Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, darf ich Sie herzlich bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben, um des verstorbenen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand zu gedenken.
Ein großer Europäer hat uns verlassen. Frankreich hat einen herausragenden Staatsmann verloren, Deutschland einen verläßlichen Partner und guten Freund. Der Sozialist François Mitterrand hat wie kaum ein anderer Politik und Kultur seines Landes in diesen Jahrzehnten geprägt. Er war ein „homme de lettres", ein Architekt der Metropole Paris, der aus der Kultur, der Grundlage jeglicher Zivilisation, heraus lebte und Politik gestaltete.
Sein Lebenswerk stand im Zeichen der europäischen Einigung, des Kampfes für Menschenrechte, Frieden und Demokratie. Seine Vision war ein geeintes und lebendiges Europa, Europa als politische und kulturelle Erfahrungsgemeinschaft, fest verankert im Bewußtsein und im Alltag der Bürger. Sein Leitsatz lautete: Frankreich ist unsere Heimat, Europa ist unsere Zukunft.
Dabei engagierte er sich im Geiste des Elysée-Vertrages vom Januar 1963 in bewundernswerter Beharrlichkeit vor allem für die deutsch-französische Freundschaft. Er hat sie ganz zu seiner Sache gemacht. Deutschland verdankt diesem großen Franzosen viel.
Unvergessen ist seine Rede vom 8. Mai in Berlin. Bewegend und eindringlich hat er dort seine tiefe Verbundenheit mit Deutschland zum Ausdruck gebracht. Sein Vermächtnis muß unser Handeln leiten. Es lautet: Deutschland und Frankreich sind von alters her unauflösbar miteinander verbunden.
Der Deutsche Bundestag wird François Mitterrand ein ehrendes Andenken bewahren. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Angehörigen des Verstorbenen.
Sie haben sich zu Ehren des früheren Staatspräsidenten François Mitterrand von ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich möchte dem Kollegen Dr. Alfred Dregger, der am 10. Dezember seinen 75. Geburtstag feierte, von dieser Stelle aus ganz herzlich gratulieren.
({0})
Ich denke, Sie haben in all den Jahren Ihres politischen Wirkens und als ältestes Mitglied dieses Bundestages große Verdienste um das Parlament erworben. Herzlichen Dank für Ihre Arbeit.
({1})
Ebenso herzlich möchte ich den Kollegen Günther Bredehorn zu seinem 60. Geburtstag, der am 11. Dezember gefeiert wurde, und Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, der seinen 60. Geburtstag am 9. Januar feierte, nachträglich gratulieren und die Glückwünsche des Hauses aussprechen.
({2})
Die Fraktion der CDU/CSU hat mitgeteilt, daß der Kollege Thomas Kossendey als stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ausscheidet. Als neues stellvertretendes Mitglied wird der Kollege Karl-Heinz Hornhues vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege Karl-Heinz Hornhues als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu widersprechenden Aussagen aus der Koalition zum Abbau des Solidaritätszuschlags *)
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter, Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Regulierung und Verknappung des Angebotes erschöpfbarer Energierohstoffe und Einrichtung einer Energierohstoffagentur - Drucksache 13/3492 -
3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS: ökologische und bezahlbare Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung - Drucksache 13/3494 -
*) In der 79. Sitzung am Mittwoch, 17. Januar 1996, erledigt.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
4. - Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit - Drucksachen 13/1809, 13/2043 - Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzabkommen vom 6. März 1995 zum Abkommen vom 7. Januar 1976 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit und zu der Zweiten Zusatzvereinbarung vom 6. März 1995 zur Vereinbarung vom 21. Juni 1978 zur Durchführung des Abkommens - Drucksachen 13/1811, 13/2042, 13/3499, 13/3500, 13/3501 5. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3})
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 13/3475 6. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4})
a) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes - Drucksachen 13/2580, 13/3199, 13/3200 -
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes - Drucksachen 13/2711, 13/3504 7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung anläßlich des vom Bundesrat am 15. Dezember 1995 einstimmig beschlossenen Importverbots für britisches Rindfleisch, der Entwicklung der BSE-Endemie im Vereinigten Königreich und des Auslaufens der BSE-Verordnung am 6. Februar 1996
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ludwig Elm, Wolfgang Bierstedt, Maritta Böttcher, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Weiterführung von Maßnahmen zur Integration der bis 1996 im Wissenschaftler-IntegrationsProgramm ({5}) geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - Drucksache 13/3491 9. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von Grundstücken in den neuen Bundesländern ({6}) - Drucksache 13/2822 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 10, Beratung der Großen Anfrage der PDS, abzusetzen und statt dessen den in der Zusatzpunktliste aufgeführten Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zum Nutzerschutzgesetz zu beraten.
Die Beratungen ohne Aussprache werden heute erst nach der Beratung der Ratifizierungsgesetze zu den Rentenabkommen mit Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika - das ist Zusatzpunkt 4 - gegen 14.00 Uhr aufgerufen.
Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
1. Der in der 58. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. September 1995 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Rechtsausschuß überwiesen werden:
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Sozialhilferechts - Drucksachen 13/2440, 13/2764 Überweisung:
Ausschuß für Gesundheit ({7})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
2. Der in der 58. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. September 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Rechtsausschuß überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Brigitte Lange, Klaus Kirschner, Rudolf Dreßler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reform des Sozialhilferechts - Drucksache 13/2442 Überweisung:
Ausschuß für Gesundheit ({8})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
3. Der in der 77. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller ({9}), Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Notwendige Naturschutzmaßnahmen im europäischen Naturschutzjahr 1995 - Drucksache 13/1350 Überweisung:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
4. Der in der 77. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden:
Antrag der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller ({11}), Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Beendigung der Waffenerprobung und Schießübungen im Nationalpark SchleswigHolsteinisches Wattenmeer - Drucksache 13/1391 Überweisung:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
5. Der in der 77. Sitzung des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden:
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Für einen europäischen Elektrizitätsbinnenmarkt - Drucksache 13/ 3215 Überweisung:
Ausschuß für Wirtschaft ({13})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
3. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainder Steenblock, Michaele Hustedt, Kristin Heyne, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer ökologischen Besteuerung von Energie
({14})
- Drucksache 13/3067 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({15})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Arbeitsplätze schaffen, Arbeitskosten senken, die Wirtschaft ökologisch modernisieren
- Drucksache 13/3230 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({16})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Köhne, Eva Bulling-Schröter, Dr. Willibald Jacob, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Regulierung und Verknappung des Angebotes erschöpfbarer Energierohstoffe und Einrichtung einer Energierohstoffagentur
- Drucksache 13/3492 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({17})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch, wir können so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Kollegin Rainder Steenblock - Entschuldigung: der Kollege Steenblock.
({18})
Frau Präsidentin, wir sind mit dem Feminismus in unserer Fraktion gut vertraut; ich habe da keine Probleme.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute über die Einführung einer Energiesteuer und über den notwendigen Einstieg in den ökologischen Umbau unserer Wirtschaft sprechen, dann ist dies nicht möglich, ohne auf die wirtschaftspolitische Debatte der letzten Tage und Wochen einzugehen.
Es ist schon erschreckend, mit anzusehen, mit welchem Engagement diese Bundesregierung dabei ist, den Wirtschaftsstandort Deutschland kaputtzureden. Es mag ja verständlich sein, wenn der Bundesverband der Deutschen Industrie diese Standortdebatte dazu benutzt, den Abbau der Sozialleistungen in großem Stil voranzutreiben.
Wenn aber die Debatte um die Auswirkungen einer immer stärkeren Globalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen von dieser Bundesregierung zweckentfremdet wird, um von ihrer Untätigkeit, von ihrer Unfähigkeit abzulenken, die ökonomischen und die ökologischen Zukunftsfragen tatsächlich zu lösen, dann ist das in hohem Maße verantwortungslos und nur mit dem inneren Zustand dieser Koalition zu erklären.
({1})
Diese Regierung ist so sehr mit den eigenen Problemen beschäftigt, daß sie angesichts von vier Millionen arbeitslosen Menschen in diesem Lande ihrer wirtschafts- und umweltpolitischen Verantwortung anscheinend dadurch gerecht zu werden versucht, daß sie eine Geisterdebatte anzettelt und der staunenden Republik eine Debatte über den Abbau des Solidaritätszuschlages vorführt.
Statt Schritte zu einer grundlegenden Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung einzuleiten und durch die Einführung einer Energiesteuer die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge zu ermöglichen, wird von einzelnen Vertreterinnen und Vertretern dieser Koalition schon wieder über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer geredet.
Statt umweltpolitische Maßnahmen zur Erreichung des auch von der Bundesregierung verfolgten Klimaschutzziels zu ergreifen, wird nach dem Prinzip Hoffnung auf Selbstverpflichtung gesetzt. Stärker kann man seine Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit nicht demonstrieren.
({2})
Sobald sich jemand wie Herr Repnik oder Frau Merkel mit neuen Überlegungen zu Wort meldet, wird er sofort zurückgepfiffen. Der Finanzminister dieses Landes blockiert nicht nur hier den ökologischen Umbau, er entwickelt sich auch in der Europäischen Union zum Bremser erster Ordnung, wenn es
darum geht, auf europäischer Ebene eine Energiesteuer einzuführen.
Wir Bündnisgrünen wollen mit der Initiative für eine ökologische und soziale Steuerreform die Rahmenbedingungen schaffen, um den ökologischen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Wenn wir in diesem Land mit unseren internationalen Verpflichtungen, die diese Bundesregierung akzeptiert, tatsächlich Ernst machen wollen, um den Klimaschutz in den Mittelpunkt zu stellen und die notwendigen CO2-Minderungen zu erreichen, müssen wir die Energiepreise auf fossile Energieträger stetig verteuern und somit die Voraussetzung für eine Energiewende schaffen.
Die Bundesregierung ist mit ihrer Politik der Selbstverpflichtung im Bereich des Klimaschutzes schon gescheitert, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat.
({3})
Man muß sich einmal vorstellen: Vor dem Hintergrund des Ziels, eine Reduktion von 25 Prozent zu erreichen, ist der CO2-Ausstoß seit 1990 in den westlichen Bundesländern um 4 Prozent angestiegen. Nur der völlige Zusammenbruch der Industrieproduktion im Osten macht es möglich, daß wir in der Summe noch eine CO2-Minderung erreicht haben. Das ist aber nicht den Zielen der Umweltschutzpolitik dieser Regierung zu verdanken.
Der von uns vorgeschlagene ökologische Umbau unseres Steuersystems wird entscheidend dazu beitragen, die Innovationspotentiale freizusetzen, die wir brauchen, um zukunftssichere Arbeitsplätze in großem Stil zu schaffen. Das gilt für unsere volkswirtschaftlich wichtigen Bereiche des Maschinenbaus und der Elektroindustrie. Das gilt auch für den Umbau des Verkehrsbereiches, für die Energieerzeugung und andere Hochtechnologiebereiche unserer Industrie. Die Chancen unserer Wirtschaft hier in Deutschland liegen nicht in einer fatalen Konkurrenz mit den Billiglohnländern, sondern nur in einer hochwertigen Produktion.
Immer mehr entwickelt sich dabei allerdings die Irrationalität unseres Steuersystems zu einem zentralen Standortnachteil. Auf der einen Seite wird Arbeit immer stärker belastet, auf der anderen Seite bleibt der Umweltverbrauch viel zu billig. Die enormen ökologischen und ökonomischen Kosten, die aus dieser ungebremsten Umweltnutzung folgen, werden wieder dem Steuerzahler aufgebürdet, dem heutigen Steuerzahler und noch viel stärker den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der nächsten Generation. Die Finanzpolitik dieser Bundesregierung ist auf eine einseitige Belastung der Arbeit angelegt und ist nicht nur ökologisch unverantwortlich, sondern auch unter ökonomischen Gesichtspunkten völlig verfehlt.
({4})
Wir haben ein Modell einer ökologischen Steuerreform entwickelt, durch das sich innerhalb weniger
Jahre durch die Einführung einer Energiesteuer, die Erhöhung der Mineralölsteuer und den Subventionsabbau ein wirklich sparsamer Umgang mit Ressourcen für Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch für Unternehmen lohnen wird. Gleichzeitig können durch dieses Modell die Sozialversicherungsbeiträge um 6 Prozentpunkte gesenkt werden. Außerdem stellen wir tatsächlich das notwendige Finanzvolumen zur Verfügung, um in diesem Land eine Einkommen- und Unternehmensteuerreform durchführen zu können. Das sind die Signale, die unsere Volkswirtschaft braucht.
Meine Damen und Herren, die relativ hohen Umweltstandards, die von der Umweltbewegung zumeist gegen den erbitterten Widerstand von Industrie und konservativen Regierungen erkämpft worden sind, haben zu mehreren Hunderttausenden von Arbeitsplätzen in diesem Land geführt. Die Umweltministerin rechnet für das Jahr 2000 mit einer Million Arbeitsplätzen im Umweltbereich. Deutschland ist mittlerweile Exportweltmeister im Bereich der Umwelttechnologien. Das mußte gegen diese Regierung und gegen die Industrie durchgesetzt werden.
Ein ähnlicher Effekt, eine große Innovations- und Effizienzrevolution, wird auch durch den Einstieg in eine ökologische und soziale Steuerreform ermöglicht. Als Einstieg schlagen wir Ihnen heute als ersten Schritt das Energiesteuergesetz vor.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir, die Politikerinnen und Politiker, sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir unterlassen. Wir können uns keine Bundesregierung leisten, die mit ihrer Politik versucht, Weltmeister im Nichtstun zu werden. Mit Ihrer bisherigen Politik des Nichtstuns sind Sie zum größten Standortrisiko in dieser Republik geworden.
Danke schön.
({5})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Hans-Peter Repnik das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Frage, wie wir vorhandene Arbeitsplätze sichern, wie wir neue schaffen und wie wir die Arbeitskosten senken können, beschäftigt Politik und Tarifparteien gerade in diesen Wochen in ganz besonderem Maße. Die Sorge, wie wir die Umwelt auch in Zukunft für künftige Generationen schützen und erhalten können, treibt uns alle, alle Fraktionen dieses Bundestages, um. Nur, sowohl die Vorschläge, die uns die SPD in ihrem Antrag dazu unterbreitet hat, als auch der Gesetzentwurf der Grünen, der soeben begründet wurde, sind nicht das probate Mittel, wie wir mit beiden großen Herausforderungen fertig werden können. Deshalb werden wir weder dem Gesetzentwurf
der Grünen noch dem Antrag der SPD zustimmen können.
({0})
Ich räume ein, daß es viel Übereinstimmung im analytischen Teil gerade beim Antrag der SPD gibt. Wir sind genauso besorgt wie Sie im Hinblick auf den zunehmenden Energieverbrauch. Wir wissen, da der größte Teil des Energieverbrauchs von den Industrienationen nachgefragt wird, daß sie auch in einer ganz besonderen Verantwortung stehen. Wir sind in Sorge um den hohen Ressourcenverbrauch. Auch hier gilt es, Abhilfe zu schaffen.
({1})
Wir wissen sehr wohl, daß dieser Trend eher noch zunimmt, als daß er abnimmt, angesichts eines großen Bevölkerungswachstums und eines Wirtschaftswachstums in vielen Schwellenländern. Aber wir wissen natürlich auch, daß dies teilweise in Konkurrenz zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und damit zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze steht.
({2})
Das Vorgehen dieser Koalition und meiner Fraktion ist: Wir müssen ökologisch wirksam handeln und gleichzeitig wirtschaftsverträgliche Programme vorstellen.
({3})
Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, unterscheidet uns sowohl von der SPD als auch von den Grünen.
({4})
Wir haben eine Pflicht zum Schutz der Umwelt. Aber
wir haben genauso eine Pflicht zum Schutz der
Arbeitsplätze und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Deshalb begrüßen wir mit Nachdruck die Selbstverpflichtung, die die Bundesregierung, die Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Berliner Klimagipfel eingegangen ist: 25 Prozent Reduktion bis zum Jahr 2005. Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihrem europäischen Vorstoß einer CO2-/Energiesteuer, und wir ermuntern sie, diesen Vorstoß kraftvoll voranzutreiben.
Wir begrüßen die Selbstverpflichtung der deutschen Industrie. Auch dies bitte ich zur Kenntnis zu nehmen, Frau Kollegin Matthäus-Maier. Meines Wissens gibt es im internationalen Vergleich keinen Industrieverband, keine Branche, keinen Wirtschaftszweig, der sich in diesem Maße selbst verpflichtet hat, wie die deutsche Wirtschaft. Wir nehmen sie beim Wort, und wir begleiten Angela Merkel bei der Erarbeitung eines Monitorings, daß diese Selbstverpflichtung auch eingehalten wird.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ökologisch wirksam ist eine Schocktherapie, die sowohl die SPD als auch die Grünen vorschlagen, nicht. Sie würde dazu führen, daß Produktionsstätten ins Ausland verlagert und dann dort die Schadstoffe emittiert würden. Das heißt, sie hätte keine ökologische Wirksamkeit. Wirtschaftsverträglich ist sie nicht, weil sie gleichzeitig Arbeitsplätze exportieren würde.
({6})
Herr Repnik, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte im Moment im Zusammenhang vortragen, Frau Präsidentin!
Den größeren ökologischen und wirtschaftlichen Nutzen hätten wir dann, wenn es gelingt, andere Länder, zum Beispiel sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und vielleicht darüber hinaus die Mitglieder der OECD, mit ins Boot zu bringen. Dies ist unser Ansatz.
Gleichzeitig möchte ich auf eine Chance aufmerksam machen, die wir im Hinblick auf den Arbeitsmarkt nicht unterschätzen sollten.
Die Politik der Koalition unter Helmut Kohl hat im Laufe der letzten 13 Jahre eine hohe umweltpolitische Meßlatte gelegt. Wir sind in diesem Bereich international führend. Das hat dazu geführt, daß die deutsche Industrie und die Wirtschaft mit neuen Technologien reagiert haben.
Wir haben zur Zeit ungefähr 300 Milliarden DM Investitionsvolumen weltweit an Umwelttechnologien. Die Bundesrepublik Deutschland hält davon rund ein Viertel Exportanteil. Wir sind Exportweltmeister bei Umwelttechnologien. Diesen Trend gilt es fortzusetzen.
700 000 Arbeitsplätze wurden in diesem Bereich geschaffen. Der Markt ist dynamisch, und wir sollten den Ehrgeiz haben, an ihm teilzunehmen. Deshalb sollten wir auch die Diskussion um den Umweltschutz nicht nur als Bedrohung für den Arbeitsmarkt sehen, sondern auch die Chance, die sich daraus ergibt, begreifen. Darauf wollen wir setzen.
({0})
Auf diesem Weg ist der Antrag der SPD nicht sonderlich hilfreich. Sie wollen in Ihrem Antrag, Frau Matthäus-Maier, die Pro duzentenhaftung verschärfen, Sie wollen die Steuern erhöhen. Beides trägt nicht dazu bei, daß Deutschland in diesem Zusammenhang attraktiver wird. Ich verstehe überhaupt nicht,
wie Sie in Ihrem Antrag von einer ungerechten Steuerpolitik im Hinblick auf kleinere und mittlere Einkommen sprechen können.
Es ist doch diese Koalition gewesen, die im Jahressteuergesetz rund 20 Milliarden DM steuerliche Entlastungen für kleinere und mittlere Einkommen durchgesetzt hat. Die kleinen und mittleren Einkommen wurden entlastet und nicht die großen. Sie reden in Ihrem Antrag an der Wahrheit vorbei.
({1})
- Sie, Frau Matthäus-Maier, fordern in Ihrem Antrag die Senkung der Unternehmensteuer, damit die Unternehmen wieder Kraft zu Innovationen und Investitionen erhalten. Ich frage mich in allem Ernst: Bei wem fordern Sie das ein?
Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes den Vorschlag unterbreitet, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen, die Gewerbeertragsteuer mittelstandsfreundlich zu senken.
({2})
Wir wollen die betriebliche Vermögensteuer abschaffen. Wir möchten die Erbschaftsteuer so ausgestalten, daß gerade auch bei der Betriebsübergabe erträgliche Maßnahmen gegeben sind. Sie haben all dem bisher nur ein Nein entgegengesetzt.
({3}) Sie haben sich im Bundesrat verweigert.
Wenn Sie bereit wären - ich habe Sie von dieser Stelle aus bereits vor einem halben Jahr dazu eingeladen -, der Unternehmensteuerreform, der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der mittelstandsfreundlichen Senkung der Gewerbeertragsteuer zuzustimmen, dann würden wir Investitionshemmnisse beseitigen und einen Investitionsschub bekommen,
({4})
mit dem wir die Chance erhielten, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen. Hier sind Sie eingeladen.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann nur sagen: Die SPD gibt unabhängig von diesem Antrag auf all diese Fragen keine Antworten, sondern sie stellt gerade in diesen Tagen ein verwirrtes Bild dar. Lafontaine setzt gerade im Ausland erschütternde Signale mit seinen Äußerungen zu kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen. Haben Sie denn aus den Erfahrungen der 70er Jahre nichts gelernt?
({6})
Die Schulden versiebenfacht, Inflation über 5 Prozent und die Arbeitslosigkeit von 0,8 Prozent auf 8,8 Prozent erhöht: Das sind die Ergebnisse einer schuldenfinanzierten Konjunkturpolitik à la SPD der 70er Jahre.
({7})
Herr Dreßler möchte die Mehrwertsteuererhöhung, Maschinensteuer und die Wertschöpfungsabgabe, Herr Mosdorf will ein Konzept mit massiven Subventionsphantasien. Was wir und die Wirtschaft brauchen, ist eine Entlastung. Nicht die Auflage immer neuer Förderprogramme bei achselzuckender Duldung anwachsender Verschuldung kann Antwort auf die Arbeitslosigkeit geben.
Wir werden auch und gerade im Rahmen der Diskussion zum Jahreswirtschaftsbericht heute in 14 Tagen diese Programme darstellen. Wir lehnen Ihre Vorstellungen als unwirksam aus ökologischen wie ökonomischen Gründen ab.
({8})
Als nächster spricht der Vorsitzende der Fraktion der SPD, der Abgeordnete Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Fraktion legt einen Antrag vor, der Arbeitsplätze schaffen, die Kostenbelastung der Wirtschaft senken und die Wirtschaft selbst ökologisch modernisieren wird. Das sind die zentralen Aufgaben für Gegenwart und Zukunft:
({0})
jetzt Arbeitsplätze zu schaffen und langfristig die Lebensgrundlagen zu sichern. In diesem Zusammenhang ist die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung zu besprechen.
„Für wirtschaftliche Themen hat der Kanzler noch nie Gespür gehabt" , sagt der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, und der derzeitige Präsident fügt hinzu, über Nichtstun, Schönfärberei und Büttenreden komme die Regierung nicht hinaus. Das macht die wirtschaftspolitische, die arbeitsmarktpolitische Debatte und die Enttäuschung der Menschen im Land aus.
Nichtstun, Schönfärberei und Büttenreden, das ist kein Urteil der Sozialdemokratie, sondern des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
({1})
Die Arbeitgeber beklagen mangelnde Entschlossenheit und Nichthandeln. Der Präsident der selbständigen Unternehmer und Mitinhaber der MelittaGruppe sagt: Die „Weiterso"-Mentalität können wir uns nicht länger leisten.
({2})
Damit hat er völlig recht. Wir brauchen ein Umsteuern, denn wir leben, auch wenn die Regierung vor lauter Selbstbeweihräucherung nicht mehr sieht, was wirklich geschieht,
({3})
wenn sie vor lauter Selbstbeweihräucherung die Wahrheit nicht mehr sieht, in einer nun allerdings ernsten, fast dramatischen Situation.
Der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat sich beschleunigt. Wir haben so viel Arbeitslose wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Gleichzeitig suchen immer mehr statistisch gar nicht mehr erfaßte Menschen Arbeit. Das Wirtschaftswachstum wird im Jahre 1996 vielleicht 1 Prozent betragen, mit Folgen für den Arbeitsmarkt, mit Folgen für die öffentlichen Kassen, mit Folgen für die Fähigkeit des Staates, wirtschaftlich umzusteuern.
Sich in dieser Situation bequem zurückzulehnen,
({4})
nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß in einer dramatischen Situation auch ein dramatischer Bewußtseinswandel stattgefunden hat, daß es Angebote gibt - auf der Seite der Gewerkschaften, auf der Seite der Kirchen, auf der Seite der Sozialdemokratie -, das ist eine Haltung, die Deutschland nicht aus den Schwierigkeiten herausführen wird. Der Kampf in den ideologischen Schützengräben von gestern führt auch nicht weiter.
({5})
Es geht auch nicht darum, daß eine Theorie über die andere siegt. Es geht auch nicht darum, daß Haarspaltereien betrieben werden, sondern darum, daß wir jetzt alle Kräfte, die politischen und die der Tarifpartner, die der Wissenschaft, bündeln, die Ideen sortieren und dann Entscheidungen treffen, die Arbeitsplätze schaffen, die die Kosten der Wirtschaft senken und das ökologische Modernisieren voranbringen.
({6})
Insofern fügt sich der Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion gut ein in die Initiativen der Gewerkschaften, ein „Bündnis für Arbeit" zu schaffen. Wir wollen Arbeitsplätze schaffen und die Arbeitsplätze selber von Kosten entlasten. Wir wollen Innovation in der deutschen Wirtschaft. Wir sind allerdings der Auffassung, daß der Einstieg ins Solarzeitalter, der Schutz unseres Klimas, die Entwicklung von Umwelttechnologien nun wirklich wichtiger sind und eine intensivere Debatte verdienen als die kümmerliche Diskussion um den Ladenschluß in Deutschland.
({7})
Denn damit kommen wir aus den Schwierigkeiten nicht heraus.
In welcher politischen Lage wir sind, das hat ein Parteifreund aus den Reihen der CDU auf den Punkt gebracht. Das größte Problem der CDU - so sagt er - in diesen Tagen besteht darin, daß wir aus Rücksicht auf Gruppeninteressen die strittigen Themen ausklammern.
So sagt der Fraktionsvorsitzende der CDU im Hessischen Landtag, und zu dieser Ansicht kommt ja offenkundig auch der Koalitionspartner, denn Herr Solms läßt in einem Magazin, das der Kanzler allenfalls lesen läßt, verkünden, oder er verkündet selbst:
Der Kanzler spricht davon, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, den Standort Deutschland zu reformieren. Aber was genau zu tun ist, um diese Ziele zu erreichen, sagt er nicht.
({8})
Man kann es auch anders ausdrücken: Aus den Reihen der Regierung kommen ständig selbst schon Signale, daß diese Regierung nicht mehr in der Lage ist, Deutschland vernünftig zu regieren.
({9})
Arbeitsplätze wollen Sie schaffen, zu Risikobereitschaft und Leistung ermutigen, aber seit Jahren rollt eine Pleitewelle über Deutschland hinweg. In jedem Monat dieses Jahres werden vermutlich rund 2000 Unternehmen schließen müssen. Für Wirtschaft, Finanzen und die Sozialversicherung bedeutet das einen Verlust von rund 100 Milliarden DM.
Da muß es wie Hohn klingen, wenn sich der Bundeskanzler hinsetzt und verkündet:
Wir haben leider kein Klima in der Gesellschaft, in dem der Wille zur Selbständigkeit gefördert wird. In vielen deutschen Schulen lernen Kinder nicht, daß es eine gute Sache ist, ein Wagnis einzugehen, Mut zu haben, etwas anzufangen.
Herr Bundeskanzler, ich frage erneut: Wer regiert dieses Land eigentlich seit 13 Jahren? Wer hat denn diese Zustände herbeigeführt? Und wer ist die Ursache all dieser Probleme?
({10})
Sie sind doch offenkundig gänzlich unfähig zu erreichen, daß eine Gründerwelle die Pleitewelle endlich ablöst, wie es notwendig wäre.
({11}) Wir machen dazu Vorschläge:
Fonds für Risikokapital; Insolvenzrecht, das Miß erfolge nicht ein Leben lang bestraft; bessere Bedingungen für Technologietransfer; Forschungsförderung in Klein- und Mittelunternehmen; technologieorientiertes Börsensegment; neues Unternehmensteuerrecht, das Innovation und Investition steuerlich belohnt. All das gehört zu einem Antrag, der ArbeitsRudolf Scharping
plätze schaffen, die Wirtschaft modernisieren und die Kosten senken will.
Wir rechnen Ihnen im übrigen - wie wir gesehen haben: zum Teil unter Zustimmung aus der Koalition - vor, daß es möglich ist, ökologisch und sozialverträglich die Wirtschaft von Kosten zu entlasten und den verhängnisvollen Trend zu stoppen, daß immer zu Lasten der Arbeitsplätze und zu Lasten der Arbeitseinkommen Aufgaben der Allgemeinheit finanziert werden. Sie tragen die Verantwortung für die hohen Lohnnebenkosten.
({12})
Wenn man weiter guckt - man sucht ja ab und zu nach Zitaten -, dann findet man ein erneutes Zitat. Was macht die Regierung, anstatt sich diesem wesentlichen Thema zuzuwenden? „Vollmundige Ankündigungen, Flickschustereien, Sprechblasen" - dies ist kein Zitat aus den Reihen der Sozialdemokratie oder der Betriebsräte oder der Gewerkschafter, sondern von Helmut Becker, dem Präsidenten des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft.
({13})
Die Rolle der mittelständischen Wirtschaft wird von der Koalition immer besonders gerne beschworen. Da ist auch etwas dran. 99,8 Prozent aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen in Deutschland sind kleine und mittlere Unternehmen mit maximal 500 Mitarbeitern. In Deutschland beschäftigen sie die Hälfte aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und sie bilden vier von fünf Lehrlingen aus. Diese Betriebe sind ein entscheidender Standortvorteil Deutschlands: sehr gut ausgebildete Mitarbeiter, hohe Spezialisierung, flache Hierarchien, schnelle Umsetzung von Ideen in die Produktion, innovatives Potential - übrigens auch wieder für ökologische Modernisierung und Erneuerung.
Seit Jahren verspricht die Bundesregierung: Die werden wir jetzt unterstützen. Dann wird, wie jetzt wieder vom Kollegen Repnik, von der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gesprochen. Aber die bezahlen nur 14 Prozent der Betriebe in Deutschland. Von diesen 14 Prozent wiederum bezahlt lediglich 1 Prozent mehr als die Hälfte der gesamten Summe, nämlich Banken, Versicherungen und bestimmte Industriekonzerne.
Wer die mittelständische Wirtschaft entlasten will, wird unserem Konzept zustimmen, weil die Senkung der Lohnnebenkosten den Arbeitnehmern und den beschäftigungsintensiven Betrieben gleichermaßen und in besonderer Weise zugute kommt.
({14})
Der kann dann auch helfen, daß der Zustand beendet wird, den das Institut der mittelständischen Vereinigung der CDU 1994 ermittelt hat. 82 Prozent der Mittelständler fühlen sich nach einer Untersuchung dieses Instituts der CDU „von der Politik verraten". Die Leute haben ja recht, die kleinen Unternehmer, die Handwerker, die Mittelständler: Es wird in Deutschland nur noch von ihrer Bedeutung gefaselt, aber nichts für ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit getan.
({15})
Dafür gibt es ein besonders eklatantes Beispiel. Der Bundeskanzler hat eine Baustelle besucht und mit echten Bauarbeitern geredet; er hat es jedenfalls versucht. Es ist ihm aufgefallen oder es hat ihm jemand erzählt, daß er „sechs Dolmetscher" bräuchte, um sich zu unterhalten. Das hat ihn offenkundig zum Umdenken bewogen - ein bißchen spät.
Tausende von Baufacharbeitern in Deutschland haben die Unfähigkeit der Bundesregierung zur Regulierung des Arbeitsmarktes mit Arbeitslosigkeit bezahlen müssen.
({16})
Aber jetzt - sagt der Bundeskanzler - wird gehandelt, das System wird überprüft. Dazu ist es auch höchste Zeit; denn an zweiter Stelle bei den Unternehmenspleiten des Jahres 1995 steht die Bauwirtschaft. 5 400 Betriebe haben aufgeben müssen, und Sie haben über zwei Jahre - erst in der Europäischen Union und dann in Deutschland - tatenlos zugesehen, wie Bauhandwerker aus Polen oder Griechenland, Tschechien oder Spanien, England oder sonstwoher zu den Bedingungen ihrer Heimatländer und mit Löhnen weit unter dem Existenzminimum in Deutschland ausgebeutet worden sind um den Preis, daß Arbeitnehmer aus Deutschland arbeitslos wurden, zu Tausenden!
({17})
Kein Mensch in Europa hat das Zögern der Regierung Kohl verstanden. Frankreich, Belgien und Österreich haben das inzwischen geregelt, Luxemburg ist dabei. Der Ministerpräsident dieses kleinen Landes sagt: Deutschland macht eine Politik - bezogen auf diese Frage -, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schadet und den Republikanern in die Hände spielt.
Ich sage noch einmal, meine Damen und Herren: Wir haben eine besonders ernste, fast dramatische Situation, und wir können uns eine Koalition und eine Regierung nicht mehr leisten, die diesem Land keine Perspektive gibt und - anstatt Arbeitsplätze zu schaffen, die Kosten der Wirtschaft zu senken, ökologische Perspektiven aufzuzeigen - in Selbstbeweihräucherung und Untätigkeit verharrt und die großen Chancen zu verspielen droht, die sich aus den Angeboten der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie ergeben.
({18})
Ich bringe ein weiteres Zitat:
Wir stellen mit Bedauern fest, daß der Kanzler wirtschafts- und finanzpolitische Fehlentwicklungen nicht zur Kenntnis nimmt.
Das sagt der Inhaber der Georgsmarienhütte, Jürgen Großmann. Diese Regierung hat die Steuer- und Abgabenlast auf bisher nicht für möglich gehaltene Rekordhöhen getrieben. Wenn die Wirtschaftsinstitute für 1996 sagen, die einzige Chance, daß wir Wachstum haben, liegt im privaten Verbrauch, dann müßte der Finanzminister, dann müßte die Bundesregierung der SPD auf den Knien danken für den jahrelangen Kampf, das Existenzminimum zu entlasten und ein einheitliches Kindergeld einzuführen. Denn nur das wird den privaten Konsum vorantreiben.
({19})
Aber 48 Prozent gehen heute vom Bruttolohn eines Durchschnittsverdieners für Steuern und Abgaben drauf. 1982 waren das noch 39 Prozent. Mit der deutschen Einheit allein ist dieser gewaltige Unterschied nicht zu erklären.
All das zeigt: Die Bundesregierung scheitert bei der Lösung jener Probleme, die sie selbst verursacht hat. Gerade die Leistungsträger in der Mitte unserer Gesellschaft bekommen immer mehr Lasten auf gebürdet. Zwischen 1983 und 1993 sind die Steuereinnahmen insgesamt um 90 Prozent gestiegen, die Lohnsteuer aber um 100 Prozent, die Umsatzsteuer um 104 Prozent, die Mineralölsteuer um 140 Prozent. Der geringste Zuwachs ist bei der Körperschaftsteuer mit 17 Prozent und bei der veranlagten Einkommensteuer mit rund 17 Prozent zu verzeichnen.
({20})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft braucht Erträge, sie braucht Gewinne, sonst kann sie nicht investieren. Aber sich hinzustellen und die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes allein mit Kosten und der Belastung der Gewinne durch Steuern zu erklären sieht daran vorbei, daß in Deutschland die Gewinne gestiegen und die Belastungen mit Steuern und Abgaben für Erträge aus Unternehmen und Vermögen deutlich gesunken sind, während der Normalverdiener und die Leistungsträger in der Gesellschaft mittlerweile 48 Prozent ihres Einkommens für Steuern und Abgaben ausgeben.
({21})
Das alles sind bittere Wahrheiten, und sie werden noch durch die Tatsache verschlimmert, daß in Deutschland die Hälfte der Einkommensmillionäre überhaupt keinen Pfennig Steuern bezahlt.
Meine Damen und Herren, wer über Entlastung redet, wird in der Sozialdemokratie einen aufgeschlossenen Gesprächspartner finden. Es muß sich aber um eine Entlastung bei der Wirtschaft handeln, wie wir sie vorschlagen; denn mit unserem Vorschlag ist eine Nettoentlastung der deutschen Wirtschaft in der Größenordnung von 10 Milliarden DM verbunden. Aber es muß auch eine Entlastung bei den Arbeitnehmern und bei den Normaleinkommen geben.
({22})
Es kann nicht so weitergehen, daß Leute mit einem
Einkommen von einer Million Mark keine müde
Mark Steuern zahlen, während der normale Arbeitnehmer bis Juni für das Finanzamt und die Sozialversicherung arbeitet.
({23})
Sie beklagen die Höhe der Lohnnebenkosten. Das aber reicht nicht aus. Sie selbst haben ja die Lohnnebenkosten in eine ungeahnte Höhe getrieben. Sie haben die Finanzierung der Einheit zu einem wesentlichen Teil den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Sozialversicherungen, den beschäftigungsintensiven Betrieben, Handwerk und Mittelstand angelastet. Also sagen wir mit unserem Antrag auch: Wir wollen die Lohnnebenkosten senken, für neue Beschäftigung, für die lohnintensiven Branchen und dafür, daß es ein marktwirtschaftliches Umsteuern zu mehr Energieeffizienz, zu mehr Umweltschutz und zu mehr Innovation geben kann. Der Einstieg in eine ökologische Reform des Steuersystems ist überfällig.
({24})
Meine Damen und Herren, manche reden in diesem Zusammenhang von „Globalisierung" und betrachten Globalisierung als Freibrief für ihre eigene Untätigkeit. Wir haben deshalb auch ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgelegt, und wir sagen: Wissend, wie schwierig es ist, daß man nicht mehr jede gestrichene Sozialleistung und jede geminderte Leistung des Staates auf den Stand der 80er Jahre zurückführen und wiederherstellen kann, sind wir bereit mitzuhelfen, daß die nominalen Steuersätze sinken, wenn das zunächst durch einen Abbau ungerechtfertigter Steuersubventionen und Steuervergünstigungen finanziert wird. Wir sagen das trotz der Erfahrung aus der Beratung des Jahressteuergesetzes, daß nämlich die lautesten Schreihälse, die den Abbau von Steuersubventionen fordern, am Ende die größten Hasenfüße sind, wenn es um den wirklichen Abbau von Vergünstigungen geht.
({25})
Wir wissen, daß man auch der eigenen Klientel etwas zumuten muß, und wir wissen sehr genau, daß dazu auch die Modernisierung des Sozialstaates gehört. Aber wer immer nur mit dem Finger auf andere zeigt, wer nicht fähig ist zu tun, was notwendig ist, wer sich mit Europa herausredet und deswegen gegen eine ökologische Modernisierung ist und gegen die Verankerung entsprechender Elemente im Steuersystem, wer alles das mit dem Hinweis auf internationale Entwicklungen blockieren will, der hat nicht verstanden, worum es in Deutschland wirklich geht, nämlich um die Einbettung unserer in eine europäische Entwicklung, darum, gemeinsam etwas in Europa für Beschäftigung und Umwelt,
({26})
für Wachstum und Schutz der Natur zu tun und hier in Deutschland damit zu beginnen: Senkung der Lohnnebenkosten, beschäftigungsorientierte Arbeitsmarktpolitik mit Regionalisierung, Schutz vor Lohndumping, Abbau von Überstunden, Teilzeitarbeit, Qualifizierung, ein einfacheres und gerechteres Steuersystem, das mit dem Abbau von Bürokratie verbunden wird.
Der Harvard-Professor Robert Reich, Bill Clintons Arbeitsminister, hat recht, wenn er sagt: In einer Zeit, in der Geld, Waren und Dienstleistungen keine Grenzen mehr kennen, ist es Aufgabe nationaler Politik, das zu fördern, was innerhalb der nationalen Grenzen verbleibt: die Menschen mit ihrer Arbeitskraft, ihren Kenntnissen und Fähigkeiten.
({27})
Fangen Sie endlich damit an! Für Nichtstun, für Unwilligkeit und für kleinliche Haarspaltereien in der Koalition hat Deutschland keine Zeit mehr. Wir brauchen eine Wende in der Politik.
({28})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Graf Lambsdorff.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wende in der Politik - Herr Scharping, glauben Sie, daß das, was Sie und Oskar Lafontaine aufgeschrieben haben, nämlich: „Wir wissen auch, daß man nicht alle Einschnitte der letzten 13 Jahre zurückholen kann", eine Wende ist, daß das ausreicht? Wenn das alles ist, was Sie tun wollen, um zur Senkung der Arbeitskosten beizutragen!
({0})
Gerade wurde erklärt, daß man nichts zurückholen kann, aber es kamen keinerlei konkrete Vorschläge, was denn geschehen soll.
({1})
Wende in der Politik: Ich habe vor einigen Monaten von diesem Rednerpult aus die Frage gestellt, ob das Wort „notwendig" wirklich bedeutet, daß erst die Not etwas wendet. Jetzt frage ich mich, ob wir an diesem Punkt angekommen sind, bei 10 Prozent Arbeitslosigkeit, schrumpfendem Bruttosozialprodukt im vierten Quartal und einer öffentlichen Gesamtverschuldung - nicht allein die des Bundes; das sei wohl bemerkt und gesagt -, die jenseits der Maastricht-Kriterien liegt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gemeint, mich packe die Nervosität wegen der Probleme der F.D.P.
Es wäre ja völlig albern zu leugnen, daß das an unseren Nerven zerrt; das ist doch ganz klar.
(
Zumal es ja auch meine sind! - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Zwei nervöse Männer!)
Das sehen wir ganz genauso.
Was nicht an unseren Nerven zerrt, meine Damen und Herren, sondern was wir mit völliger Gelassenheit ertragen, das sind üble Gerüchte, die über die F.D.P. in Umlauf gesetzt werden.
({0})
Hier muß ich allerdings den verehrten CSU-Landesgruppenchef, Herrn Glos, rügen. Sie haben gemeint, Herr Glos, das erinnere Sie an die Zeiten von Herbert Wehner. Zu solcher Niedertracht, zu solchem Stil war der bekanntlich harte Herbert Wehner nicht in der Lage. Gegen solche Angriffe muß ich ihn in Schutz nehmen.
({1})
In der Tat sind unsere Nerven durch andere Dinge mehr strapaziert. Die Analyse wird von allen geteilt: schwaches wirtschaftliches Wachstum, das Arbeitslosigkeit nicht verringert, der Versuch, immer nur Besitzstände zu wahren,
({2})
die Umverteilung vor Produktion - ({3})
- Nun wollen wir uns doch einmal darüber unterhalten, was Sie an Blockade- und Vetopositionen einnehmen, sobald es einmal schmerzhaft wird. Und es wird ja unvermeidlich schmerzhaft!
({4})
Wer setzt denn hier Umverteilung vor Produktion? Herr Dreßler ist doch geradezu das Symbol dafür. Wir sind eine auf Soziale Marktwirtschaft gegründete Koalition und haben doch eine unsägliche Steuer- und Abgabenbelastung. Wir sind jetzt an dem Punkt angekommen - ich zitiere den Kollegen Schäuble -, an dem es ohne drastische Eingriffe ins Sozialsystem nicht geht. Meine Damen und Herren, leider loben wir manchmal etwas unkritisch den Vorschlag „Bündnis für Arbeit", der positive Kernelemente enthält. Wir versuchen - übrigens mit der rühmenswerten Ausnahme des deutschen Handwerks -, die unerfüllbaren Begleitforderungen des IG-MetallVorsitzenden auszublenden.
Arbeitsmarktprobleme werden defensiv diskutiert. Das heißt, die vorhandene Arbeit soll anders verteilt werden, obwohl es doch um neue Arbeitsplätze gehen muß. In diesem Defensivansatz - ob das 580-DM-Regelung ist, Teilzeitarbeit, Job sharing und was es da sonst noch gibt, das ist auch alles richtig Dr. Otto Graf Lambsdorff
erschöpfen sich seit Jahren die Beiträge der Sozialdemokraten.
({5})
Niemals gibt es Beiträge, wie wir denn neue Arbeitsplätze ins Land bekommen,
({6}) mit der einen Ausnahme,
({7})
daß Sie im Bereich von Innovation, Bildung und Wissenschaft bei uns offene Türen einlaufen. Hier sind
wir, glaube ich, gemeinsam auf einem richtigen Pfad.
Der Bundeskanzler regt eine neue Kultur der Selbständigkeit an. Herr Bundeskanzler, das ist richtig und wird akzeptiert. Aber bitte lassen Sie sich einmal vorlegen, was ein Mensch, der sich bei uns selbständig machen will, an Erlaubnissen, Genehmigungen, Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Papierkrieg und Bürokratie
(
Ja!)
über sich ergehen lassen muß, bevor er in diesem Land den ersten Handschlag tun kann.
({0})
Die Kultur für mehr Selbständigkeit scheitert an der Unkultur der Überregulierung. Überregulierung, Überbesteuerung und Druck des Tarifkartells - etwa der unverantwortliche Abschluß des Jahres 1995 - treiben die Arbeitsplätze außer Landes.
({1})
Wie wir wissen, gibt es einen gefährlichen Trend, daß nicht nur große Unternehmen, sondern auch mittelständische Unternehmen ihre Produktion ins Ausland verlagern. Daran kann man nicht zweifeln; Herr Bundeskanzler, ich nehme nicht an, daß Sie daran zweifeln. Setzen Sie doch einmal einen Ihrer Beamten am Freitag abend in die planmäßige LufthansaMaschine von Prag nach Frankfurt am Main. Er wird sich in der Gesellschaft vieler Vertreter deutscher mittelständischer Firmen, die auf der Heimreise sind, befinden.
Von 1990 bis 1995 haben Ausländer in Deutschland 18 Milliarden DM investiert, Deutsche im Ausland 196 Milliarden DM. Dieser Unterschied, diese Lücke, ist zu groß; damit können wir nicht leben.
Ich weiß, es entspricht nicht der hergebrachten Kleiderordnung, wenn ich selbstkritische Bemerkungen über die Ergebnisse der letzten Jahre an die Koalition richte.
({2})
Ich tue es heute dennoch, und ich habe dies auch schon früher getan. Natürlich hören Sie von der Opposition das gerne. Ich glaube es tun zu können, weil jeder - auch bei unserem Koalitionspartner und erst recht in der F.D.P. - weiß: Ich will den Erfolg dieser Koalition. Die F.D.P. will ihn auch.
({3})
Ich will ihn nicht nur, weil ich - lassen Sie mich das als persönliche Bemerkung sagen - zum Zustandekommen dieser Koalition vor 14 Jahren beigetragen habe, sondern weil ich weiß und weil wir wissen, daß sozialdemokratische sogenannte moderne Wirtschaftspolitik oder grüne „Voodoo-economics" alles nur noch schlimmer machen würden.
({4})
Diese Regierung sei zu Lösungen nicht in der Lage, sagt Herr Scharping. Herr Scharping, Sie sind zu allem in der Lage, aber zu nichts imstande.
({5})
Da schlägt uns Herr Dreßler eine Wertschöpfungsabgabe vor; Herr Müntefering versucht das sofort ängstlich zurückzuholen. Da kommt Herr Lafontaine und sagt: mehr Schulden; daraufhin erklärt Frau Matthäus-Maier: Aber doch bitte nicht das, das ist unerhört, da zahlt die nächste Generation.
Da kommt Herr Schröder - jetzt wieder wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD; mal raus, mal rein - und teilt uns mit: 5 Prozent Inflation - Sie kennen den Rest; Frau Simonis versucht sofort, ihn zu belehren.
Mehr Schulden und mehr Inflation - es ist nicht zu glauben, daß ausgerechnet die Sozialdemokraten Lafontaine und Schröder die unsozialste Politik gegen den kleinen Mann fordern. ({6})
Inflation plündert Sparer und Rentner. Die Schuldenmacher in Niedersachsen und im Saarland wollen sich so davonschleichen, aber daraus wird nichts.
({7})
An dieser Stelle übrigens Respekt vor dem Bundesfinanzminister.
({8})
Er widersteht der Versuchung, der jeder Finanzminister ausgesetzt ist, mit Inflation die Verschuldungsprobleme zu überspielen. Mit nichts kann sich ein Finanzminister leichter von Schulden befreien, als wenn er nur nominales Wachstum und Inflation zuläßt. Wir sagen ihm aber auch: Die Steuerlast muß heruntergefahren werden, und zwar bald. Das geht dann aber nur mit Ausgabensenkung. Wer aber Ausgaben kürzen will, muß Aufgaben reduzieren. Damit sind wir bei der Steinkohlesubvention und bei den
Steuersubventionen. Das muß im Gleichschritt mit Eingriffen ins Sozialsystem geschehen.
Bei grüner Wirtschaftspolitik - ich sage ja: „Voodoo-economics" - läßt der Zauberdoktor grüßen, verehrter Herr Fischer.
({9})
Nicht einmal die Sozialdemokraten wollen so viel Staatsintervention wie die Grünen. Jeder zweite in Deutschland landet im öffentlichen Dienst. Das ist die ergraute Parole der 68er. Sie von den Grünen setzen auf den Staat und machen damit den Verursacher der Standortkrise zu seiner Lösung. Das wird nichts.
Zu Beginn Ihrer parlamentarischen Existenz sind Sie als Blumenkinder in den Plenarsaal eingezogen. Ich habe heute noch vor Augen, Herr Fischer, wie Sie damals kamen. Schnüren Sie noch einmal Ihren Rucksack, reisen Sie durch zum Beispiel Ihr Blumenkinderland Indien; nicht gerade nach Poona. In Indien können Sie sehen, wie Liberalisierung, Freihandel und Wegräumen der Planwirtschaft eine Volkswirtschaft geradezu explodieren lassen, und zwar zum Wohle der Menschen.
({10})
Bundeswirtschaftsminister Rexrodt arbeitet am Jahreswirtschaftsbericht und am Maßnahmenpaket. Wir werden es hier am 8. Februar diskutieren. Dann werden wir von Ihnen hören, daß alle vorgeschlagenen Maßnahmen unakzeptabel sind und nicht funktionieren.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang übrigens die 20 Punkte der CSU; ich finde sie lesenswert.
({11})
Dieses Maßnahmenpaket kann ja nur hart ausfallen. Herr Scharping sagt: Wir wollen die Arbeitskosten senken. Nein, Sie wollen die Arbeitskosten immer nur von einem öffentlichen Ausgabenträger auf den nächsten Beitragszahler verschieben oder umgekehrt. Sie können die Ausgaben nur senken, wenn Sie auch die Aufgaben kürzen. Dazu sind Sie doch nicht bereit!
({12})
Aber was soll man von einer Partei sagen, deren wirtschaftspolitischer Sprecher zu den Transferleistungen an den Osten verkündet: Das hätte man besser organisieren können, aber es gibt keine Alternative, wir können die ja schließlich nicht an Polen abtreten. - So Herr Schröder. Das ist eine unglaubliche Sprache! Ein Glück, daß wir für die deutsche Einheit verantwortlich waren und nicht Sie.
({13})
Wir stehen vor einer wichtigen Wegkreuzung. Wer eine solche Politik landauf, landab als soziale Demontage oder gar als unsozial diffamiert, wie Sie und Ihre Kollegen das tun, Herr Scharping, der verkennt, daß sie in Wirklichkeit der Gesundung und Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments für unser Sozialsystem dient.
Die Konsequenz eines Festklammerns an heute nicht mehr finanzierbaren Leistungen des Staates ist nur die weitere Verschärfung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme. Das bedeutet Eskalation in den Umverteilungsstaat, der Leistung und Eigenvorsorge zunehmend bestraft, der das Anspruchsdenken weiter fördert und an dessen Ende die Krise des politischen Systems steht. Das wollen wir nicht. Wenn wir dagegen gemeinsam angehen, Herr Bundeskanzler, dann ist die F.D.P. an Ihrer Seite, an der Seite der Koalition. Dann wollen wir versuchen, das gemeinsam zu schaffen.
Danke sehr.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Köhne.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen Scharping und Lambsdorff haben dieser Debatte über Energiesteuern, Klima- und Umweltschutz eine Wendung gegeben, die mit den hier zu diskutierenden Anträgen überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das ist auch gar nicht verwunderlich. Seitdem die Umweltpolitiker, die eine ökologische Steuerreform vorgeschlagen haben, dies mit einer Senkung der Lohnnebenkosten verbunden haben, haben wir immer schon befürchtet, daß dann nur noch die Lohnnebenkosten im Vordergrund stehen werden und die Umweltpolitik völlig hinten herunterfällt. Genau das ist hier passiert.
Der SPD-Antrag spricht auch nicht ohne Grund von einer notwendigen „Verschiebung der Steuer- und Abgabenbelastung zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Umwelt" . Ähnliches findet sich beim Bündnis 90/Die Grünen. Die Lohnnebenkosten sollen gesenkt werden. Die Verteuerung der Energie würde aber von den Unternehmen über die Preise abgewälzt werden. Private Haushalte wären zusätzlich belastet, während gleichzeitig alle Unternehmen, die pro Beschäftigten wenig Energie verbrauchen, also auch Banken und Versicherungskonzerne, begünstigt würden. Dies ist nach der Pflegeversicherung ein weiterer Schritt, die Unternehmen aus der Finanzierung der Sozialversicherungen zu entlassen.
Hier haben wir völlig andere sozialpolitische Vorstellungen, die wir in eigenständigen Anträgen einbringen werden. Wir wollen eine Verschiebung der Steuer- und Abgabenbelastung des Faktors Arbeit zwischen den Unternehmen, von den kleinen, arbeitsintensiven Betrieben weg, hin zu den Unternehmen, die mit wenig Arbeit große Gewinne machen. Wir wollen also die Abkehr von der Lohnsumme als Maßstab der Belastung. Grundlage sollte statt dessen der Ertrag des Unternehmens sein. Dadurch würden im wesentlichen die durchrationalisierten Konzerne und hauptsächlich die Banken, die großen Profiteure der letzten Jahre, zur Kasse gebeten.
Wir halten das nicht nur für sozialer, sondern auch in der Sache für angebrachter, denn Energie und Arbeit sind nicht gegenseitig substituierbar. Das ist auch ökonomisch sachgerechter, weil es die Unternehmen stärkt, die noch Arbeitsplätze schaffen, nämlich die kleinen und mittleren Unternehmen, und die Unternehmen belastet, die Arbeitsplätze wegrationalisieren.
Außerdem wollen wir uns auf diese konservative Standortdebatte überhaupt nicht einlassen. Genau das tut ihr aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen. Den vorliegenden Anträgen ist zu entnehmen, daß sich Deutschland nun verstärkt als Exportweltmeister bei Umweltschutzgütern betätigen soll. Es nützt aber den Menschen in diesem Lande überhaupt nichts, wenn wir dauernd Exportweltmeister sind und den Binnenmarkt vernachlässigen. Diese Politik führt genauso wie die Regierungspolitik zu immer kleineren Wohlstandsinseln in einem Meer von Armut und Arbeitslosigkeit weltweit und im eigenen Land. Wir halten es für sozialer und ökologischer, wenn weltweit ausgeglichene Handelsbilanzen und regionale Wirtschaftskreisläufe erreicht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zum eigentlichen Thema. Die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, drohende Klimaveränderungen und die damit verbundenen erheblichen Gefahren erfordern einen nachhaltigen rationellen und sparsamen Umgang mit den begrenzten Ressourcen. Gleichzeitig gibt es ein weltweites Ungleichgewicht: Die kapitalistischen Industrieländer mit 20 Prozent der Weltbevölkerung haben einen Anteil von 80 Prozent am weltweiten Energieverbrauch. Dieser viel zu hohe Energiekonsum trägt entscheidend dazu bei, daß die reichen Länder zu Lasten der ärmeren leben.
Wir gehen von gleichen Nutzungschancen aller Menschen an den natürlichen Ressourcen aus. Daraus ergibt sich für uns, daß die Industrieländer die Hauptlast des ökologischen Umbaus tragen müssen. Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland " nennt dazu die erforderliche Zielsetzung: bezogen auf das Jahr 2050 eine Reduktion des Energieverbrauchs um 50 Prozent und eine Reduktion des Einsatzes von fossilen Energieträgern um 80 bis 90 Prozent.
Erschöpfbare Energierohstoffe sind keine Ware wie jede andere. Was sie von anderen Waren unterscheidet und ihnen im internationalen Handel einen besonderen Charakter verleihen müßte, ist die Tatsache ihrer Endlichkeit. In den Weltmarktpreisen drückt sich das nicht aus, weil die ärmeren Länder, die überwiegend Rohstoffe exportieren, aufgrund ihrer ökonomisch schwächeren Position zur Aufrechterhaltung eines Überangebotes gezwungen sind. Wenn sich an den Bedingungen des Welthandels nichts ändert, werden die Völker Nigerias und Venezuelas auch in den kommenden Jahrzehnten ihr Erdöl „für lau" in der ersten Welt abliefern müssen. Der Bundestag wird dann noch oft Gelegenheit haben, Anträge zur Einhaltung der Menschenrechte in diesen Ländern zu verabschieden.
Es geht aber nicht allein um die Internalisierung externer Umweltkosten, sondern auch um die ökonomische Berücksichtigung der Tatsache, daß fossile Rohstoffe und die Aufnahmefähigkeit der Erdatmosphäre für CO2 begrenzt sind. Kernelement des von uns vorgeschlagenen Instrumentariums ist deshalb die gezielte, direkte Angebotsverknappung bei fossilen Energierohstoffen. Sie weist gegenüber Energiesteuern den Vorteil auf, daß sie den gewünschten Klimaschutzeffekt und die notwendige Reduktion des Energieverbrauchs garantiert.
In unserem Antrag heißt es dazu:
Basis dieser Verknappung soll ein nationaler Kohlendioxid-Reduktionsplan sein, aus dem ein jährlich neu zu bestimmendes Mengengerüst für den erforderlichen Energiemix abgeleitet wird.
Zur Erfüllung dieser Aufgabe soll eine Energierohstoffagentur eingerichtet werden, die einerseits als alleiniger Ankäufer von erschöpfbaren Energierohstoffen und andererseits als Auktionator auf dem Binnenmarkt auftritt.
Verteilung und Preisbildung auf Mikroebene werden so dem Markt überlassen.
Die Erlöse der Energierohstoffagentur, die sich im wesentlichen aus der Differenz zwischen den niedrigen Weltmarktpreisen und den binnenwirtschaftlichen Knappheitspreisen ... ergeben, werden einem Fonds zugeführt.
Dieser Fonds soll zu einem Teil gezielt für energiesparende Maßnahmen eingesetzt werden. Dabei sollen die Mittel hauptsächlich für solche Investitionen genutzt werden, für die sich üblicherweise keine privaten Investoren finden: Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs, Auflage eines 100 000Dächer-Programmes zur Etablierung der Photovoltaik, staatliche Zuschüsse für Wärmedämmungsmaßnahmen an der Altbausubstanz und Förderung des Ausbaus von Fernwärmenetzen. Die Mittel werden also auf diese Weise als investitionsfördernde Maßnahmen dem wirtschaftlichen Kreislauf wieder zugeführt. Daraus werden sich positive Effekte für den Arbeitsmarkt ergeben, die eventuelle negative Effekte in anderen Branchen kompensieren können. Wir gehen davon aus, daß dieses Konzept insgesamt besser als eine Energiesteuer geeignet ist, die eingangs formulierten Ziele zu erreichen.
Zum anderen wollen wir einen nicht unerheblichen Teil des Fonds den Ländern des Südens und des Ostens für internationale Klimaschutzmaßnahmen und Strukturwandlungsprozesse zur Verfügung stellen. Die Begründung dafür kann man dem SPD-Antrag entnehmen, in dem es heißt:
Sie
- die Industrieländer eignen sich nicht nur einen unangemessen hohen Anteil der gemeinsamen Naturgüter an, sondern schädigen durch die im wesentlichen von ihnen mitverursachte Klimaänderung zudem die Lebensgrundlagen der Dritten Welt und künftiger Generationen.
Leider läßt die SPD diesen hehren Worten keine Taten folgen.
Unsere Konzeption berücksichtigt darüber hinaus den weiteren internationalen Aspekt, daß ein weltweites Klimaschutzabkommen so überhaupt möglich sein wird. Wir gehen deshalb davon aus, daß unsere Konzeption realistischer und der Problemlage angemessener ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sollten einen Moment darüber nachdenken, worüber wir jetzt debattieren. Herr Kollege Scharping, so, wie Sie es getan haben, sollten wir es in bezug auf die Menschen, die diese Debatte verfolgen, nicht tun. Sie stellen einen Antrag - der Vorredner hat zu dem Antrag in der Sache gerade gesprochen -, haben aber zu einem ganz anderen Thema geredet. Wir können über Umwelt reden, wir können über Wirtschaft und den Arbeitsmarkt reden; aber wir sollten uns verständigen, worüber wir reden, damit es nicht wie Kraut und Rüben ist.
({0})
Ich will jetzt auf das Thema eingehen, das der Kollege Scharping und der Kollege Graf Lambsdorff behandelt haben: auf die wirtschaftliche Lage und die Lage am Arbeitsmarkt.
({1})
- Ja, gut. Aber wir haben einen anderen Tagesordnungspunkt. Man muß das sagen, damit die Menschen es begreifen.
({2})
Ich finde, daß wir, wenn wir uns über den Inhalt der Debatte verständigen, ein größeres Maß an Ernsthaftigkeit im Austausch von Argumenten erzielen könnten.
({3})
Daran würde mir liegen, weil ich meine, daß beide Themen - erstens die Umwelt und zweitens die wirtschaftliche Lage und die Lage auf dem Arbeitsmarkt - viel zu ernst sind, als daß wir mit Zitaten von Oberschriften oder irgendwelchen Äußerungen an den wirklichen Problemen vorbeireden sollten.
Wie ist die wirtschaftliche Lage? - Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist nicht schlecht. Herr Kollege Scharping, auch das muß man sagen. Sie hat sich zwar im letzten Quartal des vergangenen Jahres gegenüber den Annahmen verschlechtert.
({4})
- Ich rede von der wirtschaftlichen Lage, ich komme gleich auf den Arbeitsmarkt zu sprechen. Lassen Sie mich doch einen Schritt nach dem anderen machen. Seien Sie doch in der Lage, drei Sätzen „am Stück" zuzuhören oder wenigstens ruhig zu sein!
({5})
Die wirtschaftliche Lage insgesamt ist in Deutschland nicht schlecht. Wir sollten wirklich aufhören, den Standort Deutschland kaputtzureden. Das nützt niemandem in diesem Lande.
({6})
Wir müssen auch sagen, warum sich die wirtschaftliche Lage im vergangenen Jahr schlechter entwickelt hat als vorhergesehen. Das hat im wesentlichen zwei Ursachen: zum einen einen falschen Tarifabschluß, insbesondere im Bereich der Metallindustrie
({7})
- das ist die eine entscheidende Ursache für die Verschlechterung der Rahmendaten -, und zum anderen die Wechselkursentwicklung: eine Aufwertung der D-Mark stärker als vorhergesehen und stärker als den realwirtschaftlichen Daten entsprechend.
({8})
Wenn wir gleich an die Schlußfolgerung denken, was wir ändern könnten, sollte, Herr Kollege Scharping, in den Reihen der SPD das unverantwortliche populistische Gerede gegen die Europäische Währungsunion wirklich aufhören. Dieses Gerede ist im Interesse der Zukunft unseres Landes unverantwortlich!
({9})
Wir wissen genau, daß angesichts der zunehmenden Abhängigkeit in einer globalen Weltwirtschaft, bei der all die Rezepte, all die Ladenhüter aus der Mottenkiste bis hin zu Keynes im Grunde gar nichts mehr helfen, mit schuldenfinanzierten, nachfragestimulierenden Programmen Beschäftigung in Deutschland heute nicht mehr zu sichern ist.
({10})
Ob wir in Deutschland mehr Beschäftigung haben, wenn die Nachfrage steigt, ist bei der Globalisierung der Märkte völlig offen.
Wenn wir in dieser Entwicklung standhalten wollen und unsere Interessen wahrnehmen wollen, dann ist die Unumkehrbarkeit der wirtschaftlichen Integration Europas eine der wichtigen Voraussetzungen für die Zukunftssicherung, ganz abgesehen davon, daß das unverantwortliche Gerede gegen die Europäische Währungsunion schneller, als manche ahnen, Reaktionen auf den Devisenmärkten auslösen kann, die alles hinwegfegen, worum wir uns im Augenblick bemühen. Wir sollten dieses Gerede wirklich einstellen!
({11})
Zu dem wirklich Unbefriedigenden gehört, daß wir bei einer insgesamt ordentlichen wirtschaftlichen Entwicklung, die wieder an Dynamik gewinnen muß, eine absolut unbefriedigende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben. Das ist das eigentliche Problem. Um dies zu lösen müssen wir mit Ernsthaftigkeit - und nicht durch Austausch von Beschimpfungen - miteinander um den geeigneten Weg ringen.
Aber wir müssen zugleich hinzusagen: Die Politik alleine kann das Problem nicht lösen. Inzwischen sind wir glücklicherweise so weit, daß auch die Vertreter beider Tarifpartner, die Gewerkschaften wie Arbeitgeber, öffentlich erklären: Mehr als 50 Prozent der Ursachen wie der Hilfsmöglichkeiten liegen in der Verantwortung der Tarifpartner und nicht der Politik. - In dem Moment, in dem wir immer so tun, als sei die Politik für alles verantwortlich und zuständig, verhindern wir, daß der Prozeß der Selbstheilung wirklich stattfindet; damit nützen wir dem Arbeitsmarkt nicht.
({12})
- Ja, über die können wir gleich reden.
Wenn das richtig ist - und es ist unbestreitbar und im Grunde auch unbestritten richtig -, dann ist es doch insgesamt wichtig und richtig, daß wir in unserer Gesellschaft bei allen Beteiligten - bei Arbeitgebern, bei Arbeitnehmern, bei Gewerkschaften, Verbänden, in der Politik, bis zu den Kirchen - eine Veränderung der Einstellungen erreichen. Letztlich werden wir eine höhere Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, damit wir auch in Zukunft genügend Arbeitsplätze in Deutschland erhalten, nur erreichen, wenn wir einen grundlegenden Einstellungswandel in unserer Gesellschaft insgesamt erreichen.
({13})
Dieses Zusammenwirken von Politik und Tarifpartnern, den Einstellungswandel in allen Bereichen unserer Gesellschaft erreichen wir am ehesten, wenn darüber ein Dialog stattfindet. Deswegen ist es so wichtig und richtig, daß der Bundeskanzler die Verantwortlichen aus Wirtschaft und Gewerkschaften zum ständigen Dialog eingeladen hat und daß dieser Prozeß voranschreitet. Da gibt es ja auch hoffnungsvolle Zeichen; wir haben das bereits in der letzten Debatte gesagt.
Was wir aus den Gewerkschaften, vom DGB-Vorsitzenden bis zur IG Metall und anderen - ich will gar nicht alle aufzählen -, in den letzten Monaten gehört haben, ist doch von wesentlich mehr Einsicht in die Notwendigkeiten und Möglichkeiten geprägt als das, was Herr Lafontaine, Herr Schröder und - meistens - auch Herr Scharping zu diesem Thema sagen.
({14})
Auch was Herr Stumpfe von Gesamtmetall gesagt hat, bringt uns ein Stück weiter. Ebenso bringt uns das Programm des BDI ein Stück weiter.
Aber meine Damen und Herren, was machen wir jetzt? - Heute, am 18. Januar, findet die nächste Runde der Gespräche zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im Metallbereich statt. Am 23. Januar, nächste Woche, ist das nächste Gespräch im Bundeskanzleramt zwischen Politik, Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Am 30. Januar soll der Jahreswirtschaftsbericht verabschiedet und daraus die notwendige Schlußfolgerung gezogen werden; das sollte unter Anstrengung aller Beteiligten zu einem positiven Ergebnis gebracht werden.
Aber jetzt nutzen Sie zur selben Stunde eine Debatte über Umweltpolitik, um hier die Regierung zu beschimpfen. Das bringt unser Land überhaupt keinen Schritt voran. Das nützt der Sache nicht!
({15})
- Ich habe Ihnen nicht das Recht abgesprochen, das zu tun, sondern sage nur, daß das falsch ist.
({16})
Ihr Demokratieverständnis wird noch ertragen, daß man das, was Sie hier vortragen, für falsch erklärt. Das werden Sie gerade noch verkraften.
Jetzt will ich ein paar Punkte sagen, ohne die Ergebnisse vorwegzunehmen: Wir werden am 8. Februar in aller Gründlichkeit die Argumente austauschen. Wir werden dann sehen, was Graf Lambsdorff gesagt hat. Ihre Überschriften interessieren mich schon lange nicht mehr. Die Unternehmensteuerreform ist durch die sozialdemokratische Mehrheit im Bundesrat noch immer blockiert, und das schadet den Arbeitsplätzen.
({17})
Sie reden von Modernisierung. Wenn wir die dynamischen Wachstumskräfte in unserem Land stärken wollen, müssen wir auf moderne Techniken setzen. Das sagen Sie in Ihren Überschriften jetzt auch. Aber wenn es um den Transrapid geht, dann sind die Sozialdemokraten vor Ort dagegen. Das Wort „Gentechnik" haben Sie in der Beschlußvorlage für Ihren Parteitag vermieden. Lesen Sie einmal, was Herr Vahrenholt in dieser Woche zu Ihrer Müllpolitik geschrieben hat. - Ich darf es ja nicht lesen, weil es wieder in diesem Magazin steht, aber es war trotzdem lesenswert.
({18})
Also: Wenn es konkret darum geht, die Wachstumskräfte zu stärken, müssen wir auf moderne Techniken setzen. Denn nur an der Spitze des technischen Fortschritts können wir unseren höheren Wohlstand und unsere höhere soziale Sicherheit auf den Weltmärkten erhalten. Aber wenn es konkret wird, sind Sie immer dagegen. Die Überschriften interessieren nicht; es geht ums Kleingedruckte und
um die konkreten Abstimmungen. Sie sollten Ihr Blockadeverhalten endlich aufgeben!
({19})
Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Entschlackung von Planungs- und Genehmigungsverfahren auf den Weg gebracht, ein bemerkenswertes Maßnahmenbündel. Es ist dringend notwendig; denn es gibt kein Land, in dem die Genehmigung von öffentlichen wie privaten Investitionen länger dauert, teurer ist
({20})
und im Ergebnis weniger vorhersehbar und kalkulierbar ist als in der Bundesrepublik Deutschland. Das schadet dem Standort Deutschland, und das schadet den Chancen für Arbeitsplätze und Beschäftigung in unserem Land.
({21})
Und was haben Sie gemacht? - Sie haben das Maßnahmenbündel, als die Bundesregierung es beschlossen hat, sofort kritisiert; da werde der Umweltschutz geschädigt. Sie haben schon angekündigt, daß Sie es mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat blockieren wollen.
(
So ist es!)
Wir müssen hinzufügen: Das ganze Reden nützt nichts. Wenn rot-grün-regierte Länder - Hessen und ähnliche, die ein Beispiel dafür geben, wie man es nicht machen soll ({0})
ihre Praxis fortsetzen, bundesgesetzliche Regelungen durch einen dem Gesetzesziel nicht entsprechenden Vollzug zu sabotieren, dann wird in unserem föderalen System der Standort Deutschland weiter beschädigt. Deswegen muß das aufgegeben werden!
({1})
- Herr Fischer, lachen Sie doch nicht wie ein Ziegenbock! Das ist ja wirklich kaum zu ertragen.
({2})
Weil ich gerade bei den Bundesländern bin, will ich doch auf folgendes aufmerksam machen: In Berlin haben der SPD-Vorsitzende Lafontaine und sein außenpolitischer Sprecher Scharping ein gemeinsames Programm verkündet. Punkt zwei war, die kommunalen Altschulden voll in den Bundeshaushalt zu übernehmen. - Das bringt mich zu folgender Bemerkung - das muß ich doch einmal sagen -: Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, der auch nicht immer nur zur Freude des Finanzministers schreibt - nicht, Herr Kollege Hauser, das ist wohl so; aber das muß ein wissenschaftlicher Beirat auch machen -, hat in diesen Tagen ein Gutachten vorgelegt, in dem er geschrieben hat: Die Finanzverteilung und die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern nach der deutschen Einheit sind völlig unbefriedigend zu Lasten des Bundes, und das muß korrigiert werden.
({3})
In bezug auf den Solidarpakt haben wir - da waren wir ja beide dabei, Herr Kollege Scharping - im Kanzleramt ein großes Programm - es hat übrigens auch mit dem Solidaritätszuschlag zu tun, Graf Lambsdorff; also Vorsicht mit der vorschnellen Forderung, ihn abzuschaffen; wir können es nur im Rahmen des Möglichen - verabredet, bei dem damals vorgesehen war, daß die westdeutschen Länder 1995 einen Finanzierungsbeitrag zur deutschen Einheit von netto etwas über 6 Milliarden DM leisten. Die tatsächlichen Zahlen des Jahres 1995 zeigen: Die westdeutschen Länder haben einen Finanzierungsbeitrag zur deutschen Einheit von null im Jahre 1995 geleistet. Und jetzt kommen Sie mit der Forderung, noch einmal draufzusatteln.
(
Unglaublich!)
Das geht nicht!
Es gehört auch zur wirtschaftlichen Lage, daß es uns gegen alle Erwartungen gelungen ist, die D-Mark stabil zu halten. Das ist eine grandiose Leistung und ein großer Erfolg der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers und ist nicht hoch genug einzuschätzen.
({0})
Das ist im übrigen ungeheuer wichtig für alle sozial schwächeren Schichten in unserem Lande. Die Inflation ist die brutalste Ausbeutung gerade der sozial Schwächeren, doch bei uns herrscht Stabilität.
({1})
Aber das werden wir auf die Dauer nur beibehalten, wenn wir, Bund und Länder, einigermaßen gleichgerichtet und fair miteinander umgehen. Deswegen macht es zum Beispiel keinen Sinn, bei der Pflegeversicherung im Vermittlungsausschuß zu verabreden, daß die Länder alle Ersparnisse, die sie durch die Pflegeversicherung bei der Sozialhilfe haben, in Form von Investitionszuschüssen für die Pflegeheime geben, und diese dann zu verweigern, damit die Pflegeversicherung stärker belastet wird. So kann man in einem Bundesstaat nicht miteinander umgehen, wenn man nicht Schindluder mit dem Föderalismus treiben will.
({2})
Ich komme jetzt zu den kommunalen Altschulden in den neuen Bundesländern, die wirklich ein schwieriges Problem sind. Ich will daran erinnern, daß wir im Solidarpakt gemeinsam verabredet haben, wie die Lasten getragen werden. Ich will daran erinnern, daß der Sprecher der ostdeutschen Ministerpräsidenten damals gesagt hat, daß nach dieser großzügigen Haltung des Bundes die ostdeutDr. Wolfgang Schäuble
schen Länder keine weiteren finanziellen Forderungen an den Bund mehr haben werden.
Dann habe ich im Herbst vergangenen Jahres öffentlich vorgeschlagen, man möge sich doch bei den kommunalen Altschulden einigen; der Bund solle entgegen den Absprachen einen Beitrag leisten. Ich habe vorgeschlagen, jede staatliche Ebene möge ein Drittel tragen. Damals hat mich der Bundesfinanzminister einigermaßen kritisch angeschaut. Inzwischen hat die Bundesregierung angeboten, die Hälfte, also 50 Prozent, zu zahlen. Das ist mehr, als ich damals vorgeschlagen habe. Die ostdeutschen Länder blockieren und sagen: Unter 100 Prozent geht gar nichts.
Meine Damen und Herren, so können wir nicht miteinander umgehen. So bringen wir die öffentlichen Haushalte auf Dauer nicht in Ordnung. Wenn wir die öffentlichen Haushalte aber nicht in Ordnung halten, dann wird es nicht gelingen, die Staatsquote, die Steuer- und Abgabenquote zu reduzieren. Wenn wir die Staatsquote, die Steuer- und Abgabenquote nicht reduzieren, werden wir die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft nicht verbessern. Da ist der Zusammenhang.
({3}) Deswegen gehört das eine zum anderen.
Wir sollten auch keine Illusionen nähren. Die alten Irrtümer werden alle unsere Probleme nicht lösen und nicht einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz schaffen. Es hat keinen Sinn, durch Arbeitszeitverkürzung den Mangel anders zu verteilen. Wir brauchen mehr Arbeitsplätze, mehr wirtschaftliches Wachstum. Man kann Mangel nicht richtig verteilen, sondern man muß ihn durch Wachstum beseitigen. Anders geht es nicht!
({4})
- Ja, das ist die Forderung der SPD.
Es macht keinen Sinn, zu sagen - wie Lafontaine, SPD-Vorsitzender, zeitweilig im Inland anwesend, es noch vor ein paar Tagen im Gegensatz zu den Gewerkschaften gesagt hat -: Wir brauchen stärkere Lohnerhöhungen, weil auf diese Weise die private Nachfrage gestärkt wird. - Münchhausen war da einfallsreicher, als er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat.
Wir müssen Kosten begrenzen, weil wir sonst nicht wettbewerbsfähig sind. Es macht keinen Sinn, durch höhere Neuverschuldung des Staates die Inflation anzuheizen und zu glauben, die Probleme seien dann ein bißchen weniger drückend. Das ist Rauschgift! Aber wer Rauschgift zur Lösung seiner Probleme nimmt, wird süchtig und abhängig. Das ist der falsche Weg. Das können wir alles nicht machen.
({5})
Damit bleiben uns nur ungewöhnlich begrenzte Spielräume zur Lösung der Probleme.
In meinem letzten Beitrag von diesem Pult aus habe ich gesagt - es geht um den Zusammenhang mit der Ökologie; Hans-Peter Repnik hat es gesagt -: Natürlich müssen wir mehr für die Umwelt tun. Aber keine Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat mehr für die Erhaltung der Umwelt getan als diese Bundesregierung. Nur: Die Modelle in akademischen Seminaren - leicht zu vertreten: eine Umschichtung da, hier Steuern runter, dort Steuern rauf, das Ganze insgesamt aufkommensneutral - funktionieren in der Wirklichkeit unserer Sozialen Marktwirtschaft nicht. Deswegen sind unsere Spielräume so begrenzt. Wir können weder die Schulden erhöhen, noch können wir einfach umschichten. Wir müssen die Belastungen senken. Wer sparen will, muß Ausgaben kürzen.
Das gilt auch für den Bereich der sozialen Sicherung. Niemand, der über diese Fragen nachdenkt, will irgend jemandem etwas wegnehmen. Was wir wollen, ist, allen Menschen in unserem Lande, den älteren und den jüngeren, möglichst viel Sicherheit zu geben. Was wir wollen, ist, möglichst allen eine Chance zu geben, reguläre Arbeitsplätze zu bekommen. Es geht nicht um das Kürzen und das Wegnehmen, sondern es geht darum, Zukunftssicherheit zu schaffen. Deswegen müssen die Lasten tragbar bleiben.
({6})
Wer nicht bereit ist, darüber nachzudenken, wo wir im Interesse der Sicherheit von Renten, von Krankenvorsorge, von Pflege, unseres Wohlstands die Lasten tragbar halten können, der versündigt sich an der Zukunft.
({7})
Dieses Nachdenken muß geschehen. Es gibt den bequemen Ausweg nicht. Wenn wir in diesem Sinne Schritt um Schritt arbeiten, haben wir auch Chancen, die Probleme weiter zu lösen. Es gibt überhaupt keinen Grund zur Resignation.
Wir haben in Deutschland nicht nur eine hohe Arbeitslosenquote, sondern wir haben nach wie vor auch eine Vielzahl von Arbeitsplätzen, für die es auf dem deutschen Arbeitsmarkt und auf dem Arbeitsmarkt der Europäischen Union keine Beschäftigten gibt. Deswegen muß die Arbeitsverwaltung noch immer annähernd eine Million Ausnahmegenehmigungen vom Anwerbestopp erteilen. Auch das gehört zur Wirklichkeit!
({8})
- Über Einzelfragen kann man immer reden, Graf Lambsdorff, nur insgesamt setze ich - wenn ich Ihnen das auf Ihren Zuruf sagen darf - darauf, daß wir gegenüber globalen, weltweiten Entwicklungen, die uns in bezug auf die Beschäftigung große Sorge machen, mit europäischen Lösungen am ehesten eine Chance haben. Also müssen wir den europäischen Binnenmarkt stärken - da sind wir beide uns einig -, also müssen wir auch zu besseren Wettbewerbsbedingungen auf diesem einheitlichen europäischen Binnenmarkt kommen.
Da haben wir eine dramatische Fehlentwicklung in der Bauwirtschaft. Um dem entgegenzuwirken,
braucht die Baubranche auch Zeit zur Umstellung. Und das Entsendegesetz ist dazu da, Zeit zu schaffen, um Umstellungen für die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt auch in der Baubranche vorzunehmen. Darüber kann man und sollte man vernünftigerweise reden.
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen, denn mit der Art, wie Sie die Debatte anlegen, soll ja der Eindruck hervorgerufen werden, als würde nichts geschehen. Aber, Frau Kollegin Fuchs, das Gegenteil ist richtig.
Wenn Sie einmal die Presseerklärungen des neben Ihnen sitzenden Kollegen Dreßler nehmen: Er gibt jede Woche zwei Presseerklärungen ab, in denen er konkrete Vorhaben der Bundesregierung oder der Koalition angreift und sagt, das komme nicht in Frage, das sei völlig unangemessen. - Sie greifen ja jeden Schritt ständig an!
({9}): Wenn Sie etwas
falsch machen, muß man es nicht auch noch
bejubeln!)
Sehen Sie sich doch die Tagesordnung der Sitzungswochen des Deutschen Bundestages im Januar und Februar an! Wir reden über die Reform der Arbeitslosenhilfe.
({10})
Wir sind bei der Neuformulierung des Arbeitsförderungsgesetzes. Wir sind dabei, die Renten sicher zu machen, indem die Lebensarbeitszeit an das gesetzliche Rentenalter angenähert wird. Wir sind mitten in den Arbeiten zur Zukunftssicherung unserer gesetzlichen Krankenversicherung, um nur ein paar Stichworte zu nennen.
Wir werden ein Bündel von Maßnahmen zur Verbesserung des deutschen Kapitalmarkts vorlegen, weil es wahr ist, daß kein vergleichbares Industrieland ein so schmales Angebot an privat haftendem Kapital auf dem Kapitalmarkt hat.
Wir müssen die Kapitalmöglichkeiten für kleine und mittlere Unternehmen verbessern. Es ist wahr: Wir werden im Bereich der Großindustrie zusätzliche Arbeitsplätze nicht gewinnen, sondern nur durch neue kleine und mittlere Unternehmen - neue Unternehmen sind meistens kleine -, und im übrigen auch durch die Expansion von kleinen und mittleren Unternehmen.
Ebenso wird der tertiäre Sektor, der Dienstleistungssektor - moderne wie alte Dienstleistungen -, der eigentliche Wachstumsbereich für zusätzliche Arbeitsplätze sein. Bisher haben Sie unsere Vorschläge, etwa private Haushalte zusätzlich als Arbeitgeber zu gewinnen, blockiert; jetzt sagen Sie, in der Frage seien Sie bereit, nachzugeben.
({11})
Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber ich
hoffe, wir haben dann auch die richtigen Abstimmungsergebnisse in Bundestag und Bundesrat, damit wir die Sache voranbringen.
Es gibt eine Fülle von Maßnahmen, es gibt überhaupt keinen Grund, zu resignieren. Es gibt überhaupt keinen Grund, den Eindruck zu erwecken, es geschehe nichts. Wir arbeiten Schritt für Schritt. Wir sind mitten in der Arbeit. Wir werden über die Maßnahmen zur Verbesserung der Möglichkeiten insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht am 8. Februar hier debattieren.
({12})
Wir werden sie auch verabschieden und durchsetzen. Wenn Sie bis dahin Ihre Blockade der Unternehmensteuerreform im Bundesrat aufgeben, leisten Sie einen Beitrag dazu, daß wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung in unserem Lande, gute Chancen für die Zukunft in mehr Beschäftigung, in mehr Hoffnung für Arbeitsplätze umsetzen. Dies, meine Damen und Herren, ist unsere gemeinsame Pflicht.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion reklamierte gerade einen grundlegenden Einstellungswandel. Nach dieser Reklamation habe ich gedacht, die Regierung und die Koalitionsfraktionen nähmen die heutige Debatte zum Anlaß, damit zu beginnen. Das Ergebnis war der Versuch - wenn auch der gescheiterte -, die These des Bundeskanzlers der letzten Wochen fortzusetzen, mit der arbeitsmarktpolitischen Lage dieses Landes habe diese Bundesregierung überhaupt nichts zu tun. Das war die Quintessenz.
({0})
Herr Dr. Schäuble, ein grundlegender Einstellungswandel wäre zum Beispiel, wenn Sie zugeben würden, daß die Absichten der Sie tragenden Koalition eben keine Reform sind, sondern blanke Kürzung. Sie können sich doch nicht ernsthaft hier hinstellen, von einer Reform reden und dabei den Satz gebrauchen „Es geht nicht ums Kürzen", wissend, daß die Veränderungen im Arbeitsförderungsgesetz
({1})
Kürzungen der Arbeitslosengelder und Kürzungen der Arbeitslosenhilfe, ja sogar die Anrechnung von ausgezahlten Sozialplänen an Entlassene auf diese Arbeitslosengelder beinhalten. Was ist das denn anderes als Kürzen? Haben Sie doch wenigstens den Mut, das vor dem Parlament zu gestehen!
({2})
Dies zu übertünchen, so zu tun, als ob es das alles
nicht gäbe, hat doch mit dem grundlegenden EinstelRudolf Dreßler
lungswandel, den Sie hier eingefordert haben, nichts zu tun.
({3})
Wenn Sie diesen weiterhin fordern, Herr Dr. Schäuble, beginnen Sie bitte bei sich selbst. Fangen Sie damit an, bevor Sie das reklamierend der SPD an den Kopf werfen.
({4})
Tatsache ist - das läßt sich nicht leugnen -: Die von der Bundesregierung selbst beklagte desolate Lage auf dem Arbeitsmarkt ist die direkte Folge einer 13jährigen konservativen Wirtschaftspolitik.
({5})
Wir haben es mit einer Bundesregierung zu tun, die zwar ständig erklärt, sie wolle die Probleme lösen, dabei aber völlig verkennt, daß sie selbst eine der Hauptursachen der Probleme ist.
({6})
Meine Damen und Herren, Herr Kohl hat in seiner Zeit als Oppositionsführer einmal den Satz geprägt, das beste Konjunkturprogramm für unser Land sei eine neue Regierung.
({7})
Wenn dieser Satz von Herrn Kohl jemals seine Berechtigung gehabt haben sollte: Heute stimmt er bis auf das letzte Jota, meine Damen und Herren.
({8})
Diese Regierung ist inhaltlich ausgelaugt. In wesentlichen Fragen der Steuer-, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik ist sie überdies tief zerstritten und handlungsunfähig. Zu einem neuen Anfang, der zur Bewältigung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt notwendig wäre, ist sie weder willens noch in der Lage.
