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Übernahme befristeter Kündigungsmöglichkeiten als Dauerrecht - Drucksachen 13/1693, 13/2942, 13/3362, 13/3527 Berichterstatter im Bundestag: Abgeordneter Dr. Heribert Blens Berichterstatter im Bundesrat: Minister Dr. Arno Walter Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/3527? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über Kinderarbeit in der Welt - Drucksachen 13/1079, 13/1233 Nr. 1.6, 13/1857 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Meckelburg, CDU/CSU.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eines sei deutlich und direkt am Anfang meines Redebeitrags gesagt: Es gibt Themen, die nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung im herkömmlichen Sinne taugen. Kinderarbeit in der Welt ist ein solches Thema. Lassen Sie uns ruhig im Detail um das eine oder andere politisch ringen - das hält die Diskussion wach -, aber lassen Sie uns darüber nicht die vielen Gemeinsamkeiten und das gemeinsame Ziel vergessen, Kinderarbeit in der Welt zu ächten und zu bekämpfen. Die Frage darf nicht nur lauten: Wie kann das Problem der Kinderarbeit in der Welt gelöst werden? Die Frage muß konkreter gestellt werden, nämlich: Was können wir tun, um die Situation von Indonesien bis Thailand, von Kolumbien bis Tansania zu verbessern? Diese Aufgabe ist enorm. Denn einerseits ist das Problem riesig. Die Zahl der arbeitenden Kinder wird mit 100 bis 200 Millionen - Sie sehen die Bandbreite der Schätzungen - angegeben. Das zeigt, daß das Problem wirklich schwer einschätzbar, ja geradezu unvorstellbar ist. Die Formen der Kinderarbeit sind vielfältig; sie reichen von Familienarbeit in den Entwicklungsländern, die gar verdeckt sein kann, bis hin zu widerwärtigen und brutalen Formen, wenn man an die Schuldknechtschaft denkt. Andererseits ist die Lösung immens schwierig. Wir können den Kampf hier ja nicht direkt per Gesetzgebung oder per administrative Regelung angehen. Wir sind in all unseren Bemühungen zunächst einmal eingeschränkt und können nicht von heute auf morgen handeln. Wir alle wissen: Zur Lösung dieses Problems bedarf es zweifelsohne der internationalen Zusammenarbeit, und das braucht seine Zeit. Staatliche Einflußnahme auf andere Staaten ist eine sensible Angelegenheit. Aber, ich glaube, darüber besteht Einigkeit: Unser Ziel muß sein, die Verhältnisse in den Staaten, in denen Kinderarbeit stattfindet, zu verändern und darauf hinzuwirken, daß wir dort Verbündete finden. Sonst wird all das, was wir tun, nichts sein. Der Bereich, mit dem wir es zu tun haben, wird häufig - mit Recht - als Teufelskreis beschrieben. Kinderarbeit, die in den Familien anfängt, weil sie zum Teil notwendig ist, um das Einkommen der Familien in Entwicklungsländern zu sichern, bedeutet: Wer als Kind arbeitet, kann nicht zur Schule gehen. Wer nicht zur Schule geht, hat keine Ausbildung und wird später im Leben in Berufen landen, für die niedriger Lohn gezahlt wird, oder er wird überhaupt keine Arbeit finden. Das führt dann dazu, daß die Kinder solcher Leute wieder in diesen Kreislauf hineinkommen. So wird die Kinderarbeit von Generation zu Generation weitergegeben. Diesen Kreislauf müssen wir unterbrechen. Dies zu schaffen ist natürlich das Schwierigste; aber es muß geschehen. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Die Gesetzgebung und die sonstigen Regelungen in den betreffenden Ländern müssen verbessert werden. An den internationalen Abkommen - insbesondere an denen, bei denen die Internationale Arbeitsorganisation, IAO, eine Rolle spielt - darf es für immer mehr Staaten keinen Weg vorbei geben. Was die Diskussion über handelspolitische Maßnahmen angeht, sage ich deutlich: Diese Diskussion muß vermehrt geführt werden. Zur Zeit sind wir aber nicht in der Lage, Regelungen zu treffen, die am Ende wirklich zum Ziel führen. Wir müssen in internationalen Diskussionen mehr Gemeinsamkeit erreichen. Ich will einen Punkt ansprechen, der in dem Zusammenhang wichtig ist, bei dem wir direkt etwas tun können. Ich würde es Verbraucherverantwortung nennen: Überall da, wo es die Warenkennzeichnung bereits gibt - beispielsweise haben manche Teppiche ein Warenkennzeichen, das besagt, daß sie nicht mit Kinderarbeit hergestellt worden sind -, sollte sie als solche vom Verbraucher auch erkannt werden; er sollte die entsprechenden Produkte dann bevorzugt kaufen. Und überall da, wo keine Kennzeichnung möglich ist, sollte man als Verbraucher nachdenklich werden. Dieses konkrete Beispiel zeigt, wie jeder als Verbraucher seine Macht in unserer freien Gesellschaft ausüben und einen Beitrag leisten kann. ({0}) Da kann jeder einzelne etwas tun. Das dürfen wir nicht vergessen. Es ist außerordentlich wichtig, daß wir nicht meinen, nur Politiker könnten das Problem lösen. Das ist ein Problem, das nur gelöst werden kann, wenn wir alle Steinchen zusammenbringen. Wir brauchen diesen Verantwortungsdruck der Verbraucher auf der einen Seite, damit wir auf der anderen Seite eine Produzentenverantwortung erreichen können. Denn nur durch Druck und dadurch, daß die Leute in den Entwicklungsländern spüren, daß Waren, die mit Kinderarbeit hergestellt worden sind, nicht gekauft werden, kann geholfen werden. ({1}) - Der Handel ist die nächste Stufe. Auch darüber müssen wir reden. Meine Damen und Herren, ich glaube, auch die heutige Debatte und die Tatsache, daß die Bundesregierung diesen Bericht vorgelegt hat, sind Steinchen auf dem Weg zur Lösung des Problems. Wir müssen auch bei uns für Bewußtseinsbildung sorgen - bei Politikern, aber auch bei den Bürgern. Insofern glaube ich, daß unsere heutige Debatte ein Schritt gegen die Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung und für Bewußtseinsbildung in Politik und Gesellschaft sein kann. Schönen Dank. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Petra Ernstberger, SPD.

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der aus meiner Heimat stammende Schriftsteller Jean Paul hat einmal gesagt: „Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten." ({0}) Aber wie steht es mit der Kindheit vieler Kinder in unserer Welt? Ist sie voller Liebe, Zuneigung und Vertrauen? Ist sie geprägt von Weiterentwicklung, von Bildung, von gedeihlichem Wachsen? Betrachtet man nämlich einmal die offiziellen Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, und des Internationalen Arbeitsamtes in Genf, IAA, so stellt man fest, daß man von einer so gearteten positiven Kindheit überhaupt nicht sprechen kann - ganz im Gegenteil. Der World Labour Report der ILO schätzt die Zahl der zur Zeit arbeitenden Kinder auf 100 Millionen bis 200 Millionen. Die Zahl der Kinderarbeiter hat sich in den letzten zwei Dekaden noch erhöht. Die Umstände und die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten, haben sich derweilen drastisch verschlechtert. Obwohl diese grausame Wirklichkeit der Bundesregierung bekannt war, mußte der Deutsche Bundestag die Vorlage eines Berichtes zur Kinderarbeit, über den wir heute diskutieren, von der Bundesregierung 1994 erst einfordern. Mehrmals angekündigt, mehrmals verschoben liegt er dem Deutschen Bundestag letztendlich erst seit April 1995 vor. Unterziehen wir ihn einmal einer kritischen Prüfung. Die im Bericht genannten Ursachen für Kinderarbeit sind sicherlich richtig, aber er spart meiner Meinung nach einen wesentlichen Grund aus, nämlich die sich stetig beschleunigende Verarmung weiter Bevölkerungskreise in den Entwicklungsländern. Sie nimmt den Erwachsenen dort mehr und mehr die Grundlage, für den Unterhalt ihrer Familien allein zuständig sein zu können. Unzweifelhaft ist dabei, daß die sozial unausgewogenen Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und die Globalisierung der Weltwirtschaft nicht unwesentlich zu dieser Verarmung beigetragen haben. Weiterhin möchte ich kritisch anmerken, daß eine geschlechtsspezifische Analyse der Kinderarbeit in dem vorliegenden Bericht völlig fehlt. Anscheinend ist der Bundesregierung nicht bekannt - wahrscheinlicher ist, daß sie es nicht zur Kenntnis nehmen will -, daß Mädchen nicht nur zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft gezwungen werden, sondern häufig zusätzlich sexueller Diskriminierung und Belästigung ausgesetzt, ja, zur Prostitution gezwungen werden. Die Vereinten Nationen verkündeten 1989 das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das seither von der großen Mehrheit der Staatengemeinschaft ratifiziert und unterzeichnet wurde und gegen das - wie bei kaum einer zweiten Konvention - permanent verstoßen wurde und wird. Art. 32 der UN- Kinderkonvention betrifft unmittelbar die Kinderarbeit; in ihm anerkennen die Vertragsstaaten den Schutz des Kindes vor ökonomischer Ausbeutung und verpflichten sich, entsprechende nationale Schutzgesetze zur Sicherstellung dieses Rechts zu erlassen. Viele Länder, auch Staaten mit exzessiver Kinderarbeit, haben seitdem nationale Regelungen geschaffen, deren Durchsetzung gleichwohl zugegebenermaßen oftmals große Probleme aufwirft. Nicht akzeptabel ist aber die dadurch begründete Schlußfolgerung der Bundesregierung, den betroffenen Staaten im Rahmen ihrer Souveränität die Umsetzung der vorhandenen Gesetze allein zu überlassen. Vielmehr stellen die Ausbeutung und Vernichtung von Kindern durch Arbeit grundlegende Verletzungen der Menschenwürde und somit Menschenrechtsverletzungen dar. Von daher ist es eine zentrale Verpflichtung für die Staatengemeinschaft, auf die Einhaltung der verbrieften Menschenrechte politisch hinzuwirken. Angesichts der Liberalisierung und Globalisierung der Weltwirtschaft werden mit Recht Stimmen laut, die auf eine Reform des Welthandels drängen und die Einführung von verbindlichen Sozialklauseln in internationalen Handelsverträgen fordern. Es ist klar, daß Kinderarbeit nicht einfach von heute auf morgen abgeschafft werden kann. Jedoch beginnt auch die längste Reise immer mit dem ersten Schritt. Das heißt, die fundamentalen sozialen Standards müssen geschaffen und gesichert werden. Dazu gehören das Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit, die Existenz freier Gewerkschaften, die Tarifautonomie sowie jegliche Diskriminierung bei der Beschäftigung. „Eine Sozialgesetzgebung, die diesen Namen verdient, beginnt immer mit dem Schutz der Kinder." Diese Aussage des ersten Generaldirektors des Internationalen Arbeitsamtes, Albert Thomas, sollte uns alle mahnen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Ernstberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte, Herr Kollege.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, angesichts des Berges von Problemen, der natürlich hier vor uns steht, frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, daß nur ein Bündel von Maßnahmen Kinderarbeit letztendlich beseitigen kann, wie es beispielsweise im IPEC vorgesehen ist, nämlich Herauslösung aus dem Arbeitsprozeß, bessere Ausbildungsmöglichkeiten und dann auch eine Eingliederung in ein qualifiziertes Arbeitsleben, und stimmen Sie mir zu, daß sich da die Leistung der Bundesregierung durchaus sehen lassen kann - in den vergangenen Jahren wurden 50 Millionen DM in dieses Programm investiert -, während andere westliche Industrieländer sich mit weit geringeren Beträgen, etwa mit 2 oder 3 Millionen DM, beteiligt haben?