Ich sage: Wer 13 Jahre lang zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit wenig oder überhaupt nichts beigetragen hat, wer Massenarbeitslosigkeit als vermeintlich zeittypische Erscheinung einfach hinnimmt,
({9})
wer auf aktive Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Industriepolitik in der Hoffnung verzichtet, das werde sich in einem marktwirtschaftlichen System schon von selbst richten, der unterliegt nicht nur einem folgenschweren Irrtum, sondern setzt sich zudem dem berechtigten Vorwurf aus, er betreibe eine ideologiebehaftete Politik.
({10})
Er gerät darüber hinaus in den Verdacht, er wolle die
Massenarbeitslosigkeit im Sinne eines gesellschaftspolitischen Disziplinierungsinstrumentes instrumentalisieren, unter anderem auch gegen selbstbewußte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({11})
Wenn ich mir die Geisteshaltung einiger Ewiggestriger in Union und F.D.P. vor Augen führe, ist dieser Verdacht nicht aus der Luft gegriffen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin schrieb vor wenigen Tagen - ich zitiere -:
Die Arbeitslosigkeit auf das Niveau zu senken, das in Westdeutschland vor der Rezession im Jahre 1992 erreicht worden war, erfordert einen Kraftakt der Wirtschaftspolitik, der dem im Vereinigungsboom ähnlich sein müßte.
Niemand sieht Anstrengungen der regierungsamtlichen Wirtschaftspolitik, die dieser Aufgabe gerecht würden. Zu registrieren ist vielmehr, daß die Neuanschaffungen der produzierenden und verarbeitenden Wirtschaft, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, auf einem Niveau liegen, das dem des Jahres 1982 entspricht. Der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen ist seit 1982 ständig gestiegen. Der Anteil der auf den Gewinnen liegenden Steuern am Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hingegen ist deutlich gesunken. Heute, meine Damen und Herren, gibt es Unternehmen, die prächtig verdienen, aber kaum noch Steuern zahlen. Die Privatisierung von Reichtum und die Sozialisierung von Verlusten ist mehr als eine Zeiterscheinung. Hinter ihr steckt eine gegen die Interessen der Gesellschaft gerichtete Geisteshaltung.
({12})
Eine arbeitsplatzschaffende Ausweitung der Investitionen ist nicht feststellbar. Unternehmensteuern senken, bessere Gewinne ermöglichen und so automatisch durch Investitionen Arbeitsplätze schaffen - war nicht genau das die Philosophie der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, der diese Regierung anhängt? Wo sind denn die Konsequenzen daraus, daß dieser Dreiklang nicht stimmt, wo die Bereitschaft zur Kurskorrektur? Offenbar sind viele Unternehmen dazu übergegangen, auf den Finanzmärkten Geld anzulegen, anstatt in ihre Anlagen zu investieren. Genau dies ist die Achillesferse der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung.
Das heißt aber auch, Graf Lambsdorff, die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes und eine weitere Schwächung der sozialen Sicherungssysteme führen eben nicht aus der Krise.
({13})
Die Lage der beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme ist so angespannt wie nie zuvor. In der Arbeitslosenversicherung liegt das nicht allein an der steigenden Zahl von Leistungsempfängern. Es liegt auch daran, daß sich die Regierung ihrer Pflicht und Schuldigkeit entzieht, Defizite der Arbeitsverwaltung durch den Bund auszugleichen.
In der gesetzlichen Krankenversicherung steht ein neues Milliardendefizit bevor. Der Grund: Die RegieRudolf Dreßler
rung hat sich geweigert, gesetzlich beschriebene und vorgeschriebene Strukturreformen zu verwirklichen. Ja, sie hat sie sogar in Wahrheit hintertrieben.
In der Rentenversicherung reißen die wegen Arbeitslosigkeit entstehenden Beitragsausfälle und die steigende Zahl von Frühverrentungen wegen Arbeitslosigkeit immer größere Löcher. Auch hier muß etwas geschehen. Wo sind die Vorschläge der Bundesregierung? Wir sehen keine.
Die Politik der vergangenen Jahre zwingt Bund, Länder und Kommunen, die Investitionen zusammenzustreichen, weil das Nachlassen der Konjunktur die Steuereinnahmen reduziert. Alle drei Gebietskörperschaften zusammen steuern also einen objektiv falschen und gefährlichen Kurs.
({14})
Sie müssen sich prozyklisch verhalten, verstärken also die negative Entwicklung, statt ihr entgegenwirken zu können.
({15})
Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, wie lange unser Land den Zustand der wachsenden Massenarbeitslosigkeit politisch noch erträgt. Die Kritik an den demokratischen Institutionen ist mittlerweile unüberhörbar. Gleichzeitig mangelt es an der Orientierung auf das Gemeinwohl und an gesamtgesellschaftlicher Solidarität. Auch das ist eine Folge der Politik dieser Regierung.
Deshalb sage ich Ihnen: Wer 13 Jahre steuerpolitisch die Eigensucht prämiert und indirekt den Gebrauch der Ellenbogen predigt, der darf sich darüber nicht wundern. Wenn diese Regierung für die Einkommensstarken die Steuern senkt und für den Straßenbahnfahrer und die Krankenschwester die Abgaben erhöht,
({16})
was glauben Sie von CDU/CSU und F.D.P., fällt letzteren zum Thema „Gemeinwohl und Solidarität" noch ein?
({17})
- Herr Glos, Sie können dazwischenrufen, was Sie wollen: Zu viele von Ihren Parteifreunden und ideologischen Freunden reden dieses Land und seine Leistungsfähigkeit kaputt. Auch das muß aufhören.
({18})
Das muß aufhören. Das können Sie hier nicht weiter billigend in Kauf nehmen.
({19})
Nun gibt es den richtungweisenden Vorschlag des IG-Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel zu einem „Bündnis für Arbeit". Der Vorschlag zeigt, die Industriegewerkschaft Metall und die überwiegende Mehrheit der im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften sind bereit, bis an die Grenze dessen zu gehen, was möglich ist. Von den Arbeitgebern fehlt bis dato eine zureichende Antwort. Von der Bundesregierung fehlt eine substantielle Antwort übrigens auch. Das zeigt, die Regierung ist - jedenfalls bis heute - nicht nur aktionsunfähig, sie ist noch nicht einmal reaktionsfähig.
Ich will ausdrücklich betonen, daß die SPD-Bundestagsfraktion die Gespräche über ein Bündnis für Arbeit unterstützt. Es entspricht unseren Vorstellungen, daß nur gemeinsam und auf dem Kompromißwege Lösungen für die Investitions- und Beschäftigungskrise gefunden werden können. Beschäftigungspolitisch müßte ein solches Bündnis durch die Umschichtung von Lohnersatzleistungen auf die aktive Arbeitsmarktpolitik begleitet werden. Hinzukommen muß die Novellierung der bisherigen vielfach ausgedünnten Arbeitsförderung in Richtung auf ein Gesetz, das gegen strukturelle Arbeitslosigkeit eingesetzt werden kann. Unser Vorschlag eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes liegt dem Hause seit langem vor. Ein Konzept der Bundesregierung dafür gibt es nicht. Wir brauchen mehr Initiative des Staates und der Unternehmen zur Re-Integration der Langzeitarbeitslosen. Und ich merke erneut an: Das Arbeitszeitgesetz muß novelliert werden, damit mehr Druck entsteht, Überstunden durch Freizeit und Einstellungen auszugleichen.
({20})
Vorruhestandsmodelle dürfen nicht beseitigt, sie müssen gesichert und gerecht finanziert werden.
({21})
Und eine neue Altersteilzeitarbeit muß durchgesetzt und so ausgestattet werden, daß sie wirksame Alternative zum Verlust des Arbeitsplatzes ist. Insgesamt muß sozial gesicherte Teilzeitarbeit viel mehr Beachtung erlangen.
Parlament und Regierung hätten beschäftigungspolitisch viele Möglichkeiten, der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Durch eine ökologische Steuerreform - der SPD-Vorschlag dazu liegt vor - könnten Lasten, die heute systemfremd über Sozialversicherungsbeiträge finanziert werden, zukünftig gerechter finanziert werden.
({22})
Das würde Lohnnebenkosten senken. Wirtschaftspolitisch müßte das Ruder herumgerissen werden. Die Unternehmen, die in neue Arbeitsplätze investieren, müßten dafür steuerlich belohnt werden. Die Regierung müßte energisch die von der EU-Kommission in Brüssel entwickelten beschäftigungspolitischen Initiativen voranbringen. Die Verkehrspolitik benötigt mehr Anstöße für reibungslosere, attraktivere und umweltschonendere Verkehrssysteme. Innovation durch Erfindung stärker zu fördern und die Einstellung von Entwicklungspersonal durch mittelständische Betriebe besser zu honorieren, das wäre ein weiterer Punkt.
({23})
Wo bleiben dazu die Vorstellungen der Regierung, wo deren Alternativen zu den Vorstellungen der SPD?
({24})
Ich registriere Fehlanzeige und Gemoser über unsere parlamentarischen Initiativen
({25})
statt die Bereitschaft, darüber in einen Dialog einzutreten.
Der Sozialstaat war in der Vergangenheit ein wesentliches Element zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Wenn wir ihn auch in Zukunft als ein solches Element nutzbar machen wollen, dann müssen wir ihn darauf ausrichten, wir müssen ihn stabilisieren und dürfen ihn nicht zerstören.
Wer heute so manche öffentliche Diskussion zum Thema Modernisierung zur Kenntnis nehmen muß, der wähnt sich auf einem Ball Paradox. Es zeugt von einer Verwirrung der Begriffe, wenn die Atmosphäre, die in vielen großen deutschen Unternehmen derzeit in den Führungsetagen anzutreffen ist, mit dem Prädikat „fortschrittlich" und die Atmosphäre, die in den deutschen Gewerkschaften existiert, mit dem Prädikat „rückwärtsgewandt" versehen wird. Wir müssen leider feststellen: Diese Regierung hat mit dafür gesorgt, daß in unserer Gesellschaft die Beurteilungsmaßstäbe durcheinandergeraten sind.
({26})
Ist es nicht so, daß eine Gesellschaft, die eine derartige Pervertierung der Begriffe akzeptiert, die Grundvoraussetzungen für ihren Zusammenhalt aufs Spiel setzt, nämlich Glaubwürdigkeit und Vertrauen? Es ist nach unserer Auffassung höchste Zeit umzusteuern. Wir brauchen ein breitangelegtes Bündnis aller relevanten Kräfte in Politik und Gesellschaft, um das Kernproblem der deutschen Politik, die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, endlich in Angriff zu nehmen und die drohende arbeitsmarktpolitische Katastrophe abzuwenden. Die SPD-Fraktion ist dazu nicht erst seit heute und nicht nur heute, sondern auch weiterhin bereit.
({27})
Es spricht jetzt der Wirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder weiß, daß die Bundesregierung mit Hochdruck am Jahreswirtschaftsbericht arbeitet und daß mit dem Jahreswirtschaftsbericht ein Maßnahmenpaket zur Belebung der Konjunktur und zur Rückführung der Arbeitslosigkeit verbunden wird. Das ist kein Sofortprogramm und kein Schnellschuß, sondern wir haben uns das bereits im November vorigen Jahres vorgenommen und werden es zu Ende bringen. Es wird Maßnahmen enthalten, die eine andere Qualität haben als das, was bisher gemacht worden ist.
Meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie die heutige Debatte zur Energiesteuer dazu benutzen wollen, eine allgemeine beschäftigungspolitische Debatte zu führen, dann ist das sicherlich legitim, aber ich bin der Meinung: Das ist eher Ausdruck Ihrer Nervosität, da Sie wieder einmal zu spät kommen und in der Defensive sind.
({0})
Sie proklamieren und erheben den Anspruch,
({1})
Rezepte zur Rückführung der Arbeitslosigkeit bieten zu können. Sie haben sie aber weder hier noch anderswo vorzeigen können. Sie haben in der Sache überhaupt keinen Grund, diese Regierung zu kritisieren.
({2})
Sie haben keinen Grund, weil Sie - lassen Sie mich das systematisch erklären - in der Analyse der Ursachen unserer Situation weitgehend mit uns übereinstimmen. Das habe ich erst gestern von Ihren Leuten im Wirtschaftsausschuß gehört. Ich habe gehört, daß Sie und wir uns einig sind, daß im Hintergrund die Globalisierung steht und daß wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und damit die Arbeitsplätze nur erhalten können, wenn es zu einer Kostensenkung für die deutsche Volkswirtschaft kommt.
Abgesehen von einigen Vorschlägen - ich werde das gleich ausführen -, die ich für abwegig halte, haben Sie nicht ein einziges Rezept vorlegen können, das wirklich etwas Neues oder Überzeugendes darstellt. Sie haben vielmehr alles darangesetzt, daß wichtige Reformvorhaben, die wir schon in den letzten Jahren angehen wollten, durch Ihre Mehrheit im Bundesrat und in der öffentlichen Diskussion torpediert worden sind, meine Damen und Herren.
({3})
Zur Analyse: Ich habe schon gesagt, wir sind einer Auffassung, daß es darauf ankommt, Kostensenkungen vorzunehmen. Sie - oder, besser gesagt, einige von Ihnen - kommen dann noch konzeptionell mit der Theorie von der Nachfrageverbesserung.
({4})
- Meine Damen und Herren, sie ist ein gutes Stück richtig,
({5})
aber wer heute erzählen will, daß unsere Unternehmen primär daran leiden, daß auf Grund der Binnenoder Außennachfrage Beschäftigung verlorengeht, der sagt nur ein ganz kleines Stück der Wahrheit.
Der Grund dafür, daß wir nicht wettbewerbsfähig sind, ist die Tatsache, daß unsere Unternehmen zu hoch mit Steuern und Abgaben sowie mit LohnzuBundesminister Dr. Günter Rexrodt
Satzkosten belastet werden, und da müssen wir etwas tun.
({6})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen.
Ich bin immer noch bei der Analyse. Sie sagen, Sie hätten etwas Besseres.
({7})
Dann kommen Sie mit einer merkwürdigen Theorie, wie man die Bundesbank in die Stabilisierung unserer Volkswirtschaft einbeziehen kann, und fordern immer wieder, daß die Bundesbank dafür Sorge tragen soll, daß der Wechselkurs ein anderer wird.
Meine Damen und Herren, ich hätte mir auch manchmal gewünscht, daß die Bundesbank die Zinsen ein bißchen schneller senkt, aber die Stabilitätspolitik aufzugeben, das ist völlig unmöglich. Die Politik der Bundesbank wird weltweit in höchsten Tönen gelobt.
({8})
Wenn wir die Stabilitätspolitik aufgeben, dann erhalten wir Inflation, und - das ist heute schon gesagt worden - die Inflation ist der größte Betrug am Bürger und an den Unternehmen.
Meine Damen und Herren, wir müssen Löhne und Lohnnebenkosten senken. Darauf kommt es an, und das sind schwierige Operationen.
({9})
- Entschuldigung, wir müssen die Lohnnebenkosten senken.
({10})
Wir müssen Steuern und Abgaben - ({11})
- Also, passen Sie einmal auf. Wenn wir schon über Löhne sprechen - abgesehen davon, daß ich Lohnnebenkosten anspreche -, was ist denn das Bündnis für Arbeit? Hier wird doch einmal ein Zusammenhang zwischen den Lohnkosten und den Lohnnebenkosten und der Beschäftigung hergestellt. Es ist doch ein Faktum, daß die Gewerkschaften viel weiter sind als Sie.
({12})
Sie sind doch die wirklich konservative Kraft in unserem Lande geworden,
({13})
konservativ im Sinne von Besitzstandsdenken, von Nichtaufbrechen von Verkrustungen, um alles so zu lassen, wie es ist. Das ist die Politik der SPD und der Grünen, nichts anderes.
({14})
Sie sind die Verhinderer, meine Damen und Herren.
Nun zur Therapie. Da wird Ihnen ja auch von Zeitschriften und Zeitungen, die Ihnen politisch nahestehen, nachgesagt, Sie argumentierten am Thema vorbei. Zu jedem Vorschlag gibt es mindestens zwei Meinungen. Es wäre uns im übrigen egal, daß es zwei Meinungen gibt, aber wichtig und nicht hinnehmbar ist, daß Sie wichtige Reformen im vorigen Jahr verwässert oder verhindert haben. Lassen Sie mich die Beispiele nennen; sie gibt es zuhauf.
Ich will nur noch einmal darauf hinweisen: Sie waren es, die im vorigen Jahr verhindert haben, daß wir mit der Unternehmensteuerreform vorangekommen sind. Wir wollten Gewerbesteuer und Vermögensteuer senken und abschaffen. Das ist verhindert worden, indem die Verfassungsfrage aufgeworfen wurde und Sie im Bundesrat mit Ihrer Mehrheit dafür Sorge getragen haben, daß das verschoben worden ist.
Sehen wir uns weiter die Reform der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe oder andere sozialpolitische Maßnahmen an.
({15})
Wir wollten schon im vorigen Jahr einen zielgerechteren Einsatz von sozialpolitischen und arbeitsmarktfördernden Maßnahmen.
({16})
Wir wollten die Zumutbarkeitskriterien verändern und das Abstandsgebot deutlicher herausarbeiten.
({17})
Was kam von Ihnen? - Von Herrn Dreßler kam der Vorschlag, daß man, um die überbordenden Kosten in den Griff zu bekommen, eine Maschinensteuer einführen soll, meine Damen und Herren. Wenn das Ihre Rezepte sind, dann gute Nacht, Deutschland.
({18})
Was die öffentlichen Finanzen angeht, meine Damen und Herren: Die Verschuldenssituation des Saarlandes und von Niedersachsen wollen wir nicht zum Maßstab der Bundespolitik machen. Das kommt nicht hierher! Wir, die Bundesregierung, orientieren uns an den Kriterien von Maastricht. Und da stellen sich Schröder und Lafontaine hin und fabulieren von einer Aufweichung der Kriterien und von einer Verschiebung des Fahrplans, einer Verschiebung der dritten Stufe der Währungsunion. Das ist Populismus in Reinkultur.
({19})
- Den Zwischenruf nehme ich gerne auf. Wenn aus bestimmten Bundesländern und auch von anderer Seite solche Rufe kommen, dann findet das nicht meine Billigung und nicht die Billigung der Bundesregierung. Ich sage Ihnen: Wer Maastricht gefährdet, gefährdet am Ende auch den Binnenmarkt in Europa. Und wenn der Binnenmarkt gefährdet ist, meine Damen und Herren, dann ist viel mehr als nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit gefährdet, dann geht es um Europa und die Situation auf diesem Kontinent insgesamt.
({20})
Ich komme zu einem weiteren Beispiel. Sie sagen: Wir wollen die Subventionen zurückführen. Sie sind es doch aber, die sich gegen einen rechtzeitigen oder einen vorgezogenen Abbau der riesigen Milliardensummen wehren, mit denen die Kohle in Deutschland gefördert wird. Und was die Vereinfachung der Planungs- und Genehmigungsverfahren angeht: Wollen Sie wirklich, wie ich den Änderungen Ihres wirtschaftspolitischen Sprechers entnehme, die Umsetzung der Empfehlungen der Schlichter-Kommission verhindern? Ist das so? Das wäre schlimm.
Meine Damen und Herren, was ist mit der ÖkoSteuer, wo sich einige von Ihnen sehr groß darstellen? Lafontaine spricht von Öko-Steuer, und der Herr Clement zieht sich aus der Öko-Steuer mit Argumenten, die ich nachvollziehen kann, wieder zurück. Ist das das Konzept für die Wirtschaftspolitik? Ist das das Konzept zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme, meine Damen und Herren? Nichts da! Das ist ein konfuses Hin und Her, rein in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln. Das kann unsere Probleme nicht lösen. Das wird uns noch mehr verwirren, die Unternehmer noch mehr verwirren und auch die Arbeitnehmer, meine Damen und Herren.
Es gibt nunmehr ein Maßnahmenpaket - ich habe schon darüber gesprochen -, an dem wir arbeiten. Es wird ein Maßnahmenpaket mit neuen Handlungsfeldern sein. Es wird den Bereich Steuern und Abgaben umfassen. Hier werden wir nicht nur über den Solidarzuschlag zu befinden haben, sondern vor allem und an erster Stelle auch über die Unternehmenssteuerreform. Wir müssen das harte Thema „Senkung der Lohnnebenkosten" angehen und müssen in dem fortfahren, was mit der Gesundheitsreform eingeleitet worden ist. Wir müssen über die Arbeitslosenversicherung und ihre Finanzierung, über die Rentenversicherung und insbesondere über das Thema „Frühverrentung", über die Kompensation der Pflege und über einige Maßnahmen im Zusammenhang mit der Sozialhilfe sprechen. Wir müssen auch die Frage der Einbeziehung von privaten Haushalten in steuerliche Behandlung, orientiert an dem, was für Unternehmen gilt, diskutieren. Es wird darauf ankommen, die Neuorganisation der Arbeitswelt voranzubringen, im Subventionsbereich etwas zu tun, bei der Privatisierung weitere Fortschritte zu machen. Da kommt es vor allem auf die Länder und Kommunen an. Ich verweise auf das, was wir bei der Berufsausbildung gemacht haben und was noch zu tun ist. Ich verweise auf die Förderung der Selbständigkeit, auch des Mittelstandes.
({21})
Ich verweise auf die Fortführung dessen, was mit dem Meister-BAföG, mit der Ausweitung des Eigenkapitalhilfeprogramms, des ERP-Programms und der Zurverfügungstellung von Risikokapital eingeleitet worden ist. Dies wird Bestandteil des Maßnahmenpakets sein, ebenso wie Maßnahmen im Zusammenhang mit dem schlanken Staat und einer Verbesserung der Infrastruktur.
Meine Damen und Herren, ich werde hier und heute keine Einzelheiten darstellen. Das ist die Aufgabe im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht. Das ist die Aufgabe im Zusammenhang mit dem Maßnahmenkatalog. Wir werden uns nicht irremachen lassen.
({22})
Wir werden dahin kommen, daß wir ein Paket vorzuweisen haben, von dem wirtschaftliche Impulse und Impulse für die Senkung der Arbeitslosigkeit ausgehen.
Meine Damen und Herren, in dem Zusammenhang sage ich auch: Das „Bündnis für Arbeit" ist zwar in der Form, wie es vorgeschlagen wurde und wie es zunächst beschrieben wurde, nicht machbar, aber es bietet Chancen dafür, daß die Tarifparteien und der Staat am Ende zu vielen hundert, zu vielen tausend Bündnissen kommen, die in den Unternehmen abgeschlossen werden müssen und abgeschlossen werden können und die wichtige Impulse auslösen. Das ist im übrigen von den Gewerkschaften gekommen. Ich sage Ihnen noch einmal: Die Gewerkschaften sind in ihrer Bereitschaft zu unkonventionellen Maßnahmen viel, viel weiter.
Meine Damen und Herren, wir wissen, daß es mit dem Maßnahmenkatalog mehr geben muß als nur ein Adjustieren und Herumlaborieren an bekannten Themen. Wir wissen, daß es Einschnitte und Veränderungen geben muß, die auch schmerzhaft sein werden. Sie müssen und sie werden schmerzhaft sein, sollen aber so gerecht wie möglich sein.
Meine Damen und Herren, wenn die Strukturen aufgebrochen werden sollen, wenn Veränderungen stattfinden sollen, die die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen und mehr Arbeitsplätze sichern, wer soll denn das machen? Kann man Ihnen abnehmen, daß Sie das schaffen?
({23})
Die Politik der letzten Jahre hat das Gegenteil bewiesen. Ihre Zerstrittenheit, die Tatsache, daß zu jedem Thema mindestens zwei oder drei Auffassungen in die Öffentlichkeit geblasen werden, zeigt: Meine Damen und Herren, Sie sind uneinig in dem, was Sie wollen, Sie haben kein Konzept. Wenn es zu Veränderungen kommen soll, Veränderungen, die der Globalisierung und der Tatsache Rechnung tragen, daß
wir neue Arbeitsplätze brauchen, dann kann das nur einer in dieser Republik, und das ist diese Koalition.
({24}) Schönen Dank.
({25})
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man heute morgen die Debatte verfolgt hat, waren sich bei allen Gegensätzlichkeiten die Rednerinnen und Redner in einem allerdings sehr einig, nämlich daß es in diesem Land einen gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Erneuerungsbedarf und vor allem ein erschreckendes Modernisierungsdefizit gibt.
Hier, Herr Bundeskanzler, muß ich Ihnen sagen: Wir stellen heute noch fest, daß wir jetzt die Zeche für die Mutlosigkeit bezahlen, die Sie 1990 bei der deutschen Einheit hatten.
({0})
Damals hätte es die große Chance gegeben, viele Dinge in einem breiten Konsens und mit einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung neu zu machen. Aber was wollten Sie? Sie hatten kurzfristige machttaktische Erwägungen mit dem Gewinnen der Bundestagswahl. Vermutlich hätten Sie sie sowieso gewonnen. Sie haben sich damals in die Steuerlüge geflüchtet - mit der Konsequenz, daß Sie überall verkündet haben: Alles kann so bleiben, wie es ist. - Dafür bezahlen wir heute in diesem Land eine teure Rechnung.
({1})
Vier Millionen Arbeitslose, meine Damen und Herren, faktisch über sechs Millionen, die höchste Staatsverschuldung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, eine wegbrechende Konjunktur, all das wird in dieser Koalition - die sich täglich fragt, wie lange es sie noch gibt - mit einer bizarren Debatte um den Abbau des Solidarzuschlages beantwortet, während gestern im Finanzausschuß gleichzeitig neue einnahmebedingte Defizite von 21 Milliarden an die Wand gemalt wurden.
Meine Damen und Herren, das ist bizarr, und es ist zynisch gegenüber den Interessen der Menschen in Ostdeutschland, was Sie von der F.D.P. in dieser Koalition mit dieser Debatte hier abziehen.
({2})
Der Kollege Schäuble hat ja eine Reihe der Probleme angesprochen, um die es hier geht.
({3})
Ich möchte bewußt mal aus der Debatte herauskommen, Kollege Rexrodt: Welche Rezepte werden hier vorgeschlagen? Abgesehen davon, daß ich mich immer freue, wenn die Regierung über Rezepte der Opposition diskutiert, hat eine Regierung nicht über Rezepte zu diskutieren, sondern sie hat Politik zu machen, zu entscheiden und durchzusetzen. Und daß Sie das nicht machen, ist Ihnen mit Recht vorzuwerfen,
({4})
ja, das wird Ihnen sogar zu Recht von den eigenen Parteifreundinnen und Parteifreunden vorgeworfen.
Aber ich möchte das Problem einmal etwas tiefer ansiedeln. Gehen wir doch mal das durch, was der Kollege Schäuble hier gesagt hat. Kollege Schäuble, eine Kostensenkungsstrategie, wie Sie sie vorhaben, ist andernorts, zum Beispiel in den USA, schon längst durchgeführt worden. In den USA hat der Vorstand des größten Telekommunikationskonzerns, AT & T, zum neuen Jahr eine Erklärung abgegeben, wonach in den kommenden Monaten 40 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Das war am 2. Januar. Wenn Sie sich die USA anschauen und sehen, welches Maß an sozialer Desintegration es dort mittlerweile gibt, müßte es Ihnen als christlich-sozialem Menschen doch grausen. Wenn man sich einmal vor Augen hält, daß in den USA 18 Millionen Beschäftigte - ich sage bewußt: Beschäftigte - mit ihren Einkommen unter dem Existenzminimum liegen, worunter mindestens 14 Millionen Menschen sind, die mit ihrem Einkommen ihre Familie nicht ernähren können, weil es unter dieser offiziellen Armutsgrenze liegt, dann kann ich Ihnen nur sagen: Eine solche Entwicklung wollen wir Bündnisgrüne in diesem Land nicht.
({5})
Ich halte das auch unter dem Gesichtspunkt eines friedlichen und demokratischen Zusammenhalts vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte für hochgefährlich.
({6})
Wenn Kosten gesenkt werden müssen, dann darf das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden, sondern das muß solidarisch auch unter dem Gesichtspunkt des friedlichen und demokratischen Zusammenhalts einer Gesellschaft bewertet werden. Da liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({7})
Aber der entscheidende Punkt, Kollege Schäuble, ist doch etwas anderes. Selbst wenn Sie die Kosten senken, werden Sie merken, daß Sie da sehr schnell
Joseph Fischer ({8})
an eine Grenze kommen. Kollege Rexrodt will ja die Löhne senken. Herr Kollege Rexrodt, wenn Sie das „Bündnis für Arbeit" so begreifen und mit einer solchen Einstellung in die Diskussionen hineingehen wollen, dann sage ich Ihnen: Sie können sich das Hingehen schenken.
({9})
Denn das werden Sie zu Recht mit den Gewerkschaften nicht hinbekommen, daß Sie dort über Lohnsenkungen reden und das als „Bündnis für Arbeit" verkaufen. Nein, so einfach wird das nicht gehen.
Ich komme zurück zu dem entscheidenden Punkt, Herr Schäuble. Selbst wenn Ihre Strategie umgesetzt wird, müssen Sie den Menschen doch sagen, daß das vermutlich nicht zu mehr, sondern zu weniger Beschäftigung führen wird und warum das so ist. Wir haben es heute mit einer Produktivitätsrevolution enormen Ausmaßes zu tun. Es gibt doch die Entwicklung, daß die Unternehmen vor dem Hintergrund, daß sie massiv Arbeitsplätze abgebaut haben, hervorragende Erträge verzeichnen. Schauen Sie sich die Jahresbilanzen doch an. Der Arbeitsplatzabbau fand in einer Größenordnung statt, die Sie selbst mit Ihrer Kostensenkungsstrategie nicht würden auffangen können. Hinzu kommen neue Märkte, über die man nicht mit Begriffen einer platten Konkurrenzdiskussion sprechen kann. Wenn die Firma Hoechst in den USA Celanese - das war die größte Auslandsinvestition - kauft, dann hat das den Grund, daß man dort am Markt präsent sein will. Wenn man nach Indien geht, dann hat das ebenfalls den Grund, daß man dort am Markt präsent sein will. Im Klartext heißt das aber, Kollege Schäuble - das müssen Sie den Menschen dann auch sagen -: Wir befinden uns in einer Situation, in der wir - da komme ich Ihnen jetzt einmal entgegen - das eine oder andere sicher anders machen müssen - wir würden uns freuen, wenn Sie hier endlich einmal konkret zu Potte kämen -, aber in der wir feststellen müssen: Das wird zur Bewältigung der Krise der Arbeit nichts beitragen.
Wir befinden uns in der Situation, daß wir über reife Industrien verfügen, die Wachstum nur noch über Produktivitätssteigerungen erzielen können. Das heißt im Klartext: mehr Einsatz von Technologie und das Herausnehmen des Faktors Arbeit, von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Hier ist der Punkt, an dem ich diese Regierung partout nicht mehr verstehe, wenn sie nämlich einen Gegensatz zwischen Umwelt und sozialer Entwicklung, Beschäftigung sieht. Wo glauben Sie denn, meine Damen und Herren, nicht reife Industrien zu finden? Wie können wir denn in diesem Land Dinge grundsätzlich neu gestalten, so daß sie zukunftssichere Beschäftigung bringen? Man darf sich hier nicht vom ökologischen Umbau verabschieden, man darf nicht darauf verzichten, über eine ökologische Steuerreform die Preissignale für die Industrie so zu setzen, daß neue Märkte entstehen. Man darf nicht darauf verzichten, hier endlich die Stromunternehmen zu deregulieren. Das wäre das größte Mittelstandsförderungsprogramm, das wir in Deutschland aktuell und sehr kurzfristig machen können.
({10})
Auf all das darf man nicht verzichten.
Graf Lambsdorff, wenn das „voodoo-economics" ist, dann will ich Sie gern dafür als Zombie-Figur benutzen; denn das braucht man bei „voodoo-economics".
({11})
Sie wissen: Da muß man dann entsprechend mit einer Stecknadel arbeiten, damit die positiven oder negativen Wirkungen auch eintreten.
Aber was Sie heute vorgetragen haben, das ist von vorvorgestern. Sie entwickeln sich mehr und mehr zum liberalen Poltergeist der Vergangenheit, Graf Lambsdorff. Denn Umwelt kam bei Ihnen überhaupt nicht vor.
({12})
Wie wollen Sie denn wirklich Arbeitsplätze in diesen Größenordnungen schaffen, wenn wir den Mut, politisch eingeleiteten sozialen Wandel zu versuchen, nicht mehr haben? Wir werden das alles nicht bekommen, wenn wir uns entlang Ihrer ausschließlichen Kostensenkungsstrategie bewegen.
Die Verkehrspolitik ist ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt. Kollege Schäuble, ich sage es Ihnen immer wieder: Hätten wir meinetwegen Geld genug, dann würde ich vorschlagen, daß wir über den Transrapid, über die Magnetschwebetechnik in Ruhe diskutieren sollten. Wir verfügen aber doch über eines der modernsten Systeme, die Rad/Schiene-Technik - sie ist gut ausgebaut -, und wir haben gemeinsam erkannt, daß es eine katastrophale Fehlentwicklung seit den 60er Jahren war, die Bahn nicht zu modernisieren, sondern sie veralten und verrotten zu lassen.
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- Ich sage Ihnen: Hier finden Sie bei uns Partner und ein Angebot an diese Regierung oder wen auch immer, daß wir massiv darauf setzen, ökologische Verkehrsträger auszubauen und dort, wo es notwendig ist, neu zu bauen. Ich sage Ihnen nochmals: Der Transrapid paßt nicht in die Landschaft, sondern der massive Ausbau ökologischer Verkehrsträger im Nahverkehr und im Fernverkehr wird Arbeitsplätze in Größenordnungen schaffen, die wir brauchen.
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Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen auch: Das alles wird die Krise der Arbeit dämpfen, aber
Joseph Fischer ({15})
nicht bewältigen können. Was machen Sie denn, Kollege Schäuble, wenn wir in einer Situation sind, wo in der Tat Arbeit zum knappen Gut wird? Ich frage Sie wieder unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhalts einer demokratischen Gesellschaft: Müssen wir dann nicht ernsthaft darüber nachdenken, wie wir das knappe Gut Arbeit neu verteilen? Da, finde ich, werden wir alle gemeinsam grundsätzlich neu nachdenken müssen.
({16})
Es ist ja richtig, daß wir uns nicht eine Ruhestandszeit von 20 oder 25 Jahren werden leisten können. Es ist doch Ihre Regierung, die immer erzählt: Die Renten sind sicher. Ich könnte Ihnen dazu genügend vorlesen. Also werden wir darüber nachdenken müssen, wie wir einem Generationenkonflikt entkommen.
Es ist richtig, daß wir heute nicht mehr lebenslange Berufskarrieren haben, sondern die Menschen verschiedene Berufe ausüben werden. Also brauchen wir auch lebenslange Bildung und Fortbildung. Das kann nicht allein bei der Sozialpolitik angesiedelt werden.
Warum kann man sich, wenn die Arbeit knapper wird und die weltweite Konkurrenz die Unternehmen zu mehr Flexibilisierung und zu Mehrauslastung der Maschinen zwingt, nicht auf eine Gleichung „mehr Flexibilisierung, aber auch mehr Zeitsouveränität der abhängig Beschäftigten" einigen?
({17})
Wenn Sie Flexibilisierung immer nur in Richtung der Kapitalinteressen begreifen, werden Sie die Gesellschaft desintegrieren, wenn Sie erfolgreich sind, oder bei den abhängig Beschäftigten zu Recht gegen die Wand laufen.
Mehr Zeitsouveränität bedeutet aber, daß die Lebensarbeitszeit in allen Phasen neu organisiert werden muß: echte Teilzeitarbeitsplätze auf allen Hierarchieebenen und nicht zum Zwecke der Lohndrückerei und des Sozialabbaus. Wer hat Sie denn daran gehindert? Wir haben Sie daran nicht gehindert. Das hätten Sie schon längst machen können. Neue Arbeitszeitmodelle einführen - wer hat denn diese Regierung daran gehindert? Nur die Bräsigkeit des Bundeskanzlers, keineswegs die Opposition.
({18})
Meine Damen und Herren, ich könnte Ihnen hier noch genügend Beispiele aufführen, wo ich zu dem einen Schluß komme: Dieses Modernisierungsdefizit verantworten Sie, Herr Bundeskanzler, Sie mit dieser Koalition.
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Sie haben die Chancen nicht genutzt. Jetzt führen Sie eine Debatte nach der Devise, daß vor allen Dingen die abhängig Beschäftigten die Zeche bezahlen sollen, und glauben, dadurch würden Sie den Problemen entkommen. Aber diese Probleme liegen tiefer.
Mit dem ökologischen Umbau können wir einen grundsätzlichen Strukturwandel mit neuen Arbeitsplätzen in Größenordnungen, wie wir sie brauchen, einleiten. Wenn wir dann noch den Mut zu einer neuen sozialreformerischen Gestaltung der Lebensarbeitszeit der abhängig Beschäftigten in diesem Lande haben, dann, glaube ich, können wir in der Tat die Arbeitslosigkeit besiegen. Billiger wird es nicht werden.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Graf Lambsdorff.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Kollege Fischer, ich wehre mich gar nicht dagegen, von Ihnen als liberaler Poltergeist der Vergangenheit bezeichnet zu werden. Kürzlich haben Sie den Herrn Bundeskanzler in die Vergangenheit, in die Geschichte zurückversetzt. Wir sind alle noch Gegenwart; Sie werden es schon noch erleben.
({0})
Wir bemühen uns darum, auch in die Zukunft zu wirken.
Zwei Probleme in der Sache. Erstens - das geht auch an Herrn Dreßler -: Ihre Schilderung der amerikanischen Arbeitsmarktsituation geht an der Wirklichkeit völlig vorbei.
({1})
Die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik der letzten Jahre hat nicht nur eine riesige Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen - deswegen spricht man ja vom amerikanischen Beschäftigungswunder -, sondern hat dazu geführt, daß man in Amerika nahezu Vollbeschäftigung hat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 5 Prozent, aber in den USA hat man andere statistische Größenordnungen und Vergleichsnotwendigkeiten. Die Behauptung - sehen Sie sich den McKinsey-Report vom Anfang vorigen Jahres an -, es seien dort nur die Jobs für „working poor" entstanden - was Sie als unter der Existenzgrenze liegend angesprochen haben -, ist schlicht nicht wahr.
({2})
- „Weit überwiegend" hat er gesagt. Dies ist auch nicht wahr.
Laut McKinsey sind in diesen Jahren in Amerika auf 1 000 Arbeitsplätze 27 sogenannte schlechtbezahlte entstanden. Für doppelt so viele Amerikaner, nämlich für 47 pro 1 000, wurden Berufe geschaffen, die Fachschule, College oder Universität voraussetzen. Diese Zahlen liegen deutlich über den euroDr. Otto Graf Lambsdorff
päischen Qualitätsmerkmalen. Wir sollten einiges mit offenen Augen sehen und das nicht einfach als „Reaganomics", wie Sie das früher getan haben, oder als „Thatcherismus" bezeichnen. Warum geht denn Siemens heute in das früher streikzerrissene Nordengland und investiert dort Milliarden? Die entsprechende Politik haben Sie als „Thatcherismus" verhöhnt. Die Ergebnisse können Sie heute sehen.
Eine letzte Bemerkung, Herr Präsident, zum Thema Solidarzuschlag. Selbstverständlich ist eine Steuerbelastung, einschließlich des Solidarzuschlages, in Ost und West ein gleich großes Investitionshemmnis. Da gibt es überhaupt keinen Unterschied; Belastung ist Belastung. Ich will jetzt gar nicht in die Diskussion um den Zeitpunkt der Abschaffung eintreten. Ich warne aber alle, die da argumentieren: Der Solidarzuschlag läuft so lange weiter, wie die Transfers zu laufen haben. - Die werden sich wundern! Die Transfers werden sehr viel länger laufen, wenn auch in abnehmender Größenordnung, als der Solidarzuschlag überhaupt verfassungsrechtlich aufrechterhalten werden kann. Er wird eines Tages wegfallen, und trotzdem wird es bei den Transfers bleiben. Die fünf Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer sehen das entweder nicht oder wollen der Bevölkerung etwas vormachen. Die Wahrheit heißt: Irgendwann ist der Solidarzuschlag ganz abgebaut. Dennoch werden wir für die neuen Länder weiterhin Unterstützungsmaßnahmen brauchen.
({3})
- Halten wir das einmal schön auseinander, Frau Matthäus-Maier, und zwar auch in einer Diskussion, die teilweise demagogisch, unsachlich und deswegen falsch geführt wird.
({4})
Herr Kollege Fischer, bitte.
Graf Lambsdorff, auf das Alter Bezug nehmend: Das war ein sinngemäßes Zitat des Bundeskanzlers, der sich über Sie ja auf Grund der sehr sachlichen Kritik sehr despektierlich geäußert hat, die Sie dann und wann am Bundeskanzler äußern. Im übrigen, ich will es ja gar nicht beschreien, aber das, was die Koalition gegenwärtig macht, bestätigt natürlich alle Vermutungen, daß sie bald der Vergangenheit angehört.
({0})
Das wird weniger für den größeren Teil zutreffen als für den kleineren.
Mir geht es aber um eine ernste Sache, nämlich um das, was Sie über Amerika gesagt haben. Ich möchte dem nachdrücklich widersprechen, Graf Lambsdorff, und zwar nicht, weil ich nicht glaube, daß vieles an den USA zu bewundern ist, sondern weil ich an einem Punkt die Dinge ganz anders sehe. Tatsache ist, daß das, was Sie „ Reaganomics " genannt und sehr positiv bewertet haben, dazu führt, daß es während der letzten 10 bis 15 Jahre eine radikale Umverteilung innerhalb der Einkommenspyramide der USA gab. Faktisch sind die Gewinner die oberen 20 Prozent der Einkommen. Die Mittelschichten stagnieren, die Arbeitnehmerschaft in den Betrieben fällt zurück, und die ganz Armen bleiben sich selbst überlassen. Tatsache ist - das sagten verschiedene Gesprächspartner -: Es sind eigentlich nur die oberen 10 Prozent der Einkommenspyramide, die von dieser Entwicklung profitiert haben.
({1})
Zweitens, Graf Lambsdorff, ist es eine Tatsache, daß 18 Millionen Beschäftigte mit ihren Einkommen unter der offiziellen Armutsgrenze liegen. Das ist eine Tatsache, die Sie zur Kenntnis nehmen müssen. Nicht umsonst war es die strategische Schwächung der Gewerkschaften, die am Anfang dieses Prozesses stand. Das heißt im Klartext: Wenn Sie eine Beschäftigungsinitiative wollen, die dazu führt, daß letztendlich jeder irgendeine Arbeit - und sei sie noch so schlecht bezahlt und noch so schlecht abgesichert -, aufnehmen muß, um zu überleben, dann ernten Sie bei uns natürlich einen fundamentalen und radikalen Widerspruch, weil wir genau das nicht wollen.
Ein letzter Punkt, Graf Lambsdorff. Wenn Sie die USA besuchen, wird Ihnen auffallen, daß das größte Problem dort die soziale Desintegration ist. Es ist einfach eine Tatsache, daß diese Politik der Verarmung gerade auch der unteren Schichten - das wird von verschiedenen in den USA scharf kritisiert, unter anderem von den Kirchen - dazu führt, daß heute in den Bundesstaaten Gefängnisneubau und Unterhalt von Gefängnissen mit der größte Etatposten ist und daß von den afroamerikanischen Jugendlichen mehr in den Knästen als in den Colleges sind.
Das alles - von der Drogenproblematik einmal ganz zu schweigen - sind Entwicklungen, die nicht vom Himmel gefallen sind, sondern die Ausdruck einer sozialen Desintegration sind, die Sie mit „ Reaganomics " bezeichnen müssen. Diese lehnen wir aus tiefer Überzeugung ab.
({2})
Das Wort hat der Kollege Heiner Geißler, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nun geht es mir wieder wie bei der vorletzten Diskussion. Ich kann eigentlich nicht das sagen, was ich mir vorgenommen habe und wozu ich mir auch etwas notiert habe. Ich zweifle im Moment: Soll ich erst etwas zu Graf Lambsdorff oder zu Joschka Fischer sagen?
(
Weder noch!)
Da Graf Lambsdorff zur Koalition gehört, beschäftige ich mich jetzt mit Joschka Fischer.
Lieber Herr Fischer, niemand bestreitet doch die Probleme. Aber wenn wir die Situation richtig beurDr. Heiner Geißler
teilen, dann müssen wir feststellen, daß wir uns nicht nur politisch in einem Umbruch befinden, sondern auch wirtschaftspolitisch. Was mit Computern, Chips und Anwendungen der modernen Informationstechnologie heute geschieht, verändert unsere Arbeitswelt radikaler als damals die Erfindung der Dampfmaschine, des Webstuhls, die Entdeckung der Elektrizität und und was alles am Beginn der ersten industriellen Revolution entstanden ist. Das bedeutet notwendigerweise, daß in allen Industrieländern in den klassischen Produktionsbereichen Arbeitsplätze abgebaut werden müssen. Aber dies bedeutet nicht, daß nicht neue entstehen können. Vielmehr wird in allen Prognosen, ob von der Bundesanstalt für Arbeit, McKinsey oder mit wem Sie auch über diese Fragen reden, gesagt: Wenn es richtig gemacht wird, dann haben wir eine Chance für den Arbeitsmarkt dadurch, daß wir im Dienstleistungsbereich mehr Arbeitsplätze bekommen als verlorengehen.
({0})
Infolgedessen müssen wir in dieser Übergangszeit heute zwei Dinge tun. Wir müssen erstens diesen Umbruch sozial richtig abfedern und zweitens die Weichen dafür stellen, daß die Innovationen möglich sind, die uns im Dienstleistungsbereich die Arbeitsplätze von morgen garantieren.
({1})
Lieber Herr Fischer, der Kampf wird heute nicht mehr zwischen den großen und den kleinen Wirtschaften geführt werden, sondern zwischen den schnellen und den langsamen. Jetzt müssen Sie sich einmal überlegen, ob manche der Vorschläge, die Sie machen und die Sie dort, wo Sie die Verantwortung haben, auch realisieren, unseren Erneuerungsprozeß verlangsamen oder beschleunigen. Ich habe die Vermutung, das, was Sie machen, verlangsamt den Modernisierungsprozeß. Wir brauchen mehr Produkt- und Prozeßinnovationen. Die Innovationszyklen werden immer kürzer. Noch vor 15 Jahren waren die Produkte elf Jahre am Markt. Jetzt sind sie sieben Jahre am Markt. Wenn Erfindungen, neue Produkte nicht schnell genug marktgängig gemacht werden, dann haben die Betriebe keine Zeit mehr, um die Entwicklungskosten zu refinanzieren. Das ist das Problem unserer Genehmigungsverfahren.
Herr Fischer, Sie stellen Überlegungen an, wo unsere Zukunft liegt, und reden von der Umweltpolitik und kritisieren die Regierung. Natürlich haben wir, gemessen an den Erfordernissen der Natur, immer noch nicht alles getan. Aber wahr ist auch, daß in keinem anderen europäischen Land und nirgendwo sonst auf der Welt Umwelttechnologie so gefördert worden ist wie bei uns. Dies bedeutet, daß über 21 Prozent der umwelttechnologischen Produkte, die auf dem Weltmarkt abgesetzt werden, aus Deutschland stammen. Dies betrifft 700 000 Arbeitsplätze. Alle Prognosen gehen davon aus, daß wir in den nächsten drei, vier Jahren über 1 Million Arbeitsplätze im Bereich der Umwelttechnologie bekommen werden. Dasselbe müssen wir in der Biotechnologie und in der Gentechnologie erreichen.
Dazu muß ich allerdings sagen: Wir haben in den letzten Jahren - wir haben darüber Unterlagen - einfach eine Technologieangst in unserem Land bekommen. Daran ist auch die Politik schuld. Insbesondere sind auch Sie mit dafür verantwortlich;
({2})
denn zum Beispiel die Gentechnologie ist bei uns in Deutschland zu lange behindert worden, auch durch gesetzliche Maßnahmen.
Natürlich kann man den Bund für die Genehmigungsverfahren in Anspruch nehmen. Aber ich habe jetzt in Erfahrung gebracht: In Rheinland-Pfalz gibt es 120 Umweltgesetze und -verordnungen, die von den Betrieben berücksichtigt werden müssen. Herr Scharping, Sie waren dort Ministerpräsident; daran waren Sie beteiligt. Vielleicht sind auch wir ein bißchen beteiligt gewesen, aber nicht ganz so viel.
Sie, Herr Fischer, reden von den Hochgeschwindigkeitszügen. Wer macht denn die Demonstrationen gegen die Trasse von Köln nach Frankfurt? Was haben Sie denn als Umweltminister bei den gentechnologischen Innovationen zum Beispiel der chemischen Industrie in Hessen gemacht? Diese Dinge, die hier eine Rolle spielen, müssen natürlich im Zusammenhang mit dieser Frage berücksichtigt werden.
Zu den Maschinenlaufzeiten. Norbert Blüm hat das Arbeitszeitrecht novelliert. Da gab es nur Widerstand. Aber das hat doch auch den Zweck gehabt, die Maschinenlaufzeiten bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu verlängern.
Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kiper, Bündnis 90?
Ja, selbstverständlich. Bitte schön.
Bitte.
Herr Kollege Geißler, da Sie jetzt wieder darauf herumreiten, daß hier mit Hilfe der Gentechnik oder der Biotechnologie die Arbeitsplätze der Zukunft geschaffen werden könnten,
({0})
frage ich Sie: Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß in dem Land, auf das Sie so verheißungsvoll hinweisen, in den USA, wo angeblich diese Technikfeindlichkeit nicht vorhanden ist, mit einem Aufwand von 20 Milliarden an Risikokapital bislang etwa 103 000 Arbeitsplätze geschaffen worden sind und daß mit einem Aufwand für Gentechnik von jährlich etwa 450 Millionen DM Steuermitteln allein aus dem Bundeshaushalt in Deutschland 35 000 Arbeitsplätze geschaffen worden sind? Meinen Sie, daß mit dieser Anzahl von Arbeitsplätzen das Problem gelöst werden kann, während gleichzeitig die chemische InduDr. Manuel Kiper
strie in Deutschland allein in diesem Jahr noch 16 000 Arbeitsplätze abbauen wird und in den letzten Jahren bereits über 100 000 Arbeitsplätze abgebaut hat?
Das, was Sie jetzt hier gesagt haben, widerspricht überhaupt nicht dem, was ich gesagt habe.
({0})
Vielmehr war meine These - damit muß ich das Kapitel abschließen -: Wir werden neue Arbeitsplätze nur dann schaffen können, wenn wir uns hier, in einem Hochlohnland, auf die moderne technologische. Entwicklung einstellen. Wir können den Wettlauf mit Niedriglohnländern nicht gewinnen.
({1})
Wir werden auch in der Zukunft ein Hochlohnland bleiben. Aber dann müssen wir auch ein Hochleistungsland bleiben.
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Aber das werden wir nur mit den entsprechenden qualifizierten Produkten erreichen.
Jetzt noch ein letzter Gedanke dazu: Wir werden das auch nur erreichen, wenn wir den sozialen Frieden in unserem Land erhalten. Er ist nämlich auch ein Produktionsfaktor. Graf Lambsdorff, das muß ich Ihnen sagen, und da will ich Joschka Fischer recht geben: Die Union vertritt die Soziale Marktwirtschaft; wir wollen in Deutschland keine Verhältnisse wie in den Vereinigten Staaten mit „hire and fire", ungesicherten Arbeitsverhältnissen ohne soziale Sicherung,
({3})
die zum Ergebnis hätten, daß wir Millionen Menschen - in den Vereinigten Staaten sind es 40 Millionen - ohne soziale Sicherung aussondern, die nachher, wenn sie keinen Job mehr haben, der Armenfürsorge zur Last fallen.
({4})
Das ist nicht die Position der Christlich Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union..
Wir wollen auch keine englischen Verhältnisse. Nicht Margret Thatcher ist der Pate der Sozialen Marktwirtschaft, sondern Ludwig Erhard. Das sind zwei Paar Stiefel. In England sind inzwischen nahezu 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse Gelegenheitsarbeitsverhältnisse. Die Leute müssen von der Hand in den Mund leben.
({5})
Sie haben auf ein halbes Jahr befristete Arbeitsverträge. Glauben Sie denn, daß diese Leute ein Interesse an ihrem Betrieb haben? Sie lassen sich nicht mehr fortbilden. Sie lassen sich nicht mehr umschulen. Das wird sich noch einmal bitter rächen. Die konservative Partei, die das zu vertreten hat, wird das bei den nächsten Wahlen höchstwahrscheinlich auch spüren.
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Weder Margret Thatcher noch Ronald Reagan sind unsere Vorbilder. Wir werden die Zukunft dann meistern, wenn wir modern bleiben und gleichzeitig Soziale Marktwirtschaft in der Zukunft realisieren.
({7})
Das Wort hat die
Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner, PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Pausentheater zwischen den Jahren hatte ich wirklich angenommen, daß die zum Jahresbeginn veröffentlichten Konjunkturdaten auch Ihnen bewußt gemacht hätten, daß ein Umdenken notwendig ist, um die gesellschaftliche Krise, die Massenarbeitslosigkeit, die einer nationalen Katastrophe gleichkommt, ernsthaft zu bekämpfen.
Der Kanzler hat gesagt, es gehe darum, tabufrei zu diskutieren. Dem kann ich nur zustimmen. Aber dazu gehört auch, Phantasie und Ideen zur Gestaltung des Arbeits- und Lebensstandorts Deutschland zu entwickeln und nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland im Blick zu haben.
({0})
Ihre Antworten aber - da sind Sie sich mit den Unternehmerverbänden ausnahmsweise einmal wieder einig - sind der 25. Aufguß dessen, was Sie schon seit Jahren sagen: Steuersenkung, Senkung der Lohnnebenkosten durch Sozialleistungskürzungen. Kürzen heißt wegnehmen, Herr Schäuble. Das meinen Sie auch, wenn Sie immer wieder das Besitzstandsdenken anprangern. Sie wollen kürzen und wegnehmen. Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung - all das gehört zu den Mechanismen, die Sie anwenden und die seit mindestens 13 Jahren versagen und nicht einen einzigen Ansatz zur Lösung der heute bestehenden Herausforderungen bringen.
Das einzige, was Sie erreicht haben, ist eine Umverteilung von unten nach oben. Diese wiederum hat zu einer ungeheuren Verteilungsungerechtigkeit geführt. Die Gewinne sind explodiert und die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten gesunken. Ihre Konzepte haben versagt. Obwohl die Kapitalsteuern in den letzten 14 Jahren von 23,6 Prozent auf 11,3 Prozent gesunken sind und die Realeinkommen 1995 um 1,5 Prozent gesunken sind, hat es keinen einzigen Arbeitsplatz mehr gegeben. Im Gegenteil: Zum Beispiel Siemens hat im letzten Jahr 26 Prozent Gewinnzuwachs zu verzeichnen gehabt und trotzdem 7 000 Arbeitsplätze vernichtet. Und insgesamt sind die Belastungen der Unternehmen mit Abgaben in den letzten Jahren im Gegensatz zu
denen der abhängig Beschäftigten deutlich gesunken.
Eine Umfrage, die Infas zu Jahresbeginn durchgeführt hat, macht deutlich, daß die Menschen begriffen haben, daß die Unterschiede zwischen arm und reich weiter gewachsen sind. Über 70 Prozent haben gesagt, daß das vor allen Dingen damit zu tun hat, daß diese Regierung eine Politik für die Besserverdienenden gemacht hat.
Nicht die hohen Löhne und die hohen Lohnnebenkosten sind - das zeigen alle internationalen Vergleiche - für die gegenwärtige Situation verantwortlich. Es ist die ausschließliche Exportorientierung Ihrer Wirtschaftspolitik und die Vernachlässigung der Binnennachfrage, die dazu geführt haben, daß wir es mit einem dramatischen Absinken der Massenkaufkraft zu tun haben. Genau das ist die Ursache für die gegenwärtige Misere. All das, was Sie vorschlagen, wird diese Entwicklung verschärfen. Sie bewegen sich weiterhin in ausgetretenen Gleisen und setzen auf das Prinzip Hoffnung.
({1})
Ich denke, es kommt jetzt wirklich darauf an, sich der Verteilungsfrage zu stellen, und zwar der Verteilung in eine andere Richtung, nämlich von oben nach unten. Die PDS hat sich an der Konjunktur der Punkteprogramme beteiligt und ein Fünf-PunkteProgramm für mehr soziale Gerechtigkeit vorgelegt. Wir haben in diesem Programm eine Vielzahl von Vorschlägen gemacht, wie der Reichtum in diesem Land, der zweifelsohne vorhanden ist, so verwendet werden kann, daß die Massenarbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft werden kann und mehr soziale Gerechtigkeit in diesem Land hergestellt wird.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ökologische Umgestaltung des Steuersystems - darüber sind wir uns einig - beschäftigt alle Fraktionen und Parteien; alle haben dazu Überlegungen. Dabei gilt es, mehrere Ziele in einem Gesamtkonzept zu integrieren. Deswegen verlangt die F.D.P. vorrangig die Sicherung und die Schaffung von Arbeitsplätzen, Steuerentlastung für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen sowie eine Umstrukturierung innerhalb des Steuersystems mit dem Ziel, umweltpolitisch kontraproduktive Regelungen abzuschaffen und das Steuerrecht stärker für ökologische Zielsetzungen zu nutzen, und zwar ohne die Steuerlast zu erhöhen.
Diesen Kriterien entsprechen die Vorlagen von SPD und Grünen in keiner Weise.
({0})
Der Antrag der SPD ist ein Sammelsurium altbekannter Forderungen, allerdings in dezenterem
Gewand. Alles, was die Menschen erschrecken könnte, wurde aus diesem Antrag optisch entfernt. Nur über den Rückverweis auf die Drucksache 13/ 187 findet man das alles wieder, wenn man sich das einmal durchliest.
In dieser Drucksache 13/187, auf die Sie rückverweisen, stehen ein gigantisches Förder- und Subventionsprogramm, Steuererhöhungen, Kernenergieabwicklungsgesetz, Tempolimit, Stickstoffabgabe, Verschärfung des Pflanzenschutzgesetzes und so weiter, und so fort. Es ist ein Konzept, mit dem die Steuern erhöht und Arbeitsplätze gefährdet werden, die Bürokratie vorangetrieben wird und der Bürger gegängelt werden soll.
({1})
Das bestätigt das Image der SPD als Umverteilungspartei. Das Konzept ist ungeeignet, den heutigen Problemen gerecht zu werden.
Herr Scharping, wenn ich auf Ihre Rede noch einmal eingehen darf: Das, was Sie hier abgeliefert haben, war ein Armutszeugnis. Ich kann Ihnen mit Matthäus nur zurufen: Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.
({2})
Das gilt verschärft für die Grünen. Sie haben einen Entwurf für ein Energiesteuergesetz vorgelegt, das aber nur einen Teil ihrer Forderungen enthält. Da ist von einer Benzinpreissteigerung im ersten Jahr von 5 Pfennig pro Liter die Rede. Warum verschweigen Sie eigentlich die geplante Mineralölsteuererhöhung um zirka 50 Pfennig im ersten Jahr und 30 Pfennig für jedes weitere Jahr? Haben die Grünen etwa Angst, den Wählern den ganzen Umfang ihres Steuererhöhungsprogramms vorzulegen?
({3})
Sie behaupten, Sie wollten das Steueraufkommen durch Steuersenkungen zurückgeben. Hierfür findet sich in Ihrem Gesetzentwurf kein einziger Ansatz. Draufsatteln ist Ihre Devise. Rechnet man Ihr gesamtes ökologisches Steuerprogramm zusammen, dann soll bereits 1996 die Steuerlast um 52,6 Milliarden DM erhöht werden.
({4})
Da kann ich' nur sagen: Die von der Koalition durchgesetzte Grundentlastung von 20 Milliarden DM ab diesem Jahr wäre nach Ihrem Konzept schon wieder einkassiert. Das Konzept der Grünen ist also schlicht ein Konzept des Abzockens und der Arbeitsplatzvernichtung.
({5})
Sie wollen von den Mehreinnahmen Förderprogramme für eine Energiewende finanzieren und schreiben in der Begründung selbst, daß Sie nicht die kompletten Mehreinnahmen zurückgeben wollen. Es offenbart Ihr falsches Selbstverständnis, wenn Sie bei Steuern und Abgaben draufsatteln wollen. Die MenBirgit Homburger
schen sollen nach Ihrer Auffassung vorrangig für den Staat arbeiten. Das, sage ich Ihnen, ist eine moderne Form des Raubrittertums und der Freiheitsberaubung.
({6})
Wie, Herr Fischer, steht es eigentlich mit Ihrer öffentlichen Forderung vom vergangenen Jahr, wonach die ökologische Steuerreform die Bürger nicht zusätzlich belasten dürfe? Jetzt muten Sie uns mit dem, was Sie vorlegen, ein Steuererhöhungsprogramm zu. Das, Herr Fischer, ist unseriöse politische Beliebigkeit.
({7})
Die Grünen gefährden mit ihrem Programm Arbeitsplätze in Deutschland. Die Einbeziehung der Wirtschaft in die hohen Energiekostensteigerungen verschlechtert die Wettbewerbssituation und wird dazu führen, daß Arbeitsplätze in andere Länder mit niedrigeren Umweltstandards exportiert werden. Das Fazit ist kein Gewinn für die Umwelt, aber ein Verlust an Arbeitsplätzen.
({8})
Sie haben in Ihrem ganzen Programm ein einziges Kredo: Erst Steuern eintreiben, dann nach Gutdünken verteilen.
Die F.D.P. will Bürokratie zurückdrängen. Die Grünen dagegen erfinden in jedem Gesetzentwurf neue Genehmigungspflichten, neue staatliche Gängelei. Wer liberal sein will wie Sie, Herr Fischer, muß für weniger Staat sorgen. Der Schutzpatron der Grünen hingegen heißt Sankt Bürokratius.
({9})
Herr Fischer, ich sage Ihnen noch eines: Hören Sie endlich auf, die Zukunft für sich zu reklamieren! Sie haben sie nämlich nicht.
({10})
Mit dem, was Sie hier wieder vorgelegt haben, sind Sie dabei, die Zukunft der jungen Generation zu gefährden. Das sollten Sie sich endlich einmal merken.
({11})
Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der grüne Gesetzentwurf handwerklich schlecht gemacht ist. Ein Gefährdungszuschlag auf Kernenergie oder eine Strafsteuer für Energieerzeugung aus Abfallverbrennungsanlagen bestätigt Ihre ideologische Verbohrtheit. Dieser Entwurf demaskiert die Grünen als Abkassierer, Arbeitsplatzvernichter, wirtschaftspolitische Blindgänger und als Partei der Staatsgläubigkeit.
Meine Damen und Herren, Sie werden sich denken können, daß die F.D.P. Ihren Anträgen unter diesen Umständen nie wird zustimmen können.
({12})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen vor einer Entscheidung über den Wirtschaftsstandort Deutschland. Aktive Taten statt Miesmacherworte werden verlangt, um unseren Wirtschaftsstandort und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe auf Dauer zu sichern. Die Miesmacherei, wie sie auch heute zum Tragen kam, kann draußen keiner mehr hören und auch keiner mehr glauben. Wir sind sehr wohl in der Lage, das Notwendige für den Wirtschaftsstandort Deutschland im Bereich der Lohnzusatzkosten und der Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast auf den Weg zu bringen und umzusetzen.
Bei der Opposition sehe ich diese Kraft und Konzeption allerdings nicht. Nur Worthülsen, Ideologie, Neiddiskussionen und Blockade sind zu verzeichnen. Es ist doch das falsche Konzept - das ist jetzt auch wieder bei einzelnen Punkten in der Rede von Herrn Scharping festzustellen -, nach dem Jäger 90 nun wieder die Einkommensmillionäre herauszugreifen. Diese alten Neiddiskussionen haben in unserem Land noch nie auch nur einen Arbeitsplatz geschaffen.
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Ich kann Ihnen sagen, daß all diese Leute Leistungen erbracht, investiert und Arbeitsplätze geschaffen haben und es nicht verdienen, von Ihnen immer wieder für Ihre Argumente benutzt zu werden.
({1})
Diese Neiddiskussion sollten Sie einmal beenden; Sie nützen unseren Arbeitnehmern nicht.
({2})
Herr Kollege Michelbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier?
Ja, bitte sehr.
Herr Kollege Michelbach, da Sie heute wie auch gestern in der Debatte über den Solidaritätszuschlag die Verwendung des Wortes Einkommensmillionäre als schrecklich empfinden und sagen, damit würden wir die Neiddiskussion anheizen: Würden Sie bitte zur Kenntnis nehIngrid Matthäus-Maier
men, daß wir nicht kritisieren, daß es Einkommensmillionäre gibt - das war gar nicht die Frage -, sondern daß wir kritisieren, daß die Deutsche Steuergewerkschaft festgestellt hat, daß von den 4 500 Einkommensmillionären in Hamburg - diese werden als die Leute definiert, die im Jahr mehr als 1 Million DM Einkommen haben - 2 000 überhaupt keine Steuern zahlen? Können Sie mir nicht zustimmen, daß das wirklich ärgerlich ist, wenn gleichzeitig der Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer 48 Pfennig von einer verdienten Mark weggenommen werden?
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Wissen Sie, Frau „Jäger"-Maier, ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie die Einkommensmillionäre ansprechen, dann müssen Sie auch hinzufügen, daß sie, wenn sie keine Steuern zahlen, irgendwo in einen Betrieb etwas investiert haben
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und daß damit letzten Endes auch das Risiko verbunden ist, daß sie dieses Kapital verlieren. Alles andere, was Sie in Neid umsetzen, Frau Matthäus-Maier, ist für die Zukunft unseres Landes und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze einfach der falsche Weg. Das muß ich Ihnen immer wieder sagen, und das sollten Sie letzten Endes auch einmal akzeptieren.
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Meine Damen und Herren, ich möchte kurz auf das Modernisierungsmärchen des Herrn Fischer eingehen. Sie haben gesagt: Wir müssen modernisieren, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist im Grundsatz sicher richtig. Sie müssen aber die Widersprüchlichkeit der Grünen sehen, die doch technikfeindlich sind. Wer demonstriert denn gegen jede RadSchiene-Technik, auch bei dem Neubaustreckenausbau der Deutschen Bahn? Die Grünen sind doch gegen jede Infrastrukturlösung. Überall demonstrieren sie. Das ist doch widersprüchlich. Damit können sie die Zukunft unseres Landes doch nicht gestalten.
Deswegen muß ich Ihnen deutlich sagen: Auch das ist der falsche Weg.
({2})
Das ist abstruse Politik; das ist Chamäleonpolitik. Diese Haltung können wir für unser Land nicht gebrauchen. Die Regierung wird sich der Herausforderung stellen. Eine Regierung Lafontaine-FischerGysi wird es sicher nicht können.
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Wir haben in Kreuth ein Programm für Stabilität, Aufschwung und mehr Beschäftigung in Deutschland verabschiedet. In den kommenden Monaten muß es gelingen, in einer Gemeinschaftsaktion notwendige und grundlegende Weichenstellungen durchzusetzen, um Arbeitsplätze in Deutschland, um das Niveau des Wohlstands in Deutschland und um wichtige Grundlagen unserer sozialen Sicherungssysteme zu bewahren. Dieses Konzept wird von uns auf den Weg gebracht.
Wir wollen gemeinsam ein Bündnis für Wettbewerbsfähigkeit und gleichzeitig ein Bündnis für Stabilität. Beides gehört zusammen; denn Stabilitätspolitik ist noch immer die beste Sozialpolitik. Es ist falsch, Instabilität zu haben; es ist falsch, höhere Inflation zu haben; es ist falsch, höhere Zinsen zu haben. Sie treffen den Arbeitnehmer am meisten. Das müssen wir immer wieder verdeutlichen.
Wir wollen ein Bündnis für Deutschland mit mehr Arbeit, keinen Ökoversuchsballon. Während wir von der CDU/CSU die notwendige Umgestaltung über konkrete Maßnahmenbündel erreichen möchten und - da bin ich ganz sicher - auch erreichen werden, beschreitet die Opposition einen Irrweg. Die SPD-Aussage „Lieber mehr Schulden als weniger Arbeit" ist wirtschaftspolitisch ein abenteuerlicher Unsinn. Das ist genau der falsche Weg.
Wir sollten heute eigentlich über den von den Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung einer ökologischen Besteuerung von Energie diskutieren. Der in sich widersprüchliche Titel des SPD-Antrags zeigt die Problematik und Gefahr eines Eintritts in eine ökologische Erneuerung - wie es scheinbar so harmlos heißt - auf eindrucksvolle Weise auf. Dies wurde von Ihrem Herrn Clement heute schon widerrufen.
Der alles und nichts aussagende Titel lautet: „Arbeitsplätze schaffen, Arbeitskosten senken, die Wirtschaft ökologisch modernisieren" . Das klingt als Worthülse gut, ist aber reine Theorie und zeigt, daß die SPD von den praktischen Anforderungen bei der Arbeitsplatzschaffung im Grunde genommen keine Ahnung hat. Sie haben in der Praxis noch nie einen neuen Arbeitsplatz geschaffen. Wissen Sie, wie schmal Rendite und Eigenkapital in den mittelständischen Betrieben heute sind und daß wir uns äußerst schwertun, die nötigen Eigenmittel beizubringen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen? Da können Sie nicht mit neuen Steuerbelastungen kommen. Das ist der falsche Weg.
Wer sich mit der Thematik der ökologischen Steuerreform näher beschäftigt hat, weiß, daß der SPD-Antrag eher den Titel tragen müßte: Die Wirtschaft durch neue Steuern belasten, Arbeitskosten erhöhen, Arbeitsplätze vernichten.
Grundsätzlich gilt: Marktwirtschaftliche Anreize im Umweltbereich sind sinnvoll, vereinzelt längst vorhanden und werden von uns Schritt für Schritt ausgebaut. Eine vollkommene ökologische Umgestaltung unseres Steuersystems auf einmal ist jedoch abzulehnen. Wozu sollen die Steuern eigentlich noch herhalten? Es ist Mode geworden, das Steuerrecht für sich widersprechende Ziele aus anderen Politikfeldern zu nutzen.
Wie paßt es eigentlich zusammen, daß die Opposition einerseits die Rückführung der Steuerquote verlangt, andererseits aber mit heißem Herzen die Einführung einer vollkommen neuen Steuerart in dieser
Situation fordert? Nationale Ökosteuern führen zur Überfrachtung unseres Steuersystems. Wir müssen Steuern zu diesem Zeitpunkt reduzieren, um neue Impulse und Freiräume für neue Arbeitsplätze in diesem Lande zu schaffen.
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Meine Damen und Herren, die hohe Steuer- und Abgabenlast treibt die Unternehmer ins Ausland. Dies kostet uns Arbeitsplätze. Wir müssen das ideologiefrei zur Kenntnis nehmen. Wir leben in einer freien Gesellschaft, Verbote kann es nicht geben. Deshalb brauchen wir eine Reduzierung der zu hohen Steuer- und Abgabenlast.
Dies ist der richtige Weg zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das wollen unsere Bürger. Dann werden wir auch den Wirtschaftsstandort Deutschland, und den Wohlstand der Menschen sichern. Dazu brauchen wir die gemeinsame Kraft und nicht Ihre Blockadepolitik.
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Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich die Ausführungen aus der Regierungskoalition Revue passieren lasse, stelle ich fest, daß es eine eigenartige Mischung aus einem dumpfen Aussitzen und einem „Weiter so!" ist und eine große Ängstlichkeit vor den Herausforderungen zu spüren ist, vor denen wir stehen.
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Herr Kollege Geißler, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, wir brauchen jetzt Gestaltungskraft und Gestaltungswillen. Wir müssen uns den Themen der Zukunft zuwenden und unsere Politik darauf ausrichten, daß wir die Arbeitsmarktpolitik mit der Ökologiepolitik, die Wirtschaftspolitik mit der Finanzpolitik kombinieren. Aber bei Ihnen sehe ich nur Steuerentlastung als einziges Element; sonst habe ich keinen innovativen Gedanken von dieser Regierung gehört. Das ist ein Skandal, wenn man bedenkt, wie groß die Probleme sind und wie schwach die Argumentation dieser Regierung ist.
({1})
Dann redet Herr Schäuble immer vom Einstellungswandel. Ich habe nicht gehört, was damit gemeint ist; geredet wird nur von Sozialabbau. Dann hat er gesagt, er wolle noch zur Arbeitsmarktpolitik kommen. Ich habe nichts gehört, Fehlanzeige. Sie haben einfach keine Antwort zur Lösung der drängenden Probleme.
Ich sage noch einmal: Wer Massenarbeitslosigkeit in Kauf nimmt, der gefährdet den demokratischen
Zusammenhalt unserer Gesellschaft, meine Damen und Herren.
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Die Arbeitslosigkeit ist zu teuer. Ich will es noch einmal sagen: 100 000 Arbeitslose weniger entlasten die Sozialversicherung um 3,5 Milliarden DM. Auch wenn wir alle wissen, daß wir kein Patentrezept anzubieten haben, rechnet sich jede Anstrengung zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze.
({3})
Keiner hat ein Patentrezept. Was mich geradezu erschreckt, ist, daß Sie das überhaupt nicht berührt, daß Sie dasitzen und sagen: Steuerentlastung, Sozialabbau. Das, was auch in der Politik getan werden könnte, wird von Ihnen als „nicht machbar" beiseite geschoben.
Ich will die Themen noch einmal ganz kurz nennen. Ja, wir wissen, daß uns die Globalisierung das große Thema Weltwirtschaft und Arbeitsplätze auf den Tisch legt. Aber da kann ich doch nicht den Kopf einziehen und sagen: „O Gott, wie schrecklich!" Da muß ich doch Gestaltungsrahmen schaffen. Da muß ich fragen, welche Instrumente ich habe, was für Auswirkungen das auf den Welthandel, auf fairen Welthandel, auf Europa, auf WTO, auf die Internationale Arbeitsorganisation, auf die Weltbank hat. Das sind doch die Zukunftsthemen einer gestaltenden Wirtschaftspolitik. Man kann nicht so tun, als ob es in diesen Fragen keinen Handlungs- und Diskussionsbedarf gäbe.
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Man muß über diese Fragen intelligent diskutieren und Dialoge in die Gesellschaft hinein organisieren. Die Menschen warten doch darauf, daß wir zusammen an diese Fragen herangehen und nicht ängstlich hier sitzen und sagen: „O Gott, o Gott, es kommt etwas auf uns zu! Weiter so! Der Kanzler wird's schon richten!" Er wird es nicht richten, meine Damen und Herren. Gestaltungskraft ist nämlich gefragt, und die hat er nicht mehr.
({5})
Ich nehme wieder die praktischen Beispiele, die Sie kennen. Wir brauchen eine mixed policy, die dafür sorgt, daß wir die Innovation vorantreiben - darauf komme ich noch zu sprechen -, weil das der Kern unserer ökologischen Modernisierung ist. Aber es gibt auch eine ganze Menge Hausgemachtes, was Arbeitsplätze kaputtmacht. Stellen Sie sich einmal vor, wieviel sozialversicherungspflichte Teilzeitarbeitsplätze wir hätten, wenn es endlich gelingen würde, die Geringfügigkeitsgrenze abzuschaffen. Das ist Punkt Nummer eins.
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Anke Fuchs ({7})
Stellen Sie sich vor, wieviel fairer der Wettbewerb auf den Bauplätzen wäre, wenn es endlich ein vernünftiges Entsendegesetz gäbe: weniger Arbeitslosigkeit in diesen Bereichen für einfache Arbeitsplätze; hinein in die Baugewerbe, hinein in das Gaststättengewerbe, in andere Branchen. Her mit einem Entsendegesetz! Das hat mit Weltwirtschaft nichts zu tun, sondern mit der Handlungsunfähigkeit dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren. Das ist Punkt Nummer zwei.
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Wie wäre es denn, wenn wir endlich einmal an die illegale Beschäftigung herangingen und wenn wir die Arbeit, die da ist, sichtbar in vernünftige Arbeitsplätze umwandelten. Das ist Punkt Nummer drei. Dann hätten wir schon eine Menge getan, um Arbeitsplätze zu sichern und zu erhalten.
Ich stimme Ihnen, Herr Geißler, ausdrücklich zu: Wir wollen kein „working poor" . Wir sind in unserer sehr schwierigen Wirtschaftsordnung immer gut gefahren, weil wir gegen Heuern und Feuern, weil wir für qualifizierte Ausbildung und für sorgfältig abgestimmte Arbeitsplätze waren. Diesen Weg müssen wir auch in Zukunft gehen. Das erfordert Phantasie und auch neue Instrumente, mehr als nur: Nein, das wollen wir alles nicht, seht nach Amerika, da läuft alles wunderbar. Diese Richtung können und wollen wir nicht einschlagen.
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Dann war wieder diese schöne Aufgabenverteilung herauszuhören: Wenn etwas gut läuft, dann hat es die Regierung gemacht. Wenn etwas nicht läuft, dann hat es die SPD verzögert.
Wie ist das eigentlich mit den Genehmigungsverfahren? Dazu liegt ein Gesetzentwurf vor. Mein Kollege Schily hat gesagt, daß wir mit einigem einverstanden sind. Woran liegt es eigentlich, daß solche Themen von uns in diesem Bundestag x-mal beraten werden, wir aber nicht zu Rande kommen? Da muß doch irgend etwas in der Zusammenarbeit, in dem Miteinander nicht stimmen. In den meisten Feldern sind wir durchaus einer Meinung.
Machen wir doch heute, am 18. Januar, einmal aus, daß unsere parlamentarischen Geschäftsführer darauf drängen, daß das Thema Genehmigungsverfahren spätestens im Februar, nach der Karnevalspause, entscheidungsreif ist und im Deutschen Bundestag entschieden werden kann. Machen wir doch einmal gemeinsam diesen Versuch, wenn dies ein gemeinsames Projekt zur Ankurbelung der Wirtschaft sein soll. Das müßte doch möglich sein.
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Ich möchte für uns alle mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung betonen: Es geht hier um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wer sich neben dem, was ich an praktischen Aufgaben für die Innenpolitik beschrieben habe, um Arbeit zu sichern, der Zukunft zuwendet, der muß doch mit uns darüber nachdenken: Wo sind die Innovationsschübe? Es kann doch nicht so sein, daß wir das Vor-sich-hinDümpeln in Kauf nehmen mit der Maßgabe, daß die Arbeitslosigkeit bleibt oder sogar noch größer wird. Deswegen finde ich, daß unser Konzept „Arbeitsplätze schaffen, Arbeitskosten senken, Wirtschaft ökologisch modernisieren" ein gutes Angebot für eine Debatte um Innovation und soziale und ökologische Marktwirtschaft ist, meine Damen und Herren.
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Ich finde, Herr Repnik und Herr Solms, wir waren schon einmal weiter. Manchmal bin ich noch ein bißchen zu optimistisch. Ich habe nämlich gedacht, wir würden es hinkriegen, daß Sie sagen: Jawohl, es ist richtig, daß es nicht so weitergehen kann. Die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Wir müssen Umweltbelastungen mit den Preisen belegen, die sinnvoll sind. Es kann nicht so bleiben, daß wir hier sitzen und den ökologischen Umbau nicht vorantreiben. Wir müssen vielmehr miteinander überlegen: Wie erreichen wir die Ziele des Klimaschutzprogrammes?
In Berlin hat der Bundeskanzler gesagt, bis zum Jahre 2005 solle eine CO2-Reduktion um 25 Prozent erreicht sein. Das Gutachten „Energiewirtschaftliche Entwicklung 2020", das von der Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde, besagt: Wenn nichts geschieht, dann wird keine Reduktion um 25 Prozent, sondern allenfalls um 8 Prozent erreicht. Dann aber gibt es doch Handlungsbedarf, Herr Repnik. Wir müssen also etwas tun.
({12})
Dann ist es doch an der Zeit, daß die Frau Kollegin Merkel mit Maßnahmenvorschlägen in den Bundestag kommt, damit wir gemeinsam daran arbeiten, dieses Ziel im Auge zu behalten und zu erreichen.
Wie, wenn nicht über preisliche Maßnahmen, wollen Sie eigentlich einen Beitrag dazu leisten, daß der Energieverbrauch sinkt oder zumindest nicht mehr steigt? Die ökologische Steuerreform ist deshalb unabdingbar, wenn wir Innovationen in die wirtschaftliche Entwicklung einbringen wollen.
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„Arbeitsplätze schaffen, Arbeitskosten senken, die Wirtschaft ökologisch modernisieren" - es ist ja komisch, daß Herr Michelbach das überhaupt nicht verstanden hat. Manchmal ärgert es einen. Da gibt man sich ein ganzes Jahr lang, auch in der eigenen Fraktion, Mühe. Mit Herrn Solms habe ich das geklärt. Herr Repnik hat das auch verstanden. Und trotzdem wird immer wieder gesagt, wir wollten die Steuern erhöhen. Nein, wir wollen die Steuern nicht erhöhen. Wir wollen die Lohnnebenkosten senken, meine Damen und Herren.
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Anke Fuchs ({15})
Wir wollen die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um ein Drittel senken, Herr Michelbach. Das ergibt netto mehr Geld in den Taschen der Arbeitnehmer. Das entlastet die Arbeitgeber von Lohnnebenkosten. Das ist genau der richtige Weg, um wegzukommen von dem Druck auf die Kosten der Arbeit, hin zum Druck auf die Rationalisierung beim Abbau der Umweltbelastung, weil wir miteinander wissen, Energieverteuerung muß sein, wenn wir einen Beitrag zu einer vernünftigen Umweltentwicklung in diesem Lande und in der Welt leisten wollen.
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Also wollen wir Lohnnebenkosten senken. Haben Sie es jetzt begriffen, Herr Michelbach? - Jawohl! Herr Michelbach ist also mit mir der Auffassung, daß die Sozialdemokratische Partei Lohnnebenkosten senken will.
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Damit haben wir ein wichtiges Ziel erreicht. Wir sagen damit nämlich auch, daß die Bundesanstalt für Arbeit von versicherungsfremden Leistungen entlastet wird.
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Denn die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist nicht ausschließlich Aufgabe der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, sondern sie muß aus Steuern finanziert werden. Deswegen ist die Senkung für uns so wichtig.
Nun werden Sie fragen, Herr Michelbach - und nun hören Sie gut zu -: Wie wollen wir das finanzieren? Sie sagen: Sparen, sparen, sparen! Wir sagen: Wenn es sinnvoll ist, aus umweltpolitischen Gründen Energie zu verteuern, dann wollen wir dies tun. Also erhöhen wir maßvoll, flexibel, wettbewerbsorientiert und wirtschaftlich schonend die Energiekosten. Also Energiesteuer, Stromsparsteuer und Mineralölsteuer. Damit nehmen wir Geld ein. Dieses Geld wird aber nicht für irgend etwas verwendet, sondern es wird verwendet für einen Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit; denn die hat weniger Geld, weil wir die Arbeitslosenversicherungsbeiträge gesenkt haben.
Damit wird also etwas Weiteres getan. Mit der Erhöhung der Energiepreise geben wir Spielraum, um die Arbeitsmarktpolitik aus Steuermitteln zu finanzieren. Ich finde das fabelhaft, meine Damen und Herren, das ist gut durchgedacht.
Viele wirtschaftswissenschaftliche Institute sagen, die Ökosteuer wird kommen. Und ich wette mit Ihnen: Sie wird kommen, und zwar auf der Grundlage unseres Modells. Sie tun immer so, als ob die Wirtschaft dagegen ist. Einige sind dagegen, und das ist auch etwas, was mir große Sorge macht. Es sind nämlich diejenigen dagegen, denen auch nichts anderes einfällt, als immer wieder die alten Ladenhüter auf den Tisch zu legen.
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Ich appelliere an die unternehmerische Wirtschaft, ihre Verantwortung wahrzunehmen und sich endlich in einem intelligenten Dialog über die sozialen und ökologischen Veränderungen der Weltwirtschaft mit uns zu unterhalten. Da muß mehr als immer nur die Frage von Steuerentlastungen auf den Tisch kommen. Sonst hat ein Gespräch keinen Sinn.
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Viele sind inzwischen auf unserer Seite, das wissen Sie so gut wie ich. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir in dieser Frage einen Innovationsschub in Gang setzen können. Der Bundeskanzler hat gesagt: Warum soll man die Energie eigentlich nicht verteuern, um die Lohnnebenkosten zu entlasten? Herr Schäuble hat gesagt: Kein vernünftiger Mensch kann dagegen sein, wenn man die Lohnnebenkosten senkt und die Energiekosten erhöht.
Nun haben Sie Angst vor der Wahl am 24. März 1996. Das verstehe ich ja. Aber ich sage Ihnen: Zukunftskonzepte müssen unabhängig von Wahlen auf den Tisch gelegt werden.
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Die Leute warten doch darauf, daß wir über solche Zukunftsfragen miteinander reden. Sie sollten aufhören, immer nur kleinräumig und ängstlich zu denken.
Das gilt übrigens auch für das „Bündnis für Arbeit" . Wir müssen im Augenblick Revue passieren lassen, was es bedeutet, daß die Gewerkschaften sagen, sie seien bereit, Überstunden abzubauen und in Freizeit und Einstellungen umzuwandeln. Sie sind sogar bereit, bei Einstiegslöhnen unter den Tariflohn zu gehen. Aber die Antwort der Arbeitgeber ist null. Und die Antwort der Bundesregierung? Wenn Bedingungen gestellt werden - die Arbeitslosenhilfe bleibt wie sie ist, ein vernünftiger Vorruhestand -, werden diese von Ihnen abgelehnt.
So kann es nicht gehen. Sie werden das „Bündnis für Arbeit" nicht hinbekommen, wenn Sie sich mit Rosinenpickerei einseitig das herausholen, was in Ihr Konzept paßt, aber die Grundbedingungen einer sozialen marktwirtschaftlichen Partnerschaft beiseite schaffen. Das wird nicht funktionieren, meine Damen und Herren!
({22})
Ich will noch einmal zusammenfassend sagen: Der Kern unseres Programms ist die aufkommensneutrale Umschichtung hin zur Senkung von Lohnnebenkosten und eine moderate, flexible Erhöhung der Energiekosten. Wir haben mit unserem Programm eine Vielzahl weiterer Vorschläge gemacht, um die ökologische Modernisierung voranzutreiben, weil - das wissen Sie genausogut wie ich - in diesem Feld die Wachstumschancen liegen. Deswegen ist es gut, wenn man in diesem Bereich mit ordnungsrechtlichen Vorgaben und vor allen Dingen mit Initiativen
Anke Fuchs ({23})
privates Kapital heranzieht. Um im ökologischen Bereich innovativ tätig zu werden, müssen wir diese Wege gehen. Das ist auch in unserem Konzept enthalten.
Ich hoffe, daß die Ausschußberatungen etwas weiter gehen als die von Ihnen enttäuschenden Bemerkungen, die heute zu unserem Konzept zu hören waren. Unser Konzept ist auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet. Es nimmt auf die neuen Bundesländer Rücksicht. Das ist ganz wichtig. Es will die Abgaben und Steuern, die auf dem Faktor Arbeit liegen, senken. Im Energiebereich will es sie anheben.
Wir haben klug gesagt: Das soll ein Umsteuern auf den Weg bringen. Wir sehen eine Revisionsklausel vor, die ermöglicht, nach einigen Jahren zu überprüfen, wie es mit den Energiepreisen auf dem europäischen Sektor steht, wie es mit den Veränderungen steht und wo wir neu ausjustieren müssen. Wie steht es mit den Branchen, die davon betroffen sind? All das ist von uns berücksichtigt und durchdacht worden.
Wir wehren uns jedoch dagegen, daß manche Kreise der unternehmerischen Wirtschaft dies beseite schieben, nur weil ihnen der Kram nicht paßt. Die sollten sich sachlich mit uns auseinandersetzen und sich dieser wichtigen Zukunftsherausforderung stellen.
({24})
Ich komme auf das zurück, was Herr Schäuble zu sagen versucht, jedoch nicht ausgeführt hat. Er hat von einer Einstellungsänderung gesprochen. Ich glaube, daß unser Konzept zur Frage der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft ein Konzept ist, das auch über die Tatenlosigkeit dieser orientierungslosen und gelähmten Bundesregierung hinweghilft.
Die Menschen in unserem Land wollen Zukunftsperspektiven diskutieren, und zwar Zukunftsperspektiven, die mit realisierbaren Schritten kombiniert sind. Sie wollen Antworten gegen das Abfinden mit der Massenarbeitslosigkeit erhalten. Sie wollen Antworten gegen Ausgrenzung haben.
Wir müssen fragen, mit welcher Orientierung wir an diese Zukunftsaufgaben herangehen. Wir müssen davon wegkommen, daß Leitfaden unseres Handelns die totale Ökonomisierung oder Konsumorientierung einer Gesellschaft ist. Das kann nicht die einzige Antwort auf die Herausforderungen in dieser Welt sein, sondern unsere Verantwortung muß sein, für das soziale und ökologische Gleichgewicht zu sorgen. Dafür müssen wir Verantwortung tragen, und für den Dialog in dieser Gesellschaft ist unser Konzept ein Angebot.
({25}) Dazu laden wir Sie ein.
Es wäre gut, wenn Sie mit uns darüber streiten würden, aber das dumpfe „wir lehnen das ab", das dumpfe „wir wissen es besser",
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das dumpfe „das einzige ist Steuerentlastung" wird Sie nicht weiterbringen, und das schadet der Demokratie, weil die Menschen zu Recht sagen: Wir erwarten von der Politik, daß sie uns die Ängstlichkeit vor der Zukunft nimmt; wir erwarten von der Politik, daß sie Zuversicht vermittelt und uns sagt, wo es langgehen kann, daß sie uns anbietet, wie man die Probleme löst.
Dazu ist unser Konzept ein wichtiges Angebot. Deswegen bitte ich Sie, nicht bei Ihrer pauschalen Ablehnung zu bleiben. Wie hat der Bundespräsident, der übrigens ein Befürworter unserer ökologischen Steuerreform ist, so schön gesagt? Er hat gesagt: Es genügt nicht, große Visionen und Konzepte zu entwickeln, es ist an der Zeit, daß gehandelt wird. Wir haben gehandelt. Folgen Sie uns!
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Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Hans Michelbach das Wort.
Frau Fuchs, Sie haben mich angesprochen. Ich halte es geradezu für einen schlechten Witz, daß Sie ausgerechnet einem Unternehmer, der schon viele Arbeitsplätze geschaffen hat, mit sehr viel Emotionen und Worthülsen sagen wollen, daß Ihre Ökoumverteilungsgeschichte auch nur einen neuen Arbeitsplatz in unserem Lande schaffe. Das tut sie nämlich nicht.
Lohnzusatzkosten durch neue Steuererhöhungen auszugleichen ist genau der falsche Weg für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie müssen dort Einsparungen vornehmen, wo es notwendig ist, nämlich an der Quelle, und das natürlich im sozialen Konsens.
Ich bin als Unternehmer, als Arbeitgeber deshalb in einer Volkspartei, der CDU/CSU, weil hier der Grundkonsens zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht und alles andere der falsche Weg ist.
({0})
Ökosteuern würden nämlich zunächst die Staatsquote weiter erhöhen. Unternehmer brauchen zu dieser Zeit zuverlässige, dauerhafte Rahmenbedingungen und keinen Ökoversuchsballon.
Ich kann Ihnen ganz deutlich sagen: Natürlich sind wir für Erneuerungen und Modernisierungen, aber dies muß Schritt für Schritt unter dem Gesichtspunkt stattfinden, der da heißt, daß man steuerliche ökologische Elemente in das Steuersystem hineinbringt. Alles andere ist der falsche Weg.
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Ökosteuern bringen unweigerlich Nachteile für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, die auf dem Spiel steht. Hier sind sich alle ernstzunehmenden Studien einig, und Sie haben leider außer diesen Worthülsen keinen konkreten Vorschlag gemacht, wie es letzten
Endes volkswirtschaftlich und wirtschaftspolitisch insgesamt gehen soll.
Nationale Alleingänge sind riskant. Sie würden die deutsche Wirtschaft schwer belasten. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz aus Ländern wie den USA, Japan oder aus Südostasien. Über Ökosteuern betreibt man keine Standortsicherung, sondern in diesem Zeitpunkt Standortvernichtung. Der Standort Deutschland würde von immensen Produktionsverlagerungen in Länder mit niedrigen Umweltstandards bedroht.
Ein einsamer nationaler Alleingang würde der deutschen Wirtschaft in dieser Zeit einen schweren Stoß versetzen. Das können wir uns nicht leisten. Ich kann Ihnen deutlich sagen: Diese Nachteile wollen wir nicht in Kauf nehmen.
({1})
Wir müssen mit Vernunft an die Dinge herangehen, mit ökologischen Elementen im Steuersystem - dagegen haben wir nichts -, aber dies nicht im nationalen Alleingang, zu Lasten der deutschen Wirtschaft, zu Lasten unserer Arbeitsplätze.
Ich kann Ihnen ganz deutlich sagen: Sie bleiben mit diesen Vorschlägen die Steuererhöhungs- und Umverteilungs-SPD, wie sie immer war.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs.
Solche Kurzinterventionen sind sehr praktisch, Herr Kollege, weil man auf sie noch einmal antworten kann.
Ich empfehle Ihnen, doch einmal unseren Antrag zu lesen und dann mit Herrn Repnik darüber zu sprechen,
({0})
denn ich sage noch einmal: Wir wollen die Lohnnebenkosten senken.
({1})
Also, Ihre Arbeitnehmer und Sie als Arbeitgeber werden einen um ein Drittel geringeren Arbeitslosenversicherungsbeitrag zahlen. Das ist eine Senkung von Lohnnebenkosten.
Dann kommt die spannende Debatte, wie man das finanziert. Darüber sind wir uns eigentlich alle einig gewesen - ich erinnere an das Stichwort Kohlepfennig -, daß es ökologisch das falsche Signal war, die Strompreise zu senken. Das war Konsens in diesem Haus.
Wenn ich daran anknüpfe, dann ist für mich ganz klar, daß man aus ökologischen Gründen eine Energieverteuerung braucht. Dadurch finanzieren wir die von mir eben vorgetragene Senkung der Lohnnebenkosten.
({2})
Also, lassen Sie einmal die Polemik etwas beiseite. Schauen Sie sich unsere Instrumente mit uns gemeinsam an! Es kann ja sein, daß Sie sagen, das eine machen wir nicht mit, aber das andere wohl.
Ich erinnere Sie, Herr Solms, daran, daß Sie gesagt haben, in dieser Richtung sei es eine ganz interessante Idee.
Ich lade wirklich alle dazu ein, in den Ausschußberatungen auf diesem Feld weiterzuarbeiten, weil ich glaube, daß in dieser ökologischen Frage auch die Chance der wirtschaftlichen Entwicklung liegt.
Wenn Sie, Herr Kollege, für die unternehmerische Wirtschaft sagen, es geht nicht im Alleingang, dann entgegne ich Ihnen: Wir sind doch gerade bei der Umwelttechnologie zum Teil im Export die Nummer eins, auch weil wir auf manchen Gebieten Vorreiterrollen übernommen haben. Das darf man nicht übertreiben, das muß man europäisch einbinden. Gleichwohl sind dies Wachstumschancen, und da sollten Sie nicht so ängstlich sein.
({3})
Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren auf Antrag der Oppositionsparteien heute morgen ein wichtiges Thema.
Die Weihnachtspause ist zu Ende. Ich bin heute morgen mit der Erwartung in dieses Plenum gekommen: Heute wird ein Tag des Feuerwerks der Ideen, des Kreativitätsschubs. Wir werden heute von der ganzen innovativen Kraft der Opposition überrascht werden.
({0})
Es ist jetzt 12.10 Uhr, und mir ist kein einziger neuer Gedanke genannt worden. Ich habe mich bemüht, einen neuen Gedanken der Opposition zu finden.
({1})
Wenn Sie einen neuen Gedanken heute morgen genannt haben, den Sie nicht schon fünfundzwanzigmal genannt haben, dann zahle ich eine Prämie. Drei Stunden höre ich zu, drei Stunden in saecula saeculorum.
({2})
Immer dasselbe: Die reden gestern dasselbe wie heute und morgen. Ich kann es zusammenfassen: Die Regierung macht nichts, und alles, was sie macht, ist falsch.
({3})
Ja, was denn jetzt? Überlegen Sie einmal ganz kurz. Sie müssen sich entscheiden. Entweder sind wir eine Regierung des Falschmachens oder des Nichtsmachens. Aber Sie können nicht beides behaupten.
Ich kann noch weitermachen.
Herr Scharping, Sie haben heute morgen zehn Projekte genannt, die aus Ihrer Sicht falsch sind. Anschließend haben Sie diesen Vorwurf mit der Behauptung abgeschlossen, die Regierung mache gar nichts.
({4})
Ich mache noch weiter. Meine Zusammenfassung: Die Ausgaben sind zu hoch, aber Einschränkungen dürfen nicht vorgenommen werden. Ich teile den ersten Teil Ihres Satzes, Herr Scharping. - Seien Sie doch nicht so aufgeregt, ich versuche nur, einmal zusammenzufassen; Sie können ja nach mir reden und möglicherweise noch andere Rednerbeiträge zusammenfassen. Ja: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß!
Herr Scharping, die Rentenreform war die letzte Reform der SPD, der Sie zugestimmt haben und die mit einer Einschränkung verbunden War. Es war die letzte Reform, die mit einer Einschränkung verbunden war.
({5})
- Die Pflegeversicherung ist keine Reform mit Einschränkungen. Die letzte Reform mit einschneidenden Umstellungen war die Rentenreform. Ich schenke Ihnen noch die Gesundheitsreform dazu. Ab sofort gibt es nur noch Kritik. Sie haben es heute wieder gemacht. Das Schlechtwettergeld - wollen wir doch nicht in die Ferne schweifen - ist eine große Umstellung. Die Regelung wurde jetzt geschaffen mit Zustimmung der Baugewerkschaft und der Bauarbeitgeber. Wer hat diese Neuregelung bekämpft, die Vorteile für die Arbeitnehmer bringt - ganzjährige Beschäftigung? Wer hat sie bis zur letzten Patrone bekämpft, um es militärisch zu sagen? Diese Opposition! Und dann reden Sie von zu hohen Ausgaben, und wenn es ernst wird, sind Sie nicht da.
({6})
Warum in die Ferne schweifen, denn das Gute liegt ja so nahe.
Dann kommt Herr Dreßler. Sie haben heute morgen über die Frühverrentung gesprochen. Die Kurzfassung dieses Dreßlerischen Beitrags war: Die Sozialkassen müssen geschont werden, aber die Frühverrentung muß weitergehen. Das ist nach dem Motto: Die Lieferung muß weiter kommen, aber bezahlt wird nichts. Ja, das ist wieder eines Schulmeisterleins Hut, eine liebenswerte chapeaulische Gestalt. Dessen Haushalt war immer so ausgeglichen, weil er nur die Einnahmen gezählt hat. Die Ausgaben hat er nicht gezählt.
({7})
Das sind Prachtbeispiele. Ich will das Rententhema erwähnen. Ich verteidige die Rentenversicherung, - damit sich niemand Illusionen macht. Es geht um die Sicherheit unserer älteren Mitbürger gegen jegliche Systemangriffe. Die Rentenversicherung ist eine der klügsten Erfindungen unseres Sozialstaats. Diese gute alte Rentenversicherung ist nur zu halten, wenn wir den Trend zur Frühverrentung stoppen. Wenn wir ihn stoppen, handeln wir für die Sicherheit der älteren Mitbürger und Mitbürgerinnen.
({8})
Ich spare doch nicht um des Sparens willen. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt vier Jahre unter dem gesetzlichen. Wir wollen gar keine Neuveränderung einer gesetzlichen Lage, die Sie mitbeschlossen haben. Wir wollen nur das, was Sie mitbeschlossen haben. Wir wollen, daß das Renteneintrittsalter tatsächlich erreicht wird, und nichts anderes.
({9})
Meine Damen und Herren, ein Jahr weniger Rentenlaufzeit ist ein Beitragspunkt. Das sage ich, damit jeder weiß, wovon wir reden. Das sind nicht irgendwelche kleinen Beträge. Das sind 15 Milliarden DM. 66 Milliarden DM kostet die Sozialkassen die Frühverrentung. Die Unternehmer kosten die 300 000 Arbeitnehmer, für die wir dieses Jahr bezahlen müssen, 5,4 Milliarden DM und die Sozialkassen 66 Milliarden DM. Will sich hier ein Sozialdemokrat hinstellen und dies als Solidaritätsverteilung bezeichnen? Die kleinen Betriebe, die Handwerksmeister und die Arbeitnehmer zahlen die Frühverrentung von Großbetrieben, die im Geld schwimmen, die Gewinne haben und die Sozialkassen ausbeuten. So ist das doch. Da können Sie nicht drumherum reden.
({10})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage.
Nein, ich habe nur ein paar Minuten Zeit, in denen ich alles abhaken will.
Zum Entsendegesetz. Herr Scharping, heute nachmittag, in vier Stunden, haben wir Gelegenheit, zu entscheiden, ob das Entsendegesetz zustande kommt. Wir, Herr Scharping, dieser Bundeskanzler, diese Bundesregierung waren die erste Regierung, die die Entsendegesetzgebung in Europa überhaupt zur Sprache gebracht und dafür gekämpft hat. Daß wir sie nicht zustande gebracht haben, liegt nicht an der Bundesregierung,
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sondern an der Verweigerung jener Länder, die davon profitieren. Das liegt ja auf der Hand. Und jetzt machen wir sie. Und heute nachmittag - nicht hier groß reden! - entscheiden Sie, ob wegen eines größeren Geltungsbereiches - also die Gastwirte auch im Entsendegesetz -, weil Sie mehr wollen, die Maurer im Stich gelassen werden. Heute nachmittag entscheidet sich, ob wir zu einem vernünftigen Kompromiß fähig sind oder hier die Anklagebank benutzen, an der Klagemauer herumjammern, aber nichts tun für die Maurer, für die Bauarbeiter, die in der Tat in Not sind.
Und dann, Kollege Dreßler, nur weil uns Leute zuhören, muß ich das auch noch klarstellen: Die Bundesregierung - das hat mein verehrter Kollege Dreßler gesagt - will das Defizit der Bundesanstalt nicht ausgleichen. Das Defizit 1992 haben wir mit einem Bundeszuschuß von 13 Milliarden ausgeglichen, 1993 mit 24 Milliarden, 1994 mit 10,2 Milliarden, 1995 mit 6,9 Milliarden DM. Ab wann fangen Sie denn an zu zählen? Unter 25 Milliarden zählen sie wohl nicht?
Sie können ja viel sagen, aber nicht behaupten, wir ließen die Bundesanstalt im Stich. Wir haben schließlich - ich sage es noch einmal - 13 Milliarden, 24 Milliarden, 10 Milliarden, 6,9 Milliarden DM gezahlt. Verkaufen Sie die Leute draußen nicht für dumm! Ich würde mich ja gar nicht aufregen, wenn ich nicht glauben würde, daß manche auf diesen Dreßlerschen Leim gehen. Das ist Dreßlerscher Leim, sonst nichts. Das ist die falsche Behauptung!
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Mit vier Millionen Arbeitslosen kann keiner zufrieden sein, keiner. Deshalb brauchen wir ein Bündnis für Arbeit. Wir müssen aufeinander zugehen. Tun wir hier nicht so, als hätte jemand das Patentrezept.
Ich sage: Eine vernünftige Lohnpolitik - das sage ich auch meinen eigenen Freunden - ist durch nichts zu ersetzen. Ein Prozent weniger Lohn, Graf Lambsdorff, bedeutet 18 Milliarden. Wenn wir durch Sparen das gleiche erreichen wollen, müßte das Arbeitslosengeld zum Beispiel bei Verheirateten von 67 auf 18 Prozent gekürzt werden. Das ist außerhalb des Denkbaren. Da können wir nämlich die Arbeitslosenversicherung gleich von der Sozialhilfe her übernehmen. Die Renten müßten um 15 Prozent gekürzt werden. Das wäre auch das Ende. Die Unfallversicherung könnten wir abschaffen. Die kostet 18 Milliarden.
Ich sage, wir müssen sparen. Aber mit sparen in der Sozialpolitik allein geht es nicht. Die Tarifpartner müssen ihren Beitrag leisten.
Und was das Wichtigste ist: Wir brauchen eine Aufbruchstimmung für Innovationen. Wir haben einen Teil der Innovationen verschlafen. Innovation in einem Produktbereich, der in der Dritten Welt billiger hergestellt werden kann, führt noch nicht ans rettende Ufer. Innovation in der Spitzentechnologie! Wir haben nichts erreicht, wenn die Amerikaner und die Japaner Mikrochips herstellen und wir Kartoffelchips. Das ist kein Ausgangspunkt für den Weltmarkt.
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Deshalb - das richtet sich an die Unternehmer - Innovation auch in Arbeitszeiten!
({3}) - Ja, bei Kartoffelchips sind Sie gefragt.
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Technikfeindschaft verhindert die Chance für die deutschen Arbeitsplätze. Nostalgie, so schön sie ist, es geht um Ihr Verhältnis, Herr Fischer, zur Technik, zum technischen Fortschritt, der nicht ohne Probleme und ohne Risiken ist. Aber bei einem Zurück ins 19. Jahrhundert entstehen bestenfalls Arbeitsplätze für die Postkutsche. Die braucht nur niemand mehr. Wir brauchen einen modernen Wirtschaftsstandort. Das betrifft auch die Arbeitszeiten,
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das betrifft auch die Arbeitsorganisation, und wir brauchen einen Sozialstaat, der einer unserer wichtigsten Standortvorteile ist: soziales Vertrauen.
Wissen Sie, was mir zu denken gibt? Wieso ist denn der Krankenstand von Betrieb zu Betrieb so unterschiedlich? Wieso haben die Betriebe unter fünf Arbeitnehmer einen durchschnittlichen Krankenstand von 2,4 Prozent, die bis 20 Arbeitnehmern 4,9 Prozent und manche Großbetriebe bis 11 Prozent? Das kann doch nicht daran liegen, daß in den Großbetrieben die gesundheitlich Schwächeren und beim Mittelstand die Gesunden arbeiten. Vielleicht liegt es auch daran, daß es im Mittelstand noch eine Tradition gibt mit dem nostalgischen Begriff Handwerkerfamilie. Man hält in guten und schlechten Zeiten zusammen. Heuern und Feuern gehört nicht zu der Tradition unseres Sozialstaats.
Unser wichtigster Produktionsfaktor - wer das bezweifelt, soll sich in Frankreich erkundigen; man muß nicht weit wandern - ist die Arbeit. Deshalb laßt uns alles tun, um diese hohe Kooperationsbereitschaft der Sozialpartner, um die uns die Welt beneidet, und auch die Bereitschaft zur Umstellung zu erhalten. Wir brauchen Unternehmer, die die Chancen beschreiben und nicht die Risiken. Deshalb möchte ich angesichts der beschränkten Redezeit
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eine Anzeige hier einmal vorlesen:
Wir können das Gejammere um den Standort Deutschland nicht mehr hören; und das Schwarze-Peter-Spiel von Schuldzuweisungen empfinden wir als brotlose Kunst.
Unternehmer sind dazu da, Herausforderungen anzunehmen, die Initiative zu ergreifen und alles in ihrer Verantwortung Stehende zu tun, um ihre Unternehmen stromlinienförmig der Umgebung anzupassen - und nicht umgekehrt darüber zu klagen .. .
Dieser Standort ist alles andere als ein unternehmerisches Paradies, das ist wahr. Doch er steckt voller Herausforderungen. Sie müssen nur angepackt werden. Die Löhne sind zu hoch? Wenn man Mitarbeiter als Mit-Unternehmer versteht, verdienen sie nach Leistung. Die Kunden sind zu wählerisch? Um so intensiver müssen die Bemühungen sein, sie zufriedenzustellen.
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- Ja, ich würde mir wünschen, Frau Fuchs, es gäbe mehr solcher Worte zum Sonntag. Worte zum Sonntag, die nun wirklich nichts bringen, sind, diesen Standort schlecht- und mieszumachen, als befänden wir uns in einem Jammertal. Deshalb schließe ich mich diesem jungen Unternehmer an, der Zuversicht hat und der sagt: Wir müssen anpacken; auf eingefahrenen Wegen ist das nicht zu haben,
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sondern nur auf radikal neuen. „Dieses Land ist gut für Erfolg" , schreibt er.
Weiter steht in der Anzeige:
Wer diesen Standort nicht als Stand-Ort, sondern als Bewegungs-Raum nutzt, kann hier wirtschaftliche Erfolge erreichen, die immer nur in pazifischen Räumen vermutet werden. Man traut es sich ja inmitten des Wehklagens kaum noch auszusprechen: Hier wuchs ein Unternehmen in zehn Jahren von Null auf über eine Milliarde Umsatz.
Wir brauchen die guten Beispiele von Unternehmern, die nicht den Abbau, sondern den Aufbau darstellen. Wir brauchen Gewerkschaften, die bereit sind, mit befristeten Arbeitsverträgen Überstunden zu vermeiden. Die befristeten Arbeitsverträge haben Sie von der SPD doch bekämpft. Die Gewerkschaften sind doch viel weiter. Wir brauchen hier keine Veranstaltung per saecula saeculorum mit Wiederholungen Ihrer uralten, auf der Bartwickelmaschine liegenden Vorwürfe. Wir brauchen dieses Jahr 1996 als ein Jahr des Aufbruchs und des Mutmachens und nicht des Miesmachens.
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Das Wort hat die Kollegin Anke Fuchs, und zwar hat sie vier Minuten; das sage ich vorsorglich.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Gelegenheit, auf Norbert Blüm zu antworten. Das will ich gern machen, weil mir sehr daran gelegen ist, daß Sie wissen, daß wir mit Ihnen zusammen die Rentenversicherung verteidigen. Wir wissen beide, gegen wen wir sie verteidigen müssen.
Ich will etwas zum Vorruhestand sagen, damit nicht der Eindruck entsteht, wir wüßten nicht, daß hier Regelungsbedarf ist. Wir brauchen eine Veränderung des Vorruhestandes, aber bitte so, daß bestehende Regelungen davon nicht berührt sind. Denn ganze Kompanien von Arbeitnehmern haben ihre Sozialpläne darauf ausgerichtet, und wenn Sie das jetzt verändern würden, würden Sie sie in die Arbeitslosigkeit schicken und die finanzielle Grundlage für ihr vorzeitiges Ausscheiden kaputtmachen. Das kann nicht angehen, meine Damen und Herren.
({0})
Deswegen kennen Sie unsere Bedingungen. Darüber werden wir auch reden. Wir sollten hier nicht mehr Konfrontation produzieren, als es sie ohnehin schon gibt. Ich glaube, daß hier auch Möglichkeiten vorhanden sind, sich zu einigen.
Was das Entsendegesetz angeht, werden wir heute nachmittag sehen, wie wir im Vermittlungsausschuß weiterkommen.
Ich fand das, was Sie, Herr Blüm, aus der Zeitung vorgetragen haben, sehr gut. Ich wünsche mir, daß alle auf der rechten Seite des Hauses so optimistisch wären wie Sie.
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Meine Bedenken bestehen darin, daß die Bundesregierung, die sie tragenden Parteien wie ein Mehltau über innovativen Entwicklungen liegen und daß Innovationen deswegen nicht in Gang kommen, weil Sie sich nichts mehr zutrauen. Das ist für mich der Kern der heutigen Debatte.
Darin stimme ich Norbert Blüm sogar zu: Lassen wir uns diejenigen um uns scharen, die bereit sind, innovativ zu denken, die etwas riskieren wollen; setzen wir auf unternehmerisches Handeln, aber bewahren wir dabei soziale Verantwortung und sozialen Konsens, und tun wir nicht so, als ob Nostalgie in unternehmerischem Denken die Antwort auf die Zukunft ist.
Die Herausforderungen sind andere. Deswegen brauchen wir starke Gewerkschaften, starke Betriebsräte und mehr Mitbestimmungsrechte. Wenn wir in diese Richtung marschieren, Herr Bundesarbeitsminister, können wir ein bißchen der Polemik wegnehmen und uns in der Sache streiten, weil die Sozialversicherungssysteme unseren Konsens brauchen.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte wegen der Leimrute, die Herr Blüm hier ausgelegt hat, drei Feststellungen treffen.
Die erste ist folgende. Herr Blüm, wer die Arbeitsförderung wie Sie in den letzten vier Jahren in diesem Lande katastrophal reduziert und damit diese Menschen von Weiterbildungsmaßnahmen, Umschulungsmaßnahmen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in die Arbeitslosigkeitsstatistik schickt, wer sich weigert, die Defizite, die nach dem Gesetz die Bundesregierung für die Bundesanstalt für Arbeit zu übernehmen hat, weiterhin zu tragen, sondern sie reduziert, indem die Leistungen gekürzt werden, der kann sich nicht hier hinstellen und so tun, als ob er die arbeitsmarktpolitischen Aufgaben, die ihm als
Bundesminister gestellt sind, auch nur einigermaßen befriedigend geregelt hätte.
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Die zweite Feststellung: 300 000 Vorruhestandsempfänger, die die Sozialversicherungssysteme knapp 70 Milliarden DM kosten, sind nicht im Dezember 1995 vom Himmel gefallen, sondern wir haben sie im Laufe der letzten Jahre sich entwickeln sehen. Es hat zu keinem Zeitpunkt der federführende Minister, nämlich Sie, vor dem Deutschen Bundestag vor dieser Entwicklung gewarnt und diesem Bundestag und seiner Regierung gesagt, daß die Quasi-Nichtbeteiligung von Unternehmern an dieser faktischen Entlassungswelle, sich des Personals zu entledigen, auf Kosten der Sozialversicherung die Systeme atomisiert. Sie haben dazu geschwiegen und beschweren sich heute bei der Opposition, daß die Eskalation der Systeme dazu führt, daß Ihre eigenen Parteifreunde jeden Tag diese Systeme weiter diskreditieren.
({1})
So geht es nicht, Herr Minister.
Der dritte Punkt ist folgender. Wer sich hier hinstellt und im Vorgriff diesem Bundestag suggeriert, Sie wollten ein Entsendegesetz, Sie wollten also verhindern, daß ausländische Arbeitnehmer auf deutschem Boden zu Billigtarifen und Dumpinglöhnen arbeiten, der hat wohl Ihren Gesetzentwurf selbst nicht gelesen. Was Sie wollen, ist, in einem Gewerbe auf deutschem Boden die unterste Lohngruppe zum Maßstab für deutsche Tarifpolitik zu machen. Das ist Atomisierung der Tarifautonomie und mit der SPD nicht zu machen - damit das klar ist.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Blüm.
Das ist der Sinn, Herr Präsident, des parlamentarischen Dialogs, daß wir im Pro und Kontra die Positionen klären. Dann will ich die Entwicklung der Frühverrentung darstellen.
1991 waren es 50 000 Frührentner, in diesem Jahr sind es 290 000. Richtig ist, daß bis 1991 nach geltendem Recht die Betriebe den Sozialkassen die Kosten erstatten mußten. Bis dahin gab es keine Gefahr für die Sozialkassen. Dann hat das Bundesverfassungsgericht diese Erstattungsregelung ausgehebelt. Daraufhin haben die Arbeitgeber gesagt, daß sie freiwillig eine Ersatzregelung bieten würden. Der einzige Vorwurf, den Sie aus meiner Sicht nicht unberechtigt machen können, ist, daß ich zu lange auf diese Vorschläge der Arbeitgeber gewartet habe.
Recht wäre es mir nach wie vor, die Sozialpartner würden das regeln und nicht der Gesetzgeber. Richtig wäre es immer, die Sozialpartner im Boot zu haben. Denn so findig kann kein Gesetzgeber sein, daß es nicht mindestens einen Fall mehr gibt, als er sich ausdenkt. Deshalb sage ich: Je mehr Konsens man ins Spiel bringt, vor allen Dingen, je mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden, um so leichter ist auch die Lösung.
Ich habe im Vorgriff bereits vor drei Jahren Altersteilzeit als gesetzliches Angebot und Alternative vorgeschlagen. Sie ist nicht genutzt worden. Das ist ein Beispiel. Der Sozialstaat heißt zwar Staat; aber er ist nur zum Teil Staat, wenn er nicht getragen wird von freiwilliger Kooperation, wenn jeder macht, was nicht verboten ist. Wenn man sagt, es ist ja nicht verboten, also mache ich es, dann wird ein Polizei- und Kontrollstaat provoziert, den wir alle nicht wollen. Es wäre besser gewesen, wir hätten nicht gesetzlich handeln müssen.
Was ABM und F und U anbelangt, befinden wir uns immer noch in einer Rekordhöhe. Selbst wenn man es prozentual sieht, ist es viel mehr als 1982. Aber, Herr Kollege Dreßler, ich bleibe dabei - hoffentlich in Übereinstimmung mit Ihnen -: Der zweite Arbeitsmarkt darf nicht zu einem Dauerarbeitsmarkt werden. Deshalb müssen wir eine Kurve nach unten ziehen, weil sonst das, was als Brücke gedacht war, zu einem Parkplatz wird. Sicherlich haben wir die Brücke auch gerade im Osten gebraucht, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Diesen Aspekt verteidige ich mit Ihnen. Nur es kann nicht auf Dauer bei dieser Höhe bleiben, weil sonst ein zweiter Arbeitsmarkt als regulärer neben dem ersten errichtet wird.
Was das Entsendegesetz anbelangt, wollen wir dem Vermittlungsausschuß nicht vorgreifen. Ich appelliere ja nur daran, daß wir den letzten Schritt gemeinsam bedenken, daß wir nicht am Schluß mit leeren Händen dastehen. Ich kann Ihnen die Debatte im Deutschen Bundestag voraussagen, so viel Phantasie habe ich: Ich werde sagen, Sie seien am Scheitern schuld; Sie werden sagen, ich wäre am Scheitern schuld. Es wird die Bauarbeiter überhaupt nicht interessieren, wer am Scheitern schuld ist. Es wird sie nur interessieren, ob und wie wir ihnen helfen. Ohne Kompromiß geht es nicht.
Ich sehe auch das grundsätzliche Problem - wenn ich das noch nachholen darf -, den Sozialstaat zu hinterfragen, was mit Beiträgen finanziert werden muß und was mit Steuern. Das sind die uralten Fragen - ich glaube, heute mehr als zu Bismarcks Zeiten -: Wofür ist der einzelne selbst verantwortlich, wofür ist Solidarität zuständig? Das beantwortet aber immer noch nicht die weitere Frage: Was, unter dem Dach der Solidarität, müssen alle mit Steuern bezahlen, und was muß mit Beiträgen finanziert werden? Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit, sondern auch eine Frage, wie wir Arbeitsplätze belasten. Wenn wir dieser Frage gemeinsam nachgehen, dann fände ich eine solche Debatte noch lohnender, als sie heute morgen war.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich schließe jetzt die Aussprache.
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Interfraktionell wird eine Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/3067, 13/3230 und 13/ 3492 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3230 soll zusätzlich an den Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Dann rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d und den Zusatzpunkt 3 auf:
4. a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Gewässer schützen - Kosten senken
- Drucksache 13/3490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Haushaltsausschuß
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Susanne Kastner, Michael Müller ({1}), Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umwelt- und sozialverträgliche Abwasserbehandlung und -vermeidung
- Drucksachen 13/1057, 13/3095 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Auswirkungen der 2. und 3. Novelle zum Abwasserabgabengesetz auf die Gewässer
- zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Auswirkungen der 2. und 3. Novelle zum Abwasserabgabengesetz auf die Gewässer
- Drucksachen 12/8344, 13/305, 13/1101-
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder
Susanne Kastner Dr. Jürgen Rochlitz Birgit Homburger
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung ,
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die ökologische Qualität von Gewässern
- Drucksachen 13/725 Nr. 169, 13/3175 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Susanne Kastner
Birgit Homburger
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Dagmar Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Ökologische und bezahlbare Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung
- Drucksache 13/3494 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({4})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlaß für diese Debatte ist die Tatsache, daß wir in Deutschland sowohl in Ost als auch in West aus sehr unterschiedlichen Gründen, dies ist durchaus auch im Kontext der gerade abgelaufenen Debatte zu sehen, eine Diskussion über Abwasser, Gebühren, umweltpolitische Zielsetzungen und, um den Begriff aus dem Antrag der SPD aufzunehmen, über die Sozialverträglichkeit führen. Dieses Thema hat den Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten bewegt. Es ist eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden. Es liegen hervorragende Ergebnisse aus dieser Arbeit von Bund und Ländern vor. Es geht jetzt darum, daß wir, die Parlamente, - nicht nur in Bonn, sondern auch in den Ländern - Konsequenzen aus diesen Arbeitspapieren ziehen, weil sonst das Thema bzw. das Problem nur beschrieben wäre und Lösungsvorschläge nur auf dem Tisch liegen würden. So wie sich das zur Zeit in der Innenministerkonferenz abzeichnet, nimmt man zwar die Ergebnisse zur Kenntnis, sagt, daß Handlungsbedarf bestehe, verweigert sich aber anschließend der Konsequenz des Handelns.
Wir stehen auch in diesen Fällen vor der Frage, ob wir mit den Standards, mit den Zielen, mit dem, was an Spielregeln in der Abwasserpolitik, in der Gewässerreinhaltungspolitik bisher fest und konsensfähig vereinbart ist, so weitermachen können oder ob wir Veränderungen vornehmen müssen, um den sozialpolitischen, kostenpolitischen Herausforderungen gerecht zu werden. Wir müssen auch zur Kenntnis
nehmen, daß mehr Umweltpolitik, ob im Abfall- oder Abwasserbereich, eben nicht zu Nulltarifen zu haben ist, und müssen aus dieser Erkenntnis auch Konsequenzen ziehen.
Um es vorwegzunehmen: Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Ziele für den Meeresoberflächen- und Grundwasserschutz nicht aufgegeben werden können. Die Frage ist, wie wir mit veränderten Rahmenbedingungen dieser Zielsetzung nach wie vor gerecht werden können. Ich will den Problemhintergrund nur skizzenhaft beschreiben. Einerseits stehen wir in Westdeutschland eher vor der Frage: Schließen wir die letzten 5 Prozent der Bevölkerung noch an zentrale Abwasseranlagen an, und welche Mittel setzen wir pro Schadstoffeinheit ein? Auf der anderen Seite wollen wir in den neuen Bundesländern innerhalb weniger Jahre - was wir uns im Westen, das muß man einmal ganz eindeutig sagen, nie zugemutet haben - in der Abwasserbeseitigung von null auf hundert kommen. Wir reden nicht nur über Umweltschutz, sondern über Industrie- und Wirtschaftsstandorte, über Ansiedlungsfragen, über Arbeitsplätze, über Nebenkosten, um nur einige Begriffe aufzuzählen. Auch ist es nicht so, daß diese Unterschiede gottgegeben sind. Wenn man sich die Gebühren- und Abgabenlandschaft ansieht, dann stellt man fest, daß die sehr deutlichen Unterschiede innerhalb des Westens und innerhalb der östlichen Landschaften nicht nur damit etwas zu tun haben können, daß die Spielregeln nicht überall gleich angewandt werden.
Ich will eine Bemerkung zum Kostenproblem machen, das der Hintergrund für unsere Frage ist. Haben wir den Mut, sensible Gebiete etwa in den ländlichen Räumen anders zu betrachten, als das bisher der Fall gewesen ist? Haben wir den Mut, DIN-Normen zu verändern, wenn deren Standards zu hohen Kosten führen und man ihre Zwecke auch auf anderem Weg erreichen kann? Oder nehmen Sie die Bauausführung. Ich nenne als Beispiel zwei Städte in Sachsen-Anhalt mit gleichen Einwohnergleichwerten bei einer Abwasseranlage. Die eine baut für 8 Millionen DM und erreicht das Ziel, während die andere für 40 Millionen DM baut. Hier sind Dinge zu diskutieren, die nichts damit zu tun haben, daß wir unsere umweltpolitische Zielsetzung aufgeben, sondern damit, daß wir die Mittel, die wir haben, die knappen Mittel des Bürgers - wir reden gar nicht nur über staatliche Gelder - zur Effizienzsteigerung einsetzen und auch Zeitabläufe überprüfen.
Wir haben einen zweiten Problemkomplex, der nicht nur etwas mit den Kosten zu tun hat, sondern mit der Kostenverteilung. Das eigentliche Problem in der Umsetzung dessen, was beim Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten verabredet ist, ist die Tatsache, daß die Innenminister aus diesen Ergebnissen keine Konsequenzen für die Kommunalabgabengesetzgebung ziehen wollen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Wenn Sie in Schöppenstedt, einem Ort in Niedersachsen, einem Zweifamilienhaushalt - ich habe das nun 20 Jahre diskutiert - über den Kostenverteilungsmechanismus 550 000 DM einmalige Anschlußgebühren abnehmen wollen, dann hat dies keine Akzeptanz mehr. Diesem Bürger können sie Umweltpolitik nicht mehr vermitteln, weil er für 550 000 DM ein ganzes Einfamilienhaus bauen kann und für dieses Geld mehr als nur den Anschluß an die zentrale Abwasserentsorgung erwarten kann. Wir müssen deswegen über Finanzierungsmodelle, über Kostenverteilungsmodelle genauso diskutieren wie über Betriebsformen.
Ich will in diesem Zusammenhang nur eine Bemerkung zum SPD-Antrag, insbesondere zu Seite 3, machen, weil er den Widerspruch, in dem - ich will daran gar keinen Zweifel lassen - auch wir stehen, nicht auflöst, nämlich einerseits zu sagen, man darf nichts an den Zielsetzungen ändern, und andererseits zu fordern, daß wir das Ziel der Sozialverträglichkeit erreichen müssen. Dies ist nicht machbar, wenn wir nicht alles auf den Prüfstand stellen und uns darüber verständigen, ob man denn mit den richtigen Mitteln an der richtigen Stelle auch die richtigen Maßnahmen ergreift. Das heißt, wir sind dafür, unsere Positionen zu überdenken, dabei das Ziel des Gewässerschutzes, der Nordsee, der Oberflächengewässer und des Grundwassers nicht aus dem Auge lassen, daß wir die Wege dorthin verändern, daß wir Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen genauso in den Blickpunkt nehmen wie die Frage der Betriebsform.
Ich sage hier mit allem Nachdruck, meine Damen und Herren: Es ist zwar sicherlich wichtig, daß wir dies in diesem Hause diskutieren. Aber wir werden das Ziel nicht erreichen, wenn Kommunen und Länder nicht genauso wie wir bereit sind, aus der Arbeit von Bund und Ländern vorbehaltslos Konsequenzen zu ziehen: im Interesse der Umwelt, der Bürger und der Sozialverträglichkeit.
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Bevor ich der Kollegin Susanne Kastner das Wort gebe, möchte ich darauf hinweisen, daß nach Auffassung des Sitzungsvorstandes das Anwesenheitsquorum nach § 45 der Geschäftsordnung deutlich unterschritten ist.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Susanne Kastner, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Der Schutz unserer Gewässer ist von herausragender Bedeutung. „Pflanzen, Tiere, Menschen - ohne Wasser können sie nicht existieren." Dieses Zitat vom früheren Bundesumweltminister zeigt, daß wir, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, doch tatsächlich einiges gemeinsam haben: Der flächendekkende Schutz der Gewässer als natürlicher Lebensraum und als Grundlage für die Trinkwasserversorgung muß unbedingt gewährleistet sein.
Nur, dieser Weg ist sehr steinig. Er ist deshalb steinig, weil Sie von der Regierungskoalition in dieser Frage ständig eine Doppelstrategie betreiben.
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In Ihren Anträgen und gerade in Ihrer Rede, Herr
Kollege Grill, haben Sie sicher die richtigen Ansätze
und auch die richtige Analyse. Aber in der Umsetzung hapert es bei der Regierung ganz einfach.
Wir wissen - auch das ist Gemeinsamkeit -, daß die Ost- und Nordsee immer noch durch zu hohe Schad- und Nährstoffeinleitungen belastet ist. Wir wissen auch, daß funktionierende Kanalsysteme den gesetzlichen Anforderungen für die vorgeschriebene Abwasserbehandlung noch nicht flächendeckend genügen. Das gilt nicht nur für die besondere Situation in den neuen Bundesländern. Nein, auch in den alten Ländern sind diese Anforderungen einfach nicht konsequent genug umgesetzt worden.
Es geht schließlich um Riesensummen. Der geschätzte Investitionsbedarf bis zum Jahre 2005 für Kläranlagen und Kanalsysteme beträgt - das ist niedrig geschätzt - 157 Milliarden DM; eine Zahl, die man noch lange im Ohr haben wird. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir schon beim zweiten Thema, nämlich der vom Bürger gefürchteten Gebührenschraube. Auch hier sind nicht nur die neuen, sondern auch die alten Bundesländer betroffen.
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Der Deutsche Städtetag prognostiziert, daß die Kosten für Abwasser- und Abfallentsorgung in den nächsten Jahren weiter erheblich ansteigen werden. Davor haben die Menschen Angst. Es muß unsere gemeinsame Kraftanstrengung und unseren gesamten Grips wert sein, alle Möglichkeiten zur Kostendämpfung zu diskutieren und ein explosionsartiges Ansteigen der Gebühren zu verhindern.
Wie realistisch diese Angst beim Bürger ist, will ich an drei Beispielen klarmachen. Ich bekam einen Brief aus Clausnitz in Sachsen, in dem steht, im Zusammenhang mit Wasser und Abwasser reiche das Geld vorne und hinten nicht.
Bei uns muß man in den Granit 5 Meter tief bohren, das kostet was. Die westdeutschen Planer haben oft für zu viele Einwohner geplant. Dabei haben sie gut verdient, und nun sitzen die Kommunen auf ihren Schulden. Es wird noch viele Jahre dauern, bis überall Abwasser geklärt wird und vernünftiges Trinkwasser fließt.
Ein weiterer Brief aufgrund der Großen Anfrage der SPD und der Antwort der Bundesregierung war:
Wie hoch sind eigentlich die Abwassergebühren in westdeutschen und ostdeutschen Städten, Gemeinden und Kreisen? Die Bundesregierung beziffert die Höhe der Abwassergebühren in den neuen Bundesländern auf 1 DM bis 13 DM pro Kubikmeter.
Die Petentin beruft sich dabei auf die Angaben der Länder.
Da ich davon ausgehe, schreibt sie weiter,
daß Sie an einer wahrheitsgetreuen Antwort interessiert sind, möchte ich Sie über folgenden Sachverhalt in Kenntnis setzen: Im Land Brandenburg stehen dem Bürger Abwasserkosten ins Haus, die die oben genannte Summe bei weitern
übersteigen. Spitzenreiter ist eine kleine Gemeinde bei Potsdam, die mit einem Preis von über 30 DM pro Kubikmeter rechnen muß.
Nicht berücksichtigt hat man außerdem, daß die Abwasserzweckverbände horrende monatliche Grundgebühren einkalkulieren, so z. B. 40 DM, die an die Kläranlage in Gremmen im Landkreis Oberhavel angeschlossen werden soll. Woher diese Summen? In der Aufbruchstimmung nach der deutsch-deutschen Vereinigung wollte man alles richtig machen. Das abwassertechnische Entwicklungsland wurde erschlossen von Firmen, die vorwiegend aus den alten Bundesländern stammen. Da die Honorare der Projektplaner und Konstrukteure zu der Projektsumme im direkten Verhältnis stehen, ist natürlich dementsprechend projektiert und konstruiert worden. Der Umweltminister des Landes Brandenburg, Herr Plazek, hat daran entscheidenden Anteil. Folge dieser Fehlplanung ist, daß sich verzweifelte Bürger organisieren und - als letzten Ausweg - eine Klage gegen die öffentliche Hand planen.
Das, was die Petentin schreibt, ist kein Einzelfall. Das ist in vielen neuen Bundesländern der Fall.
Ein letztes Beispiel möchte ich Ihnen ebenfalls nicht vorenthalten. Es stammt aus meinem Wahlkreis, der in dem Flächenland Bayern liegt. In Bayern hat man bei Kläranlagen verständlicherweise und richtigerweise zuerst die Städte erschlossen. Die Erschließung auf dem flachen Land wurde zurückgestellt und ist erst jetzt an der Reihe. Die Kläranlagen wurden für die Kapazität eines relativ großen Raumes ausgelegt. Nun müssen diese kleinen Gemeinden an die Kläranlagen angeschlossen werden, weil diese Kläranlagen sonst nicht ausgelastet sind und sich nicht rentieren. Dabei kommt es auch in Bayern zu Anschlußbeträgen von 27 000 DM. Das können die Bürger nicht mehr bezahlen. Es ist mehr als verständlich, daß sie sich wehren und in einer Bürgerinitiative zusammenschließen.
Wir alle miteinander wissen, daß die Ursachen für die unterschiedlich hohen, sozial oftmals nicht verträglichen Gebühren sehr verschieden sind. Wir als Politiker des Bundes müssen gemeinsam mit den Politikern der Länder und Kommunen geeignete Maßnahmen überlegen, wie sich eine umweltverträgliche Abwasserbehandlung zu tragbaren Kosten erreichen läßt.
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Dabei kann es nicht darum gehen, daß die Anforderungen für den Umweltschutz an die kommunale Abwasserreinigung heruntergeschraubt werden. Auch die Diskussion um die dritte Reinigungsstufe und den damit verbundenen - ach so hohen - Kosten ist meines Erachtens ein Scheinargument. Wir wissen inzwischen, daß die dritte Reinigungsstufe lediglich zu einer geringfügigen durchschnittlichen Erhöhung der Abwassergebühren führen wird. Diese dritte Reinigungsstufe ist also nicht die Hauptursache für die zu hohen Abwassergebühren.
Deshalb warne ich Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, vor der pauSusanne Kastner
schalen Verschiebung der Termine über das Jahr 2002 hinaus. Dies wird bei den Kommunen nur den Effekt der Planungsunsicherheit auslösen. Sie würden ihre Maßnahmen weiter hinausschieben und in acht bis zehn Jahren mit weitaus höheren Kosten konfrontiert werden. Das kann nicht die Lösung des Problems sein.
Auch Ihre ausschließliche Weichenstellung in Richtung Privatisierung löst das Problem meines Erachtens nicht. Es sind nämlich nicht die Kommunen und die öffentlichen Zweckverbände, die alle durch die Bank erhöhte Abwassergebühren haben. Kommunen sind durchaus flexibel und intelligent genug, Modernisierungsmaßnahmen zu akzeptablen Preisen durchzuführen. Eine Privatisierung würde nur dazu führen, daß gewinnorientierte Monopolunternehmen - das zeigt uns das Beispiel Rostock sehr deutlich - auf Dauer keine niedrigen Abwassergebühren für eine umweltverträgliche Abwassersammlung und -behandlung garantieren können.
Das ist uns in der Vergangenheit bei den großen Stromunternehmen nur allzu deutlich gewesen. Viele Kommunen haben heutzutage ein modernes Management mit betriebswirtschaftlich guten Erfolgen. Wenn Sie heute die Situation in vielen Kommunen der neuen Bundesländer als Grundlage Ihrer Diskussion zur Privatisierung machen, dann ist das schlichtweg falsch.
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In diesem Zusammenhang muß ich noch ein paar Sätze zu der Diskussion der Mehrwertsteuer sagen. Die Regierungskoalition begibt sich mit ihrer Forderung nach einer Mehrwertsteuer, die sie inzwischen wieder etwas zurückgenommen hat, auf die kommunale Abwasserentsorgung auf ein gefährliches Gebiet.
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Wollen Sie wirklich mit einer neuen Steuer private Monopolunternehmen begünstigen, die bei vorbildlichen kommunalen Abwasserunternehmen zu Gebührensteigerungen von etwa 10 Prozent führen würde?
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Wollen die Koalitionspartner wirklich ihren Ruf als Steuererhöhungspartei endgültig zementieren?
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Die Einführung einer Mehrwertsteuer in Höhe von 7 Prozent, verbunden mit einem Vorsteuerabzug von 15 Prozent, würde den Kommunen, die noch hohe Investitionen tätigen müssen, sicher helfen. Aber wer sagt uns denn - das hat uns die vergangene Diskussion gerade im Finanzministerium gezeigt -, daß es bei den 7 Prozent bleibt? Wie sieht es eigentlich für die Kommunen aus, wenn die Abfallentsorgung und andere kommunale Leistungen zusätzlich besteuert werden?
Den Kommunen muß geholfen werden, aber doch nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, mit einer neuen Steuer!
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Was ist also zu tun? Nehmen Sie doch zuerst einmal den Bürger in seinem Willen zur Eigenverantwortlichkeit ernst. Er ist bereit, zur Verminderung der Abwasserbelastung seinen Teil beizutragen. Wir alle wissen, daß es verschiedene Lösungen für Städte und Gemeinden geben muß. So gibt es im ländlichen Raum sicher eine Chance, Ersparnisse durch dezentrale Wasserbehandlung und Regenwasserbewirtschaftung zu erreichen.
Frau Kollegin Kastner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin, Sie sagen, die kommunalen Dienstleistungen sollen nicht mit Mehrwertsteuer belastet werden, aber die privaten. Sie beschweren sich gleichzeitig, daß die privaten angeblich zu teuer sind. Sind Sie nicht der Meinung, daß wir wenigstens gerechte, faire, gleiche Bedingungen schaffen müssen, wenn gleiche Dienstleistungen zugunsten der Bürger organisiert werden sollen?
Erstens habe ich mich nicht darüber beschwert, daß die kommunalen Abwasserentsorgungen generell zu teuer seien. Das ist schlichtweg nicht wahr.
Zum zweiten ist es so - ich hoffe, Sie haben mir da richtig zugehört -, daß wir gegen eine siebenprozentige Mehrwertsteuererhöhung und den Vorsteuerabzug von 15 Prozent nichts einzuwenden haben.
Nur, die Diskussion des Herrn Waigel war ganz anders:
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- Das habe ich in meiner Rede ja gesagt. - Zuerst wurde gesagt - Herr Faltlhauser war das damals noch -, es solle eine siebenprozentige Steuer auf die kommunalen Entsorgungsunternehmen geben. Plötzlich hat der Herr Waigel, weil er gewußt hat, daß sich das in seinem Bundeshaushalt nicht rechnet und daß es noch ein Loch im Bundeshaushalt geben könnte, gesagt: Wir brauchen 15 Prozent. Da muß ich Ihnen sagen: Wenn diese 15 Prozent kommen, ist das eine eindeutige Benachteiligung der Kommune. Das wollen wir nicht.
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Zurück: Wir sind der Meinung, richtig sind dezentrale Wasserbehandlung und vor Ort geplante Lösungen. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, bietet
doch die Chance, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb ist eine wichtige Forderung, dies finanziell abzusichern und durch finanzielle Anreize zu fördern.
Dann haben wir da noch die Diskussion - auch von Ihnen, Herr Grill, jetzt - um die Anforderungen. Die gesetzlichen Anforderungen - da gebe ich Ihnen recht -, die von der Abwassertechnischen Vereinigung mit Normen und technischen Regeln für Kanäle und Kläranlagen festgelegt worden sind, führen einfach zu überhöhten Gebühren, und diese müssen überarbeitet werden. Warum um Gottes willen braucht jede kleine Gemeinde ein Regenrückhaltebecken für 2 Millionen DM, wenn man sich auf der anderen Seite so etwas durch weitere Entsiegelung und Regenwassernutzung auch auf privatem Gelände ersparen könnte?
Also sollte doch der Gesetzgeber bitte überdenken, wie die privatwirtschaftlich vereinbarten Regelwerke in Richtung Kostenersparnis, aber bei Aufrechterhaltung des Umweltstandards sichergestellt werden können.
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Auch muß es unseres Erachtens nach unbedingt gesetzliche Verpflichtungen und Anreize zur Entsiegelung von Flächen geben. Da muß ich Ihnen auch sagen: Die Abwassersatzungen der Kommunen werden für die Regenwassernutzung noch verschwindend wenig benutzt.
Wir Sozialdemokraten haben unsere Vorschläge dazu eingebracht. Wir sind der Meinung, daß kommunale Betriebe, die nach wirtschaftlich vernünftigen Kriterien arbeiten, auch betriebswirtschaftlich vernünftige Preise garantieren können.
Uns ist auch bekannt, daß viele Kommunen ihre Zeitplanung für die Einführung der dritten Reinigungsstufe nicht einhalten können. Das heißt, daß die von der EU-Kommission festgesetzten Termine nicht in jedem Fall eingehalten werden können.
Aber ist die von Ihnen gewollte Verschiebung des Termins richtig? Wir Sozialdemokraten lehnen eine generelle Terminverschiebung ab. Wir wollen eine Meldepflicht für diejenigen Kommunen, die ihre Termine nicht einhalten können, zusammen mit einem Vorschlag, in welchem Ablauf die dritte Reinigungsstufe dann zustande kommen soll. Ein neuer Terminvorschlag in dieser Meldepflicht der EU genügt uns auch.
Die Einführung neuer technischer Standards im Wasserhaushaltsgesetz sollte keine zusätzlichen Belastungen für die Kommunen enthalten. Wir wollen die Schadstoffbelastung der Abwässer bereits an der Quelle verhindern, damit die Klärschlammbelastung nicht zu einem neuen finanziellen Fiasko für die Kommunen führt.
Ich habe bereits von dem Verantwortungsgefühl und der Initiative unserer Bürger gesprochen. Diese zu unterstützen und ihnen den Rücken zu stärken ist unseres Erachtens vor allem im Abwasserbereich unumgänglich. Immer mehr Menschen informieren sich schon über die kostengünstigere Lösung auch bei den Abwassergebühren. Deshalb bin ich froh, daß es in Bayern zu einem Bürgerentscheid gekommen ist und daß er durchgekommen ist.
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Behörden sind vielen politischen und hierarchischen Zwängen unterworfen. Nun müssen sie flexibel reagieren wie im Bundesland Bayern, und das ist meines Erachtens eine ganz tolle Sache.
Vielleicht hilft es ja auch der Umweltministerin angesichts ihrer offensichtlichen Schwierigkeiten, ihren Kabinettskollegen neue umweltpolitische Ideen und Vorgaben zu vermitteln. Bislang jedenfalls, Frau Merkel - das muß ich Ihnen jetzt auch sagen -, gibt es im Naturschutzgesetz - da geht es nun ein bißchen vorwärts -, im Bodenschutzgesetz und im Wasserhaushaltsgesetz von Ihrer Seite nichts weiter als Hurra-Ankündigungen. Jedes Mal springen Sie als Umweltlöwin los und landen dann, natürlich dank der Nicht-Mithilfe Ihrer Kabinettskollegen, als Bettvorleger.
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- Aber es ist wahr, Herr Klinkert, es ist wirklich wahr. So kann man doch einfach nicht weiterwursteln.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir wollen Ihnen mit dem Antrag auf ökologischen Gewässerschutz helfen, den Sie im Umweltausschuß mit unterstützt haben. Unsere Bürgerinnen und Bürger reagieren sensibel auf Fragen der Ökologie. Sie sind bereit, für Umweltschutzmaßnahmen zu bezahlen, aber nicht für unsinnige Umweltschutzmaßnahmen. Das sollten Sie sich merken.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hauser.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schutz der Gewässer als natürliche Lebensräume und die Sicherung der Trinkwasserversorgung aus Oberflächengewässern und Grundwasser haben hohe Priorität; darüber, Frau Kollegin Kastner, sind wir uns sicherlich alle einig. Gleichermaßen ist die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Infrastruktur eine wichtige Voraussetzung für die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland; hierzu gehört die Versorgung mit Wasser ebenso wie die ordnungsgemäße Entsorgung. Die Kehrseite der Medaille sind die mit der Beseitigung des Abwassers verbundenen Kosten; sie müssen letztendlich über die Gebühren oder über die öffentlichen Haushalte aus Steuermitteln aufgebracht werden.
Der vorliegende Antrag greift eine Reihe von Forderungen auf, die in dem Bericht der Umweltministerkonferenz behandelt werden und die sicherlich zielführend im Hinblick auf die angestrebte DämpParl. Staatssekretär Hansgeorg Hauser
fung des Kosten- und Gebührenanstiegs sind, ohne den Schutz der Gewässer zu gefährden.
Ich möchte im einzelnen nur auf einige in dem Antrag angesprochene finanzpolitische Aspekte eingehen. Die gegenwärtigen finanzpolitischen Rahmenbedingungen erfordern entschiedene Kraftanstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen, um die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte weiter voranzubringen und die Abgabenbelastungen der Bürger zu begrenzen.
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Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel hat einen nationalen Stabilitätspakt vorgeschlagen, mit dem die auf allen Ebenen notwendigen Einsparanstrengungen gebündelt werden sollen. Alle Haushaltsebenen sind aufgefordert, intensiver nach ungenutzten Wirtschaftlichkeitspotentialen zu suchen und sich auch gegenüber innovativen Ansätzen nicht zu verschließen.
Viele Kommunen gehen gegenwärtig im Haushaltsbereich zu kaufmännisch üblichen Methoden über. In diesem Zusammenhang ist auch ein Trend zum Eigenbetrieb feststellbar. Mit der Ausgliederung des Abwasserbereichs aus der Ämterorganisation der Kommunalverwaltung in einen nach modernen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführten Eigenbetrieb wird vom kameralistischen Rechnungssystem auf das kaufmännische Rechnungswesen umgestellt. Hierdurch können Einsparpotentiale realisiert und die Wirtschaftlichkeit optimiert werden. Weiterhin bedeutet Selbständigkeit kürzere Entscheidungswege und mehr Verantwortung. Beides kann die Mitarbeiter zusätzlich motivieren und die betriebliche Steuerung verbessern.
Es muß jedoch im Auge behalten werden, daß mit zunehmender Ausgliederung rentabler Bereiche aus dem Kommunalhaushalt dessen Steuerungsmöglichkeit sinkt und Vorteile einer zentralen Bewirtschaftung, zum Beispiel der Finanzmittel, vergeben werden. Die Entscheidung über den organisatorischen Rahmen sollte daher dem konkreten Einzelfall vorbehalten bleiben. Die verbreitete Implementierung neuer Steuerungsmodelle in der Kommunalverwaltung zeigt, daß auch der Regiebetrieb um betriebswirtschaftliche Elemente angereichert werden kann.
Als weiteren Ansatzpunkt, übermäßigen Gebührenbelastungen entgegenzuwirken, nennt der Antrag die Vorschriften zur Gebührenkalkulation, die von den Ländern in den Kommunalabgabengesetzen fixiert werden. Diese Gesetze bieten den Kommunen teilweise erhebliche Spielräume bei der Festsetzung von Abwassergebühren. Bei der Ermittlung zum Beispiel von Abschreibungssätzen, Zinssätzen oder auf die Allgemeinheit entfallenden Kostenanteilen für die Entwässerung öffentlicher Verkehrsflächen sind die Kommunen daher zu besonderer Sorgfalt und Berücksichtigung der Belastungssituation der Bevölkerung aufgefordert.
Ein bloßes Wegdefinieren begründeter Kosten ist jedoch nicht zielführend, zumal die Kosten lediglich den für die Abwasserbeseitigung erforderlichen überwiegend investiven Aufwand widerspiegeln. Es gilt, diesen Aufwand auf das notwendige Maß zu begrenzen. Die Forderung, bei der Erarbeitung neuer Vorgaben die Kosten-Nutzen-Relation noch stärker als bisher in die politische Entscheidungsfindung einzubeziehen, kann daher nur unterstützt werden. Diesem Ziel dient auch eine Zeitschiene für die Umsetzung der EG-Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, die auf die finanziellen Möglichkeiten der Kommunen, insbesondere in den neuen Ländern, Rücksicht nimmt.
Die Forderung nach steuerrechtlicher Gleichstellung von privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern auf dem Entsorgungssektor unterstütze ich als Vertreter der Bundesregierung und des für Steuerfragen innerhalb der Bundesregierung federführenden Ressorts. Wir erwarten von dieser Gleichstellung eine Aktivierung des Wettbewerbs. Kommunale Entsorger müssen sich in stärkerem Maße als bisher dem Wirtschaftlichkeitsvergleich mit privaten Anbietern stellen. Hierdurch werden Rationalisierungspotentiale aufgetan, die dem Gebührenzahler zugute kommen.
Sie wissen alle, daß der von Bundesminister Waigel im Frühjahr des vergangenen Jahres unternommene Vorstoß, die Forderung. nach steuerlicher Gleichstellung bereits im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 umzusetzen, am Widerstand der Länder und Kommunen gescheitert ist. Das steuerliche Gesamtkonzept wurde so ausgestaltet, daß im Interesse der Gebührenneutralität insgesamt auf Steuermehreinnahmen verzichtet wurde. Das schließt jedoch nicht aus, daß es im Einzelfall - je nach Investitionsverhalten der Kommune - zu Gebührenerhöhungen kommen könnte.
Frau Kastner, Sie sagen, in der Zukunft werden wir 157 Milliarden DM Investitionen haben. Das bedeutet, wenn die Vorsteuer abgezogen werden kann, eine Entlastung in einer Größenordnung von 22 bis 23 Milliarden DM.
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- Im Abwasserbereich, natürlich, davon rede ich ja.
Das Hinausschieben der Umsetzung und das Zuwarten auf die Entscheidung in einem beim Bundesfinanzhof anhängigen Musterverfahren hat Verunsicherung und Attentismus hervorgerufen. Wir sollten hier gemeinsam Abhilfe schaffen und diese Gleichstellung herbeiführen.
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Herr Kollege Dr. Jürgen Rochlitz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deregulierung als Vereinfachung von Umweltverordnungen und -gesetzen ist inzwischen zu einem angeblichen Zaubermittel der Koalition geworden, mit dem die Schwächen des Wirtschaftsstandorts Deutschland kuriert werden sollen. Diese Schlankheitskur für die Umweltpolitik steht unter dem Motto „Umweltschutz
ja, bloß kosten soll er nichts". Überhastet und ungeprüft werden derzeit Vorschläge über Vorschläge vorgelegt, die letztlich auch in ihren verästelten Auswirkungen den Abbau von Umweltstandards bedeuten. Dies ist ein Rückfall in die Zeiten, in denen es erst zu einem Unfall wie bei Sandoz in Basel kommen mußte, damit sich etwas im Gewässerschutz bewegte.
Dabei ist nirgends so deutlich geworden, wie gerade beim Gewässerschutz, Herr Grill, daß Umweltschutz nicht zum Nulltarif zu haben ist, ja, daß er mit erheblichen Kosten verbunden ist, die sich auch in teils saftigen Gebühren niedergeschlagen haben.
Nirgendwo sonst wurde so deutlich wie bei der Abwasser- und Abfallbehandlung gezeigt, daß die nachgeschalteten End-of-the-pipe-Technologien mit immer komplexeren Filtersystemen und Klärwerken die Tendenz zu immer höheren Kosten aufweisen.
Nirgendwo sonst, meine Damen und Herren, war so dringender Bedarf an Reinigungsleistungen nötig wie beim Gewässerschutz - angesichts der Tonnen von toten Fischen in den deutschen Flüssen der 60er und 70er Jahre, angesichts des Robbensterbens in den 80er Jahren und angesichts der anhaltend großen Zahl von kranken und mißgestalteten Fischen in der Nord- und Ostsee auch heute noch. Diese Fakten sollten diejenigen unter uns nicht vergessen, die heute nach Kostensenkungen rufen.
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Vergessen werden darf auch nicht, daß - bei keinem anderen Umweltmedium geschieht das mit solch dreister Selbstverständlichkeit - gutes und sauberes Wasser nach seiner Nutzung verschmutzt, erwärmt und versalzt einfach wieder in die Gewässer zurückgeleitet wird. Denn es ist ja nicht so, daß die Sanierungen so weit sind, daß diese unverschämte Arglosigkeit gegenüber der Umwelt schon abgeschlossen wäre. Im Gegenteil, von flächendeckendem, konsequentem Gewässerschutz sind wir noch weit entfernt.
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Schon in der vorigen Legislaturperiode wurde der Gewässerschutz praktisch nicht mehr vorangetrieben. Diese Stagnation ist in Rückschritt umgeschlagen, als mit der jüngsten Novelle des Abwasserabgabengesetzes der Lenkungsgedanke dieses ersten Ökosteuergesetzes der Bundesrepublik aufgegeben wurde,
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wie auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten 1994 monieren mußte.
Der heutige Antrag der Koalition hat in diesem Kontext des umweltpolitischen Rollback eine völlig neue Qualität. Er ist ein Anschlag auf die Struktur und Konsequenz des Gewässerschutzes.
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Nach der Abfallentsorgung will die Koalition dem Deutschen Bundestag nun die Privatisierung der Abwasserreinigung schmackhaft machen. Das damit verbundene Versprechen von Gebührensenkung und Transparenz sollte den Bürgern jedoch bekannt vorkommen. Immerhin zeitigte die entsprechende Privatisierung der kommunalen Müllentsorgung Gebührensteigerungen in Höhe von mehreren hundert Prozent. Von ihrer Transparenz sind wir heute weiter entfernt denn je.
Auch bei der Abwasserreinigung strebt die Koalition nun eine Monopolisierung des Marktes an. Weitere Gebührenanhebungen und weniger Transparenz durch privatunternehmerische Verschwiegenheit werden die Folge sein. Die Monopole, meine Damen und Herren, die sich heute schon einträglich den Energie- und Abfallmarkt aufgeteilt haben, können sich bereits die Hände reiben angesichts des neuen Marktsegments, das ihnen zur vollständigen Beherrschung der Energie- und Entsorgungsunternehmen gerade noch gefehlt hat.
Hinzu kommt: Statt dem Leitbild eines dauerhaft umweltgerechten Gewässerschutzes zu folgen, regiert in der Koalition ein falsches Leitbild vom Wirtschaftsstandort Deutschland, den es in der Tat zu sichern gilt.
Aber Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland kann doch nicht heißen, sich von der Ingenieur- und Anlagenbauleistung zu verabschieden, die zum technischen Standard des heutigen Gewässerschutzes geführt hat. Dieser Standard kann sich jedenfalls als „made in Germany" international sehen lassen, auch wenn wir, Bündnis 90/Die Grünen, und auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen noch etliche Zusatzwünsche haben.
Wie die Koalition schlanken Gewässerschutz betreiben möchte, das höhlt den technischen Standard aus, macht aus der harten Währung „made in Germany" eine weiche, wohlfeile Münze.
Unser Ziel muß jedoch ein anderes sein, gerade dann, wenn wir vor der Zeitenwende 2000 die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Umweltpolitik diskutieren, die auf kommende Generationen Rücksicht nimmt. Wer die Kosten des Gewässerschutzes nicht mehr der heutigen Verursachergeneration aufbürden möchte, belastet die nächste mit noch höheren Kosten, aber, schlimmer noch, auch mit noch höheren Gewässerverunreinigungen.
Um nicht mißverstanden zu werden: Auch wir, Bündnis 90/Die Grünen, möchten alle diejenigen von unnötigen Kosten entlasten, die nur ihr Dusch- und Badewasser an die Kläranlage ableiten. Doch bei all denen, die umweltbelastende, schwer abbaubare oder den Nährstoffhaushalt störende Stoffe einleiten, dürfen wir kein Pardon kennen.
Deswegen beginnt eine verursacher- und damit auch kostengerechte Gebührenerhebung bei der präzisen Erfassung der Einleitungen in die Kanalisation. An einer Verminderung der Meßdichte und -häufigkeit darf dann gerade nicht gespart werden. Diejenigen, die bei der Abwasserreinigung den umfangreichsten Mitteleinsatz erforderlich machen,
beispielsweise bei den Sanierungen des gewerblich genutzten korrodierten Kanalnetzes, müssen auf der Kostenseite am höchsten belastet werden. Dies gilt vor allem für die indirekt einleitenden Betriebe.
Erhebliche Kosten können auch im ländlichen Raum eingespart werden, wenn das von der Regierung sonst so gehätschelte Zentralitätsprinzip zugunsten kleiner, dezentraler Anlagen mit kurzen Kanallängen aufgegeben würde.
Ich denke, es wird Zeit, sich über das aus dem Energiemarkt kommende Effizienzmodell des least cost planning endlich auch im Abwassersektor Gedanken zu machen.
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Wenn eine Abwasserreinigung im Betrieb selbst oder eine Stillegung von landwirtschaftlichen Flächen ein deutliches Mehr an Gewässerschutz erbringt und für die Kommunen kostengünstiger zu haben ist, sollten solche integrierten Ansätze Vorrang vor einem weiteren technischen Anlagenausbau haben.
Danke schön.
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Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Anträge, die wir heute diskutieren, vor allen Dingen der Antrag der Koalition, sind Ansätze, wie man durch ein Zusammenwirken aller politischer Ebenen, nämlich Bund, Länder und Kommunen, bei den Abwassergebühren erreichen kann, daß die Bürgerinnen und Bürger bei Aufrechterhaltung der Umweltschutzstandards vor unnötig hohen Kosten geschützt werden können. Das ist eigentlich der Punkt, den wir hier diskutieren.
Herr Kollege Rochlitz, wenn Sie sagen, man habe die Gewässerschutzpolitik aufgegeben, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Ich weiß nicht, wovon Sie eigentlich reden und in welchem Land Sie sich gedanklich aufhalten.
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Man muß doch feststellen, daß die Gewässerschutzpolitik dieser Koalition erfolgreich war. Die Sanierung des Rheins mit Schadstoffreduzierungen zwischen 50 und 99 Prozent und die verbesserte Qualität der Elbe sind nur zwei Beispiele dafür. Es wundert überhaupt nicht, daß Sie hier von Problemen aus den 60er und 70er Jahren erzählen müssen. Es fragt sich, was derjenige, der 20 Jahre zurückgreifen muß, in der aktuellen Politik zu suchen hat.
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Man muß schon sagen: Wir haben für den Erfolg im Gewässerschutz viel investiert. Das wollte der Deutsche Bundestag; das haben wir hier mehrfach, teilweise auch gemeinsam beschlossen. Es ist klar, daß mit höheren Umweltschutzstandards höhere
Gebühren verbunden sind. Ich bin aber der Meinung: Es muß alles getan werden, die Gebühren, wo sie erhoben werden, niedrig zu halten.
Das ist genau der Punkt, an dem Sie sich einer Diskussion und einer konkreten Überlegung verschließen, und zwar aus ideologischen Gründen. Sie wollen nicht anerkennen, daß es Modelle gibt, die dazu beitragen können, da sie nicht in Ihre ideologische Begrenztheit passen.
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Insbesondere in neuen Ländern und in den ländlichen Gebieten der alten Bundesländer könnten die Gebühren deutlich niedriger sein. Viele Kommunen zeigen, daß es sehr wohl möglich ist, die Bau- und Betriebskosten durch Privatisierung, flexiblere, privatrechtliche Organisationsformen und durch neue Konzepte zu senken und trotzdem den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden, ohne die Gebührenzahler übermäßig zu belasten.
Diese Möglichkeiten werden aber bei weitem nicht ausgeschöpft. Deswegen gibt es den Antrag der Koalition „Gewässer schützen - Kosten senken". Mit diesem Antrag wollen wir darauf hinwirken, daß diese Möglichkeiten verstärkt aufgegriffen werden.
Die F.D.P. hat ein Konzept zur Kostensenkung bei den Abwassergebühren entwickelt. Auch wenn man sagen muß, daß es kein Patentrezept für alle Fälle gibt, kann man doch grundsätzlich einige Punkte festhalten.
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß insbesondere in den neuen Ländern, dort, wo neue Anlagen errichtet oder große bauliche Veränderungen vorgenommen werden müssen, Spielraum für neue kostensparende Konzepte besteht. Dort muß marktwirtschaftliches Know-how und Kapital durch private Betreibermodelle eingesetzt werden.
Es ist sinnvoll, daß diese Ausschreibungen mit einem Ideenwettbewerb über kostensparende Verfahren verbunden werden. Das ist ein Ansatz, für den wir viele Beispiele haben, die beweisen, daß dies zu unendlichen Chancen für Kostenreduzierungen führen kann. Ich finde es unbegreiflich, wie die SPD auch diesen Weg wieder diffamieren konnte. Anstatt auf Preis- und Ideenwettbewerb zu setzen, wollen Sie Schutzmauern um die Rathäuser bauen und die Zeche letztendlich die Gebührenzahler zahlen lassen.
Der zweite wichtige Punkt ist: Die hoheitlichen Entsorgungsbetriebe müssen in eine andere, modernere Organisationsform überführt werden, zum Beispiel als GmbH oder auch als AG, um rationelleres Arbeiten nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zu gewährleisten. Damit kann deren Arbeitsweise erheblich gestrafft werden. Wenn man weiß, daß Baukostensteigerungen von jährlich 5 Prozent anstehen, dann liegt hier ein großes Kostensenkungspotential vor. Die Abtrennung der Abwassergebühren vom allgemeinen Haushalt hat auch den Vorteil, daß die Abschreibungserträge für neue Investitionen
im Bereich der Abwasserwirtschaft zur Verfügung stehen. Das ist in vielen Fällen bisher leider nicht der Fall gewesen. Vielfach sind bisher die Mittel in andere Projekte geflossen, beispielsweise in Schulen oder Kindergärten, und konnten nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck zugeführt werden. Dies ist einer der Punkte, der für den Unmut in der Bevölkerung mitverantwortlich ist - zu Recht, wie ich finde -, denn der Bürger ist nicht bereit, unter dem Deckmäntelchen der Abwassergebühren Haushaltslöcher in anderen Bereichen zu stopfen. Deswegen ist es völlig richtig, das abzutrennen.
Zum dritten Punkt - damit komme ich zu dem, was die Frau Kollegin Kastner auch schon angesprochen hat und bei dem auch ein Dissens vorliegt, weil Sie offensichtlich nicht verstehen, welche Chancen damit verbunden sind -: Wir von der Koalition sind der Meinung, daß private und öffentlich-rechtliche Unternehmensformen unter steuerrechtlichen Gesichtspunkten gleichbehandelt werden müssen. Ich finde es schlicht ein Unding, daß die unwirtschaftlicheren Hoheitsbetriebe auch noch von der Steuerpflicht befreit sind. Wären auch sie steuerpflichtig, so würden sicherlich viele Kommunen den Schritt zur wirtschaftlichen Eigengesellschaft machen.
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Frau Kollegin Kastner, Sie haben gesagt, Sie seien hier gegen die 15prozentige Mehrwertsteuer. Aber Sie waren auch schon gegen die 7prozentige. Sie haben nicht begriffen, daß durch einen 15prozentigen Vorsteuerabzug erhebliche Summen bei den Kommunen frei geworden wären.
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- Das habe ich Ihnen doch gerade gesagt, hören Sie doch zu! Sie waren auch schon bei 7 Prozent dagegen - ich kann mich an das Geschrei der Frau Matthäus-Maier im Sommer noch gut erinnern -, weil Sie nicht begriffen haben, was 7 Prozent Mehrwertsteuer bei 15 Prozent Vorsteuerabzug bedeuten. Das bedeutet nämlich ein unheimliches Potential an Geld für die Kommunen.
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Deswegen haben Sie mit Ihrer Ablehnung in den neuen Ländern einen Investitionsstau und eine Verunsicherung ausgelöst. Das hat sich heute hier in Ihrem Debattenbeitrag fortgesetzt.
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Viertens. Gerade im ländlichen Raum müssen überzogene Vorstellungen kritisch beleuchtet, und es müssen dezentrale Entsorgungskonzepte entwikkelt werden. Sinnvoller als lange, teure Kanalnetze über Berg und Tal zu zentralen Kläranlagen sind in solchen Lagen örtliche Kleinkläranlagen, Klärteiche und auch andere Lösungen. Regenwasser sollte in unbelasteten Regionen versickert oder direkt eingeleitet werden, so daß Kanalnetze und Kläranlagen wesentlich kleiner dimensioniert werden können.
Hier sind die Länder und Kommunen in der Verantwortung, und ich freue mich, daß jetzt in einigen Ländern Konsequenzen gezogen und angepaßte Konzepte entwickelt werden.
Der fünfte Punkt sind die technischen Regelwerke wie zum Beispiel die der ATV. Hier ist es ebenfalls dringend erforderlich, überzogene technische Anforderungen zu korrigieren. Die Genehmigungsbehörden müssen für von den ATV-Regelungen abweichende, angepaßte und innovative Wege offener sein. Sie müssen darüber hinaus auch schneller arbeiten.
Die Gebührenentwicklung können Bund, Länder und Kommunen nur gemeinsam in den Griff bekommen. Deswegen müssen auch die Gebührenkalkulationen überprüft werden. Bei der Abschreibung muß grundsätzlich der Anschaffungspreis und nicht der erheblich höhere Wiederbeschaffungswert zugrunde gelegt werden. Einige Länder schreiben dies bereits vor. Daraus ergäbe sich die Möglichkeit der Gebührensenkung um im Mittel etwa 1 DM. Vor allem in den Kommunen muß man heraus aus dem alten Trott. Ich denke, daß zum Glück schon vieles in Bewegung geraten ist. Die F.D.P. wird weiter darauf dringen, die Gebühren mit neuen Konzepten bei Erhaltung der Umweltstandards in den Griff zu bekommen.
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Frau Kollegin Eva Bulling-Schröter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Gewässer schützen - Kosten senken" - ein Motto, das man angesichts der Gebühren- und Beitragsexplosion vor allem in den neuen Bundesländern nur begrüßen kann. Das Zauberwort heißt allerdings im wesentlichen: Kostensenkung durch Privatisierung. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in den alten Bundesländern konnten davon in den letzten 15 Jahren allerdings kaum überzeugt werden.
Seit 1990 versucht die Koalition nun, in den neuen Bundesländern private Betreiber-, Kooperations- und Fondsmondelle zu puschen. Mit diesem Ostwind sollen die Türen zur Privatisierung sämtlicher hoheitlicher kommunaler Betriebe aufgestoßen werden.
Private Organisationsformen können unter bestimmten Bedingungen eine Möglichkeit sein, die Abwasserentsorgung kostengünstig zu organisieren. Einen Automatismus aber, wie ihn die Koalition suggeriert, nach dem Privatisierung zwangsläufig zu mehr Wettbewerb, niedrigeren Gebühren und sogar höheren Umweltstandards führt, ist - gelinde gesagt - absurd.
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Von den angeblichen Steuer- und Finanzierungsvorteilen, mit denen jahrelang für private Betreibermodelle geworben wurde, reden heute selbst die Befürworter nicht mehr. Auch die von Frau Homburger in der Vergangenheit gepriesenen Beispiele priEva Bulling-Schröter
vater Organisationsmodelle sind wohl mit Zurückhaltung zu genießen.
Im hochgelobten thüringischen Altenburger Modell ist beispielsweise dieselbe Essener Firma am Werk, die nach Presseberichten in der brandenburgischen Märkischen Schweiz ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft am Hals hatte. Das sogenannte Kooperationsmodell - ein Wunderkind aus dem Hause eines Privatdozenten an einer Privatuniversität in Nordrhein-Westfalen - sollte zum hochangebundenen Pilotprojekt zur Einbindung Privater in die kommunale Abwasserbeseitigung werden. Es wurde ein Beispiel dafür, wie Bürgerinnen und Bürger für Mißmanagement in Millionenhöhe aufkommen müssen.
Andere private Modelle mögen im Einzelfall tatsächlich zu Kosteneinsparungen führen. Doch die sind natürlich auch in kommunaler Regie möglich. Ein Zweckverband muß sich nicht unbedingt auf das Abenteuer privater Betreibung einlassen. Externe Planoptimierung und Kontrolle nach dem VierAugen-Prinzip, die ausdrückliche Einforderung von Nebenangeboten und ein umfassendes Projektmanagement drücken die Investitionskosten. Kaufmännische Rechnungsführung, gegebenenfalls ein Wechsel der Rechtsform vom Regiebetrieb zum Eigenbetrieb oder zur Eigengesellschaft, können die Spielräume zur Kostensenkung erweitern.
Kosten sparen würde auch eine Novelle der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, welche konsequent an Stelle von kostentreibenden Anreizen kostensenkende festschreiben müßte.
({1})
Die Kopplung der Honorare an Bausummen führt in der Tendenz zur Planung von „goldenen Türklinken", was aus sozialen und ökologischen Gründen nicht zu verantworten ist.
Auf der Tagesordnung muß ebenfalls eine Förderung naturnaher dezentraler Varianten der Abwasserbeseitigung stehen. Gerade in den neuen Bundesländern bieten sie sich auf Grund niedriger Besiedlungsdichten im ländlichen Raum kostengünstig an.
Wie die Argumentation in der Begründung unseres Antrags darlegt, führen dagegen die von der Koalition beabsichtigten Steuerrechtsänderungen in vielen Fällen zu Gebührenerhöhungen. Diese lehnen wir ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bund und Länder haben seit 1990 die Auflösung der ehemaligen Wasserwirtschaftsbetriebe der DDR betrieben. Dies hatte Folgen, die nun vielen Bürgerinnen und Bürgern sehr teuer zu stehen kommen. Kompetenzdefizite in den Geschäftsführungen der neu entstandenen Wasser- und Abwasserzweckverbände, nicht selten auch Korruption sowie Mängel in den Fach- und Aufsichtsbehörden standen auf der Tagesordnung.
Sie ermöglichten vielerorts von Bau- und Ausrüstungsfirmen sowie von Planungsbüros aus Profitgründen betriebene Überdimensionierungen und andere technische und ökologische Fehlplanungen.
Heute stehen viele Zweckverbände bzw. Kommunen bei der Erfüllung ihrer Pflichtaufgabe vor dem finanziellen Kollaps.
Bürgerinnen und Bürger sollen für diese Politik mit bis zu 20 DM pro Kubikmeter Abwasser - das ist das Vierfache dessen, was durchschnittlich in Westdeutschland bezahlt wird - und in Extremfällen einmaligen Anschlußbeiträgen bis zu 50 000 DM die Zeche zahlen. Die Explosion der Gebühren und Beiträge ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr zuzumuten.
Die Bundestagsgruppe der PDS beantragt deshalb: Aus Mitteln des Bundes sowie der Länder und Gemeinden Ostdeutschlands muß ein gemeinsamer Solidarfonds gebildet werden, der garantiert, daß die Belastungen der privaten Haushalte in den neuen Bundesländern nicht über den entsprechenden durchschnittlichen Belastungen in den alten Bundesländern liegen.
({2})
Herr Kollege Dr. Norbert Rieder, Sie haben das Wort.
Dr. Norbert Rieder ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir gemeinsam, also Bund, Länder, Kommunen und - nicht zu vergessen - der Gebührenzahler, in den letzten 20 Jahren im Abwasser- und im Wasserbereich erreicht haben, ist beispielhaft.
({2})
Wenn mir jemand vor 20 Jahren vorausgesagt hätte, daß wir heute in unseren Oberflächengewässern die Wasserqualität haben, die wir haben, hätte ich ihn für verrückt erklärt - ich sage es ganz offen -, weil ich mir nicht hätte vorstellen können, daß wir das in dieser vergleichsweise kurzen Zeit erreichen können.
Dennoch bleiben Defizite, die wir in den nächsten Jahren verstärkt angehen müssen. Ich erinnere nur an die teilweise sanierungsbedürftigen Kanalnetze, ich erinnere an die diffusen Einträge, ich erinnere an die Altlasten am Gewässergrund oder auch an den kanalartigen Ausbau vieler Fließgewässer. Alles das sind Dinge, die wir verstärkt angehen müssen, und zwar - Frau Kastner, ich erinnere an Ihr Wort - in gemeinsamer Arbeit.
({3})
Derjenige aber, der diese Fortschritte leugnet, weiß entweder nicht, wovon er redet, oder er lügt.
({4})
Daß darüber hinaus alles das, was wir erreicht haben, nicht zum Nulltarif zu haben war und auch in Zukunft nicht zum Nulltarif zu haben sein wird, wissen wir alle, Kollege Grill ist ja sehr ausführlich auf
Dr. Norbert Rieder
diese Frage eingegangen, übrigens Frau Kastner ebenso.
Wir werden diese Thematik sehr ausführlich im nächsten Vierteljahr bei der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes debattieren müssen. Wir werden dabei auch debattieren müssen, welche Möglichkeiten wir durch moderne Modelle der Kostensenkung und auch durch andere Betreibermodelle ausschöpfen können und ausschöpfen müssen, um zu Kostensenkungen oder zumindest zur Vermeidung von Kostensteigerungen zu kommen.
Ich möchte aber heute - das ist auf Grund der Tagesordnung so vorgegeben - auf zwei Punkte etwas ausführlicher eingehen.
Das ist einmal das europäische Konzept. Wir wissen ja alle, daß wir in Deutschland im europäischen Konzert bei der Wasserfrage die erste Geige spielen. Das ist ohne Zweifel so, das ist hervorragend, aber wir alle wissen, daß die erste Geige nur dann voll zum Tragen kommen kann, wenn die restlichen Teilnehmer des Orchesters entsprechend mitspielen.
({5})
Daß das in Europa leider Gottes nicht ganz so der Fall ist, wie wir es uns alle wünschen würden, wissen wir.
({6})
Ich glaube, es ist deswegen ganz hervorragend, daß uns die Europäische Union einen Richtlinienvorschlag zur ökologischen Qualität von Gewässern vorgelegt hat.
Wir haben in den entsprechenden Ausschüssen diesen Richtlinienvorschlag ausführlich debattiert, und wir haben ihn im Prinzip für gut befunden.
Wir haben insgesamt als Parlament heute darüber zu befinden, ob wir dem Vorschlag des Umweltausschusses folgen sollen. Denn der Umweltausschuß empfiehlt uns als Parlament, und zwar, soweit ich es sehe, mit der Mehrheit aller Parteien, einen gemeinsamen Entschließungsantrag anzunehmen, der - an dieser Stelle danke ich Frau Kastner recht herzlich - auf Vorschlag von ihr zustande gekommen ist. Sie haben das hervorragend gemacht; Sie haben damit unser aller Intentionen hervorragend aufgegriffen.