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann Ihnen in der Richtung zustimmen, daß dieses Programm sehr lobenswerte Ansätze hat. Nur ist es ein Steinehen in einem großen Puzzlespiel, und es sind weit mehr gemeinsame Anstrengungen zur Verhinderung von Kinderarbeit nötig; zu den weiteren Forderungen werde ich gleich kommen. ({0}) Der Bundesregierung sei in Erinnerung gerufen, daß die einschlägigen Arbeitsnormen die Abschaffung der Kinderarbeit verlangen, vor allem das Übereinkommen 138 und die Empfehlung 146 der ILO über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung. Dahinter steht die grundlegende Überzeugung, daß Kindheit ein Lebensabschnitt sein sollte, der der Erziehung und dem Lernen, aber sicherlich nicht der Arbeit gewidmet ist. Von daher fordere ich die Bundesregierung auf, alle Kräfte dafür einzusetzen, daß das ILO-Übereinkommen 138 von allen in Betracht kommenden Ländern endlich ratifiziert wird. ({1}) Das Europäische Parlament hat sich in seiner Entschließung vom 9. Februar 1994 für die Integration einer Sozialklausel, die unter anderem die Bekämpfung von Kinder- und Zwangsarbeit zum Ziel hat, in das multilaterale und unilaterale System des internationalen Handels ausgesprochen. Sicherlich könnte die Einführung sozialer Mindeststandards Befürchtungen bei den Dritte-Welt-Ländern in bezug auf protektionistische Bestrebungen der Industriestaaten nähren. Andererseits aber muß es das Anliegen aller Beteiligten im internationalen Handel sein, die Einhaltung der elementaren Menschenrechte und der sozialen Standards zu gewährleisten. Auf der GATT-Schlußkonferenz 1994 sprach sich der EU-Handelskommissar Sir Leon Brittan dafür aus, daß sich die GATT-Nachfolgeorganisation WTO auch mit Problemen wie der Ausbeutung von Kindern und der Zwangsarbeit befassen solle. Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundesregierung auf, unverzüglich entsprechende Initiativen zur Errichtung einer Arbeitsgruppe in der WTO für soziale Aspekte des internationalen Handels einzuleiten. Das ist ein weiterer Baustein bei dem Versuch der Lösung des Problems. ({2}) Das Vorhaben der Europäischen Kommission, das Allgemeine Präferenzsystem - APS - der EU so zu modifizieren, daß die Einhaltung sozialer MindestPetra Ernstberger standards ihre Entsprechung in einer präferentiellen Behandlung solcher Länder findet, ist zu begrüßen; denn Belohnung sollte vor Bestrafung gehen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Bitte.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, nachdem ich jetzt eine ganze Weile Ihrem Beitrag zugehört und hier und da Kritisches gehört habe, möchte ich einmal die Frage stellen, ob Sie meinen Eindruck teilen, daß Sie im Grunde genommen die Theorie vertreten, daß wir viele Bausteinehen und -steine brauchen - Sie haben zugestanden, daß die Bundesregierung an vielen Stellen aktiv geworden ist -, und ob mein Eindruck richtig ist, daß Sie hier und da lediglich ein bißchen mehr fordern. Ihre Forderung an uns alle, überall ein bißchen mehr zu tun, ist sicherlich richtig und zutreffend. Aber grundlegende Kritik an der Bundesregierung ist doch hier von Ihnen nicht vorgetragen worden. Petra Ernstberger: ({0}): Ich möchte mich jetzt nicht wertend zu „grundlegend" oder „weniger grundlegend" äußern, sondern ich möchte einfach sagen: Es wäre gut, wenn wir alle an einem Strang ziehen könnten und hier wirklich etwas vorwärtsbringen würden. Dazu brauchen wir aber die Regierung; denn ohne sie geht es nicht. ({1}) In diesem Sinne greife ich noch einmal das auf, was ein Kollege vorhin gesagt hat, der von der Notwendigkeit gesprochen hat, den Aufbau einer deutschen Vertretung und auch einer europäischen Vertretung der Rugmark-Stiftung zu fördern. Diese setzt sich für die Verbraucherkennzeichnung von Teppichen ein, die ohne Kinderarbeit hergestellt worden sind. Hier ist nicht nur der einzelne Verbraucher gefordert, sondern hier ist eine öffentliche Kampagne, die sich an die gesamte Bevölkerung richtet, vonnöten. Deswegen ist es wichtig, sich einmal über die Aufklärung hierzulande Gedanken zu machen. Prüft man nämlich einmal die Etatansätze des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, dann stellt man fest, daß sich von 1980 bis heute die Mittel für die entwicklungspolitische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit inflationsbereinigt halbiert haben. Nur noch 0,05 Prozent des Haushalts des BMZ wird für die entwicklungspolitische Informationsarbeit aufgewandt. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit bei der Bundesregierung meilenweit auseinander. Der Schein soll zum Sein werden, das wohlfeile Lippenbekenntnis zur politischen Tat! ({2}) Gleiches gilt für die Haltung der Bundesregierung zur Existenz der Kinderarbeit im eigenen Haus, in Deutschland. Sicherlich läßt sich die Kinderarbeit in Deutschland nicht mit der in den Dritte-Welt-Staaten vergleichen. Jedoch zeugt eine Verniedlichung der zweifellos vorhandenen Problematik in Richtung „Taschengeld-Kinderarbeit" nicht gerade von einer ausgeprägten Sensibilität gegenüber der realen sozialen Lage „in diesem unserem Lande". Aber auch das überrascht den Bürger schon lange nicht mehr. Schließlich weiß er: Die Bundesregierung verschließt ihre Augen vor der sich verschärfenden Armut in Deutschland. ({3}) Die Bundesregierung sollte sich also endlich auch mit dem Problem der Kinderarbeit in Deutschland beschäftigen und nicht nur den Finger arrogant auf die Länder der Dritten Welt richten und Riesenkrokodilstränen vergießen. Das nimmt nämlich der Kritik an den Problemen dieser Staaten die Glaubwürdigkeit und verstärkt den Eindruck, ({4}) daß der Bundesregierung die dramatisch schlechte Situation vieler Familien schlichtweg egal ist. Wenn Ihnen hier im Haus die schlimme soziale Lage unserer Bürger kein Interesse abnötigt, so sollten Sie beim Schutz unserer Kinder wenigstens an die Sicherung der Zukunft unserer Gesellschaft denken. Denn wenn, wie Claude Dumont vom IAA resümiert, „eine Gesellschaft die Ausbreitung und Verewigung der Kinderarbeit zuläßt, verschwendet sie die Arbeitskraft, die sie morgen braucht". Den Bericht nehmen wir nur „zur Kenntnis". Danke. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über eines der dunkelsten Kapitel des internationalen Wirtschaftssystems, über Kinderarbeit. Es reicht nicht aus, unsere Besorgnis über deren zunehmende Verbreitung zu betonen und die Bekämpfung der schlimmsten Auswüchse zu fordern. Es reicht auch nicht aus, in erster Linie länderspezifische Rahmenbedingungen für die Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft zu benennen. Wenn wir die Ursachen der Kinderarbeit nachhaltig bekämpfen wollen, müssen sowohl die internationalen Wirtschaftsstrukturen als auch die internen Bedingungen der Ungleichheit in den Ländern des Südens grundlegend verändert werden. Der freie Markt, das Credo des Welthandels, bietet - das zeigt sich jetzt immer deutlicher - eben nicht nur Entwicklungschancen für neue ökonomische Akteure. Dieser freie Markt führt zur Verschärfung der Massenarmut, was den Druck auf die Familien erhöht, durch die Arbeit ihrer Kinder das Überleben zu sichern. Der Bericht der Bundesregierung dokumentiert, daß weltweit bis zu 200 Millionen Kinder unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden, sei es unter den Bedingungen der Schuldknechtschaft wie in den Ziegelbrennereien Pakistans, sei es unter den Bedingungen der Zwangsarbeit in Exportindustrien wie dem Teppichhandel. Hier sind genug Beispiele bekannt. Ich nenne nur Indien und Nepal. Notwendige Daten, zum Beispiel die Verteilung der Kinderarbeit auf Jungen und Mädchen, fehlen in dem Bericht. Insbesondere Mädchen aber arbeiten in sogenannten unsichtbaren Arbeitsverhältnissen, zum Beispiel als Hausmädchen und im Dienstleistungssektor. Dort werden sie mehrfach diskriminiert und häufig sexuell ausgebeutet. Wir fordern deshalb, daß die Analyse dieser Bedingungen einen vorrangigen Stellenwert bekommt. Konkrete Maßnahmen gegen die massive Ausbeutung, gegen physische und psychische Zerstörung von Kindern können aber erst dann greifen, wenn die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Partnerländern weitreichende Entschuldungsmaßnahmen, sozialverträgliche Strukturanpassungsprogamme und die Einhaltung sozialer Mindeststandards durchsetzt. Politische Priorität müssen positive Anreize für jene Länder haben, die nachweisen, daß ihre Produkte nicht von Kinderhand gefertigt werden. Das Präferenzsystem der Europäischen Union ist ein solches Instrument. Im Zusammenhang mit den erfaßten Verstößen gegen die internationale Konvention zum Schutz des Kindes und gegen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Zwangsarbeit und für Mindestalter und Arbeitsschutz für Kinder hat die von seiten der EU und der USA kürzlich ausgesprochene Warnung an Pakistan, diesen allgemeinen Präferenzstatus zu verlieren, zu heftigen Debatten in der Politik und in den führenden Wirtschaftszeitungen des Landes geführt. Das nur dazu, daß solche Maßnahmen - natürlich auf gesetzlicher Grundlage - und politische Initiativen sehr wohl eine Resonanz finden, auch wenn das oft geleugnet wird. Besondere Unterstützung verdienen unserer Meinung nach positive Anreizsysteme, zum Beispiel die Warenzeichenkampagne „Rugmark", die vorrangig an unserem Verbraucher- und Verbraucherinnenverhalten ansetzt. Hierbei handelt es sich um ein vorbildliches Beispiel dafür, wie nichtstaatliche Akteure sinnvolle und wirksame Maßnahmen kreativ entwikkeln und umsetzen können. Den Initiatoren in diesem Land von Terre des hommes über Brot für die Welt bis hin zu Misereor und UNICEF-Deutschland gebührt dafür unser Dank und Respekt für ihre Leistungen. ({0}) Wir fordern die Bundesregierung darüber hinaus auf, zu prüfen, welche weiteren positiven handelsrechtlichen Anreizsysteme und Möglichkeiten ihrer rechtlichen Umsetzung geschaffen werden können, auch in den bilateralen Beziehungen. Bei Ländern, die es weiterhin dulden, daß Kinder als Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven oder in Schuldknechtschaft - die sich über mehrere Generationen erstreckt - gehalten werden, müssen Sanktionen, zum Beispiel Importverbote, angewendet werden können. Dies ist im Kontext von Art. XX des GATT- Abkommens, das ein Importverbot von in Gefängnissen hergestellten Produkten vorsieht, durchaus möglich. Ich frage Sie, Herr Blüm, ist die Schuldknechtschaft von Kindern weniger schlimm als die Zwangsarbeit in Gefängnissen? ({1}) In jedem Fall bedarf es aber flankierender Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Dazu gehören vorrangig die Rehabilitation und Bildungsmaßnahmen für die befreiten Kinder, aber ebenso Aufklärung durch Öffentlichkeitsarbeit sowohl in den Produktions- wie auch in den Nachfrageländern.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen. Es tut mir leid.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluß. - Wir bitten Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag und lassen Sie uns gemeinsam über alle Fraktionen hinweg dafür eintreten, daß Kinderarbeit in ihren ausbeuterischen Formen, auch im Rahmen von Zwangsprostitution im Sextourismusgeschäft, endlich wirksam bekämpft wird! Danke. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als vor einem Jahr einige Wale vor Alaska zu verenden drohten, weil sie den Weg ins freie Meer hinaus nicht mehr fanden, ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch die Welt. Millionen Menschen setzten sich für die arme Kreatur ein. Viele Millionen wurden aufgewandt, um eine Rettungsaktion zustande zu bringen. Das Fernsehen war natürlich dabei. Einige Jahre früher fuhr der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes in ein südostasiatisches Land, um dort einige Hunde vor ihrem Schicksal zu retten, indem er sie mit nach Deutschland brachte. „Bild" war dabei. Deutschland atmete auf. Aber eine Demo für geschundene Kinder in Peru, Bangladesch oder Thailand - bisher unbekannt. Woran mag es nur liegen, daß wir Menschen uns leichter für leidende Tiere engagieren als für unsere Hildebrecht Braun ({0}) eigenen Artgenossen, insbesondere für Kinder? Es ist ja nicht neu, daß nach Schätzungen der IAO 20 bis 30 Prozent aller Kinder in der Welt zwischen 6 und 15 Jahren in irgendeiner Form erwerbstätig sind. Kindern wird die Chance für eine gesunde körperliche, geistige und seelische Entwicklung genommen. Sie leiden in riesiger Zahl und in unbeschreiblichem Maß: Kinder arbeiten in Kohleminen, in hochgefährlichen Fabriken zur Herstellung von Streichhölzern, in der Glasindustrie, in der Herstellung von Teppichen, aber auch als Prostituierte - statt in die Schule zu gehen, zu spielen, ihre menschlichen Anlagen zu entwickeln und sich auf das Leben als Erwachsene in einer humanen Gesellschaft vorzubereiten. Wir in Deutschland haben ganz andere Sorgen. Wir sind dabei, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen Kinderkanal einzurichten, der jährlich mindestens 100 Millionen DM erfordern wird. Das ist natürlich nötig - obwohl wir schon jetzt eine unglaubliche Vielzahl von Fernsehprogrammen für Kinder auf allen Kanälen haben -, da das Recht der deutschen Kinder auf Rundumberieselung während der gesamten Wachzeit befriedigt werden muß. Wenn unser Land nur diesen Betrag statt für überflüssige, zusätzliche Sendungen, die unseren Kindern möglicherweise mehr schaden als nutzen, zur Unterstützung von Aktionen gegen die Ursachen der Kinderarbeit speziell in der Dritten Welt ausgeben würde, dann könnten wir möglicherweise ungezählten Kindern zu einer Lebensperspektive, zu einer positiven Zukunft verhelfen. ({1}) Wir werden in Deutschland sehr wohl das Ergebnis der Untersuchung verschiedener internationaler Organisationen zur Frage zu prüfen haben, ob wir nicht doch durch unsere Handelspolitik Druck auf diejenigen Staaten ausüben sollten, die bisher nicht bereit waren, in ihren Ländern für die Durchsetzung von sozialen Mindeststandards im Interesse der Würde des Menschen zu sorgen, obwohl sie dies tun könnten. ({2}) Ich erwarte, daß sich die Bundesrepublik Deutschland wenigstens mit gleicher Intensität in internationalen Organisationen dafür stark macht, daß miserable Formen der Kinderarbeit bekämpft werden, wie sie sich für die Durchsetzung des Verbots der Tötung von Walen einsetzt. Es ist allerdings nur allzu wohlfeil, heute auf Entwicklungsländer in Asien, Afrika und Lateinamerika zu deuten und dort unbeschreibliche Mißstände im Umgang mit Kindern anzuprangern. Ich glaube, wir haben allen Anlaß, uns intensiv mit der Frage zu beschäftigen, ob die Dinge in unserem eigenen Land in Ordnung sind. Wenn ich in die Gesichter von 14jährigen Teilnehmerinnen bei Meisterschaften im Geräteturnen für Frauen sehe, dann signalisieren sie mir, daß diese Kinder unter unbarmherzigen, ja unter unverantwortlichen Bedingungen in unserem eigenen Land zu Hochleistungssportlerinnen getrimmt werden. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig?