({7})
Deswegen bitte ich Sie darum, diesem gemeinsamen Antrag des Umweltausschusses zuzustimmen.
Wir haben aber noch ein weiteres Problem, das Problem der Indirekteinleiter, das heißt also nicht derjenigen, die als Kläranlagenbetreiber direkt in die Vorfluter einleiten, sondern derjenigen, die ihr Abwasser der Kläranlage zur Bearbeitung übergeben. Das sind die sogenannten Indirekteinleiter. Wir wissen, daß wir in diesem Bereich noch eine ganze Menge Probleme zu lösen haben.
Wir wissen aber auch, daß wir diesen Problemen erst dann näherkommen können, wenn wir in der
Lage sind, die Indirekteinleiter meßtechnisch wirklich kostengünstig und rund um die Uhr zu erfassen. Diese Möglichkeit ist bisher noch nicht gegeben.
Deswegen sind wir der Ansicht, daß wir der Bundesregierung weiterhin den Auftrag erteilen sollten, den wir ihr bereits in der letzten Legislaturperiode gegeben haben, an der sogenannten Meßlösung zu arbeiten, also die meßtechnischen Verfahren durch entsprechende gesetzliche Regelungen so weit vorwärtszutreiben, daß wir primär bei den Direkteinleitern online, 24 Stunden, also rund um die Uhr, die Fracht und die Konzentration der Schadstoffe erfassen können. Wenn wir das bei den Direkteinleitern haben und die Meßtechnik dann so weit fortgeschritten ist, daß wir preisgünstig und sicher auch bei den Indirekteinleitern messen können, dann, so glaube ich, sollten wir in einem nächsten Schritt an die Indirekteinleiter herangehen und diese ebenfalls erfassen.
Noch aber sind wir in der Meßtechnik nicht soweit. Deswegen halte ich den Vorschlag der Grünen, die Indirekteinleiter schon jetzt gesetzlich zur Zahlung von Gebühren heranzuziehen, entweder für verfrüht, weil wir meßtechnisch noch nicht soweit sind, oder für verspätet, weil wir bereits in der letzten Legislaturperiode das Nötige in die Wege geleitet haben. Deswegen bitte ich Sie, uns zu folgen und diesen Vorschlag der Grünen in der Abstimmung abzulehnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Christoph Matschie.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ausgangspunkt für diese Debatte ist das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden: einerseits den Gewässerschutz zu verwirklichen und damit Gefahren für Umwelt und Gesundheit abzuwenden, andererseits, Preise zu bekommen, die noch sozial tragbar sind. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich hier sage, daß es in Ostdeutschland in einigen Regionen Situationen gibt, wo die Leute wieder auf der Straße sind, weil sie Gebühren und Umlagen nicht mehr finanzieren können. Deshalb ist es höchste Zeit, diese Debatte hier im Bundestag zu führen.
Wenn man sich die Anträge ansieht, stellt man fest, daß es in einer ganzen Reihe von Bereichen auch Übereinstimmungen gibt. Ich nenne beispielhaft die Veränderung technischer Normen bei den Bauten, dezentrale Konzepte, Veränderung der Honorarordnung, Organisations- und Betriebsmodelle.
Bedauerlich ist für mich, daß diese Debatte erst jetzt stattfindet, nachdem dieses Haus von der SPD auf Grund der Großen Anfrage dazu getrieben wurde, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
({0})
Bei den Punkten, die wir gemeinsam realisieren könnten, sollten wir möglichst schnell handeln. Es gibt aber auch eine Reihe von Problemen und Unehrlichkeiten im Bereich des Antrags der Koalition. Ich fange mit dem Vorschlag an, die Fristen zu verschieben. Gehen wir doch einmal einen Schritt zurück: Wer hat denn dafür gesorgt, daß diese Fristen in der Europäischen Union so gesetzt wurden? - Es war die Bundesregierung, die genau diese Fristen durchgesetzt hat.
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Kohl und Töpfer haben noch 1994 den Ländern klargemacht, daß eine Fristverschiebung in der Europäischen Union nicht möglich ist. Jetzt schreiben Sie selbst in Ihren Antrag diese Fristverschiebung. Ich möchte nachher von der Bundesregierung hören, inwieweit innerhalb der Europäischen Union diskutiert worden ist, ob sich hier überhaupt Auswege ergeben, damit man erkennen kann, ob Sie hier nur populistisch eine Forderung aufbauen, von der Sie wissen, daß sie nicht umzusetzen ist. Ich weiß, daß es gerade aus den ostdeutschen Ländern diese Forderung nach einer Fristverschiebung gibt.
Das ist nach meiner Ansicht zunächst auch eine verständliche Forderung, aber wir müssen trotzdem nachfragen: Ist es in diesem Zusammenhang auch eine Lösung? Ich habe schon darauf hingewiesen, daß es völlig unklar ist, ob wir die Fristverschiebung in der Europäischen Union bekommen, denn wir selbst sind es gewesen, die diese Fristen eingeführt haben.
Zum anderen sind diese Fristen und Grenzwerte vor dem ernsten Hintergrund der Bedrohung im Hinblick auf die Qualität unserer Gewässer entstanden, der heute noch genauso existiert. Ich glaube, wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, daß die Kommunen, die in der Lage sind, die Fristen einzuhalten, das Notwendige zum Gewässerschutz tun. Man sollte dann lieber in den Bereichen mit Ausnahmeregelungen arbeiten, wo solche Fristen nicht eingehalten werden können. Das betrifft vor allem Ostdeutschland.
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Ein bißchen heuchlerisch ist es auch, wenn jetzt in dem Antrag der Koalition steht, daß im Rahmen der Erarbeitung neuer Gesetze die Auswirkungen auf die kommunalen Gebühren bedacht werden sollen. - Da kann ich nur sagen: Na, guten Morgen! Ich bin bisher davon ausgegangen, daß bei der Erarbeitung von Gesetzen solche Auswirkungen bedacht werden. Wenn das extra in einem Antrag festgehalten werden muß, ist das kein besonders gutes Zeichen für Ihre bisher geleistete Arbeit.
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Ein paar Sätze möchte ich auch noch über das Zauberwort Privatisierung verlieren, das hier ins Spiel gebracht wird. Die F.D.P. träumt ja gleich - ich erinnere daran, was die Kollegin Homburger eben gesagt hat - von „unendlichen Reduzierungen". - Träumen Sie weiter, Frau Kollegin. Wer sich ein bißchen ernsthafter mit dem Problem auseinandersetzt, weiß, daß es auf der einen Seite sicher Chancen, auf der anderen Seite aber auch Probleme gibt.
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Ich habe mir einmal die Thesen des Deutschen Städtetages dazu angeschaut. Da heißt es zum Beispiel: Die pauschale Annahme, daß privatwirtschaftliche Modelle immer die schnelleren, leistungsfähigeren und kostengünstigeren Wege zur Aufgabenerfüllung bilden, ist unzutreffend.
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Genauso unzutreffend ist es, daß die Aufgabenwahrnehmung durch öffentliche Träger immer schwerfällig ist. Ich glaube, es ist notwendig, in verschiedenen Bereichen über unterschiedliche Betreibermodelle nachzudenken, und daß darin auch Chancen für Kostenreduzierungen liegen. Aber dies als Fetisch vor sich herzutragen und die Leute glauben zu machen, mit diesem einen Ausweg ließen sich Probleme endgültig lösen oder, wie Sie es behaupten, unendliche Kostenreduzierungen erreichen, ist Augenwischerei und dient nicht der Erzielung niedrigerer Gebühren.
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Ich glaube, daß es auf der anderen Seite notwendig ist - und auch da existieren ja Forderungen von seiten der Kommunen -, die Spielräume der Gemeinden auch bei der wirtschaftlichen Tätigkeit zu erweitern, damit die Gemeinden in die Lage versetzt werden, beim Betrieb in Eigenregie stärker innerhalb eines vorgegebenen wirtschaftlichen Rahmens zu agieren.
Ein letzter Punkt, den ich hier anschneiden möchte: Was mir in dem Antrag der Koalition ein bißchen fehlt, ist eine systemübergreifende Betrachtung. Mir wird noch zu viel Gewicht auf die End-ofthe-Pipe-Technologie gelegt. Wir dürfen nicht nur die Stelle betrachten, an der das Schmutzwasser austritt und geklärt werden muß, sondern wir müssen sehr viel stärker, als das bisher der Fall gewesen ist, im Vorfeld Eingriffsregelungen schaffen. Wie lange mußten wir zum Beispiel auf die Düngeverordnung
warten, und noch immer ist die EG-Nitrat-Richtlinie damit nicht vollständig umgesetzt.
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Oder wo bleibt zum Beispiel das Bodenschutzgesetz? Das alles sind Maßnahmen, die neben den Schritten, die wir hier diskutieren, zu einer vernünftigen Gewässersituation führen.
Ich glaube, es gibt einige Punkte, bei denen wir gemeinsam vorgehen können; ich habe sie am Anfang benannt. Wichtig ist es jetzt, gerade auch im Interesse Ostdeutschlands, daß wir schnell handeln. Deshalb war es höchste Zeit für diese Debatte.
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Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut und richtig, daß wir heute die Debatte über die Abwassergebühren führen, weil die Ängste und die Sorgen, die viele haben, teilweise berechtigt sind; denn die Gebühren für Abwasser sind in den letzten sieben Jahren auf fast das Doppelte gestiegen. Da muß man die Fragen der Bürgerinnen und Bürger durchaus ernst nehmen.
Nun ist es aber, Herr Matschie, keinesfalls so, daß die SPD uns erst zu dieser Diskussion bringen mußte. Ich erinnere mich, als ich noch gar nicht Umweltministerin war, an eine Sitzung beim Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten der Länder, wo vereinbart wurde, daß Herr Töpfer und die Länder gemeinsam an einem Bericht arbeiten, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Neu ist es also nicht, und trotzdem ist es richtig und wichtig, daß wir uns damit befassen.
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Nun liegt dieser Bericht vor, und es liegt die Antwort auf die Große Anfrage vor. Man muß einmal feststellen, daß in der Bundesrepublik Deutschland die Preise pro Kubikmeter Abwasser zwischen 25 Pfennig und 9 DM in den alten Bundesländern und 1 DM und 13 DM in den neuen Bundesländern variieren. Da Gesetze bundeseinheitlich gemacht werden, muß man wohl sagen dürfen - es ist auch richtig, so zu argumentieren, daß es hier nicht nur um Umweltstandards geht, sondern auch noch um andere Fragestellungen, die heute schon besprochen wurden.
Ich finde, daß die Debatte zum Teil - das war heute hier nicht der Fall, aber in der Öffentlichkeit ist das so - ein wenig darunter leidet, daß Bundesgesetze, Landesvorschriften, technische Vorschriften und Organisationsfragen in den Kommunen völlig durcheinandergeworfen werden und dann je nach Anforderung entweder für höhere Standards im Umweltschutz oder gegen hohe Gebühren argumentiert wird.
Ich muß sagen: Ich war sehr enttäuscht, daß auch die Grünen vor solchen Dingen nicht gefeit sind und daß im baden-württembergischen Landtag einer Ihrer Kollegen sozusagen mit lautem Gebrüll gegen hohe Gebühren im Abwasserbereich aufgetreten ist.
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Sie, Herr Rochlitz, haben uns heute gezeigt, daß man noch mehr fordern soll. Beides müssen Sie auch in Ihrer Partei zusammenführen, wenn Sie für den Bürger glaubhaft Politik machen wollen.
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1986 wurde die Novelle zum Wasserhaushaltsgesetz verabschiedet, 1989 die Verwaltungsvorschrift zur Nährstoffelimination erlassen. Die kommunale Abwasserrichtlinie der Europäischen Union wurde 1991 verabschiedet. Sie war im übrigen ein Harmonisierungsvorhaben, damit in allen europäischen Ländern eine gleiche Grundlage besteht. Es wurden dann auch für die Umsetzung dieser Richtlinie Fristen gesetzt, die in den neuen Bundesländern natürlich zu bestimmten Erschwernissen geführt haben, da dies in einer sehr kurzen Frist realisiert werden muß. Ich werde noch darauf eingehen, wie man dem Rechnung tragen kann.
Wir haben jetzt wieder eine Diskussion um eine Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes. Frau Kastner, hier ist nicht die Bundesregierung im Verzug; hier arbeiten Bundesregierung und das Parlament ganz planmäßig. Nachdem der Bundesrat einen Entwurf vorgelegt hat, haben wir unsere Stellungnahme dazu abgegeben. Die Debatte im parlamentarischen Rahmen kann jetzt vernünftig geführt werden.
Ich bitte auch hier, daß ganz deutlich so argumentiert wird, wie es der Sachlage entspricht. Wenn es um § 7 a geht, bei dem viele Kommunen befürchten, daß es durch ihn zu Gebührenerhöhungen kommt, muß man sehen, daß der Stand der Technik und das Verhältnismäßigkeitsgebot in eine bestimmte Relation zueinander gesetzt werden müssen, und dies kann von Bundesseite durch entsprechende Verwaltungsvorschriften klargestellt werden.
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Die erheblichen Leistungen, die bereits erbracht wurden - ich habe auf die Geschichte hingewiesen -, schließen nicht aus - wir haben das in unserer Antwort auf die Große Anfrage auf Grund von Rückmeldungen aus den Ländern ausgeführt -, daß in den nächsten Jahren Investitionen in einer Höhe von über 150 Milliarden DM notwendig sind. Nun muß man vor einer solchen Zahl - ich sage das allen Umweltpolitikern - natürlich auch nicht erschauern, wenn man bedenkt, daß jährlich in dieser Größenordnung Transferleistungen in die neuen Bundesländer erfolgen. Für ein Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland ist dies durchaus verkraftbar,
wenn die Investitionen über eine Vielzahl von Jahren verteilt werden. Wir sind ja ein hochtechnisiertes Land. Aber man muß natürlich sparsam mit diesen Investitionen umgehen. Ungefähr 70 Milliarden DM entfallen auf die neuen Bundesländer, 80 Milliarden DM auf die alten Bundesländer.
Ich denke, wir müssen auch zwischen Umweltpolitik und Sozialpolitik unterscheiden, und wir dürfen nicht sagen, daß Abwassergebühren rein über die Sozialpolitik finanziert werden können. Denn wir haben auf der anderen Seite immer wieder gesagt: Verursachergerechte Kosten sind ein Mittel, mit dem man Ressourcenverschwendung vermeiden kann. Ich glaube, das ist ein richtiges Prinzip.
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Wichtig ist: Wir müssen unsere Instrumentarien darauf einstellen, daß die Verursacher auch in die Lage versetzt werden, kostengünstig handeln und mit Ressourcen sparsam umgehen zu können. Das ist an vielen Stellen noch nicht der Fall.
Wir wissen, daß erhebliche Kosteneinsparpotentiale vorhanden sind. Der Bund hat gerade in den neuen Bundesländern durch Beratungsleistungen geholfen. Das Beispiel der Stadt Altenburg ist schon oft genannt worden. Erst betrugen die Kosten 100 Millionen DM; dann führte eine optimierte Planung zu Kosten von 84 Millionen DM. Nach einer Ausschreibung hat ein privater Betreiber den Zuschlag bekommen: 39,7 Millionen DM sind nun die tatsächlichen Kosten. Sie können also sehen: Wenn man hier nicht sofort zugreift, sondern versucht zu optimieren, können erhebliche Einsparpotentiale realisiert werden.
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Es geht nicht darum, daß der Private im Vergleich zur Kommune immer der bessere ist. Vielmehr geht es darum, daß die Privaten gleiche Möglichkeiten und gleiche Bedingungen wie die Kommunen bekommen, um nichts weiter.
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Ich kann nicht verstehen - Herr Staatssekretär Hauser hat das ja ausgeführt -, warum Sie mit einer sehr oberflächlichen Argumentation, die im übrigen diejenigen bevorzugt, die gar nicht investieren wollen - obwohl fast alle wissen, daß sie investieren müssen -, gleich wieder etwas totschlagen wollen, was sich an vielen Stellen bewährt hat, was natürlich aber auch an manchen Stellen - insofern werden Sie auch Gegenbeispiele finden - dazu geführt hat, daß es nicht so optimal funktioniert hat. Wir sind doch nur der Meinung: Die Flexibilisierung der Möglichkeiten muß auch dazu beitragen, daß Private eine Chance haben, und zwar eine faire Chance.
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Dazu kommt, daß die Privatisierung natürlich auch nicht in jedem Falle verhindern kann, daß ein neues Monopol entsteht. Das heißt, man muß natürlich auch bei den Privatisierungsbedingungen dafür sorgen, daß so viele flexible Instrumente vorhanden sind, daß nicht derjenige, der sozusagen als Monopolist agiert, über Jahrzehnte einen festen Vertrag hat, auf den die Kommune nicht mehr Einfluß nehmen kann. Aber das läßt sich machen. Wir wollen hier nur gleiche Bedingungen.
Wir wissen alle, daß ein großes Optimierungspotential im Querverbund der kommunalen Entsorgungs- und Versorgungsbetriebe steckt. Hier ist in den letzten Jahren viel geschehen. Ich denke, das muß auch weitergeführt werden.
Wir wissen auch, daß eine ganze Reihe von Gebührensenkungen möglich sind durch die Änderung von DIN-Vorschriften und von abwassertechnischen Normen, die gar nicht der Bundesgesetzgeber und auch nicht die Landesgesetzgeber regeln, sondern die von ingenieurtechnischen Verbänden, insbesondere auch von der Abwassertechnischen Vereinigung, installiert wurden und die inzwischen - auch das muß man sich einmal vor Augen halten - durch Klagen der Bürger vor deutschen Gerichten fast Rechtsnorm erlangt haben. Wir müssen aufpassen, daß in unserem Rechtsstaat nicht die Situation entsteht, daß ingenieurtechnische Normen, ein Merkblatt und ähnliches fast Rechtskraft erlangen. Hier sind wir mit der Abwassertechnischen Vereinigung in sehr direkten Diskussionen.
Meine Damen und Herren, wir haben jetzt den Bericht diskutiert, den wir damals auf Anforderung der Ministerpräsidentenkonferenz und des Bundeskanzlers erstellt haben. Ich muß Ihnen sagen, dieser Bericht ist gut in den Teilen - er hat auch der Umweltministerkonferenz vorgelegen -, in denen es um Veränderungen von Strukturen im Sinne der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, der Straffbarkeit, geht. Er ist gut, wo es um die Überarbeitung der ATV-Regelungen und des DIN-Regelwerkes geht.
Aber leider haben die Innenminister der Länder - und bei denen liegen viele Kompetenzen - einfach gesagt, ihre Kommunalabgabengesetze seien gut, die Umweltminister hätten sich dafür nicht zu interessieren.
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Und damit war die Diskussion in weiten Teilen beendet.
So geht es natürlich nicht, daß Sie sich hier hinstellen und sagen, die Bundesregierung müsse dafür sorgen, daß die Umsetzung der kommunalen Abwasserrichtlinie der Europäischen Union in den ländlichen Räumen nicht so gestaltet wird wie in den städtischen Räumen, indem sie gesetzliche Vorschriften erläßt. Wir haben nicht eine einzige gesetzliche Vorschrift erlassen. Das sind Länderregelungen, das sind kommunale Satzungsregelungen. Es heißt in der EU-Richtlinie ausdrücklich: Ist die Einrichtung einer Kanalisation nicht gerechtfertigt, weil sie entweder keinen Nutzen für die Umwelt mit sich bringen würde oder mit übermäßigen Kosten verbunden wäre, so sind individuelle Systeme oder andere geeignete Maßnahmen erforderlich, die das gleiche Umweltschutzniveau gewährleisten.
Das heißt, niemand ist gezwungen, in einem riesigen Abwasserzweckverband mit langen Kanalisationsleitungen unendliche Kosten zu verursachen. Wir können das Subsidiaritätsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland nicht so verstehen, daß für die bösen Sachen, die Fehler, die Bundesregierung zuständig ist, und bei allem, was vor Ort gut gelungen ist, gehen die Landräte segnend durch die Gegend.
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Das geht nicht. Da muß ich an die Eigenverantwortung appellieren.
Liebe Frau Kastner, ich habe heute hier aufmerksam zugehört und mich gefragt, was wir als Bundesregierung noch tun müssen, um hier zu helfen. Wir führen die Gespräche mit der Abwassertechnischen Vereinigung, weil wir hier denken, daß das zentral erfolgen sollte.
Wir sind auch bereit - jetzt komme ich auf das, was Herr Matschie angesprochen hat -, noch einmal zu überlegen, wie mit dem Wunsch der neuen Bundesländer auf Fristverschiebung zu verfahren ist. Ich will dazu Stellung nehmen.
Die neuen Länder stehen vor besonderen Bedingungen. Deshalb haben wir gesagt: Wir werden uns in Brüssel für eine fachlich begründete Zeitschiene, die zur Umsetzung der geforderten Gewässerschutzanstrengungen notwendig ist, einsetzen. Dies erfordert aber, daß wir detaillierte Angaben darüber haben, wer klarkommt, wer nicht klarkommt, wer schon was geschafft hat. Wenn ich höre, wo es in den neuen Bundesländern hohe Abwassergebühren gibt, gewinne ich den Eindruck, daß schon fast in allen Städten über 10 000 Einwohner eine Kläranlage vorhanden ist. Viele können da nicht mehr übrig sein. Die Länder haben uns diese Städte bis heute nicht benannt.
Ich gehe aber nicht pauschal nach Brüssel und führe intern die Diskussion, daß überall die Abwassergebühren so gestiegen sind, weil wir investiert haben. Wir sind doch ein Land - das sage ich ganz offen und deutlich -, das sich bei den Abwasserstandards mit jedem Land in der Europäischen Union messen kann. Warum sollen wir nach Brüssel gehen und sagen, wir wollen unbedingt die Fristen verlängern, wenn es zum Schluß gar nicht nötig ist? Deshalb möchte ich das ganz detailliert wissen. Ich sage das an dieser Stelle wegen der neuen Bundesländer.
Deshalb sage ich: Wo es Planungen gibt, die bis zum Jahre 1998 nicht umgesetzt sind, können wir das der Europäischen Union mitteilen. Ich bin der Meinung, daß wir überall einen Zeithorizont haben, mit dem wir im europäischen Rahmen gut überleben können und auch gut dastehen. Deshalb sollten wir nicht der Meinung sein, daß wir unbedingt verlängern sollten.
Letzte Anmerkung: Wir werden uns - ich habe mit Freude die einvernehmliche Stellungnahme der Sozialdemokraten und der Koalitionsfraktionen gesehen - für eine europäische Gewässerschutzrichtlinie einsetzen. Es gibt hier ein großes Durcheinander in der Europäischen Union. Es ist dringend erforderlich, daß in diesem Bereich eine ordentliche Gesamtrichtlinie erarbeitet wird. Wir haben ein informelles Treffen der Umweltminister gehabt, und die Kommission hat dort dazu vorgetragen. Ich bin guter Hoffnung.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen der 2. und 3. Novelle zum Abwasserabgabengesetz, Drucksachen 12/8344 und 13/1101 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Bericht der Bundesregierung zum Abwasserabgabengesetz, Drucksache 13/1101 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/305 abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Richtlinienvorschlag der Europäischen Union über die ökologische Qualität von Gewässern, Drucksache 13/3175 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Richtlinienvorschlag zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/3175 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Es wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zum Schutz der Gewässer und zur Senkung der Kosten auf Drucksache 13/3490 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Innenausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen.
Der Antrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/3494 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Hans Klein
Es ist außerdem beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/3512 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und an den Innenausschuß sowie an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
- Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit
- Drucksachen 13/1809, 13/2043 - ({0})
- Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zweiten Zusatzabkommen vom 6. März 1995 zum Abkommen vom 7. Januar 1976 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit und zu der Zweiten Zusatzvereinbarung vom 6. März 1995 zur Vereinbarung vom 21. Juni 1978 zur Durchführung des Abkommens
- Drucksachen 13/1811, 13/2042 -({1})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2})
- Drucksache 13/3499 -
Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Mascher
b) Berichte des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 13/3500, 13/3501 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermenau
Ina Albowitz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Besteht darüber Einverständnis? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rede des israelischen Staatspräsidenten Weizman in diesem Hohen Haus in dieser Woche war ein großes Symbol für die israelisch-deutsche Verbundenheit. Viele Brücken sind gebaut worden, angesichts der Geschichte Brücken von großer Tragweite und Tragfähigkeit. Auch die sozialen Beziehungen spielen dabei eine große Rolle.
Mit diesen Abkommen, bei denen ich um Ihre Zustimmung bitte, bauen wir eine weitere Brücke. Diese Abkommen betreffen 35 000 noch lebende Juden in Israel und in den USA, 35 000, die der Verfolgung, der Ermordung entkommen sind. Die Muttersprache dieser Menschen, die von Osteuropa nach Israel und in die USA ausgewandert sind, war Deutsch. Sie selber fühlten sich ganz selbstverständlich dem deutschen Kulturkreis verbunden und wollten gleichzeitig ihre Identität als Juden wahren. Sie konnten sich nicht zum Deutschtum bekennen, weil sonst Auschwitz ihr Schicksal gewesen wäre. Sie gehören zum deutschen Kulturkreis. Viele von ihnen haben erleben müssen, wie ihre Verwandten und Freunde gefangengenommen und ermordet wurden, nur weil sie des jüdischen Glaubens waren. Jeder dieser 35 000 hat ein Schicksal. Sie sind allesamt über 70 Jahre alt. Sie haben eine Lebensgeschichte, die die Leiden unseres Jahrhunderts widerspiegelt.
Es ist deshalb eine humanitäre Verpflichtung, diese Menschen in unser Fremdrentenrecht einzubeziehen, so wie wir jedem anderen Deutschen, der durch Vertreibung und Unterdrückung hierherkommt, das Fremdrentenrecht zubilligen. Der einzige Unterschied ist, daß wir ihnen nicht zumuten können, ihre Fremdrente hier, in unserem Land, zu verwerten. Ich finde, daran kann ihr Fremdrentenanspruch angesichts dessen, was ihnen zugefügt wurde, nun wirklich nicht scheitern.
({0})
Sie zahlen Beiträge, um einen Fremdrentenanspruch zu erhalten. Ihr Fremdrentenanspruch besteht auf Grund ihrer Beitragsleistung.
Deshalb bin ich dankbar, daß, wenn auch nach schwierigen Verhandlungen, diese Abkommen möglich geworden sind und diese jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger so wie jeder andere berechtigte Deutsche Fremdrenten in Anspruch nehmen können. Zu 80 Prozent zahlt das die Rentenversicherung, so wie bei anderen Fremdrentnern auch, und zu 20 Prozent ist der Bundeszuschuß darin enthalten, so wie bei anderen Fremdrentnern auch.
Wir sollten dieses Thema allerdings nicht nur an Hand von Zahlen diskutieren und es auch nicht nur als einen Beitrag dazu betrachten, aus der Vergangenheit historisch gesehen klüger zu werden. Vielmehr wollen wir ein konkretes Zeichen für Versöhnung und Wiedergutmachung setzen, das weit über den materiellen Wert dieses Abkommens hinausgeht. Deshalb bin ich Ihnen sehr dankbar, wenn wir diese Abkommen heute beschließen können.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der Besuch des israelischen Staatspräsidenten Ezer Weizman hat die öffentliche Aufmerksamkeit auf zwei Sozialversicherungsabkommen gelenkt, für deren Ratifizierung sich sonst wahrscheinlich nur noch schwer eine Mehrheit bei den Koalitionsfraktionen gefunden hätte. Der Inhalt dieser beiden Abkommen ist eigentlich ganz unspektakulär, auch wenn er für die Betroffenen, alte jüdische Frauen und Männer, die heute in Israel und in den USA leben - noch leben - von großer Bedeutung ist.
Um was geht es eigentlich? Die Zusatzabkommen zu den bestehenden Sozialversicherungsabkommen mit Israel und den USA sollen deutschsprachigen Juden aus Osteuropa, die heute in Israel und in den USA leben, Ansprüche auf eine Rente nach dem Fremdrentengesetz eröffnen. Rente nach dem Fremdrentengesetz setzt eine Beschäftigung und daraus resultierende Beiträge zu einem sozialen Sicherungssystem im Herkunftsland voraus. Es geht nicht um Entschädigungsleistungen, es geht um Rente.
Wir sprechen heute von Menschen, die ihre Identität als Juden nicht aufgeben wollten und sich nicht zum deutschen Volkstum bekannten, nicht bekennen konnten. Obwohl sie dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehörten, konnten sie wegen dieses fehlenden Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nach allen Schrecken der allgemeinen Verfolgung durch den Nationalsozialismus nicht als Aussiedler anerkannt werden und deshalb auch keine Leistungen nach dem Fremdrentengesetz erhalten.
Im Rentenreformgesetz 1992 wurde auf Initiative der SPD diese rentenrechtliche Diskriminierung deutscher Juden aus Osteuropa beseitigt. Die meisten dieser deutschen Juden leben allerdings nicht in Deutschland. Dadurch ergab sich eine neue Barriere; denn Leistungen nach dem Fremdrentengesetz können ins Ausland nur dann gezahlt werden, wenn Beitragsleistungen in der Bundesrepublik erbracht wurden. Für Berechtigte, die sich in der Bundesrepublik aufhalten, gelten diese Einschränkungen nicht, selbst wenn sie keine deutschen Staatsbürger sind. So kompliziert kann deutsches Rentenrecht sein!
Um das Ziel, die rentenrechtliche Gleichstellung deutscher Juden mit den übrigen Vertriebenen und damit Leistungen nach dem Fremdrentengesetz für diese Menschen, zu erreichen, soll den in Israel und den USA lebenden Berechtigten die Möglichkeit eröffnet werden, freiwillig Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachzuentrichten, um dann endlich eine Zahlung von Renten nach dem Fremdrentengesetz auch nach Israel und in die USA zu ermöglichen. Um diese Möglichkeit, freiwillig Beiträge für die deutsche Rentenversicherung nachzuentrichten, um dadurch Leistungen nach dem Fremdrentengesetz auch in Israel und den USA erhalten zu können, geht es bei den beiden Zusatzabkommen.
Warum hat es dagegen solche Widerstände von seiten der Sozialpolitiker der Regierungsfraktionen gegeben? Bereits bei den Beratungen 1989 zum Rentenreformgesetz 1992 hatte sich der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung für eine Ergänzung der beiden Sozialversicherungsabkommen ausgesprochen. 1989 begannen die Verhandlungen über ein solches Abkommen, nachdem sich Bundeskanzler Helmut Kohl der Zustimmung von Alfred Dregger, Wolfgang Mischnick und Hans-Jochen Vogel, den damaligen Fraktionsvorsitzenden der großen Fraktionen, versichert hatte.
Im Februar bzw. März 1995 werden endlich beide Zusatzabkommen zwischen der Bundesrepublik und Israel bzw. USA abgeschlossen. Das deutschisraelische Abkommen wird von Ministerpräsident Rabin unterzeichnet. Im Juni wird es an den federführenden Ausschuß überwiesen. Im September soll es abschließend beraten werden. Plötzlich wird es durch die Regierungskoalition von der Tagesordnung genommen. Was zuerst als kurze Verzögerung erscheint, weitet sich bei den Sozialpolitikern der Koalitionsfraktionen zur Grundsatzdebatte über die Finanzierung aus.
Diese Auseinandersetzung wird dann im Januar im „Spiegel" und in anderen Zeitungen öffentlich; sicher keine erfreuliche Lektüre für die Regierungsfraktionen. Ein kurzer Bericht, heute in der „Süddeutschen Zeitung" erschienen, muß uns aber alle alarmieren. Hier heißt es zum Thema Veränderung der Rentenanpassung bei den ostdeutschen Renten:
Die hierdurch in diesem Jahr erzielbare Einsparung bei der Rentenversicherung in Höhe von 700 Millionen Mark steht nach Informationen aus Koalitionskreisen im Zusammenhang mit der Einigung auf Rentenzahlungen für deutschstämmige Nazi-Opfer aus Osteuropa.
Unter Rentenexperten wurde angesichts der Finanzsituation der Rentenversicherung bereits im Herbst letzten Jahres über die Veränderung der Rentenanpassung für Ostdeutschland diskutiert, also unabhängig von der Ratifizierung der Sozialversicherungsabkommen; ich erinnere mich da an ein Gespräch mit Herrn Minister Blüm. Ich halte diese Verknüpfung von Einsparungen bei der Rente in Ostdeutschland mit der Finanzierung von Fremdrentenleistungen an deutsche Juden aus Osteuropa für unverantwortlich und für eine Förderung schlimmster Ressentiments.
({0})
Was veranlaßt ehrenwerte Sozialpolitiker aus der CDU dazu, ausgerechnet bei Leistungen nach dem Fremdrentengesetz für deutsche Juden die Nagelprobe auf all ihre Erklärungen zu versuchen, der Rentenversicherung keine weiteren finanziellen Lasten aufzubürden? Die jährlichen Aufwendungen der gesetzlichen Rentenversichung für diese beiden Sozialversicherungsabkommen werden anfangs auf 200 Millionen DM geschätzt. Die gesamten Leistungen nach dem Fremdrentengesetz - nur, um einen
Vergleich zu schaffen - belaufen sich auf 11 Milliarden DM.
In dem Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, heißt es zu den Kosten dieser Leistungen - ich zitiere -:
... werden jedoch bald zurückgehen und ab dem Jahr 2015 unbedeutend sein. Dabei werden die Aufwendungen für die Zeit vom 1. Juli 1990 bis zum 30. Juni 1993 durch die Nachentrichtungsbeiträge kompensiert.
In Alltagsdeutsch übersetzt heißt das: Die Kosten für die ersten drei Jahre werden von den Betroffenen finanziert. Wegen des Alters der Betroffenen - die meisten sind über 70 Jahre - werden nur für einen kurzen Zeitraum Kosten für die Rentenversicherung anfallen.
Warum also diese Entschlossenheit, gerade bei diesen Leistungen nach dem Fremdrentengesetz das Problem der sogenannten versicherungsfremden Leistungen zu thematisieren und das Abkommen notfalls scheitern zu lassen? Ist die Finanzierung dieser Zusatzabkommen durch die Rentenversicherung wirklich der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt? Oder geht es hier darum, in der Rentenversicherung einen Schlußstrich zu ziehen und sich nicht mehr länger mit den Folgen unserer Geschichte zu belasten? Warum lösen Entschädigungsleistungen an die Opfer unserer Geschichte immer so viele Einwände, Skrupel und Widerstände aus?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn wir ernsthaft über die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen beraten wollen, gibt es sicher ausreichend Gelegenheit und bessere Gegenstände dazu im Parlament. Die SPD-Fraktion wird dazu einen Antrag einbringen. Dann können wir uns darüber streiten, ob der Bundeszuschuß für die Rentenversicherung erhöht werden soll, wie vom Verband der Rentenversicherer gefordert, ob das Fremdrentengesetz geschlossen werden kann, ob die Aufwendungen nach dem Zweiten SED-Unrechts-Bereinigungsgesetz durch den Bund übernommen werden oder ob die Auffüllbeträge für die ostdeutschen Renten in Zukunft aus Steuermitteln finanziert werden, um nur einige Beispiele aus dem Bereich der Rentenversicherung aufzuzählen.
Sicher werden wir uns heftig darüber streiten, welche Leistungen überhaupt als versicherungsfremd zu bezeichnen sind und ob eine stärkere Besteuerung des Verbrauchs an Umweltressourcen eine geeignete Finanzierungsquelle ist, um das soziale Sicherungssystem zu entlasten. Ich bin gespannt, und ich freue mich auf diese Debatte.
Aber heute lassen Sie uns bitte mit einer möglichst breiten Mehrheit die beiden Sozialversicherungsabkommen mit den USA und mit Israel ratifizieren, um alten Menschen, die die Schrecken des Nationalsozialismus überlebt haben, endlich den Zugang zu einer Altersrente zu eröffnen.
Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Norbert Blüm das Wort.
Verehrte Frau Kollegin Mascher, es liegt mir daran, daß dieses Abkommen nicht in einen Zusammenhang mit innenpolitischen Diskussionen um die Anpassungsregelungen für die Renten Ost gebracht wird. Ich möchte das auch gegenüber Presseberichten klarstellen.
Wir haben die Frage zu klären - Sie haben zu Recht gesagt, daß wir bereits im Herbst darüber gesprochen haben -, wann das Anpassungsverfahren Rente Ost dem Rente West gleichgestellt wird. Heute folgen die Renten West den Löhnen in einem Abstand von einem Jahr, die Renten Ost zeitgleich den Löhnen. Deshalb ist dort immer ein hohes Schätzrisiko enthalten, und deshalb müssen wir diesen Anpassungsrhythmus verändern.
Das hat - es liegt mir daran, dies klarzustellen - überhaupt nichts mit diesen Abkommen zu tun. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, daß nicht innenpolitische Diskussionen mit den Abkommen, deren Wert höher ist als alle unsere sozialpolitischen Diskussionen, vermengt werden.
Mir lag daran, Herr Präsident, klarzustellen, daß die Diskussion über Anpassungsregelungen für die Renten Ost nichts, aber auch gar nichts mit diesen Abkommen zu tun hat.
({0})
Frau Kollegin Mascher, wollen Sie darauf replizieren?
Herr Minister Blüm, ich kann es nur begrüßen, daß Sie das hier mit aller Deutlichkeit klargestellt haben. Auch mir ist es darum gegangen, hinsichtlich der suggerierten Verknüpfung klarzustellen, daß es bei den Zusatzabkommen zu den Sozialversicherungsabkommen um eine ganz eigenständige und ganz besondere, notwendige Leistung unserer Rentenversicherung geht.
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Herr Kollege Dr. Heiner Geißler, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion stimmt diesen Zusatzabkommen und den damit verbundenen Auszahlungen der Renten für ungefähr 35 000 osteuropäische deutsche Juden zu. Dies ist nicht nur - das auch; es sind internationale Abkommen - eine außenpolitische
Frage, wie ab und zu in der Öffentlichkeit diskutiert worden ist, zumindest nicht für uns.
Es handelt sich bei diesen Menschen um die Überlebenden von weit über 300 000 jüdischen Deutschen, Osteuropäern, die in den Konzentrationslagern und in den Ghettos von den Nationalsozialisten umgebracht worden sind. Diese 35 000 sind - unter manchmal schwierigsten Umständen - der Vernichtung entronnen. Daß sie nach dem, was sie mit Deutschen erlebt haben, nun nicht in Deutschland wohnen wollen, darüber sollte man nicht eine Sekunde diskutieren.
Die Auszahlung der Renten kann man nicht einmal einen kurzen Gedanken lang von einem solchen Umstand abhängig machen.
Sie ist für uns nicht nur eine Erfüllung des Abkommens mit Israel und mit den Vereinigten Staaten, sondern sie ist für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine moralische und eine humanitäre Verpflichtung.
Die Schicksale sind schlimm. Ich habe mir in den Akten einige angesehen. Es sind Menschen dabei, die vier, fünf Jahre in nationalsozialistischen Straflagern, in Konzentrationslagern, in Strafbataillonen gelebt haben und dann noch von den Sowjets, von den Kommunisten drangsaliert worden sind. Es sind schlimme Schicksale, und es ist gut, daß wir diese Renten zahlen.
Es hat in der Unionsfraktion - das ist richtig, Frau Mascher - eine Diskussion über die Finanzierung gegeben, aber nie - nie! - über die Frage, ob wir dies machen, ob wir das für richtig halten.
({0})
Alles andere ist eine Verdächtigung. Das sage ich unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern hier in Deutschland und in Israel und in den Vereinigten Staaten. Die Unionsfraktion läßt hierüber überhaupt keinen Zweifel aufkommen.
Aber es muß - und das ist keine Frage der Sozialpolitiker unserer Fraktion, sondern das sagen Mitglieder Ihrer Fraktion genauso - doch möglich sein - das ist eine nationale Aufgabe, das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe -, daß hier im Parlament Verantwortliche auch darüber reden, wie die Finanzierung aussehen soll. Nun kann man natürlich sagen, dieser Anlaß sei dafür nicht der geeignete. Aber der ist wahrscheinlich nie gegeben. Also, da muß es Diskussionen geben dürfen.
In einem Kommentar einer Zeitung ist gesagt worden, wir könnten uns aus der Verantwortung für das, was Deutsche Juden angetan haben, nicht herauswinden. Das ist richtig. Aber wenn es wahr ist, daß es die Deutschen waren, dann gibt es viele - nicht nur hier im Parlament -, die sagen: Dann haben alle Deutschen zu dieser Verantwortung zu stehen, auch zur finanziellen Verantwortung: nicht nur Handwerker, Betriebe und Beitragszahler, sondern zum Beispiel auch über 2 Millionen Beamte, Freiberufler, die Mitglieder der Bundesregierung und der Landesregierungen und wir Abgeordnete, die keine Mark zur
Finanzierung dieser gesamtstaatlichen Aufgabe beitragen. Diese Überlegung halte ich für legitim.
({1})
Ausschließlich aus diesem Grunde werden zwei Abgeordnete, mein Freund Julius Louven und mein Freund Volker Kauder - sie haben mich gebeten, dies zu sagen -, dem Abkommen nicht zustimmen. Das als „kindisch" zu bezeichnen, Herr Scharping, ist der Sache überhaupt nicht angemessen.
({2})
Es muß auch bei einer solchen Frage möglich sein, über diesen Punkt zu diskutieren, ohne daß man gleich in Verdächtigungen kommt.
Aber das ist ja nicht der einzige schlimme Begleittext gewesen. Herr Scharping, ich muß mich jetzt leider mit Ihnen auseinandersetzen, weil mich das selber sehr berührt.
({3})
- Das kann schon sein. - Ich will das in aller Ruhe sagen: Man kann zwar noch darüber diskutieren, ob man das als „kindisch" oder „unnötig" bezeichnet oder sagt, das sei der falsche Zeitpunkt. Jeder, der so redet, hat mein volles Verständnis. Aber daß Sie, Herr Scharping, die Vermutung, in Wirklichkeit seien in der Unionsfraktion rechtspopulistische Tendenzen ausschlaggebend für den Streit, für durchaus zutreffend halten,
({4})
muß mich zu der Frage veranlassen: Wie kommen Sie dazu, in diesem Zusammenhang so etwas zu sagen, die Unionsfraktion bei der Diskussion darüber in dieser Form zu verdächtigen? Es gibt ein Sprichwort von Fontane, von dem ich vorab ausdrücklich sage: Ich beziehe es nicht jetzt auf Sie.
({5})
Aber für das nächste Mal - damit Sie sich das merken - gilt: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant! "
Wenn Sie, Herr Scharping, die Unionsfraktion noch ein einziges Mal aus einem solchen Anlaß in eine rechtspopulistische oder rechtsradikale Ecke rücken wollen - der Anlaß ist dem wirklich nicht nur nicht angemessen, sondern es ist beschämend, das in dem Zusammenhang zu sagen -, dann zerstören Sie damit den Grundkonsens zwischen den großen Volksparteien, den wir für die Politik bitter nötig haben. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das in dem Zusammenhang sagen muß.
({6})
Bitte lassen Sie das in der Zukunft bleiben!
({7})
Wir begrüßen, daß diese Renten jetzt ausbezahlt werden. Wir müssen das möglichst rasch tun. Jetzt können wir nicht noch innerhalb der Regierung einen Streit darüber anfangen, aus welchem Etat das bezahlt wird. Deswegen sollten wir über die Frage - die Sie zu Recht stellen -, wie diese Kosten der Rentenversicherung erstattet werden, zu einem gesonderten Zeitpunkt gemeinsam nachdenken. Dann können wir natürlich nicht nur diese Frage in die Diskussion einbeziehen, sondern müssen andere Fragen ebenfalls beantworten.
Ich sage noch einmal: Die Unionsfraktion stimmt diesen Abkommen zur Rentenauszahlung zu: aus außenpolitischer, aber vor allem aus moralischer Verpflichtung gegenüber den Opfern des nationalsozialistischen Regimes.
({8})
Herr Kollege Scharping, Sie wollen sich zu einer Kurzintervention melden? - Bitte, Sie haben das Wort.
({0})
Herr Kollege Geißler, ich respektiere die Entscheidung, die Sie treffen, allerdings nicht die Umstände und den Weg, den Sie gegangen sind, um zu dieser Entscheidung zu kommen.
Im übrigen: Angesichts der Tatsache, daß heute in der „Süddeutschen Zeitung" unter Berufung auf Koalitionskreise - obwohl dementiert vom Bundesarbeitsminister, was ich ebenfalls respektiere - erneut ein sachfremder und, wie ich finde, menschenbelastender Zusammenhang hergestellt wird, der in manchen Teilen aufhetzende Wirkung haben wird, fühle ich mich in der Vermutung, die ich geäußert habe, bestätigt.
({0})
Herr Kollege Geißler, wollen Sie replizieren? - Bitte.
({0})
Herr Scharping, ich hatte Sie eigentlich nicht nach den Umständen gefragt. Das bezog sich auf die Finanzierungsfragen, die wir gemeinsam erörtert haben. Ich habe ausdrücklich konzediert, daß man da in der Tat unterschiedlicher Meinung sein kann - obwohl die Überlegungen, die Kolleginnen und Kollegen von uns angestellt haben, in Ihrer eigenen Fraktion geteilt werden. Das weiß ich genau, auch auf Grund der Ausschußsitzung gestern. Es ist doch eine unglaubliche Situation, daß Sie Überlegungen, die Sie bei uns heftig kritisieren, in den eigenen Reihen offenbar durchaus als legitim ansehen.
Ich hatte Sie nach etwas anderem gefragt. Ich hatte Sie gefragt, wie Sie dazu kommen, eine solch schwerwiegende Beschuldigung gegenüber der Unionsfraktion, die ihre politischen Grundlagen auch aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus bezieht, vorzubringen und ohne den geringsten Beweis einer Verdächtigung Raum zu geben, wonach es rechtspopulistische Gründe seien, warum wir hier in dieser Sache eine Diskussion geführt haben. Ich hätte von Ihnen eigentlich eine Entschuldigung für das erwartet, was Sie da gesagt haben.
({0})
Ich erteile der Kollegin Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie wirklich darum bitten, in dieser Debatte sowohl Ihre Wortwahl als auch die Art und Weise zu mäßigen, wie Sie hier miteinander innenpolitische Streitigkeiten - teilweise uralte Animositäten, die Sie miteinander haben - austragen. Ich finde, das dürfen wir in dieser Debatte nicht machen.
({0})
Die heute zur Verabschiedung anstehenden Gesetzentwürfe schaffen die Voraussetzung dafür, daß deutschsprachige Juden aus osteuropäischen Staaten Rentenansprüche nach dem Fremdrentenrecht erwerben können. Die bündnisgrüne Fraktion hält diese Regelung für unbedingt notwendig und seit langem für überfällig. Diese längst ausgehandelten Abkommen sind, wie wir es hier auch diskutiert haben, vom Bundestag leider lange nicht verhandelt worden.
Es ist sehr zu bedauern, daß der - zum Schluß auch öffentlich ausgetragene - Streit um die Finanzierungsverantwortung den Besuch des israelischen Präsidenten Weizman überschattet hat.
({1})
Andrea Fischer ({2})
Ich finde es auch beschämend, daß erst in letzter Minute weitere Gefahren für das deutsch-israelische Verhältnis abgewandt werden konnten.
Wir alle wissen, daß wir es hier mit einem Thema zu tun haben, das wie kaum ein anderes in der Gefahr steht, populistisch hochgespielt zu werden. Die Wortwahl in einigen Zeitungsartikeln der letzten Wochen und auch einige inzwischen eingetroffene Briefe von sozialneidischen Bürgern sollten uns eine Warnung sein, dieses Thema sorgsam zu behandeln.
Auch ich hätte eine Steuerfinanzierung der Rentenleistungen vorgezogen. Ich verwahre mich aber entschieden dagegen, die allgegenwärtige Debatte über die Gestaltung der Sozialversicherung und die Finanzierung der sogenannten versicherungsfremden Leistungen ausgerechnet an diesem Punkt zuzuspitzen.
({3})
Die finanziellen Auswirkungen der vorgesehenen Rentenregelungen rechtfertigen diesen Streit keinesfalls. Wem die Entlastung der Rentenversicherung ein solches Anliegen ist, der hätte im Bundeshaushalt nach der entsprechenden Finanzierung suchen müssen. Statt dessen aber öffentlich über die Finanzierungsfrage nur zu lamentieren, ist respektlos gegenüber den Menschen, um die es hier geht; es macht sie zum Spielball der aktuellen sozialpolitischen Kontroversen der Bundesrepublik. Mehr noch: Man läuft Gefahr, tiefsitzende Ressentiments in der Bevölkerung zu wecken.
In den nächsten Tagen jährt sich zum 51. Mal die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Morgen werden wir zum ersten Mal den Gedenktag begehen. Dies muß uns Verpflichtung sein, unserer historischen Verantwortung gerecht zu werden. Viele Opfer des Faschismus wurden 50 Jahre lang nicht entschädigt für die Verbrechen, für die wir auch heute noch eine gemeinsame Verantwortung tragen.
Wenn wir diesen Gedenktag über die Besinnung hinaus ernst nehmen wollen, dann müssen wir uns auch zu unseren daraus entstehenden Pflichten bekennen. Mit den heute zur Verabschiedung anstehenden Gesetzen haben wir unsere Verpflichtung noch nicht erfüllt. Ich möchte hier nur beispielhaft die lange überfällige Regelung für die Opfer des Nationalsozialismus im Baltikum nennen.
({4})
Der Bundestag hat dazu einen interfraktionellen Vorschlag vorgelegt, den die Bundesregierung nicht annehmen will. Sie ist nur zu einer - zumindest für uns - unakzeptablen Entschädigungsregelung bereit. Es ist auch nicht zu verstehen, warum die NS-Opfer in Ungarn, Tschechien und der Slowakei bis heute keine Entschädigung erhalten.
Die unwürdige Debatte der letzten Tage darf sich nicht wiederholen; denn es ist wirklich unwürdig, innenpolitische Streitigkeiten auf dem Rücken der Opfer des Nationalsozialismus auszutragen.
Die Folgen des Faschismus sind für viele Menschen auch heute noch bitter spürbar. Die langen Säumnisse der Entschädigungspolitik sind im nachhinein leider nur begrenzt zu korrigieren. Aber wenigstens sollten wir daraus die Konsequenz ziehen, den heute noch lebenden Opfern so schnell wie möglich Rentenschadensausgleich und Entschädigungen zu gewähren. Dies ist neben den politischen Lehren die wichtigste Verpflichtung, die der morgige Gedenktag uns auferlegt.
({5})
Das Wort hat der Kollege Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf einmütig zustimmen.
Ich muß Ihnen sagen, ich habe den Eindruck, daß keine Seite des Hauses eine wirkliche Veranlassung hat, sich über die andere Seite des Hauses zu erheben. Ich wundere mich nicht, daß die Teile der Öffentlichkeit, die überhaupt verstehen, worüber wir hier streiten, nicht verstehen, daß wir uns streiten.
Wenn die gemeinsame gute Absicht des Hauses, die Gleichstellung jüdischer Vertriebener mit deutschen Vertriebenen, in ein Zwielicht gerückt worden ist, können wir das doch eigentlich nur gemeinsam und ohne Einschränkung bedauern.
({0})
Bei mir fliegen anonyme Schreiben in den Papierkorb. Und es wäre ein Teil parlamentarischer Kultur, daß wir uns, wenn wir uns schon im Plenum gegenseitig Vorhaltungen machen, dann nicht auf Anonyme berufen, sondern Roß und Reiter nennen.
({1})
Die Gleichstellung jüdischer Vertriebener, die aus Gründen, die wir verstehen können und nicht zu erörtern brauchen, nicht formal die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, mit deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen ist ja schon längst durch § 17 a des Fremdrentengesetzes geschehen.
Hier geht es um etwas ganz anderes, das zu großen Worten nicht einmal Veranlassung bietet; nämlich um die Tatsache, daß diejenigen, die eine Fremdrente beziehen wollen, entweder selbst in der Bundesrepublik leben müssen oder die Möglichkeit haben müssen, sich nachzuversichern. Und hier geht es um die Opfer, die heute in Israel oder in den Vereinigten Staaten leben und denen wir die Möglichkeit eröffnen wollen, sich nachzuversichern. Alle Fraktionen dieses Hauses sind sich einig, daß das geschehen soll, und zwar unabhängig davon, wie wir innerstaatlich die Finanzierungsseite bewältigen.
Zu den Auseinandersetzungen im Arbeits- und Sozialausschuß kann ich nur sagen: Herr Kollege Scharping, man kann das nicht damit abtun, daß
man sagt, das sei 1 Pfennig auf 1 000 Mark, sondern es geht immerhin um Beträge, die man nennen kann, also um jährlich 200 Millionen DM mit sinkender Tendenz, die ab dem Jahr 2015 wegen des Lebensalters der Betreffenden keine Rolle mehr spielen.
Die Diskussion ging nur darüber, wie diese Mittel aufgebracht werden sollen. Wir sind natürlich im Grundsatz der Meinung, daß die Folgen aus Krieg und Gewaltherrschaft von allen Steuerzahlern und nicht nur von der Rentenversicherungsgemeinschaft erbracht werden sollten. Aber ich wiederhole, daß diese Grundhaltung, diese Diskussion unter keinen Umständen dazu führen darf, daß die jüdischen Opfer darunter leiden, denen wir diese Leistungen zukommen lassen wollen und zukommen lassen müssen. Sie sind alle längst über 70 Jahre, haben Erwartungen, berechtigte Hoffnungen, und wir können sie nicht - ich weiß nicht, auf wann - vertrösten.
Darum sage ich ausdrücklich auch im Namen der Vertreter meiner Fraktion, die sich im Ausschuß nur aus diesem Grund der Stimme enthalten haben, daß wir als Fraktion hier im Plenum diesen Gesetzen selbstverständlich gemeinsam zustimmen werden, weil wir wollen, daß diese Leistungen erbracht werden, die unserem Wollen, unserem Ansehen und unseren Interessen entsprechen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Lüth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wie alle Vorrednerinnen und Vorredner festgestellt haben, ist es höchste Zeit, daß die bereits 1989 beschlossenen Zahlungen von Renten an Juden aus den osteuropäischen Ländern, die in Israel und den USA eine neue Heimat gefunden haben, durch Ratifizierung der vorliegenden Zusatzabkommen endlich in die Tat umgesetzt werden.
Im Juni letzten Jahres leitete der Bundeskanzler die Gesetzesvorlagen dem Bundestag und dem Bundesrat mit dem Vermerk „Besonders eilbedürftig" zu. Zeit ist geduldig, aber in manchen Fällen kann es schon zu spät sein. Es ist bezeichnend, daß gerade von der CDU/CSU-Fraktion eine Verzögerungstaktik gestartet wurde. Immer dann, wenn die Wahrung der Rechte von Menschen einer gewissen politischen Brisanz unterliegt, tun sich Abgeordnete der CDU/ CSU schwer, nicht nur beim Thema Rentenüberleitung.
Finanzierungsfragen sollten nicht auf Kosten der Betroffenen gelöst werden - das ist heute, glaube ich, von allen Rednerinnen und Rednern eindeutig gesagt worden. Sicher ist dringend die Frage zu prüfen, welche Leistungen der Rentenversicherung durch Beitragszahlungen zu decken sind und welche durch Bundeszuschüsse. Da sind wir gespannt, wie die Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der SPD erfolgt.
Wenn aber allein für Fremdrentenzahlungen derzeit 11 Milliarden DM ausgegeben werden, dann ist die Diskussion über jährlich rund 200 Millionen DM für die erwarteten Leistungsansprüche von osteuropäischen Juden auch angesichts der Relation total verfehlt. Wenn dann noch in der Presse eine Größenordnung von 2,3 Milliarden DM lanciert wird und außerhalb dieses Hauses fast niemand davon spricht, daß die im Ausland lebenden Juden den Antrag erst mit nachzuentrichtenden Beiträgen geltend machen können - diese Beiträge decken zunächst über einige Jahre sämtliche Ansprüche, wie wir schon mehrfach gehört haben -, dann ist das wohl etwas, was man unseriös nennen kann. Vielleicht betrifft gerade das auch das, was der Staatspräsident Weizman in dieser Woche hier gesagt hat.
Die Gruppe der PDS wird diesen Anträgen zustimmen.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Zusatzabkommen mit dem Staat Israel über Soziale Sicherheit auf Drucksache 13/1809. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3499, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist bei zwei Gegenstimmen aus der Unionsfraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Zusatzabkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit auf Drucksache 13/1811. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3499, auch diesen Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die zustimmen wollen, bitten, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist bei zwei Gegenstimmen aus der Unionsfraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15 e sowie Zusatzpunkt 5 auf:
15. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 13/3495 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Vizepräsident Hans Klein
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Sielaff, Anke Fuchs ({1}), Dr. Gerald Thalheim, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleich währungsbedingter Einkommensverluste
- Drucksache 13/3143 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({2})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christa Nickels, Amke Dietert-Scheuer, Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Petitionsrecht und parlamentarische Kontrolle im Bereich der Telekommunikation und des Postwesens
- Drucksache 13/3327 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) Petitionsausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, Gerhardt Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Demokratische und soziale Antworten auf die Herausforderungen der neuen Informationstechnologien
- Drucksache 13/2740 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({4})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Post und Telekommunikation
e) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen ehemaligen US-Wohnsiedlung Paul-Revere-Village in Karlsruhe an die Stadt Karlsruhe und die Volkswohnung GMbH Karlsruhe
- Drucksache 13/3274 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
ZP5 weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 13/3475 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({6})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 G
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Entwurf zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes auf Drucksache 13/3495 soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis 16j sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:
16. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlegung des Sitzes des Bundesarbeitsgerichts von Kassel nach Erfurt
- Drucksache 13/2712 - ({7})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({8})
- Drucksache 13/3303 -
Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Grund
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/3311 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermenau
Ina Albowitz
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({10}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung einer bundeseigenen Liegenschaft in Magdeburg ({11}) an das Land Sachsen-Anhalt
- Drucksachen 13/2874, 13/3254 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
Vizepräsident Hans Klein
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltausschusses ({12}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksachen 13/3027, 13/3255 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 656 06 - Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherung der Arbeiter in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - und Titel 656 07 - Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherung der Angestellten in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet -
- Drucksachen 13/2857, 13/3092 Nr. 7, 13/3256 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel
Antje Hermenau
Ina Albowitz
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({14}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02
Titel 686 24 - Nahrungsmittelhilfe -
- Drucksachen 13/2826, 13/3092 Nr. 5, 13/3257 -
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Emil Schnell
Michael von Schmude
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 681 05 - Altersübergangsgeld für Empfänger in den neuen Bundesländern ({16}) - Drucksachen 13/2856, 13/3092 Nr. 6, 13/3258 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Ina Albowitz Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 Titel 683 01 - Lohnkostenzuschüsse an Arbeitgeber zur Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser -
- Drucksachen 13/2806, 13/3092 Nr. 3, 13/3259 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Ina Albowitz
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({18}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 642 07 - Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschußgesetzes -
- Drucksachen 13/2993, 13/3092 Nr. 8, 13/3260 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Jacoby Ina Albowitz
Dr. Konstanze Wegner Kristin Heyne
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({19}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 30 22 Titel 685 02 - Sonderprogramm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern und Berlin ({20}) -
- Drucksachen 13/2823, 13/3092 Nr. 4, 13/3261 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Steffen Kampeter Antje Hermenau Jürgen Koppelin
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 1995
hier: überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 - Zuschüsse zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit
({22}) - Drucksachen 13/2805, 13/3092 Nr. 2, 13/3262 Berichterstattung:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Jürgen Koppelin
Ilse Janz
Kristin Heyne
Vizepräsident Hans Klein
ZP6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({23})
a) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes
- Drucksache 13/2580 - ({24})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({25})
- Drucksache 13/3199 Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Spanier Norbert Otto ({26})
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
({27}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/3200 -
Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Pützhofen
Jürgen Koppelin Dr. Rolf Niese
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes
- Drucksache 13/2711 - ({28})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({29})
- Drucksache 13/3504 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Dieter Thomae
Tagesordnungspunkt 16 a: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verlegung des Sitzes des Bundesarbeitsgerichts von Kassel nach Erfurt auf Drucksache 13/2712. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/3303, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkte 16b und 16c: Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung bundeseigener Liegenschaften in Magdeburg und in Berlin auf Drucksachen 13/3254 und 13/3255. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlungen sind einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 16d bis 16j: Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1995 auf Drucksachen 13/3256 bis 13/3262. Es handelt sich um überplanmäßige Ausgaben beim Zuschuß des Bundes an die Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten im Beitrittsgebiet, bei der Nahrungsmittelhilfe, beim Altersübergangsgeld für Empfänger in den neuen Bundesländern, bei den Lohnkostenzuschüssen an Arbeitgeber zur Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser, bei den Ausgaben nach dem Unterhaltsvorschußgesetz, beim Sonderprogramm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern und Berlin ({30}) sowie bei den Zuschüssen zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit.
Der Ausschuß empfiehlt, von den überplanmäßigen Ausgaben Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Zusatzpunkt 6a: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zur Änderung des Wohngeldgesetzes auf Drucksache 13/2580. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 13/3199, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der PDS auf Drucksache 13/2580 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Der Kollege Warnick hat sich zu einer Erklärung zur Abstimmung gemeldet.
({31})
- Dann müssen Sie sich vorher melden, Herr Kollege. Es hat keinen Sinn, wenn mir während des Abstimmungsprozesses ein Zettel hergereicht wird. Aber Sie können, wenn Sie wollen, Ihre Erklärung abgeben. Sie können Sie auch schriftlich zu Protokoll geben. *)
Zusatzpunkt 6 b: Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundes-Seuchengesetzes, Drucksache 13/2711. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 13/3504, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
*) Anlage 3
Vizepräsident Hans Klein
chen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen worden.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung anläßlich des vom Bundesrat am 15. Dezember 1995 einstimmig beschlossenen Importverbots für britisches Rindfleisch, der Entwicklung der BSE-Endemie im Vereinigten Königreich und des Auslaufens der BSE-Verordnung am 6. Februar 1996
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Antje Steen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kampf um den notwendigen Verbraucherschutz im Zusammenhang mit der BSE scheint sich zu einer unendlichen Geschichte auszuweiten, unter die der Bundesgesundheitsminister - man möchte sagen: fast trotzig - nun durch eine dauerhaft geltende Unbedenklichkeitszuschreibung einen Schlußstrich ziehen will.
Woher, Herr Minister, nehmen Sie den Mut dafür? Auf welcher Basis neuer wissenschaftlich fundierter Kenntnisse fußt Ihr ungeheuerlicher Optimismus? Haben Sie keine Lehren aus Ihren bisherigen Fehleinschätzungen gezogen? Realität ist doch, daß Ihre löchrige Verordnung weder die Zustimmung des Bundesrates noch die der Verbraucherinnen und Verbraucher erfährt.
({0})
Die Veränderungen im tatsächlichen Geschehen bezüglich der Rinderpopulation in England machen deutlich, daß sich die bisherigen Entscheidungen sowohl der EU-Kommission als auch des Bundesgesundheitsministers immer wieder auf im nachhinein festgestellte eklatant fehlerhafte Beurteilungen der Sachlage gestützt haben.
({1})
Trotzdem, Herr Minister, wollen Sie es weiter gelten lassen und ab dem 5. Februar auf Dauer etablieren, daß - ich zitiere aus Ihrer Verordnung - „frisches Fleisch von Rindern, die zum Zeitpunkt der Schlachtung nicht älter als zweieinhalb Jahre alt sind, auf den deutschen Markt gelangt".
Wie aber, Herr Minister, begründen Sie diese Form von „Verbraucherschutz", wenn unter den Tieren aus den Geburtsjahren 1992 und 1993 Fälle von BSE-Erkrankungen bekanntgeworden sind? Eigentlich sind diese Jahrgänge nach Ihrer Verordnung offiziell als BSE-frei zu deklarieren. Hier taucht zum wiederholten Male die Frage nach den Infektionswegen auf.
Sollte es doch nicht ausschließlich die Verfütterung von kontaminiertem Tiermehl gewesen sein, die diese Krankheit auslöst? Welche Infektionsquellen sind es dann? Fragen über Fragen, die von Ihnen nicht überzeugend beantwortet werden und die erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Handlungsbereitschaft der Bundesregierung im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes aufkommen lassen.
({2})
Was macht Sie so sicher, daß die Gesundheitsgefahr durch den Verzehr von Fleisch aus BSE-befallenen Tierbeständen zu vernachlässigen ist, wenn weder die Erregerstruktur noch die Übertragungswege bekannt sind?
({3})
Geht mit der Verkürzung der Inkubationszeit eventuell auch eine Veränderung des Erregers einher? Gibt es gesicherte Methoden und eine frühzeitige Diagnostik, um infizierte Tiere rechtzeitig auszusondern?
Der Verweis auf eine angeblich einheitliche wissenschaftliche Bewertung besonders auch neuerer Erkenntnisse ist schlichtweg falsch. Es fehlen gesicherte Beweise. Die wissenschaftliche Diskussion ist keineswegs abgeschlossen.
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Im Gegenteil, laufende Studien und immer neue Teilergebnisse heizen die Diskussion unter den Wissenschaftlern weiter an. Der Erreger ist weder in seiner Struktur noch in seiner offenbar vielfältigen Aktivität und seinen Variationsmöglichkeiten bekannt. Inzwischen schließen selbst englische Wissenschaftler eine Übertragung vom Muttertier auf das Kalb, aber auch eine Übertragbarkeit auf den Menschen längst nicht aus.
Konsequent sind dagegen die Beschlüsse des Bundesrates vom 15. Dezember 1995, die ein totales Verbringungs- und Exportverbot für Rindfleisch und Tiermehle aus dem Vereinigten Königreich fordern wie auch ein solches für Rindfleisch aus anderen Mitgliedstaaten, den Vertragstaaten des EWR und Drittländern, in denen BSE aufgetreten ist. Dieses Verbot schließt auch die Tiermehle und das Fleisch der mit dem Tiermehl gefütterten landwirtschaftlichen Nutztiere ein. Diese Beschlüsse des Bundesrates unterstützen wir in vollem Umfang und fordern das auch von der Bundesregierung.
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Die Gesundheits- und Landwirtschaftsexperten im Bundesrat haben Ihnen, Herr Minister, die Realitäten und damit Ihre Fehleinschätzung Ende Dezember letzten Jahres deutlich gemacht, und ich hätte mir
gewünscht, Sie hätten die Beschlüsse ernst genommen und die Forderung nach einem totalen Importverbot auch umgesetzt.
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Es ist doch schon sehr bemerkenswert, daß der Bundesrat über alle Fraktionsgrenzen hinweg einstimmig diese Forderung vertreten hat. Ist es nicht auch für Sie, Herr Minister, endlich ein deutliches Signal, eine Aufforderung zum Handeln, wenn auch Ihr Bundesland Bayern diesen weitgehenden Beschluß mitträgt, ja sogar Initiator des totalen Export- und Verbringungsverbotes für Tiermehle und Rinder aus England und Nordirland in Drittländer ist?
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Wir möchten Sie auffordern, endlich zu handeln und im gesundheitlichen Verbraucherschutz in Deutschland eine führende Rolle zu übernehmen.
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Frau Kollegin Editha Limbach, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte vor einiger Zeit eine Besuchergruppe von jungen berufstätigen Menschen, die in weiterqualifizierenden Ausbildungsmaßnahmen waren, um im Beruf weiterzukommen. In dieser Diskussion haben sie mich gefragt, ob wir uns im Bundestag eigentlich immer darüber im klaren wären, welches wichtige und vordringliche Punkte und welches weniger wichtige und weniger vordringliche Punkte seien
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und ob wir nicht gelegentlich Punkte hochpuschten, die nicht hochgepuscht werden sollten, und dafür andere, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienten, vielleicht weniger aufmerksam verfolgten.
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Wenn sie heute nachmittag bei mir wären und nicht im Dezember hier gewesen wären, würde ich ihnen sagen müssen, leider hätten wir heute mittag eine Aktuelle Stunde gehabt, die ihre Skepsis bestätige, denn was ist wirklich so neu, so schwierig und so besonders, daß heute dieses Thema behandelt werden müßte?
BSE ist seit zehn Jahren bekannt, Scrapie, die vergleichbare Krankheit bei Schafen, 200 Jahre, aber seit knapp zwei Jahren hat der Bundesrat entdeckt, wie außerordentlich gefährlich das ist, obwohl es in Europa eine Richtlinie gibt, die auch angepaßt und erneuert wurde, die den notwendigen gesundheitlichen Verbraucherschutz sicherstellt.
Nun kann man natürlich bei einer Regelung immer sagen, daß einem noch mehr einfällt, aber wenn das gemeinschaftliche Regeln sind - und wir gehören nun einmal zur Europäischen Union, wir wollen das auch, und wir ziehen ja auch Vorteile daraus -, dann muß man sich natürlich auch an diese gemeinschaftlichen Regeln halten.
Ich denke, die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition und auch die zuständigen Minister im Bundesrat sollten sich vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, daß eine europäische Richtlinie - bei dieser ist es wohl Art. 2, in dem das steht - sich an alle Mitgliedstaaten richtet und daß natürlich auch alle Mitgliedstaaten in diesem Falle ihre Handelsvorschriften entsprechend ausrichten müssen.
Was der Bundesrat von der Bundesregierung verlangt, würde im deutschen Sprachgebrauch einfach Rechtsbrechung heißen. Der Bundesgesundheitsminister soll nämlich eine Verordnung erlassen, die dem europäischen Recht widerspricht,
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ohne daß der Bundesrat auch nur den geringsten Versuch gemacht hätte und ohne daß Sie den Versuch machten, zu sagen, wie das denn zu begründen wäre und auf welcher Rechtsgrundlage das denn stattfinden soll.
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Ich bin einmal gespannt, was denn, wenn Anfang Februar die jetzt geltende Dringlichkeitsverordnung ausläuft, der Bundesrat und die Länder, die den Mund so voll genommen haben, nun für den vorsorgenden Verbraucherschutz tun, weil nämlich sonst, wenn sie nichts tun, ab dem 6. Februar für die nächsten drei Monate ein rechtsfreier Raum entsteht.
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Man muß auch einmal die Menge sehen. Überwiegend wird in Deutschland Rindfleisch aus deutschen Beständen oder jedenfalls aus nicht-britischen Beständen in die Vermarktung gebracht und verzehrt. Ungefähr eineinhalb Lastwagen pro Quartal kommen aus England.
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Dann will ich einmal sehen, wie die Mitglieder des Bundesrates, die den Mund so voll genommen haben, jetzt dafür sorgen, daß auch in der Zeit, wo die Sache zur Notifizierung bei der Europäischen Kommission liegt, in Deutschland das getan wird, was sie für so nötig halten. Ich bin gespannt, wie das gehen soll und ob das geht.
Ich glaube nicht, daß ich durch die Wahl der Mehrheit der Bürger der Stadt Bonn - diesen Wahlkreis vertrete ich - mit zusätzlichen Qualifizierungen ausgestattet wurde, die mich in die Lage versetzen, das, was ein wissenschaftlicher Veterinärrat, dem Wissenschaftler aus sehr vielen Ländern, auch aus Deutschland, angehören, für unbedenklich hält, kraft eigener Erkenntnis für bedenklich zu halten.
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Sie wissen auch - das muß ich jetzt einmal sagen -, daß es durchaus Krankheiten gibt, bei denen wir beim vorsorgenden Gesundheitsschutz auf Drängen der Länder ein bißchen abwägen - rohe Milch, Salmonellengefahr -, bei denen es aber schon Todesfälle gegeben hat und bei denen es ganz eindeutig ist, daß sie auf Menschen übertragen werden können, wogegen bei BSE die Wahrscheinlichkeit, daß es nicht auf Menschen übertragen wird, so hoch ist, daß der Wissenschaftliche Veterinärausschuß gesagt hat: Das, was wir jetzt sagen, ist vorbeugender Gesundheitsschutz, das reicht aus. - Ich frage mich auch, ob das, was Franzosen, Dänen, Briten, Italiener, Portugiesen, Spanier, Griechen vor gesundheitlichen Schäden bewahrte, ausgerechnet die Mitglieder des Bundesrates dazu veranlaßt, zu sagen, das wäre bei uns nicht der Fall.
Ich würde mir wünschen, in vielen anderen und wichtigeren Punkten würden wir uns so intensiv mit der Sache befassen, wie Sie das hier mit BSE tun. Der vorsorgende Gesundheitsschutz ist wichtig. Er muß sichergestellt werden, aber er muß in dem Rahmen sichergestellt werden, in dem es erforderlich ist und in dem es gesetzlich möglich ist.
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Frau Kollegin Monika Knoche, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! In England hilft man sich mit schwarzem Humor weiter. Dort sagt man: Wenn du äußerst schräg drauf sein willst, dann mußt du Fleisch essen.
BSE ist die Ursache für den Tod von 130 000 Tieren. Noch immer sterben wöchentlich 450 Tiere. Es gilt als gesichert, daß die neurodegenerative Krankheit eine Folge der unartgemäßen Verfütterung ist. Es sind eben in der industriellen Nutztierproduktion Wiederkäuer zu Fleischfressern gemacht worden.
Über die Übertragbarkeit der Krankheit auf den Menschen weiß man in der Tat noch nichts genaues. Man weiß aber, daß vier Bauern und zwei junge Leute an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkrankt und verstorben sind. Nach vorläufigen Untersuchungen in England ist die Erkrankungsrate nicht angestiegen, doch der Erreger dieses Rinderwahnsinns ist nach wie vor nicht bekannt. Man weiß nicht, ob es sich um Eiweiß oder einen Virus handelt. Es werden verschiedene Erklärungsmodelle und Arbeitshypothesen über die Natur dieses neuen Erregertypus diskutiert. Es hilft der Politik natürlich auch nicht weiter, wenn die Wissenschaft im Streit liegt. Doch sie muß handeln. Darum geht es heute.
Noch im Sommer 1995 sagten Sie, Herr Minister Seehofer - im „Spiegel" konnte ich es nachlesen -, daß keine Gefahr von Importfleisch ausgehe durch das, was Sie auf EU-Ebene getan hätten, und daß Sie alles so regeln würden, daß man davon ausgehen kann: Sollte es auf den Menschen übertragbar sein, seien sie davor geschützt.
Nun wissen wir, daß die Importwege nach Deutschland sehr verschlungen sind, über Frankreich, über andere Länder führen. Der Direktimport ist bei dieser Frage, werte Kolleginnen und Kollegen, gar nicht das Hauptthema. So wissen wir schon heute, daß die harten Maßnahmen von damals durchlöchert oder durchlöcherbar sind, und auch die Übertragung der Krankheit vom Muttertier ist mittlerweile belegt.
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Was auf den Tisch kommt - und das ist die Frage -, kann und darf uns nicht Wurscht sein. Die Regierung handelt derzeit einzig schlagkräftig mit dem Verteidigungsminister, der es nämlich untersagt, in Schleswig-Holstein Eurofleisch zu verbraten.
Die deutschen Verbraucherinteressen vertreten im Moment wirklich nur die Bundesländer konsequent. Es ist so, daß von ihnen das totale Importverbot verlangt wird, bis die Aufklärung der Übertragungswege erfolgt ist, und eine bundeseinheitlich verbindliche Herkunftsbezeichnung für die Fleischprodukte usw. wurde von den Bundesländern auch angemahnt.
Die nordrhein-westfälische Umweltministerin, Frau Höhn, brachte die einheimischen Erzeuger und Hersteller an einen Tisch und zu einer großen Selbstverpflichtung. Das sind zum Beispiel Modelle, die in den Ländern erfolgreich durchgeführt worden sind, weil man dort eben sagt: Prioritär muß der Verbraucherschutz sein.
Die Bundesländer haben am 15. Dezember - interessanterweise mit Bayern - noch einmal das totale Importverbot gefordert,
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eben so lange, bis die Aufklärung erfolgt ist. Am 6. Februar läuft die Dringlichkeitsverordnung aus. Das macht die Sache so aktuell.
So versuchen Sie doch bitte mal, Herr Seehofer, in diesem Punkt nicht auf Konfliktkurs mit dem Bundesrat zu gehen, wie Sie das in neuerer Zeit so gerne in allen gesundheitspolitischen Fragen machen.
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Es kann, glaube ich, doch gar nicht in Ihrem Interesse sein, daß sich in dieser Bundesrepublik die Bewohner und Bewohnerinnen der rot-grün regierten Länder vor BSE am sichersten fühlen.
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Das Wort hat die Kollegin Lisa Peters.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und meine Damen! Wir beschäftigen uns hier wieder mit einem Thema, das uns schon oft beschäftigt hat. Ich gehe einmal davon aus, Herr Minister Seehofer, daß es uns auch noch weiter beschäftigen wird.
Am 6. Februar - so die Tatsachen - muß der Bundesgesundheitsminister die Verordnung, die bis dahin befristet ist, aufheben oder durch eine neue Verordnung ersetzen. Und das soll auch so geschehen. Es soll eine Dauerregelung werden; wenn ich alles richtig verstanden habe, ist es wohl so. Dazu wird die Zustimmung des Bundesrates erwartet. Die ist zwar gegeben worden, aber mit vielen Anmerkungen; das ist hier schon gesagt worden. Der Bundesrat hat zusätzliche Änderungen und Ergänzungen eingefordert. Hier liegt nun das Dilemma, und hier liegen auch die Meinungsverschiedenheiten.
Fest steht für mich, daß wir nach dem 7. Februar eine Anschlußregelung brauchen, weil wir sonst völlig ungeschützt sind. Wir können es einfach nicht zulassen, daß unsere Verbraucher und Verbraucherinnen ohne Schutz dastehen.
Aber das Ganze soll, und das ist auch angeschnitten, EU-konform, EU-verträglich sein. Ich möchte aber das Thema doch noch ein bißchen anders aufgreifen und nicht nur rein technokratisch - bürokratisch und völlig EU-treu betrachten, sondern einfach auch mal aus meiner Sicht. Ich denke, Herr Seehofer, das gestatten Sie. Ich möchte das sehr aus der Sicht der Verbraucher und Verbraucherinnen tun. Dabei möchte ich sagen - Frau Limbach, da unterscheiden wir uns -, daß ich deren Sorgen ernst nehme.
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- Gut, das kommt noch.
Die Verbraucher in der Bundesrepublik wollen einfach wissen, was los ist, und sie wollen wissen, wenn sie Fleisch verzehren, ob es aus England ist, ob man erkennen kann, wenn es eingeführtes Rindfleisch ist, und wie das läuft - oder ob es Risiken gibt.
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Mir ist bekannt, und ich komme ja aus dem Metier, daß die deutschen Verbraucher und Verbraucherinnen wesentlich kritischer sind als die in anderen Ländern Europas.
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Sie nehmen nichts mehr kritiklos hin, sie machen sich ihre Gedanken, und sie haben, Frau Limbach, auch Ängste. Ich denke, das müssen wir zugeben.
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Wir haben unseren Bürgern und Bürgerinnen in den letzten Jahren, meine Herren und meine Damen, wirklich eine unheimlich gute Beratung angedeihen lassen, sie zu kritischen, gesundheitsbewußten Menschen erzogen. Sie wollen gesund bleiben; sie wollen alt werden und auch gesund alt werden.
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Dazu gehört eine gesunde Ernährung.
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Ich sage ganz bewußt das, was ich hier heute vorbringen möchte. Die deutsche Landwirtschaft hat sich in den letzten Jahren unheimlich angestrengt und hat gute Qualitätsnahrungsmittel erzeugt. Wir liefern ausgezeichnete Rohprodukte; es kann etwas Gutes daraus gemacht werden.
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Gerade gestern abend auf der Grünen Woche in Berlin hat Herr Heereman - das ist Ihnen sicher auch recht - noch einmal ein gutes Beispiel gegeben, und er hat ganz klar gesagt - das gebe ich hier wieder -: Verbraucher wollen mehr Sicherheit bei Nahrungsmitteln haben.
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Rindfleisch mit kontrolliertem Herkunftsnachweis wird von der Landwirtschaft gefordert. Wir haben die Vorleistungen erbracht. Hier in der Bundesrepublik hat jedes Kalb jetzt seinen Tierpaß.
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Irgendwann in zwei Jahren kann man sehen: Herkunft und Halter der Tiere. Wir haben dann ein Herkunftssicherungssystem. All das wird gefordert, und wir in der Bundesrepublik, die wir uns unsere Kunden erhalten wollen, müssen das leisten.
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Ich möchte nicht, daß weiterhin auf der ganzen Linie Kaufenthaltung geübt wird und daß das vielleicht auch auf andere Fleischarten übergreift. Nehmen Sie mir das nicht übel; ich bin Bäuerin, und ich weiß, wovon ich rede.
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Die Bevölkerung ist weiterhin beunruhigt. Das ist ja auch durch negative Nachrichten, von denen ich nicht weiß, ob sie richtig sind, in letzter Zeit geschürt worden.
Herr Seehofer, Sie rügen in Ihrer Pressemitteilung vom 15. Dezember die Bundesländer wegen einer anderen Sache. Das ist richtig so. Ich denke, das kann anders gemacht werden. In dieser Presseerklärung sagen Sie außerdem: Dagegen ist bei BSE die Übertragbarkeit auf Menschen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eher unwahrscheinlich. Ich habe mir das durchgelesen und habe gedacht: Sie, Herr Seehofer, haben gesagt „eher unwahrscheinlich" und nicht „nicht möglich" . Also bleibt auch für Sie ein Rest an Unsicherheit. Davon gehen wir einmal aus.
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Ich will das nun überhaupt nicht kritisieren. Sie müssen etwas tun, Herr Seehofer. Darin unterstütze ich Sie auch. Aber ich möchte ganz klar und deutlich sagen: Geben Sie doch Ihrem Herzen noch einmal
einen Stoß. Ist denn wirklich alles gemacht worden in der EU?
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Kann man da nicht noch etwas machen? Können Sie nicht einmal wieder durch Ihre Überzeugungsarbeit die 14 anderen EU-Länder auf einen besseren Weg bringen? Ich will Sie hier einfach nur darum bitten. Ich will nichts verurteilen; ich will nur sagen: Bitte, versuchen Sie doch einfach einmal, die Besorgnisse der deutschen Bevölkerung dort noch ein bißchen deutlicher zu machen. Es ist ja in den letzten Jahren nicht besser geworden; ich muß das hier alles nicht noch einmal erwähnen.
Bei mir leuchtet jetzt das gelbe Licht auf. Ich muß leider aufhören. Ich bedanke mich für das Zuhören. Ich möchte nur, daß Sie diese kritischen Dinge mitnehmen und daß Sie nicht nur an die Verbraucher und Verbraucherinnen denken, sondern auch an die Landwirte, die wirklich darauf angewiesen sind, daß weiterhin das Fleisch, das wir hier erzeugen, auch gekauft wird.
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Wenn das passieren kann, wäre das sehr schön.
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Das Wort hat die Kollegin Ruth Fuchs, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bekanntlich hat es immer auch ernstzunehmende Fachleute gegeben, die befürchteten, daß die seit Mitte der 80er Jahre in England auftretende neue und gefährliche Rinderkrankheit auch auf den Menschen übertragen werden kann. Die bisher in England selbst und im Rahmen der EU getroffenen Schutzmaßnahmen gingen und gehen allerdings davon aus, daß eine Gefährdung des Menschen nicht zu befürchten ist. In diesem Zusammenhang dürfen nach wie vor Rindfleisch und entsprechende Produkte aus Großbritannien - wenn auch nur unter bestimmten Voraussetzungen - exportiert werden.
Aber auch wenn es durchaus gewichtige Hinweise, übrigens neben den epidemiologischen inzwischen auch erste medizinisch-experimentelle, dafür gibt, daß die Barriere zum Menschen nicht überwunden wird, so kann dies beim bisherigen Kenntnisstand keineswegs mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden.
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Um so mehr mußten die in den letzten Monaten bekanntgewordenen, höchst beunruhigenden Tatsachen aufhorchen lassen. Im Juni 1995 erkrankte bekanntlich das erste Rind aus dem Jahrgang 1992, für den dies bis dahin auf Grund des erlassenen Verbots der Fütterung von verseuchtem Tiermehl als völlig ausgeschlossen galt. Aber inzwischen sind weitere Tiere, darunter auch aus dem Geburtsjahr 1993, gefolgt. Damit muß zweifellos weiter mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß der Erreger seine Eigenschaften und auch seine Übertragungsfähigkeit verändert haben könnte. Angesichts dieser Situation kann verantwortungsbewußtes Handeln in der Tat nur darin bestehen, alle Sicherheitsvorkehrungen so zu treffen, als wäre die Übertragbarkeit auf den Menschen eine reale Gefahr. Wenn man es unter diesem Aspekt betrachtet, reicht es natürlich nicht aus, lediglich eine Bitte an die EU-Kommission zu richten, sie möge ihre bisherigen Maßnahmen im Lichte der aktuellen Entwicklung erneut überprüfen. Selbstverständlich wäre es besser, EU-weite und einvernehmliche Lösungen zu erzielen. Da dies aber nach wie vor unmöglich erscheint, muß die Bundesregierung, möglichst einhellig unterstützt von diesem Hause, spätestens jetzt den Mut zum Handeln in eigener Verantwortung finden.
Zu fordern ist, daß endlich ein umfassendes Einfuhrverbot für britisches Rindfleisch und generell für Rindfleisch aus Beständen, in denen BSE aufgetreten ist, in Kraft gesetzt wird. Das gleiche muß für eindeutige Kennzeichnungs- und Deklarationspflichten gefordert werden. Zunächst sollte dies wenigstens bis 1997 gelten, das heißt bis zu jenem Zeitpunkt, zu dem die Ergebnisse aussage- und beweiskräftiger epidemiologischer Längsschnittstudien aus England vorliegen werden.
Der Kardinalfehler, der im Zusammenhang mit HIV-verseuchten Blutprodukten gemacht wurde, darf sich keinesfalls wiederholen. Im Zweifelsfall - der ist nun einmal nicht ausgeschlossen - muß gesundheitliche Vorsorge und menschliche Sicherheit uneingeschränkten Vorrang erhalten. Die Bundesregierung sollte somit eher eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof riskieren als das Leben und die Gesundheit der Menschen, für die sie verantwortlich zu handeln hat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe ja viel Verständnis, Frau Peters, für manche Gefühle, die hier geäußert werden.
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Ich muß mich aber etwas nach den Realitäten richten, und ich versuche, dies hier in einigen Punkten darzustellen.
Das erste. Wir haben es ohne Zweifel - da stimmen wir überein - mit einem Bereich zu tun, der innerhalb der Europäischen Union harmonisiert ist, also um ein
Gebiet, in dem Recht nicht durch die Bundesrepublik Deutschland gefunden, gesucht und gesetzt wird, sondern durch die Europäische Union. Ich denke, daß dies aus gutem Grunde so ist, denn in einer Zeit der offenen Grenzen und des freien Warenverkehrs ist glaubwürdiger, wirksamer und dauerhafter Verbraucherschutz national ernsthaft nicht zu gewährleisten. Deshalb ist dieser Bereich aus gutem Grunde harmonisiert worden.