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte gerne am Stück sprechen. Die immens schwierigen Übungen an gar nicht kindgemäßen Turngeräten setzen jahrelange Entbehrungen, allerschwerste körperlicher Arbeit und Verzicht auf wesentliche Elemente natürlicher und richtig genutzter Kindheit voraus. Psychischer Terror von erfolgsgeilen Eltern zu Lasten unserer Kinder ist allzuoft die Grundlage des Erfolgs später hochgefeierter Stars in unserer eigenen Sensationsgesellschaft. Wer glaubt denn, daß ein 16jähriges Mädchen so gut Schlittschuh laufen kann, daß es Meisterschaftschancen in unserem Lande hat, ohne bereits im Kindergartenalter zu Leistungen gedrillt worden zu sein? Wer mag ermessen, welcher Streß bereits einem kleinen Mädchen im Kindesalter abgefordert wurde, bevor es unter dem Beifall unseres ganzen Landes bis zum Platz eins der Weltrangliste im Tennis aufsteigen konnte? Meine Damen und Herren, schon als Mitglied der Kinderkommission des Deutschen Bundestages setze ich mich mit Nachdruck für alle Maßnahmen ein, die dem Ziel dienen, Kinderarbeit in der Welt einzudämmen. Ich fordere aber auch den Bundestag auf, sich mit der Frage des Terrors gegenüber den sportlichen und musikalischen Wunderkindern im eigenen Land auseinanderzusetzen. Das Elend der Ausbeutung der Kinder in der Welt und in unserem Land erinnert uns mit Nachdruck an die zentrale Aufgabe, die uns das Grundgesetz in seinen ersten beiden Sätzen mit auf den Weg gibt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Zyniker könnte bemerken, daß das heutige Thema gleich zwei strategische Nachteile hat: Weder Kinderpolitik noch Entwicklungspolitik gehören zu den Themenbereichen, zu denen in diesem Haus tiefgründige Erörterungen üblich oder möglich sind, und das noch in 30 Minuten. Daß der Bericht der Bundesregierung eine ganze Reihe von Unzulänglichkeiten aufweist, ist sowohl in den Ausschußberatungen als auch in der heutigen Debatte deutlich geworden. Ich erwähne nur die Ausblendung des gesamten Themenbereichs Kinderarbeit in Deutschland und die geschlechtsspezifische Analyse der Kinderarbeit. ({0}) Auffällig ist die Beharrlichkeit, mit der die Bundesregierung in diesen wie in den meisten anderen entwicklungspolitischen Zusammenhängen die Benennung der eigentlichen Ursachen von Problemen vermeidet. Auch Kinderarbeit ist letzten Endes ein Symptom der Verarmung und Verelendung immer breiterer Schichten der Bevölkerung in den Ländern des Trikont. Solange die Bundesregierung die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus einer Ursachenanalyse ausklammert und die Folgen von Verschuldungskrise und Strukturanpassungsprogrammen nicht zur Kenntnis nimmt, wird sie schwerlich realistische Vorstellungen zur Bekämpfung oder auch nur zur Eindämmung solcher Probleme wie der Kinderarbeit entwickeln - wenn dies überhaupt beabsichtigt ist. An diesem Mangel an Problembewußtsein krankt aber nicht nur der vorliegende Bericht der Bundesregierung, sondern auch die bundesdeutsche Entwicklungspolitik als Ganzes. Daß nun ausgerechnet entwicklungspolitische Maßnahmen helfen sollen, Kinderarbeit einzudämmen, spricht entweder für Blauäugigkeit oder für Unverfrorenheit. Natürlich kann im Rahmen entwicklungspolitischer Projekte den betroffenen Kindern vor Ort und punktuell geholfen werden, solange das Geld reicht oder das Projekt dauert. Trotzdem verdienen sowohl die Arbeit der Entwicklungshelfer als auch das vielfältige Engagement von Initiativen der Nichtregierungsorganisationen und anderer jede nur mögliche Unterstützung; denn oftmals sind sie die einzigen, die überhaupt so etwas wie Hoffnung vermitteln können. ({1}) Wenn es aber nicht beim Kampf gegen Windmühlen bleiben soll, bedarf es grundlegender Veränderungen in den weltwirtschaftlichen Beziehungen und einer dauerhaften Lösung der Verschuldungskrise. Die Impulse hierzu müssen vom Norden ausgehen. In den verschiedenen Debatten zur Schuldenproblematik in diesem Haus ist mehr als einmal deutlich geworden, daß der beliebte Vorwurf fehlenden politischen Willens bei der Bewältigung entwicklungspolitischer Probleme keineswegs nur den Regierungen der Länder der Dritten Welt zu machen ist, sondern ebenso den verantwortlichen Politikern der Industrienationen einschließlich der Bundesregierung. Menschliche Betroffenheit angesichts des Elends von Millionen von Kinderarbeitern und Kinderarbeiterinnen ist verständlich. Eine Politik, die ihre Möglichkeiten zur Bekämpfung dieses Elends nicht ausschöpft, läßt sie zur Heuchelei verkommen. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegen Marlies Pretzlaff, CDU/CSU.

Marlies Pretzlaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002752, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte gehofft, daß wir uns in dieser Debatte über den ersten Bericht der Bundesregierung über Kinderarbeit in der Welt, die kurz genug ist, bei allen kritischen Anmerkungen gemeinsam einigen könnten, zur Stärkung der Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt beitragen zu wollen, zumindest Lösungsansätze miteinander zu besprechen. Ich finde es bedauerlich, daß aus manchen Ecken dieses Hauses Töne laut wurden, die den Schluß nahelegen, daß die Kinderarbeit doch wieder zu einem Streitthema parteitaktischer Spielchen werde. Das finde ich sehr bedauerlich. ({0}) Das Problem der weltweit schätzungsweise 100 Millionen bis 200 Millionen Kinder, die zum Familieneinkommen beitragen müssen und zeitweilig sogar einzige Erwerbsarbeiter ihrer Familie sind, müßte eigentlich uns alle aufrufen - wie dies im Bericht dargestellt ist -, noch intensiver aktiv zu werden. Ich selbst bin in der Entwicklungshilfe tätig und möchte auf diesen Bereich jetzt ein wenig näher eingehen. Besorgniserregend ist vor allen Dingen die Verschiebung der Form von Kinderarbeit. Die Mitarbeit von Kindern in der Familie ist in vielen Entwicklungsländern durchaus eine Selbstverständlichkeit gewesen. Es ist jetzt aber, vor allem auch in den Schwellenländern, eine rasante Entwicklung hin zu immer mehr Ausbeutung, zu Kinderhandel, sogar zum Kinderverkauf und zur Versklavung von Kindern zu beobachten, vor allem in Großstädten und Tourismuszentren. Die wirtschaftliche Aufholjagd der Entwicklungsländer, die verstärkte Exportorientierung, zunehmender Wettbewerb und nicht zuletzt die Bevölkerungsexplosion in den Ländern der Dritten Welt haben - das ist unwidersprochen - zu Veränderungen der Arbeitsbedingungen, zu Landflucht, zu Abwanderung, zu Vertreibung geführt und damit zu den unerträglichen Auswüchsen der Kinderarbeit bis hin zu kommerzieller Kinderprostitution beigetragen. Diese betrifft übrigens - ich denke an Sri Lanka - nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen. Diese Probleme müssen wir unbedingt stärker ins Auge fassen, als wir es bisher getan haben. In diesen Zusammenhang paßt vielleicht der Hinweis auf die Initiative des Justizministeriums Ende des letzten Jahres, in dessen Zuge ein Symposium mit dem Ziel besserer länderübergreifender Strafverfolgung im Bereich der Kinderprostitution durchgeführt wurde. Denn leider sind wir Deutschen auch Weltmeister im Kindersextourismus. Hauptursache der Kinderarbeit ist und bleibt die absolute Armut und Verschuldung vieler Familien in der Dritten Welt. Aber wir sollten auch nicht übersehen, daß als Motivation auch zunehmender Wohlstand und wachsende Konsumwünsche immer mehr in den Vordergrund treten können. Leider müssen wir erkennen, daß wir, die Industriestaaten, manche Entwicklung mitzuverantworten haben, daß weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen, Strukturanpassungsprogramme - darauf wurde schon hingewiesen - und gutgemeinte Entwicklungshilfemaßnahmen der Vergangenheit in vielen Ländern weder die weitere Verarmung großer Bevölkerungsteile verhindern konnten noch zur Durchsetzung höherer Sozialstandards, zu besseren Bildungschancen oder zum Abbau von Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt führten. Trotz der im Bericht angesprochenen vielen Konventionen, Übereinkommen, Schutzbestimmungen, die in vielen Ländern der Dritten Welt durchaus Gesetzeslage sind, trotz zum Teil noch fehlender Ratifizierungen in einigen Ländern ist es uns Industrienationen allein nicht möglich, wirkliche Abhilfe der Kinderarbeit zu schaffen. Wir sind auf die Mithilfe der Länder angewiesen. Wenn sie nicht bereit sind, uns ihre Mithilfe bei der Umsetzung von mehr Kinderrechten zu geben, wenn sie Eigeninitiative verweigern, wenn schulische Alternativen fehlen, wenn wirksame Kontrolle zum Teil bewußt unterlaufen wird, werden unsere Bemühungen auch weiterhin nur ein kleines Bausteinchen, wie vorhin gesagt wurde, sein können.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, ich muß Sie auf die Zeit hinweisen.

Marlies Pretzlaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002752, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Leider ist die Debatte zu kurz. Vielleicht einen letzten Satz: Lassen Sie uns diese erste Debatte zur Kinderarbeit in der Welt als Einstieg nehmen, der möglicherweise gute Folgen haben wird. Danke. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Herr Bundesminister Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe überhaupt keine Lust, heute auf das übliche Spiel zwischen Regierung und Opposition einzugehen; wirklich nicht. Das ist kleine Münze. „Heuchelei" - ich meine, dies ist nicht der Tag, an dem man eine Debatte so führt. Ich finde, es darf gar keinen Zweifel geben, daß es in diesem Hohen Haus niemand gibt, der Kinderarbeit befürwortet. ({0}) Es ist doch für die Öffentlichkeit ungeheuer viel - ({1}) - Ja, ja. Ihr könnt versuchen, noch ein bißchen parteipolitische Pluspunkte zu sammeln. Das ist viel zu klein. Es ist ungeheuer wichtig: Dieser Bundestag springt einmal über alle kleinen Schatten und sagt gemeinsam, Kinderarbeit ist eine Schande für die zivilisierte Menschheit, ohne Abstriche. ({2}) Dabei ist das Wort Kinderarbeit eher verniedlichend. Da stellen sich manche ein bißchen Nebenbeschäftigung für Kinder vor, ein bißchen Ablenkung durch Arbeit. Dabei ist Kinderarbeit die klassische Form von Ausbeutung. Ich selber wußte gar nicht, daß es noch Sklaverei auf der Welt gibt. Ich dachte, das gehöre vergangenen Zeiten an. Bei Kindern gibt es sie noch. Sie hat nur den etwas beschönigenden Namen Schuldknechtschaft. Man muß einmal in der Wohlstandsgesellschaft verkünden, daß Sklaverei auf der Erde nicht ausgestorben ist, daß Millionen von Kindern wie Sklaven gehalten werden, daß ihre Eltern sie verkaufen, daß Kinder als Pfand eingesetzt werden, daß ihre Eltern in die Schulden getrieben werden, die sie nicht anders abbezahlen können als durch Verkaufen der Kinder. Gegen einen solchen Skandal gibt es keinen F.D.P.-, CDU-, CSU-, Grüne- oder Protest der Roten, da gibt es nur einen Protest der zivilisierten Menschheit. Das finde ich ganz wichtig. ({3}) 200 Millionen - ich lasse mich auch auf die statistischen Diskussionen nicht ein. Ich weiß nur - der Kollege Meckelburg hat es gesagt -, es ist ein Teufelskreis. Insofern hat der Kampf gegen Kinderarbeit geradezu eine Schlüsselstellung im Kampf für Entwicklung. Weil die Kinder zur Arbeit gezwungen werden, gehen sie nicht in die Schule. Weil sie nicht in die Schule gehen, sind sie als Erwachsene nicht ausgebildet. Weil sie nicht ausgebildet sind, haben sie keine Arbeitsmöglichkeit. Deshalb müssen deren Kinder wieder in die Kinderarbeit gehen, um den arbeitslosen Vater und die arbeitslose Mutter zu ernähren. Ein Stück Schizophrenie: 800 Millionen Menschen in der Dritten Welt ohne Arbeit und 200 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen. ({4}) Die schändlichen Beispiele sind schon genannt worden. Ich weiß, es gibt eine große, auch ideologische Diskussion - ich habe sie sogar vor Ort erlebt - zur Frage: Erst verbieten oder erst helfen? Da wird gesagt: Erst muß geholfen werden, und dann kann man verbieten. Ich glaube, daß das eine mehr akademische Diskussion ist. Man muß beides gleichzeitig tun. Wenn man nur verbietet, so ist das, finde ich, der bequeme Weg der Wohlstandsgesellschaft. Wir verbieten es, haben ein gutes Gewissen, Ende! Nein, man muß auch helfen. ({5}) - Ja, wir machen es. Sie können sagen: zu bescheiden; aber wir machen es. Es ist dumm, daß ich das jetzt auf Grund dieses Zwischenrufs sagen muß. Wir haben es in der ILO gegen manchen Widerstand durchgesetzt, im übrigen sogar gegen den Widerstand der Länder, in denen Kinderarbeit geschieht, die sich von uns sogar so bedrängt fühlen, daß sie auf Hilfsprojekte verzichten wollen. Ich glaube, man muß helfen; denn das Verbot ist wirklich der bequeme Weg. Allerdings bleibe ich dabei, daß auch verboten werden muß. Es gibt ja Leute, die sind für eine Übergangslösung. Wie soll denn eine Übergangslösung bei der Schuldknechtschaft aussehen? Soll es vielleicht einen sklavenfreien Tag geben oder wie? Wie soll die Übergangslösung bei Kinderarbeit im Bergbau aussehen? Sollen die Stollen statt 90 Zentimeter 1,20 Meter hoch sein, damit auch ein paar ältere Kinder durchkommen? Da gibt es nur Verbieten. Im übrigen ein Hinweis auch auf unsere Sozialgeschichte. Dieselbe Diskussion darüber, ob sich erst die allgemeinen Verhältnisse verbessern müßten und dann die Kinderarbeit verboten werden könnte oder ob erst die Kinderarbeit verboten werden müßte und sich dann die allgemeinen Verhältnisse verbessern würden, wurde im 19. Jahrhundert hier auch geführt; absolut die gleiche Diskussion. Nur war es damit bei uns ganz schnell zu Ende, als die Militärs feststellten, daß sie keine gesunden Rekruten mehr hatten. Da war es plötzlich möglich. 20 Jahre lang wurde darüber gestritten, ob es ein Verbot geben kann. Als die Militärs sagten, sie hätten keine gesunden Rekruten mehr, ging es plötzlich. Aus dieser Erfahrung sage ich: Es muß beides geschehen, Verbot und Hilfe. Wir brauchen dazu erstens ein öffentliches Bewußtsein. Dazu soll diese Debatte auch beitragen. Ich glaube, die Problematik ist nicht in den Köpfen der Menschen. Ich gehöre zu denen, die sagen: Bevor etwas nicht in den Herzen und Köpfen der Menschen ist, bewegt sich gar nichts. Zweitens brauchen wir internationale Solidarität. Da hatten wir den Weltsozialgipfel. Unser spezifischer Beitrag war der Kampf gegen Kinderarbeit. Die allgemeine Betroffenheit über das Elend der Welt ist viel zu abstrakt und hat eher einen Beruhigungscharakter. Man muß das Elend beim Namen nennen, und am schlimmsten sind die Kinder dran. Drittens. Die Marktwirtschaft ist nicht ganz wehrlos gegen Kinderarbeit. Das Grundgesetz der Marktwirtschaft heißt: Der Kunde ist König. Ich frage mich: Ist der Kunde eigentlich nur ein Geldzähler, oder hat er auch moralische Verantwortung? Es ist ja nicht so ganz erfolglos gewesen: Es trägt heute niemand mehr Elfenbeinschmuck, weil es uns offenbar gelungen ist, die Ausrottung der Elefanten zu diskrimieren. Es trägt heute niemand mehr ein Tigerfell als Mantel. Elefanten sind schön und liebenswert, Tiger sind schön und liebenswert - noch liebenswerter sind Kinder. Deshalb finde ich: Laßt es uns nicht so allgemein sagen. Ich unterstütze von diesem Rednerpult aus „Rugmark", jene Kennzeichnung von Teppichen aus Indien, der sich die Händlerorganisationen angeschlossen haben.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Minister?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ja, bitte schön.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, es ehrt Sie, daß Sie auch vom Rednerpult des Deutschen Bundestages so vehement für die von, so glaube ich, großen Teilen des Deutschen Bundestages unterstützte Initiative „Rugmark" eintreten. Ich frage Sie: Tun Sie das nur als Minister Blüm, oder sprechen Sie auch für die gesamte Bundesregierung einschließlich des Bundeswirtschaftsministeriums? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Davon gehe ich aus, weil auch das Bundeswirtschaftsministerium die dortige Initiative unterstützt hat. Der Hauptinitiator kommt im übrigen aus dem auswärtigen Dienst, hat Kammererfahrung. Ich gehe also von dieser Selbstverständlichkeit aus, zumal es ja ordnungspolitisch ganz sauber ist. Ich will aber jetzt keine Ironie. Es ist marktwirtschaftlich: Der Kunde hat Sanktionen in der Hand. Deshalb sehe ich für diese „Rugmark" -Initiative nicht nur die Unterstützung von Blüm - das wäre viel zu wenig -, sondern die der Bundesregierung und, wie ich hoffe, des ganzen Deutschen Bundestages. ({0}) Ich kenne auch die Einwände: Wird es denn eine Kontrolle geben? Ich glaube, daß Kontrolle auch darin besteht, daß die, die drin sind, darauf achten, daß ihr Gütesiegel nicht von anderen mißbraucht wird. Ich meine auch, es ist notwendig, daß man sich nicht nur mit Teppichen begnügt. Doch ich gehöre als alter Sozialpolitiker zu den Anhängern der Theorie: Ich warte nicht, bis alles möglich ist, ich mache das Mögliche heute. Das ist, wie ich zugebe, ein bescheidener, ein ganz bescheidener Beitrag. Aber - dieser Satz ist hier schon gesagt worden - besser ein Schritt als gar keiner. Das darf kein Schritt sein, nach dem wir uns wieder beruhigen. Vielleicht trägt diese Debatte aber auch dazu bei - das wäre ein ganz bescheidener Beitrag -, Teppichkäufer darauf aufmerksam zu machen, sich den Teppich vorher ganz genau anzusehen. Ich wünsche allen auf einem Teppich, der durch Kinderhand hergestellt, mit der Gesundheit von Kindern bezahlt ist, ungemütliche Stunden. Niemand sollte darauf mit gutem Gewissen auch nur ein Glas Sekt trinken dürfen. Das wäre ein Beitrag. ({1}) - Doch, ich selbst habe das bei diesen Ländern erlebt. Es gibt die großen Ideologen, die sagen: Zuerst muß sich das System ändern, dann können wir auch die Kinderarbeit bekämpfen. Bis zu einer Systemänderung müssen noch sehr viele Kinder bluten und verhungern. Ich selbst bin ja für die Beseitigung von Systemungerechtigkeiten. Wir können aber nicht auf die große Lösung warten. Wir dürfen nicht ein Kind verhungern lassen, nur weil wir auf die große ideologische Systemänderung warten. Es muß beides geschehen: Es muß geholfen und verboten werden; es müssen auch Systeme verbessert werden. Die Welt kommt aber nur mit kleinen Schritten vorwärts. Wenn es uns gelänge, erstens das Bewußtsein dafür zu stärken, daß dies eine Schande ist, und zweitens den marktwirtschaftlich handelnden Kunden an seine Pflicht zu erinnern, nicht nur Preise zu vergleichen, sondern sich auch zu fragen, ob die Ware, die er kauft, mit Ausbeutung verbunden ist, wäre das schon gut. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich schließe die Aussprache, Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der Bundesregierung über Kinderarbeit in der Welt. Es handelt sich um die Drucksachen 13/1079 und 13/1857. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3522 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14c auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 ({0}) - Drucksache 13/194 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafverfahrensänderungsgesetzes - DNA-Analyse ({2}) - ({3}) - Drucksache 13/667 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Innenausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({5}), Dr. Herta DäublerGmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeodneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafverfahrensänderungsgesetzes - Genetischer Fingerabdruck - ({6}) - Drucksache 13/3116 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({7}) Innenausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Dietrich Mahlo, CDU/CSU.