Das zweite. Wir haben bis Anfang 1995 zwischen den Ländern, dem Bundestag und der Europäischen Union eine übereinstimmende Verbraucherschutzpolitik im Zusammenhang mit Rinderwahnsinn betrieben - bis Anfang 1995, also insbesondere in der Zeit, in der die Masse der Tiere erkrankt ist, nämlich weit über 100 000 in den Jahren 1989, 1990, 1991 und 1992. Ich verstehe die Frage, die uns in der Europäischen Kommission gelegentlich gestellt wird, wieso die Deutschen jetzt bei einer abflachenden Endemie auf Schutzmaßnahmen drängen, die sie jedoch in einer Zeit, in der die Endemie auf dem Höhepunkt war, nämlich 1989 bis 1992, nicht gefordert haben. Das ist auf internationaler Ebene auf den ersten Blick nicht ganz verständlich.
Das dritte. Wir haben immer gesagt, daß wir als Bundesregierung - das haben wir auch so praktiziert - alle Informationen, die wir zur BSE oder zur Creutzfeldt-Jakob-Krankheit haben, unverzüglich durch den Wissenschaftlichen Veterinärausschuß der Europäischen Kommission bewerten lassen. Wir haben nie gesagt: einmal bewertet, immer bewertet. Die letzte Sitzung dieses Ausschusses fand am 20. November 1995 statt. Diese Sitzung hat wieder einhellig zu dem Ergebnis geführt, daß die geltenden gemeinschaftsrechtlichen BSE-Schutzmaßnahmen im Sinne des vom Bundesrat getroffenen Beschlusses nicht verschärft werden müssen - einhellig: Alle Wissenschaftler - und auch alle 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union - kamen zu diesem Ergebnis.
Nun haben wir das Problem, daß wir diesen Konflikt seit Anfang des letzten Jahres nur durch Dringlichkeitsverordnungen überbrücken konnten, weil wir zu einer Dringlichkeitsverordnung als Bundesregierung keine Zustimmung des Bundesrates brauchen. Durch diese Dringlichkeitsverordnungen wurden jetzt ein Jahr lang die EU-Beschlüsse, die ständig überprüft wurden, EU-konform umgesetzt. Die letzte Dringlichkeitsverordnung, die im Moment gilt, läuft bekanntlich am 6. Februar 1996 aus.
Wir haben jetzt das schwierige Problem zu lösen, daß wir auf der einen Seite die alleinige Rechtsetzungs- und Bewertungskompetenz der Europäischen Kommission haben und auf der anderen Seite zur Umsetzung des europäischen Rechts innerhalb der Bundesrepublik Deutschland die Zustimmung des Bundesrates brauchen, die wir nicht bekommen.
Wir haben die Kommission mit der jetzigen Situation konfrontiert, und zwar nicht im Sinne einer Bitte, sondern wir haben den Beschluß des Bundesrates formell notifiziert. Das löst nach den Verträgen zwingend die Notwendigkeit aus, daß die Europäische Kommission die Mitgliedsländer mit der Position des Bundesrates befaßt. Andererseits hat dies zur Folge, daß wir drei Monate lang abzuwarten haben, wie die Mitgliedsländer auf den Beschluß des Bundesrates reagieren. Das ist vertraglich so vereinbart und festgelegt, und ich sehe mich als Minister außerstande, meine Damen und Herren, offenkundig Recht zu brechen, nur damit hier manche Vorstellungen, die national geäußert worden sind, erfüllt werden können.
Frau Peters, ich bitte Sie herzlich, daß Sie Ihre sehr frischen und mutigen Äußerungen gegenüber dem Bundesaußenminister, dem Bundesjustizminister und dem Bundeswirtschaftsminister zum Ausdruck bringen.
({1})
Dazu gibt es für Sie ja viele Möglichkeiten, weil sie alle Ihrer Partei angehören. Ich muß Ihnen nämlich mitteilen, daß die Notifizierung des Bundesratsbeschlusses, die in dieser Woche durchgeführt wurde, nur deshalb möglich war, weil ich am Dienstag die große Koalitionsrunde um eine Entscheidung dazu gebeten habe. Bisher wurde es mir gerade von diesen drei Ministerien allein in dieser formellen Frage unheimlich schwer gemacht. Deswegen gebe ich die Bitte an Sie zurück, den Bundesjustizminister, der sich ja sicherlich neu mit diesem Thema beschäftigen wird, dazu zu bewegen, daß er sich in dieser Sache etwas anders einläßt, als es in den letzten Monaten der Fall war. Der Vorgang hat ja auch außenpolitische Bedeutung. Deshalb können Sie uns am meisten weiterhelfen, wenn Sie innerhalb Ihrer eigenen Ministerien Ihren Vorstellungen zum Durchbruch verhelfen.
Meine Damen und Herren, nun hilft es den Verbrauchern aber nicht weiter, wenn wir uns auf diese formalen Gesichtspunkte zurückziehen, wenngleich sie wegen der Realität hier genannt werden müssen. Deshalb mußte ich auch die Frage beantworten, wie wir am 6. Februar weiter verfahren. Da hat mir der Bundesrat in manchen hitzigen Gefechten doch weitergeholfen, indem er einen Vorschlag aufgegriffen hat, den ich im vorigen Jahr zweimal im Bundesrat gemacht habe. Ich habe auf § 22 e des Fleischhygienegesetzes hingewiesen, in dem steht, daß die Landesbehörden vorübergehend den Fleischimport aus Großbritannien und anderen Ländern stoppen können, wenn sie der Auffassung sind, daß von diesem Fleisch eine Gefahr für die Verbraucher und ihre Gesundheit ausgeht.
Nun ist lange Zeit im Bundesrat verneint worden, daß diese Möglichkeit besteht. Zu meiner großen Freude hat aber nach einer Rede von mir am 15. Dezember im Bundesrat die Frau Kollegin Martini noch einmal das Wort ergriffen und ausweislich
des Protokolls erklärt:
Meine zweite Bitte: Wenn Sie auf § 22e eingehen, dann möchte ich Sie ebenfalls um die Aufhebung Ihrer Verordnung
- sie meint die Dringlichkeitsverordnung bitten; denn solange diese Frage in dieser Verordnung geregelt ist, ist uns
- also den Ländern der Zugriff auf § 22 e leider verwehrt.
Über Weihnachten habe ich darüber nachgedacht, und in dieser Woche habe ich den Ländern einen Brief geschrieben, in dem steht, daß die Dringlichkeitsverordnung am 6. Februar ausläuft, danach der Zugriff auf § 22e nicht mehr verwehrt ist und die Länder pünktlich am 6. Februar die Möglichkeit haben,
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bis wir diesen Konflikt mit der Europäischen Kommission ausgetragen haben - ich habe ja den Wunsch der Bundesländer notifiziert -, über den § 22e Abs. 2 in eigener Zuständigkeit den Verbraucherschutz sicherzustellen, ohne daß sie irgendeinen Bundesminister oder die Europäische Kommission zu fragen haben. Ich habe die Länder gebeten, mir bis Ende des Monats mitzuteilen, ob sie diesen Verbraucherschutz gewährleisten wollen. Da ich nicht immer Antworten von den Ländern bekomme, habe ich in dem Brief auch zum Ausdruck gebracht, daß ich davon ausgehe, wenn sie mir bis dahin keine Mitteilung zukommen lassen, daß sie den Verbraucherschutz nicht gewährleisten können oder wollen.
Eine letzte Bemerkung: Sie können sich darauf verlassen, daß die Bundesregierung mit allen Mitteln und mit aller Kraft dieses Problem im Auge behält und daß wir das Menschenmögliche zur Stärkung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes tun. Frau Peters, das haben wir pausenlos getan.
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- Ja, ganz freundschaftlich! Sie können sich darauf verlassen, daß wir das auch weiterhin tun werden.
Ich erlaube mir abschließend einmal den Hinweis, daß alle im Moment geltenden Verbraucherschutzbestimmungen im Zusammenhang mit Rinderwahnsinn alleine auf Drängen und Druck der Bundesrepublik Deutschland zustande gekommen sind und daß wir pausenlos das Unverständnis anderer Mitgliedsländer überwinden mußten, warum die Deutschen nun schon wieder neue und ergänzende Verbraucherschutzvorschriften wünschten
Herr Minister, Sie müssen mir einmal einen Augenblick zuhören. Sie sind gerade dabei, die 10-Minuten-Grenze zu überschreiten. Ich muß fürsorglich darauf hinweisen.
- ich bin schon zu Ende; ich wollte nur noch diesen Satz sagen, Herr Präsident, weil es ein ernstes Thema ist -, weil natürlich andere Mitgliedsländer den Verdacht haben, daß, wenn wir Deutschen ständig etwas Neues fordern, wir quasi unterstellen, daß die anderen den Verbraucherschutz nicht ernst nehmen.
Vielen Dank.
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Die Grenze ist nicht überschritten. Das Wort hat die Kollegin Lilo Blunck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Wir sind der Meinung, daß dem vorbeugenden gesundheitlichen Verbraucherschutz durch Importverbot der Vorrang gegenüber den zweifellos bestehenden europarechtlichen Bedenken eingeräumt werden muß.
So die CSU-Staatsministerin Professor Ursula Männle im Bundesrat am 15. Dezember des vergangenen Jahres. Dem können wir hier nur voll zustimmen.
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Aber ganz offensichtlich hat auch diese Aussage Ihrer Parteifreundin, Herr Seehofer, nach wie vor nicht zu besserer Einsicht bei Ihnen geführt. Wir erwarten von Ihnen ab 6. Februar 1996 ein Importverbot und nicht einen Verschiebebahnhof nach dem Motto „Hannemann, geh du voran; bitte, Länder, macht mal" . Das ist Sache der Bundesrepublik Deutschland. Sie vertreten sie im Ministerrat.
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Kämpfen Sie in Brüssel bei der Kommission, kämpfen Sie im Rat gegen die Verunsicherung von Verbrauchern und Verbraucherinnen! Fordern auch Sie ganz deutlich, daß Großbritannien Rinder und Rindfleisch nicht exportieren darf! Solange es - so auch Sie im Bundesrat am 15. Dezember des vergangenen Jahres - noch viele ungeklärte Fragen gibt, dürfen wir eben nicht zu Versuchskaninchen in dieser Republik werden.
Offene Fragen, Herr Seehofer, gibt es leider viele. Die erschreckenden Zahlen über die Entwicklung der grausamen tödlichen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit lassen nur einen einzigen Schluß zu: Solange nicht eindeutig der Beweis erbracht wurde, daß BSE nicht der Erreger dieser todbringenden Krankheit bei Menschen ist, so lange darf es keine Situation geben, die das auch im Maastricht-Vertrag mit Ihren Stimmen beschlossene hohe Verbraucherschutzniveau aushebelt.
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Warum fürchten Sie sich eigentlich vor einem möglichen nationalen Alleingang? Denn auch so ist in Titel XI - Verbraucherschutz - des EG-Vertrages festgelegt:
Die ... beschlossenen Aktionen hindern die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, strengere Maßnahmen beizubehalten oder zu ergreifen.
Was wir, wie ich meine, auch aus rein nationalen wirtschaftlichen Interessen beim Reinheitsgebot für das deutsche Bier beim Europäischen Gerichtshof durchgehalten haben, sollte uns doch im Interesse des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung beim
Import von Rindfleisch, aber auch von Tiermehl aus Großbritannien allemal gelingen.
Europa wird nur dann akzeptiert, wenn die Menschen wissen, daß ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen und nicht an erster Stelle der Handel, der Kommerz kommt. Vertrauen ist dazu nötig. Sie hätten - Sie können es immer noch - durch entschiedenes Eintreten im Ministerrat für vorsorgende Verbraucherpolitik dieses Vertrauen wiederherstellen können. Sorgen Sie für das Importverbot! Sorgen Sie für eine ausnahmslose Kennzeichnung, für eine umfassende Haftung und eine ausreichende und praktikable einheitliche europäische Kontrolle von Lebensmitteln!
Wenn Sie so handeln, Herr Seehofer, ersparen Sie der Bundesregierung, Geld für den geplanten teuren Werbefeldzug für Europa auszugeben. Diese eingesparten Mittel mag man Ihnen dann für Ihre Gesundheitsreform gutschreiben. Ich finde, dann haben Sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
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Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man die bisherige Diskussion und die Wünsche der SPD für diese Diskussion gehört hat, dann muß man sich wirklich fragen, was die Menschen in Deutschland, aber sicherlich auch die Menschen in Europa von den Ereignissen hier halten, wenn sie zur Kenntnis nehmen, was einfach nicht mehr nachvollziehbar ist. Auf Antrag der SPD wird eine Aktuelle Stunde veranstaltet. Im Grunde genommen weiß jeder, wissen auch Sie, daß damit die Verunsicherung der Bevölkerung, die zweifellos besteht und gelegentlich geschürt worden ist, nur größer wird und nicht weniger groß.
Jetzt können Sie, meine Damen und Herren Vorredner und Vorrednerinnen von der Opposition, natürlich sagen, daß Wissenschaftler mit mehr oder weniger klangvollem Namen andere Meinungen vertreten haben. Tatsache bleibt aber einfach, daß für unsere Grundsatzentscheidung für Europa die dort eingesetzten Gremien und dort tätigen unabhängigen Wissenschaftler einstimmig - das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen; denn das ist bei Wissenschaftlern weiß Gott nicht selbstverständlich - folgendes festgestellt haben:
Erstens. Es gibt keine Beweise dafür, daß der BSE-Erreger durch Fleisch auf Menschen übertragen werden kann. Sie drehen das herum und sagen dann: Wir wollen beweisen, daß er nicht übertragen werden kann.
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Zweitens - dieser Punkt ist für eine Aktuelle Stunde wichtig -: Es gibt keine neuen Erkenntnisse, die die Kommission veranlassen könnten, ihre Entscheidung vom 18. Juli 1995 in Richtung auf eine Verschärfung der Maßgaben zu korrigieren.
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Frau Kollegin Limbach und Minister Seehofer haben die Diskussion der vergangenen Jahre und die aktuellen Fakten bereits ausführlich dargestellt, so daß ich sie hier nicht noch einmal wiederholen muß. Aber ich möchte Ihnen noch zwei Zahlen nennen, über die man nachdenken könnte. Sie haben eben auf die bedauernswerten Fälle der CreutzfeldtJakob-Krankheit verwiesen. Gehen Sie einmal auf diejenigen zu, die davon im landwirtschaftlichen Bereich betroffen sind! Dort stellen wir interessanterweise fest: 0,9 Prozent aller Erkrankten finden sich in Deutschland; 0,91 Prozent finden sich in England. Das heißt also, wenn man nicht bis in die x-te Stelle nach dem Komma geht, sind die Zahlen haargenau gleich, obwohl wir hier die von Ihnen beklagten Fälle von BSE und all das, was Sie genannt haben, nicht haben. Dies könnte also ein weiterer Hinweis für Sie sein, daß möglicherweise doch entgegen Ihrer Behauptung die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung mit BSE nichts zu tun hat.
Für mich jedenfalls und für viele von uns gilt folgende Ausgangslage: Erstens. Alle Wissenschaftler sind sich darin einig - ich sagte es schon -, daß der Hauptgrund für die Ausbreitung von BSE die Verfütterung von verseuchtem Tiermehl war. Zweitens. Trotz eines bereits im Jahr 1988 verhängten Verfütterungsverbotes hat es wegen der offensichtlich in den Folgejahren erfolgten Verfütterung von Restbeständen Fälle von Erkrankungen gegeben. Kein Mensch kann heute mehr feststellen - dies ist jedenfalls nicht gelungen -, wann diese Verfütterung noch stattgefunden und damit auch die Infektion stattgefunden hat. Dies erklärt aber auch, warum es auch im Jahr 1993 noch Einzelfälle von Erkrankungen gegeben hat.
Trotz eines rapiden Rückgangs der Zahlen der Neuerkrankungen - wie gesagt, auch noch 1993 hat es Neuerkrankungen gegeben - hat kein Wissenschaftler daraus den Schluß gezogen, daß es einen beweisbaren anderen Infektionsweg, nämlich den der Übertragung der BSE vom Muttertier auf das Kalb gibt. Danach ist für mich ein willkürliches Handeln des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses der Europäischen Kommission oder des Ständigen Veterinärausschusses nicht erkennbar.
Insofern ist für mich von entscheidender Bedeutung, daß die Bundesregierung laufend alle ihre zugetragenen Erkenntnisse, Tatsachen, Vermutungen an die zuständigen Gremien weitergegeben hat, darauf gedrängt hat, daß geprüft und bewertet wird. Es ist für mich von überragender Bedeutung, daß die dort getroffenen Entscheidungen auf einhelligen Voten auch deutscher Wissenschaftler im Wissenschaftlichen Veterinärausschuß beruhen.
Es ist für mich von Bedeutung, daß die Europäische Kommission für ihre Vorschläge auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Voten die ZustimWolfgang Lohmann ({2})
mung aller Mitgliedstaaten der Europäischen Kommission gefunden hat. Es ist für mich von Bedeutung, daß die von den Vertretern des Bundesrates in Gesprächen mit der Europäischen Kommission und in der Sitzung des Ständigen Veterinärausschusses in Brüssel geforderten weitergehenden Maßnahmen keinerlei Unterstützung bei der Kommission und bei den übrigen Mitgliedstaaten gefunden haben, und zwar auch nicht bei denen, die wie wir stets und traditionell für einen strengen und größtmöglichen Gesundheits- und Verbraucherschutz eintreten. Ohne den südlichen Ländern zu nahe treten zu wollen, vermuten wir, daß ein gleichgerichtetes Denken in bezug auf den Gesundheits- und Verbraucherschutz bei den sogenannten Nordländern stärker verankert ist.
Denken Sie an die Zeit, Herr Kollege. Noch einen Satz.
Noch einen Satz: Da aus diesem Grund keine Veranlassung besteht, die Bundesregierung jetzt aufzufordern, einen nationalen Alleingang zu machen, der wegen der schon geschilderten Situation nichts bringen würde, halten wir es nicht für richtig, hierzu Aktuelle Stunden abzuhalten und die Bevölkerung zu verunsichern. Das klingt eher nach Wahlkampf, und dafür ist das Thema zu ernst.
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Das Wort hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Limbach, ich will zunächst auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Wenn dieser Bundestag nicht in der Lage und bereit ist, sich mit der Gesundheit der Bevölkerung zu beschäftigen, dann muß ich fragen, womit wir uns hier dann beschäftigen sollen.
({0})
Wenn Sie von Panikmache sprechen, dann muß ich an eine Rede erinnern, die Sie, Herr Minister Seehofer, hier, ich glaube, 1994 gehalten haben. Sie haben in dieser Rede gesagt, daß die Erkrankungen durch BSE die gleiche Dimension erreichen können wie die Aidserkrankung. Da das hier heute so verniedlicht wird, frage ich Sie, wer Panik macht. Oder wir können sagen - Herr Minister, das ist mittlerweile ein geflügeltes Wort; das darf man verwenden -: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?
({1})
- Wenn er dazu steht, dann soll er das sagen und nicht zehn Minuten lang nichts sagen.
({2})
Wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung geht, dann gehört das hierhin, dann will ich mich damit beschäftigen, und dann müssen wir uns damit beschäftigen.
Frau Limbach, mir würde es nicht schwerfallen, auch Jugendlichen klarzumachen, daß dies ein Thema ist, das uns bewegen sollte und müßte.
({3})
Aber erschreckend ist nicht nur, daß es in Großbritannien unmöglich war, das Verfütterungsverbot effektiv durchzusetzen. Die Mehrzahl der BSE-Fälle seit 1988 geht auf unverantwortliche Machenschaften krimineller Rinderhalter zurück, die Restbestände infizierten Futtermittels verwandt haben und noch verwenden.
({4})
Erschreckend sind auch die Erkenntnisse, daß einige der BSE-Fälle nach 1988 ganz offenbar durch eine direkte Übertragung von Rind zu Rind erfolgt sind. Das ist ein Übertragungsweg, der von Wissenschaft und Politik noch vor kurzem als unmöglich bezeichnet wurde. Deswegen werde ich die Aussagen von Wissenschaftlern hinterfragen und werde sie sehr kritisch betrachten.
({5})
- Ich weiß es nicht besser, aber ich sehe das Ganze immer sehr kritisch.
({6})
Wenn BSE im Kern heute noch immer als britisches Problem betrachtet wird, dann muß ich sagen: Es werden Regelungen erlassen, die bestimmte Tiere aus dem beschränkten Marktzugang für britisches Rindfleisch herausnehmen. Es werden noch immer gesetzliche Regelungen verweigert, die es Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglichen, mit absoluter Sicherheit die Herkunft von gekauften Fleischerzeugnissen zu erkennen. Auch das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt.
Meine Damen und Herren, eine solche Halbherzigkeit im Umgang mit einem in seinem vollen Umfang noch immer nicht voll abzuschätzenden Gesundheitsrisiko ist aus unserer Sicht unverantwortlich.
({7})
Wer so tut, als sei über BSE, über die möglichen Übertragungswege und über den Zusammenhang mit der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung alles bekannt, der handelt fahrlässig. Wer glaubt, die in der EU und in der Bundesrepublik getroffenen Schutzmaßnahmen deckten zumindest die bisher
bekannten Risiken ab, der handelt naiv und fahrlässig. Das ist noch viel schlimmer.
({8})
Es gibt nur drei Schutzmaßnahmen, die die nötige Sicherheit gewähren. Es darf ausnahmslos kein Rind und kein Gramm Rindfleisch - egal, aus welchem Geburtsjahrgang - aus Großbritannien mehr importiert werden,
({9})
bis sichergestellt ist, daß eine Übertragung von BSE auf Menschen gänzlich auszuschließen ist. Es muß jedes Schlupfloch geschlossen werden, durch das in Großbritannien geborene Rinder auf Umwegen in andere Länder der EU gelangen können.
({10})
Jedem Verbraucher und jeder Verbraucherin muß durch eine entsprechende Deklarationspflicht garantiert werden, daß er oder sie Rindfleisch aus BSE-freien Beständen kauft.
({11})
Das würde, wie die Kollegin Frau Peters eben auch gesagt hat, die deutschen Landwirte beruhigen und ihnen mehr Sicherheit geben. Alle Forderungen und alle Regelungen, die unterhalb dessen bleiben, gaukeln eine Sicherheit vor, die keine ist. Das wäre fahrlässig, meine Damen und Herren. Sie sollten sich überlegen, ob Sie fahrlässig handeln wollen.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, als erstes muß ich den Blankoscheck von Frau Blunck zum Schutze der gesetzlichen Krankenversicherung wieder einziehen. Das, was Sie bisher im Zusammenhang mit dieser Frage geleistet haben, denke ich, steht noch nicht dafür, daß sie dieses großzügige Geschenk machen konnte.
({0})
Ich hatte mir gedacht, daß Sie den Scheck sehr gerne einstecken. Wenn Sie ihn einstecken, müßten Sie aber ein bißchen mehr tun, als Sie bisher getan haben.
({1})
Es ist relativ wenig, zu sagen: Länder, macht ihr jetzt. Die Länder machen es ja jetzt. Aber in der Zwischenzeit müßten Sie noch ein bißchen mehr machen. Wenn Sie hier sehr richtig sagen, daß wir künftig den Gesundheitsschutz nicht mehr national, sondern nur auf EU-Ebene gewährleisten können, dann müssen wir auch mit aller Kraft dafür eintreten, daß sich auf europäischer Ebene einiges verändert.
({2})
Wir können einfach nicht länger hinnehmen, daß wir einen Verbraucherschutz haben, der von seiten der EU permanent durchlöchert wird. Es funktioniert nicht in der Kennzeichnung von Nahrungsmitteln, es funktioniert nicht bei gentechnisch hergestellten Mitteln. Wenn wir sagen, wir wollen wenigstens das Rindfleisch, das aus diesem Land kommt und infiziert sein könnte, kennzeichnen, dann ist das auch Diskriminierung.
({3})
Es kann nicht sein, daß derartige Tatbestände bestehenbleiben; denn wir wollen doch erreichen, daß Europa von den Bürgern akzeptiert, daß es angenommen und nicht nur als eine Wirtschaftsgemeinschaft verstanden wird. Wenn Europa endlich eine Sozial- und Gesundheitsunion für alle Europäer werden soll, dann haben Sie in Brüssel nicht nur für die Bundesrepublik zu kämpfen, sondern dann ist es eigentlich auch Ihre Pflicht, für sämtliche europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher einzutreten.
({4})
Das Thema BSE ist ein Lehrstück mit verschiedensten Facetten. Eines ist sehr deutlich geworden: Es wäre sehr viel besser, unsere Rindviecher würden nur noch Gras fressen. Das gilt auch für andere Tierhaltungen.
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Wir hätten sehr viel weniger Probleme, wenn wir nicht weiterhin auch im Schweine- und Hühnerbereich Tiermehl verfüttern würden.
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Es ist mir ganz einfach zu wenig, wenn Sie sagen: Wir müssen uns aber an EU-Recht halten, wir müssen Verordnungen einhalten, wir können sie nicht durchlöchern. Der Bundesrat hat keinen Beschluß gefaßt, in dem er Sie dazu aufgefordert hätte, gegen europäisches Recht zu verstoßen. Vielmehr hat er in erster Linie verlangt, dafür zu sorgen, daß das, was wir gerne möchten, für Gesamteuropa gelten kann. Das ist wichtig.
({7})
Wenn das nicht funktioniert, dann tritt § 22e des Fleischhygienegesetzes in Kraft. Aber langfristig ist das auch keine Lösung. Man muß sich das sehr ernsthaft überlegen, den Tod von zwei relativ jungen Landwirten in Großbritannien und die Tatsache berücksichtigend, daß man zwar nicht mit Sicherheit weiß, ob BSE durch das Essen übertragen wird, daß aber auch nicht das Gegenteil bewiesen ist.
Solange man das Gegenteil nicht beweisen kann, kann man erwarten, daß in Form von Gesundheitsschutz dafür Sorge getragen wird, daß diese Gefährdung ausgeschaltet wird - nicht nur für uns, sondern für alle in Europa.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Editha Limbach, CDU/CSU.
Herr Präsident! Ich glaube, wir sollten uns nicht gegenseitig vorwerfen, wir würden die Sorgen nicht ernst nehmen und uns keine Gedanken um die Gesundheit der Bevölkerung machen. Aber ich gebe eines ehrlich zu: Ich mache mir mehr Sorgen darüber, daß sich viele Mütter und ihre Kinder inzwischen nicht gegen Kinderlähmung impfen lassen. Ich mache mir mehr Sorgen darüber, daß Scharlach- und Diphterie-Impfungen nicht im ausreichenden Umfang stattfinden, obwohl akute Gefährdungen nachgewiesen sind und wir wissen, daß es zu Fällen schwerer Krankheit und zu Todesfällen kommt.
({0})
Ich mache mir Sorgen darum, daß sich neue Krankheiten ausbreiten können. Aber ich mache mir auch Gedanken darüber, ob die Menschen, die weniger Zugang zu Informationen haben als ich, sachdienlich informiert werden oder ob, um politische Erfolge oder Applaus einzuheimsen, manches maßlos aufgebauscht wird, was nicht aufgebauscht werden darf.
({1})
- Es hat mich schon getroffen, daß die Kollegin meinte, wir würden die Sorgen der Menschen nicht ernst nehmen. Wir tun das sehr wohl. Aber das heißt auch, Sorgen nicht dort zu vergrößern, wo sie nicht vergrößert werden müssen.
({2})
In der ersten Diskussionsrunde zum Thema Rindfleisch, die wir in diesem Hause je hatten, habe ich nachweislich gesagt, ich würde den deutschen Landwirten empfehlen, darauf hinzuweisen, woher ihr Fleisch kommt,
({3})
womit die Tiere aufgezogen, gefüttert werden, und den Kunden empfehlen, in den Metzgereien zu fragen, woher das Fleisch kommt.
({4})
Ich muß noch einmal sagen - der Kollege Lohmann hat schon darauf hingewiesen -: Angesichts der geringen Menge von britischem Rindfleisch, die auf dem deutschen Markt ist - 0, 01 Prozent -,
({5})
ist niemand, der sich Sorge macht, es könnte ihn gefährden, gezwungen, auch nur einen einzigen Krümel zu sich zu nehmen.
({6})
Notfalls, wenn man Gemeinschaftsverpflegungen zu sich nimmt, muß man eben auf anderes Fleisch oder auf Gemüse ausweichen. Das müssen zum Beispiel Moslems oder Juden, die bei uns leben, auf Grund ihrer Speisevorschriften bei bestimmten Gerichten auch.
({7})
Ich denke, das ist auch deutschen Verbrauchern, die keine solche Speisevorschriften zu beachten haben, zuzumuten, wenn sie es für richtig halten.
Es ist auch keineswegs so, daß sich die Bundesregierung nicht bemüht hätte. Ich finde es schon ein starkes Stück, daß Sie in, wie ich meine, deutscher Überheblichkeit so tun, als bräuchte im Bundestag bloß eine Meinung zu herrschen, als bräuchte der Minister diese Meinung bloß mutig vorzutragen, und schon würden alle anderen sagen: Was Wissenschaftler sagen, ist wurscht, was die anderen Mitgliedstaaten, was die Gesundheitsbehörden sagen, ist wurscht, was die anderen denken, ist wurscht, bloß das, was die Deutschen denken, ist richtig und muß sofort umgesetzt werden.
({8})
Es hat Mühen gekostet, die Dinge, die gemeinschaftlich vereinbart sind, durchzusetzen. Darauf hinzuweisen wäre auch einmal ein Wort des Dankes an diejenigen wert, die dafür verantwortlich sind, auch an unseren Gesundheitsminister.
({9})
Herr Abgeordneter Seehofer, in Ihrer Eigenschaft als Minister möchte ich Ihnen dafür danken.
({10})
Bei einem weiteren Punkt müssen wir sehr vorsichtig sein. Die Creutzfeld-Jakob-Krankheit ist eine sehr schlimme Krankheit. Besonders schlimm daran ist, daß man eigentlich erst nach dem Tode feststellen kann, ob es sich wirklich um sie handelte. Da erst in den letzten Jahren die Meldepflicht besteht, hat man erst seit dieser Zeit stärker darauf geachtet. Mich wundert manchmal, warum Scrapie nicht zu dieser Diskussion geführt hat; vielleicht deshalb, weil in Deutschland weniger Schaffleisch gegessen wird. Trotzdem sind die Zahlen, insbesondere Prozentzahlen, oft irreführend: Plötzlich gibt es doppelt so viele Fälle.
Deshalb muß man auch einmal sagen: Erfreulicherweise ist die Zahl dieser Erkrankungen so gering,
daß statistische Werte nur eingeschränkt gültig sind. Natürlich kann man vergleichen - wie das der Kollege Lohmann getan hat -, welchen Anteil die deutschen Landwirte und welchen die britischen Landwirte an der Krankheit haben. Aber wenn man rein nach der Statistik geht, könnte man zu dem Ergebnis kommen: In Großbritannien erkranken am häufigsten Geistliche. Das bringt natürlich deshalb nichts, weil sich die Statistik auf acht, zehn, zwölf Fälle stützt. Das ist für wissenschaftliche Erkenntnisse eigentlich noch nicht geeignet.
Ich glaube die sorgfältigsten Untersuchungen machen nach wie vor doch die Wissenschaftler. Im Oktober letzten Jahres hat in Göttingen ein internationales Symposium stattgefunden. Der Leiter des Instituts für Neuropathologie, Herr Professor Kretschmar, der von der ganzen Sache unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sicher mehr versteht als ich - ich vermute, mehr als viele hier -, hat dazu gesagt, es gebe keinerlei Anzeichen, daß Rinderwahnsinn auf den Menschen übertragbar sei und so die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung auslösen könnte. Ein Wissenschaftler wird nie sagen, irgend etwas tritt nie und nimmer ein. Aber er hat gesagt, es gibt keinerlei Anzeichen. Weil es keinerlei Anzeichen gibt, müssen wir die notwendige Vorsorge treffen, dürfen die Bevölkerung aber nicht unnütz in Panik versetzen.
Liebe Kollegin Peters, wenn es den deutschen Landwirten gelingt, auf die gute Produktion, die sie haben, hinzuweisen, dann ist das nicht nur für den Verbraucher nützlich, sondern auch für die Landwirte.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg, SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Peters, mir hat gut gefallen, was Sie gesagt haben. Wir haben eine Aktuelle Stunde gehabt, während der viele Landwirte und besonders Landwirtsfrauen angerufen haben, die genauso gesprochen haben wie Sie. Sie sagten: Warum macht der Gesundheitsminister nicht klare Kante? Warum läßt er uns hier halbherzig hängen? Warum unterstützt er uns nicht?
Ich bin froh, daß die Länder nicht erst jetzt auf den Zuruf des Ministers hin etwas tun. Sie haben die ganze Zeit das getan, was sie in ihrer Zuständigkeit tun konnten.
({0})
Die haben mit Landwirten zum Beispiel Verträge abgeschlossen, bindende Verträge mit hohen Konventionalstrafen. Die Produzenten verpflichten sich damit, gutes Fleisch zu liefern. Sie haben also das, was in ihrer Macht steht, getan. Ich glaube, sie werden das auch weiter tun. Ich bin froh, daß auf Länderebene auf den Bundesratsbeschluß nicht nur vertraut, sondern daß auch gehandelt wurde. Das ist schön.
({1})
Ich will die verwaltungstechnische Diskussion, die Sie geführt haben, Herr Minister, durch einige fachliche Dinge ergänzen. Ich meine, das ist dringend notwendig. Es ist eben nicht so, daß es keine neuen Erkenntnisse gibt. Vielmehr sind die beiden Teenies, die in England gestorben sind, und ein weiterer junger Mensch, der an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit leidet, ein warnendes Zeichen. Das wird auch so aufgefaßt.
Die Inkubationszeit bei Rindern beträgt im Schnitt zwischen vier und sechs Jahren. Sie können demnach damit rechnen, daß die Zahl der infizierten Menschen, die Rindfleisch verzehrt haben, in den Jahren 1990 bis 1992 am höchsten war. Bei prionenbedingten Erkrankungen beim Menschen - eine solche ist die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung - müssen wir mit einer durchschnittlichen Inkubationszeit von etwa 13 Jahren rechnen.
({2})
Wir wissen, daß die Inkubationszeit bei der KuruErkrankung zwischen sechs und 30 Jahren betragen hat. Die durchschnittliche Inkubationszeit bei den 57 Fällen, die es nach der Somatotropin-Behandlung - einer Wachstumshormonbehandlung - gegeben hat, hat 13 Jahre betragen. Das würde bedeuten, daß wir erst in den nächsten Jahren mit den ersten Erkrankungen rechnen könnten.
Das, was wir bei Creutzfeldt-Jakob-Erkrankungen bisher gemessen haben, waren Erkrankungen alter Menschen. Da hat sich nicht viel geändert. Das Warnsignal - das ist in der Tat neu, Herr Minister - ist, daß jetzt auch junge Menschen erkranken.
({3})
- Das waren Menschen, die mit Somatotropin behandelt worden sind. Das ist der große Unterschied. Da weiß man, woher das kam. - Jetzt geht es um Teenager, die nichts weiter gemacht haben, als ganz normal zu leben. Es gibt keine besonderen Risiken. Sie haben aber mit Sicherheit Mettwurst gegessen. Sie haben mit Sicherheit auch einmal Rindfleisch gegessen. Ich meine, es ist zu spät und das Risiko ist einfach zu groß bei dieser Erkrankung - bei der Millionen von Menschen exponiert sind -, als daß wir warten könnten, bis Sie irgendwann einmal feststellen: O ja, ich habe mich geirrt. Das darf hier nicht passieren, Herr Minister Seehofer.
Allein die Tatsache, daß demnächst wahrscheinlich ein Test entwickelt wird, mit dem man schon zu Lebzeiten feststellen kann, ob jemand infiziert ist - das wird Sie als jemand, der viel an Kosten denkt, interessieren -, würde bedeuten, daß alle Menschen, die in Deutschland Rindfleisch gegessen haben, mit Recht kommen und sagen werden: Ich möchte jetzt getestet werden. Das wird noch ein bißchen teurer als die Tests im Zusammenhang mit Aids.
All diese Dinge sollten Sie voraussehen; denn es reicht nicht, in den Rückspiegel zu gucken und zu sagen: Es ist bisher nichts passiert. Sie sind hierbei derjenige, der empfindlich sein und vorbeugend tätig sein muß.
({4})
Sie haben nicht nur die Landwirte, Sie haben auch die Verbraucher allein gelassen.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({0})
zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1992 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({1}) zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1994 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({2})
zu Unterrichtungen der Bundesregierung
Vierteljahresübersichten zu den über- und außerplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1992
- Drucksachen 12/6544, 13/725 Nr. 77, 12/8490, 13/265 Nr. 1.8, 12/2647, 12/3214, 12/4028, 12/4578, 13/725 Nrn. 70 bis 73, 13/3167 ({3}) Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Adolf Roth ({4})
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Susanne Tiemann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Jahresberichterstatter konnte ich nach unseren Beratungen im Rechnungsprüfungsausschuß die Entlastung der Bundesregierung vorschlagen. Das ist das Ergebnis unserer intensiven Arbeit.
Ich möchte meinen Dank allen sagen, die daran konstruktiv mitgewirkt haben: den Kollegen für die überparteiliche gute Zusammenarbeit, dem Vorsitzenden des Ausschusses für die gute und straffe Leitung der Verhandlungen, den Mitarbeitern des Ausschusses für ihre Unterstützung, dem Bundesfinanzministerium und anderen Ministerien für Auskunft, Berichte und oft auch für die Bereitschaft, unseren Argumenten zu folgen.
Schließlich möchte ich dem Bundesrechnungshof für die stets so gewissenhafte Wahrnehmung seiner unabhängigen Aufgabe danken. Es erweist sich immer wieder, daß dieses unabhängige Organ im Gewaltenteilungsgefüge den Faktor Kontrolle als Bindeglied zwischen den Gewalten effizient werden läßt. Der Bundesrechnungshof gibt damit wesentliche Impulse für demokratische Verantwortung und gewissenhafte Wahrnehmung der Treuhänderfunktion bei der Verwaltung öffentlicher Mittel.
Die Prüfungsresultate des Bundesrechnungshofes stärken die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften für ihre Haushaltsführung, und die Finanzkontrolle trägt maßgeblich zur Effektuierung eines der vornehmsten parlamentarischen Rechte, nämlich der Haushaltskompetenz, bei. Sie stärkt das Vertrauen der Bürger in die Treuhänderfunktion des Staates bei der Verwaltung öffentlicher Mittel.
Die parlamentarische Finanzkontrolle muß der unabhängigen Funktion des Bundesrechnungshofes, der ja ein Ritter ohne Schwert ist, demokratische Publizität und politische Durchsetzung verleihen. Die parlamentarische Finanzkontrolle muß diese Prüfungstätigkeit in politische Haushaltskontrolle ummünzen.
({0})
Wir haben dies mit großer Intensität und großem Engagement getan. Ich möchte Ihnen aus der Palette unserer Arbeit nur einige signifikante Problemstellungen nennen.
Öffentliche Verschwendung - darin stimmen Sie sicher mit mir überein - ist ein ärgerniserregendes Dauerproblem aller Staaten und aller Epochen. Dabei erweist sich immer wieder die Versuchung als allzu groß, das Haushaltsrecht quasi als minderes Recht zu begreifen.
Dagegen muß klar sein: Haushaltsrechtliche Gebote dienen der ordnungsgemäßen Mittelbewirtschaftung. Sie dienen damit der Allgemeinheit, und sie sind damit auch Ausdruck elementarer Bürgerrechte.
({1})
Sie müssen daher wie alle Rechtsgebote peinlich genau eingehalten werden. Verstöße dagegen sind Rechtsverstöße und müssen rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, gegebenenfalls auch dienstrechtlicher Art.
So werden oft vor Auftragsvergabe öffentliche Ausschreibungen nicht durchgeführt. Besonders eklatant wird dies bei der Beschaffung von Informationstechnik. Es bleibt festzuhalten, daß alle GeDr. Susanne Tiemann
werke öffentlich ausgeschrieben sein müssen. Und wo Kw-Vermerke auf Grund zu erwartender Einsparungen haushaltsrechtlich vorgeschrieben sind, müssen sie auch ausgebracht werden.
({2})
Der Rechnungsprüfungsausschuß hat hier Klärungen und Berichte angefordert.
Allerdings gilt es die Kontrolle auch dort zu sichern, wo ein wichtiges politisches Ziel erfüllt wird, nämlich die Privatisierung von Unternehmen. So kann sich bei der Deutschen Bahn AG die Prüfung auf Grund der rechtlichen Konstruktion bedauerlicherweise - sage ich - nur mehr in der Zuwendungsprüfung bestehen.
({3})
Diese muß dann aber um so wirksamer gestaltet werden. Es muß aufmerksam beobachtet werden, ob in diesem Bereich künftig ausreichende Kontrolleffizienz gegeben sein wird.
({4})
Der Rechnungsprüfungsausschuß hat einhellig herausgestellt, daß er die künstliche Aufrechterhaltung von öffentlichen Unternehmen in Geschäftsbereichen, die privatwirtschaftlich betrieben werden können, ablehnt. Auch wenn solche Unternehmen mit Gewinn betrieben werden könnten, ist dies ordnungspolitisch verfehlt; den Privatunternehmen wird hiermit Konkurrenz gemacht.
So war zum Beispiel nicht einzusehen, daß die Deutsche Postdienst Service-Gesellschaft, die Zeitungen und Zeitschriften - vertreibt eine Aufgabe, die typisch privatwirtschaftlicher Art ist -, von der Telekom übernommen worden ist. Die gleiche Problematik zeigt sich bei der Beteiligung der Deutschen Bahn AG an privatrechtlichen Unternehmen, obwohl kein öffentliches Interesse daran besteht. Solche Unternehmen bzw. Beteiligungen, wie etwa Touristikbeteiligungen, müssen verkauft werden.
Einen besonderen Arbeitsbereich stellen für den Rechnungsprüfungsausschuß nach wie vor die neuen Bundesländer dar. Wir alle erinnern uns, daß die Verwendung von Finanzmitteln in den neuen Bundesländern die besondere Aufmerksamkeit der Medien fand. Der Bundesrechnungshof und auch der Rechnungsprüfungsausschuß sind den Verschwendungsvorwürfen nachgegangen und haben festgestellt, daß Mißbräuche in weit weniger als 1 Prozent der Fälle vorliegen.
Mißbrauch ist immer zu verurteilen. Vergessen wir aber nie, daß es sich hier um eine Umbruchsituation gehandelt hat! Angesichts dieser Sondersituation bestand kein besonderer Grund zur öffentlichen Aufregung.
({5})
Wir konnten uns davon überzeugen, daß Vorsorge gegen derartigen Mißbrauch getroffen worden ist, und waren mit dem Bundesrechnungshof der Auffassung, daß es sich hier um eine Verwaltung im Aufbau handelt und deshalb besondere Maßstäbe anzulegen sind.
Dies gilt auch für die Steuerverwaltung in den neuen Bundesländern. Wir alle erinnern uns an die enormen Anfangsschwierigkeiten, die hier bestanden. Wir können heute feststellen, daß erhebliche Fortschritte erreicht worden sind. Natürlich sind weitere Verbesserungen möglich und auch nötig. All denen aber, die an diesen Fortschritten beim Aufbau der Finanzverwaltungen mitgewirkt haben, gebühren unser Dank und unsere Anerkennung.
({6})
Die Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses besteht weiterhin in der Behandlung einer Fülle von Einzelfragen. Wir legen den Finger auf jeden Fall, bei dem öffentliche Mittel noch wirtschaftlicher eingesetzt werden können, bei welchem sie vielleicht sogar verschwendet worden sind. Das ist unsere Wächterfunktion als Treuhänder der Finanzmittel, die uns von den Bürgern, den Steuerzahlern, auferlegt worden ist.
So müssen wir zum Beispiel auch verlangen, daß alle Verwaltungsmittel mit größtmöglicher Effizienz eingesetzt werden und daß Steuern, so hoch sie auch sein mögen, tatsächlich erhoben werden.
({7})
Das bedeutet zum Beispiel, daß insbesondere bei der Lohnsteuererhebung die Finanzämter ihre Arbeit besser koordinieren müssen und daß, wenn mehrere Finanzämter zuständig sind, ein zentrales Finanzamt eingeführt wird.
Ebenso - das ist ein neuer Aspekt dieser Arbeit - muß eine bessere Koordinierung im zwischenstaatlichen Bereich erfolgen, und zwar gerade angesichts des Zusammenwachsens Europas. Das Augenmerk ist zukünftig überhaupt mehr und mehr auf den über- und zwischenstaatlichen Bereich zu legen. So werden wir in absehbarer Zeit eine Koordinierung der nationalen Rechnungshöfe untereinander und mit dem europäischen Rechnungshof brauchen. Gegebenenfalls werden wir auch übergreifende Grundsätze für eine europäische Finanzkontrolle brauchen.
Als Haushaltsgesetzgeber sind wir besonders daran interessiert, daß das Parlament die volle Disposition über die politische Gestaltung des Haushaltes und die Kontrolle seiner durch das Haushaltsgesetz vorgegebenen Durchführung behält. Insbesondere muß dem Parlament politisch Rechenschaft gegeben werden, ob die Verschuldungssituation, die das Parlament selbst im Haushaltsgesetz zugelassen hat, letztlich auch eingehalten worden ist.
Unsere Verfassung trägt diesem Anliegen Rechnung, indem Art. 115 die zulässige Kreditaufnahme an die parlamentarische Ermächtigung in Abhängigkeit von den getätigten Investitionen bindet. Nimmt die Regierung mehr Kredite auf, als im Haushaltsgesetz vorgesehen, so hat sie sich im Entlastungsverfahren zu rechtfertigen. Hierüber wurde - ich meine, dies ist anerkennenswert - grundsätzlich Einigung mit dem Bundesfinanzministerium erzielt.
Besonders verdienstvoll ist es schließlich, daß der Bundesrechnungshof in eindringlicher Weise in seinen Bemerkungen immer wieder auf die Gefahren zu hoher Staatsverschuldung hinweist. Der Rechnungsprüfungsausschuß hat sich diesem Monitum in vollem Umfang angeschlossen. Vergessen wir nie, daß zu hohe Staatsverschuldung die politische Handlungsfähigkeit für die nächste und weitere Zukunft knebelt und eine ständige Gefahr für die Geldwertstabilität darstellt, die wiederum Grundlage und Voraussetzung allen Fortschritts und Wohlstands ist.
({8})
Das haushaltsrechtliche Gebot der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit gewinnt für den Rechnungsprüfungsausschuß damit ganz besondere Bedeutung. Die wirtschaftliche, sparsame und ordnungsgemäße Mittelverwendung nämlich bildet die erste und wesentliche Voraussetzung dafür, daß durch strikte Sparpolitik die symmetrische Finanzpolitik der Bundesregierung verwirklicht werden kann. Letztlich ermöglicht es die haushaltsrechtliche und haushaltspolitische Stringenz, daß wir durch Rückführung der Staatsquote und durch strikte Sparpolitik dann auch die Konsolidierung der Staatsfinanzen erreichen können. Diese Konsolidierung wird es uns ermöglichen, endlich die Entlastung von Steuern und sonstigen Abgaben vorzunehmen, die unsere Bürger und Unternehmer zu Recht von uns fordern und die der Wirtschaftsstandort Deutschland braucht, um Wachstum und neue Arbeitsplätze und damit Wohlstand für alle schaffen zu können.
Die parlamentarische Finanzkontrolle ist in diese Verantwortung als wesentlicher Faktor eingebunden, und, meine Damen und Herren, wir haben diese Verantwortung umfassend und eingehend wahrgenommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Rudolf Purps, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Kollegin Tiemann, Sie haben eine Rede gehalten, der ich in vielen Punkten sehr gut folgen und auch zustimmen kann. Sie sind ja aus Ihrer früheren Verbandstätigkeit auch ein wenig prädestiniert, in dem Bereich der Rechnungsprüfung zu arbeiten. Nur habe ich die Vermutung, daß Sie früher etwas schärfer mit der Regierung in die Seile gegangen sind,
({0})
als Sie noch Präsidentin des Bundes der Steuerzahler waren. Nun ja, höhere Erkenntnisse und Zugehörigkeit zur CDU/CSU-Fraktion mögen hier einige Veränderungen herbeigeführt haben. Das sage ich, obwohl ich Ihnen in den grundsätzlichen Punkten, die Sie vorgetragen haben, zustimmen möchte.
Der Rechnungsprüfungsausschuß hat sich sehr eingehend mit dem Antrag des Bundesfinanzministeriums auf Entlastung der Regierung und den Bemerkungen des Bundesrechnungshofs befaßt. Für uns ist nicht nur der Entlastungsbeschluß wesentlich, genau so wichtig sind für uns die vielen Einzelbemerkungen, mit denen die Bundesregierung aufgefordert wird, nun endlich einmal aus Fehlern der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Es wird zu kontrollieren sein, ob denn dieser Lernprozeß bisher stattgefunden hat bzw. stattfindet.
Manchmal habe ich das Gefühl: Wenn wir nicht immer, Herr Vorsitzender, mit Berichtspflichten den Lernprozeß ein wenig anschieben würden, würde so manches in der Ablage verschwinden, und im nächsten Jahr wäre ein anderes Ministerium mit einer gleichen Bemerkung zu ähnlich gelagerten Fällen dran. Da fragt man sich: Gibt es keine Querverbindung, keine Synergieeffekte, wie es so schön auf neudeutsch heißt? Offensichtlich gibt es das nicht. Manchmal hat man daher seine Schwierigkeiten. Wir werden sehr gut aufpassen müssen, damit dieser Erfolg wirklich eintritt.
Von Ministerien, die Millionen- und Milliardenbeträge an Steuergeldern verwalten, muß einfach erwartet werden, daß sie die Gesichtspunkte von Effizienz und Sparsamkeit in den Vordergrund ihrer Entscheidungen stellen.
({1})
In den Fällen, in denen das nicht getan worden ist, haben wir die notwendigen Mißbilligungen ausgesprochen. Ja, wir haben teilweise Regreß- und Strafverfahren einzuleiten verlangt. Wir werden sehen, wie das in dem einen oder anderen Falle dann ausgeht.
Lassen Sie mich nun zu einigen Fällen Stellung nehmen, die von besonders herausragender oder exemplarischer Bedeutung für das Geschehen waren.
Die Krankenkassen - das wissen Sie - sind verpflichtet, alle vier Jahre zu überprüfen, ob die Arbeitgeber ihre Rentenversicherungsbeiträge entrichtet haben. Zum großen Teil, so ist festgestellt worden, wurden diese Überprüfungen nicht vorgenommen. Wegen mangelnder Kontrolle entrichten viele Arbeitgeber ihre Beiträge nicht zeitgerecht. Da diese Verpflichtung zur Beitragszahlung nach vier Jahren verjährt, besteht natürlich eine starke Motivation, Beiträge nicht zu entrichten. Dies hat eben - das muß man deutlich sagen - zu Einnahmeverlusten von zirka 10 Milliarden DM geführt.
Bei der Finanzlage der Kassen kann das nur mit einem Kopfschütteln quittiert werden. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der Kollege Blüm, ist aufgefordert, sich schleunigst Gedanken darüber zu machen, wie dieser Mißstand behoben werden kann. Dem Normalverbraucher mit den gläsernen Taschen wird das per Zugriff an der Quelle von vornherein abgezogen. Er hat seine Beiträge pünktlich zu entrichten; daran kann er gar nichts ändern. Er kann natürlich kaum noch Verständnis dafür aufbringen, daß anderen Personen die Möglichkeit gegeben wird, sich den Verpflichtungen des Sozialstaats zu entziehen. Das muß schleunigst korriRudolf Purps
giert werden, und zwar sowohl in der Sache als auch im Verfahren.
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Wir wissen alle: Die Rentenkassen haben keine Mark zu verschenken. Ganz im Gegenteil: Es ist nicht so, daß Staats-, Renten- oder sonstige Sozial- und Solidaritätskassen vor Geld überquellen würden. Wir haben momentan die Situation, daß wir überall mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben. Diese Situation ist unbefriedigend und darf nicht noch durch solche Dinge zusätzlich untermauert und verstärkt werden.
In den neuen Bundesländern gibt es sicherlich viele Anlaufschwierigkeiten. Dennoch ist es unverständlich, wenn ein Rechenzentrum für die Auszahlung von Renten der Landesversicherungsanstalten in den neuen Bundesländern Daten des Postrentendienstes nicht auswertet und es zu monatelangen Weiterzahlungen von Renten Verstorbener an die Verwandten gekommen ist. Man muß sich fragen: Wie hole ich das wieder herein? Wird es möglich sein, die zuviel bezahlten Beträge von den Erben zurückzufordern? Ich glaube, daß die Situation recht kompliziert sein wird. Der dadurch angerichtete Schaden von mehreren Millionen Mark wird durch einen größeren Schaden durch Verlust an Glaubwürdigkeit und an Fähigkeiten des Staates, mit solchen Dingen umzugehen, belastet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Angelegenheit, die mir in der Vergangenheit immer am Herzen lag, möchte ich erwähnen. Frau Tiemann hat ebenfalls darauf hingewiesen. Wir erleben - teilweise wollen wir das auch, und es ist Teil einer Strategie -, daß wir privatisieren, was privatisiert werden kann, weil es Private schneller, einfacher und möglicherweise auch billiger und vernünftiger durchführen können, als es die staatliche Verwaltung mit ihren langen Vorläufen, ihrem Jährlichkeitsprinzip, ihrer Budgetierung und anderen hinderlichen Dingen gewährleisten kann.
Aber auf der anderen Seite muß man sagen: Wenn dennoch in diesen privatisierten Bereich - ich spreche Bahn und Post besonders an - hohe Zuschüsse des Bundes fließen, dann ist nicht einzusehen, daß die Prüfung dieser Privatisierten verweigert wird, weil es sich jetzt um eine private Form handelt. Dort, wo wir Geld der Steuerzahler hingeben - es handelt sich nicht um unser Geld -, kann der Bürger verlangen, daß eine staatliche Überprüfung der Verwendung der Gelder durchgeführt wird.
({3})
Frau Tiemann, Sie haben das bedauert, haben aber nicht hinzugefügt, daß es Ihre Fraktion im Haushaltsausschuß war, die, nachdem wir längst den Eingriff in diesen Bereich beschlossen hatten, ihn par ordre du mufti - wo dieser herkam, will ich offenlassen, jedenfalls war Herr Dürr beim Kanzler - gekippt hat. Sie sollten das der Ehrlichkeit halber hinzufügen. Auch der Finanzminister hatte plötzlich eine andere Position, nachdem das Gespräch stattgefunden hatte.
Man sollte der Wahrheit die Ehre geben und das hinzufügen.
Wir haben uns im letzten Jahr mit der Bundesbahn ausführlich befaßt und müssen sagen: Betrachten wir die Menge der Bemerkungen, die zum Beispiel zur Deutschen Bundesbahn gemacht wird! Es bleibt zu vermuten, daß durch die Privatisierung der Schlendrian nicht abgeschafft worden ist. Wir können ihn aber in Zukunft nicht mehr aufdecken.
Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob wir nicht im Sinne einer vernünftigen Finanzkontrolle dort, wo entweder Monopole vorhanden sind oder Geld des Bundesbürgers fließt, zu einer weitergehenden Prüfung, als es bisher im Gesetz steht, zurückkehren sollten.
({4})
Auch auf der Hardthöhe geschehen hin und wieder Dinge, die beim Rechnungshof, bei den Bürgern und bei uns nur noch Kopfschütteln hervorrufen können. Wenn ich Ihnen sage, daß das Verteidigungsministerium für das Aufklärungssystem LAPAS Umsatzsteuern in Höhe von 47,1 Millionen DM gezahlt hat, und zwar für Gegenstände, die nicht geliefert worden sind, dann wird das jeder normale Bürger für einen Witz halten. Es ist aber kein Witz, es ist Tatsache und steht im 92er Bericht des Rechnungshofes. Die unnötig gezahlte Umsatzsteuer wurde dann auch nur teilweise zurückgefordert. Heute sind Rückforderungsansprüche des Ministeriums in Höhe von 22,6 Millionen DM verjährt. 22,6 Millionen DM sind à fonds perdu. Warum? Weil entweder die Kontrolle im Ministerium nicht klappt oder weil irgendein Beamter so geschlampt hat, daß so etwas passieren konnte.
Wenn dann noch davon gesprochen wird, das sei nicht schuldhaft, man könne keine Haftung dafür übernehmen, dann weiß ich nicht mehr, was der Bürger noch davon halten soll, wenn solche Dinge immer wieder, Jahr für Jahr, mal in diesem Ministerium, mal in jenem Ministerium auftreten
({5})
und sich nichts, aber auch gar nichts ändert. Da muß einmal mit dem scharfen Besen durchgefahren werden, und da darf durchaus auch einmal ein entsprechender Beamter zum Regreß gezwungen werden. Schuldhaftes oder grob fahrlässiges Verhalten kommt ja in Deutschland bei Beamten nicht vor. Schuldhaft oder grob fahrlässig gibt es einfach nicht, sondern höchstens fahrlässig. Das ist so die letzte Stufe, die es gibt, denn da ist noch kein Regreß zu packen. Da kann man noch heil aus der ganzen Geschichte herauskommen - vielleicht mit einer Beförderungssperre, vielleicht dauert es ein bißchen länger, bis man die Treppe wieder ein Stückchen höher kommt. Bei grober Fahrlässigkeit wäre ja etwas möglich; nur kommt sie nicht vor.
Kann mir einmal einer hier sagen, wo in den letzten fünf Jahren in der Bundesverwaltung grob fahrlässige oder schuldhafte Dinge festgestellt wurden,
die zu Regreßforderungen gegenüber Mitarbeitern der Ministerien oder der nachgeordneten Behörden geführt haben? - Ich kenne keinen solchen Fall. Es wäre ganz nett, wenn man von so etwas einmal Kenntnis bekäme.
Meine Damen und Herren, es gäbe noch vieles vorzutragen, aber ich möchte versuchen, zum Schluß zu kommen mit dem Hinweis darauf, daß durch die Art und Weise, wie in den neuen Bundesländern der Fiskus die Steuern eintreibt, dem Bund Gelder bis zu einer Höhe von knapp 5 Milliarden DM jährlich entgehen.
Da darf ich einmal eine aktuelle Diskussion aufgreifen, meine Damen und Herren von der Koalition. Dies entspricht etwa 20 Prozent des jährlich erhobenen Solidaritätszuschlages. Die ganze Diskussion und das Theater, was sich zur Zeit in der Koalition zu dieser Frage abspielt, brauchte gar nicht stattzufinden, wenn der Finanzminister in der Lage wäre, diese 5 Milliarden DM erst einmal einzutreiben. Dann hätte er sie, und dann könnte man in dieser Situation anders diskutieren als Sie es jetzt tun.
Es ist also nicht nur die Ausgabenseite, sondern auch die Verringerung von Einnahmen durch Fehlverhalten der entsprechenden Gremien hier anzuprangern. Angesichts der 5 Milliarden DM, die im Osten nicht eingetrieben werden, sage ich Ihnen: Machen Sie ein bißchen mehr, bilden Sie mehr aus!
Ich weiß, daß hier auch die Länder betroffen sind. Ich sage ganz offen, mir ist folgendes zu Ohren gekommen: Das Land Nordrhein-Westfalen hat zum Beispiel für die Neueinstellung von Finanzbeamten eine Quote, nach der im Regierungsbezirk Köln 70 Leute eingestellt werden sollen, die dann auf die Finanzschule gehen, während sich 1 500 Personen beworben haben.
Ja, zum Teufel noch einmal, wir brauchen mehr Prüfer, wir brauchen mehr Finanzbeamte. Wieso ist es nicht möglich, ein paar mehr auszubilden? Die jungen Leute haben ja oft den Wunsch, das zu werden.
Wenn 1 500 Leute allein im Regierungsbezirk Köln gern Finanzbeamte werden möchten, aber nur 70 Plätze für Finanzbeamte zur Verfügung gestellt werden, wobei jeder weiß, daß jeder Finanzbeamte, insbesondere im Prüfbereich, das Mehrfache seines Gehalts im Jahr in die öffentlichen Kassen bringt, dann muß man schon manchmal von einer Verweigerungsstrategie sprechen.
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Ich denke, wenn dahinter auch noch eine Ansiedlungsstrategie stehen sollte - ich bin NordrheinWestfale, aber ich nehme da kein Blatt vor den Mund, denn wir haben eine Gesamtverantwortung für dieses Land -, dann wäre das sehr, sehr schade.
Man sollte mehr einstellen, in allen Bereichen mehr ausbilden. Dann bekommen Sie auch höhere Einnahmen, und dann wären manche Belastungen der Bürger nicht so nötig, wie sie zur Zeit bestehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind im Rechnungsprüfungsausschuß immer bemüht, einheitliche Lösungen zu finden. Dennoch kann es natürlich auch Meinungsverschiedenheiten geben. Wir achten darauf, daß die Gelder der Bürger möglichst mit dem richtigen Maß an Kontrolle und mit dem notwendigen Maß an Sparsamkeit ausgegeben werden, und wir rügen dort, wo dies nicht geschieht.
Ich bedanke mich genauso wie Frau Kollegin Tiemann bei allen, die uns unsere Arbeit erleichtert haben, die sie begleitet haben, vorbereitet haben, viele im stillen. Ich darf auch einmal ganz deutlich sagen: Ich finde, daß die Arbeit des Sekretariats ganz hervorragend läuft.
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Zugleich möchte ich sagen, daß wir den Mitarbeitern des Bundesrechnungshofs genauso danken wie den Mitarbeitern des Finanzministeriums und den Mitarbeitern aller beteiligten Ressorts, sofern sie uns zur Verfügung gestanden haben.
Ich nehme unsere eigenen Mitarbeiter auch nicht aus, denn vieles, was wir machen, und das, was wir hier sprechen, bedeutet ja vielfach eine ganze Menge Vorbereitung unserer eigenen Mitarbeiter.
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Ich darf zum Schluß kommen. Auch im Namen der SPD-Fraktion beantrage ich, der Bundesregierung die Entlastung für das Haushaltsjahr 1992 zu erteilen.
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Das Wort hat der Kollege Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute haben wir wieder eine kleine, exklusive Runde. Man fühlt sich fast wie im Rechnungsprüfungsausschuß. Die Kollegialität stimmt; das weiß man. Aber es sind ja alles Haushälter, und da gibt es einen bestimmten Ethos. Soweit zum Thema Klima.
Was mich nach 15 Monaten in diesem Rechnungsprüfungsausschuß als Parlamentarier allerdings ärgert, ist natürlich, daß die Hauptarbeit der Kontrolle im Nachgang besteht. Es ist für mich unbefriedigend, teilweise vier oder fünf Jahre alte Prüfberichte auf die Tagesordnung zu bekommen, weil sie durch das Abstimmungsverfahren in den Ministerien überhaupt nicht mehr zeitgemäß sind.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, bei denen man sieht, daß durch eine vorausschauende oder haushaltsbegleitende Bewertung entsprechend bessere Duftmarken gesetzt werden könnten, die auch konkretes politisches Fehlverhalten vermeiden würden.
Wie hätte beispielsweise ein Einigungsvertrag ausgesehen, wenn die zuständige Abteilung des Rechnungshofs in dem Bereich, in dem es um die
Übernahme von DDR-Altschulden in die Umwandlung in echte Schulden gegangen wäre, eine gutachtliche Stellungnahme gehabt hätte? Wäre uns dann nicht der Prüfbericht des Rechnungshofs erspart geblieben, der erst letztes Jahr tagesaktuell auf den Tisch kam, in dem es darum ging, festzustellen, daß plötzlich Milliardenverluste im Zinsbereich für den Staat entstanden sind? Natürlich muß die Diskussion heute darüber geführt werden, ob man die kommunalen Altschulden teilweise in den Bundeshaushalt übernimmt und ob die seit der Wiedervereinigung aufgelaufenen Zinsen - das sind im Bereich der kommunalen Altkredite rund 3,4 Milliarden DM - gegebenenfalls nicht entstanden wären. Das ist ein Beispiel dafür, wie man durch vorausschauende Haushaltskontrolle manche Fehler natürlich vermeiden könnte.
Denken Sie jetzt an eine tagespolitische Geschichte. Wir haben im Bundestag eine Baukommission des Ältestenrats, die den Umzug nach Berlin vorbereitet. Da werden von Architekten fleißig Planungen präsentiert, dort wird großzügig geplant, dort redet niemand über die Kosten. Es wäre sinnvoll, wenn beispielsweise parallel begleitend eine vorausschauende Kontrolle entweder durch das Haushaltsausschußgremium oder durch den Rechnungshof laufen würde, damit man Kostenbelastungen der Zukunft nicht entstehen läßt; denn es geht hier um Volumen in der Größenordnung von 20 bis 25 Milliarden DM im Baubereich.
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Oder: Warum kann ein Rechnungshof nicht - damit wir es nicht im Nachgang gesagt bekommen - parallel zu den Personalstrukturmaßnahmen für die Mitarbeiter von Ministerien oder von Parlamentariern, also unsere eigenen, oder des Bundestages eine Untersuchung durchführen, damit man den goldenen Handschlag nicht im nachhinein kritisiert, sondern im vorhinein versucht, hier eine Gleichbehandlung für den öffentlichen Dienst herbeizuführen, statt Sonderrechte für Bundesbedienstete, die vom Umzug betroffen sind, mir nichts dir nichts zu diskutieren?
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Immer dann, wenn man versucht, tagesaktuell und zeitnah Einfluß zu nehmen, bekommt der Rechnungshof auch Sperrfeuer von den Ministerien.
Zum Schluß ein Beispiel. Es gibt eine Rechnungshofabteilung, die militärische Beschaffungen im Luftfahrtbereich sehr fundiert zu begleiten versucht. Ich nenne das Stichwort Eurofighter, wo der Rechnungshof versucht, angesichts der Waffensystempreise von vergleichbaren Systemen, wie Tornado, aufzuzeigen, daß dieses Waffensystem um ein Vielfaches teurer wird als das, was uns die Regierung klarzumachen versucht. Der Verteidigungsminister ist schier ausgeflippt in der Debatte mit dem entsprechenden Menschen vom Rechnungshof, weil er sich die Einmischung in sein Ressort verbeten hat. Aber wo kommen wir als Parlamentarier hin, wenn wir dem Rechnungshof in einer solchen Situation nicht den Rücken stärken?
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Wir brauchen den Rechnungshof als Schützenhilfe für unsere parlamentarische Kontrollarbeit. Insofern steht meine Rede ein Stück weit dafür, für den Rechnungshof eine Lanze zu brechen. Wir brauchen ihn.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Frau Professor Gisela Frick, F.D.P.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Budgetrecht ist das vornehmste Recht des Parlamentes. Zum Budgetrecht gehört ganz sicher nicht nur die Planung im vorhinein, sondern auch die Kontrolle im nachhinein.
Wenn ich allerdings in die Runde sehe, muß ich sagen, daß offensichtlich die Bedeutung dieser Kontrolle im nachhinein - Herr Kollege Metzger, Sie haben es eben schon angedeutet - etwas zu wünschen übrigläßt.
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- Da kommt noch einer. Nichtsdestotrotz möchte ich natürlich auch die segensreichen Wirkungen des Bundesrechnungshofes und insbesondere auch die Arbeit seiner Mitarbeiter zu Beginn loben,
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genauso wie die Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses und insbesondere auch seines Vorsitzenden, der mir durch die straffe Verhandlungsführung immer wieder imponiert.
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Herr Purps, Sie haben in zwei Punkten die Koalition direkt angesprochen, und weil hier der Teilnehmerkreis einigermaßen überschaubar ist, fühle auch ich mich da angesprochen.
Zum ersten Punkt, zum Solidaritätszuschlag. Das, was Sie gesagt haben - ganz abgesehen davon, daß man die Zahlen natürlich nicht ganz exakt nachprüfen kann, aber ich will sie jetzt noch nicht einmal in Frage stellen -, wäre natürlich richtig, wenn der Solidaritätszuschlag allein die Transferleistung in den Osten wäre. Dann könnte man die Konsequenz sofort und direkt ziehen und sagen: Wenn das weniger nötig ist, weil da entsprechende Mißbräuche aufgedeckt werden, dann können wir sozusagen automatisch auch weniger Solidaritätszuschlag erheben. Aber Sie wissen ja genau - und das macht auch den Inhalt der Diskussion aus -, daß es nur ein ganz kleiner Bruchteil ist, der eine Zusatzfinanzierung für die
Transferleistungen darstellt. Insofern ist diese direkte Rechnung doch ein klein bißchen Etikettenschwindel. Das wollte ich hier nur klarstellen.
Der andere Punkt ist die Einstellung von zusätzlichen Finanzbeamten. Ich habe es eben schon eingeworfen: Sie wissen genau, die Steuerverwaltung ist Landeskompetenz.
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- Ja, natürlich. Das machen die Länder. Sie erwähnten das Beispiel Köln und Nordrhein-Westfalen. Da muß man fragen: Wer ist dort eigentlich Finanzminister, wer hat da die unmittelbare Verantwortung?
Ich will jetzt aber nicht in dieses Wehklagen einstimmen, weil wir uns natürlich mit der Einstellung von weiteren Beamten - die Steuerverwaltung wird sicher eine hoheitliche Aufgabe bleiben, auch wenn wir im Beamtenrecht durchaus flexibler werden - auch erhebliche Personalkosten, und zwar nicht nur während der aktiven Dienstzeit, sondern ebenso später noch entsprechende Versorgungskosten, heranziehen. Deshalb entsteht natürlich ein gewisses Problem, wenn man einfach sagt: Stellt doch mehr Beamte ein, dann ist das alles zu regeln.
Im übrigen müssen wir bei der gesamten Personalpolitik natürlich auch im Auge behalten, daß wir nicht so eindeutig Prioritäten nur zugunsten einer einzigen Gruppe von Beamten setzen können. Das erscheint im Moment, isoliert betrachtet, immer sehr überzeugend, aber es gibt genauso den Ruf - und der ist auch nicht ganz unberechtigt - nach mehr Lehrern, es gibt den Ruf nach mehr Polizeibeamten, und wir könnten hier sicher noch sehr viele andere Beispiele nennen. Überall da zu sagen, das kommt alles nicht in die Tüte, wir stellen nur und einzig und allein noch Steuerbeamte ein für die Betriebsprüfung und für die Steuerfahndung, läßt sich, glaube ich, nicht durchhalten. Da gibt es auch andere berechtigte Interessen.
Das möchte ich nur anmerken, weil Sie die Koalition direkt angesprochen haben.
Zum Schluß noch ein paar allgemeine Bemerkungen zur Konsolidierung des Haushaltes. Frau Tiemann, Sie haben es ebenfalls angesprochen, daß dies ja vom Bundesrechnungshof immer wieder angemahnt wird. Wir hatten heute morgen eine Diskussion, die eigentlich auch schon in eine ähnliche Richtung lief. Wir müssen zu einer Konsolidierung des Haushaltes kommen. Das könnten wir theoretisch durch eine Steigerung der Staatsverschuldung machen. Doch das ist absolut ausgeschlossen. Das könnten wir durch eine Steigerung der Steuer- und Abgabenquote machen. Auch das ist absolut ausgeschlossen.
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Also bleibt uns nur noch übrig, die Ausgabenseite zu untersuchen. Dabei ist es sehr schwer, einen politischen Konsens zu finden, weil immer wieder die betroffenen Gruppen, bei denen dann Kürzungen eintreten müßten, aufschreien. Das ist verständlich aus ihrer jeweiligen Sicht. Aber wir müssen uns dazu durchringen, daß wir hier die Durchsetzungskraft, in gewisser Weise auch den Mut an den Tag legen, Dinge einzugrenzen, damit die Aufgaben des Staates und damit auch die Ausgaben des Staates zurückgeführt werden. Nur da kann der Weg richtig hinführen. Wir brauchen dazu auch die Opposition,
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insbesondere die Mehrheit in den Ländern. Das schaffen wir nicht allein, auch wenn immer wieder versucht wird, es uns in die Schuhe zu schieben. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Der dürfen Sie sich nicht entziehen.
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Und last, but not least will ich auch noch sagen, daß natürlich eine effiziente Verwendung der Mittel auf der Ausgabenseite ganz wichtig ist; denn das Geld, das wir den Steuerbürgern in einer schon sehr hohen Steuer- und Abgabenlast abknöpfen, muß natürlich sparsam und sehr verantwortungsvoll verwendet werden. Genau da liegt die Aufgabe unseres Rechnungsprüfungsausschusses. Deshalb möchte ich zum Schluß noch einmal für die Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses danken.
Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeit im Rechnungsprüfungsausschuß ganz herzlich bedanken.
Zugleich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen Entschließungsantrag meiner Gruppe lenken. Aus den dort genannten Gründen kann die PDS im Bundestag einer Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1992 nicht zustimmen.
Art. 115 des Grundgesetzes regelt bekanntlich den Haushaltsgrundsatz, daß die Einnahmen aus Krediten die Summe der veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht übersteigen dürfen. Im Nachtragshaushalt 1993 war die Kreditaufnahme noch um 0,3 Milliarden DM geringer als das veranschlagte Investitionsvolumen. In der Haushaltsrechnung jedoch übersteigt die Neuverschuldung die Summe der Neuinvestitionen um 1,1 Milliarden DM. Trotzdem ist nach Auffassung der Bundesregierung die Forderung des Art. 115 des Grundgesetzes erfüllt. Wir halten das für etwas absurd.
Der Trick des Finanzministers besteht offenkundig darin, daß die Ermächtigung für die Nettokreditaufnahme im Haushaltsplan volumenmäßig voll ausgeschöpft wird, jawohl, andererseits jedoch die geplanten Investitionen nicht in der im Haushaltsplan festgelegten Struktur realisiert werden. Im Klartext heißt das: Die Parlamentsmehrheit beschließt einen HausDr. Uwe-Jens Rössel
haltsplan, und der Bundesfinanzminister entscheidet,
welche Positionen dann tatsächlich realisiert werden.
Zu dieser unheilvollen Praxis der Bundesregierung hat der Rechnungshof in seiner vorliegenden Untersuchung - sie liegt ja heute erneut aus - auf Seite 21 festgestellt, daß dies eine Verletzung des Art. 115 des Grundgesetzes darstellt. Wörtlich wird in der Unterrichtung des Bundesrechnungshofes ausgeführt - ich zitiere ausnahmsweise -:
Deshalb ist die Bundesregierung nach Auffassung des Bundesrechnungshofes unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten grundsätzlich daran gehindert, bei der Ausführung des Haushaltsgesetzes mehr an Krediten aufzunehmen, als für Investitionen ausgegeben wird; für den Ausnahmefall ist eine Ermächtigung des Haushaltsgesetzgebers notwendig.
Diese Ermächtigung hat der Bundestag nie erteilt.
In der genannten Unterrichtung des Bundesrechnungshofes wird weiterhin festgestellt, daß bereits jetzt die Tilgung von Krediten des Bundes fast ausschließlich durch die Neuaufnahme von Krediten erfolgt und damit bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise letztlich keine Tilgung mehr stattfindet. Ich betone ausdrücklich: Das sind Feststellungen des Bundesrechnungshofes. Die materiellen Gegenwerte zu den aufgenommenen Krediten würden oft nicht mehr existieren. Das sind sehr deutliche Worte des Rechnungshofes. Wenn so etwas in der Privatwirtschaft geschehen würde, dürfte das zu einer Konkurssituation führen.
Die Bundesregierung, so meinen wir, hat offensichtlich in den Folgejahren, 1993 und folgende, nicht die notwendigen Schlußfolgerungen aus diesen Kritikpunkten des Bundesrechnungshofes zum Haushaltsjahr 1992 gezogen. So konnte der Bundeshaushalt 1996 nur durch ein Bündel offenkundiger Luftbuchungen in mehrstelliger Milliardenhöhe geschlossen werden. Im Haushaltsjahr 1995 wurde das Maastricht-Neuverschuldungskriterium nicht erfüllt. Der dafür fällige blaue Brief aus Brüssel wird in den nächsten Tagen bei einem Bundesfinanzminister namens Dr. Theodor Waigel eintreffen, der dafür die politische Gesamtverantwortung trägt
Herr Kollege Dr. Rössel, es tut mir leid, aber Sie müssen jetzt zum Schluß kommen. Einen Satz kann ich Ihnen noch gestatten.
- jawohl -, ausgerechnet bei dem Finanzminister, der gebetsmühlenartig rund um den Globus die herausragende Qualität deutscher Haushaltspolitik als das Modell für die europäische Währungsunion preist.
Ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der letzten halben Stunde - mit Ausnahme des letzten Redners - sind hier so viele gute Ausführungen gemacht worden, daß ich jetzt nur noch Variationen darüber beitragen könnte. Das will ich nicht; ich will Sie auch nicht langweilen.
Ich möchte mich sehr herzlich bedanken bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen des Rechnungsprüfungsausschusses und des Haushaltsausschusses, und - das füge ich hinzu - bei Ihren Mitarbeitern, die die Vorarbeit leisten. Ich weiß das ja, weil ich selber Mitglied in beiden Ausschüssen war. Ich möchte mich für die geleistete Arbeit und für die konstruktive Kritik am Bundeshaushalt 1992 bei den Mitarbeitern des Bundesrechnungshofes bedanken.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, für den Haushalt 1992 die Entlastung zu erteilen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 13/3167 ({0}). Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/3496. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ursula Burchardt, Dr. Peter Glotz, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft
- Drucksachen 13/771, 13/1389 Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1995 geht als Rekordjahr der wesentlich vom Menschen verschuldeten Naturkatastrophen in die Geschichte ein. Die weltweite Schadensbilanz: 180 Milliarden Dollar. Die Folgen: neues Elend, Existenzvernichtung, Armut, Flüchtlingsströme in der Dritten Welt. Zu diesem Urteil kommen nicht weltfremde Ökofundis, sondern die Münchner Rückversicherung.
1995 ist auch das Rekordjahr der Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik.
Umweltzerstörung und Massenarbeitslosigkeit sind die zentralen Probleme des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Beide sind weder mit begrenzter Standortperspektive noch mit Deregulierungsaktionismus zu lösen.
Das Dilemma läßt sich treffend mit einem Bild von Bert Brecht charakterisieren:
Sie sägten die Äste ab, auf denen sie saßen,
und schrien sich zu ihre Erfahrungen, wie man schneller sägen könnte,
und fuhren mit Krachen in die Tiefe,
und die ihnen zusahen, schüttelten die Köpfe beim Sägen
und sägten weiter.
Doch die Methode „Weiter so", wie sie in der Debatte heute vormittag von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen wieder propagiert wurde, hat keine Zukunft. Zukunftsfähige, das heißt nachhaltige Entwicklung erfordert Innovation, und Innovation fängt im Kopf an.
Es gibt heute genügend gesichertes wissenschaftliches Wissen darüber, daß das bisherige Fortschrittsmuster die Probleme unserer Zeit nicht mehr löst, sondern vielmehr selbst Verursacher dieser Probleme ist. Die drei Grundannahmen dieses Modells taugen nicht mehr für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts.
Erstens. Klassisches Wachstum in hochentwickelten Industriegesellschaften schafft nicht zwangsläufig mehr Arbeitsplätze. Auf lange Sicht werden - auch global - weder Hunger bekämpft, noch gibt es Wohlstand für alle.
Zweitens. Natur steht nicht kosten- und grenzenlos zur Verfügung. Es führt in die Sackgasse, immer mehr Rohstoffe zu fördern und immer schneller neue Waren auf den Markt zu bringen. Das ist der sicherste Weg, das „natürliche Kapital" aufzubrauchen. Wer meint, so den Standort Deutschland sichern zu können, gefährdet den Standort Erde.
Drittens. Der Glaube an die Allmacht technischer Lösungen ist inzwischen ein Aberglaube. Es sind nur noch die Ewiggestrigen, die auf den quasi naturwüchsigen Segen von Technik vertrauen.
Damit kein Zweifel aufkommt: Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Fortschritt. Doch der Fortschritt braucht eine neue Richtung. Die Ökologie muß zum Motor für die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft werden. Wir brauchen eine
Innovationsoffensive, die die natürlichen Lebensgrundlagen sichert, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erhält, Arbeitsplätze schafft und die Lebenschancen gerechter verteilt.
Der ökologische Umbau der Industriegesellschaft ist überfällig. Es ist endlich an der Zeit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, verkehrsvermeidend und ressourceneffizient zu wirtschaften, fehlertolerant und schadstofffrei zu produzieren und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme zu erhalten. Das sind Ziele, die ökonomisch wie ökologisch sinnvoll sind, die die Welt braucht und die zu mehr Beschäftigung beitragen.
({0})
Das sind Visionen für eine Forschungs- und Technologiepolitik, die sich an der Zukunft und nicht an technologischen Dinosauriern orientiert. Es geht nicht um weniger Technik, sondern es geht um ihre Neuorientierung. Innovativ ist Technik nur noch dann, wenn sie am gesellschaftlichen Bedarf orientiert ist und Probleme löst, anstatt sie zu verursachen. Technische Einzellösungen sind unzureichend. Gefordert sind Systeminnovationen wie integrierte Verkehrskonzepte und der Einstieg in die Solarwirtschaft. Aus der Innovationsforschung wissen wir alle, daß langfristig nur die Volkswirtschaften international wettbewerbsfähig sind und an die Spitze kommen können, die dies berücksichtigen.
({1})
Deshalb, meine Damen und Herren, ist es notwendig, die Debatte über Innovationshemmnisse endlich einmal vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das größte Innovationshemmnis in unserer Gesellschaft sind die Bedenkenträger und Besitzstandswahrer.
({2})
Monopolstrukturen in der Ver- und Entsorgungswirtschaft behindern das Umsteigen auf eine zukunftsfähige Energieversorgung und abfallarmes Wirtschaften. In vielen Unternehmen überwiegt leider immer noch letztendlich technikfeindliches Beharren auf einmal eingeschlagene Produktlinien. Kleinere und mittlere Unternehmen haben zwar eine hohe Innovationsbereitschaft; ihnen fehlt es allerdings oft an Kapital, weil Banken und Investoren das Risiko scheuen. Innovative Unternehmer werden durch die Bundesregierung ausgebremst. Häufig hört man die Klage, es fehle ihnen Planungssicherheit, weil Regelungen wie die Batterie-, die Altauto- und die Elektronikschrottverordnung immer und immer wieder angekündigt, aber nicht verwirklicht werden.
({3})
Darüber hinaus wird die Anwendung von Forschungsergebnissen blockiert. Das offenkundigste Beispiel der letzten Zeit ist die Photovoltaik. Sie wurde in den letzten 20 Jahren mit 750 Millionen DM
gefördert. Konzerne wie Siemens und RWE haben diese Mittel über ihre Tochtergesellschaften in Anspruch genommen und dann ihre Produktionsstätten ins Ausland verlagert. Markteinführungsstrategien der Bundesregierung sind weit und breit nicht in Sicht - ein klassisches Beispiel dafür, wie Zukunftschancen vertan und öffentliche Mittel verschleudert werden.
({4})
Innovationspolitik für nachhaltiges Wirtschaften ist nicht nur Aufgabe des Umweltministeriums oder eines einzelnen Ministeriums, sondern müßte in allen Ressorts erfolgen. Doch die Politik der Bundesregierung erschöpft sich in starken Worten, wie die Antwort auf unserer Große Anfrage belegt. Da finden sich dann starke Bekenntnisse: Die Verzahnung von Umweltpolitik und anderen Politikbereichen sei erforderlich. Man wolle stärker auf marktwirtschaftliche Mechanismen setzen. Der ökologische Strukturwandel wird nicht nur als notwendig erachtet, nein: Er sei bereits eingeleitet, finden wir da. Man könnte ja sagen, das alles ist schön und gut, wenn es denn mehr als Blendwerk wäre. Umweltvorsorge als Querschnittsaufgabe wird ja selbst von der Umweltministerin vergebens angemahnt. Die ökologische Steuerreform - die Debatte heute vormittag hat es ja gezeigt - wird auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, und im Wirtschaftsministerium gibt es keinen systematischen Versuch, Nachhaltigkeit auch nur im Ansatz durchzubuchstabieren.
({5})
Abenteuerlich wird es, wenn die Regierung vorrechnet, wieviel Forschungsmittel sie für Umweltvorsorge ausgibt. So wird das Etikett „umweltentlastende Forschung" auf alles Mögliche geklebt, unter anderem auf die nukleare Energieforschung und die gesamte Materialforschung. Das macht dann den stolzen Betrag von 750 Millionen DM aus, ist aber sachlich in keiner Weise gerechtfertigt.
({6})
Für die Imagepflege wird dann die Wahrheit auch bis an die Grenze strapaziert. So wird behauptet, es gebe für die Materialforschung ein ökologisches Bewertungsschema. Das stimmt so nicht. Es gibt lediglich - man merke: seit unserer Anfrage - einen unverbindlichen Fragebogen; aber der ist kaum mehr als eine Alibiveranstaltung.
Immer wieder wird vom Wissenschaftsrat und von den Sachverständigenbeiräten der Bundesregierung die Zusammenarbeit von Sozial-, Natur- und Ingenieurwissenschaften gefordert, um Entwicklungspfade für nachhaltiges Wirtschaften zu eröffnen. Fakt ist: Die Umweltforschung steckt nach wie vor im Korsett naturwissenschaftlich-technischer Fragestellungen.
In der Umwelttechnik hat die Bundesrepublik - alle freuen sich darüber - ja noch eine führende Position auf dem Weltmarkt. Aber leider sind wir nur Weltmeister im Filtern und Entsorgen. Umwelttechnik „made in Germany" ist zu 80 Prozent End-ofpipe-Technologie. Die Zukunft und die Zukunftsmärkte gehören aber den integrierten Techniken. Doch deren Förderung ist im Forschungsministerium in einem Umweltreservat geparkt, und noch immer werden überwiegend nachgeschaltete Technologien gefördert, ganz zu schweigen davon, daß Ressourcen-, Energie- und Schadstoffminimierung kein überprüfbares Kriterium in der gesamten Breite der Technologieförderung ist.
Meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, es bleibt festzuhalten: Die Zukunftsvorsorge des sogenannten Zukunftsministers besteht aus Bekenntnissen, geschönten Zahlen und einem programmatischen Flickenteppich. Diese Regierung als Ganzes hat kein Konzept für Nachhaltigkeit, sie ist innovationsunfähig.
({7})
In Zeiten dynamischen Wandels bedeutet Stillstand Rückschritt. Aber nicht der Rückzug aus der Politik ist gefragt, sondern Mut zur Erneuerung und Mut zur Entscheidung. Aufgabe des Staates ist es, die richtigen Rahmenbedingungen für eine ökologische Innovationsoffensive für das ökologische Umsteuern zu setzen. Erforderlich sind langfristig und verbindlich formulierte Umweltziele, auf die sich alle gesellschaftlichen Akteure verlassen können. Erforderlich ist der abgestimmte Einsatz von Instrumenten, vom reformierten Ordnungsrecht, der ökologischen Steuerreform bis zur passenden Infrastrukturpolitik.