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Die Debatte erfolgt zu etwas später Stunde. Das Gesetz ist gleichwohl wichtig, aber nicht von öffentlichem Interesse. Der Auslöser für unser heutiges Debattenthema ist, wie Sie alle wissen, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983, welches klargestellt hat, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 1 des Grundgesetzes den Schutz des einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung und Verwendung seiner persönlichen Daten umfaßt und daß Einschränkungen dieses Rechts nur bei überwiegendem allgemeinen Interesse zulässig sind und einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Um diese gesetzliche Grundlage geht es heute zunächst. Der zweite Gesichtspunkt, der im Auge zu behalten ist, ist die Tatsache, daß uns das Strafverfahrensänderungsgesetz bereits seit über sechs Jahren beschäftigt, ohne daß bisher eine Einigung gelunDr. Dietrich Mahlo gen, und daß die vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Übergangsfrist allmählich als abgelaufen oder demnächst auslaufend anzusehen ist. Dadurch besteht die Gefahr, daß die Rechtsprechung die automatisierte Datenverarbeitung der Staatsanwaltschaft wegen Fehlens einer gesetzlichen Grundlage für nicht mehr zulässig erklärt und damit die Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung akut in Frage gestellt ist. Ich darf daher gleich an alle appellieren, sich dieser Brisanz bewußt zu sein und zu einer schnellen Beschlußfassung und Gesetzgebung beizutragen. Der dritte Gesichtspunkt, den wir meines Erachtens keinen Augenblick aus dem Auge verlieren dürfen, ist die Tatsache, daß unser Staat und unsere Gesellschaft durch die organisierte Kriminalität in einer Weise herausgefordert wird, die an Technik, Organisation, Kapitaleinsatz und Brutalität all das in den Schatten stellt, was diesem Lande vorher bekannt war. In Deutschland finden täglich über 500 komplette Ausräumungen von Wohnungen statt. Die Eurocheque-Kriminalität liegt bei jährlich 70 Millionen DM, die der organisierten Kriminalität bei 4,5 Milliarden DM. In Italien wird allein der Gewinn der Mafia pro Jahr auf 30 Milliarden US-Dollar und der Umfang der erpreßten Schutzgelder auf 40 Milliarden DM geschätzt, während amerikanische Sicherheitsexperten den Umfang des Bruttoeinkommens aus organisiertem Verbrechen in den USA auf 1 Prozent des dortigen Bruttosozialprodukts, das heißt auf 50 Milliarden Dollar bzw. auf einen Verlust von 400 000 Arbeitsplätzen, einschätzen. In Zeiten, in denen wir mit Personalvermehrung nicht rechnen können, vielmehr Personalreduzierungen hinnehmen müssen, gibt es eine ganz besondere Verantwortung für die Wahrung der Effizienz der Strafverfolgung. Es geht darum, in einer vorsichtigen Abwägung einerseits rechtsstaatliche Bedingungen wie rechtliches Gehör, justizförmiges Strafverfahren, Belange des Datenschutzes und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zu sichern, aber diesem Staat andererseits auch die Instrumente zu lassen, die er braucht, um im Kampf gegen das organisierte Verbrechen zu bestehen. Die Angst der Menschen vor solchen Verbrechen ist mindestens so groß wie die Furcht vor einer Verletzung der informationellen Selbstbestimmung. Das Problem unserer Zeit ist nicht, daß der deutsche Staat eine latente Gefahr darstellt, einzelne Individuen plattzumachen, sondern umgekehrt, daß moderne Formen des Verbrechens sich die Gesellschaft zur Beute zu machen drohen. Die erste Lesung des Gesetzes ist nicht der Ort für Detaildiskussionen. Wir erledigen das im Ausschuß. Ich beschränke mich daher nur auf wenige Bemerkungen zu Einzelpunkten. Erstens. Bei den vom Bundesministerium der Justiz vorgesehenen Regelungen über die Ausschreibung zur Festnahme und über die Öffentlichkeitsfahndung wird im wesentlichen die geltende Rechtspraxis festgeschrieben. Fraglich ist allerdings, ob der in § 131 e StPO neu vorgesehene Richtervorbehalt wirklich notwendig ist. Wenn schon die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft nicht tätig werden können, dann doch wenigstens die Staatsanwaltschaft selbst. Das dieser gegenüber oft zum Ausdruck gebrachte Mißtrauen ist nicht gerechtfertigt. Der Staatsanwalt ist ausgebildet wie ein Richter und kann nicht als Bösewicht vom Dienst gelten. Die letzten fünfzig Jahre deutscher Justizgeschichte kennen meines Wissens keinen einzigen Willkürakt der Staatsanwaltschaft. Die Prüfungsmuster der Staatsanwaltschaft sind mit denen des Richters identisch mit der Einschränkung, daß der eine die Antragskompetenz und der andere die Entscheidungskompetenz hat. Fehler machen alle, offenbar auch Richter; denn gegen diese eingelegte Rechtsmittel haben nicht selten Erfolg. Ein besonderes Mißtrauen aber gegen eine eigenständige Rolle der Staatsanwaltschaft scheint mir nicht angemessen. Zweitens. Problematisch erscheint mir weiter die Absicht, eine Rechtsmittelmöglichkeit bei der Versagung von Akteneinsicht zu schaffen. Schon heute ist es Praxis, daß die Staatsanwaltschaft eine abschlägige Antwort genau begründen muß. Wenn die Akteneinsicht zu Unrecht verweigert wird, kann der Rechtsanwalt das genau überprüfen; denn er bekommt die Akte ja hinterher. Gegebenenfalls gibt es die Dienstaufsichtsbeschwerde, die für den Staatsanwalt unangenehm genug ist. Eine neu einzurichtende Möglichkeit der Anfechtung der Versagung von Akteneinsicht ist problematisch. Dies führt mit Sicherheit laufend zu Streit zwischen Staatsanwaltschaft und Richter, ob der Untersuchungszweck gefährdet ist und, wenn ja, b die Offenlegung der Gründe hierfür ihrerseits eine Gefährdung darstellt. Das gleiche gilt für den vom BMJ vorgesehenen Abs. 7, wonach auch der Beschuldigte ohne Anwalt vorab Auskünfte und Abschriften erhalten kann. Der ordnungsgemäße Umgang mit den Kopien ist nicht gewährleistet. Die Vorschrift würde zu einem enormen Arbeitsaufwand führen, weil in jedem Einzelfall das schutzwürdige Interesse Dritter, das der Herausgabe von Kopien entgegenstehen könnte, zu prüfen ist. Das alles wären paradiesische Verhältnisse für Querulanten, die auch unter Strafgefangenen vorkommen sollen. All dies ist geeignet, die Staatsanwaltschaft von den eigentlichen Aufgaben abzuhalten. Wenn der Dezernent gar im Urlaub oder krank ist, muß die Vertretung ganze Akten durchwühlen, um entscheiden zu können, in welchem Umfang sie herausgegeben werden dürfen und in welchem Umfang nicht. Man muß wissen, daß allein in Berlin im Jahr etwa 600 000 Straftaten begangen werden, auch wenn nicht über jede von ihnen eine Akte angelegt wird. Wer soll die Kopien zahlen? Das Gerichtsmarkensystem würde zusätzlich bürokratischen Aufwand verursachen. Drittens. Auch die Statuierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Ermittlungsverfahren ist problematisch. Es sollte das Legalitätsprinzip uneingeschränkt gelten. Aufklärung ist geboten, und zwar mit allen Mitteln. Die Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips würde zum Beispiel bedeuten, daß bei Bagatellkriminalität keine Durchsuchung mehr angeordnet werden könnte. Wird ein Dieb erwischt, ist jedoch die Durchsuchung seiner Wohnung in der Regel geboten, da dort häufig weiteres Diebesgut zu finden ist. Bei stärkeren Eingriffen, etwa bei Überwachung des Fernmeldeverkehrs und bei Einsatz verdeckter Ermittler, ist das Übermaßverbot bereits heute im Gesetz vorgesehen. Es darf aber nicht dazu kommen, daß der allgemeine Erosionsprozeß bei Kleinkriminalität, Entkriminalisierung genannt, jetzt auch von seiten des Verfahrensrechts her unterstützt wird. Meine Damen und Herren, dies waren nur einige Bemerkungen zu einem wichtigen Gesetz. Denken wir bei allem, was wir tun, daran, daß ein schwacher Rechtsstaat, der sich gegen die Verbrechen nicht mehr adäquat wehrt oder resigniert, für den einzelnen Bürger eine ebenso große Bedrohung ist wie der übermächtige Staat. Vielen Dank. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Professor Jürgen Meyer, SPD,

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der genetische Fingerabdruck - in diesem Punkt stimme ich mit dem Kollegen Dr. Mahlo überein - bedarf dringend einer gesetzlichen Regelung. 1987 erstmals in England angewandt, ist er inzwischen als moderne Methode zur Gewinnung von Sachbeweisen und zur Überführung von Straftätern auch in Deutschland weitgehend anerkannt. Gegenstand der Spurenuntersuchung ist ein Riesenmolekül, welches das gesamte Erbmaterial eines Menschen enthält und in jeder kernhaltigen Körperzelle zu finden ist. Durch die Untersuchung läßt sich nachweisen, ob am Tatort gefundenes Spurenmaterial wie Haare, Blut, Hautpartikel oder Sperma vom Tatverdächtigen stammt. Das von dem Engländer Alec Jeffrey entwickelte Verfahren dient seit über zehn Jahren auch zur Klärung von Abstammungsfragen. Weltweit bekannt wurde der genetische Fingerabdruck durch den Fall Pitchfork, den Fall eines Beschuldigten, der mit diesem Verfahren der Vergewaltigung und Ermordung von zwei jungen Mädchen in den Jahren 1983 und 1986 in Leicestershire überführt werden konnte. Die Polizei hatte 5 511 Männer, die zur Tatzeit in jener Gegend wohnten, aufgefordert, sich zur Blutprobe zur Verfügung zu stellen. Unter ihnen war auch Colin Pitchfork, der zunächst einen Arbeitskollegen für 200 Pfund mit falschem Ausweis zur Blutabnahme geschickt, sich dann aber selbst zur Verfügung gestellt hatte. Warum erwähne ich diese Vorgeschichte? Sie macht deutlich, daß es die größten Erfahrungen mit dem genetischen Fingerabdruck in England gibt. So war es nur konsequent, daß die ersten deutschen Gerichte, die sich dieser Methode bedienten, nämlich die Landgerichte Berlin und Darmstadt, das Spurenmaterial zur Durchführung der Analyse nach England geschickt haben. Deshalb stützt sich auch der von der SPD-Bundestagsfraktion erstmals 1992 und erneut 1995 eingebrachte Gesetzentwurf auf eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Einbeziehung der Erfahrungen in Großbritannien, die auf meine Anregung im Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht durchgeführt und 1993 von Birgit Klumpe veröffentlicht worden ist. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß es zum Zeitpunkt unserer Gesetzesinitiative im Jahre 1992 immerhin auch einen Diskussionsentwurf des Bundesjustizministeriums gegeben hat. Warum also bedarf der genetische Fingerabdruck dringend einer gesetzlichen Regelung? Die Untersuchung des menschlichen Erbmaterials ist ein tiefer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, für die nicht zuletzt das 1983 vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gilt. Für derartige Eingriffe bedarf es einer gesetzlichen Grundlage. Diese fehlt bisher. Zu Unrecht verweist die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf pauschal auf §§ 81 a und 81 c StPO; denn diese decken nur den Eingriff in die körperliche Integrität durch die Entnahme von Körperzellen. Der entscheidende zweite Schritt, nämlich die Untersuchung des menschlichen Erbmaterials durch die sogenannte Genomanalyse, bedarf noch einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung. Das gilt um so mehr, als mit fortschreitender technischer Entwicklung nicht nur die Identität und Abstammung, sondern durch Untersuchung der kodierenden Teile des Spurenmaterials auch Gendefekte wie Erbkrankheiten oder gar bestimmte Charaktereigenschaften festgestellt werden könnten. Wir sind der Auffassung, daß der Gesetzgeber das erlaubte Ziel der Genomanalyse eindeutig bestimmen und verfassungskonform einschränken sollte. Übrigens, Herr Kollege Dr. Mahlo, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt ohnehin im Strafverfahren, ob man ihn ausdrücklich nennt oder nicht. ({0}) - Er gilt auch im Ermittlungsverfahren. Die gesetzliche Regelung muß die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Datenschutzes beachten und durchsetzen. Sie kann sich also nicht darauf beschränken, eine Praxis, die sich inzwischen entwickelt hat, ohne nähere Prüfung zu legitimieren. Das ist die Hauptschwäche des vorliegenden Bundesratsentwurfs, der allen Ernstes meint, die möglicherweise über das Schicksal des Angeklagten entscheidenden Untersuchungen könnten von Sachverständigen durchgeführt werden, die der ermittlungsführenden Behörde angehören. Gemeint sind offenbar die Landeskriminalämter. Dr. Jürgen Meyer ({1}) Mit Recht fordert auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, daß Strafverfolgung und DNA- Analyse funktionell getrennt werden müssen, um Mißbrauchsgefahren einzudämmen. Mehr Einsicht zeigt hier schon die Bundesregierung, die immerhin fordert, daß die Forschungsabteilung des Kriminalamtes von der ermittlungsführenden Organisationseinheit zumindest abgeschottet sein sollte. Ich finde es übrigens befremdlich, daß der Bundesrat seinen unter anderem in diesem wichtigen Punkt abweichenden Gesetzentwurf in der heutigen Debatte anscheinend nicht vertreten will. Ich hätte es gut gefunden, wenn wir eine Debatte über den Entwurf des Bundesrates und eine Begründung durch den Bundesrat hätten hören können. ({2}) Alle drei Entwürfe sprechen eine Vielzahl von Problemen mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen an. Ich will beispielhaft nur acht Punkte nennen, aber bereits jetzt feststellen, daß überzeugende Lösungen nur auf der Grundlage einer Sachverständigenanhörung zu finden sein werden, die zumindest die Mitglieder des federführenden Rechtsausschusses und der mitberatenden Ausschüsse mit der außerordentlich komplexen Materie vertraut macht. Erstens. Während SPD und zumindest ursprünglich die Bundesregierung die ausschließliche Anordnung der Genomanalyse durch einen Richter vorschlagen, möchte der Bundesrat den Richtervorbehalt durch eine Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft relativieren. Der Kollege Dr. Mahlo scheint dem folgen zu wollen. Hier wird möglicherweise die erste Stufe der Sicherung des Spurenmaterials, bei der Eile geboten sein kann, nicht deutlich genug von der zweiten Stufe, der Genomanalyse, getrennt. Uns ist jedenfalls kein einziger Fall bekannt, bei dem die Analyse so rasch angeordnet werden mußte, daß für die zu treffende Entscheidung ein Richter nicht aufzufinden war. In aller Regel kann das Spurenmaterial auch nach längerer Zeit noch problemlos analysiert werden. Die in der Praxis gelegentlich festzustellende allzu voreilige Annahme von Eilbedürftigkeit darf nach unserer Auffassung nicht dazu führen, den Richtervorbehalt zu unterlaufen oder den zuständigen Richter bei einer nach einigen Tagen erforderlichen Bestätigung vor vollendete Tatsachen zu stellen. Zweitens. Mit dem Bundesrat ist meine Fraktion der Auffassung, daß sich die strafprozessuale Untersuchung nicht auf Bereiche erstrecken darf, die Aufschluß über Erbanlagen des Betroffenen geben können. Das kann nicht Sache des Strafverfahrens sein. Drittens. Kurioserweise sehen Bundesrat und Bundesregierung im Unterschied zur SPD-Bundestagsfraktion keine Einsatzschwelle für die Anordnung der Untersuchung vor. Soll etwa sogar auf das Erfordernis eines einfachen Tatverdachts bei der Untersuchung von Spurenmaterial verzichtet werden, obwohl doch nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweisführung allein durch die DNA-Analyse ohnehin nicht möglich ist? Soll die Untersuchung des Erbmaterials von Tausenden von Personen aus der Region des Tatortes ohne den sonst im Strafverfahren erforderlichen einfachen oder dringenden Tatverdacht möglich sein? Auch dies werden wir näher prüfen müssen. Viertens. Wie steht es um die Zweckbestimmung der im Strafprozeß gewonnenen Daten? Sollen diese allen Ernstes entsprechend dem Vorschlag der Bundesregierung nicht nur für andere Strafverfahren, sondern auch für Zivilverfahren verwandt werden können? Fünftens. Eine dringend regelungsbedürftige Frage ist auch die Vernichtung des gewonnenen Datenmaterials. Sollten die gewonnenen Untersuchungsergebnisse nicht ausnahmslos entsprechend unserem Vorschlag bei Wegfall des Tatverdachts ebenso vernichtet werden wie das untersuchte Spurenmaterial selbst? Der Entwurf der Bundesregierung sagt nichts zum Verbleib der Ergebnisse und zur eventuellen Vernichtung des erstellten Gutachtens. Sechstens. Wie steht es um den Schutz der Opfer von Straftaten vor Untersuchungen, die nichts bringen und deshalb als weitere Schikane empfunden werden könnten? Sollte im Zeitpunkt der Anordnung einer Untersuchung nicht bereits - entsprechend dem Vorschlag der SPD - zumindest Vergleichsmaterial eines Tatverdächtigen vorhanden sein? Siebtens. Mit der Bundesregierung fordern wir die Überwachung des Verfahrens durch die Datenschutzbeauftragten. Der Streichungsvorschlag des Bundesrates - es tut mir leid, dies so deutlich feststellen zu können - belegt insoweit ein weniger entwikkeltes Problembewußtsein. Und schließlich achtens. Wer den Datenschutz ernstnimmt, sollte unserem Vorschlag folgen, die unbefugte Weitergabe von genetischen Daten durch eine Erweiterung von § 203 Strafgesetzbuch zu pönalisieren. Der Schutz dieser besonders empfindlichen Daten sollte auch strafrechtlich gewährleistet werden. ({3}) Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wenigen Hinweise, die ich ohne Ausschöpfung meiner Redezeit vorgetragen habe, zeigen: Wir beraten heute drei Gesetzentwürfe in erster Lesung, die zumindest teilweise deutlich unterschiedliche Vorschläge für die Regelung des genetischen Fingerabdrucks machen. Erfreulich ist, daß die überfällige Entscheidung durch den Gesetzgeber heute einen Schritt näherrückt, aber gefunden haben wir die Entscheidung noch nicht. Ich danke Ihnen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Volker Beck, Sie haben das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den Volker Beck ({0}) drei Entwürfen geht es vermeintlich darum, den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Volkszählungsurteil Rechnung zu tragen. Den Sprengstoff, den diese Entwürfe für die Bürgerrechte enthalten, kann man in sieben Minuten leider nur andeuten. Im Entwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 des Bundesrates wird verharmlosend von Akteneinsichtsrechten und Dateiregelungen gesprochen. Seit dem ersten Referentenentwurf zu einem Strafverfahrensänderungsgesetz von 1988 wollen Sicherheitspolitiker jedoch vor allem den Informationsfluß von allen staatlichen Behörden und die umfassende Verwendbarkeit der persönlichen Daten ermöglichen. Der damalige Entwurf ist zu Recht, wie ich meine, an einer starken Opposition und lautstarken öffentlichen Protesten gescheitert. Den Wunschzettel von 1988 finden wir nun im Entwurf eines Justizmitteilungsgesetzes und im vorliegenden Bundesratsentwurf wieder. Mit einer Öffnungsklausel will man Informationen aus Strafverfahren auch für präventiv-polizeiliche Zwecke nutzen können. Die strikte Bindung der Daten an den Erhebungszweck Strafverfolgung wird aufgehoben, eine gefährliche Entwicklung, wie ich meine. Staatsanwälte und Richter sollen noch mehr als bisher in die ausufernde Arbeit der Polizei im Vorfeld eingebunden werden, im krassen Gegensatz zur gesetzlichen Situation. Die Richterinnen und Richter in der ÖTV haben recht, wenn sie feststellen: Wenn der Bürger keinen Überblick mehr hat, an wen die hochsensiblen Erkenntnisse aus den Strafakten gehen, wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte untergraben. Nach dem Entwurf des Bundesrates müssen künftig Verdächtige wie Opfer, Zeugen und sogar Unbeteiligte mit der Weitergabe von Informationen aus Strafakten an Dritte rechnen: Psychiatrische oder medizinische Gutachten, familiäre Hintergründe, aus Ermittlungen und Abhörprotokollen von Abertausenden jährlicher Telefonüberwachungen stünden interessierten Personen offen. Nur scheinbar einschränkend nimmt die Ländermehrheit auf ihre eigenen Polizeigesetze Bezug: Polizeibehörden dürften Daten aus Strafverfahren nach Maßgabe der Polizeigesetze verwenden. Dabei öffnen gerade diese heute alle Möglichkeiten zur Nutzung. Schlicht zur Gefahrenabwehr dürfen Daten aus Akten verwendet und - wie etwa in NordrheinWestfalen - bis zu zehn Jahren gespeichert werden. Wohlgemerkt: Wir wollen der Polizei nicht die Informationen verwehren, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt. Wir halten aber gar nichts von dieser Art Blankoscheck zu Lasten der Bürgerrechte. Die Sorglosigkeit im Umgang mit hochsensiblen Daten offenbart sich auch in den beiden anderen Entwürfen. Bereits der Begriff „genetischer Fingerabdruck" im Titel ist irreführend: Echte Fingerabdrücke sind einmalig. Sie ermöglichen eine zweifelsfreie Identifizierung einer Person. Bei der DNA-Analyse gibt es keine absolute Sicherheit. Sie erlaubt lediglich eine statistische Aussage. Meine Fraktion hat bereits in der 11. Legislaturperiode schwerwiegende ethische, medizinische und rechtliche Bedenken gegen die DNA-Analyse im Strafverfahren geäußert und auf die Gefahren hingewiesen, die von einer lückenlosen Erfassung des Menschen ausgehen. Beide Entwürfe können diese Bedenken nicht ausräumen. Immerhin erkennt die Bundesregierung heute selbst an: Eine Trennung von kodiertem und nicht kodiertem Bereich der DNA ist nicht möglich. Auch im nicht kodierten Bereich der DNA sind Erbinformationen enthalten, die Aufschluß über Eigenschaften eines Menschen geben können. Die Regierungskoalition will den Ängsten der Bevölkerung durch Einführung eines Richtervorbehalts lediglich Sand in die Augen streuen und im wesentlichen der heutigen Ermittlungspraxis den Segen des Gesetzgebers erteilen. Die SPD stellt wenigstens auf einen dringenden Tatverdacht ab, läßt aber völlig offen, für welche Delikte ein solcher bestehen muß. Der Regierungsentwurf enthält noch nicht einmal eine Einsatzschwelle. Der Analyse einer Vielzahl von Personen ist damit Tür und Tor geöffnet. Unter dem Vorwand, Tatverdächtige möglichst früh auszuscheiden, ist zu vieles erlaubt. Ein Beispiel: In Basel fing die Polizei im letzten Jahr alle Dunkelhäutigen auf der Straße und an der Grenze ein, um sie einem Bluttest zuzuführen. Der Grund: Viermal wurden Frauen von einem Dunkelhäutigen vergewaltigt. - Das macht deutlich: Verdächtig sind damit alle, die testbar sind. Auch die vorgesehenen Vernichtungsregelungen in beiden Entwürfen gehören auf den Prüfstand. Was soll etwa mit den Untersuchungsergebnissen, die nach dem Regierungsentwurf nicht von der Vernichtung erfaßt sind, geschehen? Sollen diese etwa auch schlicht abgespeichert werden dürfen und so dem permanenten Zugriff interessierter Kreise preisgegeben werden? Unberücksichtigt bleibt bei dem Gesetzentwurf der SPD wie bei dem der Bundesregierung die extreme Fehleranfälligkeit der DNA-Analyse. Winzige Verunreinigungen wie Pilze und Bakterien reichen aus, um das Ergebnis zu verfälschen. Es fehlen verbindliche Standards für die zu testende Anzahl von DNA-Banden und die Beurteilung der Analyseergebnisse. Auch in der Bundesrepublik hat es deshalb schon Verfahren gegeben, in denen Unschuldige auf Grund der trügerischen Sicherheit dieser Methode hinter Gitter kamen. Nur mit einer generell vorgeschriebenen Zweituntersuchung könnte man erreichen, daß im Prozeß wenigstens mögliche methodische Bedenken, Kritik und Fehlerquellen überhaupt zur Sprache kommen. Die Überprüfung der Institute durch Datenschutzbeauftragte ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es fehlt aber an Regelungen, wie bei festgestellten Mängeln zu verfahren ist. Es reicht doch nicht aus, daß auf Abhilfe gedrängt wird. Volker Beck ({1}) Meine Damen und Herren, wir dürfen uns die Entscheidung für die gesetzliche Fixierung der DNA- Analyse im Strafverfahren nicht leichtmachen. Die Ergebnisse der Anhörung von 1988 sind angesichts des rasanten technischen Fortschritts nur noch begrenzt verwertbar. Wir werden daher im Rechtsausschuß auf eine erneute Anhörung zu den Risiken der DNA-Analyse im Strafverfahren drängen. Für die Behandlung aller drei vorliegenden Entwürfe gilt: Unsere Aufgabe als Gesetzgeber besteht nicht darin, den Ermittlungsbehörden alles technisch Mögliche und ohne gesetzliche Grundlage bereits Praktizierte mit leicht handhabbaren Regelungen zu legalisieren. Wir müssen unter Achtung der Bürgerrechte klare Vorgaben für ihr Handeln schaffen. Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das sind die parlamentarischen Spielregeln: Der Kollege Meyer hat trotz seiner breiten Ausführungen über verschiedenste Gebiete nicht einmal seine Redezeit ausgeschöpft; ich werde bei weitem nicht genügend Redezeit haben, um auf all seine interessanten Argumente eingehen zu können. Aber da im Anschluß sicherlich auch noch der Bundesjustizminister zu dem Regierungsentwurf einiges sagen wird, will ich mich hier auf einige grundsätzliche Bemerkungen gerade zu dem Thema DNA-Analyse beschränken. Ich möchte sagen, Herr Kollege Beck: Bürgerrechte schützt man nicht durch Aufgeregtheit, sondern durch gute Gesetze, ({0}) und man schützt sie auch nicht dadurch, daß man dauernd irgendwelche Vermutungen anstellt und Behauptungen hier in den Raum stellt, dahin gehend, was denn alles Schlimmes passieren kann. Wir werden im Ausschuß genügend Gelegenheit haben, dies alles in Ruhe zu diskutieren. Selbstverständlich gehe auch ich davon aus, daß es zu einer Anhörung kommen wird. Aber wir müssen doch sehen, daß wir es, wenn ich jetzt einmal auf diesen Punkt zurückkommen darf, in der Tat hier mit völlig neuen Perspektiven für die Rechtsmedizin und die Rechtsprechung zu tun haben. Das hat sich ja in der Tat seit etlichen Jahren auch schon in der Praxis bewährt. Es war, glaube ich, im August 1988, daß in Deutschland, in Berlin, zum ersten Mal ein Haftbefehl auf Grund eines solchen genetischen Fingerabdrucks erlassen worden ist. Man muß ja auch einmal, Herr Kollege Beck - darauf sind Sie bei Ihrer etwas einseitigen Betrachtungsweise ja auch gar nicht eingegangen - sehen, welche Chancen sich für die Entlastung Unschuldiger ergeben, denen ja oft lange Verfahren erspart bleiben können, ({1}) weil es eben doch und nach allen Regeln der Wissenschaft zweifelsfrei möglich ist, einen Täter zu überführen oder einen Nichttäter zu entlasten. Was Sie über den Unterschied zwischen dem kodierten und dem nicht kodierten Teil gesagt haben, soll ja auch nur wieder eine neue Unsicherheit erzeugen. Tatsächlich verhält es sich so: Fluch und Segen sind, wie so oft bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Methoden, zwei Früchte desselben Baumes. Ich gebe auch gern zu - deswegen sind wir derart sensibel an diesen Bereich herangegangen -, daß es noch niemals in der Geschichte der Menschheit in derartiger Weise möglich war, einen Menschen sozusagen in die Einzelteile seiner körperlichen Persönlichkeit zu zerlegen. Ich weiß auch, daß der Laie es schwer verstehen kann, wie diese Untersuchungsmethoden eigentlich funktionieren und welche Erkenntnisse man gewinnen kann, und daß dadurch natürlich auch Ängste und Vorbehalte entstehen. Deswegen habe ich gegen eine Politik Bedenken, wie sie gerade