Mit der Großen Anfrage „Foschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" und unserem Entschließungsantrag hat die SPD die parlamentarische Initiative für eine ökologische Neuorientierung der Forschungs- und Technologiepolitik ergriffen. Unser Vorschlag stützt sich unter anderem auf die Arbeiten der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt", des Büros für Technikfolgenabschätzung und auf Gutachten, die die Beiräte der Bundesregierung erarbeitet haben. Die Ergebnisse werden von Ihnen leider nur nicht zur Kenntnis genommen. Neuorientierung heißt vor allem Umweltverträglichkeit, Verringerung der Eingriffstiefe in die Natur, Sozialverträglichkeit, Nachhaltigkeit in der wirtschaftlichen Nutzung und Fehlertoleranz von Technik zu verbindlichen Kriterien für die Forschungs- und Innovationsförderung zu machen.
Zukunftsverträgliche Forschungs- und Förderpolitik braucht neue inhaltlich-strategische Schwerpunkte, neue Strukturen und Instrumente. Wir machen dazu eine Fülle konkreter Vorschläge, z. B.: Durch einen neuen Förderschwerpunkt „sozial-ökologische Zukunftsforschung" sollen Strategien für den ökologischen Umbau von Branchen und Regionen entwickelt werden.
({8})
Forschungs- und Technologieförderung ist mit Investitions- und Markteinführungshilfen abzustimmen, um die Verbreitung der ökologisch besten Verfahren und Produkte zu beschleunigen und öffentliche MitUrsula Burchardt
tel effizienter einzusetzen. Innovationsverbünde aus kleinen und mittleren Unternehmen müssen gefördert werden, damit diese nicht vom technischen Fortschritt abgehängt werden.
({9})
Die Projektförderung muß flexibler, nach der ökologischen Effizienz differenziert und um die steuerliche Forschungsförderung erweitert werden.
({10})
Meine Damen und Herren, auch wir wissen, daß der Staat allein die anstehenden Aufgaben nicht lösen kann. Es wäre ein Irrglaube, etwas anderes zu behaupten. Aber es ist notwendig, daß er die richtigen Rahmenbedingungen setzt. Voraussetzung für die Innovationsoffensive, um nachhaltiges Wirtschaften erreichen zu können, ist das Engagement und Bündnis fortschrittlicher Unternehmer, Gewerkschafter, Wissenschaftler, Ingenieure, Umweltschützer und Verbraucher. Ohne die Akzeptanz und Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zur Veränderung geht nichts.
Zu Recht und, wie ich finde, sehr klug hat der Vorstandschef von Hoechst gesagt:
Alles, was nicht öffentlich kommuniziert wird, läßt sich nicht verwirklichen.
Deshalb ist der öffentliche Diskurs über Technikentwicklung und Technikgestaltung zwingend notwendig. Er ist nicht nur eine Frage der Effizienz privater und öffentlicher Investitionen, von Geld und menschlichen Fähigkeiten. Der Diskurs über Forschung und Technik ist vor allem eine Frage von Demokratie, Pluralismus und Freiheit. Wer eine offene, demokratische und plurale Gesellschaft will, muß den gesellschaftlichen Dialog über Technik nicht nur fordern, er muß ihn fördern. Wer diesen öffentlichen Diskurs über Technikwahl, über Risiken und Chancen als fortschrittsfeindlich diffamiert, ist letztendlich selber Feind des Fortschritts.
({11})
Unser Antrag, meine Damen und Herren, ist Anstoß, Forschung und technologische Entwicklung endlich als gesellschaftliches Projekt einer ökologischen, sozialen und demokratischen Zukunft zu begreifen und zu gestalten.
({12})
Das Wort hat Kollege Dr. Gerhard Päselt, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Studie des Wissenschaftsrates zur Umweltforschung in den fünf neuen Ländern war Ausgangspunkt, auch die westdeutsche Umweltforschung zu evaluieren. Im Ergebnis der Stellungnahme des Wissenschaftsrates ist auch die Große Anfrage der SPD-Fraktion „Forschungspolitik für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft" zu werten und die Antwort der Bundesregierung zu sehen.
Die Stellungnahme beurteilt den Stand der Umweltforschung und gibt Handlungs- und Forschungsempfehlungen. Das Gutachten klammert aber die Umweltforschung im Bereich der Wirtschaft aus. Die Umweltforschung hat in Deutschland einen sehr hohen Stand erreicht und kann sich mit ihren Ergebnissen weltweit sehen lassen. Sie ist sogar in Teilbereichen weltweit führend. Als Defizite werden die Ökotoxikologie, die Strahlenschutzforschung und die Umweltmedizin herausgestellt. Unbedingt zu stärken ist auch die ökotoxikologische Theorienbildung, die produkt- und produktionsintegrierte Forschung. Als verbesserungswürdig wird die Koordinierung der institutionellen und projektgebundenen Förderung innerhalb aller Institutionen gesehen. Ein ähnliches Problem tritt zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen auf. Man hat noch nicht gelernt, sich interdisziplinär zu verflechten und interdisziplinär zusammenzuarbeiten.
Genauso defizitär ist die Vernetzung mit humanwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten, die das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt untersuchen. Umweltforschung ist aber keine wissenschaftliche Disziplin im herkömmlichen Sinne, sondern ist Teilgebiet verschiedener Einzelwissenschaften. Die Umwelt kann in ihrer Komplexität nur erfaßt werden, wenn interdisziplinär vorgegangen wird und auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt einbezogen wird.
({0})
Weil es am Zusammenspiel der einzelnen Wissenschaften mangelt, wurde auch noch keine gemeinsame Sprache zwischen Naturwissenschaftlern, Ingenieuren, Ökonomen, Psychologen und Juristen gefunden, um Konzepte und Strategien für Maßnahmen der Umweltvorsorge und zur Anpassung unseres Verhaltens und Wirtschaftens an Umweltveränderungen auszuarbeiten. Wir werden in unserer heutigen Debatte den Stand der von der Bundesregierung eingeleiteten bzw. angestrebten Maßnahmen als auch der politischen Umsetzung zu beurteilen haben. Es ist die Frage zu stellen, inwieweit sich die Forschungsprogramme der Bundesregierung bzw. die Schwerpunktsetzung in den Programmen mit den Empfehlungen und Anregungen des Wissenschaftsrates, der anderen Beiräte und Kommissionen decken.
Wir können heute als CDU/CSU-Fraktion feststellen, daß die Bundesregierung den Bericht des Wissenschaftsrates sehr ernstgenommen und sich sofort an die Umsetzung gemacht hat.
({1})
Daß ein Teil der darin aufgezeigten Probleme nicht durch kurzzeitigen Aktionismus gelöst werden kann, sondern längerfristig angelegt werden muß, dürfte allen klar sein. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates für die Verbesserung der UmweltforDr. Gerhard Päselt
schung können aber für die Forschungsstrategie nicht die einzige Richtschnur sein, sondern für die Neuorientierung von Forschung und Entwicklung sind die Empfehlungen und Ausführungen der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" gleichbedeutend, ebenso das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung.
Aufgabe der Forschungspolitik ist es, Zukunftsvorsorge zu treffen. Dies gilt auch für die Umweltforschung. Die Forschungspolitik kann dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung nur folgen.
Unser gemeinsames Ziel muß es sein, die Lebensgrundlagen für unsere Kinder und Enkelkinder mit entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten.
({2})
Dabei stellt sich die Frage: Wie können wir durch Schaffung der Rahmenbedingungen dafür sorgen, daß einem Wirtschaftswachstum auf der einen Seite ein geringerer Ressourcen- und Energieverbrauch und Schadstoffeintrag in die Umgebung von Luft, Boden und Gewässer auf der anderen Seite gegenüberstehen?
Es ist eine alte Erkenntnis, daß es besser ist, die Schadstoffe nicht erst in die Umwelt gelangen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Aber es ist eben leichter gesagt als umgesetzt. Rein verbal haben wir das auch in der ehemaligen DDR kraftvoll verkündet, aber wenig davon umgesetzt und uns nicht daran gehalten.
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Die Umweltforschungspolitik der Bundesregierung muß auf diese Herausforderung eine Antwort geben. Sie muß in Abstimmung mit der Wissenschaft, der Wirtschaft, den Gewerkschaften und Verbänden die Prioritäten herausarbeiten und im Forschungsprogramm verankern. Dabei haben sich folgende Schwerpunkte herauskristallisiert. Wir haben heute darüber zu befinden, ob dies die richtigen sind. Im einzelnen sind dies: verstärkte Einbeziehung wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Staat müssen gemeinsam an Lösungen arbeiten. Die ökologische Forschung muß Handlungswissen bereitstellen. Neue Technologien, Methoden, technische Entwicklungschancen, umweit- und ressourcenschonende Eigenschaften müssen prioritär gefördert werden.
In der Umwelttechnik sind integrierende Lösungen, produkt- und produktionsintegriert, mit geschlossenen Kreisläufen zu fördern. Das wird seit Jahrzehnten gefordert. Ich wäre froh, wenn wir das durch einfache verbale Kraftakte verwirklichen würden. Aber das ist so leider nicht gestaltbar. Ich hoffe, daß wir alle zusammenarbeiten, damit wir es schaffen. Das wird nicht eine Angelegenheit von rechts oder links sein, sondern das wird gemeinsames Handeln aller, die daran beteiligt sind - ich betone, nicht nur der Politiker, sondern aller -, erfordern. Ich hoffe, daß wir dazu fähig sind.
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Auf der Grundlage dieser Schwerpunkte bereitet die Bundesregierung ein neues ressortübergreifendes Umweltforschungs- und Umwelttechnologieprogramm für die nächsten Jahre vor. In der Antwort der Bundesregierung wird der Zeitraum eines Jahres für die Erstellung genannt. Es würde dem Parlament spätestens im Mai 1996 vorliegen. Ein solches Programm kann nur das Ergebnis eines längeren Abstimmungsprozesses sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es reicht aber nicht aus, die Forschungsschwerpunkte zu erkennen und Prioritäten festzulegen, sondern die Forschung muß mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden. Es ist die Frage zu stellen: Hat die Forschung genügend Mittel? Absolut wird man diese Frage nie beantworten können. Wir können diese Frage nur im Vergleich mit anderen Bereichen und mit dem Gesamthaushalt beurteilen. Es gehört zu den Aufgaben der durch den Bund finanzierten Forschungszentren, durch ihre Aktivitäten dafür zu sorgen, daß die Existenzgrundlagen der Menschen gesichert werden. Etwa 500 Millionen DM werden vom Gesamtbudget dieser Zentren für 2 000 Mitarbeiter verwendet. Für die Förderprogramme mit der Zielsetzung Vermeidung und Verringerung von Umweltbelastungen durch Emissionsminderung und Ressourcenschonung hat die Bundesregierung allein im Jahre 1995 2,3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Ich erspare mir die Aufzählung der weiteren Mittel, die zur Verfügung gestellt worden sind.
Die technische Umweltforschung ist aber auch unter dem Gesichtspunkt Wirtschaftsstandort Deutschland zu sehen. Uns wird ein hoher Stand auf den Forschungs- und Entwicklungsfeldern Luftreinhaltung, Abwasserklärung, Trinkwasseraufbereitung, Müllverbrennung, Bodensanierung und Umweltmeß- und -analysentechnik bescheinigt. Wir erzielen damit große Exporterfolge. Mit 55 bis 58 Milliarden DM halten wir bei 51 Prozent die Weltmarktbranche und sichern etwa - das wurde heute früh gesagt - 700 000 Arbeitsplätze.
Für die Umwelttechnologieforschung ist weiterhin eine überproportionale jährliche Steigerung der Finanzmittel vorgesehen. So werden etwa für die institutionelle Förderung der Material- und Werkstoffforschung entsprechende Mittel ausgegeben. Ich gehe nicht mit Ihnen konform; denn auch Werkstoffforschung gehört hinzu. Durch bessere Werkstoffe kann man höhere Nutzungsgrade erreichen, bei längerer Lebensdauer Ressourcen schonen und höhere Wirkungsgrade erzielen. Was es in der Energietechnik bedeutet, wenn man 1, 2 oder 3 Prozent höhere Nutzungsgrade hat, das kann sich jeder ausmalen.
Diese Ausführungen sollen deutlich machen, daß die Probleme erkannt und erhebliche Mittel für die Forschung bereitgestellt wurden. Der Forschungshaushalt war einer der wenigen, bei dem nicht gekürzt wurde, sondern der eine moderate Erhöhung erfuhr. Der effektive Einsatz dieser Mittel muß ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein.
Umweltforschung und Umweltpolitik können aber die Probleme nicht lösen, wenn nicht eine entspreDr. Gerhard Päselt
chende Wirtschaftspolitik damit einhergeht und dazugehört.
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Das von Staat und Industrie in Forschungsprojekte investierte Kapital geht verloren, wenn nicht anschließend die anwendungsbezogene Umsetzung der Forschungsergebnisse finanziell abgesichert ist.
Herr Kollege Dr. Päselt, es tut mir leid, aber Sie müssen zum Schluß kommen.
Einen Satz noch.
Für kleine und mittelständische Unternehmen bieten die KMU-Fördermaßnahmen die Möglichkeit, daß sie sich an der Umsetzung von Forschungsergebnissen in marktfähige Produkte beteiligen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich hoffe, daß wir die Zukunft meistern können.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Manuel Kiper, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Päselt, das, was Sie hier vorgetragen haben, war ja nun doch ein bißchen konventionell.
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Ihre Rede hat sich nicht auf die Höhen hinaufgeschwungen, wie die SPD das Thema vorgegeben hat.
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Vielleicht hören wir aus Ihrer Fraktion noch ein bißchen Weitergehendes über das, was jetzt eigentlich Thema sein müßte, nämlich die zukunftsfähige Gestaltung unserer Gesellschaft, zukunftsfähiges Wirtschaften und die entsprechende Forschung und Technologie auf den Weg zu bringen, um dies als Programm durchzusetzen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nachhaltige Entwicklung, zukunftsfähige Entwicklung, das, was hier das Thema unserer Aussprache ist, ist eine Integrationsformel, hinter der sich alle politischen Richtungen einreihen können. Es ist aber auch die Formel, in deren Namen inzwischen die bisherige Politik des Raubbaus am Naturhaushalt fortgesetzt wird.
Deshalb müssen wir uns genauer damit befassen und müssen konkretisieren, was mit nachhaltiger Entwicklung, mit zukunftsfähiger Entwicklung gemeint ist. Da muß man ganz deutlich sagen: Die Bundesregierung hat hier nicht genug zu bieten. Sie verweist in der Frage nachhaltiger Entwicklung auf ihr „Umwelt 1994 - Politik für eine nachhaltige umweltgerechte Entwicklung". Dies sei der nationale Aktionsplan, wie von der Agenda 21 in Rio gefordert.
Die Bundesregierung meint, mit diesem Plan „Umwelt 1994" neben den Bereichen Landwirtschaft, Freizeitgestaltung und Verteidigung ganz „besonders" - besonders ist ein Zitat - auch den Forschungsbereich mit dem neuen Leitbild durchzogen zu haben. Es waren fünf von fast 300 Seiten in diesem Bericht, wo die Bundesregierung das einmal durchbuchstabiert hat. Man muß sagen, es war genauso konventionell wie das, was Sie, Herr Päselt, eben vorgetragen haben.
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Forschung und Technik für nachhaltige Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen, muß etwas anderes sein als die Erfindung von DSD, wo der Müll unter hohem Energieeinsatz im Kreise gedreht wird.
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Ich möchte der Bundesregierung zugute halten, daß ihr neues Umweltforschungsprogramm noch nicht fertig ist. Vielleicht werden wir dort noch ein paar neue Töne hören. Im Augenblick hat sie auf diesem Gebiet nichts zu bieten. Deshalb bin ich der SPD-Fraktion und der Kollegin Ulla Burchardt ausgesprochen dankbar, daß sie der Bundesregierung mit diesem Entschließungsantrag und mit der Großen Anfrage eine gehörige Portion Nachhilfeunterricht erteilt haben.
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Der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion ist aus unserer Sicht gut, auch wenn er im Augenblick nichts besonders Neues bietet. Immerhin ist es so, daß er die Ergebnisse, die in der Enquete-Kommission zusammengetragen worden sind, die strategischen Handlungsansätze für Forschung und technologische Entwicklung noch einmal aufgreift, systematisch zusammenstellt und diese hervorragende Arbeit der Enquete mit dem kombiniert, was auch an Technikfolgenabschätzung im Technikfolgenabschätzungsbüro des Deutschen Bundestages über Umwelttechnikentwicklung erarbeitet worden ist.
Das ist von der SPD dankenswerterweise alles zusammengetragen worden. Daraus ist ein guter und programmatischer Entschließungsantrag entstanden. Diesen können wir nur unterstützen.
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- Der kommt auch noch. Er ist kurz. Wir haben ihn auf diese Debatte bezogen und haben in diesem Entschließungsantrag etwas eingebracht, was in Ihrem Antrag, Herr Catenhusen, fehlt, nämlich eine Neuausrichtung der Forschungspolitik, die Ausrichtung von Forschung und Entwicklung auf nachhaltig umweltverträgliche Entwicklung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können da aus den Niederlanden aus ihrem Sustainable TechDr. Manuel Kiper
nology Program lernen. Die Niederlande haben eine entsprechende Initiative ergriffen, wie Nachhaltigkeit gewissermaßen aus einem Horizont von 50 Jahren heraus zurückbuchstabiert wird und daß gefragt wird: Wie wird die Welt voraussichtlich in 50 Jahren aussehen, welche Probleme sind da zu lösen? Was gibt das heute für die Forschungs- und Entwicklungspolitik für Ausgaben? Aus diesem BackCasting-Ansatz wurde ein Programm geboren.
Das ist das, was im wesentlichen bei dem fehlt, was Sie von seiten der SPD-Fraktion vorgelegt haben. Wir formulieren das in unserem Entschließungsantrag. Wir haben darüber hinaus weitere Forderungen aufgenommen, die in ähnlicher Weise auch von Ihnen angesprochen worden sind, Lücken, die der Wissenschaftsrat festgestellt hat, Interdisziplinarität, die wir betonen wollen usw. Aber darin unterscheidet sich unser Entschließungsantrag nicht von dem, was Sie von seiten der SPD hier eingebracht haben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, noch eine Bemerkung zu der Innovationsdebatte von heute morgen: Der Herr Zukunftsminister hat ja letzte Woche einen Bericht zum Innovationsstandort Deutschland vorgelegt, in dem der Innovationsstandort Deutschland schlechtgeredet wurde. Ich kann das nur als eine Methode bezeichnen, die dazu dienen soll, gewissermaßen eine Technikeuphorie zu züchten, um den internationalen Wettlauf anzuheizen, um Umweltstandards zu senken.
Es gibt in Deutschland hervorragende Leistungen in der Umweltforschung. Es gibt auch ganz andere Meinungen: Der Innovationsstandort Deutschland ist gut. Fragen Sie nur den Präsidenten des Deutschen Patentamtes in München; von dort werden Sie ganz andere Antworten bekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß.
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- Wenn Sie jetzt Schluß machen, würden Sie einen Fehler begehen. - Wir dürfen einen Fehler nicht begehen: Das, was hier verlangt wird - Systemforschung, Verbesserung der Prognosefähigkeit, Ermittlung der Grenzbelastbarkeit, verbessertes Monitoring usw. -, darf nicht zu einer technokratischen Attitüde des Erdmanagements verführen.
Die Bundesregierung erwartet von der ökologischen Forschung - ich möchte hier noch einmal aus der Antwort zitieren - künftig „Konzepte zum Management von Ökosystemen und ganzen Naturlandschaften". Bei der Planung nachhaltiger Entwicklung sollten wir aber auch Raum lassen für das, was Herr Keuner an den Bäumen so bemerkenswert fand: Sie wachsen einfach so. Nachhaltige Entwicklung braucht auch Raum für Natur, darf nicht nur eine Umwelt ex machina sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
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Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Laermann, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wort an Sie, Herr Kiper, ein Wort von Aristoteles bis Popper: „Man kann die Zukunft nicht vorhersehen, aber wir sollen sie möglich machen. " - Das ist unsere Aufgabe, und aus diesem Grunde sind wir hier.
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Meine Damen und Herren, ich habe nur wenige Minuten Redezeit. Ich will deshalb versuchen, auch nur einige besondere Punkte, die mir wichtig erscheinen, hier herauszustellen.
Es ist zweifellos richtig, daß Forschung und Entwicklung einen entscheidenden Beitrag zur Lösung volkswirtschaftlicher Strukturfragen leisten und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft erhalten und stärken müssen. Niemand wird das bezweifeln. Aber genauso wichtig und unverzichtbar ist es, Forschung und Entwicklung so auszulegen, daß nachteilige Auswirkungen und Schäden der natürlichen Umwelt - auch der sozialen Umwelt; davon wird wenig geredet - vermieden werden, wie auch mögliche neue Risiken, die als Folge der Nutzung neuer Techniken unter Umständen entstehen können.
Unter einem neuen Paradigma muß Forschungspolitik deshalb so konzipiert werden, daß das komplexe Problem des scheinbaren Gegensatzes zwischen den genannten Zielen aufgelöst wird, das heißt, in erster Linie muß Forschungspolitik auf deutlich mehr Interdisziplinarität ausgerichtet werden.
({1})
Das gilt, Herr Päselt, nicht nur für die Wissenschaftler, sondern auch für die Forschungspolitik selbst.
Es kommt meines Erachtens entscheidend darauf an, Zusammenhänge und Interdependenzen zwischen den verschiedenen Forschungsbereichen zu erkennen und diesen Abhängigkeiten durch interdisziplinäre Kooperation zu entsprechen. Nicht nur Umweltpolitik ist Querschnittsaufgabe, ist Querschnittspolitik. Auch Forschungs- und Entwicklungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe.
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Ich sage mit allem Nachdruck: Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, auch eine dem zwingenden Gebot der Interdisziplinarität entsprechende Abstimmung und Koordinierung zwischen den Ressorts einer Regierung - und nicht nur zwischen den Ressorts der Bundesregierung -, auch eine stärkere Koordinierung und Abstimmung mit den europäischen Forschungsprogrammen.
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So besteht zweifellos ein enger Zusammenhang zwischen Biotechnologie, Gesundheit und Umwelt, in den auch die Informationstechnologie einzubeziehen ist.
Überhaupt, denke ich, muß bewußter werden, daß eine effiziente Umweltforschung ohne die Erkenntnisse aus vielen anderen Forschungsbereichen und die daraus abgeleiteten technischen Möglichkeiten nicht denkbar ist.
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Wie wäre zum Beispiel Klimaforschung möglich ohne die modernen Entwicklungen in der Meß- und Analysetechnik, der elektronischen Datenverarbeitung, der Satelliten- und Übertragungstechnik?
Andererseits, denke ich, führt kein Weg an der Erkenntnis und Notwendigkeit vorbei, daß in allen Bereichen von Forschung und Entwicklung und nicht nur in Naturwissenschaft und Technik, sondern auch in den Gesellschaftswissenschaften die Erfordernisse des Umweltschutzes wie auch der Akzeptanzdiskussion integraler Ansatz sein müssen.
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Denn der technische Fortschritt oder möglicherweise auch das, was als Fortschritt bezeichnet wird, ist kein allein für sich zu betrachtender, isolierter, in sich selbst begründeter Problembereich. Vielmehr sind die Technik und daraus abgeleiteten Technologien einbezogen in ein höchst komplexes Wirkungsgefüge, untrennbar verbunden mit gesellschaftlichen Entwicklungen, mit ökonomischen, ökologischen und weiterhin auch politischen Entscheidungen.
Die technischen Errungenschaften - ganz gleich, auf welchem Gebiet - beeinflussen zweifellos den Menschen, sein Verhalten, sein Leben, verändern seine Wertvorstellungen immer stärker - in seiner privaten wie in seiner beruflichen Existenz gleichermaßen. Sie verändern die politischen und gesellschaftlichen Beziehungen ebenso wie die grundlegenden geistigen Strömungen. Dazu gehören auch die Wirkungen neuer Technologien auf die Kultur, auf Kunst, auf Literatur. Diese Wirkungen werden vielfach erst im nachhinein als Folgewirkungen wahrgenommen. Es gilt also, in der Forschungspolitik die kausalen Zusammenhänge zwischen neuen technischen Entwicklungen sowie den geistigen und wirtschaftlichen Veränderungen zu bedenken.
Das ist im übrigen nicht nur von der Politik einzufordern, sondern natürlich und gerade von denjenigen, die in Forschung und Entwicklung tätig sind. Das heißt im Klartext: Wir können uns eine vernünftige Forschungs- und Entwicklungspolitik überhaupt nicht vorstellen, wenn dazu nicht die notwendigen Voraussetzungen in Bildung und Ausbildung gelegt werden. Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure, aber auch Kulturschaffende fallen nun mal nicht wie reife Pflaumen vom Baum, sondern die muß das Bildungssystem in bester Qualifikation hervorbringen. Deswegen dürfen wir das eine nicht von dem anderen trennen.
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Daher bitte ich darum, daß wir nicht abstrakt immer nur von Rahmenbedingungen sprechen und davon, daß der Staat für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen muß. Meine verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum, daß wir uns ernsthaft aus diesen Sprechblasen herauslösen und einmal eingehend darüber diskutieren, was wir unter diesen Rahmenbedingungen, die wir immer einfordern, eigentlich verstehen.
Ich glaube, wir sind endlich einmal dazu aufgerufen, aus diesem Abstrakten herauszutreten und ganz konkret festzustellen: Woran liegt es im einzelnen? Ich höre heute den ganzen Tag: Es liegt an Lohnnebenkosten, es liegt an Überregulierungen, an Überreglementierungen. Lassen Sie uns das alles einmal versuchen aufzulösen. Es sind dabei viele Detailfragen zu bedenken, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Das ist ein Mosaik. Es ist mühsam, sich damit zu beschäftigen und es zusammenzusetzen. Aber wenn wir weiterkommen wollen, dann müssen wir uns damit beschäftigen.
George Bernard Shaw hat gesagt:
Wir dürfen nicht bleiben, wie wir sind. Wir dürfen nicht immer nur das tun, was wir immer schon getan haben, sonst werden wir aus den Schwierigkeiten nicht herauskommen.
Es ist unsere Aufgabe, zu versuchen, aus den Schwierigkeiten herauszukommen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Neumann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zielvorstellungen in der Großen Anfrage der SPD wie auch im Entschließungsantrag der SPD - im wesentlichen identisch auch mit den Forderungen der Enquete-Kommission - sind prinzipiell nicht strittig. Sie wollen einen umfassenden Innovationsprozeß unter dem Leitbild einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung.
Genau auf diese dauerhaft umweltgerechte Entwicklung hat sich die Bundesregierung in Rio 1992 verpflichtet. Wir wollen die natürlichen Lebensgrundlagen sichern, die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit erhalten und die Gesellschaft in einer sozial verträglichen Weise weiterentwickeln.
Ihre Hauptkritikpunkte in Ihrer Entschließung wie auch eben in Ihrem Beitrag, Frau Burchardt, sind, die
Bundesregierung habe keine politische Gesamtstrategie für eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft, in Forschung und Technik überwiege einseitig die Ausrichtung auf kurzfristige ökonomische Interessen. Sie beklagen eine vermeintlich mangelhafte Kooperation der Ministerien untereinander, mit der Wirtschaft und anderen Interessengruppen der Gesellschaft. Ich glaube, diese Punkte machen die wesentlichsten Teile Ihrer Kritik aus.
Meine Damen und Herren, sicher ist für die Aufgabe, die wir in Rio übernommen haben, und ihre Umsetzung noch ein weiter Weg zurückzulegen. Wenn Sie den Maßstab ganz hoch anlegen, wird keiner derjenigen, die in Rio gezeichnet haben, diesen Anforderungen in aller Absolutheit gerecht. Weil dies so ist, gibt es ja auch noch einen umfangreichen Forschungsbedarf. Das heißt, wir stehen hier am Anfang.
Auf der andere Seite können wir uns mit den Leistungen im Bereich der Umweltpolitik im Vergleich zu ähnlichen Industrienationen nicht nur sehen lassen, sondern in vielen Bereichen stehen wir an der Spitze. Aber dies bedeutet natürlich auch, daß wir noch viel mehr tun müssen und noch viel mehr tun wollen. Auch insofern gibt es wohl keinen entscheidenden Unterschied.
Ich möchte mich in meinen wenigen Anmerkungen auf die Forschungs- und Technologiepolitik konzentrieren, zumal der Kollege Hirche anschließend aus dem umweit- und ordnungspolitischen Bereich etwas sagen wird. Ich verweise auch auf die umfangreiche Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage und beschränke mich daher aus zeitlichen Gründen auf wenige Anmerkungen.
Erste Anmerkung, Frau Burchardt: Worte und Taten der Bundesregierung, bezogen auf den Sachverhalt, den wir hier diskutieren, stimmen überein.
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Wir haben in dreifacher Hinsicht vor dem Hintergrund des Rio-Prozesses die Weichen neu gestellt,
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sind dabei, sie neu zu stellen,
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und damit können wir uns international sehen lassen.
Ich möchte das auf drei Punkte konzentrieren:
Erstens. Im Rahmenkonzept „Produktion 2000" ist die sogenannte Kreislaufwirtschaft ein wesentliches Teilgebiet. Wir wollen den Produktionskreislauf vom Rohstoff über das Produkt zum Abfall so verbessern, daß weniger Material aus der Natur entnommen wird und weniger Abfälle die Natur belasten.
Für das Rahmenkonzept „Produktion 2000" geben wir 1995 bis 1999 zusätzlich 450 Millionen DM aus - neben den eigentlichen Technologieförderprogrammen, wie Materialforschung und Informationstechnik -, und damit können wir uns weltweit sehen lassen.
Zweitens. Bei der Förderung der Umwelttechnik, die einen Schwerpunkt unserer politischen Maßnahmen ausmacht, geht es um zwei Aspekte. Erstens geht es um die nachsorgende Technologie, mit der wir auf dem Weltmarkt Spitze sind und die auch weiter nötig sein wird, wo eine Vermeidung an der Quelle nicht funktioniert.
Daß es das Ziel sein muß, hier überleitend zur Vorsorge zu kommen, ist völlig klar. Aber wir Deutschen haben zum Beispiel in den Wassertechnologien und in der Luftreinhaltungstechnologie die höchsten Umweltstandards und bieten die weltweit fortschrittlichsten Technologien an. Deutschland ist führender Exporteur bei Abfall- und Abwassertechnologie. Wir bilden uns ein, mit einer Vielzahl von Projekten zu diesem guten Ergebnis in der Vergangenheit einen entscheidenden Beitrag geleistet zu haben.
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Zweitens, meine Damen und Herren, geht es natürlich um die Vorsorge; Kollege Päselt hat es angesprochen. Ein neuer Schwerpunkt ist produktionsintegrierter Umweltschutz, kurz PIUS, den wir eingerichtet haben. Hier geht es um Umweltschutz, der von vornherein in die Produktion und in die Produkte integriert ist.
Die Mittel für den produktionsintegrierten Umweltschutz werden 1996 gegenüber dem Vorjahr erneut überproportional um 10 Prozent steigen. Wir geben allein für diesen Teilbereich im Rahmen des Gesamtprogramms von 1995 bis 1999 insgesamt 254 Millionen DM aus.
Dritter Schwerpunkt, bezogen auf die Gesamtzielsetzung, die auch in Rio Grundlage war: Wir haben auch in der Ökologie längst eine Umorientierung vorgenommen. Wir brauchen ein besseres, für die Praxis verfügbares Wissen darüber, was die Natur verkraftet und was nicht. Es geht nicht mehr nur um den Naturschutz als Ausweisung von Reservaten, sondern um Naturschutz in einer Landschaft, die zugleich für Freizeit- und Wirtschaftszwecke genutzt werden kann.
Der Wissenschaftsrat, auf den Sie sich, Frau Kollegin, vorhin bezogen haben, hat die Umweltforschung in Deutschland im Jahre 1994 bewertet und genau diesen interdisziplinären, auf die Praxis bezogenen Ansatz als vorbildlich charakterisiert. Im neuen Umweltforschungsprogramm, das wir im ersten Halbjahr 1996 fertigstellen, wird dieser Ansatz, der auf Beiträge zu einer dauerhaft umweltgerechten Entwicklung ausgerichtet ist, noch stärker im Vordergrund stehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Gern, allerdings mit der allgemein üblichen Floskel: wenn sie mir nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Das ist in der Geschäftsordnung so vorgesehen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine konkrete Frage zu einer konkreten zukunftsweisenden Technologie.
Ist Ihnen bekannt, daß seit 15. Oktober die Solarzellenproduktion in Wedel eingestellt worden ist, daß der Gerätepark, der mit hohen Fördermitteln des Bundes installiert und dort entwickelt worden ist, stillsteht und damit die Gefahr besteht, daß die vorhandenen Maschinen und Geräte kaputtgehen bzw. möglicherweise durch langes Stillegen unbrauchbar werden? Ist Ihnen bekannt, daß es eine Erfurter Unternehmensgruppe gibt, die diese Maschinen und Geräte aufkaufen und ein Werk für Solarzellentechnologie in Erfurt installieren will, daß diese Unternehmensgruppe Betriebskosten von nur 50 Prozent der Kosten garantiert, die in Wedel entstanden sind?
Warum wird der Vorvertrag, der zwischen dem Unternehmen in Wedel - das ist die ASE GmbH - und der Erfurter Unternehmensgruppe gefertigt worden ist, nicht durch Ihr Haus bestätigt? Er bedarf einer Bestätigung Ihres Hauses, da in die Technologie dort Fördermittel eingeflossen sind.
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Herr Kollege, der Vorgang, bei dem mein Ministerium eine indirekte Mitwirkungsmöglichkeit hat, da es um den möglichen Verkauf der Produktionsanlagen geht, ist mir bekannt. Die Mitwirkungsmöglichkeit ist deshalb indirekt, weil wir diese Produktionsanlagen mit gefördert haben, dementsprechend den vereinbarten Preisen beim Verkauf zustimmen müssen und auch einen 50prozentigen Anteil daran haben.
Die Vorgänge in Wedel, also die Produktionsverlagerung und das Ende der Aktivitäten der ASE, die mit beträchtlichen Mitteln auch des Bundes gefördert worden ist - darüber ist hier häufiger diskutiert worden -, sind bedauerlich. Jetzt geht es um die Frage, was mit diesen Produktionsstätten geschehen soll.
Nach meinen Informationen gibt es zwei Alternativen. Zum einen gibt es die Alternative, daß die Anlagen in Wedel bleiben und die Produktion durch die Belegschaft, in welcher Konstruktion auch immer, in eigener Regie weitergeführt wird. Die andere Alternative wäre, daß der Verkauf der Anlagen an die neugegründete Firma ERSOL in Erfurt erfolgt. Das war Ihr besonderer Schwerpunkt.
Ich darf sagen, daß wir natürlich daran interessiert sind, daß hier alsbald eine Entscheidung fällt, daß für uns aber, selbst wenn Sie auf Grund Ihrer regionalen Herkunft lieber eine andere Antwort hören wollen, die Erhaltung möglichst vieler Arbeitsplätze vor Ort Priorität hat. Wenn dies möglich ist, werden wir dies unterstützen. Ist dies nicht möglich, ist die Alternative, die Sie dargestellt haben, vernünftig.
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Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, möchte ich jetzt meinen Beitrag fortsetzen: Meine Damen und Herren, ich habe gerade die drei Schwerpunkte, die ich auch auf Grund der Diskussionen von Rio als ein Stück Neuorientierung bezeichne, dargestellt. Es war die Produktionstechnik 2000 mit dem Unterthema Kreislaufwirtschaft, es war das Thema Ökologie, und es war die Umwelttechnik.
Für alle diese drei Ansätze werden die Fördermittel, Frau Burchardt, in den kommenden Jahren kräftig wachsen. Sie haben eben die Zahl angezweifelt. Allein im Haushalt des Forschungsministeriums steigen die Ansätze für Umweltforschung und -technik von 682 Millionen DM in 1994 auf 774 Millionen DM in 1996. Das sind überdurchschnittliche Wachstumsraten von jährlich über 6 Prozent bei sinkendem Haushalt. Meine Damen und Herren, dies kann sich sehen lassen, und das sollten Sie von der Opposition auch einmal begrüßen.
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Verehrte Kollegen auf der Seite der Opposition, ihre weitere Kritik bestand darin, daß das alles isoliert geschehe und daß soziale und ökonomische Faktoren zu wenig einbezogen würden. Ich darf feststellen, daß wir diese Kritik nicht akzeptieren und damit natürlich Ihre Zielsetzung befürworten, daß wir hier global vorgehen müssen.
Das neue Umweltforschungsprogramm, welches wir im Frühjahr fristgerecht vorlegen, welches auch in enger Abstimmung mit anderen Häusern, insbesondere mit dem BMU, erarbeitet worden ist, wird diese Gesichtspunkte berücksichtigen. Wir haben bei all den Verbundprojekten, zum Beispiel in der Stadtökologie oder in der Klimaforschung, Wert darauf gelegt, daß eine Zusammenarbeit von Ökonomen, Sozialwissenschaftlern, Juristen und Naturwissenschaftlern erfolgt. Das heißt, auch die von Ihnen eingeforderten sozialen und ökonomischen Aspekte spielen eine entscheidende Rolle.
Sie werfen der Bundesregierung in Ihrer Präambel zur Großen Anfrage allerdings vor, in der Forschungspolitik einseitig nur auf schnell wirtschaftlich verwertbare Technologien zu setzen. Darüber müssen wir noch einmal nachdenken, meine Damen und Herren. Sie monieren also, daß wir unter anderem darauf setzten, daß wir Umweltschutz und wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich von Umweltforschung schnell in die wirtschaftliche Anwendung bringen wollen.
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- Ich habe das nur zitiert; ich könnte es jetzt vorlesen.
- Wenn das so wäre, verstünde ich die Welt nicht mehr. Das ist doch gerade der Punkt in der forschungspolitischen Debatte: Wir beklagen, daß es in Deutschland nicht schnell genug geht mit der Umsetzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in konParl. Staatssekretär Bernd Neumann
krete Produkte auf dem Markt. Dies gilt für die Umweltforschung und Umweltpolitik genauso. Wichtig ist, daß wir das, was wir wissenschaftlich erkannt haben, möglichst bald umsetzen, und das hat dann auch positive gesellschaftliche Folgen.
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Lassen Sie mich zum Schluß kommen, konkret bezogen auf Ihre Ausführungen, Frau Kollegin Burchardt. Es ist faszinierend, daß auch Sie nun sagen, die Rahmenbedingungen müssen verbessert werden, und vor allem muß es mehr Planungssicherheit geben. Aber schauen Sie einmal, meine Damen und Herren von der SPD, in Ihre eigene Partei. Schauen Sie in die verschiedenen Länder, die jetzt leider noch von Ihnen regiert werden, und fassen Sie einmal nach, wie Sie sich bei konkreten Projekten verhalten. In der Regel schrauben Sie die Auflagen höher und beengen die Möglichkeiten der Unternehmen, Innovationen voranzutreiben.
({4})
Die Gentechnik in der Vergangenheit war der typische Fall dafür. Sie haben mit dazu beigetragen, daß wir hier noch nicht so weit sind wie die anderen.
Oder nehmen Sie die Kernenergie. Da haben wir regelmäßig zwei 'Antworten. Die einen sagen: Wir werden um die Nutzung nicht herumkommen. Die anderen sagen: Wir müssen sie abschaffen. Ist das Planungssicherheit?
Oder nehmen sie den Transrapid. Je nachdem, wo er hält, sind Sie jeweils vor Ort unterschiedlicher Auffassung.
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Frau Simonis ist dagegen. Herr Voscherau ist dafür.
Herr Staatssekretär, Sie müssen zu einem Abschluß kommen.
Ja, ich versuche auch, einen kernigen Satz hinzubekommen.
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Meine Damen und Herren, ich finde es prima, daß Sie Innovationsrisiken beseitigen wollen, daß Sie den Unternehmen und den in der Wissenschaft Beteiligten mehr Planungssicherheit verschaffen wollen. Aber dann ändern Sie Ihr Verhalten. Denn bisher erschien es mir so, daß das größte Innovationsrisiko häufig darin bestand, daß die Sozialdemokratische Partei in Deutschland sich vor Ort quergelegt hat. Ändern Sie dies, und dann kommen wir einen Schritt weiter.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Michael Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei den letzten Worten von Herrn Staatssekretär Neumann wußte man nicht genau, in welchem Wahlkampf er sich gerade befand. Aber ich denke, die Rede von Herrn Staatssekretär Neumann bestätigt den Eindruck, den wir aus der Lektüre der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage gewonnen haben. Semantisch, in den Begriffen, ist unsere Bundesregierung mittlerweile durchaus auf der Höhe der Zeit.
Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wird in dieser Debatte als gemeinsames Leitbild, das uns alle in unserem politischen Handeln verbindet, anerkannt. Das ist auch gut so. Die umsetzungsorientierten Leitbilder „Schließung von Stoffkreisläufen" oder „ökologisches Design" haben dank der Arbeit der Enquete-Kommission Eingang in den Wortschatz der Bundesregierung gefunden.
Über einzelne Bausteine, die Herr Neumann vorgestellt hat, läßt sich durchaus sehr vernünftig, im Einzelfall auch anerkennend, diskutieren. Was wir jedoch vermissen, ist, daß die Bundesregierung bislang nicht die Kraft gefunden hat, ein umfassendes Politikkonzept konsequent durchzubuchstabieren, das unsere Gesellschaft auf die Perspektive einer nachhaltigen Entwicklung hin orientiert.
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Um das deutlicher zu sagen: Wir brauchen einen Qualitätssprung der ökologisch orientierten Politik in Deutschland. Das gilt auch für die Forschungs- und Technologiepolitik. Die Möglichkeiten haben uns die Ergebnisse der Umweltforschung geboten, das verlangt auch der Zustand unserer Umwelt.
Es ist gut, daß auch das „Bündnis für Arbeit" eine ökologische Komponente als zentralen Bestandteil haben muß. Darin sind sich Sozialdemokraten und IG Metall einig.
Wie vordergründig die verbalen Bekenntnisse der Bundesregierung bisweilen sind, zeigt sich immer dann, wenn Sie von Ihren großen Ankündigungen - denken wir an das, was Sie in Rio zugesagt haben - in die Konkretisierung kommen. Es ist schon interessant, daß unser Zukunftsminister Rüttgers auf dem letzten Bundesparteitag der CDU als Meßlatte für die Politik der Union die Bewahrung der Schöpfung ganz oben auf seine Tagesordnung der Zukunft gesetzt hat. Auf der nächsten Seite seiner Rede standen konkret jedoch nur die Stichworte Telematik und Telearbeit. Wer die Meßlatte „Bewahrung der Schöpfung" ernst nimmt, der kann sich nicht mit derartigen kurzsichtigen und kurzfristigen Politikangeboten begnügen.
({1})
Wenn wir hören, daß die Bundesregierung unverdrossen den weiteren Ausbau der Vorsorgeforschung und damit auch Umweltforschung und Umwelttechnologie verspricht, dann ist zunächst zu sagen, daß der Haushalt des BMBF von 1994 auf 1995 in diesem Bereich stagniert und daß die Ankündigung von Herrn Neumann, die die Zahlen bis 1999 betrifft, immerhin auf einem ungedeckten Wechsel
von mindestens einer halben Milliarde DM in seinem Haushalt beruht. Sie wissen, wovon ich rede.
Die starke Stellung unserer Umweltindustrie auf dem Weltmarkt beruht auf unseren im internationalen Vergleich hohen öffentlichen und privaten Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, und zwar seit den 70er Jahren. Schon Stagnation wäre für uns verhängnisvoll. Die staatliche Forschungs- und Technologiepolitik muß ihre Anstrengungen verstärken; denn wir wissen doch: Auch in der Industrie wird die Entwicklung umweltfreundlicher Produktionsverfahren im Unterschied zu additiven Techniken einen höheren Kostenaufwand und längere Entwicklungszeiten bedeuten. Das gilt auch für das ökologische Design von Produkten.
Weitreichende Prozeß- und Produktinnovationen, die die Bundesregierung mit ihrem Programm „Produktion 2000„ ein wenig anschieben möchte, sind auch mit erheblichen Umstellungskosten verbunden. Hier, meine Damen und Herren, fehlt die Rückkopplung der Strategien mit innovationsorientierten Regulierungen, die Planungssicherheit und Marktchancen für ressourcenschonende Technologien, Produkte und Prozesse schaffen.
Reden Sie also bitte nicht über Kernenergie. Sind Sie denn ernsthaft der Meinung, daß das in diesen Zusammenhang gehört? Ist das nicht die Technologie von gestern, die sich kein Land der Welt heute noch als Zukunftstechnologie vorstellen kann?
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Wo sind denn bei der Verpackungsverordnung, dem dualen System und dem Kreislaufwirtschaftsgesetz die innovatorischen Impulse für neue, ökologisch verträgliche Produkte und Produktionsverfahren? Sie haben noch keinen Qualitätssprung in der innovationsorientierten staatlichen Regulierungspolitik gefunden.
Bis heute, mehr als eineinhalb Jahre nach Vorlage der Bewertung unserer Umweltforschung durch den Wissenschaftsrat - eine sehr verdienstvolle Arbeit -, hat die Bundesregierung keine Konsequenzen gezogen. Was sagte noch der Kollege Päselt? Die Bundesregierung hat sich sofort an die Arbeit gemacht.
Diese Regierung braucht offenkundig mindestens zwei Jahre, um ein solches Konzept umzusetzen. Staatssekretär Neumann kündigt heute die fristgerechte Vorlage eines Umweltforschungsprogramms an, das nach Auskunft der Bundesregierung eigentlich schon Anfang 1995 hätte auf dem Markt sein sollen.
Ich komme zum Schluß. Ohne Frage hat Deutschland umweltpolitische Erfolge vorzuweisen. Doch, meine Damen und Herren, wir sind dabei, auch bei der Umweltpolitik von der Substanz zu leben, uns auf dem Erreichten auszuruhen. Mit der Umweltpolitik und Umwelttechnik von heute werden wir die Zukunft nicht meistern. Wer nicht heute in ökologische Forschung investiert, wird die ökologischen Herausforderungen von morgen nicht bestehen.
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Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Christian Ruck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD und die nachgeschossenen Entschließungsanträge der Opposition zeigen eine bunte Mischung aus durchaus nicht unvernünftigen Forderungen, die Sie sicher von uns oder von den Enquete-Kommissionen haben.
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- Ja, von uns. Lesen Sie doch die Regierungsprogramme und die Parteiprogramme durch. - Diese Forderungen basieren aber auch auf Vorstellungen, die antiquiert, überzogen und geradezu absurd sind. Leider haben meine Vorredner der Opposition den Eindruck der Absurdität noch verstärkt.
Herr Kiper, es ist wirklich absurd, wenn gerade Sie Herrn Rüttgers vorwerfen, den Innovationsstandort Deutschland schlechtzureden, wo Sie doch unter einem Mann dienen, nämlich unter Ihrem Fraktionschef Fischer, der sich als eines der größten Investitionshemmnisse Hessens nach dem Krieg entpuppt hat.
({1})
Auch wir bekennen uns ausdrücklich dazu, daß selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der RioProzeß mit dem Ziel eines weltweit nachhaltigen Wirtschaftens weitergehen muß.
Herr Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kiper?
Ja.
Kollege Ruck, vielleicht haben Sie sich ja eben nur versprochen. Dann können Sie es jetzt zurücknehmen. Aber wenn Sie der Auffassung sind, daß ich unter unserem Fraktionsvorsitzenden diene, so projizieren Sie offensichtlich die Verhältnisse aus Ihrer Fraktion auf andere Fraktionen. Dies möchte ich zurückweisen und fragen, ob es bei Ihnen in der Fraktion der Fall ist, daß Sie unter Ihrer Fraktionsleitung dienen?
({0})
Herr Kiper, ich gestehe Ihnen gerne zu, daß bei den Grünen und
ihrer Fraktion das Chaos erheblich größer ist als in der CDU/CSU.
({0})
- Das werde ich Ihnen - dafür werden Sie Verständnis haben - öffentlich nicht beantworten können.
({1})
Jetzt wieder zum Ernst der Sache zurück. Wir bekennen uns auch nachdrücklich dazu, daß - wie Sie in Ihrem Antrag schreiben - die Umweltforschung neue Handlungsoptionen für Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen soll - was soll sie denn auch sonst? - und daß die Umweltpolitik auch als Chance für die deutsche Wirtschaft begriffen wird und davon insbesondere natürlich die kleinen und mittleren Unternehmen mit neuen Technologien profitieren sollen.
Unberechtigt bis absurd sind auch viele andere Vorwürfe, die Sie zur Umweltforschungspolitik und zur Umweltpolitik auftischen. Denn, meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben während Ihrer Regierungszeit umweltpolitisch im Dornröschenschlaf gelegen, und erst mit dieser Koalition sind auf Grund technologischer Erfindungen fundierte Schritte in der Umweltpolitik gemacht worden, vom Katalysator über die FCKW-Ablösung durch Alternativstoffe bis hin zu den unbestrittenen Erfolgen in den Reinhaltungs- und Müllverbrennungstechniken.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Bitte.
Frau Burchardt!
Ist Ihnen bekannt, daß die Grundlagen der von allen so begrüßten Spitzentechnologie Umwelttechnik in der Zeit der sozialliberalen Koalition in der Umweltpolitik und einer daran orientierten Umweltforschungspolitik gelegt worden sind und daß genau diese Ergebnisse von der jetzigen Bundesregierung nur weitergeführt worden sind, sie sich aber das Etikett des Erfinders an die eigene Sache heftet?
Frau Burchardt, das ist mir in der Tat neu. Ich kann mich noch gut daran erinnern - ich habe in den siebziger Jahren selbst eine Umweltorganisation gegründet -, daß die sozialliberale Koalition sehr viele Schubladenprogramme produziert hat, aber erst der von der Opposition vielgescholtene CSU-Minister Zimmermann war es, der zur Überraschung aller die ersten wichtigen
Schritte durchgepowert hat. Ich glaube, darauf kommt es an.
({0})
Ich möchte die Opposition auch daran erinnern, daß wir es sind, die für die Förderung von regenerativen Energien mehr Geld ausgeben als alle unsere europäischen Nachbarn zusammen. Ich erinnere auch an die Pionierleistung in der ökologischen Forschung, zum Beispiel bei der Wiederbelebung von Geisterlandschaften in Mitteldeutschland.
Geradezu abenteuerlich sind die Vorhaltungen der Opposition, unser Ordnungsrecht habe keine umweltpolitische Anreizfunktion oder bei uns wurden mögliche Wettbewerbsvorteile bei der Umwelttechnik verschenkt. Unser deutsches Umweltrecht ist in der Breite und im Vollzug an Schärfe beispiellos in der Welt. Vor allem dadurch ist Deutschland auch Exportweltmeister in der Reinigungstechnik bei Abwasser, Abluft und Abfall. Wir sind den anderen, Herr Catenhusen, inzwischen technologisch so weit voraus, daß diese Spitzenstellung selbst zum Exporthindernis zu werden droht und wir uns bemühen müssen, gerade auch mit Blick auf die Entwicklungsländer und Schwellenländer, etwas weniger anspruchsvolle Technik im Umweltbereich zu produzieren.
Nun sagen Sie immer, das seien alles End-of-thepipe-Technologien. Auch das ist unzutreffend. Als einer der ersten im internationalen Konzert hat diese Bundesregierung mit den produktionsintegrierten Umweltverfahren begonnen; Sie haben es selber erwähnt. Der Anteil dieser Verfahren beläuft sich bisher immerhin auf 20 Prozent. Diese spielen zum Beispiel bei der Entwicklung von Lacken eine Rolle, die keine schädlichen Lösungsmittel enthalten, und - das ist besonders wichtig in Bayern - bei Verfahren zur abwasserarmen Bierproduktion. Der Kollege Gerd Müller, der sich in dieser Hinsicht beispielhaft engagiert hat, weiß, wovon ich spreche.
In der Tat gehört diesem Vorsorgeverfahren die Zukunft; aber wir sind in Deutschland und außerhalb bei der Vermeidung oder Beseitigung von Umweltschäden doch noch Jahrzehnte auf hochwertige Reparaturtechniken angewiesen. Fazit: Ich muß das eine verstärken, ohne beim anderen nachzulassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keine strenge Proportionalität zwischen der Höhe der Forschungsmittel und der Denkgeschwindigkeit von Wissenschaftlern. Deswegen ist die stereotype Forderung nach mehr Geld in der Umweltforschung, die immer wieder gestellt wird, unsererseits abzulehnen. Ich finde auch, die für 1996 allein im Zukunftsministerium vorgesehenen 2 Milliarden DM insgesamt können sich im internationalen Vergleich wahrlich sehen lassen. Dennoch wird sich niemand von uns vor einer vernünftigen Diskussion um Einzelprojekte oder Projektfelder drücken, denen man stärkere Aufmerksamkeit schenken muß.
Die Forschung ist einer der Hoffnungsträger für die großen und wachsenden Umweltprobleme der Welt, für die wir oft noch keine aussichtsreichen Lösungen gefunden haben. Das gilt auch für den Klimabereich.
In meinem Wahlkreis arbeitet zum Beispiel ein Unternehmer an einer bisher für unmöglich gehaltenen Technik zur Rückhaltung von Kohlendioxid. Wenn wir hier vorankämen und eine solche Technik entwickeln könnten, wären wir sicher um einige politische Sorgen leichter.
Meine Damen und Herren, ich bin dem Entschließungsantrag der SPD geradezu dankbar, daß er - im Gegensatz zur Anfrage - wenigstens ein bißchen über den deutschen Tellerrand hinausblinzelt. Die umweltpolitischen Schicksalsfragen der Erde werden nämlich nicht in der deutschen Umweltpolitik allein gelöst. Wer zum Beispiel 1,3 Milliarden Chinesen verdenken oder gar verbieten will, unsere Wohlstandsgesellschaft zu kopieren, wird scheitern. Wir können hier zwar diplomatische Überzeugungsarbeit versuchen, wir können Vorbild sein, aber wir können und müssen vor allem Know-how-Transfer leisten, wie zum Beispiel bei unserem Kollektoren-Kraftwerk in Indien. Das Forschungsministerium fördert angepaßte deutsche Technologie und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Realisierung in Indien. Dieses Beispiel einer gelungenen Zusammenarbeit zwischen den Ressorts, die Sie, Frau Burchardt, in Ihrer Rede immer wieder beklagt haben, sollte alle ermutigen.
Herr Catenhusen, ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang raten: Wenn Sie von der Erhaltung der Schöpfung und von den Mängeln reden, die wir hier angeblich haben, so schauen Sie sich doch einmal im Entwicklungsministerium um. Da finden Sie genau das, was Sie vorhin hier beklagt haben.
Wir sollten, glaube ich, auch in diesem Falle alle Beteiligten dazu ermutigen, in dieser Richtung verstärkt weiterzuarbeiten, auch im europäischen und internationalen Kontext.
Meine Damen und Herren, auffällig ist, daß die SPD eine zukunftsverträgliche Gestaltung der Industriegesellschaft mit Umweltpolitik gleichsetzt. Auffallend ist auch die immer wiederkehrende Forderung nach einem ökologischen Umbau unserer Gesellschaft, was immer das heißen mag.
Ich bin davon überzeugt, daß wir die nationalen und internationalen Umweltprobleme weder mit der Brechstange noch gegen die Arbeitsplätze in anderen Wirtschaftsbereichen, noch mit alten Ideologien lösen können.
({1})
Vielmehr glaube ich, daß das Motto der Versöhnung von Ökologie mit einer modernen Ökonomie in den nächsten Jahren wichtiger wird als jemals zuvor.
({2})
Und eine hochqualifizierte Umweltforschung leistet dazu einen entscheidenden Brückenschlag.
({3})
Wer dagegen Umweltpolitik nur als Mittel zum Zweck mißbraucht, eine gescheiterte Ideologie durch die Hintertür wieder einzuführen, wird dies mit uns nicht machen können
({4})
und gegen uns sowieso nicht.
({5})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Hirche.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streit über die richtigen Akzente in der Forschungspolitik im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung lohnt sich ja, und wenn man einiges abstreicht an allgemeinen Stellungnahmen und Kontroversen, die in einer solchen Debatte sein müssen, dann sind wir uns, glaube ich, insgesamt in Schwerpunkten näher, als es der Eindruck vermuten läßt, den mancher Redner erweckt hat.
Wenn ausgerechnet worden ist, daß man fünf Planeten Erde bräuchte, wenn die ganze Menschheit so weitermacht oder das kopiert, was wir in den Industriestaaten tun, dann wissen wir, daß die zentrale Frage lautet, wie immer mehr Menschen mit weniger Ressourcen und auf immer engerem Raum auskömmlich zu leben vermögen, ohne die Tragfähigkeit des Ökosystems zu überlasten. Daß sich dabei soziale, wirtschaftliche, ökologische, philosophische Fragen mischen, ist doch eine Selbstverständlichkeit. Davon können wir doch alle gemeinsam ausgehen, das brauchen wir nicht dem einen oder anderen abzusprechen.
Daß das eine Intensivierung der Kooperation auch zwischen den verschiedenen Bereichen bedeutet, ist klar. Ich kann hier zum Gedankengerüst nur sagen: Wir werden versuchen, insbesondere auf drei Feldern die Forschungsarbeiten zu intensivieren.
Das ist einmal das Feld Weltklima mit allem, was dazugehört, weil das Überleben der Menschheit auf der Erde davon abhängt. Ich will nur die Stichworte CO2, Treibhausgase, Energiefragen nennen.
Der zweite große Komplex wird das Thema Erhaltung der Naturhaushaltspotentiale sein mit den Stichworten Artenvielfalt, Bodenschutz, Naturschutz, was in diesem Zusammenhang zu fragen und zu erforschen ist; auch hier geht es um die Integration und das Ineinanderspielen von verschiedenen Elementen.
Lassen Sie mich als Drittes in dem Zusammenhang das Schonen der Ressourcen nennen, was hier etwas abfällig als Umwelttechnik und als oberflächliches Anhängen an naturwissenschaftliche Fragestellungen bezeichnet worden ist.
Man kann das aber auch anders ausdrücken - dann stößt es gleich auf mehr Zustimmung -, in dem
man sagt: in Kreisläufen denken. Da spielt natürlich die Materialfrage in allem eine riesige Rolle.
Ich bitte sehr herzlich, das genauso wenig negativ anzusprechen wie die Tatsache, daß wir bei dem Regime von Schadstoffen, bei der Beherrschung dieser Frage weiterkommen müssen. Das ist doch alles selbstverständlich. Dazu müssen Forschungen erfolgen.
Ganz wesentlich ist auch, daß wir bisher nicht ausreichend unterschieden haben zwischen lokalen, also regionalen, und globalen Wirkungen. Wir haben in Deutschland - das zur politischen Situation - auch deshalb, weil der Vollzug des Umweltschutzes Landersache ist, vielfach nebeneinanderstehend die Erkenntnis, daß die Probleme nur global zu lösen sind, und die Tatsache, daß die Rechtsfolgen in der Bundesrepublik Deutschland 16mal unterschiedlich sind. Damit kommen wir auf die Dauer auch nicht weiter. Hier muß ein neuer Dialog gefunden werden, auch über die Frage der Nutzung marktwirtschaftlicher Instrumente.
Frau Burchardt, ich begrüße durchaus Ihre Aussage: nicht weniger Technik hilft uns weiter. Ich halte das fest. Wir sollten bei dem Positiven, das uns miteinander verbindet, weitermachen und nicht das Negative in den Vordergrund stellen.
({0})
Einen Punkt möchte ich noch ansprechen: Die Verlagerung der solartechnischen Produktion hat im Zweifelsfall weniger mit dem leider noch nicht vorhandenen Markt zu tun als vielmehr mit den zu hohen Produktionskosten am Standort Deutschland.
({1})
Das ist deswegen durchaus ein Thema, das in den Zusammenhang von heute morgen hineingehört hätte.
Die Globalisierung habe ich angesprochen - das ist eben auch schon von meinem Vorredner gesagt worden -, die internationale Zusammenarbeit, den Transfer von Zukunftstechnologien. Deswegen hat das Umweltministerium in Leipzig das Institut für den Transfer von Umwelttechnologien gegründet. Wir denken in der Tat, daß unter dem Stichwort „activities implemented jointly", also: gemeinsame Umsetzung von verschiedenen Dingen, auch gemeinsame internationale Forschung zu betreiben ist. Dazu sind die hervorragenden Institutionen, die wir in der Bundesrepublik haben, geeignet. Ich denke, wir sind insofern auf dem richtigen Wege.
Lassen Sie mich am Ende nur noch sagen: Wir alle werden uns darum bemühen müssen, daß bei diesen Fragestellungen - auch das ist eigentlich selbstverständlich - nicht nur technische oder soziale oder wirtschaftliche Aspekte gesehen werden, sondern daß der Zusammenhang deutlich wird. Es wird am Ende sogar darum gehen, für unseren Planeten im Zusammenhang mit Umwelt und Entwicklung neue ethische Prinzipien zu entwickeln. Wenn wir da einige Gemeinsamkeiten finden, dann können wir uns immer noch über die Schwerpunktsetzung im
Konkreten, über Einzelmaßnahmen streiten. Das muß auch so bleiben, weil die Koalition sicher gewisse Dinge anders sieht als Sie von der Opposition. Wir werden wahrscheinlich in bezug auf das, was Sie, Herr Catenhusen, eingefordert haben - ich habe mir das notiert; Sie haben von einem umfassenden Politikkonzept gesprochen;
Herr Staatssekretär, Sie müssen zum Schluß kommen.
- wobei bei Ihnen eine ganz bestimmte wissenschaftstheoretische Untermauerung dahintersteht -, nie auf einen Nenner kommen, weil wir eine freiere Forschung und eine Entwicklung haben wollen, die die Zukunft offen aufarbeitet.
({0})
Von daher, denke ich, mögen da Unterschiede bleiben. Aber im ganzen, meine Damen und Herren, würde ich es begrüßen, wenn solche Diskussionen über Schwerpunkte, die für die Zukunft zu setzen sind, in diesem Hause öfter und intensiver stattfinden könnten.
({1})
Der Abgeordnete Bierstedt möchte seine Rede zu Protokoll geben.*) Ich gehe davon aus, daß darüber Einverständnis besteht. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann schließe ich damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3510. Wer für diesen Entschließungsantrag stimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Antragsteller und der Gruppe der PDS bei Stimmenthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt worden ist.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 13/3511 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 und den Zusatzpunkt 8 auf:
7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Tilo Braune, Stephan Hilsberg, Reinhard Weis ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
*) Anlage 4
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Zusammenführung und bedarfsgerechte Fortsetzung der Hochschulsonderprogramme I, II und des Hochschulerneuerungsprogramms
- Drucksache 13/2930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ludwig Elm, Wolfgang Bierstedt, Maritta Böttcher, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Weiterführung von Maßnahmen zur Integration der bis 1996 im Wissenschaftler-Integrations-Programm ({2}) geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
- Drucksache 13/3491 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Tilo Braune.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein wenig bedauerlich, daß Bundesminister Rüttgers heute Wichtigeres zu tun hat, als hier mit uns gemeinsam über Hochschule und Forschung in Deutschland nachzudenken und zu diskutieren. Vielleicht ist es sogar symptomatisch, daß er heute nicht hier ist.
Das neue Jahr hat für die deutschen Hochschulen in Ost und West, für die Studierenden und Wissenschaftler so schlecht begonnen, wie das alte endete. Seit Jahren leidet das deutsche Hochschulsystem unter einer chronischen Unterfinanzierung, da sich der Bund mehr und mehr aus seiner Verantwortung stiehlt. Die Hochschulbauförderung verdient mittlerweile den Namen nicht mehr. Die Zahl der BAföG-Empfänger nimmt ständig ab, und der Wert der BAföG-Leistungen sinkt de facto durch mangelnde Anpassung an die Lebenshaltungskosten.
({0})
Hochschullehrer klagen über unbefriedigende Rahmenbedingungen in Lehre und Forschung. Studierende leiden unter überfüllten Hörsälen, zu geringen Bibliotheksbeständen und zu langen Studienzeiten. Mehr als die Hälfte der Studierenden muß einem regelmäßigen Nebenerwerb nachgehen.
Wenn es heute um die Zukunft der Hochschulsonderprogramme geht, handelt es sich keineswegs um eine Sonderausschüttung im Sinne eines großzügigen Geschenks, sondern um die Kompensation der
Versäumnisse von 14 Jahren verfehlter Hochschulpolitik von CDU/CSU und F.D.P.
({1})
Wer es ernst meint mit dem Standort Deutschland und vor allem mit der deutschen Einheit, darf nicht nur mit großem Brimborium einen Zukunftsminister kreieren. Wer es ernst meint mit der Wissenschafts und Forschungslandschaft Deutschland, muß die Hochschulen angemessen ausstatten. Aber genau dies tut Bundesminister Rüttgers nicht. Dieser scheinbare Löwe „Zukunftsminister" ist doch in Wirklichkeit ein zahnloser Bettvorleger, mißt man ihn an seinen hochschulpolitischen Taten.
({2})
Ein kurzer Blick zurück: Steigenden Studierendenzahlen und damit verbundenen eklatanten Engpässen in einigen Fachrichtungen sollte mit dem ersten Hochschulsonderprogramm begegnet werden. Das HSP I wurde 1989 mit einem Gesamtvolumen von 2,1 Milliarden DM bis zum 31. Dezember 1995 vereinbart. Immerhin konnten 3 200 zusätzliche Stellen, davon die Hälfte an Fachhochschulen, zugewiesen werden.
Das HSP II wurde ebenfalls zwischen Bund und alten Ländern mit einem Volumen von 4 Milliarden DM für die Zeit von 1991 bis zum Jahre 2000 vereinbart. Ziele des Programms sind der Ausbau von Fachhochschulen, die Förderung von Frauen in der Wissenschaft und die Nachwuchsförderung, dazu eine Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit. All diese Projekte sind angelaufen. Sie bedürfen aber, wie die immer noch geringe Repräsentanz von Frauen als Wissenschaftlerinnen und Professorinnen zeigt, der konsequenten Fortsetzung und Verbesserung.
Das wichtigste Sonderprogramm ist das Hochschulerneuerungsprogramm, das seit 1991 den wissenschaftlichen Strukturwandel in Ostdeutschland begleitet und dem Verfassungsauftrag von der Gleichheit der Lebensverhältnisse für ganz Deutschland für die Hochschulen Gestalt geben sollte. Schwerpunkte sind die personelle Erneuerung, Qualifizierungsmaßnahmen, dringend notwendige Investitionsleistungen sowohl im Hochschulbau als auch in der apparativen Ausstattung der Hochschulen und das Wissenschaftler-Integrations-Programm. Das Hochschulerneuerungsprogramm läuft in diesem Jahr aus.
Der SPD geht es in ihrem heutigen Antrag um folgendes.
Die Hochschulsonderprogramme müssen in ihrer Intention fortgeschrieben werden, soll sich die Situation der Hochschulen nicht weiter verschlechtern. Die vielfältigen Zielstellungen haben sich nicht erledigt; nein, sie sind aktueller denn je. In einer auf Initiative der SPD zustande gekommenen Anhörung am 27. April letzten Jahres im Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung wurden noch einmal die Bewertungen und Erwartungen der Betroffenen unmißverständlich deutlich.
Es war einhellige Meinung, daß es ein neues zusammengefaßtes Hochschulsonderprogramm bis zum Jahr 2000 geben muß. So hält der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme - ich zitiere - „ein solches Programm für ein wichtiges, unverzichtbares Werkzeug" zur Umsetzung der unabdingbaren Strukturreform und für Innovation. Die Hochschulrektorenkonferenz drängt mit den Worten: „... das geplante neue Hochschulsonderprogramm im Interesse der Zukunftssicherung Deutschlands vorrangig auf Strukturverbesserungen der Hochschulen auszurichten und dieser Bedeutung entsprechend angemessen zu finanzieren. "
Besonders die Entwicklung der Wissenschafts- und Forschungslandschaft in Ostdeutschland erfordert diese Fortsetzung. Es hat sich manches getan, doch zufrieden kann man keineswegs sein. Die Realitätsferne Minister Rüttgers' wird deutlich in einem Vorwort zu einer Broschüre des BMBF über die Entwicklung in Ostdeutschland vom September 1995:
Blühende Landschaften bestimmen jetzt vielfach das Bild, wo vordem die Probleme des Umbruchs dominierten.
({3})
Dieser Begriff ist sowas von abgedroschen. Ich denke, den sollte man endlich mal verlassen.
({4})
- Ich bin an einer Hochschule, Herr Kollege.
Die Erneuerung und die Umstrukturierung sind noch lange nicht am Ziel. Allerdings verstärkt sich der Eindruck, daß mit Jubelbroschüren über den angeblich erreichten Zustand nicht nur Selbstbeweihräucherung betrieben werden soll. Nein, es scheint, daß nach der Vogel-Strauß-Methode bewußt nicht die weiter angespannte Situation an den ostdeutschen Hochschulen zur Kenntnis genommen werden soll, um nicht zu Maßnahmen veranlaßt zu werden, für die man keine Mittel aufbringen will oder kann.
Die ostdeutschen Länder sind noch nicht in der Lage, die notwendige Reform allein und aus eigener Kraft zu finanzieren. Es kommt jetzt auf Stabilität und Kontinuität an den Hochschulen an. Wer die schwierigen Prozesse in Ostdeutschland kennt, weiß, daß dort bereits heute die Evaluation der ersten hastigen Strukturentscheidungen von 1991/92 stattfinden muß. Ausbauziele müssen neu diskutiert werden, weil es eben noch keine „blühenden Landschaften" gibt.
Ein besonderes Problem ist das WissenschaftlerIntegrations-Programm. Das WIP stellt sich mittlerweile als klassischer Fall einer möglicherweise wohlgemeinten Aktivität dar, die auf der völligen Unkenntnis ostdeutscher Verhältnisse basierte, nämlich der Annahme, an ostdeutschen Universitäten habe es keine Forschung gegeben, so daß die Universitäten über Forscher der ehemaligen Akademie der Wissenschaften froh sein müßten. Da dies nicht so war, mußte das WIP scheitern..
Elf Monate vor Ende des WIP sind die Ziele des Programms nicht erreicht. 1 500 mehrfach evaluierte hochqualifizierte Wissenschaftler der ehemaligen Akademien sind nicht integriert; gerade einmal 5 Prozent der Geförderten haben den Wechsel geschafft.
Der massive Stellenabbau an den Hochschulen der neuen Länder, besonders im akademischen Mittelbau, und die praktische Auflösung der Industrieforschung sind dafür die wichtigsten Gründe. Der WIP-Rat als Zusammenschluß der Geförderten schrieb deshalb zur Anhörung unseres Ausschusses:
Würde das WIP Ende 1996 ohne Aussicht auf wirkliche Integration auslaufen, würden die auf hoher politischer Ebene gemachten Zusagen unerfüllt bleiben. Der Sinn der bisherigen Förderung wäre nicht nur in Frage gestellt, sondern in sein Gegenteil verkehrt.
Die bisherige WIP-Förderung wäre als bloße Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die Wissenschaftler anzusehen.
Deshalb ist es unverantwortlich, wenn sich Minister Rüttgers auf den Standpunkt stellt, sein Ministerium habe sich ausreichend gekümmert und nun seien die neuen Länder am Zuge. So einfach ist das nicht. Die Förderung muß fortgesetzt werden, weil die neuen Länder, weil Deutschland auf die Arbeit dieser Wissenschaftler nicht verzichten kann und nicht verzichten will.
({5})
Hier sind wir beim zweiten Punkt: Für die SPD ist es unverzichtbar, daß ein gesamtdeutsches Programm zustande kommt. Im sechsten Jahr der neuen Einheit müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, zu mehr Normalität zu kommen. Nicht hier im Westen wird ein Programm für Ostdeutschland gemacht. Nein, der Bund und alle Länder sollen ein Programm vereinbaren, in dem gesamtdeutsche Aufgaben formuliert werden. Besondere Schwerpunkte für den weiteren Aufbau in Ostdeutschland müssen integriert sein und durch die neuen Länder selbst bestimmt werden.
Für meine Fraktion möchte ich feststellen, daß der Deutsche Bundestag genau wie die Länder eine Verantwortung für ein neues Hochschulsonderprogramm hat. Deshalb haben wir uns um die Anhörung bemüht und die Ergebnisse in unseren Antrag einbezogen.
Wir wollen eine öffentliche und transparente Debatte über die Zukunft der Hochschulsonderprogramme. Daß Minister Rüttgers in der Bund-LänderKommission noch nicht einmal die von seinem Hause anvisierten 3,6 Milliarden DM zugestehen wollte, halten wir für ein starkes Stück, für unverständlich und für Hohn angesichts all der bunten Heftchen, die sein Haus verteilt.
({6})
Die SPD fordert einen zügigen Abschluß aller Beratungen. Ein neues zusammengefaßtes Hochschulsonderprogramm wird die schwierige Situation der Hochschulen und das grundsätzliche hochschulpolitische Versagen der Koalition in den vergangenen Jahren zwar nicht grundlegend verbessern; es bietet aber immerhin eine unverzichtbare Unterstützung, um Schlimmeres zu verhindern.
An dieser Stelle sei abschließend deutlich gesagt: Der von Herrn Rüttgers praktizierte Erpressungsversuch einer Verquickung jedweder hochschulpolitischen Neuregelung mit der miesen BAföG-Strukturreform zu Lasten sozial schwacher Studierender wird von der SPD kategorisch und kompromißlos abgelehnt.
({7})
Herr Rüttgers, Sie verhindern mit dieser Politik jede Entwicklung der Ihnen anvertrauten Wissenschafts und Forschungsbereiche.
Eines ist klar: Wenn sich die Bundesregierung hochschulpolitisch nicht bewegt und diese Verknüpfung aller Bemühungen mit dieser unsäglichen BAföG-Strukturreform nicht aufgibt, dann geht die durch diese Bundesregierung verschuldete Talfahrt der Hochschulen unserer Republik rasant weiter. Will man weiteren Schaden von den Hochschulen unseres Landes abwenden, will man verhindern, daß die neuen Länder bald völlig ohne ernstzunehmende Bundeshilfen dastehen, dann muß der vorliegende Antrag mit Verantwortung aller hier vertretenen Fraktionen konstruktiv behandelt werden. Ich hoffe auf Ihre Mitarbeit.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Professor Egon Jüttner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits im April des vergangenen Jahres hat die CDU/CSU-Fraktion im Rahmen der öffentlichen Anhörung zu den Hochschulsonderprogrammen I und II sowie zum Hochschulerneuerungsprogramm ihre Zustimmung zur Zusammenführung dieser Programme zu einem neuen Hochschulsonderprogramm erklärt. Insofern stimmt sie auch heute der Forderung der SPD zu, die drei Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Laufzeiten zu einem Gesamtkonzept und zu einem einzigen neuen Hochschulsonderprogramm zusammenzuführen.
Dem von den Ländern vorgelegten Finanzierungsvorschlag, wie ihn die SPD offensichtlich unterstützt, stimmen wir jedoch nicht zu. Die Bilanz der vom Bund und von den Ländern gemeinsam finanzierten Programme zeigt, daß die Ziele dieser Programme wie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die weitere Förderung der Fachhochschulen, die Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit und die Förderung von Frauen in der Wissenschaft erfolgreich vorangebracht worden sind. Allein bei dem Ende Dezember ausgelaufenen HSP I, das zur Erweiterung der Ausbildungskapazitäten in besonders belasteten Studiengängen vorgesehen worden war, wurden 3 200 neue Stellen geschaffen. Dadurch konnten rund 16 900 zusätzliche Studienanfängerplätze zur Verfügung gestellt werden.
Durch das HSP II, das unter anderem der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses dient und bis zum Ende des Jahres 2000 angelegt ist, konnte der wissenschaftliche Nachwuchs auf allen Qualifikationsebenen gezielt gefördert werden. Das gleiche gilt für das Hochschulerneuerungsprogramm, das der Förderung von Wissenschaft und Forschung in den neuen Ländern gewidmet ist und Ende 1996 ausläuft.
Aus dem HSP II und dem Hochschulerneuerungsprogramm konnten allein von 1991 bis 1993 2 611 Nachwuchswissenschaftler gefördert werden. Außerdem haben die beiden Hochschulsonderprogramme I und II mitbewirkt, daß der Stellenbestand der Fachhochschulen von 16 996 im Jahre 1989 auf 21 440 im Jahre 1993 erhöht und somit um ca. 4 400 gesteigert werden konnte. Von diesen 4 400 Stellen wurden 2 785 Stellen allein durch das HSP I und das HSP II finanziert. Außerdem wurden in den neuen Bundesländern 190 Gründungsrektorate und Gründungsprofessuren zum Aufbau von Fachhochschulen durch das HEP finanziert.
Dies alles ist insgesamt ein Erfolg und rechtfertigt, daß ein neues, zusammengefaßtes Hochschulsonderprogramm aufgelegt wird. Darüber und auch über die Inhalte des neuen Programms sind sich Bund und Länder bereits einig. Um so bedauerlicher ist es, daß allein aus finanziellen Gründen bis jetzt keine Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern zustande gekommen ist. Ich möchte daran erinnern, daß die Sicherstellung der personellen und sächlichen Ausstattung der Hochschulen in die verfassungsmäßige Zuständigkeit der Länder fällt. Dennoch hatte sich angesichts der besonderen Herausforderungen im Hochschulbereich und auf Grund der deutschen Einheit der Bund bereit erklärt, sich an der Finanzierung der drei Hochschulsonderprogramme zu beteiligen.
({0})
Besonders erwähnenswert ist, daß sich der Bund über den üblicherweise zwischen Bund und Ländern vorgesehenen Finanzschlüssel von 50:50 - das ist beim HSP I geschehen - hinaus massiv engagiert hat, indem er beim HSP II und beim HEP einen gegenüber den Ländern weitaus höheren Finanzanteil übernahm, nämlich 60 Prozent beim HSP II und sogar 75 Prozent beim HEP. Der Bund hat auf diese Weise entscheidend dazu beigetragen, daß bis zum Jahre 2000 dem Hochschulbereich Förderprogramme von insgesamt mehr als 6,5 Milliarden DM zur Bewältigung besonderer Herausforderungen zur Verfügung stehen.
Obwohl der Bund die Länder bereits bei der Verabschiedung der Programme auf deren zeitliche Begrenzung bis 1995 bzw. 1996 und bis 2000 aufDr. Egon Jüttner
merksam gemacht hat, signalisiert er auch jetzt seine Bereitschaft, sich bei einem Gesamtvolumen von 3,6 Milliarden DM und einem Finanzierungsschlüssel von 50:50 an der Finanzierung des neuen Programms zu beteiligen.
Allein beim Blick auf Kürzungen, die von den Ländern im Hochschulbereich vorgenommen worden sind, wird deutlich, daß der vom Bund angebotene Mitteleinsatz erheblich ist. Dieses Engagement des Bundes steht in krassem Gegensatz zu den Entwicklungen in einigen Bundesländern, etwa in Niedersachsen oder Hessen, in denen in großem Maße Stellen an Hochschulen unbesetzt bleiben, mit kw-Vermerken versehen werden oder sogar wegfallen.
Die großen im Hochschulbereich anstehenden Aufgaben können nur gemeinsam gelöst werden. Das Angebot der Länder, sich mit 2,2 Milliarden DM an einem Programmvolumen von 5,5 Milliarden DM zu beteiligen, ist aber nicht der richtige Weg, wenn dabei die Länder an einem Finanzschlüssel von 60:40 festhalten. Gegenüber dem Bundesmodell, das ein Finanzvolumen von 3,6 Milliarden DM bei einem Finanzschlüssel von 50:50 vorsieht und somit Bund und Länder gleichermaßen mit je 1,8 Milliarden DM belasten würde, würden beim Ländermodell für den Bund zusätzliche Mehrausgaben in Höhe von 1,5 Milliarden DM anfallen, bei den Ländern dagegen nur 400 Millionen DM. Abgesehen davon, daß dies für den Bund zu einer nicht zu vertretenden Mehrbelastung führen würde, die unter Berücksichtigung der momentanen Haushaltslage nicht vertretbar wäre, kann bei einem derart großen Mißverhältnis der auftretenden Mehrausgaben von 1,5 Milliarden DM zu 400 Millionen DM auch nicht von einer gerechten Verteilung der Kosten gesprochen werden.
Ich fordere die Länder auf, einzulenken und auf den Bund zuzugehen. Es wäre fatal, wenn eine Einigung an den Finanzen scheitern würde. Leidtragende wären die betroffenen Hochschulen und ihre Studenten. In meinem Wahlkreis Mannheim beispielsweise hätte ein Wegfall der Hochschulsonderprogramme I und II katastrophale Folgen. An der Universität Mannheim müßte in diesem Fall der Studiengang Betriebswirtschaftslehre um 30 Prozent zurückgefahren werden.
Dieses Beispiel vor Augen fordere ich deshalb die Länder nochmals auf, im Interesse der betroffenen Hochschulen in der Finanzierungsfrage endlich ein realistisches Angebot zu unterbreiten und gemeinsam mit dem Bund nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Professor Dr. Ludwig Elm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu einigen ausgewählten Problemen in der gebotenen Kürze: Ein erstes besteht in der Haltung der Bundesregierung zu den Hochschulsonderprogrammen und zum Hochschulerneuerungsprogramm Ost. Es wurde bereits darauf Bezug genommen, daß wir im April vorigen Jahres eine Anhörung zu diesem Thema hatten. Damals sperrte sich die Bundesregierung gegen die dort vorgetragenen Sachverständigen-Ansichten zur Weiterführung der bisherigen Programme in einem gemeinsamen Sonderprogramm. Besonders verweigerte sie sich der Einsicht, daß die Gründe für die Errichtung der Programme fortbestehen und daß die der Befristung der Programme zugrundeliegenden Annahmen nicht eingetroffen sind. Das gilt für das Hochschulsonderprogramm I und die Annahme, daß ab 1996 keine ernstzunehmende Überlastsituation an den Hochschulen bestehen würde. Das gilt für das Hochschulerneuerungsprogramm Ost, HEP, und die fälschliche Annahme, daß mit Ablauf des Jahres 1996 die Hochschulverhältnisse in Ost und West wohl annähernd ausgeglichen seien.
Die Untätigkeit der Bundesregierung wird nicht zuletzt dadurch charakterisiert, daß der Antrag der SPD mit der Aufforderung an die Regierung beginnen muß, ihrer Berichtspflicht nachzukommen. Wie destruktiv und grobschlächtig sich die Bundesregierung in hochsensiblen Fragen und schwierigen Problemen von Hochschule und Wissenschaft verhält, zeigt sich an verschiedenen Stellen: sei es der unsägliche und meines Erachtens verfassungswidrige Regierungsentwurf zur 18. BAföG-Novelle, sei es das Mauern bei der Weiterführung der Hochschulprogramme.
Auf eine Kleine Anfrage unserer Gruppe zum Wissenschaftler-Integrations-Programm und zu seiner Weiterführung antwortet die Bundesregierung, daß sie stets betont habe, daß es eine Verlängerung des WIP über das Jahr 1996 hinaus mit einer Beteiligung des Bundes nicht geben werde. Eine inhaltlich-sachliche Begründung für diese Position wurde nicht gegeben. Sie wurde offensichtlich auch nicht für notwendig gehalten.
({0})
- Das hängt sicher mit der Bewertung der eingetretenen Lage zusammen, mit den unterschiedlichen Einschätzungen.
Zweitens. Angesichts der Untätigkeit der Bundesregierung ist der Antrag der SPD zu begrüßen. Er wird von uns grundsätzlich unterstützt, auch wenn er in einigen Passagen etwas ungenau und unverbindlich ist, vor allem bei Fragen, die mit dem Wissenschaftler-Integrations-Programm und dem Hochschulerneuerungsprogramm zusammenhängen. So wird beispielsweise in dem Antrag die nebulöse Forderung unterbreitet, zusätzliche Fördermöglichkeiten für innovative Forschung zu schaffen. In solchen Passagen ähnelt der SPD-Antrag der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage. In dieser Antwort heißt es:
Gleichwohl wird es nach dem bisherigen Stand der Beratungen im Rahmen des neu konzipierten Hochschulsonderprogrammes eine Reihe von Maßnahmen geben, die im Einzelfall eine Förderung auch für Personen und Vorhaben, die bis Ende 1996 im Rahmen des WIP gefördert werden, über diesen Zeitpunkt hinaus ermöglichen.
Also „im Einzelfall". - Wegen der Schwächen des Antrags der SPD und der Vernachlässigung der speziellen Probleme des Wissenschaftler-IntegrationsProgramms haben wir dazu einen eigenen Antrag eingebracht.
Hierzu meine dritte Bemerkung: Die Lösung des WIP-Problems ist denkbar einfach. Bei den im Wissenschaftler-Integrations-Programm geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern handelt es sich ausschließlich um Personen, die mehrfach positiv mit dem Ergebnis evaluiert wurden, sie dauerhaft in der Forschung zu beschäftigen und ihre Forschungstätigkeit aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren.
Die einzig vernünftige und akzeptable Lösung des WIP-Problems besteht darin, bei den gegebenen Zusagen zu bleiben und diesen Personenkreis personengebunden weiterzufördern. Die Befristung des WIP bis Ende 1996 war zu keiner Zeit durch etwas anderes begründet als durch die Annahme, daß alle WIP-Geförderten bis Ende 1996 in andere, unbefristete Beschäftigungsverhältnisse gelangt wären.
Die grandiosen Fehleinschätzungen des Wissenschaftsrats - zu denen Kollege Tilo Braune schon etwas gesagt hat -, daß an den Hochschulen der DDR nicht geforscht wurde und die Hochschulen deshalb begierig Forscherinnen und Forscher aus außeruniversitären Forschungsakademien aufnehmen und finanzieren würden, selbst wenn sie ihr eigenes Personal dabei abbauen müßten, ändern nichts an den Zusagen, die die im WissenschaftlerIntegrations-Programm bisher geförderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhalten haben. Die Zusagen sind nicht zurückgenommen, und wir halten sie nicht für zurücknehmbar. Es muß zu Entscheidungen über die perspektivische personengebundene Förderung kommen.
Um auch die Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition zu ermutigen, unserem Antrag zur Weiterführung des Wissenschaftler-Integrations-Programms zuzustimmen, möchte ich sie an die Haltung des bisherigen Berliner Wissenschaftssenators erinnern, des CDU-Mitglieds Erhardt, der für eine unbefristete Weiterführung des WIP eintritt. Wir werden es möglicherweise gleich von Herrn Dr. Guttmacher noch bestätigt bekommen - so wie er es bereits in seiner Aussage vom April des vergangenen Jahres getan hat -, daß es der ausdrückliche Wunsch der F.D.P.-Bundestagsfraktion ist, das Wissenschaftler-Integrations-Programm mindestens bis zum Jahr 2000 in das neue Hochschulsonderprogramm aufzunehmen.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen zum Schluß kommen.