bei Ihnen, Herr Beck, und bei den Grünen üblich ist, nämlich zunächst einmal auf diesem eingeschränkten Wissen weiter Bevölkerungskreise aufzubauen und dann diese Unsicherheiten zu schüren, um damit Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen. Ich glaube, daß man diese besondere Herausforderung an Recht und Moral, an die Aufgabe, die Menschenwürde zu schützen, in diesem Gebiet nicht ernst genug nehmen kann. Aber, wir wissen auch: Technik und Wissenschaft sind nicht gut oder böse an sich, es kommt immer maßgeblich darauf an, was der Mensch daraus macht, das heißt in dem Fall, was der Gesetzgeber daraus macht. ({2}) Deswegen will ich loben, daß die Bundesregierung hierbei auf dem richtigen Wege ist und daß wir eine spezielle gesetzliche Regelung bekommen, die rechtspolitisch zumindest notwendig ist, um gerade diese Verunsicherungen zu beseitigen. Die Voraussetzungen, der Inhalt der Untersuchungen, die Zweckbindung, die Vernichtung des Materials werden geregelt. So wird sichergestellt, daß sich die Strafverfolgung - natürlich in den Grenzen, die von Recht und Ethik gesetzt werden - einer modernen Errungenschaft der Wissenschaft bedienen kann. Dies ist sowohl für unsere Rechtspflege als auch für den einzelnen, der davon betroffen ist, gut. Wir begrüßen, daß in diesem Bereich Rechtsklarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden sollen. Die hohen rechtsstaatlichen Hürden sind von den Vorrednern zum Teil schon erwähnt worden, zum Beispiel die Anordnung durch einen Richter und andere Punkte, auf die ich jetzt nicht mehr eingehen kann, da meine Redezeit schon abgelaufen ist. Auch der Datenschutzbeauftragte ist - ich hoffe, das war lobend gemeint - hier schon erwähnt worden. Ich bin überzeugt davon, daß wir dies alles im Rechtsausschuß in der bei uns üblichen Art, ohne Aufgeregtheiten und in Ruhe werden diskutieren können. Verbesserungsvorschläge sind jederzeit willkommen. Niemand kann behaupten, er habe in einem so komplizierten Gebiet, bei dem es darum geht, neue Regeln zu schaffen, von Anfang an alles richtig gemacht oder gesehen. Deswegen denke ich: Es wird eine fruchtbare Diskussion sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Anliegen des Bundesratsentwurfs auf Drucksache 13/194 ist zu begrüßen. Es ist zweifellos an der Zeit, den Umgang mit den im Strafverfahren gewonnenen personenbezogenen Daten auf der Höhe des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts durch ein Gesetz zu regeln und nicht irgendwelchen Richtlinien zu überlassen. Ich habe auch keinen Zweifel, daß im wohlverstandenen Interesse einer Beschleunigung der Rechtspflege ein flüssiger Datenaustausch zwischen den Rechtspflegeorganen sehr wünschenswert ist. Ich habe aber große Zweifel, daß die unter der Überschrift „Dateiregelung" ermöglichten Segnungen der Großdateien, von Datenverbünden bis hin zur automatischen Abfrage, hinreichend mißbrauchssicher sind und ob damit nicht genau das, was angeblich verhindert werden soll, nämlich der Mißbrauch personenbezogener Daten, gerade erst ermöglicht wird. Herr Beck hat dazu ausführlich gesprochen. Nachdenklich macht mich auch der Vorschlag zur Neufassung des § 485 Abs. 4 StPO. Dort heißt es, daß die speichernde Stelle, wenn sie feststellt, daß sie versehentlich unrichtige, zu löschende, gesperrte oder zu sperrende personenbezogene Daten an Dritte weitergegeben hat, dies dem Empfänger mitzuteilen hat, es aber auch unterlassen kann, wenn die Mitteilung „einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert". Daß auch die Justizbeamten, die mit personenbezogenen Dateien umgehen, fehlbar sind, ist uns allen klar. Daß ihnen hier aber qua Gesetz die Möglichkeit gegeben wird, ihre Fehler mit dem Mantel der Nächstenliebe zu umgeben, scheint mir bei einer so sensiblen Materie völlig unzulässig. Wer entscheidet hier, was ein „unverhältnismäßiger Aufwand" ist? Was soll man sich im Zeitalter von Datennetzen und Mailboxen überhaupt unter einem „unverhältnismäßigen Aufwand" zur Datenkorrektur vorstellen? Hierzu besteht im Ausschuß also noch Nachbesserungsbedarf. Wir können uns darüber unterhalten; das werden wir sicher auch tun. Ähnlich ambivalent ist meine Haltung zum Problem des sogenannten genetischen Fingerabdrucks. Mir ist natürlich klar, daß die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Möglichkeiten bei der Aufklärung von Verbrechen nicht aufzuhalten ist. Natürlich ist es wünschenswert, mit möglichst hoher Sicherheit Täter ermitteln zu können und Kenntnisse über Abstammungen zu gewinnen. Das allein rechtfertigt nicht, diesen besonderen Beweis in der Strafprozeßordnung zu regeln. Seit ein britisches Gericht den „gewöhnlichen Fingerabdruck" als Beweis zugelassen hat, sind viele Jahrzehnte vergangen. Der deutsche Gesetzgeber hat es bis heute nicht für notwendig erachtet, ihn gesetzlich zu regeln. Dies ist auch nicht notwendig, weil dabei „Nebenerkenntnisse", die die DNA-Analyse ermöglicht, nicht anfallen. Dies trifft in gleicher Weise auch auf die herkömmlichen Abstammungsuntersuchungen an Hand von Blutproben zu, die übrigens auch schon eine Genauigkeit von über 99 Prozent erreicht hatten. Es geht meines Erachtens nicht nur oder nicht in erster Linie um irgendwelche irrationalen Ängste, die die Bürger immer haben, wenn von Genetik die Rede ist. Der SPD-Entwurf auf Drucksache 13/3116 weist zutreffend darauf hin, daß es um einen zweistufigen Eingriff in Grundrechte geht. Auf der ersten Stufe wird Körpermaterial unter Umständen auch gegen den Willen des Betroffenen gewonnen, auf der zweiten wird mit genanalytischen Methoden analysiert. Um diese zweite Stufe geht es. Es werden mit dieser Analyse eben auch Erkenntnisse gewonnen, die mißbrauchbar sind und an denen nicht nur die Strafverfolgungsbehörden interessiert sind. Es versteht sich für mich von selbst, daß, wenn man sich zu diesem Grundrechtseingriff entschließt, dies nur unter maximalen Vorkehrungen gegen mögliche Mißbräuche geschehen kann. Das heißt: Der Grundrechtseingriff darf erst jenseits einer hohen Eingriffsschwelle erlaubt sein. Eine richterliche Anordnung ist als Voraussetzung vorzusehen. Die ausschließliche Verwendung der gewonnenen Erkenntnisse und des gewonnenen Materials für den vorliegenden Fall der Strafverfolgung ist sicherzustellen. Ich halte es auch für notwendig, in der Regelung ausdrücklich das Verbot von Feststellungen über genetische Anlagen zu erwähnen. Die Körperzellen für die Untersuchung sind zu anonymisieren. Das bedeutet auch, daß nicht mehr benötigte Körperzellen und Unterlagen zu vernichten sind. Schließlich sind auch der Eingriff bei Personen, die nicht Beschuldigte sind, und der Umgang mit aufgefundenen Körperzellen zu regeln. Es geht also uni eine Regelung der Materie, die rechtsstaatlich akzeptabel ist und Mißbräuche ausschließt. Wir werden darüber weiter diskutieren. Ich unterstütze die Forderung des Kollegen Beck auf eine Anhörung zu diesem Problem. Ich möchte noch eine Bemerkung zu der Feststellung des Kollegen Mahlo machen, der hier in seinen Ausführungen eingangs über den „starken Rechtsstaat" sprach. Ein großer Teil von Ihnen wird den Film „Der Schattenmann" und vielleicht auch manche gestern die Diskussion im ZDF gesehen haben. Dort wurde sehr deutlich, daß dieser Film in hohem Maße auf Wünsche der Polizei und der Staatsanwaltschaft zurückgeht, die sich ungenügend durch die Politiker unterstützt sehen. Es war übrigens kein einziger in dieser Diskussion, der auf Probleme bei Ausdehnung der verdeckten Ermittlungen und anderen Fragen hingewiesen hat. Ich habe Probleme mit der ständigen Betonung des Wortes „stark" in der Wendung „starker Rechtsstaat". Man kann über den Begriff des demokratischen Rechtsstaates diskutieren; Demokratisierung halte ich für möglich. Aber ich halte es nicht für gut, wenn das Adjektiv „stark" immer mehr das Wort „Rechtsstaat" übertönt. ({0}) - Mein lieber Herr Kollege, das kenne ich von Ihnen. Das können Sie hier tausendmal sagen. ({1}) Aber es geht darum, was wir hier und heute sagen. Herr Lanfermann erklärte vorhin, wir sollten nicht aufgeregt sein. Ich habe gestern die Aufregung von Herrn Lanfermann in einem anderen Punkte erlebt. Als es nämlich um das Privateigentum ging, war Herr Lanfermann aufgeregt. Bei den Bürgerrechten ist er es nicht. Ich bin also besorgt, daß dann, wenn wir das Adjektiv „stark" nur lange und laut genug gebrauchen, der Rechtsstaat unter die Räder kommt. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Ronald Pofalla, Sie haben das Wort.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bis zu dem Wortbeitrag des Kollegen Heuer ist die Debatte eigentlich sehr sachlich geführt worden; das gilt auch für den Ansatz, in diesem Gesetzgebungsverfahren eine Anhörung durchzuführen. Diesen sachlichen Teil möchte ich durch meinen Redebeitrag fortsetzen. Aber in Richtung des Kollegen Heuer erlaube ich mir schon die Anmerkung: Daß Sie hier als jemand auftreten, der Unterscheidungsmerkmale zwischen Rechtsstaat und starkem Rechtsstaat zu finden versucht, empfinde ich schon als ein starkes Stück, wenn man Ihren Hintergrund kennt. Mit Verlaub, Ihren Beitrag habe ich zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem wir noch gar nicht wissen, was das Ergebnis der Beratungen sein wird, wenn wir denn zu einer Anhörung kommen, für völlig unangebracht gehalten. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, soweit wir uns heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Strafverfahrens im Hinblick auf Zweck und Umfang der Zulässigkeit einer DNA-Analyse, also des sogenannten genetischen Fingerabdrucks, beschäftigen - darauf möchte ich im Schwerpunkt eingehen -, muß ich aus meiner Sicht eine Vorbemerkung vorwegschicken. Da bin ich anderer Auffassung -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Pofalla, Entschuldigung, Herr Kollege Heuer möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich wollte gerne wissen: Wieso war es unangebracht? Ich habe mich gegen die ständige Verwendung der Vokabel „starker Rechtsstaat" von bestimmter Seite gewandt. Das ist mir unheimlich. Mir würde der normale Rechtsstaat schon reichen. ({0}) Warum soll er immer auch noch stark sein?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann es gut verstehen, daß Sie mit diesem Begriff Probleme haben. Aber hätten Sie in Ihrer persönlichen Biographie an den verschiedenen Stellen, wo Sie die Möglichkeit hatten, darauf hingewiesen, daß es einen Rechtsstaat gibt, wäre vielleicht in einem kleinen Bereich, in dem Sie verantwortlich waren, in der ehemaligen DDR manches anders gelaufen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Herr Kollege Profalla, darf ich schnell die Stenographen fragen, ob das aufgenommen werden konnte, weil das mit dem Mikrophon mal wieder nicht so richtig geklappt hat. ({0}) Vielleicht geben Sie es dann nachher dem Fragesteller noch einmal zum Gegenlesen. Bitte, fahren Sie fort.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Heuer, zu Ihrem Buch: Da ich ja nun auch Ihre Wortbeiträge im Rechtsausschuß kenne und Sie ähnliche Beiträge, wie ich sie gerade hier zu kritisieren versucht habe, auch im Rechtsausschuß hin und wieder vortragen, glaube ich nicht, daß ich es mir antun muß, dieses Buch zu lesen. Ich möchte eigentlich auf das zurückkommen, zu dem ich eher etwas sagen wollte, nämlich zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum genetischen Fingerabdruck. Es handelt sich hier - da unterscheide ich mich in der Rechtsauffassung vom Kollegen Meyer - nicht etwa um ein Gesetz, welches den Strafverfolgungsbehörden neue, erweiterte Befugnisse eröffnet; vielmehr ist Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfs, Voraussetzungen, Beschränkungen und Schutzmechanismen des besagten medizinischen Sachbeweises expressis verbis klarzumachen und festzulegen. ({0}) Dies ist insofern geboten, als in weiten Teilen der Bevölkerung im Hinblick auf die Genetik allgemein sowie bezüglich der dadurch ermöglichten Eingriffe in Persönlichkeitsrechte des einzelnen Ängste und Befürchtungen vorherrschen. Zur näheren Konkretisierung und zum Abbau von Ängsten sowie zur Demontage eines vorgezeichneten Feindbildes bzw. Schreckgespenstes empfiehlt sich übrigens zunächst einmal die genaue Definition einer DNA-Analyse. Diese dient einerseits zur Feststellung der Abstammung oder Identifizierung, aber andererseits auch zum Ausschluß von Spurenverursachern. Herr Meyer, darauf will ich nachher noch einmal kurz eingehen. Eine hochgradige Steigerung der Nachweisempfindlichkeit konnte hierbei durch den Einsatz moderner Technik und durch naturwissenschaftliche Neuerungen im Bereich der Spurenanalytik erzielt werden. Inhaltlich umfaßt der Gesetzentwurf der Bundesregierung im wesentlichen drei Teile. Zum einen enthält er Vorschriften über die zulässige Verwendung ordnungsgemäß entnommenen Materials sowie dessen Vernichtung nach Gebrauch. Ferner werden Voraussetzung und Inhalt von Untersuchungen mit molekulargenetischen Methoden geregelt. Schließlich schreibt der Entwurf noch verfahrenssichernde Rahmenbedingungen vor. So wird etwa § 81 a StPO dadurch ergänzt, daß die gemäß Abs. 1 erfolgte Entnahme von Blut, Samen, Haaren oder sonstigen Körperzellen den bestimmten Zweckbindungen des der Entnahme zugrunde liegenden oder eines anderen anhängigen Strafverfahrens unterliegt. Die Verwendung ist demnach zulässig zur Aufklärung der prozessualen Tat im Sinne von § 264 StPO, wegen der die Untersuchung angeordnet wurde, sowie ebenfalls zur Erforschung einer anderen prozessualen Tat. Über diese Bindung hinaus sind eine solche Flüssigkeits- bzw. Körperzellprobe sowie die daraus gewonnenen Zwischenprodukte unverzüglich zu vernichten, sobald sie für eben diesen Zweck nicht mehr benötigt werden, wobei gleichgültig ist, ob das Material tatsächlich für die Untersuchung benutzt wurde oder nicht. Die Eingriffsvoraussetzungen für diese Untersuchungen und deren Zulässigkeitsgrenzen bemessen sich nach dem neu einzufügenden § 81 e StPO. Gleichzeitig beinhaltet diese Vorschrift eine Klarstellung im Hinblick auf die generelle Zulässigkeit solcher zusätzlichen Untersuchungsmethoden. Die Ausforschung schutzbedürftiger genetischer Anlagen des Betroffenen sowie die Feststellung psychischer, charakterbezogener und krankheitsbezogener Persönlichkeitsmerkmale soll § 81 e Abs. 1 Satz 3 StPO des Entwurfs der Bundesregierung verhindern. Die verfahrenssichernden Rahmenbedingungen schafft schließlich der ebenfalls neu einzufügende § 81 f StPO. Sowohl die Untersuchung des entnommenen Vergleichsmaterials als auch des aus der Tatspur gewonnenen Materials steht dort unter einem ausschließlichen Richtervorbehalt. Hier erlaube ich mir eine Anmerkung in Richtung des Kollegen Beck. An anderer Stelle wird häufig kritisiert, daß es solche Richtervorbehalte nicht gibt. An dieser Stelle sieht die Bundesregierung einen solchen Richtervorbehalt vor. Daß jetzt auch der von Ihnen noch kritisiert wird, stößt bei mir offen gestanden auf völliges Unverständnis. ({1}) Die SPD erhebt den Vorwurf, daß in diesem Entwurf im Gegensatz zum eigenen Entwurf eine geringere Einsatzschwelle für die DNA-Analyse vorgesehen werde, ({2}) die Zweckbindung weiter sei und die Verpflichtung zur Vernichtung nicht mehr benötigter Informationen weniger streng sei. Bei genauerem Hinsehen erweist sich aber gerade der SPD-Entwurf nach meiner Überzeugung als unzureichend. Soweit dort nämlich gefordert wird, genanalytische Untersuchungen nur im Falle des sogenannten dringenden Tatverdachts zuzulassen, werden dabei die Fälle von vornherein ausgeklammert, in denen die DNA-Analyse zum Ausschluß eines Spurenverursachers angeordnet werden könnte. ({3}) Dringender Tatverdacht bedeutet doch regelmäßig, Herr Kollege, die große Wahrscheinlichkeit, daß der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Den dringenden Verdacht, eine Tat nicht begangen zu haben, kennt nach meinem Kenntnisstand das deutsche Strafprozeßrecht nämlich nicht. ({4}) Aus dem Regierungsentwurf hervorgehende bedeutende Schutzvorschriften zugunsten von Betroffenen werden im SPD-Entwurf nach meiner Überzeugung einfach übersehen. Man kann es auch noch auf die Ebene eines Vergleichs mit dem Entwurf des Bundesrates ziehen. In einer Anhörung können wir die unterschiedlichen Auffassungen hierüber erörtern. Ich glaube für meine Fraktion vortragen zu können, daß wir dieser Anhörung offen gegenüberstehen und bei uns auch der Wunsch vorhanden ist, im Bereich des genetischen Fingerabdrucks fußend auf den Ergebnissen der Anhörung zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen. Herzlichen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Justiz, Edzard Schmidt-Jortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Minister:in)

Politiker ID: 11002781

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Notwendigkeit und Eilbedürftigkeit gesetzlicher Regelungen für die Verwendung von personenbezogenen Informationen, die in einem Strafverfahren erhoben worden sind, sowie für die Verarbeitung personenbezogener Informationen in Dateien und ihre Umsetzungen stehen außer Frage. Es ist deshalb zu begrüßen, daß der Bundesrat den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 vorgelegt hat, der gesetzgeberische Maßnahmen zur Akteneinsicht und sogenannte gesetzliche Dateiregelungen enthält. Allerdings - dies hat die Bundesregierung bereits in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates verdeutlicht - ist abzulehnen, in welcher Weise die Folgerungen aus dem Volkszählungsurteil in dem Gesetzentwurf umgesetzt werden. Nach Auffassung der Bundesregierung wird der bestehende gesetzgeberische Handlungsbedarf nämlich nur unzureichend aufgegriffen. Die Regelungsvorschläge tragen datenschutzrechtlichen Erfordernissen nicht ausreichend Rechnung. Zunächst bedarf der kritischen Anmerkung, daß der Entwurf den Gesetzesvorbehalt nur unzureichend einlöst. Dies gilt insbesondere für die bisher weitgehend nur in Richtlinien geregelte Fahndung. Ein so sensibler Bereich wie die Öffentlichkeitsfahndung nach Beschuldigten und Zeugen kann nicht allein nach Verwaltungsvorschriften ablaufen. Hier muß der Gesetzgeber selbst Regelungen treffen, die einerseits den Strafverfolgungsbehörden Zulässigkeit und Grenzen der Maßnahmen klar aufzeigen, andererseits aber auch den von den Maßnahmen potentiell Betroffenen verdeutlichen, welche Eingriffe in ihre Rechtspositionen unter welchen Voraussetzungen zulässig sind. Schwerwiegender als die festzustellenden Regelungslücken ist jedoch, daß die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Akteneinsichts- und Dateiregelungen datenschutzrechtlich und letztlich immer auch verfassungsrechtlich bedenklich sind. Auf Regelungen, die die Zweckbindung bestimmter Daten zum Inhalt haben, kann nach dem Volkszählungsurteil nicht mehr verzichtet werden. Gerade dies geschieht aber in dem Gesetzentwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 sowohl für solche Daten, die von öffentlichen Stellen an Strafverfolgungsbehörden übermittelt werden, als auch für solche, die im Strafverfahren erlangt wurden und an andere öffentliche Stellen weitergegeben werden sollen. Es kann nicht ausreichen, wie dies zum Beispiel in § 474 StPO nach dem Bundesratsentwurf geschieht, daß für die Weitergabe im Ermittlungsverfahren erhobener sensibler Daten an öffentliche Stellen nur die Erforderlichkeit zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben dargetan werden muß sowie ein das Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen überwiegendes Interesse an der Versendung der Daten. Hier bedarf es konkreterer, vor allen Dingen aber vorsichtiger Regelungen, die die besondere Sensibilität der Daten berücksichtigen. Nicht minder bedenklich ist letztlich, daß Vorschriften des Bundesratsentwurfs in ihrer praktischen Auswirkung zu einer völligen Aufhebung der vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil geforderten Zweckbindung von Daten für den Bereich des Strafverfahrens führen. Hinter der Regelung des § 160 Abs. 4 StPO des Bundesratsentwurfs steht zwar die gutgemeinte Absicht, eine Verwendungsbegrenzung festzuschreiben. Wenn hiernach Informationserhebungen aber nur dann unzulässig sein sollen, wenn Vorschriften entgegenstehen, die die Verwendung für Strafverfahren besonders regeln, so mißlingt eine Verwendungsbegrenzung; denn solche Vorschriften gibt es kaum. Zu dieser Lücke paßt auch, daß der Länderentwurf darauf verzichtet, die Frage der Verwertung von Informationen aus der Gefahrenabwehr für Zwecke der Strafverfolgung zu regeln. Hier muß aber der Gesetzgeber die Voraussetzungen eindeutig festlegen, unter denen eine Verwertung von Präventivinformationen für die Strafverfolgung zulässig sein soll. Andernfalls droht die Gefahr - ich verweise auf den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni 1995 -, daß im Rahmen der Strafverfolgung bestehende Eingriffsschwellen für besonders sensible Maßnahmen, beispielsweise die Telefonüberwachung oder den Einsatz verdeckter Ermittler, durch Informationserhebungen anläßlich polizeilich gefahrenabwehrender Tätigkeiten umgangen werden. Unbestreitbar enthält der Entwurf - dies soll bei aller Kritik natürlich nicht verschwiegen werden; ich habe darauf auch schon am Anfang hingewiesen - hilfreiche Ansätze. Deshalb ist es zu begrüßen - ich betone das noch einmal -, daß der Bundesrat den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 vorgelegt und damit Regelungsvorschläge für die Akteneinsicht und sogenannte gesetzliche Dateiregelungen unterbreitet hat. Meine kritischen Anmerkungen dürften jedoch deutlich gemacht haben, daß der Gesetzentwurf des Bundesrates aus der Sicht der Bundesregierung von einer ebenso datenschutzkonformen wie sachgemäßen Regelung noch einigermaßen weit entfernt ist. Der von der Verfassung garantierte Schutz des Bürgers vor rechtswidrigen und mißbräuchlichen Eingriffen in sein Persönlichkeitsrecht, insbesondere der so bedeutsame Schutz seiner persönlichen Daten, gebietet eine Zurückhaltung, die der Gesetzentwurf des Bundesrates an vielen Stellen vermissen läßt. Aus diesem Grunde verfolgt die Bundesregierung den in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates angekündigten Regierungsentwurf, den sogenannten Rest-StVÄG-Entwurf, der derzeit in Koalitionsgesprächen behandelt wird, weiter. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir ergänzend und abschließend noch einige Anmerkungen zu dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Regelung der DNA-Analyse im Strafverfahren. Der Einsatz dieser Untersuchungsmethode findet zwar offenbar heute bereits eine Rechtsgrundlage in der Strafprozeßordnung. Herr Kollege Meyer, ich stimme Ihnen zu, daß diese Aussage die Qualifizierung „offenbar" braucht. Jedenfalls meint der Bundesgerichtshof, es läge eine hinreichende Grundlage vor. Die Regierung hält es für wünschenswert, aus meiner Sicht - da stimme ich Ihnen völlig zu - ist es erforderlich, hier besondere Regelungen zu schaffen. Deswegen liegt dieser Gesetzentwurf vor. Mit diesen besonderen gesetzlichen Regelungen sollen die Voraussetzungen und Beschränkungen, die sich für den einzelnen aus der Durchführung einer solchen Untersuchung ergeben, klar festgeschrieben werden. Auf diesem Wege kann insbesondere den in weiten Teilen der Bevölkerung anzutreffenden, mit der Gentechnik ganz allgemein verbundenen Befürchtungen begegnet werden, der Einsatz solcher Untersuchungsmethoden im Strafverfahren führe zu übermäßigen, den Kern der Persönlichkeit berührenden Eingriffen. Der mit dem Regierungsentwurf mitberatene Entwurf der sozialdemokratischen Partei leidet aus unserer Sicht hingegen unter dem Mangel der Aktualität. An diesem Punkt möchte ich mich durchaus den Einwänden von Herrn Kollegen Beck anschließen. Der Oppositionsentwurf differenziert nämlich bei der Frage der Zulässigkeit der DNA-Untersuchungen immer noch zwischen kodierenden und nicht kodierenden Teilen der DNA, während der Regierungsentwurf - neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung tragend - den Umfang zulässiger Feststellungen, das heißt die Abstammungsund Identitätsfeststellung, beschränkt und so eine Ausforschung der Persönlichkeit unterbindet. ({0}) Mit der Beschränkung der Untersuchung auf den nicht kodierenden Bereich der DNA, wie sie im Entwurf der Opposition erfolgt, kann dieses Ziel nicht gewährleistet werden. Auch nicht kodierende Abschnitte des menschlichen Genoms enthalten Informationen, die der Persönlichkeitssphäre zuzurechnen sind. Dem Regierungsentwurf gebührt daher eindeutig der Vorzug. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/194, 13/667 und 13/3116 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 13/3116 soll zusätzlich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Ausschuß für Gesundheit und dem Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung - wir sollten uns nicht wundern, daß uns die Öffentlichkeit manches Mal nicht versteht, wenn wir solche Wortungeheuer schaffen ({0}) überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. Januar 1996, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.