Die Annahme unseres Antrags ist geeignet, diesen Wunsch, der frühzeitig und zutreffend ausgesprochen wurde, im Interesse der betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Wirklichkeit werden zu lassen.
Danke schön.
({0})
Ich erteile der Kollegin Elisabeth Altmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die Hochschulsonderprogramme waren als Notmaßnahmen gedacht, um den Hochschulbetrieb in schwierigen Zeiten über Wasser zu halten. Aber hat sich die Lage mittlerweile entspannt? Wir alle wissen, daß auf 900 000 Studienplätze 1,9 Millionen Studenten und Studentinnen kommen.
In einem Beitrag von Herrn Minister Rüttgers, der heute schon oft zitiert worden, aber leider nicht anwesend ist - ich muß bedauern, daß gleichzeitig der Vermittlungsausschuß zum Thema Meister-BAföG tagt; der Minister hätte heute hierher gehört, denn es handelt sich um ein wesentliches Thema -, las ich letzte Woche:
Bildungspolitik ist Grundlagenpolitik für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens. Aber die Zeit
- so heißt es weiter drängt: Hier zählen nicht schöne Visionen, sondern allein entschlossenes Handeln.
Weiter heißt es:
Die Hochschulen müssen Leistungszentren werden, Kristallisationspunkte des geistigen und wissenschaftlichen Lebens.
Ich kann dem Zitat voll zustimmen. Aber wie sieht eigentlich - Herr Tilo Braune von der SPD ist eben schon einmal darauf eingegangen - die Realität im Hochschulbereich aus? Wie soll man die Realität mit diesem Zitat zusammenbringen, wenn sich das Betreuungsverhältnis zwischen Studenten und Studentinnen und Personal weiter verschlechtert? Wie sollen sich bei übervollen Seminaren und Vorlesungen die Studienzeiten verkürzen, sollen Prüfungsvorbereitungen ordnungsgemäß stattfinden?
({0})
Auch in Bibliotheken ist oftmals ein ordnungsgemäßes Arbeiten nicht mehr möglich, da die Gelder für Nachbestellungen von Büchern fehlen und die Bibliotheken häufig nicht geöffnet sind.
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Da sind die aus den Mitteln der drei Sonderprogramme geschaffenen über 5 800 Stellen und die Sachmittel eine spürbare Entlastung! In meiner HeiElisabeth Altmann ({2})
matregion geht es zum Beispiel an der Universität Nürnberg-Erlangen um 110 Personalstellen, wovon schon zirka die Hälfte durch die Streichung des Sonderprogramms I seit dem 1. Januar 1996 weggefallen ist. Das bedeutet doch, daß hochqualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Weg in die Arbeitslosigkeit droht - und das zu Zeiten, in denen gebetsmühlenartig das Motto vom Standort Deutschland heruntergeleiert wird.
Wir können im internationalen Wettbewerb nur bestehen, wenn die Ressourcen in unserem Land - das sind nicht Bodenschätze, sondern Geist und Verstand - genutzt werden. Deshalb müssen die durch die einzelnen Programme geschaffenen Stellen und Mittel voll erhalten bleiben. Aber wer, Herr Professor Jüttner, zögert denn den Verlängerungsbeschluß der Programme hinaus? Das ist doch ein taktisches finanzielles Geplänkel und Manöver in einer Situation, in der das vom Minister geforderte entschlossene Handeln notwendig wäre.
In Bayern sind zum Beispiel eine Menge Personalstellen in der Informatik in Gefahr. Das ist nicht mit der vom Rüttgers-Ministerium propagierten „Basistechnologie für ein wissensintensives Wirschaftswachstum" und dem Einstieg in die Informationsgesellschaft zu vereinbaren.
({3})
- Das hängt mit Hochschulsonderprogrammen zusammen, Herr Laermann.
Die Programme zur Nachwuchsförderung müssen der Realität angepaßt werden. Es nützt nichts, wenn die Mittel für die Programme zwar ausgewiesen werden, aber auf Grund von Vergabe- und Qualifikationskriterien nicht abgerufen werden können. Das betrifft in vielen Fällen besonders Frauen.
Ebenfalls sollte für die derzeit zirka 1 500 hochqualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des ostdeutschen Integrationsprogrammes eine Zukunftsperspektive geschaffen werden. Hier muß die Weiterbeschäftigung durch Bund und Länder erfolgen. In diesem Zusammenhang finde ich den PDS-Antrag sehr wichtig.
Und wieso soll denn eigentlich die Einigung über die Finanzierung der Hochschulsonderprogramme an die Verabschiedung des BAföG-Zinsmodells gekoppelt werden, wie es Herr Minister Rüttgers in einem Brief an die Mitglieder der CDU/CSU- und F.D.P.-Bundestagsfraktion vom 14. Dezember 1995 vorgeschlagen hat? Ich sehe den Zusammenhang nicht.
({4})
- Das ist ein interner Brief. Vielleicht haben Sie ihn nicht bekommen. Also, ich habe ihn.
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- Dann schauen Sie einmal nach! Vielleicht finden Sie ihn bei Ihren Kollegen oder bei der CDU/CSU. - Ein reiner Finanzdeal der Regierungskoalition ist das, ohne Betrachtung der Menschen, die es trifft,
die von der Regierung hochgelobte „Bildungs- und Leistungselite".
Ich komme zu einem Punkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt: die Frauenförderung. Wenn es nicht gelingt, Frauen sofort und in großem Umfang zu fördern, wird die anstehende Berufungswelle in den nächsten Jahren den Frauenanteil, der jetzt bei 4 Prozent liegt, für viele Jahre auf diesem verschwindend niedrigen Niveau festschreiben. Über mehrere Jahre hinweg werden dann die Stellen von Männern blockiert sein.
Einen Frauenanteil von nur 12 Prozent gegenüber einem Männeranteil von 88 Prozent bei den vorgezogenen Berufungen durch das Hochschulsonderprogramm als Frauenförderung zu verkaufen, das finde ich schon äußerst dreist.
Im übrigen bemängelt die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, daß die vorgesehenen Mittel zur Habilitationsförderung von Frauen viel zu gering ausfallen.
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- Ja, das ist richtig und wichtig!
Außerdem stellen wir uns über die im Programm bevorzugten Fächer wie Informatik und Betriebswirtschaftslehre hinaus zukunftsweisende Förderungsmöglichkeiten vor.
Bei der Delegationsreise des Ausschusses in die Vereinigten Staaten wurde uns im Massachusetts Institute of Technology in Boston von einer Wissenschaftlergruppe aus Deutschland ein interessantes Sprachlernprojekt vorgestellt. Fächerübergreifend werden hier auf Multimediabasis sinnvolle Inhalte effektiv vermittelt. Gerade im anbrechenden Informationszeitalter müssen neue Studiengänge wie Mediendidaktik und Medienerziehung verstärkt geschaffen werden.
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- Darüber könnten wir uns, so glaube ich, auch alle einig sein. Es geht darum, welche Fächer durch die Hochschulsonderprogramme bevorzugt werden. Man kann durchaus in diese Richtung denken und wirken, Herr Laermann.
Im internationalen Wettbewerb können wir nur bestehen, wenn studentische und wissenschaftliche Austausch- und Mobilitätsprogramme zwischen den Ländern finanziell weiter abgesichert werden. Sie müssen aber auch mit sinnvollen Inhalten gefüllt werden, und die Abschlüsse sollten gegenseitig anerkannt werden. Gerade Diplomabschlüsse, die an deutschen Universitäten erworben wurden, genießen trotz der langen Studiendauer, die ihnen oft vorausgeht, wenig Anerkennung in anderen Staaten. Ich denke, daß hier Handlungsbedarf besteht. Gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse ist ein wichtiges Thema.
Frau Kollegin Altmann, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Zur Finanzierung der neuen Hochschulsonderprogramme sind sowohl Bund als auch Länder gefordert. Wir meinen, es sollte - vergleichbar zum derzeitigen Programm II - zwischen Bund und Ländern nach dem Schlüssel 60:40 finanziert werden.
Wir halten die Diskussion über den SPD-Antrag im Bildungs- und Forschungsausschuß für sehr wesentlich und werden ihn unterstützen. Außerdem sollten aus den Sonderprogrammen Regelprogramme werden.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Karlheinz Guttmacher.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im vergangenen Jahr wurden die Hochschulsonderprogramme I und II - in die Nomenklatur der Hochschulen sind sie auch als das „Möllemann-I/II-Programm" eingegangen - gemeinsam mit dem Hochschulerneuerungsprogramm unter Berücksichtigung des Wissenschaftler-Integrations-Programmes von einer Bund-Länder-Kommission hinsichtlich ihrer Wirkung untersucht.
Bei der Bewertung des bisherigen Erfolges der drei Programme gab es auch über die wissenschafts- und hochschulpolitischen Zielsetzungen eines neuen gemeinsamen Programmes Übereinstimmung. Im einzelnen sind Bund und Länder in der Bund-Länder-Kommission bei der Überprüfung der Programme einvernehmlich zu dem Ergebnis gekommen, daß das Hochschulsonderprogramm I schon deshalb ein großer Erfolg war, weil dadurch 3 200 zusätzliche Arbeitsstellen an den Hochschuleinrichtungen und rund 17 000 zusätzliche Studienanfängerplätze geschaffen werden konnten.
({0})
Besonders belastete, wirtschaftsnahe Studiengänge konnten dadurch gestärkt und wichtige strukturelle Verbesserungen erreicht werden. Der Bund förderte dieses Hochschulsonderprogramm mit 50 Prozent der Finanzierung.
Auch wenn es mir, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, persönlich besser gefiele, wenn wir das Hochschulsonderprogramm I weiterführen könnten, sollten wir doch fair genug sein, die Bewertung der Bundesregierung als richtig anzuerkennen, die besagt: Die Sicherstellung der auf Dauer erforderlichen personellen und sachlichen Ausstattung der Hochschulen fällt in die verfassungsmäßige Zuständigkeit der Länder.
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Die Laufzeit des Hochschulsonderprogramms I war von Anfang an bis zum Jahr 1995 begrenzt ausgelegt.
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Zudem steigt der Bund auch nach dieser Zeit nicht aus der Hochschulfinanzierung aus, auch wenn es sich dann nicht um ein gesondertes Programm, sondern um ein Gesamtpaket der Bildung handelt, an dem sich der Bund beteiligen wird.
Mit dem zweiten Hochschulsonderprogramm und dem Hochschulerneuerungsprogramm förderten Bund und Länder gezielt den wissenschaftlichen Nachwuchs auf allen Qualifikationsebenen. Dies gilt für die Promotions- ebenso wie für die Habilitationsförderung, den Aufbau der Graduiertenkollegs sowie für weitere Maßnahmen im Bereich der Postdoktorandenförderung.
Auch im Bereich der Fachhochschulen, insbesondere der Errichtung der Fachhochschulen in den neuen Bundesländern, sowie bei der Verstärkung der europäischen Zusammenarbeit wurden gute Erfolge erzielt.
Es stellt sich nun die Frage, wie die Hochschulförderung auf möglichst effiziente Weise fortgeführt werden kann. Drei Probleme sind hierbei zu lösen. Erstens. Mehrere Programme mit unterschiedlichen Laufzeiten müssen bedarfsgerecht in ein Programm überführt werden. Zweitens ist die Frage der Finanzierung und drittens die Frage des Verteilungsschlüssels zwischen Bund und Ländern zu klären.
Zum ersten Punkt, der Gestaltung eines einheitlichen Hochschulsonderprogramms: Bund und Länder haben in ihrem gemeinsamen Vorschlag die bestehenden Programme so fortentwickelt, daß sie zu Veränderungen der Struktur innerhalb der Hochschulen und zur Förderung der Innovationen in Hochschulen sowie der Forschung beitragen können.
Unser Ziel muß es sein, mit qualitativen Verbesserungen in den Universitäten die begonnenen Strukturreformen weiter umzusetzen, um die Studienzeiten zu verkürzen. Strukturelle Verbesserungen im Hochschulbereich müssen sich ebenso weiterhin auf den qualitativen und quantitativen Fachhochschulausbau erstrecken.
Hohe Priorität soll der Qualitätsverbesserung der Lehre eingeräumt werden. Dies geschieht durch Vorschläge zur Evaluation der Lehre und durch Selbstverantwortung der Hochschulen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben in Lehre und Forschung.
Für besonders wichtig und zukunftsweisend halte ich auch den Einsatz der Multimedia im Hochschulbereich, besonders im Bibliotheksdienst.
Von großer Bedeutung für die neuen Bundesländer ist es, den Aufbau der Fachhochschulen zügig fortzusetzen. Insbesondere muß die Ausstattung neugeschaffener Fachrichtungen an den Hochschulen sichergestellt werden.
Besonders im Hinblick auf die sich verschiebenden Altersstrukturen in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern ist es vonnöten, dafür Sorge zu tragen, daß bis zum Jahr 2005 - bis dahin werden etwa zwei Drittel der Lehrstühle nicht mehr besetzt sein, da die jetzigen Stelleninhaber aus Altersgründen ausscheiden - der erforderliche Nachwuchs ausgebildet wird.
Großer Nachholbedarf besteht aus Sicht der F.D.P. im Bereich der Frauenförderung. Die Frauen sind - Frau Altmann, da gebe ich Ihnen völlig recht - auf allen Stufen der wissenschaftlichen Karriere unterrepräsentiert.
({3})
Es bedarf nach wie vor besonderer Fördermaßnahmen, um Frauen eine stärkere Beteiligung an Forschung und Lehre und eine bessere Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Arbeit und Kinderbetreuung zu ermöglichen.
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Das im Rahmen des Hochschulerneuerungsprogramms geförderte Wissenschaftler-IntegrationsProgramm läuft Ende 1996 aus. Zwar ist es erfreulicherweise gelungen, nahezu 2000 Wissenschaftler, die ihre Integrität und fachliche Kompetenz nachgewiesen haben, in Hochschulen, Universitäten und Forschungsinstituten zu integrieren; aber ich glaube, daß dieser Prozeß Ende 1996 nicht beendet sein wird. Über Schwebezustände - Herr Elm, Sie haben darauf abgehoben und mich zitiert - bei der Integration von Wissenschaftlern an Universitäten und Fachhochschulen sollte auch nach 1996 positiv entschieden werden. Dies sollte im neuen Hochschulsonderprogramm berücksichtigt werden.
Ich komme damit zum zweiten Problem, der Frage der Finanzierung: Wir müssen als Koalitionsfraktionen darauf verweisen, daß die Finanzierung eines neuen Hochschulsonderprogramms mit anderen Finanzierungen wie der des Hochschulbaus und des Studenten-BAföGs in einem Finanzpaket erfolgen muß.
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Damit verknüpft ist das dritte Problem, die Frage des Verteilungsschlüssels zwischen Bund und Ländern: In der Vergangenheit war es bei mehreren Programmen so, daß der Bund mehr als 50 Prozent der jeweils erforderlichen Mittel für ein Förderprogramm übernommen hat. Die Länder sollten jedoch in Rechnung stellen, daß es sich dabei um ein befristetes Entgegenkommen des Bundes gehandelt hat, das nicht auf Dauer in dieser Weise aufrechterhalten werden kann.
Es muß in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen werden, daß die Kulturhoheit im wesentlichen bei den Ländern liegt und es dementsprechend auch primär Aufgabe der Länder ist, die Finanzierung zu übernehmen. Bei diesem Verständnis sind die 50 Prozent, die der Bund zur Finanzierung beiträgt, angemessen.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an die Länder und auch an die Opposition, das wichtige Thema der Hochschulförderung nicht zu zerstreiten, sondern sich gemeinsam mit dem Bund um eine konstruktive Lösung zu bemühen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Nun folgt der Parlamentarische Staatssekretär Bernd Neumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte vorweg eine Bemerkung zur Situation von Wissenschaft und Forschung in den neuen Ländern machen, obwohl der Schwerpunkt der Debatte auf Grund des SPD-Antrags ein anderer ist.
Meine Damen und Herren, wenn man bedenkt, was im Bereich von Forschung und Wissenschaft innerhalb der zurückliegenden fünf Jahre in den neuen Ländern alles geschaffen wurde - drei Großforschungseinrichtungen; neun Fraunhofer-Institute und weitere Außenstellen; neun Max-Planck-Einrichtungen, drei sind zusätzlich im Aufbau, weitere werden folgen; 29 Blaue-Liste-Einrichtungen; die Universitäten sind deutlich gestärkt worden -, wenn man dies alles bedenkt und dann sieht, was wir, Herr Kollege Elm, nach 40jähriger Mißwirtschaft Ihrer Vorgängerpartei, der SED, übernommen haben, dann kann man schon feststellen, daß dies in bezug auf die Integration ein vorbildlicher Bereich ist, selbst wenn noch viel anzustreben ist.
Es gibt keinen Bereich in den verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren, in dem der Integrationsprozeß so weit gediehen ist wie im Bereich von Forschung und Wissenschaft.
Wenn Sie dann noch zur Kenntnis nehmen, daß bei ehemals 7 500 Professoren in der alten DDR jetzt wiederum 7 500 Professoren in den neuen Ländern tätig sind und 90 Prozent der Wissenschaftler der ehemaligen Akademien, der AdW, heute in Lohn und Brot sind, dann, meine Damen und Herren, kann man schon den Ausspruch wagen, daß hier in kürzester Frist eine blühende Wissenschafts- und Forschungslandschaft entstanden ist. Ich sage dies in aller Deutlichkeit.
({0})
Nun zum Antrag der SPD. Hier geht es um die Zusammenführung und bedarfsgerechte Fortsetzung der Hochschulsonderprogramme I und II und des HEP. Meine Damen und Herren, wenn man den Antrag liest, stellt man fest: Es gibt in der Zielsetzung überhaupt keine Unterschiede zwischen dem, was die Bundesregierung will, und dem, was in den Anträgen formuliert ist. Manchmal meint man, Herr Kollege Glotz, Sie hätten aus den Bund-LänderParl. Staatssekretär Bernd Neumann
Papieren abgeschrieben. Aber da Sie selbst daran beteiligt sind, wäre dies ja nicht so furchtbar schlimm.
({1})
Das heißt, wir sind uns einig, daß diese drei Programme zusammenzuführen sind, daß es ein einheitliches Programm geben muß. Selbst im Hinblick auf das Problem der Wissenschaftlerintegration, des sogenannten WIP, ist dies zwischen Bund ,und Ländern seit Monaten ausdiskutiert.
Einvernehmlich sind wir dazu der Auffassung, daß die bloße Fortführung der bisherigen Maßnahmen keinen Sinn macht. Um aber der besonderen Problemlage in den neuen Ländern gerecht zu werden, wird die revidierte Fassung eines gemeinsamen Hochschulsonderprogramms - wie von der SPD in ihrem Antrag unterstützt Fördermöglichkeiten für innovative Forschergruppen enthalten. Das heißt, wir wollen die Probleme von Wissenschaftlern in den neuen Ländern weiter regeln und lösen, sie unterstützen, obwohl die normale Förderung seitens des Bundes, wie es abgesprochen war, an sich beendet sein sollte.
Nach soviel Gemeinsamkeiten nun zu den Unterschieden: Das HSP I wurde 1989 vereinbart, um die Politik des Offenhaltens der Hochschulen zu gewährleisten, die Ausbildungskapazitäten in besonders belasteten Studiengängen zu verbessern und Zulassungsbeschränkungen zu verhindern bzw. zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder aufzuheben.
Angesichts der mit dem HSP I erreichten Entwicklung - dazu ist mehrfach etwas gesagt worden - und der Nachfrage nach Studienplätzen in den vom HSP I erfaßten Bereichen sieht der Bund nunmehr keine Notwendigkeit, die zum 31. Dezember 1995 ausgelaufene Vereinbarung zum HSP I zu verlängern. Wir lehnen daher diese SPD-Forderung ab.
Das Programm war befristet angelegt. Die Länder hätten sich darauf einstellen müssen. Einige haben dies getan, andere jammern jetzt. Im übrigen zeigen neue Erhebungen zur Personalausstattung an den Hochschulen, daß die auch aus Mitteln des Hochschulsonderprogramms erreichte Gesamtzahl der Stellen für wissenschaftliches Personal über den errechneten Bedarfswerten liegt. Insofern glauben wir, daß wir diese Vereinbarung auslaufen lassen können.
Kommen wir nun zum echten Knackpunkt, nämlich dazu, warum wir heute trotz großen Konsenses zwischen Bund und Ländern, SPD und Bundesregierung in der Sache über dieses Thema debattieren: Sprechen wir vom Geld. Die Länder fordern in den Verhandlungen ein Gesamtvolumen in Höhe von 4,1 bis maximal 5,5 Milliarden DM bei einem Finanzierungsschlüssel von 60 : 40. Die Bundesregierung hält dagegen ein Gesamtvolumen von 3,6 Milliarden DM für ausreichend und besteht auf einen Finanzierungsschlüssel von 50 : 50.
Meine Damen und Herren, gegenüber den in HSP II und HEP für die Jahre 1996 bis 2000 vereinbarten Summen würde diese Zielvorstellung des Bundes für das gesamte revidierte gemeinsame
Hochschulsonderprogramm insgesamt einen
Zuwachs von etwa 60 Prozent bedeuten. Dies ist erheblich mehr, als seinerzeit, 1991, bei der Revision des Hochschulerneuerungsprogramms vereinbart werden konnte.
Die Bundesregierung geht außerdem davon aus, daß die gemeinsam gesetzten Ziele gemeinsam, das heißt zu gleichen Teilen, Frau Brunn, finanziert werden. Dies ist im übrigen auch beim HSP I der Fall gewesen.
In diesem Zusammenhang ist es dringend angezeigt, meine Damen und Herren, an die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Hochschulbereich zu erinnern. In unserem Grundgesetz ist festgelegt, daß grundsätzlich die Länder für die personelle und sächliche Ausstattung der Hochschulen zuständig sind. Die Zuständigkeiten des Bundes sind nach Art und Umfang begrenzt.
Trotz dieser festgelegten Kompetenzverteilung hatte sich der Bund angesichts der enormen Belastung der Hochschulen dazu entschlossen, die Länder durch Hochschulsonderprogramme bei der Bewältigung der verschiedenen Herausforderungen finanziell zu unterstützen. Insgesamt hat der Bund im Rahmen dieser Programme zeitlich begrenzt eine zusätzliche Unterstützung des Hochschulbereichs mit insgesamt 5,27 Milliarden DM für erforderlich gehalten und auf sich genommen. Ich meine, wenn man davon ausgeht, daß an sich die Länder für diesen Bereich zuständig sind, ist das eine ansehnliche Summe.
({2})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Glotz?
Ja, bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie denn bei den, wie wir finden, unzureichenden Finanzzusagen in Höhe von 3,6 Milliarden DM, die Sie in die Verhandlung einbringen, überhaupt bleiben, wenn Sie, was vorhersehbar ist, im Mai - oder wann immer das sein wird - mit Ihrer BAföG-Reform an die Wand fahren?
Herr Kollege, ich gehe im letzten Kapitel meines Beitrages auf diesen Punkt ein. Ich gehe aber davon aus, daß wir nicht an die Wand fahren, weil ich voraussetze, daß Sie und Ihre Kollegen in der SPD so vernünftig sind, zu einem Kompromiß zu kommen, damit wir den Hochschulen in Deutschland, insbesondere in den neuen Ländern, helfen können.
({0})
Meine Damen und Herren, auf Grund besonderer Problemsituationen hatte sich der Bund in der Vergangenheit auch dazu bereit erklärt, diese Programme zum Teil mit 60 Prozent bzw. 75 Prozent zu fördern. Nun muß ich allerdings an die Vertreter der SPD im Deutschen Bundestag appellieren: Es kann doch nicht angehen, daß versucht wird, ein Entgegenkommen des Bundes in einer Sondersituation, wie zum Beispiel der deutschen Einheit, in eine Grundregel der Dauerförderung umzumünzen. Was ist das für ein Verständnis von Föderalismus, wenn einerseits über die eigenen rechtlichen Kompetenzen argwöhnisch gewacht wird - ich erinnere an den Versuch der Länder zur Kompetenzbeschneidung des Bundes im Hochschulbereich; das haben wir vor einiger Zeit im Zusammenhang mit der Verfassungsreform diskutiert -, andererseits aber die finanziellen Konsequenzen an den Bund abgeschoben werden?
({1})
Hier gibt es keine Aufgabenverteilung. Wer Verantwortung wahrnehmen will, muß auch Verantwortung für die Finanzen wahrnehmen und sollte dankbar sein, wenn sich der Bund großzügig beteiligt.
({2})
Ich darf daher wiederholen: Ich gehe davon aus, daß der Bund einem gemeinsamen Hochschulsonderprogramm in Höhe von 3,6 Milliarden DM bei einem Finanzierungsschlüssel von 50 : 50 zustimmen kann. Dies, Herr Kollege Glotz, hängt aber davon ab, daß die dafür erforderlichen Mittel auf Bundes-, wohl aber auch auf Länderebene zur Verfügung stehen. Dies wiederum hängt davon ab - das sage ich sehr deutlich -, ob die Länder der BAföG-Strukturreform, die der Bund vorgeschlagen hat, zustimmen.
({3})
Vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen ist es nicht nur für den Bund, sondern natürlich auch für die Länder erforderlich, den Haushalt sorgfältig zu kalkulieren. Der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie hat daher schon vor Monaten ein Gesamtkonzept vorgelegt, das es erlaubt, wichtige Maßnahmen umzusetzen, die für die Leistungsfähigkeit unserer Hochschulen bedeutsam sind. Deshalb appelliere ich an die SPD hier im Bundestag und - vielleicht noch wichtiger - an die SPD im Bundesrat - Frau Kollegin Brunn ist hier anwesend -: Zeigen Sie sich konstruktiv. Dies wäre wichtig, gerade auch im Interesse der neuen Länder; denn die Förderung des HEP läuft 1996 aus. Wir sind daran interessiert, daß wir mit Hilfe der Finanzierung über die BAföG-Strukturreform in der Lage sind, den Aufbau und die Konsolidierung der Hochschullandschaft in den neuen Ländern zu verstärken und fortzusetzen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Bernd Neumann, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Deshalb glaube ich, Herr Kollege
Glotz, daß es vernünftig wäre, wenn Sie dieser BAföG-Strukturreform Ihre Zustimmung gäben.
({0})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Joachim Schmidt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist unbestritten: Ohne verstärkte Forschung und Entwicklung wird der Aufschwung in den neuen Bundesländern nicht fortgeführt werden können. Deshalb ist es notwendig, neue Forschungskapazitäten aufzubauen und vorhandene zu erhalten und weiterzuentwickeln. Dies gilt auch in vollem Umfang für die im derzeitigen Wissenschaftler-Integrations-Programm tätigen Forschergruppen und Einzelforscher.
Das Wissenschaftler-Integrations-Programm, kurz WIP genannt, wurde 1991 beschlossen und 1992 eingerichtet, um etwa 2 000 positiv evaluierte Wissenschaftler der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR, deren Einrichtungen vor allem aus strukturellen Gründen nicht mehr weitergeführt werden konnten, an den Hochschulen der neuen Bundesländer anzusiedeln.
Diese vom Wissenschaftsrat empfohlene Maßnahme basierte auf der nur bedingt richtigen, eher irrigen Auffassung - Sie haben recht -, nach der an Hochschulen der DDR keine oder nur in bescheidenem Umfang Forschung betrieben wurde. Im Lichte eigener Erfahrungen muß festgestellt werden, daß an den Hochschulen der DDR Forschung - vor allem auf naturwissenschaftlichem und ingenieurtechnischem Gebiet, aber eigentlich auf allen Wissenschaftsgebieten - eine bemerkenswert wichtige Rolle gespielt hat, was sich auch im Personalbestand dieser Hochschulen widergespiegelt hat.
Angesichts der schwierigen Umbruchsituation war es aber ganz sicher richtig, hochqualifizierte Wissenschaftler, deren wissenschaftliche Arbeitsstätte ohne eigenes Verschulden weggebrochen war, in einem Übergangsprogramm aufzufangen. Die sogenannten WIPianer haben seitdem in ihren Sondergruppen eine sehr beachtliche und wertvolle wissenschaftliche Arbeit geleistet. Ihre endgültige Ansiedlung an den Hochschulen konnte allerdings aus den von mir dargelegten Gründen nur in bescheidenem Umfang gelingen, zumal die Hochschulen ihrerseits in den vergangenen Jahren Personal abbauen mußten.
Das WIP, 1993 verlängert, läuft Ende 1996 aus. Der Bund hat dieses Programm bisher mit der beachtlichen Summe von 500 Millionen DM unterstützt. Nach derzeitigen Erhebungen ist die Weiterbeschäftigung von 1 144 WIP-Geförderten über das Jahr 1996 hinaus nicht gesichert. Im Hinblick auf die Zukunft dieser Angehörigen des WIP bin ich der festen Überzeugung, daß sie unbedingt eine faire Chance erhalten müssen, weiter aktiv Forschung zu betreiben.
({0})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({1})
In diesem Zusammenhang halte ich aber die Fortführung des bisherigen WIP nicht für zweckmäßig, da der den WIPianern anhaftende Sonderstatus auf diese Weise nicht beseitigt und eine wirkliche Integration an Hochschulen oder anderen Forschungseinrichtungen damit auch nicht gelingen würde.
({2})
Im übrigen denken viele WIPianer so wie ich.
Es ist jedoch unbedingt notwendig, daß auch nach 1996 Bund und Länder gemeinsam Verantwortung für die Zukunft der heutigen WIPianer übernehmen. Deshalb ist die vom BMBF für die WIPianer vorgeschlagene Maßnahme „Sockelbetrag zur Förderung innovativer Forschungsgruppen in den neuen Bundesländern" ein Schritt in die richtige Richtung. Ziel dieser Maßnahme ist es, den Forschergruppen und Einzelforschern, denen es mit ihren Vorhaben gelingt, sich auf dem Drittmittelmarkt zu behaupten, eine Starthilfe durch Sockelfinanzierung zu geben. So können die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, den zumeist von den Drittmittelgebern geforderten Eigenanteil, die sogenannten OverheadKosten, zu erbringen.
Auf der Basis der derzeitigen Personal- und Sachkostenpauschalen ergibt sich für die Weiterbeschäftigung der WIPianer für den Zeitraum von 1997 bis 2000 ein Mittelbedarf von zirka 400 Millionen DM. Aus der gemeinsamen Pflicht des Bundes und der Länder für den Abschluß des WIP müssen allerdings die im genannten Programmteil bisher vorgesehenen 100 Millionen DM auf 400 Millionen DM aufgestockt werden.
Von diesen 400 Millionen DM müßte der Bund entsprechend des noch mit den Ländern zu vereinbarenden Finanzierungsschlüssels 200 bis maximal 250 Millionen DM tragen. Darüber hinaus wären von den Ländern zusätzlich die Infrastruktur- und Integrationskosten für diesen Personenkreis als reiner Länderbeitrag zu erbringen.
Wir sind der Meinung, daß die Programmtitel nach dem Prinzip der wissenschaftlichen Leistungsorientierung zu vergeben sind. Da von vielen WIP-Gruppen bevorzugt Grundlagenforschung betrieben wird, hielten wir es für sinnvoll, die Deutsche Forschungsgemeinschaft in dieses Programm gewichtig einzubeziehen. Durch das Gutachterkollegium der DFG sollte eine fachliche Evaluierung der Projekte vorgenommen werden. Bei Projektgenehmigung müßte die volle Finanzierung über die DFG erfolgen.
Antragsberechtigt sollten nicht nur die ehemaligen WIP-Geförderten an den Hochschulen und An-Instituten sein, sondern auch die ehemaligen WIP-Geförderten, die nach Beendigung des Förderzeitraums 1996 in gemeinschaftlich von Bund und Ländern finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen weiterbeschäftigt werden sollten. Hierfür ist allerdings die Zustimmung des Bundes erforderlich, für die ich nachdrücklich plädiere.
Es ist begrüßenswert, daß in Abhängigkeit von den Möglichkeiten, auf dem Drittmittelmarkt wirksam zu werden, in das neue Programm eine Flexibilisierungsklausel eingebaut werden soll, was bedeutet, daß derzeitige WIPianer auch an anderen Fördermaßnahmen partizipieren können, Stichwort: Habilitationsstipendium.
Es muß von hier aber auch der Appell an die Länder gerichtet werden, möglichst viele WIPianer in An-Instituten zu beschäftigen oder aus WIP-Gruppen An-Institute zu gründen. Wenn die hier angesprochenen Maßnahmen unter den von mir skizzierten Randbedingungen zügig umgesetzt werden, dann bin ich guten Mutes, daß das in WIP-Gruppen konzentrierte Forschungspotential dem Aufschwung in den neuen Bundesländern auch weiterhin erhalten bleibt. Dies ist die wichtige forschungspolitische Aufgabe, für die wir uns wie bisher engagiert einsetzen werden.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile der Ministerin für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Anke Brunn, das Wort.
Ministerin Anke Brunn ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß der Bundestag Gelegenheit gibt, über die Hochschulsonderprogramme zu sprechen; denn es ist tatsächlich ein drängendes Problem, in dieser Frage weiterzukommen. Ich denke, daß Sie sich alle darüber einig sind, daß Innovation und Qualifikation Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland sind. Sie muß man pflegen.
Ich habe es deshalb als gutes Signal bei der Kabinettsbildung der neuen Bundesregierung empfunden, daß man Innovation und Qualifikation in einem Ministerium zusammengeführt, einen Zukunftsminister berufen und dabei auch noch Priorität für dieses Feld versprochen hat. Das Versprechen ist allerdings noch nicht eingelöst; weit gefehlt, auch von Priorität in materieller Hinsicht ist nicht die Rede. Von der Forschung über BAföG und Hochschulbau bis hin zu den Sonderprogrammen, die jetzt den Schwerpunkt der Debatte darstellen, ist von diesem Anspruch leider nichts geblieben. Das finde ich traurig.
({1})
In Sachen Zukunft herrscht momentan Endzeitstimmung im Bundestag.
({2})
Aus dieser Ecke müssen wir heraus. Wir wissen, daß auf Landesebene nicht immer alles wunderbar ist; aber die Mehltaudebatte und die Mehltausituation, die wir zur Zeit auf Bundesebene haben, stören den gesamten Entwicklungsprozeß.
({3})
Wir haben einen Reform- und Handlungsstau im Aufgabenfeld Bildung, Wissenschaft und Forschung
Ministerin Anke Brunn ({4})
in einem bisher unbekannten Ausmaß. Ich bin schon seit zehn Jahren Ministerin und verfolge das. Ich muß sagen: Es ist bedauerlich.
Die Situation wird dadurch gravierend verschärft, daß der Bundesminister die verschiedenen Aufgabenstränge zu einem geradezu unentwirrbaren Knäuel verbunden hat und so die Lösung letztlich nicht nur erschwert, sondern unmöglich macht, wenn wir nicht wirklich Thema für Thema mit ordentlichen Beschlüssen versehen und ordentlich behandeln.
({5})
BAföG, Hochschulbau und Forschung werden durch die komische Vermischung in einen Topf geworfen, und die Länder, die Lehrenden und die Lernenden sollen diese Suppe auslöffeln. Dagegen wehren wir uns; denn den Akteuren in Hochschulen, Forschung und Ausbildung bleibt Verachtung, ja die Mißachtung, nicht verborgen, mit der sie behandelt werden.
Alle diese Maßnahmen des BMBF laufen verkürzt nicht nur darauf hinaus, daß die Probleme schwerer lösbar werden, sie belasten auch die nächste Generation, besonders junge Menschen, deren Eltern ein niedriges Einkommen beziehen. Im übrigen wird mit dem Rückzug aus der gemeinsamen Verantwortung bewirkt, daß die Länder für die Untätigkeit des Bundes geradestehen müssen.
Nun sagen Sie, Herr Kollege Neumann, das Hochschulsonderprogramm I sei Verfassungsaufgabe der Länder gewesen. Das ist auch richtig. Der Betrieb der Hochschulen ist Aufgabe der Länder. Wenn Sie nun Ihrerseits das eingesparte Geld in Ihre Hochschulaufgaben, in den Hochschulbau, in die Forschung und in den wissenschaftlichen Nachwuchs, investiert hätten, dann würden wir uns in ganz anderer Weise unterhalten.
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Aber Sie ziehen sich ja ständig zurück. Sie ziehen sich in Ihrem Anteil an der Bildungsfinanzierung zurück. Und dann sagen Sie: Wir sind so arm. Im internationalen Vergleich steht die Bundesrepublik doch ganz schlecht da. Es gibt also gar keinen Grund zu kneifen. Das mag in den eigenen Reihen auf Beifall stoßen, aber es führt nicht in die Zukunft.
({7})
Bei den Hochschulsonderprogrammen ist es besonders bedauerlich, daß der Zukunftsminister im Dezember 1995 in dieser Angelegenheit die Sprache in der Bund-Länder-Kommission völlig verloren hat und daß jetzt wieder die Kultusminister die Auffassung haben: Vom Bund überhaupt nichts! Die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler stehen am 8. Februar vor der Situation - dafür hoffe ich auch die Unterstützung des Bundestages zu gewinnen -, den Knoten gemeinsam durchzuschlagen; denn wir dürfen keine Zeit verlieren.
Worum dreht sich nun der Streit? Die Fachminister hatten seit 1994 den Auftrag, die drei Hochschulsonderprogramme HSP I, HSP II und HEP, wie dargelegt, zusammenzufassen und zu aktualisieren. Wir sollten mit der Fortschreibung neue Handlungsspielräume eröffnen. Dabei waren wir uns relativ bald über die Maßnahmen einig. Dies haben wir im Februar vergangenen Jahres vorgelegt, und dies hat auch der Bundestagsausschuß zur Kenntnis genommen und unterstützt. Das wird auch in dem Antrag signalisiert. Die Länder waren sich über das Finanzvolumen einig, weil sie davon ausgingen, daß im wesentlichen die Schwerpunkte der drei Programme modernisiert, aktualisiert und fortentwickelt werden sollten. Wir hatten damals fast sogar ein gewisses Verständnis für den Bund, der sagte, im Hinblick auf die Haushaltsplanberatungen 1996 könne er sich zu der Summe nicht erklären.
Das war vor einem Jahr. Zur Erinnerung noch einmal die Schwerpunkte: Das Hochschulsonderprogramm I kam wegen der Überlastung der Hochschulen zustande und hatte die besonderen Schwerpunkte Informatik und informatiknahe Fächer, Elektrotechnik und Maschinenbau usw. Diese Studiengänge haben sich etabliert. Der Bedarf besteht also ohne Frage weiter. Die Überlastung der Hochschulen ist jetzt noch größer als 1989, als das Hochschulsonderprogramm I anlief. Zudem stehen wiederum geburtenstarke Jahrgänge vor den Toren der Hochschulen, das heißt, es werden wieder mehr Studenten. Es kann also gar nicht angehen, gerade in diesen Bereichen Studienplätze abzubauen, zumal gerade mit diesen Studiengängen auch Strukturwandel erfolgt. Wir führen doch auch an anderer Stelle eine Zukunftsdebatte. Wir können nicht über die Informationsgesellschaft sprechen und gleichzeitig informatiknahe Studienplätze abbauen.
({8})
Selbst wenn in einzelnen dieser Studienfächer, in den Ingenieurwissenschaften und in der Informatik, aus konjunkturellen Gründen tatsächlich Unterauslastung besteht, so ist es mir als Wissenschaftsministerin lieber, ein Teil der Kapazität geht in die Forschung und in den Strukturwandel, als daß sie jetzt abgebaut wird. Das ist unvernünftig. Gerade wegen ihrer Anwendungsnähe brauchen wir diese Fächer. Das gilt im übrigen auch für die Aktivitäten in den neuen Ländern.
Aus diesem Grunde haben die Länder das Hochschulsonderprogramm I weitgehend fortgeführt und sind für die Bundesmittel, die 1996 ausfallen, eingetreten. Es ist für die Länder - auch für Nordrhein-Westfalen - ein Kraftakt, die Stellen des Hochschulsonderprogramms aus eigener Kraft weiterzufinanzieren.
Das Hochschulsonderprogramm II diente vor allen Dingen dem Ausbau der Fachhochschulen, der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der europäischen Orientierung des Studiums und der Frauenförderung. Wie wichtig das ist, sieht man auch am internationalen Vergleich. Unter den westlichen Ländern werden wir im wesentlichen mit der Türkei verglichen, was die Frauenfreundlichkeit unserer Hochschulen betrifft. Ich weiß, daß das auch von den Ländern zu verantworten ist, deswegen tun wir gemeinsam etwas dagegen. Aber es zeigt auch, wie
Ministerin Anke Brunn ({9})
wichtig es ist, sich in einem solchen Programmteil besonders zu engagieren.
Auf das Hochschulerneuerungsprogramm ist von allen Seiten hingewiesen worden. Gerade die neuen Länder, meine Damen und Herren, brauchen Gewißheit, wie es nach dem Auslaufen des HEP, des Hochschulerneuerungsprogramms, weitergeht; denn die Haushalte für 1997 werden jetzt vorbereitet. Deshalb muß bis März dieses Jahres Klarheit bestehen. Nach dem Zeitplan, wie er von seiten der Bundesregierung, von Herrn Rüttgers, gegenwärtig vertreten wird, ist dies unmöglich. Deshalb muß der Bundestag das wissen; denn der Bundesminister hüllt sich nicht nur in Schweigen, er setzt auf Vertagung. Wenn die Verzögerung noch ein zweites Jahr dauert - wir haben ja schon ein Jahr Erfahrung damit - und wenn das HEP ausläuft, dann entlastet sich der Bund ab 1997 um 450 Millionen DM jährlich im Verhältnis zu der Belastung, die er 1995 hatte. Dann können Sie danach fragen: Was macht er mit dem Geld?
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- Auf Kosten der Hochschulen und überwiegend zu Lasten der Länder, weil sie eintreten müssen.
Die Länder haben im vergangenen Jahr einen Kompromißvorschlag vorgelegt, der den Bund im Verhältnis zu den 5,5 Milliarden DM, die wir als notwendig erachteten, stark entlastet. Unser Kompromißvorschlag ermöglicht die Fortführung und Modernisierung der wesentlichen Aufgaben des Hochschulerneuerungsprogramms und des Hochschulsonderprogramms II - Fachhochschulen, wissenschaftlicher Nachwuchs, Frauenförderung usw. -, einen maßvollen Ausbau der Fachhochschulen und einen besonderen Schwerpunkt für die neuen Länder.
Dies alles zusammen ist ein gemeinsamer Vorschlag, übrigens aller Länder - ich bin gespannt, was der Kollege von der CSU gleich sagt -, auch Sachsens, auch Thüringens, auch Bayerns, in Höhe von 4,1 Milliarden DM. Jetzt hat der Bund 3,6 Milliarden DM vorgeschlagen, ohne Fachhochschulausbau und, meine Damen und Herren, ohne ein Innovationsprogramm für die neuen Länder. Diese 100 Millionen DM, von denen Sie eben gesprochen haben, Herr Kollege Vorredner, sind in den 3,6 Milliarden DM nämlich nicht enthalten. Dies ist für alle Länder keinesfalls akzeptabel. Hierin sind die Länder einer Meinung.
Es ist für sie auch nicht akzeptabel, daß bei den 3,6 Milliarden DM eine Schlüsselung von 50 : 50 Prozent vorgeschlagen wird, wobei die Länder für jede einzelne weitere Bundesmark 5,50 DM drauflegen müssen. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Und dann sind dort noch Aufgaben enthalten, zum Beispiel beim Nachwuchs, die sowieso gemeinsame Aufgaben sind. Das ist weniger als das Hochschulsonderprogramm II. Einen solchen Vertrag brauchen wir nicht. Deshalb sind alle Länder der Auffassung, daß unter den 4,1 Milliarden DM mit dem Schlüssel, den ich genannt habe, überhaupt nichts läuft.
Der Tief- oder Höhepunkt - je nachdem, wie dramatisch Sie es sehen wollen - dieses Trauerspiels war, daß im Dezember die Bundesregierung durch ihren Vertreter in der BLK nicht einmal zu den 3,6 Milliarden DM etwas erklären konnte, sondern sagte, sie wollten die BAföG-Debatte abwarten. Die BAföG-Debatte ist so angelegt, daß sie mehrere Monate dauern muß. Das heißt, der Bundesminister spart dadurch, und die Hochschulen hängen am Fliegenfänger.
({11})
Ich finde, wir müssen erreichen, daß die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler am 8. Februar den Knoten durchhauen und daß diese Selbstblokkade aufhört. Im übrigen ist kein Land in diesem Grundsatzverhalten der Auffassung des Bundesministers gewesen. Das muß man sich merken. Ich bin deshalb der Meinung: Wer rausgeht und nichts sagt, der muß, um bei Herbert Wehner zu bleiben, auch wieder reinkommen. Wir sind schon da.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Josef Hollerith das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stelle als Fazit dieser Debatte fest, daß wir uns in dem Punkt einig sind, daß die Hochschulerneuerungsprogramme erforderlich waren, daß sie erfolgreich waren und daß es sinnvoll und auch notwendig ist, das HSP II und das HEP in ein neues, gesamtes Programm zu integrieren. Soweit Einigkeit.
Uneinigkeit herrscht über den Weg, über das Wie, dieses Ziel umzusetzen. Hier verwundert mich als erstes - eigentlich verwundert es mich nicht - die Scheinheiligkeit der SPD.
Da wird einerseits
({0})
- hören Sie mir zu, Herr Fischer - auf die grundgesetzliche Zuständigkeit gepocht, und sie wird bei der Gemeinschaftsaufgabe „Finanzierung des Hochschulbaus" eingefordert - 50 Prozent Bund und 50 Prozent Länder -, aber andererseits wird da, wo der Bund verfassungsmäßig überhaupt keine Zuständigkeit hat, etwa bei der Finanzierung des Personals, so getan, als gäbe es eine verfassungsmäßige Pflicht. Es ist scheinheilig, wenn man diesen Unterschied macht.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin zum zweiten enttäuscht darüber, daß der SPD nichts Neues einfällt, außer mehr Geld zu fordern.
Herr Kollege Hollerith, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Odendahl?
Sehr gern, Herr Präsident.
Lieber Herr Kollege Hollerith, nachdem Sie schon solche Worte wie „heilig" usw. hier bemühen,
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- scheinheilig, ja es war ein bayerischer Ausdruck -, hätte ich jetzt die Frage, ob Sie so weit in die Vergangenheit zurückdenken können und bereit sind, hier noch einmal auszuführen, daß alle drei Sonderprogramme von der Regierungsseite hier für die Länder vorgelegt wurden und daß die Bedenken, die Sie jetzt äußern, damals nicht geäußert wurden.
Frau Kollegin, wenn Sie mir zugehört hätten, hätten sie merken können, daß ich in der Frage der Sinnhaftigkeit dieser Programme mit Ihnen und dem gesamten Hause einig bin, daß wir aber in der Frage der Finanzierung und des Aufteilens der Quoten 50:50 einen Dissens mit der SPD haben, und diesen haben Sie eben bestätigt.
({0})
- Sie dürften gemerkt haben, daß wir in Bayern in der Lage sind, die Opposition selber zu machen, weil Sie von der SPD dazu nicht in der Lage sind.
({1})
Wir müssen in Bayern ja beides tun, regieren und Opposition sein, weil Sie so schwach sind. Es ist ein Jammer.
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Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?
Sehr gerne, Herr Präsident.
Herr Kollege, weil Sie gerade von der bayerischen Taktik sprechen: Ist Ihre Taktik, in Bonn anders zu reden als in München und noch einmal anders im Wahlkreis, also drei verschiedene Antworten auf eine Frage zu geben, nicht viel eher Ihre Lösung?
({0})
Herr Kollege Kubatschka, auch hier empfehle ich: Folgen Sie mir in meinen Wahlkreis, gehen Sie in meine Veranstaltungen.
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Dann werden Sie sehen, daß ich genauso rede wie hier. Dann könnten Sie nämlich lernen, wie man erfolgreich Wahlkreisarbeit betreibt. Dazu lade ich Sie gerne ein.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum zweiten Punkt meiner Anmerkungen. Ich bin darüber enttäuscht - ich sage das noch einmal -, daß der SPD nichts Neues, nichts anderes einfällt, als mehr Geld zu fordern, obwohl wir doch in diesem Hause alle wissen und obwohl auch Spitzenpolitiker der SPD feststellen, daß Geld nicht auf den Bäumen wächst.
({2})
- Manche lernen es nie, Herr Kollege, das ist leider so.
Es tut mir leid, daß die Kollegen, jedenfalls die, die heute hier geredet haben, diese Erkenntnis ihrer eigenen Spitze noch nicht verinnerlicht haben.
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Damit komme ich zum dritten Punkt meiner Anmerkungen.
Wir haben ein Konzept vorgelegt. Bundesminister Rüttgers hat ein zukunftsfähiges Konzept auf den Tisch gelegt,
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und Sie verweigern sich im Bundesrat, und Sie verweigern sich - darüber bin ich enttäuscht - auch heute. Wir haben ein Gesamtpaket auf den Tisch gelegt: Finanzierung des Hochschulbaus, BAföG und Hochschulsonderprogramme. Sie haben mit Ihrem Nein die Umsetzung dieser Leistungen verhindert. Dafür tragen Sie die Verantwortung und nicht wir von der Regierung.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Herr Staatssekretär hat in seiner staatstragenden Weise, wie es ihm sicherlich gebührt, an Sie appelliert. Aber ich stelle fest, daß die SPD - jedenfalls in dieser Debatte - wenig Lernfähigkeit gezeigt hat.
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Es bleibt zu hoffen, daß die, die in den Ländern Verantwortung tragen, dazu eher in der Lage sind.
Herzlichen Dank, meine sehr verehrten Damen und Herren.
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Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 13/2930 und 13/ 3491 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rolf Olderog, Dr. Winfried Pinger, Ulrich Schmalz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann, Roland Kohn und der Fraktion der F.D.P.
Tourismus in die Dritte Welt - Drucksache 13/3142 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Olderog.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die entscheidende Frage zu unserem Thema lautet: Ist der Ferntourismus für die Länder der Dritten Welt insgesamt nützlich, und trägt er positiv zur Entwicklung dieser Länder bei? Oder schadet er diesen Ländern und ihren Menschen, verfremdet er sie, und zerstört er ihre Kultur? Bedeutet er also Vorteil oder Nachteil, Hoffnung oder Bedrohung? Ist er Wohltäter oder Räuber?
Wir beziehen mit diesem Antrag eine eher positive Position zum Ferntourismus. Wir empfehlen auch der Bundesregierung, angesichts massiv steigender Touristenzahlen zukünftig wieder verstärkt Beiträge zu leisten, um den Ferntourismus sozial verantwortlich und umweltverträglich zu gestalten - ich füge hinzu: nicht, um ihn quantitativ auszuweiten.
Der Tourismus in die Dritte Welt erlebt enorme Zuwächse. 1994 kamen allein aus Deutschland 2,5 Millionen Menschen in Länder der Dritten Welt. Inzwischen verfügen auch alle Beteiligten über zusätzliche vielfältige Erfahrungen,
({0})
und inzwischen liegen auch wissenschaftliche Untersuchungen über Chancen und Risiken des Ferntourismus vor. Danach kann heute keiner mehr ernsthaft bestreiten, daß der Ferntourismus für die Zielländer von hohem wirtschaftlichen Wert ist und daß er entscheidende Beiträge zur Entwicklung und Modernisierung dieser Länder leistet.
Die Zahlen über die Deviseneinkünfte, über die zusätzlichen Arbeitsplätze und über positive Wirtschaftsimpulse sind eindrucksvoll. Nur zwei Beispiele: Auf einer öffentlichen Anhörung der CDU/ CSU-Fraktion bekundete die Generalkonsulin von Kenia, daß die Tourismuswirtschaft ihres Landes direkt und indirekt rund 120 000 Arbeitsplätze und damit Einkommen für über 700 000 Menschen geschaffen hat. Eine Untersuchung über Mexiko weist nach, daß z. B. für 80 000 US-Dollar im touristischen Sektor 41 Arbeitsplätze, im Erdölsektor 16, in der Metallbranche 15 und im Elektrobereich nur 8 Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Ich denke, eindrucksvoller kann man die hohe ökonomische Leistungskraft dieser Branche nicht beweisen.
Meine Damen und Herren, deutlich anzusprechen sind aber auch die erheblichen Gefahren für empfindliche Ökosysteme, z. B. für Küsten, Lagunen oder Hochgebirgslandschaften. Auch der Fernflug selbst belastet durch die Flugzeugemissionen die Atmosphäre.
Eine noch größere Bedeutung hat aber ein anderer Punkt: Es ist unbestreitbar, daß sozio-kulturell der Ferntourismus für die Menschen und die Gesellschaften in den Ländern der Dritten Welt schwierige Probleme auslösen kann und auch immer wieder ausgelöst hat. Ich nenne nur die Stichworte Kulturschock, Auflösung traditioneller Werte und Strukturen, Gefährdung des familiären Zusammenhalts.
Als besonders negative Erscheinung sind der Sextourismus und besonders die zunehmende schlimme Kinderprostitution - das ist wirklich beschämend und unerträglich - zu nennen.
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Gewisse gesellschaftliche Erschütterungen sind wohl leider unvermeidbar, wenn so völlig unterschiedliche fremde Kulturen aufeinanderstoßen, wenn Arm und Reich sich derart begegnen und einheimische Menschen, unzureichend informiert, dem verführerischen Schein von Luxus, Reichtum und scheinbarer Überlegenheit der Touristen ausgesetzt sind.
Aber ich behaupte dazu, daß manche scharfe Kritik überzogen ist und jedenfalls heute in aller Regel nicht mehr die Wirklichkeit in den touristischen Zielgebieten trifft. Alle Beteiligten, die Verantwortlichen in Regierung und Verwaltung in den Zielländern, die Verantwortlichen der Tourismuswirtschaft bei uns und vor Ort sowie die Reisenden selbst und die einheimische Bevölkerung haben aus Fehlern gelernt, wissen mehr übereinander und sind sensibler für die Probleme geworden.
Vieles spricht dafür, daß durch gute Planung viele Probleme des Tourismus in der Dritten Welt vermieden oder zumindest wesentlich entschärft werden können. Ich verweise auf die Empfehlungen der Experten im Materialienband des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit Nr. 88.
Vor allem weisen Experten aber nachdrücklich auf etwas anderes hin, daß nämlich der Tourismus nicht die entscheidende Ursache für negative gesellschaftDr. Rolf Olderog
liche Entwicklungen in den Zielländern ist. Ich zitiere aus unserer öffentlichen Anhörung die Generalkonsulin Opondo aus Kenia:
Es ist nicht gerechtfertigt, einseitig dem Tourismus die Schuld am Verfall traditioneller Bindungen und Wertesysteme zu geben. Verfechter dieser Argumentation gehen von der romantischen Vorstellung aus, daß Gemeinschaften in der Dritten Welt statische, unbewegliche Gebilde sind. Doch alle Gesellschaften sind dynamisch, in Bewegung. Die Einführung von auf Geldumlauf basierenden wirtschaftlichen Systemen und das Zeitalter der modernen Telekommunikation haben einen weitaus größeren Einfluß auf soziale und kulturelle Veränderungen. Anstatt diese Veränderungen zu fürchten, sollte vielmehr gefragt werden, wie wir diese Änderungen zu unserem Vorteil steuern.
Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik kam 1992 in einer Studie zu dem Ergebnis, daß der Tourismus hinsichtlich seiner soziokulturellen Einflüsse „nur eine marginale Bedeutung " hat.
Wie dem auch sei, entscheidend ist doch, daß wir uns der Tatsache stellen müssen, daß der Ferntourismus wächst und wächst. Er wächst völlig unabhängig davon, ob die Regierung und wir oder sonst eine Stelle in Europa und in den reichen Ländern ihn unterstützen oder nicht. Diese Entwicklung in den Zielländern kann planvoll, auf vernünftige Ziele ausgerichtet sowie sensibel und rücksichtsvoll geschehen, oder sie kann durchaus auch verfehlt, unvernünftig und rücksichtslos erfolgen.
Ich halte es für vernünftig und geboten, daß die Bundesregierung durch Angebote zur Qualifizierung von Fachkräften, durch Errichtung und Betreuung von umwelt- und sozial verträglichen Modellprojekten und durch weitere wissenschaftliche Studien die Entwicklung engagiert begleitet und positiv beeinflußt.
Ein umwelt- und sozial verträglicher Tourismus kann jeweils nur mit Unterstützung aller Beteiligten gelingen. Deshalb appellieren wir an die Bundesregierung, an die Verantwortlichen der Tourismuswirtschaft in Deutschland, an die deutschen Touristen, aber insbesondere auch an die Tourismusverantwortlichen in Regierung, Verwaltung und Wirtschaft der Zielländer, dazu ihren unverzichtbaren Beitrag zu leisten.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brunhilde Irber.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man könnte ja meinen, daß aller guten Dinge drei sind. Der vorliegende Antrag ist nämlich schon der dritte in dieser Periode, mit dem die Koalition versucht, das Thema Tourismuspolitik zu besetzen.
({0})
Nur lassen sich leider alle drei letztlich mit einem Satz zusammenfassen: Viele Worte, wenig Inhalt!
({1})
Dabei gibt es in diesem Antrag durchaus neue Töne, die uns aufhorchen lassen. So hat die Koalition bei der Beschreibung der Risiken des Dritte-WeltTourismus recht deutliche Worte gefunden. Anders als früher werden nicht nur die ökonomischen Chancen gesehen, sondern auch die sozialen, kulturellen und ökologischen Probleme angesprochen. Die Koalition hat offenbar eingesehen, daß man hier nicht allein auf die Selbstregulierung des Marktes vertrauen kann. Auch die Koalition spricht sich in diesem Antrag für „staatlich flankierte unternehmerische Planung" aus. Sie nennt es unverantwortlich, wenn sich Reiseveranstalter einseitig am ökonomischen Nutzen orientieren, und sie bekennt sich zur entwicklungspolitischen Verantwortung der Bundesregierung in diesem Bereich. All dies begrüßen wir.
Sehen wir uns aber die Konsequenzen an, die Sie aus Ihren Einsichten ziehen wollen, bleiben nichts als wohlfeile Absichtserklärungen übrig.
({2})
An keiner Stelle werden die Ziele der geforderten Maßnahmen konkretisiert, an keiner Stelle die Instrumente ihrer Umsetzung benannt. Nirgends wird der so oft verwendete Begriff von der Sozialverantwortlichkeit mit Inhalt gefüllt.
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Was Sie da in 17 Einzelforderungen auflisten, muß man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. So soll die Regierung, wie es in Ihrem Antrag immer so schön heißt, „darauf hinwirken", daß deutsche Touristikunternehmen ihre Mitverantwortung erkennen und übernehmen. Sie soll darauf hinwirken, „daß sich deutsche Touristen in Dritte-Welt-Ländern rücksichtsvoll und bescheiden verhalten". Wie Sie sich die Verwirklichung dieser frommen Wünsche eigentlich vorstellen, bleibt allerdings offen.
Besonders pikant finde ich auch die Aufforderung, darauf hinzuwirken, daß die einheimische Bevölkerung mehr Informationen über die Motive und Verhaltensweisen der Touristen erhält, um besser auf ihre Rolle als Gastgeber vorbereitet zu sein. Es wird nicht etwa Teilhabe und Mitentscheidung der einheimischen Bevölkerung gefordert.
({4})
Nein, es geht um ihre Vorbereitung auf die Rolle - sagen wir es doch offen - als Dienstboten.
({5})
Ich glaube aber nicht, daß der Widerstand der einheimischen Bevölkerung, wie er sich beispielsweise im westindischen Goa formiert, etwas mit mangelnder Information zu tun hat. Vielmehr haben die Menschen dort die Nase voll davon, daß ihnen das Wasser rationiert wird, während die Touristen mehrmals am Tag duschen können.
({6})
- Das steht nicht drin.
({7})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich frage Sie: Wollen Sie diese schwammigen Formulierungen und unverbindlichen Allgemeinplätze wirklich als neue Entwicklungspolitik verkaufen? Ich finde, daß Ihre Forderungen allzusehr auf das Wohl des Tourismus und zuwenig auf das Wohl der Menschen abzielen.
({8})
Sie selbst reden davon, daß man die Tourismusentwicklung in der Dritten Welt nüchtern sehen muß. Dann aber kommt man sehr schnell zu Ergebnissen, die wenig hoffnungsfroh stimmen. Sicherlich, es lassen sich vielfach positive wirtschaftliche Effekte wie Deviseneinnahmen sowie Schaffung von Arbeitsplätzen und Infrastruktur nachweisen. Aber für Euphorie ist kein Platz; denn auf der anderen Seite werden neue Probleme geschaffen: ökonomische, ökologische und soziale.
Den Tourismus als Rettung für solche Länder zu sehen, die sonst keine Entwicklungschancen haben, ist eine weitverbreitete, aber leider irrige Annahme; denn Tourismus als Monokultur macht diese Länder von den internationalen Reiseveranstaltern abhängig und macht sie für Schwankungen und Modetrends anfällig.
({9})
- Aktuelles Beispiel, Herr Kollege Schmalz, ist Costa Rica, das nach den Entführungen drastische Buchungsrückgänge zu verzeichnen hat, und das hat seine Ursachen.
({10})
Besonders in der Aufbauphase braucht der Tourismus überproportionale Investitionen. Infrastrukturmaßnahmen wie der Bau von Flughäfen, Straßen und Hotels verbrauchen die knappen Ressourcen der Entwicklungsländer, die dann für andere Wirtschaftssektoren fehlen. Das trifft im übrigen nicht nur auf Ressourcen finanzieller Art zu. Schwerwiegende Probleme ergeben sich auch aus dem hohen Wasser- und Energieverbrauch von Hotelanlagen und Freizeiteinrichtungen.
Der Rückfluß der Deviseneinnahmen in die reichen Länder für Importe zum täglichen Wohl der Touristen relativiert den erhofften wirtschaftlichen Effekt. Eine Weltbankstudie geht davon aus, daß 55 Prozent der Tourismuseinnahmen aus den Entwicklungsländern zurückfließen. Bei Ländern mit geringem Entwicklungsstand beträgt diese Rate sogar bis zu 90 Prozent.
({11})
Daß natürlich wieder die reichen Länder das Geschäft machen und nicht die, denen es zugedacht ist.
({12})
Dies sind nur einige der ökonomischen Probleme, die sich in den letzten Jahren immer deutlicher abzeichnen.
Daneben darf man die negativen sozialen und kulturellen Auswirkungen einer unkontrollierten Tourismusentwicklung nicht unterschätzen. Kommerzialisierung von Traditionen, Auflösung von sozialen Systemen und Wertvorstellungen, Prostitution von jungen Frauen und Kindern sind Stichworte zu diesem Problembereich, auf die ich hier nicht weiter eingehe.
Damit wir uns recht verstehen, Herr Dr. Olderog: Wir sagen ja zum Tourismus, auch in die Dritte Welt, aber als eine der größten Reisenationen tragen wir auch Verantwortung gegenüber den Zielländern.
({13})
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie eine sozial und umweltverträgliche Tourismusentwicklung in den Entwicklungsländern fördern wollen, warum setzen Sie sich dann nicht dafür ein, daß im Entwicklungshaushalt entsprechende Mittel vorgesehen werden? - Der Herr Staatssekretär hört sehr interessiert zu, bemerke ich an dieser Stelle.
Eine Forderung Ihres Antrags zielt, was die Situation und Probleme der Entwicklungsländer anbelangt, auf umfassendere Information und größere Sensibilität der Touristen. Die Verantwortung dafür schanzen Sie den Reiseveranstaltern und Fluggesellschaften zu. Daß die Bundesregierung hier viel zuwenig tut, davon finden wir in Ihrem Antrag natürlich nichts.
({14})
- Nein, nein, Herr Schmalz. Sie wollen doch den Reiseveranstaltern und unserer Wirtschaft die Verantwortung aufs Auge drücken. - In den letzten Jahren hat die Regierung die Mittel für die entwicklungspolitische Bildungs- und Informationsarbeit zwar nominell erhöht. Inflationsbereinigt beträgt der Etat aber heute nur noch die Hälfte der 1980 bereitgestellten Gelder.
({15})
Ganze 0,05 Prozent des gesamten Entwicklungshaushalts fließen in die entwicklungspolitische
Öffentlichkeitsarbeit. Damit stellt die BundesrepuBrunhilde Irber
blik nicht den Vorreiter, sondern fast das Schlußlicht in Europa dar.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Tourismusförderung im Rahmen der Entwicklungspolitik kann nicht heißen, einzelne Hotelprojekte mitzufinanzieren. Sie muß vielmehr auf eine Stärkung und Verbreiterung der Gesamtwirtschaft der touristischen Zielländer gerichtet sein. Nur so können diese Länder Strukturen aufbauen, die den Tourismus „sustainable", also ertragbar machen.
({17})
Außerdem müssen wir sehr genau darauf achten, mit welchen Inhalten der Begriff von der Umwelt- und Sozialverträglichkeit gefüllt wird. Anderenfalls wird bald womöglich ein Hotelgroßprojekt gefördert, nur weil es seinen Golfplatz ökologisch bewirtschaftet, während das Personal gut geschult, aber unterbezahlt ist.
Die Koalition setzt in dieser Frage auf eine Selbstverpflichtung der Tourismusbranche. So etwas klingt gut, läßt sich aber nicht kontrollieren. Wir fordern statt dessen die Schaffung von Anreizen, deren Konditionen klar überprüfbar sind, z. B. in Form eines Gütesiegels für touristische Angebote, das von unabhängigen Vertretern der Tourismusbranche, von Dritte-Welt-Organisationen wie „Terre des hommes" sowie des Parlaments und des BMZ vergeben wird.
({18})
Meine Damen und Herren von der Koalition, nachdem Sie die gravierenden Probleme des Dritte-WeltTourismus angesprochen haben - Herr Dr. Olderog hat immer nur vom Ferntourismus gesprochen; das war interessant -, fordere ich Sie auf, mit uns zusammen an die Erarbeitung konkreter Gegenmaßnahmen zu gehen. Ich möchte die asiatische Weisheit aufgreifen, die Sie in Ihrem Antrag zitieren:
Tourismus ist wie Feuer. Man kann seine Suppe damit kochen, man kann aber auch sein Haus damit abbrennen.
Lassen wir es nicht soweit kommen, denn der Wiederaufbau des abgebrannten Hauses könnte leicht unsere Möglichkeiten übersteigen.
Vielen Dank.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Abgeordnete Jürgen Türk hat darum gebeten, seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
({0})
Dann hat jetzt die Kollegin Halo Saibold das Wort.
*) Anlage 5
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich empfinde es als einen Fortschritt, daß wir heute das erste Mal hier über den Dritte-Welt-Tourismus diskutieren.
({0})
- Im Bundestag ist noch nicht darüber diskutiert worden.
Ich sehe das als ein Problem auch der Opposition. Wir hätten hier schon vor Jahren dieses Thema debattieren müssen. Um so mehr freut es mich, daß das jetzt hier geschieht, denn diese Form des Tourismus ist eben in besonderer Weise ein zweischneidiges Schwert.
Es ist schon ausgeführt worden, daß der Tourismus sehr wohl wirtschaftliche Vorteile für ein Land in der sogenannten Dritten Welt bringt. Aber unbestritten, Herr Dr. Olderog, ist - eine Weltbankstudie kommt zu diesem Ergebnis -, daß immer noch 55 Prozent und zum Teil bis zu 90 Prozent der Einnahmen in die Länder des Nordens zurückfließen. Auch Frau Irber hat es eben ausgeführt. Dem müssen wir uns natürlich stellen.
Ich würde eine gute Aufgabe für die Bundesregierung darin sehen, das seit Jahren laufende Alternativprojekt Dorftourismus im Senegal zu bewerten, um wirklich Erfahrungen zu gewinnen, wie sich so etwas auswirkt. Zum anderen ist es so, daß es wirklich zahlreiche Probleme gibt, die schon angesprochen wurden, bis hin zum Sextourismus. Ich werde mir ersparen, darauf einzugehen.
Ich möchte auf den neuen Trend der Reiseindustrie eingehen. Sie propagiert nun den sogenannten Ökotourismus. Alles ist jetzt öko. Seine beliebtesten Ziele liegen aber genau in den abgelegensten und empfindlichsten Gebieten. Diese werden dann in der Werbung „unberührt" genannt. Das erhöht natürlich wieder den Reiz. Welcher Mann möchte nicht der erste sein? Vergessen wird dabei, daß genau in diesen Regionen viele eingeborene Völker leben, die Teil dieses Ökosystems sind und deren Kultur ebenso zerbrechlich ist wie die Natur. Oft genug werden sie der harten Devisen wegen in ihren elementaren Rechten beschnitten oder aus ihren angestammten Gebieten vertrieben, wie eben in Goa, in Brasilien, aber auch, Herr Dr. Olderog, in Kenia. Denn auch die Einrichtung von Nationalparks hat nicht immer auf die einheimische Bevölkerung Rücksicht genommen.
Die Krönung des Ökotourismus ist der zunehmende Trend hin zu Abenteuer und Luxus, der die gesuchten unberührten Paradiese und damit natürlich auch die Menschen darin gefährdet. Denn touristischer Luxus und Sozial- und Umweltverträglichkeit schließen sich in den Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehören, aus. Kein Paradies hat Bestand, sobald es für zu viele Reiche zugänglich gemacht worden ist, die vom einfachen Leben träumen. Denn die Erfahrung hat gezeigt, daß komfortable Hotels, heiße Duschen, Klimaanlagen und gewohnte Speisen notwendig sind, damit dann diese Ursprünglichkeit ertragen werden kann.
Es ist doch geradezu paradox: Die Europäer wollen sich von der Entwicklung, sprich: von der Zivilisation erholen und verlangen dann in diesen Ländern, in denen noch nicht einmal die Grundversorgung der Bevölkerung gesichert ist, die gleichen Einrichtungen wie hier in den Ländern, aus denen sie fliehen. Hier ist also ein großes Umdenken für uns Nordeuropäer, auch für uns Deutsche gefordert. Das sollte die Bundesregierung dringendst unterstützen.
Tourismus kann nur bei sorgfältiger Planung und Durchführung von langfristigem Nutzen für die Natur und die Bereisten sein. Die Entscheidung über die Erschließung und die Vermarktung ihres Lebensraumes wird jedoch den Bereisten praktisch immer abgenommen und von außen getroffen: von Bürokraten in der Hauptstadt und von ausländischen Reiseveranstaltern, die sich nur auf die ständig steigenden Wünsche der ausländischen Urlauber und die damit verbundenen Devisen konzentrieren.
Westliche Touristiker, Wissenschaftler und Kritiker sollten jedoch vorsichtig sein und keine isolierten Forderungen erheben, die nur auf den Tourismus und letztlich auf die westlichen Touristen zugeschnitten sind. Denn viele Bewohner in der sogenannten Dritten Welt wehren sich ja zunehmend dagegen, daß ihnen im Westen oder im Norden ausgearbeitete Entwicklungskonzepte übergestülpt werden. Zu Recht verlangen sie ein Mitspracherecht auch und gerade bei Tourismusprojekten. Leider scheren sich aber noch viel zu wenige Machthaber in den Geber- und auch in den Nehmerländern darum. Hier könnte die Bundesregierung, wenn überhaupt, sinnvollen Einfluß nehmen.
Folgendes gilt natürlich auch für Osteuropa, was wir heute zu stark vergessen. Bei beabsichtigten Projekten ist nicht nur eine umfassende Planung nötig; bei uns spricht man von der Erarbeitung eines Leitbildes. Dafür jedoch fehlt meistens das Geld. Hier könnte man also einspringen. Insbesondere die Mitbestimmung der Bevölkerung - vor allem auch der Frauen - ist dabei schon in der Planungsphase sicherzustellen. Denn nur, wenn der Tourismus als Instrument dazu benutzt wird, das Leben der Menschen außerhalb der touristischen Luxusenklaven im wirtschaftlichen Bereich, bei der Einhaltung der Menschenrechte sowie im Umwelt- und im Naturschutzbereich zu verbessern, kann er ein sinnvoller Beitrag zur Entwicklung sein.
Selbst bei den besten Planungen, den edelsten Absichten und vielleicht auch den sinnvollsten Projekten bleibt ein großes Problem: der Weg in den Urlaub. Denn das beliebteste Transportmittel ist natürlich in der Zwischenzeit das Flugzeug mit all seinen höchst problematischen Auswirkungen. In den letzten fünf Jahren stieg die Zahl der Fernreisen aus der Bundesrepublik um mehr als 70 Prozent. Supergünstige Last-Minute-Angebote haben nicht nur die Zahl der Reisenden hochschnellen lassen, sondern auch das wertvolle Kulturgut Reisen zum x- beliebigen Ex-und-hopp-Artikel verkommen lassen. Daß der Slogan „Nichts wie weg, egal wohin" bei uns auf so großes Gehör stößt, müßte eigentlich verantwortliche Politiker dazu bringen, sich einmal die
Arbeits- und Lebensbedingungen hier bei uns anzuschauen; denn Fluchtbewegungen haben immer einen Grund.
Spätestens seit Rio 1992 und nach der Herausgabe der Studie „Zukunftsfähiges Deutschland" ist überdeutlich, daß wir Europäer unseren Ressourcen- und Energieverbrauch um mindestens 80 Prozent senken müssen. Das heißt auch, daß wir neue Reiseformen entwickeln müssen, wenn wir es mit der globalen Verantwortung ernst meinen. Davon ist allerdings in dem Koalitionsantrag nichts zu lesen. Nicht einmal die sonst von den Parteien im Ausschuß vertretene Forderung nach einer Flugbenzinbesteuerung findet sich hier wieder.
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Ich bedauere, daß in diesem Antrag auch jede Aufforderung an die Bundesregierung fehlt, sich in den internationalen Gremien für die Aufnahme und die Weiterentwicklung der „Charta für einen nachhaltigen Tourismus" einzusetzen, die letztes Jahr auf der Weltkonferenz für zukunftsfähigen Tourismus in Lanzarote verabschiedet wurde. Genauso wie es eine Menschenrechts-, eine Klimaschutz- oder eine Alpenschutzkonvention gibt, bedarf es endlich einer völkerrechtlichen Vereinbarung für eine weitere Tourismusentwicklung, die für die Zukunft tragfähig ist, aber an die sich auch die Tourismusindustrie halten muß.
({2})
Meine Zeit ist leider vorbei. Es gibt noch viel zu diskutieren. Ich hoffe, wir haben eine gute Beratung im Ausschuß.
Vielen Dank.
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Der Kollege Olderog wollte das Wort zu einer Kurzintervention haben. Bitte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich selbst bin Verfasser dieses Antrages, und deshalb fühle ich mich durch die Worte, die hier von Frau Irber gesprochen worden sind, persönlich sehr berührt. Sie haben gesagt, es gebe in diesem Antrag nur viele schöne Worte, aber keine konkreten Vorschläge. Ich habe den Eindruck, daß Sie bei diesen Äußerungen von Ihrem Vorurteil gegenüber der CDU/CSU geleitet worden sind. Wenn Sie einmal mit ein bißchen Sorgfalt unseren Antrag gelesen hätten, dann hätten Sie feststellen können, daß es eine ganze Fülle von konkreten Vorschlägen gibt. Wir haben uns, weil es ein ernstes Thema ist, sehr große Mühe gegeben, die Fülle der vielen Vorschläge, die von Experten erarbeitet worden sind und die bei unserer öffentlichen Anhörung unterbreitet worden sind - einer der Experten, Herr Vielhaber, sitzt ja dort oben auf der Tribüne -, sorgfältig auf die praktische Eignung
abzuklopfen, die Situation zu stabilisieren und zu verbessern.
In Wahrheit, Frau Irber, sind wir, glaube ich, in den wesentlichen Fragen dicht beieinander. Wir wollen alle gemeinsam einen sozialverträglichen und umweltverträglichen Ferntourismus in die Länder der Dritten Welt gewährleisten. Da wir in diesen Punkten übereinstimmen - das finde ich erfreulich -, gibt es die Chance, daß wir wirklich überparteilich etwas erreichen können.
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Herr Kollege Olderog, die Kurzintervention ist nicht dafür gedacht, daß Sie Ihre Rede verlängern und noch einmal begründen, was Sie in Ihrer Redezeit hätten begründen können.
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Ich bitte doch, das beim nächsten Mal zu bedenken. Frau Irber, wollen Sie noch antworten?
Herr Dr. Olderog, sollten Sie sich durch meine Äußerungen persönlich berührt oder beleidigt fühlen, dann tut mir das leid. So war es natürlich nicht gemeint. Aber leider Gottes vermisse ich in Ihrem Antrag wirklich konkrete Vorschläge. Es ist alles ein wenig nebulös und ein bißchen großzügig ausformuliert. Aber wir treffen uns im Ausschuß wieder und werden da gemeinsame Vorschläge erarbeiten. Dann können wir vielleicht wirklich etwas tun, um den Tourismus in die Dritte Welt sozialverträglich, ökologisch verträglich und ökonomisch erfolgreich zu gestalten.
Jetzt hat der Abgeordnete Willibald Jacob das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser heutiges Thema läßt die ganze Widersprüchlichkeit des gegenwärtig dominierenden, des neoliberalen Wachstumsmodells deutlich werden.
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Ich denke, das würdigt auch Ihr Antrag. Sie fußen auf der Widersprüchlichkeit, die auch Sie ziemlich klar zum Ausdruck bringen.
Meine Kritik setzt nicht daran an, daß Sie nicht auch Verbesserungen in einzelnen Situationen im Auge hätten, sondern daran, daß Sie im Grunde nur von einer unternehmerischen Planung sprechen, aber nicht von einer gesamtgesellschaftlichen Planung in dem jeweiligen Entwicklungsland, in die sich dann die unternehmerische Planung und auch die Planung des Tourismus einbetten könnten. Ich denke, das ist ein generelles Problem. Ich möchte das so klar aussprechen, weil wir uns da unterscheiden. Sie können die Probleme, die der Tourismus aufwirft, auch auf der Insel Rügen beobachten, genau diese
Widersprüchlichkeit dieses unseres Wachstumsmodells.
Sie reden aber immerhin nicht, wie es die Bundesregierung noch im Juni 1994 getan hat, davon, daß man einfach nur touristische Infrastrukturmaßnahmen finanzieren sollte. Sie gehen ins einzelne. Aber dennoch sind Sie in eine Falle gelaufen - nicht in die Schuldenfalle, sondern in die Vermarktungsfalle. Die Bundesregierung befindet sich genau an dieser Stelle.
Eine Bekannte von mir schreibt mir nach jahrelanger Arbeit in Lateinamerika:
Es herrscht unter uns eine ökonomisch-instrumentelle Vernunft, die die Menschen in die Falle von Produzieren und Konsumieren stürzt. Etwas anderes ist nicht vorgesehen. In einer Art Besessenheit von dem Zwang, Geld zu vermehren, wird die alternativlos gewordene materielle Weltkultur als die einzig mögliche angesehen.
Ich möchte meinerseits an zwei wesentlichen Aspekten des Massentourismus deutlich machen, wie die Falle wirkt, wie gravierend der Teufelskreis expandierender Tourismusmärkte mit hohen Wachstumsraten insbesondere für die Entwicklungsländer wirkt.
Nehmen wir die Umweltzerstörung durch Massentourismus. Davon ist schon gesprochen worden. In welcher Art von nachhaltiger sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklung tragen wir als Industrienation dazu bei, wenn wir finanzielle und materielle Hilfe beim Aufbau einer fragwürdigen Tourismusinfrastruktur leisten? Was tun wir? Wir errichten Hotelbetonburgen, deren Abfall- und Abwasserentsorgung oftmals nicht geregelt ist. Wir verschandeln unberührte Strände. Wir dezimieren rücksichtslos Artenspezifik und Reichtum der Flora und Fauna. Wir verschwenden die häufig geringen Wasservorräte der einheimischen Bevölkerung. Wir vernichten Lagunen. Jeder von uns kann die Reihe der Beispiele fortsetzen.
Nehmen wir als weiteren Aspekt die soziale Notlage der Bevölkerung in Entwicklungsländern, aus der im Sextourismus Nutzen gezogen wird. Den Sextourismus gibt es aber eben nicht nur, wie bekannt, in Thailand, wo nach Schätzungen zirka 80 000 Frauen und Mädchen betroffen sind. Auch mehr als 3 000 brasilianische Frauen in der Region um Recife müssen sich ihren Lebensunterhalt mangels ausreichend bezahlter Arbeitsplätze in der Branche Sextourismus verdienen. Auch hier ließe sich die Reihe der Beispiele endlos fortsetzen.
Interessant dabei ist, daß die jeweiligen nationalen Behörden bei mitunter strengster Gesetzgebung gegen Prostitution hilflos sind, weil korrumpierbar, weil beteiligt. Der wirtschaftliche Druck setzt die Gesetze de facto außer Kraft. Einnahmen aus dieser Art von Tourismus verbleiben immer weniger in den Ländern, sondern fließen an die Tourismuskonzerne der Industriestaaten ab.
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Die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige, wie Landwirtschaft, wird gar nicht möglich.
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Die Armut in den Entwicklungsländern nimmt weiter zu. Auch hier ein eindringliches Beispiel: In der Dominikanischen Republik ist der Tourismus in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Zugleich hat sich die Zahl der Armen in diesem Land verdoppelt.
Es verwundert daher nicht, daß Betroffene in Entwicklungsländern, Frauennetzwerke und andere engagierte NGOs aus den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Zusammenhängen und Traditionen auf Tagungen und Konferenzen zu weitreichenden Schlußfolgerungen kommen. Die Bundesregierung ist zu solchen Schlüssen bisher nicht fähig, nämlich: Entwicklungspolitik muß neu definiert werden. In diesem Zusammenhang kann auch eine neue Formulierung des Tourismus vorgenommen werden. Dazu gehört, ehrlich und klar zu sagen, was Tourismus heute ist und was Tourismus heute und in Zukunft in diesen Zusammenhängen von Verarmung und Busineß sein muß.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.
Die Bundesregierung muß ein Tourismuskonzept vorstellen und materiell und finanziell unterstützen, das nicht isoliert Menschen zu Objekten der Geschäftstätigkeit macht. In diesem Sinne erwarten wir eine immer neue Diskussion dessen, was hier in einer respektablen Art und Weise vorgetragen wird. Dieses Konzept sollte immer wieder überarbeitet werden. Es sollte den Respekt vor den Armen in den Entwicklungsländern in den Mittelpunkt stellen
Herr Kollege, das ist ein guter Schluß.
- und unter anderem eine soziale Entwicklung in diesen Ländern ermöglichen.
Danke sehr.
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Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße den vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen „Tourismus in die Dritte Welt"; denn er enthält aus meiner Sicht viele grundlegende Aspekte, die bei Reisen in die Dritte Welt Beachtung finden sollten. Eine stärkere Sensibilisierung für Eigenarten, Sitten und Probleme der bereisten Länder wäre sicherlich wünschenswert und könnte durch gute Reisevorbereitung auch noch erheblich verbessert werden.
Der Tourismus in Entwicklungsländern gehört zu den expandierenden Märkten mit hohen Wachstumsraten. Für viele Staaten in der sogenannten Dritten Welt hat der Fremdenverkehr sogar überragende wirtschaftliche Bedeutung, weil andere Einnahmequellen fehlen.
Es steht also außer Frage, daß Tourismus ein wichtiger Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung sein kann. Er trägt auch - ich bitte, das nicht zu unterschätzen - zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zum Beispiel im Gastgewerbe, aber auch anderen Dienstleistungsbereichen, bei und ist eine wichtige Einnahmequelle für Devisen.
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Der Tourismus trägt natürlich auch zur Entwicklung und Verbesserung der Infrastruktur bei, da teure und oft dringend notwendige Investitionen für Straßen, Flughäfen, Energie- und Wasserversorgung ansonsten nicht durchgeführt würden.
Investitionen im Tourismussektor begünstigen darüber hinaus weitere Investitionen in anderen Bereichen und zusätzliche Nachfrage in anderen Wirtschaftssektoren wie zum Beispiel in der Bauwirtschaft, im Transportwesen, in der Unterhaltungsbranche, in der landwirtschaftlichen oder auch handwerklichen Produktion.
Der Fremdenverkehr kann den Entwicklungsländern also helfen. Doch birgt der Tourismus auch Risiken. Auch ich sehe, Herr Dr. Olderog, die im vorliegenden Antrag aufgezeigten Gefahren angesichts einer Zunahme des „Tourismus der Reichen in die Länder der Armen", wobei ich besonders an negative Auswirkungen auf die Umwelt denke.
So sind zum Beispiel viele touristische Anlagen in Dritte-Welt-Ländern nur mit unzureichenden Systemen der Müll- und Abwasserentsorgung ausgestattet. Sichere Deponien und moderne Klärwerke fehlen.
Folgen von Massentourismus sind zudem häufig die Zerstörung von hervorragenden Naturdenkmälern wie etwa Lagunen, Korallenriffen und auch Hochgebirgslandschaften sowie die Gefährdung seltener Tier- und Pflanzenarten.
Nicht zuletzt sehe ich auch die angesprochenen soziokulturellen Risiken des Dritte-Welt-Tourismus. Davor dürfen wir die Augen nicht verschließen. Die Begegnung völlig unterschiedlicher Kulturen dient nicht nur der Völkerverständigung, sondern führt mitunter auch - und das ist die Gefahr - zur Auflösung traditioneller Sozialstrukturen in den bereisten Ländern.
Als übelste Auswirkung ist hier der sogenannte Sextourismus genannt worden, der in vielen Ländern sogar Kinder in die Prostitution getrieben hat.
Was dieses letztgenannte Problem angeht, so hoffe ich, daß die mit dem 27. Strafrechtsänderungsgesetz eingeleiteten Maßnahmen greifen werden. Wir werden bei der Lösung dieses Problems aber immer sehr stark auf die Kooperation der Behörden der betroffenen Länder angewiesen bleiben. Wir dürfen deshalb
nicht nachlassen in dem Bemühen, Verbesserungsmöglichkeiten in der internationalen Zusammenarbeit bei der konsequenten Strafverfolgung dieser Delikte zu erreichen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Saibold?
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Staatssekretär, werden Sie sich persönlich dafür einsetzen, daß die Bundesregierung bilaterale Rechtsabkommen zum Beispiel mit Thailand oder Sri Lanka abschließt, um dem Tatbestand der Strafbarkeit der Sexualität mit Kindern usw. nachkommen zu können und damit sicherzustellen, daß das Regelwerk, das wir mit diesem Gesetz haben und das wirklich ein Fortschritt ist, greifen kann?
Werden Sie sich darüber hinaus dafür einsetzen, daß die Weltkonferenz gegen die Kinderprostitution, die in diesem Jahr in Stockholm stattfinden soll, von der Bundesregierung finanziell unterstützt wird - es geht um die Reisekosten der Menschen aus der Dritten Welt -, das heißt, werden Sie sich nicht wie vier andere Ministerien gegen eine finanzielle Beteiligung aussprechen?
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Frau Kollegin Saibold, ich wollte zuerst den Füller zücken, um alle Fragen mitzuschreiben, die Sie gestellt haben. Das war ja ein ganzer Komplex. Aber im Kern geht es um eine Sache: Wie kann die Strafverfolgung sichergestellt werden und auch, daß Sextourismus in diesen Ländern zukünftig nicht stattfindet?
Zunächst muß man sehen, daß das 27. Strafrechtsänderungsgesetz noch ein relativ junges Gesetz ist. Ich will gern einräumen, daß den deutschen Strafverfolgungsbehörden bisher nur wenige Fälle sexuellen Mißbrauchs an ausländischen Kindern durch Deutsche zur Kenntnis gelangt sind.
Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich will aber sagen, daß die Bundesregierung insgesamt natürlich darauf hinwirken und in geeigneter Weise dafür Sorge tragen wird, daß zum Beispiel durch Gespräche mit den Behörden von Dritte-Welt-Ländern die Kooperation der Behörden, die ich als unabdingbar ansehe, tatsächlich erreicht wird.
Sie werden mir nachsehen, daß ich jetzt an dieser Stelle konkrete Finanzierungszusagen nicht machen kann. Ich kann nur sagen: Die Bundesregierung sieht dies als ein sehr ernstes Problem an, und wir werden in vielschichtiger Weise auf den verschiedensten Ebenen auch aktiv werden.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will es noch einmal deutlich sagen: Potentielle Täter müssen vor Gericht gebracht werden können; das ist auch die feste Absicht der Bundesregierung. Ich sehe natürlich auch, daß wir durch Aufklärungsprogramme, durch eine gesellschaftliche Ächtung der Kinderprostitution einiges bewirken können.
Ich meine, es sollte auch selbstverständlich sein, daß sich Reiseveranstalter, Reisebüros und Flugveranstalter eindeutig und öffentlich von dieser Form des Tourismus distanzieren und ihn nicht durch diskrete Serviceleistungen möglicherweise noch direkt oder indirekt unterstützen.
Der Katalog der Forderungen an die Bundesregierung in dem Antrag enthält - das will ich sagen - viele gute Ansätze. Er unterstellt aber in vielen Punkten Einflußmöglichkeiten, die tatsächlich leider nicht gegeben sind. Ebensowenig sind auch die öffentlichen Mittel verfügbar, die zum Beispiel für die Realisierung einer langfristigen Tourismusplanung unter Berücksichtigung soziokultureller und ökologischer Fragestellungen oder gar für die Beteiligung an Modellvorhaben oder Projekten zur Verbesserung der Qualität des Dritte-Welt-Tourismus erforderlich wären.
Der Vorreiterrolle, die Deutschland in der internationalen Zusammenarbeit durch die konsequente Förderung eines sozial verantwortlichen und auch umweltverträglichen Tourismus spielen soll, sind in der Realität Grenzen gesetzt. Gleichwohl trägt das Vorgehen der Bundesregierung der Komplexität der Materie Rechnung und stellt weniger auf die quantitative Förderung des Tourismus in Entwicklungsländern als vielmehr auf qualitative Beiträge zur Verbesserung bestehender Einrichtungen und zur Vermeidung der genannten Risiken ab.
Die entwicklungspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung aber müssen sich - da bitte ich um Ihr Verständnis - an den Wünschen der Entwicklungsländer orientieren. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, andere zu bevormunden. Ich will, ja ich muß dazu leider feststellen, daß viele der Entwicklungsländer bei der Verwendung der knappen Mittel anderen Bereichen höhere Priorität einräumen. Es sind zur Zeit auch nur geringe Anzeichen erkennbar, daß hier in absehbarer Zeit die Weichen anders gestellt werden.
Einer Reihe von Punkten des Forderungskatalogs allerdings wird bereits in den gegenwärtigen entwicklungspolitischen Aktivitäten Rechnung getragen. Das betrifft zum Beispiel die Schulung von Reiseleitern, die Förderung rücksichtsvollen Verhaltens deutscher Touristen durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, indem länderspezifische „SympathieMagazine" und Wettbewerbe zur Qualitätssteigerung des Dritte-Welt-Tourismus finanziert werden.
Darüber hinaus wird in Einzelfällen durch Experten flankierend Tourismusberatung auf verschiedenen Ebenen geleistet. In begrenztem Umfang werden auch Beiträge oder Einzelaktivitäten zu sozial- und umweltverträglichem Tourismus gefördert, wie etwa zur Nationalparksanierung in Uganda oder zur Umweltaufklärung in Tunesien.
Leider hat die Bundesregierung bei vielen der angesprochenen Probleme oder Fragestellungen des Dritte-Welt-Tourismus keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten auf erstens die Regierungen der betroffenen Länder, zweitens die Anbieter von Tourismusdienstleistungen und drittens die Kunden. Gleichwohl, Herr Dr. Olderog, könnte die Umsetzung der im Antrag enthaltenen Forderungen einen Beitrag zu einer vernünftigen Entwicklung des Tourismus in den Entwicklungsländern leisten. Deshalb wird sich die Bundesregierung auch weiterhin - ich betone das - im Rahmen ihrer finanziellen und politischen Möglichkeiten für einen sozial verantwortlichen und umweltverträglichen Tourismus einsetzen und diesen fördern.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es noch einmal ganz klar zu sagen: Der internationale Tourismus hat viele Akteure - Regierungen, Reiseveranstalter, Hotel- und Gastronomiegewerbe, Transportunternehmen, Reisebüros, Reiseagenturen, die Reisenden selbst und natürlich auch die - wenn ich so sagen darf - „Bereisten". Ein realistischer Katalog von Verbesserungsmaßnahmen im Tourismus kann deshalb nur im Dialog und in Zusammenarbeit aller Beteiligten erreicht werden.
Besondere Verantwörtung liegt bei den politischen Entscheidungsträgern der touristischen Empfängerländer. Diese sollten realisieren, daß Tourismus mittel- und langfristig nur dann für die Entwicklung ihres Landes sinnvoll und von wirtschaftlichem Nutzen ist, wenn er von der Bevölkerung akzeptiert und mitgetragen wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Schmalz.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 100 Jahren hätte man im Preußischen Landtag mit Sicherheit nicht über den Tourismus debattiert. Damals gab es ihn in dieser Form nicht.
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Die Fragestellung, die wir heute behandeln, Tourismus in die Dritte Welt, war damals auch noch kein Thema.
Die Bedeutung des Tourismus ist sicherlich ausreichend gewürdigt worden. In der globalen Betrachtung, gemessen an der Weltwirtschaft, hat der Tourismus mittlerweile einen Anteil am Bruttosozialprodukt in Höhe von 11 Prozent. Das macht deutlich, daß der Tourismus eine ungeheure Macht darstellt. Er ist ein Wirtschaftsfaktor von unglaublicher Bedeutung. Seine Wachstumsraten sind adäquat.
Die Reisen aus Deutschland in die Entwicklungsländer nennt man gemeinhin Fernreisen; denn auf dem Weg zu den Entwicklungsländern legt man eine größere Distanz zurück. Fernreisen haben eine wesentlich stärkere Zunahme zu verzeichnen als die Reisen im Nahbereich. Das hat etwas damit zu tun, daß seit einigen Jahren Großraumflugzeuge eingesetzt werden; das verbilligt die Flugkosten. Das hat dazu geführt, daß 1994 2,5 Millionen Deutsche Urlaub in einem Entwicklungsland gemacht haben.
Jetzt kommen die eigentlich interessanten Zahlen mit Blick auf die ökonomische Bedeutung des Tourismus für die Entwicklungsländer: Nach Ausweis der Deutschen Bundesbank für das Jahr 1994 betragen die Ausgaben für Tourismus in Deutschland 8,6 Milliarden DM. Davon sind 3,7 Milliarden DM nach Afrika und 3,8 Milliarden DM nach Asien geflossen.
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1990 erzielten die Entwicklungsländer aus dem Tourismus Einnahmen in Höhe von insgesamt 61,4 Milliarden US-Dollar. Das entspricht etwa der Summe der Entwicklungshilfe aller Geberländer. Das heißt, das, was der Tourismus an unmittelbaren Abflüssen in die Entwicklungsländer erbringt, entspricht exakt der Größenordnung der Entwicklungshilfe aller Geberländer.
Meine Damen und Herren, Tourismus kann und soll nicht die Lösung aller ökonomischen Probleme in den Entwicklungsländern darstellen. Es ist aber ein ungeheuer schnell wirksamer Transfer. Es gibt keine Durchführungsorganisationen und keine Bürokratie. Vielmehr findet ein unmittelbarer Devisenzufluß statt. Ich gebe zu: Das gilt nicht für alle Entwicklungsländer. Unter den Entwicklungsländern gibt es Länder, die für den Tourismus besonders prädestiniert sind. Das hängt mit den Umwelt- und Umfeldbedingungen zusammen.
In diesem Zusammenhang nenne ich die Karibik. Es gibt in der Karibik Länder, die 90 Prozent ihres Bruttosozialprodukts aus dem Tourismus erzielen. Kuba, ein Land, das zu einer Seite dieses Hauses sicherlich eine gewisse Affinität aufweist, versucht zur Zeit, seine ökonomischen Probleme mit den Erlösen aus dem Tourismus zu lösen.
Ich nenne auch noch das Beispiel Ghana, um eines der prosperierenden Länder in Afrika anzusprechen. Ghana sagt selbst, daß es in der ersten Entwicklungsphase des Tourismus sei, sieht sich aber bereits, was die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus angeht, an dritter Stelle. Das heißt, Tourismus hat direkte, positive und auch indirekte Beschäftigungseffekte,
ob es das Gastgewerbe, die Konsumgüter, die Industrie, das Bauwesen, die Landwirtschaft oder das Handwerk anbetrifft.
Es gibt allerdings auch negative Entwicklungen.
Herr Kollege, gestatten Sie, bevor Sie das ausführen, eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Kollege Schuster.
Herr Kollege Schmalz, ich kenne Sie eigentlich als einen sehr problembewußten Entwicklungspolitiker. Wenn Sie schlicht die beiden Summen vergleichen, sollten Sie wirklich vergessen haben, daß wir im entwicklungspolitischen Bereich quer durch die Fraktionen aus gutem Grund immer wieder die Frage nach der Entwicklungsverträglichkeit stellen, und würden Sie, nachdem Sie die 65 Milliarden Dollar genannt haben, die durch die Tourismusbranche erzielt werden, diesen Betrag hinsichtlich der Entwicklungsverträglichkeit automatisch gleichsetzen wollen mit den mühseligen Arbeiten, die wir in der Entwicklungszusammenarbeit leisten?
Herr Kollege, ich habe zunächst nur etwas konstatiert. Das habe ich nicht mit Mühseligkeit und Nicht-Mühseligkeit quantifiziert, sondern ich habe festgestellt, daß aus dem Tourismus 65 Milliarden Dollar in die Entwicklungsländer fließen und daß das exakt der gleiche Betrag ist, der über Geberorganisationen unter Hintanstellung von Kosten der Bürokratie in die Entwicklungszusammenarbeit fließen.
Sie müssen im Grunde genommen von den mehr als 8 Milliarden DM, die aus dem deutschen Bundeshaushalt an Entwicklungshilfe fließen, einen beachtlichen Teil abziehen; denn der bleibt in diesem Lande und wird für Bürokratie, für Durchführungsorganisationen ausgegeben. Der fließt nicht direkt in die Entwicklungsländer. Beim Tourismus aber haben Sie einen unmittelbaren Abfluß, das heißt, das, was ausgegeben wird, was an den Reiseveranstalter geht, geht auf direktem Wege ohne zusätzliche Ausgaben an die Empfänger, an die Entwicklungsländer. Deshalb meine ich, daß der Tourismus in einem bestimmten und begrenzten Umfang eine Chance darstellt, unmittelbare Beschäftigungswirkungen zu erzielen.
Ich sehe auch die negativen Entwicklungen: saisonale Arbeitsplätze. Es ist gar keine Frage, die Arbeitsplätze sind in vielen Fällen nicht ganzjährig, sie sind saisonal. Es gibt eine starke Abhängigkeit von den Konjunkturzyklen der Ersten Welt, wie wir sie nennen. Und es gibt auch Fragen nach den kulturellen Verträglichkeiten, nach den Umweltverträglichkeiten.
Meine Damen und Herren, wenn ich mir zum Beispiel den Katalog eines deutschen Reiseveranstalters ansehe - ich will jetzt keine Werbung machen; Sie sehen, daß ich sehr zurückhaltend bin -, dann sehe ich, daß in diesem Katalog auf der Seite 1 steht: „Engagement für die Umwelt". Wenn Sie den Katalog umblättern, dann sehen Sie bei Kenia: „Umwelt und Natur". Das heißt, in den Katalogen deutscher Reiseveranstalter findet endlich und Gott sei Dank eine, wenn Sie so wollen, Diskussion darüber statt, daß Urlaub eben nicht nur etwas ist, was man konsumiert, sondern daß das Wirkungen hat auf die Umwelt und die Menschen dieser Länder. Ich finde, es hat etwas mit unserer politischen Diskussion zu tun, daß wir das erreicht haben.
Gucken Sie doch einmal in unseren Antrag. Wenn ich die Reden höre von dem Kollegen der PDS, den ich nicht kenne, und von anderen, dann habe ich den Eindruck, die haben nicht ein einziges Mal in diesen Antrag geguckt. 17 Forderungen stehen darin, und in diesen Forderungen ist alles das enthalten, was in den letzten Jahren entwicklungspolitisch und tourismuspolitisch diskutiert worden ist.
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Frau Kollegin Irber, ich schätze Sie ungemein; das wissen Sie seit langer Zeit.
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- Na ja, ich schätze sie; Sie wissen, wie ich das meine.
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- Natürlich! Weil sie eine ungemein sachkundige und sympathische Kollegin ist und weil sie Humor hat. Das gehört zur Politik.
Aber es hat doch keinen Sinn, wenn wir diese Frage so abhandeln, als wäre es ganz finster, wenn wir als Touristen in die Dritte Welt fahren. Gucken Sie sich die Damen und Herren der Opposition einmal an, wie braungebrannt die sind! Die kommen gerade aus der Dritten Welt. Die sind alle in den letzten Wochen dort gewesen.
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Herr Kollege, bevor Sie das jetzt näher ausführen, muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Redezeit leider abgelaufen ist.
Verehrte Frau Präsidentin, es erfüllt mich mit ungeheurem Kummer, daß meine Redezeit zu Ende ist; denn ich wollte gerade anheben, mit der Opposition über die Verträglichkeit von Urlaubsaufenthalten in den Entwicklungsländern zu diskutieren.
Ich sage abschließend: Dieser Antrag soll und wird eine gute Grundlage dafür sein, darüber zu diskutieren und zu erkennen, daß Tourismus in den Entwicklungsländern eine positive Entwicklung induziert: Beschäftigung, Arbeit, Steuern, Abgaben. Das, meine Damen und Herren, ist richtig und notwendig.
Deshalb glauben wir, daß wir mit diesem Antrag eine gute Basis für eine gute Diskussion geliefert haben.
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmalz, ich fand Ihre Ausführungen interessant. Für den Fall, daß Sie mich gebräunt finden, möchte ich Ihnen sagen: Ich war im Bregenzer Wald, und der zählt nach Ihrer Theorie noch nicht zur Dritten Welt.
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- Das ist auch gut, hoffentlich recht lange.
Den Antrag, über den wir heute zu beraten haben
- meine Kollegin Irber hat es bereits deutlich gemacht -, halten wir - verzeihen Sie bitte die Bemerkung - für mit der heißen Nadel genäht.
Versucht man, sich dem Anliegen der Antragsteller und Antragstellerinnen zu nähern, findet man schlicht nur Aufforderungen und Appelle; denn wie anders soll man eine Aussage wie diese werten. Meine Kollegin hat es bereits angesprochen, aber ich denke, es ist ein reizvolles Beispiel, und man muß es immer wieder sagen:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, daß sich deutsche Touristen in Dritte-Welt-Ländern rücksichtsvoll und bescheiden verhalten, in Respekt und Toleranz vor der Kultur, den Sitten und den Gebräuchen das Gastlandes.
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- Ein löblicher Versuch, Herr Dr. Olderog, aber ich frage Sie dann auch: Wo liegt hier ein politisches Handlungsfeld? Durch welche Instrumente und Maßnahmen wollen Sie eine solche Bewußtseinsänderung erreichen?
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Sie müssen das schon konkreter formulieren, das wäre Ihr Auftrag gewesen, aber wir können das ja noch nachbessern.
Angesichts der Tatsache, daß über 25 Millionen Deutsche ihren Urlaub im Ausland verbringen, sich ein ständig wachsender Strom daraus als Fernreisende in die sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländer ergießt, wird es schier aussichtslos, Informationen in der Form, wie Sie es möchten, zu vermitteln.
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Die Wirkung des Tourismus in diesen Ländern wird seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert, trotzdem wächst der internationale Druck, immer noch mehr neue Destinationen zu erschließen.
Ich möchte keinesfalls die positiven Auswirkungen interkultureller Begegnungen und der völkerverständigenden Funktion des Tourismus schmälern, doch dieser Effekt wird unzweifelhaft im Gesamtgeschehen zu sehr positiv überhöht.
Machen wir uns doch nichts vor: In der kurzen Urlaubszeit geht es für die meisten Bürgerinnen und Bürger - das ist natürlich auch ein berechtigtes Verlangen - um Erholung und Ausspannen. Für einen nicht geringen Teil der Touristen gilt: Je exotischer die Ziele, je verheißungsvoller die Werbung, um so größer ist der Run auf sogenannte unberührte Natur und unbekannte Völker.
Massive Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie China oder Ländern mit anderen totalitären Regierungen schrecken nicht ab, scheinen eher die Lust am Sensationstourismus noch zu steigern. Auch hier bleibt Ihr Antrag unbefriedigend, wenn Sie nicht konsequenterweise die Förderung einer sozial- und umweltverträglichen Tourismusentwicklung von der Einhaltung der Menschenrechte und der Mitbestimmung der Bevölkerung vor Ort abhängig machen.
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Trotzdem sehen viele Länder der Dritten Welt im Tourismus einen Ausweg aus ihrer Wirtschaftskrise. Ein angeschlagenes oder marodes Wirtschaftssystem in enger Verbindung mit den soeben beschriebenen Strukturveränderungen in der Lebenswelt der Menschen sind Wegbereiter für eines der größten Gefahrenpotentiale, die im Zusammenhang mit dem Tourismus entstehen, dem sogenannten Prostitutionstourismus.
Lange Zeit galten Thailand, Kenia, die Philippinen, die Dominikanische Republik, Brasilien und Sri Lanka - die Reihe ist endlos - als besonders auch von Deutschen bevorzugte Prostitutionstourismusländer. Auf Grund der weltweiten ökonomischen, kulturellen, politischen und ideologischen Umbrüche haben sich inzwischen expandierende neue Prostitutionsmärkte - ich sage das in Anführungsstrichen - aufgetan, und damit haben sich diese modernen Formen der Sklaverei weltweit dramatisch verschärft.
In Südamerika muß bereits von einer Explosion der Sexindustrie gesprochen werden, und die Gefahr wächst weiter; denn die wirtschaftliche Krise droht sich zu verschärfen.
Jüngste Pressemeldungen sprechen davon, daß sich in diesem Jahr für die Karibik - sie ist ja hier schon zitiert worden - und besonders für die Dominikanische Republik und für Kuba ein weiterer massiver Preisverfall anbahnt. Damit wird unter anderem der Urlaub in der Karibik in diesem Sommer so billig wie noch nie, verheißen Pressemeldungen. Wir werden die Sogwirkung auch auf diesem Gebiet erfahren.
Der Prostitutionstourismus als eine Extremform der Gewaltanwendung richtet sich längst nicht mehr ausschließlich gegen Frauen. Durch wachsende Armut und soziale Not sind im zunehmenden Maße auch Kinder zur Prostitution gezwungen. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern, die wie zu einfacher Ware herabgewürdigt und jederzeit verfügbar werden, hat sich inzwischen auf einem sogenannten organisierten Markt sehr weit entwickelt.
Erschütternd waren im November 1995 die Berichte der brasilianischen Psychologin Dilma Felizardo, Initiatorin einer Auffangorganisation für minderjährige Mädchen, die aus der Prostitution aussteigen wollen. Es wird geschätzt, daß sich in Brasilien etwa eine halbe Million Minderjähriger prostituieren. Ihre Zahl ist höher als die der erwachsenen Prostituierten. Und auch hier sind es besonders die Touristenorte wie Recife und Natal, in denen Urlauber aus Europa, unter ihnen auch sehr viele Deutsche, sich dieser Kindersexszene bedienen. Die betroffenen Kinder haben keine Chance, je eine Schule zu besuchen oder eine Ausbildung zu erfahren. Für den Rest ihres Lebens ist ihre Gesundheit geschädigt, ihre Sozialisation ist auf Dauer gestört. Die Lebenserwartung dieser Mädchen, so die Berichte, die oft im Alter von acht Jahren zu diesen unwürdigen und menschenverachtenden Praktiken gezwungen werden, liegt bei 21 Jahren.
Als Gesundheitspolitikerin hätte ich von Ihrer Seite auch gerne ein Wort dazu gehört, ob nicht auch ein Konzept nachhaltiger Gesundheitsförderung zu einem Tourismuskonzept und zu einer Tourismusentwicklung gehört.
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Sextourismus ist immer noch ein Dunkelfeld von Menschenrechtsverletzungen und Strafbarkeit. Deshalb ist es nicht ausreichend, wenn Sie in Ihrem Antrag formulieren, es sei darauf hinzuwirken, daß sich Reiseveranstalter, Reisebüros und Fluggesellschaften, die sich insgesamt verantwortungslos verhielten, ausnahmslos und eindeutig vom Sextourismus und tourismusbedingter Kinderprostitution in Ländern der Dritten Welt distanzierten, und es sei darauf hinzuwirken, daß Deutsche, die im Ausland Kinder unter 14 Jahren sexuell mißbrauchten, im Inland auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen würden. Vielmehr muß deutlich werden - das erwarte ich von Ihrem Antrag -, daß die Verantwortlichkeit der Reiseveranstalter, Reisebüros und Fluggesellschaften notfalls durch eine gesetzliche Initiative geregelt werden muß.
In der Antwort auf eine kleine Anfrage der SPD-Fraktion zu diesem Thema verneint die Bundesregierung die Aufnahme von den dem öffentlichen Interesse dienenden Aufklärungspflichten, zum Beispiel in die EG-Richtlinie über Pauschalreisen. Die Bundesregierung muß aufgefordert werden, diese Möglichkeit noch einmal rechtlich zu prüfen, die die Veranstalter zwingend verpflichtet, in ihren allgemeinen Reisevertragsbedingungen auf die geltenden Strafbestimmungen des 27. Strafrechtsänderungsgesetzes hinzuweisen. Freiwillige Aufklärungsaktionen sind nach Auskunft der NGOs relativ schnell wieder eingeschlafen. In Ihrem Antrag fehlt auch jegliche Forderung nach bilateralen Rechtshilfeabkommen für den Bereich der Strafverfolgung zwischen der Bundesrepublik und den vom Kindersextourismus betroffenen Ländern.
Das Gesetz über den sexuellen Mißbrauch von Kindern unter 14 Jahren, der von deutschen Staatsangehörigen im Ausland begangen wird, bleibt ein sogenannter Papiertiger, wenn der Täter nicht vor ein deutsches Gericht gestellt werden kann. Lediglich zwei Verfahren wurden bisher eingeleitet, eines rechtskräftig abgeschlossen. Der Täter, der eine Minderjährige im Ausland mißbraucht hatte, wurde zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, und die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das nenne ich einen wirklichen Papiertiger!
Unterschiedliche Ermittlungs- und Vernehmungspraktiken sowie die jeweilige andere nationale Rechtsordnung lassen eine strafrechtliche Verfolgung der Täter bisher oft im Sande verlaufen. Es ist deshalb dringend nötig - da appelliere ich an Sie, Herr Staatssekretär -, daß sich auf der Ebene der jeweiligen Justizministerien Arbeitsebenen bilden, die für die Anwendung dieser Norm der 27. Strafrechtsänderung dann auch die nötigen Voraussetzungen in Form von Verwaltungsanweisungen erarbeiten.
Anscheinend greifen die vom Sextourismus betroffenen Länder jetzt selber härter durch. Wie in der „Frankfurter Rundschau" zu lesen war, droht jetzt einem 32jährigen deutschen Geschäftsmann auf den Philippinen die Todesstrafe wegen sexueller Verbrechen an Minderjährigen.
Auch auf der Ebene des Europäischen Parlaments ist im Zusammenhang mit dem Tourismus die Bekämpfung des wachsenden Sextourismus als wesentliche Aufgabe erkannt worden. So fordert das EU-Parlament in einer Entschließung vom 6. Mai 1994 auch uns auf - ich zitiere einen Ausschnitt -:
... eine Richtlinie zu untersuchen, die die Tätigkeit von Reiseveranstaltern, die Sextourismus fördern, bestraft.
Hier besteht also dringender Handlungsbedarf. Ich bitte die Bundesregierung, diesem nachzukommen.
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Eine breite Öffentlichkeit, weitreichende Information und im Gefolge dann Entwicklung und Ausbau klarer juristischer Direktiven erhoffen wir uns auch deshalb von der für Ende August in Schweden stattfindenden internationalen und von meiner Kollegin Saibold zitierten Weltkonferenz gegen kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich hier intensiv einzubringen und eine Vorbereitungskommission zu bilden, um die Konkretisierung der Forderungen des Deutschen Bundestages vorzunehmen.
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Wesentliches Moment der Verhinderung oder doch wenigstens der Verminderung des Prostitutionstourismus ist die Schaffung von wirklichen Alternativen und Lebensperspektiven für die Menschen in den Ländern der Dritten Welt. Dabei spielt die Stärkung der gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung der Frauen eine entscheidende Rolle. Schwerpunkt einer Entwicklungspolitik und einer Tourismusförderungspolitik muß daher auf die Bekämpfung der Armut und der Perspektivlosigkeit von Frauen und ihren Familien gelegt werden.
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Zu Recht haben Sie, Herr Dr. Kolb, gesagt, der internationale Tourismus besteht aus einer Vielfalt von Akteuren dieser Branche. Nur durch eine Verstärkung des Dialogs und eine intensive Zusammenarbeit aller Beteiligten können wir diese dringenden und notwendigen Verbesserungsmaßnahmen in den Dritte-Welt-Tourismus auch einbringen.
In diesem Sinne, denke ich, meine Damen und Herren von der CDU, bedarf Ihr Antrag noch einiger Korrekturen. Wir werden die Gelegenheit dazu nutzen.
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Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernd Klaußner.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Wir Europäer müssen uns vor Augen halten, daß, abgesehen von den sieben Staaten USA, Kanada, Australien, Neuseeland, Japan, Israel und Südafrika, sämtliche touristischen Fernziele in Entwicklungsländern liegen.
Die Hoffnung, die jene dabei in den Tourismus setzen, sind nicht unbegründet. Über den Zufluß von Dollars in die Entwicklungsländer ist bereits gesprochen worden. Ich möchte noch ergänzen, daß auf unserer Erde jeder fünfzehnte Mensch in der Wachstumsbranche Tourismus tätig ist.
Ich stelle also nochmals fest: Über den wirtschaftlichen Nutzen des Tourismus müssen wir nicht debattieren.
Die ökologischen Folgewirkungen des Tourismus sind zweifellos von besonderer Brisanz, handelt es sich doch bei vielen touristisch interessanten Gebieten um besonders empfindliche Ökosysteme. Die Nachhaltigkeit touristischer Entwicklungsprojekte beruht auf der Verfügbarkeit und dem Erhalt dieser Umwelt.
Erfahrungen südeuropäischer Länder haben gezeigt, wie Tourismus, der keine Rücksicht auf natürliche Umweltbedingungen nimmt, sich selbst der Basis beraubt. Probleme wie algenverseuchtes Meerwasser oder Erdrutsche infolge von Waldrodungen sind hinreichend bekannt. Um so mehr muß es unser Anliegen sein, daß sich diese Fehler in Entwicklungsländern nicht wiederholen. Leider gibt es hier noch eine Menge Handlungsbedarf.
Beispiele wie die, daß in afrikanischen Hotels von einem täglichen Pro-Kopf-Wasserverbrauch von bis zu 600 Litern ausgegangen wird, während es in Deutschland ca. 150 Liter sind, oder daß Tausende von Hektar Wald in Thailand einer Golfplatzbebauung weichen müssen, sind leider noch an der Tagesordnung.
Meine Damen und Herren, die Bereitschaft zur verantwortlichen Auseinandersetzung mit den Problemen des Dritte-Welt-Tourismus hat zugenommen, ebenso die Chancen für Verbesserungsmöglichkeiten. In den letzten Jahren haben fast zwei Drittel der Fernzielreisenden Umweltprobleme am Urlaubsort wahrgenommen. 1991 waren es 1,5 Millionen.
Daß sich Tourismus und Erhaltung der Natur jedoch nicht ausschließen müssen, zeigen andere zahlreiche Beispiele. So stehen auf den Seychellen mehr als 40 Prozent der Landfläche unter Naturschutz und wurde in Tunesien nach 15 Jahren geduldiger Projektarbeit in mehreren Schutzgebieten die Wüste wieder zum Leben erweckt.
Es gilt aber auch, Initiativen der Tourismusindustrie zu unterstützen. So haben Veranstalter teilweise eigene Umweltbeauftragte bestellt und vergibt der Deutsche Reisebüro Verband seit 1986 eine Auszeichnung für touristische Projekte, die Umweltgedanken bei Planung und Ausführung berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, wir reden über Tourismus in die Dritte Welt und seine Folgen. Wir reden nicht über ein abstraktes Gebilde, wir reden über Menschen, über Existenzen, über Schicksale.
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Es gibt Mädchen in Thailand, die sagen: Mit zehn bis du erwachsen, mit 20 eine alte Frau, und mit 30 bist du tot. Dieser erschütternde Satz ist auf das zurückzuführen, was heute schon mehrfach angesprochen worden ist, auf den Sex-Tourismus, darauf, daß sich Ausländer, also Touristen, an Kindern vergreifen. Ihre Dekadenz wird von ihnen teilweise noch als ganz persönliche Entwicklungshilfe gesehen - eine an Abscheu nicht zu überbietende Auffassung.
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Hier sind wir wirklich aufgerufen zu handeln, und hier setzt auch der Antrag der Koalition an. Es ist von meiner Vorrednerin einiges dazu ausgeführt worden und auch von den vorangegangenen Rednern - Strafgesetzbuch § 5 Abs. 8 usw.
Aber auch andere soziokulturelle Konflikte sind leider Folgeerscheinungen des Ferntourismus. Ein Tourist reist immer zu seinem eigenen Vergnügen, egal, ob zehn Kilometer zum Museum in die nächste Stadt oder zehntausend Kilometer in den Urlaub auf einem anderen Erdteil.
So müssen nicht wenige Reiseunternehmen ihren Kunden immer noch klarmachen, daß diese bei ihnen zwar König sind, nicht aber im Gastland.
Oft vermittelt aber auch die Werbung falsche Bilder von der Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort und gewinnt so der Armut noch eine romantische Seite ab. Dabei ist es ein riesiger Vorteil des Tourismus, Produzenten und Konsumenten in einer Weise zusammenzubringen, wie es andere Industrien nicht tun können.
78 Prozent der Fernzielreisenden stimmen der Aussage zu, daß man ein Entwicklungsland nur richtig kennenlernen kann, wenn man mit den Einheimischen in Kontakt kommt. Dies muß die Veranstalter motivieren, das aufgeklärte und sprechende Produkt zu fördern. Auch hier gibt es bereits ermutigende Modellvorhaben. Unter dem Motto „Fair-Reisen" initiiert beispielsweise die Gepa, die Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt, mit ihren über 150 Handelspartnern in fast allen Entwicklungsländern den sogenannten Sozialtourismus. Dies bedeutet, daß Reisegruppen von bis zu 15 Leuten am Leben im Dorf beteiligt werden. Dazu gehören das Mitmachen bei der Kaffee- und Reisernte und auch das gemeinsame Bad im Meer. Einige Reiseveranstalter haben bereits großes Interesse angemeldet.
Ich darf hier sagen, daß Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, vom Projektleiter der Gepa herzlich eingeladen sind, an den Pilotreisen, die gegen Ende dieses Jahres beginnen, teilzunehmen.
Im Wissen, daß pro Sekunde tropischer Regenwald von der Größe eines Fußballfeldes zerstört wird, hat auch die Lufthansa mit dem Angebot von Umweltakademien im brasilianischen Regenwald auf das neue Naturbewußtsein ihrer Kunden reagiert.
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Diese Modelle versprechen die von allen gewünschte Partizipierung der einheimischen Bevölkerung bei der Planung und Gestaltung von Tourismusvorhaben.
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Meine Damen und Herren, Tourismus prägt das Bild von der Dritten Welt. Auch die Akzeptanz unserer Entwicklungszusammenarbeit wird in der Bevölkerung durch Eindrücke, die sie bei Reisen in Entwicklungsländer gewonnen hat, beeinflußt.
Eine deutsche Touristin in der Dominikanischen Republik formulierte ihre Eindrücke so: Irgendwann wird man nicht mehr erkennen können, in welchem Land man sich befindet. Der ganze Rummel wird einheitlich.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, das darf für unsere Arbeit aber kein Maßstab sein. Mit dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Begleiten Sie uns in die richtige Richtung!
Ich bedanke mich.
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Herr Kollege Klaußner, das war Ihre erste Rede, habe ich gehört. Deswegen gratuliere ich Ihnen im Namen des Hauses dazu.
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Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3142 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - Wahl der Richter und Richterinnen
- Drucksache 13/2088 -
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Ulla Jelpke, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 13/2686 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Gerald Häfner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle, alle Fraktionen in diesem Hause, klagen immer wieder über die zunehmende Individualisierung und Entsolidarisierung in der Gesellschaft, den wachsenden Egoismus von Gruppen und einzelnen und über die abnehmende Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen zu engagieren. Unser aller Anliegen sollte es gerade vor diesem Hintergrund sein, dieses Gemeinwesen und das, was es im Innersten zusammenhält, zu stärken.
Deshalb ist es nicht unwichtig, sich zu fragen: Was hält denn ein solches Gemeinwesen zusammen, wenn es eben nicht Blut, Boden, Rasse oder auch Geschichte sein kann, sondern wenn wir von der Tatsache ausgehen müssen, daß heute viele Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Hautfarbe, Religion und Geschichte in diesem Land - hoffentlich friedlich - zusammenleben? Wenn das so ist, dann können es eben nur die gemeinsam vereinbarten
und in unserer Verfassung niedergelegten Überzeugungen, Werte, Rechte und Pflichten sein, die dieses Gemeinwesen tragen und zusammenhalten, also das, was in unserer Verfassung als Grundlage und Konsens niedergelegt ist und was von uns allen im Alltag immer wieder - Sie wissen, wie schwer das oft ist - mit Leben gefüllt werden muß.
Wir können, glaube ich, stolz darauf sein, eine gute Verfassung zu haben, eine Verfassung, die nicht etwa leeres Stroh ist, kein zahnloser Tiger, sondern die unmittelbar geltendes Recht ist. Unmittelbar geltendes Recht ist sie durch die Existenz und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, das die Bestimmungen der Verfassung in der Praxis durchsetzt und ihr so Geltung im Alltag verschafft.
Deshalb sind diese „Hüter unserer Verfassung", wie sie immer wieder genannt werden, von allerhöchster Bedeutung für uns alle und für diesen Staat, dieses Gemeinwesen. Und just aus diesem Grunde ist auch die demokratische Legitimation der Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht von höchster Wichtigkeit. Zumindest bei der Wahl der Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht sollte die Verfassung selbst ernst genommen werden. Sie alle wissen, daß dies heute nicht der Fall ist,
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was zu Recht zu erheblicher Kritik nicht nur in Fachkreisen führt. Ich glaube, man kann durchaus, ohne dies näher auszuführen, am Rande auch darauf hinweisen, daß es auch vielen Richterinnen und Richtern am Bundesverfassungsgericht lieber wäre, sie würden so gewählt, wie dies das Grundgesetz selbst ausdrücklich vorschreibt, nämlich vom Deutschen Bundestag.
Statt dessen hat der Bundestag ein im Grundgesetz überhaupt nicht vorgesehenes Gremium eingerichtet, den sogenannten Wahlmännerausschuß; schon das Wort ist ein Unwort. Aber es kommt noch schlimmer: Nicht einmal dieser Wahlmännerausschuß, der gar nicht ausreichend legitimiert wäre - ({1})
- Er heißt
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- Wahlausschuß. Ich bedanke mich herzlich.
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- Das ist natürlich ein erheblicher Fortschritt. Da haben Sie recht, Herr Lanfermann. Wenn Sie jetzt noch über das hinaus, was Ihnen schon auf den Leib geschrieben ist, den frauenpolitischen Ansatz, den demokratiepolitischen Ansatz an dieser Stelle mittragen würden, dann wäre eine Gemeinsamkeit zwischen Grünen und der F.D.P. entstanden, die uns heutzutage alle verblüffen könnte.
Lassen Sie mich auf die Sache zurückkommen. Sie wissen, daß das Grundgesetz vorschreibt, daß die Richterinnen und Richter vom Deutschen Bundestag gewählt werden. Wir alle können uns eigentlich immer nur wundern, wieso der Bundestag dies immer wieder ablehnt und sich ziert. Der gegenwärtige Zustand ist eben für manche, die hier gerne die Strippen ziehen wollen, leichter und einfacher. Man kann dann nämlich in Hinterzimmern - es sind ja im Kern heute nur zwei Leute, die das dann bei einem guten Glas Wein untereinander auskaspern - abmachen, wer Bundesverfassungsrichter wird, so nach dem Motto: Wen kennst du? Wen kenne ich? Wem habe ich einmal etwas versprochen? - Das ist aber kein akzeptables Verfahren, sondern eine Farce, und wir können froh sein, daß trotz dieses undemokratischen Verfahrens doch immer wieder eine gute Besetzung des Gerichts und auch gute Entscheidungen dabei herausgekommen sind.
Deswegen komme ich jetzt auch gleich zu den Argumenten, die gegen unseren vom Grundgesetz selbst geforderten Vorschlag, die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht vom Deutschen Bundestag selbst wählen zu lassen, eingewandt werden. Da wird zum Beispiel immer wieder gesagt, eine solche Wahl durch den Bundestag und eine von uns vorgeschlagene, dem vorausgehende Anhörung stelle die Bewerberinnen und Bewerber bloß und schade so dem Ansehen der Richterinnen und Richter.
Vor dem Hintergrund der jüngsten Diffamierungen des Bundesverfassungsgerichtes, die übrigens just von derselben Seite, die dieses Argument immer wieder vorbringt, gekommen sind, erscheinen solche Bedenken allerdings als ausgesprochen schlechte Ausrede. - Herr Geis, Sie schütteln den Kopf. Sie selbst haben sich ja führend an dieser Hatz auf das Bundesverfassungsgericht beteiligt.
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- Unter Diffamierung verstehe ich Äußerungen wie zum Beispiel die vom bayerischen Kultusminister, der die Karlsruher Entscheidung als „puren Unsinn und Übermut" bezeichnet hat,
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oder die Äußerung Ihres stellvertretenden Parteivorsitzenden, Herrn Ingo Friedrich, gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei auf das Widerstandsgebot aus Art. 20 Abs. 4 GG, das in das Grundgesetz aus der Erfahrung mit der Nazi-Diktatur, in der der Rechtsstaat abgeschafft worden war, aufgenommen wurde, zurückzugreifen.
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- Herr Geis, Sie wissen genau, wovon ich rede. Sie selbst haben sich zusammen mit Herrn Stoiber, Herrn Spranger usw. führend an dieser Kampagne beteiligt.
Wer sich in solcher Weise nicht nur über Urteile des Gerichtes hinwegsetzt, sondern dazu noch versucht, das Gericht selbst sturmreif zu schießen, weil
ihm einzelne seiner Entscheidungen - wie das Haschisch-Urteil, das Kruzifix-Urteil, das Urteil zu den Sitzblockaden oder möglicherweise bald das Asyl-Urteil - nicht passen,
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der legt in der Tat die Axt an die Grundfesten unseres Staates.
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Wenn dieselbe Seite dann sagt, eine öffentliche Anhörung oder eine Wahl durch den Bundestag würde das Ansehen des Gerichtes schädigen, dann ist dies zumindest ein sehr absurdes Argument, Herr Geis; das mögen Sie mir zugeben.
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Insofern sind Sie hier sicherlich nicht der glaubwürdigste Zeuge.
Neben unserer Forderung nach einer demokratischen Wahl durch das Plenum geht es uns aber noch um einen weiteren Aspekt. Wir wollen, daß im Bundesverfassungsgericht, im höchsten deutschen Gericht, in Zukunft Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten sind. Wir meinen, daß diese Gesellschaft sich in ihren Organen widerspiegeln sollte. Wir meinen deshalb, daß es in einem Land, in dem Frauen und Männer bekanntlich zu gleichen Teilen leben, dringend nötig ist, daß auch in den obersten Organen - das Parlament wäre übrigens auch ein solcher Ort, und Sie wissen, daß meine Fraktion als einzige im Unterschied zu allen anderen das ihr Mögliche hierzu tut - insbesondere auch im Bundesverfassungsgericht Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten sind. Frauen und Männer sollten im Bundesverfassungsgericht auch deshalb zu gleichen Teilen zu Gericht sitzen und Recht sprechen, weil wir meinen, daß hier unterschiedliche Erfahrungen, Wahrnehmungsmöglichkeiten usw. von Frauen und Männern gleichberechtigt einfließen müssen.
Das Amt der Bundesverfassungsrichterin und des Bundesverfassungsrichters ist ja ein Amt, das bis jetzt auf eine sehr kleine Funktionselite beschränkt ist. Auch hier wollen wir eine Ausweitung. Wir wollen, daß nicht nur Persönlichkeiten mit der Befähigung zum Richteramt, sondern alle, die ein juristisches Studium abgeschlossen haben, für dieses Amt in Frage kommen und gewählt werden können.
Vor allem aber geht es uns darum, daß die Zusammensetzung des höchsten deutschen Gerichts vor den Augen der Öffentlichkeit im Plenum des Deutschen Bundestages beraten und beschlossen werden muß. Es darf nicht so bleiben wie bisher, daß die Parteistrategen beziehungsweise einzelne wenige Leute in den Parteien auf diesen Entscheidungen den Daumen haben. Wir möchten so zukünftig auch Peinlichkeiten vermeiden, wie sie jetzt zum Beispiel gerade wieder passiert sind: Der einzige Vertreter der Anwaltschaft im Bundesverfassungsgericht ist ausgeschieden, und es war nicht möglich, wieder einen Vertreter der Anwaltschaft hineinzuwählen, weil Ihre
Partei, Herr Lanfermann und Herr Kleinert, aus Gründen, die Sie sicher besser kennen als ich, unbedingt jemand anderen haben wollte. Wir meinen, so darf das Verfahren zur Besetzung des höchsten deutschen Gerichtes künftig nicht mehr gehandhabt werden.
Wir wollen uns mit unserem Gesetzentwurf dafür einsetzen, das Bundesverfassungsgericht zu stärken und nicht zu schwächen, wie Sie das derzeit vorführen. Deshalb wollen wir ein Wahlverfahren für die Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht, das endlich die Zweifel, die bisher auf dieser Wahl liegen, ausräumt und die demokratische Legitimation durch den Deutschen Bundestag stärkt.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich am 24. April 1991 das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Abwicklung im öffentlichen Dienst Ostdeutschlands kritisierte, wurde mir als parlamentarischem Neuling von Herrn Hackel, F.D.P., mit aller Entschiedenheit bedeutet, daß einem Abgeordneten eine Kritik am Bundesverfassungsgericht nicht zustehe. Die Zeiten haben sich geändert. Unser Kollege Geis - er ist eben schon angesprochen worden - sprach beim KruzifixUrteil am 21. August 1995 von der Gefahr einer Ruinierung des gewaltenteilenden Staates
({0})
- das sind doch immerhin starke Worte -, sein Fraktionskollege Augustinowitz charakterisierte das Soldaten-Urteil als eine Schande für die deutsche Justiz.
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Dem Thema wurde eine Aktuelle Stunde gewidmet, und seitdem dürfen in keiner Debatte über Bundeswehreinsätze Seitenhiebe auf Karlsruhe fehlen. Diese Angriffe gegen die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts, die sich gegen dessen seit langem bestehende Linie im Minderheitenschutz, nicht zuletzt in bezug auf die Meinungsfreiheit, richten, haben laut „Süddeutsche Zeitung" vom 9. Oktober dazu geführt, daß die Zustimmung zum Bundesverfassungsgericht - dies hat das Institut Allensbach herausgefunden - von 51 auf 40 Prozent gesunken ist.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß auch Bundesverfassungsrichter politisch denkende Menschen sind und daß ihre Urteile in Politik eingreifen. Das war so gewollt. Nicht zuletzt auf der Grundlage der Erfahrungen in der Weimarer Republik war das Bundesverfassungsgericht als Notbremse für die Fälle konzipiert worden, in denen die Politik, also die Parlamentsmehrheit, den Rahmen der Verfassung verläßt. Das Fehlen eines Verfassungsgerichts war
eine der Ursachen für die Geringschätzung der Verfassung durch die politische Führung der DDR. Auf der anderen Seite ist eine solche Institution mit der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts für Verfechter der Volkssouveränität problematisch.
Ich halte diesen Widerspruch für unauflösbar. Wir müssen als Parlament mit ihm umgehen, dürfen das Bundesverfassungsgericht nicht tagespolitisch mißbrauchen und müssen insbesondere seine Funktion zum Schutz der Minderheitenrechte respektieren. Ich halte es dabei auch für wichtig, demokratische Legitimation dieses Gerichts transparent zu machen und damit zugleich Illusionen zu zerstreuen, daß hier Entscheidungen aus einem Wertehimmel auf die Erde heruntergeholt werden.
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Seit nunmehr bald 48 Jahren steht in Art. 94 Abs. 1 des Grundgesetzes, daß die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts „vom Bundestage" gewählt werden. Darauf ist hier schon von Herrn Häfner Bezug genommen worden. Tatsächlich werden aber - das hat er auch schon gesagt - die Mitglieder seit viereinhalb Jahrzehnten von einem Wahlausschuß „im stillen Kämmerlein" , wie Uwe Wesel in der „Zeit" formulierte, gewählt. Es kann natürlich auch irgendeine Bundestagsgaststätte oder so etwas sein.
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Dem Ausschuß gehören zur Zeit elf Männer und eine Frau an.
Am 27. September hat der Ausschuß zwei Richter gewählt. Ich möchte nicht fragen, wer von den Mitgliedern dieses Hauses sie mit Namen kennt, von der Bevölkerung ganz zu schweigen. Die eigentliche Auslese erfolgt aber noch nicht einmal im Wahlausschuß, sondern in einer Arbeitsgruppe der Fraktionsführungen und anderer Gremien; der Wahlausschuß stimmt zu. Ein Gespräch mit den Kandidaten gibt es nicht. Von keiner Behörde wird ein Bewerber allein auf Grund der Aktenlage eingestellt; bei dem höchsten Verfassungsgericht der Bundesrepublik ist das jedoch der Fall.
Insgesamt, meine ich, ist dies eine Karikatur eines demokratischen Verfahrens. Seit den 50er Jahren wird daran heftige Kritik geübt. Richard Thoma hielt die Wahlpraxis „von Haus aus für verfassungswidrig" . Im „Bonner Kommentar" werden massive verfassungsrechtliche Bedenken erhoben. Bei der Anhörung des Rechtsausschusses am 4. Mai 1988 begründete Ulrich Preuß in meinen Augen beweiskräftig, daß der gegenwärtige Wahlmodus den Anforderungen des Grundgesetzes nicht gerecht wird.
Das Grundgesetz sagt ausdrücklich, daß die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts vom Bundestag gewählt wird. Ein Ausschuß ist nicht der Bundestag. Wenn eine Verfassung einer Institution eine Aufgabe zuweist, stellt ihre Erfüllung nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht dar. Wo das Grundgesetz nicht nur das Plenum, sondern die Ausschüsse meint, spricht es im übrigen ausdrücklich vom „Bundestag und seinen Ausschüssen"; so ist es zum Beispiel in Art. 43 Abs. 1 und 2,
Das Verfahren der Wahl für ein Verfassungsorgan muß den Grundsätzen eines demokratischen Wahlvorgangs, also den Geboten der Mitwirkung der Abgeordneten und der Transparenz, entsprechen. Es gibt ein Mitwirkungsrecht jedes Abgeordneten und ein Informationsrecht des Bundestages gegenüber dem zu wählenden Verfassungsorgan.
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Das Wahlverfahren hat die Realisierung dieser Rechte zu gewährleisten und nicht ihre Aushebelung herbeizuführen.
Wir haben deshalb vorgeschlagen, daß erstens das Plenum die Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts wählt und daß zweitens der Rechtsausschuß mit Zweidrittelmehrheit eine Vorschlagsliste mit den Namen der Kandidatinnen und Kandidaten beschließt, deren Wahl er dem Plenum empfiehlt. Dabei gewährleistet das Erfordernis von dreimal so vielen Vorschlägen wie zu besetzenden Stellen eine reale Auswahlmöglichkeit. Drittens soll eine öffentliche Anhörung stattfinden und damit ein den Abgeordneten wie auch der Öffentlichkeit zugänglicher Meinungs- und Willenbildungsprozeß gesichert werden. Dadurch wird das „undurchsichtige Hin und Her", so Geiger, beseitigt. Wieder eingeführt werden bestimmte Kriterien, und ausdrücklich klargestellt wird, daß Fragen aus dem höchstpersönlichen und intimen Bereich unzulässig sind. Schließlich soll ermöglicht werden, daß schrittweise eine geschlechtsparitätische Besetzung der vom Bundestag zu wählenden Verfassungsrichter erreicht wird.
Meine Damen und Herren, nur ein selbstbewußtes Gericht wird den Kurs der Verteidigung und des Ausbaus der Grundrechte fortsetzen können. Eine Demokratisierung des Wahlverfahrens und eine Begleitung der Wahl durch die Öffentlichkeit im Sinne unserer Vorschläge wäre nicht nur eine längst überfällige Korrektur des derzeitigen nicht verfassungskonformen Wahlverfahrens und ein Zeichen, daß wir solch ein selbstbewußtes Gericht wollen, sondern auch eine Entscheidung für ein Verfahren, das fachlich kompetente und zugleich standhafte Richter und Richterinnen begünstigt.
Danke schön.
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Das Wort hat der Abgeordnete Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Unabhängigkeit und das hohe Ansehen des Verfassungsgerichts sind ein kostbares Gut, und damit sollten wir alle sorgsam umgehen. Natürlich kann man über die Veränderung einzelner Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes bezüglich des Wahlverfahrens nachdenken. Aber ich glaube, daß sich die
Grundzüge und Grundprinzipien für die Wahl unserer höchsten Richter sehr bewährt haben.
Es sind eigentlich fünf Grundprinzipien, die einen Zusammenhang bilden und deren man sich vergewissern sollte, wenn man über Veränderungen nachdenkt. Erstens. Daß die Hälfte der Verfassungsrichter vom Bundestag, die andere Hälfte vom Bundesrat gewählt wird, beugt Einseitigkeiten vor und hat mit dem Bundesstaatscharakter zu tun.
Zweitens. Daß jeder Richter mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden soll - auch mit den vorliegenden Gesetzentwürfen soll das nicht geändert werden -, ist gut so. Das fördert den Konsens, beugt ebenfalls einer parteipolitischen Einseitigkeit vor und bürgt für Ausgewogenheit.
Drittens. Drei der acht Richter eines jeden Senats sollen vom obersten Bundesgericht kommen - auch eine Vorschrift, die sich, glaube ich, bewährt hat.
Der vierte Grundsatz lautet, daß alle Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts die Befähigung zum Richteramt haben müssen. Während die ersten drei Grundsätze hier im Haus offenbar von allen akzeptiert werden, beginnen hier die Unterschiede. Die Gesetzentwürfe der Grünen und der PDS weichen hier ab. Nach diesen Gesetzentwürfen soll schon der Abschluß eines rechtswissenschaftlichen Studiums als Nachweis einer juristischen Qualifikation genügen. Das halten wir für völlig unakzeptabel. Wer nicht die Befähigung hat, Richter an einem deutschen Amtsgericht zu werden, hat auch nicht die Befähigung für das höchste Richteramt in unserem Lande.
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Fünftens. Aus gutem Grund sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz gerade kein „Schaulaufen" der Kandidaten vor. Öffentliche Anhörungen und Befragungen von Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht nach dem immer wieder zitierten amerikanischen Muster würden in mehrfacher Hinsicht nachteilig sein. Ich bin sicher, daß zum einen herausragende Persönlichkeiten, die sich bisher zur Wahl bereit erklärt haben, sich einer solchen Prozedur nicht stellen würden; dafür hätte ich Verständnis. Vor allem aber würde ein solches Schaulaufen Unabhängigkeiten gefährden, zu Voreingenommenheiten führen und auch Befangenheiten für spätere Verfahren hervorrufen können. Ich bin sicher, es würde in der heutigen Medienlandschaft ein Schaulaufen, wenn man ein solches Verfahren, wie in dem Gesetzentwurf von den Grünen vorgeschlagen, vorsehen würde. Denn es würden natürlich auch verfassungsrelevante Fragen gestellt. Darauf müßten Antworten zu Sachverhalten gegeben werden, die später zu denen gehören können, über die die Richter zu entscheiden haben. Solche Befangenheiten sollte man bei einem Gericht mit zwei Senaten mit je acht Richtern nicht provozieren.
Im übrigen gibt es im amerikanischen System einen wichtigen Unterschied. Im amerikanischen System hat das Vorschlagsrecht allein der amerikanische Präsident. Kein Mensch denkt bei uns daran, das Vorschlagsrecht allein etwa dem Bundeskanzler zu übertragen. Deshalb meine ich, daß die amerikanischen Erfahrungen in keiner Weise ermutigend sind und deshalb unsere Wahlprinzipien dem amerikanischen System in vielfacher Hinsicht überlegen sind.
Was nun die Frage angeht, ob man die endgültige Entscheidung und Wahl im Plenum des Bundestages vornehmen soll oder wie bisher eben besser in einem Wahlausschuß, bezweifle ich den Nutzen einer Veränderung. Würde man das Verfahren so einführen, daß das Plenum letztlich direkt zu wählen hätte, so wäre bei der nach wie vor auch nach Ihrer Auffassung erforderlichen Zweidrittelmehrheit vorher eine Verständigung zwischen den Fraktionen erforderlich. Das würde sich in nichts von dem informellen Verfahren unterscheiden, das es auch heute vor den Beratungen der Entscheidungen des Wahlausschusses gibt. Wie sonst sollte sich eben die überparteiliche Zweidrittelmehrheit und der Konsens ergeben? Faktisch würde sich damit durch die Wahl im Plenum des Bundestages nicht sehr viel ändern.
Ich sage deshalb nicht, daß eine solche Verlagerung der endgültigen Wahl in das Plenum für sich allein betrachtet besonders schädlich wäre. Die Unabhängigkeit und die Stellung des Gerichts würden erst dann beeinträchtigt, wenn dem das Schaulaufen vorangehen müßte, wie das vorgeschlagen worden ist.
Ohne öffentliche Anhörung, ohne öffentliche Befragung muß natürlich eine intensive Beratung zur Person möglich sein. Das ist eben nicht im Plenum möglich, sondern in einem überschaubaren Wahlausschuß, dessen Beratungen natürlich auch eine gewisse Vertraulichkeit erfordern und gewährleisten. Wir meinen, daß es beim derzeitigen Modus bleiben kann.
Schließlich geht es um die Frauenquote in diesen Gesetzentwürfen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode vier Richter für das Gericht in Karlsruhe gewählt: drei Frauen, ein Mann; ohne gesetzliche Quote. In diesem Jahr haben wir zwei neue Richter gewählt. Es sind übrigens parteilose Richter, wie überhaupt nach meiner Kenntnis die Mehrheit der Richter in Karlsruhe keiner Partei angehören.
Nun gibt es viele Kriterien bei der Bestimmung der Verfassungsrichter zu berücksichtigen. Ich will nur erwähnen, daß wir beispielsweise nach meiner Kenntnis noch nie einen Richter vom Bundesfinanzhof am Bundesverfassungsgericht hatten. Das Gesetz sieht drei in jedem Senat von dem Obersten Bundesgericht vor. Man könnte auch einmal an dieses Oberste Bundesgericht denken. Wir haben derzeit keinen Strafrechtsexperten und keinen Völkerrechtler am Bundesverfassungsgericht.
Es ist vorhin schon angesprochen worden - auch ich bedaure das -: Es gibt derzeit niemanden aus dem Anwaltsberuf. Ich glaube, dem Gericht täten Erfahrungen auch aus diesem Zweig der Rechtspflege durchaus gut. Es ist vor allem noch niemand aus den neuen Bundesländern in das Verfassungsgericht gewählt worden, aus leicht erklärlichen und
nachvollziehbaren Gründen. Aber wir sollten diesen Zustand unbedingt sobald wie möglich ändern.
So ließen sich noch eine Reihe von weiteren Kriterien aufzählen. Aber am Bundesverfassungsgericht gibt es nun einmal nur 16 Richter, zweimal 8. Es sollte niemand daran denken, nur deshalb die Zahl zu erhöhen, weil man alle möglichen Kriterien erfüllen will.
Ich finde, wir haben in der Vergangenheit herausragende Persönlichkeiten beim Bundesverfassungsgericht gehabt. Ich finde, auch die jetzigen Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht sind überzeugender Beweis dafür, daß es mit dem jetzigen Verfahren gelingt, unabhängige und in jeder Hinsicht qualifizierte Richterinnen und Richter zu gewinnen.
Wir sollten immer daran denken: Von allen Verfassungsorganen hat das Bundesverfassungsgericht immer noch das mit Abstand höchste Ansehen in der Bevölkerung. Das hat nach meiner Überzeugung auch mit der Art des Wahlverfahrens zu tun. Daß man sich einmal über einzelne Entscheidungen des Verfassungsgerichtes ärgert, sie für falsch hält, liegt in der Natur der Sache. Auch ich habe mich in letzer Zeit über einzelne Entscheidungen des Verfassungsgerichtes sehr gewundert. Ich muß allerdings auch sagen, daß ich manche Kritik daran für überzogen gehalten habe.
Wir alle sollten unter dem Strich eines nie vergessen: Im großen und ganzen ist das Bundesverfassungsgericht ein wesentlicher Garant für die in aller Welt als vorbildlich eingestufte Rechtstaatlichkeit unseres Landes.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Herta Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema ist nicht ganz neu. Wenn ich mich so in unserem Kreise umsehe, dann sehe ich hauptsächlich Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Thema schon häufiger gesprochen haben: hier in diesem Raum, im Rechtsausschuß und auch in der Anhörung, die wir hatten. Ich sehe Herrn Geis. Auch die Argumente von Herrn Göhner haben sich nicht wesentlich, obwohl sie natürlich fortentwickelt waren, von denen unterschieden, die Herr Geis hauptsächlich im Rechtsausschuß und im Anhörungsverfahren 1987/88 vorgetragen hat. Ich ahne schon, was Herr Kleinert sagen wird. Was Herr Häfner sagte, haben wir schon gehört. Auch ich habe zwar an Weisheit heftig dazugewonnen - das ergibt sich sozusagen aus der Natur der Sache -, glaube aber nicht, daß sich die Zahl der Argumente wesentlich ausweitet. Jetzt ruhen natürlich alle unsere Hoffnungen auf Neuigkeiten auf Ihnen, Herr Bundesjustizminister. Ich bin gespannt, was Sie an neuen Argumenten einzubringen haben.
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Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren, daß die Probleme in der Tat völlig klar sind. Es geht ja im wesentlichen um drei Fragen, nämlich erstens um die Frage, ob wir das Wahlverfahren zum Bundesverfassungsgericht so ändern, daß entweder ein Wahlgremium oder der Bundestag selbst wählt. Mir liegt sehr daran, festzuhalten, daß es eine Frage der Opportunität ist und nicht eine Frage der Legitimation. Meine Bitte ist, auch in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck zu erwecken, daß das, was Karlsruhe oder die richterlichen Persönlichkeiten, die wir dorthin schicken, tun, durch eine Direktwahl des gesamten Plenums eher legitimiert sei als durch ein Wahlgremium. Ich glaube, das läßt sich einfach nicht halten. Die Argumente dafür könnte ich jetzt alle nochmals vorbeten - wir werden das sicherlich im Rechtsausschuß nochmals tun -, aber ich glaube, sie ändern sich nicht mehr. In den 50er Jahren ist darüber geredet worden, in den 80er Jahren und auch heute.
Das zweite Problem besteht darin, daß wir es eigentlich als Selbstverständlichkeit ansehen sollten, daß bei solch hohen Verfassungsgremien Frauen und Männer gleichmäßig vertreten sein sollten. Das ist ein Thema, das nicht nur mir Sympathie abnötigen sollte. Ich wage zu behaupten, daß, wenn der Herr Lanfermann, der Herr Kleinert und der Herr Göhner Frauen wären, wir die Frauenquote längst hätten. Wenn es um die Frauenquote in einem Gremium geht, dann würde natürlich keiner von diesen bösen Sozialdemokraten auf die Idee kommen, von den Jungen über die Alten bis zu den Strafrechtlern - Herr Winter gilt übrigens, auch wenn die Union ihn benannt hat, als solcher; das dürfen wir bitte nicht ganz vergessen, denn er ist ja am Bundesverfassungsgericht - alle Mitglieder aufzuzählen. Die besondere Dimension der Selbstverständlichkeit eines solchen Verfahrens sollte uns eigentlich klar sein. Das ist aber ein alter Hut, so daß es hier nicht nochmals darum gehen kann, die Argumente aufzuzählen, sondern schlicht Sie, meine Herren, freundlich oder auch strenger anzuschauen, damit wir es endlich einmal tun.
Ich komme zur dritten Frage, um die es noch geht, weil, verehrter Herr Heuer, mir die Einzelargumente ihres spezifischen Gesetzentwurfes nicht sehr einleuchten. Ich glaube, diese sind nur bürokratisch und im einzelnen nicht so durchdacht, wie wir das bei Ihnen im Rechtsausschuß sonst gewöhnt sind. Auch darüber sollten wir noch ausführlicher reden. Die dritte Frage ist eigentlich nur die: Sollten wir zur Erhöhung der demokratischen Transparenz ein obligatorisches Anhörungsverfahren, und zwar ein öffentliches, einrichten? Das macht übrigens - ich darf noch einmal unterstreichen, was sich 1988 in dem Ausschuß „Anhörungsverfahren" bereits herausgestellt hat - nur einen Sinn, wenn man die Kombination Wahlgremium und öffentliches Anhörungsverfahren vor dem wählenden Gremium tatsächlich ins Auge faßt.
Ich bleibe bei meiner Auffassung, die ich damals vertreten habe, daß so ein Anhörungsverfahren nicht schlecht wäre, übrigens viel weniger deshalb, weil dieses Schreckbild eines Schaulaufens, das immer so an die Wand gemalt wurde, jemanden erschrecken
könnte oder es so furchtbar durchgriffe, auch nicht deshalb - damals hat uns der Fall Bork so beschäftigt -, weil wir der Auffassung waren, das würde sich dann hier ereignen. Lassen Sie sich dagegen sagen - das gehört ja zu der Weisheit, die man mit den Erfahrungen gewinnt -: Es wäre für den oder die Vorgeschlagene nicht schlecht, zwecks Vermeidung von Indiskretionen oder Denunziationen ein offizielles Verfahren zu haben, in dem über solche Fragen und Anforderungen, ob ja oder nein, wirklich offiziell geredet werden kann. Dieses kann nicht nur sehr viel mehr Transparenz, sondern auch das Gegenteil von dem bewirken, was in der Öffentlichkeit damit immer verbunden wird: sehr viel mehr Schutz, sehr viel mehr Darstellungsmöglichkeit, sehr viel mehr Ehrlichkeit für Vorgeschlagene und Prüfung von Qualifikationen.
Meine Meinung ist: Wenn wir das jetzt wieder aufgreifen - dieser Zeitpunkt ist genauso gut wie jeder andere, solange er nicht mit der hämischen und zum Teil inhaltlich außerordentlich problematischen Kritik am Bundesverfassungsgericht verbunden wird -, dann sollten wir die Frage der Anhörung vielleicht nochmals bedenken. Da gibt es die eine oder andere neue Erfahrung. Aber insgesamt kann man wirklich nicht behaupten, daß das unser dringlichstes Problem wäre. Ich denke, daß die Verfahrensregelungen, die getroffen wurden, schon einen Sinn machen, bis auf die mit der stärkeren Repräsentanz von Frauen. Aber da bin ich wirklich gespannt, ob sie sich bewegen.
Die Überlegungen zum Anhörungsverfahren sollten wir nochmals in aller Ruhe anstellen. Dann, meine Damen und Herren, können wir vielleicht etwas dazu beitragen. Insofern darf ich alles unterstreichen, was hier schon gesagt wurde, daß das Bundesverfassungsgericht nun wirklich einen singulären Platz in unserem Staat und in unserer Gesellschaft einnimmt und daß es diesen Platz und auch die unangefochtene Stellung, von der wir hier alle profitieren - ganz egal in welchem Verfassungsorgan wir arbeiten -, behält.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Kleinert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das, was Frau Däubler-Gmelin zum Schluß gesagt hat, haben andere an anderer Stelle ihrer Rede genannt. Sie waren sich alle einig, wenn man davon absieht, daß es bei der Institution des Bundesverfassungsgerichts wie bei vielen anderen - nehmen wir nur unsere Parteien und Fraktionen - einen Auf- und Niedergang im Laufe der Zeiten gibt, von dem man sich meistens wieder erholt und der dialektisch verläuft. Wenn das Ganze dialektisch verlaufen soll, dann gehört dazu die Kritik etwa an nicht so überzeugenden Entwicklungen im Gericht. Aber abgesehen von dieser gewissen Bewegung an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes haben sie alle betont, daß an der Rolle des Bundesverfassungsgerichtes in unserer Gesellschaft und unserem Staat hier nicht ernsthaft Zweifel geäußert werden.
Insbesondere von denen, die ihre Reformvorschläge vorlegen - die so ganz neu, wie schon ausgeführt, nicht sind, sondern die immer wieder erwogen wurden -, werden nicht einmal die letzten Entscheidungen kritisiert. Vielmehr scheinen mir eher diejenigen, die in letzter Zeit besonders deutliche Kritik geübt haben, wenn ich Herrn Göhner richtig verstanden habe, eine etwas beharrende Rolle zu spielen. Das wird der Rolle einer konservativen Partei durchaus gerecht.
Aber die, die mit den letzten Entscheidungen besonders zufrieden sind, glauben nun, wir müßten einiges am Wahlsystem, einiges am Verfahren und an den Voraussetzungen für die Kandidatur ändern. Das ist schon einmal nicht so ganz überzeugend.
Wenn ich an dem Ergebnis dessen, was hier nunmehr seit Existenz der Bundesrepublik nach geltendem Verfahren abgewickelt wird, keine ernsthaften Zweifel habe, dann sollte ich mich sehr hüten, aus etwas theoretischen Erwägungen jetzt das Verfahren ändern zu wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Häfner?
Bei vier Minunten, glaube ich, kann ich mir das nicht erlauben.
Ich stoppe ja die Zeit.
Zwei Minuten dazu, und ich gestatte sie.
({0})
Nein, gehandelt wird nicht. Sie müssen sich schon entscheiden.
Herr Häfner, bitte. Ich kann ja nicht nein sagen.
Ich gebe zu, daß die Zwischenfrage die Debatte verlängert, weil sie etwas um die Ecke gestellt ist. Da Sie nun hier sind, Ihr Kollege Hirsch aber nicht, können Sie mir vielleicht sagen, was aus dem Entwurf geworden ist, der uns vor einem halben Jahr angekündigt wurde.
Sie haben die Zuständigkeit tadellos geschildert. Deshalb möchte ich auch, bevor ich mich auf Sacharbeit einlasse, auf die Zuständigkeit verweisen.
({0})
Detlef Kleinert ({1})
Das ist ganz astreine juristische Arbeit: zuerst die Zuständigkeit prüfen. Herr Hirsch ist für Ihre Frage zuständig.
Dieser Raum ist vom Architekten als besonders transparent wirkend gedacht. Ich finde, es ist ihm gut gelungen. Der Raum soll symbolisieren, daß die demokratischen Abläufe so durchsichtig wie möglich stattfinden sollen, so durchsichtig wie das -„Gemäuer" kann man bei dem vielen Glas ja gar nicht sagen -, was uns hier umgibt.
Herr Kollege, gehört das wirklich zum Thema, was Sie sagen?
Ja, das gehört zum Thema, Frau Präsidentin. Ich wollte nämlich sagen: Von daher liegt der Gedanke sehr nahe, daß Transparenz gerade bei so einer wichtigen Entscheidung wie der Wahl der Richter zum Bundesverfassungsgericht Platz greifen sollte und das dem Geist des Hauses in besonderer Weise entsprechen wird.
Nun muß man aber hier davor warnen, daß nur Scheinlösungen rein formaler Art angeboten werden. Die Begründetheit aller Argumente, die hier inzwischen vorgetragen worden sind, beruht darauf, daß sich die Redner den Sachverhalt so zurechtschneidern, daß er zur Begründetheit der Argumente führt.
Es ist also, Frau Däubler-Gmelin, ganz wunderbar, Ihnen zuzuhören und zu erfahren, daß es der Sicherheit der Kandidaten dient, die hier gewählt werden sollen, wenn sie vorher Gelegenheit haben, sich zu äußern.
Herr Kollege, jetzt ist Ihre Redezeit leider nicht nur vorbei, sondern überzogen. Ich gestatte Ihnen einen Schlußsatz.
Das war zu befürchten. - Ich wollte noch ganz kurz, Frau Präsidentin, folgendes sagen: Wenn man den Sachverhalt anders sieht, kommt man zu anderen Ergebnissen. Keiner weiß, wie die Abgeordneten dieses Hauses zu welcher Zeit mit welchen Kandidaten umzugehen gedenken - ob das so friedlich und freundlich vonstatten geht, wie Frau Däubler-Gmelin das dargestellt hat, oder ob es so läuft, wie das in den Vereinigten Staaten von Nordamerika des öfteren zu beobachten war.
Sosehr die Kontinente zueinanderwachsen und sosehr wir die Freundschaft mit den Vereinigten Staaten pflegen: In einigen Dingen hat Europa vielleicht doch noch etwas mehr Respekt vor der Würde des einzelnen, Respekt vor Bereichen, die zu schützen sind. Das gilt auch bei Kandidaten für das höchste Richteramt. An dieser Stelle wollen wir, wie unsere Nachbarn auch, diese gewisse Privatheit pflegen.
Das alles wollen wir aber in Ruhe im Ausschuß bedenken und sollten uns heute keineswegs so oder so entscheiden. Wir sind offen für die Beratung, wie das schon bei früheren Gelegenheiten - mit dem bekannten Ergebnis - der Fall war.
Danke schön.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat jetzt zum ersten Mal der Bundesminister für Justiz, Schmidt-Jortzig.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die öffentliche Diskussion um das Bundesverfassungsgericht ist gottlob ein bißchen aus den Schlagzeilen gekommen. Es wäre auch schlecht, wenn wir den Anlaß, den diese Debatte bietet, wieder in den Kontext der aufgeregten Diskussionen der Vergangenheit, in jene hitzigen Debatten stellten.
Aus meiner Sicht ist deshalb der Zeitpunkt für die Beratung der vorliegenden Entwürfe zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes gut gewählt. Ganz persönlich begrüße ich die heutige Debatte auch aus einem anderen Grund: Es ist mir ein schöner Zufall, daß meine Jungfernrede als Minister dem Bundesverfassungsgericht gilt.
Das Bundesverfassungsgericht ist, wie man weiß, ein Kernorgan unserer Grundordnung. Es genießt ein Höchstmaß an Vertrauen in der Öffentlichkeit und braucht dieses Vertrauen auch in besonderem Maße. Es hat - in Reaktion auf das nationalsozialistische Unrechtsregime, auf die Defizite im Weimarer System - eine starke und unabhängige Stellung inne.
Es kann für sich in Anspruch nehmen, seit nunmehr 45 Jahren die Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik und damit die Entwicklung unseres Gemeinwesens konstruktiv begleitet, gesichert und weitreichend mitgestaltet zu haben.
Es ist deshalb das Verfassungsorgan, das nicht nur meiner Hochachtung, meiner Sympathie und meiner Unterstützung in jeder Weise sicher sein kann, sondern den Respekt und die Toleranz aller, gerade auch aller Abgeordneten, verdient hat.
Damit kein Mißverständnis aufkommt: Kritische Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist selbstverständlich, ja notwendig. Notwendig ist es auch, sich mit gesetzgeberischen Vorschlägen auseinanderzusetzen, die darauf abzielen, die Autorität des Verfassungsgerichts zu stärken und zu festigen und damit die Akzeptanz ihrer Entscheidungen aufrechtzuerhalten oder sogar weiter zu erhöhen.
Ich möchte nicht darauf eingehen, ob die verfassungsrechtlichen Argumente, die gegen das seit 1951 praktizierte indirekte Verfahren der Wahl der Verfassungsrichter vorgebracht und auch in den vorliegenden Entwürfen aufgegriffen werden, stichhaltig sind. Das Bundesjustizministerium hat stets mit guten Gründen die Ansicht vertreten, das seit 45 Jahren praktizierte Wahlverfahren könne verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden.
({0})
Es sind, wenn man genau hinschaut, in der Tat nicht verfassungsrechtliche, sondern verfassungspolitische Gesichtspunkte, die auch im Zusammenhang
mit den hier zur Diskussion stehenden Anträgen eine eingehende Erörterung verdienen. Es geht, so wird vorgebracht, um die Asymmetrie zwischen Kompetenzfülle und demokratischer Legitimation des Verfassungsgerichts. Die doppelte Vermittlung des Volkswillens - Wahl der Abgeordneten durch das Volk, Wahl des Wahlausschusses durch die Abgeordneten - wird als ebenso unzulässig empfunden wie ein möglicher Mangel an Transparenz, der die demokratische Kontrolle erschweren kann.
Wir sollten, meine Damen und Herren, diese Kritik ernsthaft diskutieren und erwägen. Wenn das Parlament meint, irgend etwas könne die Autorität des Bundesverfassungsgerichts stärken, sollte es eine solche Reform beherzt anpacken.
Ich will es mir ansonsten, auch wenn die Erwartung, die Sie, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, geäußert haben, schmeichelhaft war
({1})
und an anderen Ecken gerne aufgenommen würde, versagen, auf die Entwürfe näher einzugehen, weil es eine vorrangige Sache des Parlaments ist, sein Richterwahlverfahren selber zu gestalten.
Ich möchte nur noch auf einen Gesichtspunkt - nehmen Sie mir nicht übel, Frau Kollegin, daß ich auch da schon vorausgeahnt hatte, was Sie sagen würden -, nämlich die Frage einer gesetzlich festgeschriebenen Frauenquote, zu sprechen kommen. Wie auch meine Vorgängerin bin ich selbstverständlich der Ansicht, daß wir nie genug Kandidatinnen mit ihren besonderen Fähigkeiten und ihren spezifischen Lebenserfahrungen für unser höchstes Gericht haben können. Die derzeitige Besetzung des Gerichts zeigt aber, daß die Anstrengungen dazu erfolgreich sind. Im Ersten Senat sind drei, im Zweiten Senat zwei Richterinnen vertreten; mit Frau Professor Limbach hat die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes ihr Amt angetreten. Dies wurde ohne gesetzlich festgeschriebene Quote erreicht. Auf diesem Weg sollten wir weitergehen.
Meine Damen und Herren, das Verfahren für die Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts ist zu wichtig, als daß seine Strukturen von tagespolitischen Aufgeregtheiten über einzelne Richterwahlen oder gar aktuell von einzelnen Entscheidungen oder Reaktionen darauf beeinflußt werden sollten. Ich bin aber zuversichtlich, daß es dem Parlament gelingen wird, die ihm übertragene Richterwahl so zu gestalten, daß das Verfassungsgericht dabei gewinnt. Die Ausschußberatungen sind dafür eine gute Gelegenheit.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 13/2088 und 13/2686 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Klaus-Jürgen Warnick und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Nutzerinnen und Nutzer von Grundstükken in den neuen Bundesländern ({0})
- Drucksache 13/2822 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann wird so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Warnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich heute hier richtig privilegiert mit zehn Minuten Redezeit. Das ist völlig ungewöhnlich und gibt mir die Chance, ein paar Daten und Fakten zu diesem Thema zu nennen.
In der Debatte zur Erweiterung des Kündigungsschutzes wurde ja bemängelt, daß keine Daten genannt werden konnten. Ich möchte einmal fragen: Wer ist denn für die Beschaffung von Daten eigentlich verantwortlich? Sind es die Verbände? Sind es die Organisationen? Ist es der einzelne? Oder ist es nicht vielmehr die Bundesregierung?
Die Beweislage wird doch hier umgedreht. Weil ich als einzelner Betroffener in der Gegenwart nicht beweisen kann, daß in Zukunft Zehntausende aus ihren Wohnungen vertrieben werden, wird ein Gesetz gegen diese Betroffenen gemacht. Weil ich als Organisation - ich meine zum Beispiel den Mieterbund - keine millionenschweren Umfragen in Auftrag geben kann, werden Gesetze einfach auf Verdacht gemacht.
Es wäre doch Aufgabe der Bundesregierung gewesen, erst diese Daten zu besorgen. Ich denke, es gilt immer noch der Grundsatz: im Zweifel zugunsten des Angeklagten. Hinterher zu sagen: ,,Ja, wenn wir gewußt hätten, daß der Fall so und so liegt, wenn wir diese Daten gehabt hätten, hätten wir ganz' anders gehandelt", das ist Etwas zu billig.
Man kann wohl auch im Zweifel sein, ob man auch bei Vorhandensein von vielen Daten anders gehandelt hätte und ob nicht für einige Abgeordnete die sture Ideologie wichtiger gewesen wäre.
Um die Brisanz der offenen Vermögensfragen noch einmal deutlich werden zu lassen, möchte ich hier einige Fakten nennen. Anfang August 1990 war ich im Bundesjustizministerium. Wir haben dort die Probleme vorgetragen und von einer Million Menschen gesprochen, die in Zukunft von diesen offenen
Vermögensfragen betroffen sein werden. Da hat man uns ausgelacht.
Die Realität heute, 1996, ist in offiziellen Zahlen des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen: 2,3 Millionen Rückübertragungsansprüche auf Häuser und Grundstücke. Das macht bei zwei Personen pro Anspruch über 4,5 Millionen Betroffene aus, und das ist weit über ein Viertel der Bevölkerung in den neuen Bundesländern.
Brandenburg hat im Speckgürtel um Berlin - wir haben da 15 Kilometer gerechnet - 23 eigenständige Orte und 24 Ämter mit 155 Orten. Dort lebten 1994 nach dem Statistischen Jahrbuch 738 294 Menschen. Laut Statistik des Bundesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen von 1994 gab es 581 000 Rückübertragungsansprüche auf Häuser und Grundstücke in Brandenburg. Wenn man wiederum zwei Personen pro Anspruch rechnet, sind das 1,2 Millionen Betroffene bei einer Bevölkerungszahl von 2,5 Millionen.
Wenn ich nur davon ausgehe, daß 40 Prozent dieser Betroffenen im Speckgürtel leben, sind es 500 000 bei einer Bevölkerungszahl von 738 000. Was das bedeutet, muß man sich einmal vorstellen. Ich glaube, bis heute haben das viele in Ihrer Fraktion nicht begriffen.
Diese Zahlen belegen auch, daß es ein unsinniges Gerede ist, wenn man von einer Sondersituation spricht, die es nur in Kleinmachnow gebe. Kleinmachnow ist ja in den letzten Tagen wieder häufig in den Medien gewesen. Da lebten nämlich - obwohl größte Kommune der DDR - Ende 1988 nach dem Statistischen Jahrbuch der DDR nur 12 169 Einwohner und keine 500 000, die jetzt betroffen sind.
Hier kann ich mit konkreten Zahlen der Vertreibung Einheimischer aufwarten. Am 30. Juni 1990 hatten wir dort 11 720 Einwohner. Obwohl bis zum 30. Juni 1994 etwa 800 Leute aus den alten Bundesländern und Westberlin zugezogen sind, hat sich die Bevölkerungszahl auf 11 150 verringert. Das sind also 570 weniger trotz 800 Personen, die zugezogen sind. Im Sommer 1994 hatten wir also schon 1 370 Einwohner weniger. Am 31. Dezember 1994 war die Bevölkerungszahl trotz des Zuzugs von etwa 1 000 Einwohnern schon auf 11 060 Einwohner gesunken. Da waren es also schon 1 660 weniger. Für 1995 gibt es noch keine Angaben. Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen. Auch er geht davon aus, daß im Jahre 1995 noch etwa 950 Bürger weggezogen sind, so daß von den früher 12 000 Einwohnern mittlerweile knapp 2 500 fehlen. Bis Ende dieses Jahres werden es mindestens 3 000 sein.
Über ein Viertel der Bevölkerung wurde durch Ihre Politik von dort vertrieben. Wer dort seit Jahrzehnten, seit 20, 30 Jahren und länger, gelebt hat, ist nicht freiwillig gegangen; das kann ich Ihnen sagen. Ähnlich sieht es in den meisten Kommunen um Berlin aus.
Was hat uns das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung gekostet? Jedes Jahr müssen 1 Milliarde DM für die Ämter für offene Vermögensfragen und in den Kommunen für die AROVs und die LAROVs ausgegeben werden. Das sind utopische Summen. Die anderen Kosten, die ausfallenden Investitionen, sind noch viel höher zu beziffern. Eine Entschädigungsregelung wäre wesentlich billiger gewesen. Sie hätte wesentlich weniger menschlichen Schaden angerichtet und wäre der deutschen Einheit - ({0})
- Nein, sie hätte wesentlich weniger gekostet. Alle seriösen Leute bestätigen das.
Heute bestreitet kaum noch jemand, daß das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung falsch gewesen ist. Wenn wir heute vor der Entscheidung stünden, würden wir, so denke ich, in der Masse nicht mehr so entscheiden. Dies gilt bis auf einige wenige Gestrige, denen die Ideologie wahrscheinlich wesentlich wichtiger wäre als das Gelingen der deutschen Einheit.
Aus dieser Erkenntnis heraus sollte man überlegen, was heute noch reparierbar ist, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Hier kann man noch eine ganze Menge tun. Wir müssen die Fehler erkennen und überlegen, was wir heute noch verbessern können.
Den Kündigungsschutz in Gebieten mit einer hohen Anzahl von Restitutionen könnte man auch noch im nachhinein verlängern. Man könnte noch Sonderregelungen für besonders betroffene Gebiete schaffen; dies müßte man meiner Meinung nach auch tun.
Der wohnungspolitische Sprecher der CDU des Landtages von Brandenburg hat mir in der vorigen Woche in einer Live-Sendung mitgeteilt, er wäre dafür, daß der Bauminister Brandenburgs, SPD, mit Herrn Töpfer darüber redet, solche Sonderregelungen zu schaffen. Anscheinend reden die wohnungspolitischen Sprecher der Landtage überhaupt nicht mit den Verantwortlichen im Bundestag. Ansonsten wäre so etwas kaum vorstellbar.
Ich bin der Meinung, das alle Überlassungsverträge in das Sachenrecht gehören. Gerade die Leute mit den Überlassungsverträgen gehören zu den großen Verlierern dieses Vermögensprogramms.
Auch die unsinnige 500-Quadratmeter-Regelung im Sachenrecht, § 26, müßte meiner Meinung nach beseitigt werden. Man muß sich einmal überlegen: 1969 hätte man schon wissen müssen, daß die DDR im Jahre 1978 ein Gesetz schafft, in dem festgelegt wird, daß man in der Regel nur 500 Quadratmeter vergeben soll. Man hätte wissen müssen, daß 1989 die deutsche Einheit kommt und 1994 ein Sachenrechtsbereinigungsgesetz auf den Weg gebracht wird. Das ist völliger Unsinn.
Im Vermögensrecht müssen die willkürlichen Stichtage beseitigt werden. Hierzu laufen beim Bundesverfassungsgericht Anträge auch des Landes Brandenburg. Das Bundesverfassungsgericht war schon oftmals für Überraschungen gut. Vielleicht erleben wir auch hier eine solche Überraschung.
Sie müssen sich das einmal vorstellen: Ein notarieller Vertrag wurde am 14. Juni 1990 unterzeichnet. Am 15. Juni wurde bei der Gemeinde die Bezahlung vorgenommen. Dieser Fall fällt ins Sachenrecht. - Ich kenne auch einen anderen Fall: Am 15. wurde der Vertrag geschlossen, am 14. allerdings schon bezahlt. Dies fällt nicht ins Sachenrecht. Das ist völliger Unsinn und völlig willkürlich.
Das Schuldrechtsänderungsgesetz muß geändert werden. Es kann nicht sein, daß ein Nutzer nicht entschädigt wird, wenn er sein Nutzungsrecht aus finanziellen Gründen aufgeben muß. Das widerläuft dem gesamten Schuldrechtsänderungsgesetz. Die Nutzungsentgeltverordnung muß deswegen dringend geändert werden. Was nützt denjenigen, die am 3. Oktober 1990 60 Jahre alt waren, ein lebenslanger Kündigungsschutz, wenn sie das Recht aus finanziellen Gründen aufgeben müssen und nicht einmal dafür entschädigt werden, weil gesagt wird: Du hast dein Recht freiwillig aufgegeben? Das kann auf keinen Fall so bleiben.
Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen. Sonst könnte man hier stundenlang darüber debattieren. Ich denke, diese Diskussionen gehören in die Ausschüsse. Ich hoffe, daß es uns gelingt, die negativen Folgen dieses falschen Prinzips abzumildern. Die Folgen werden von den Menschen nie völlig vergessen werden. Es wäre aber zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.
Ich hoffe, daß wir hier einige Zugeständnisse bekommen. Ich habe das Gefühl, der Groschen fällt bei vielen Politikern in Bonn nur zehntelpfennigweise, aber manchmal fällt er wenigstens. Ich hoffe auch hier, daß es uns noch gelingt, Veränderungen durchzusetzen.
Zum Schluß möchte ich noch aus einer Presseinformation von Bundesbauminister Töpfer zitieren. Er sagt darin, daß die privaten Vermieter kein Interesse an einer Eigenbedarfskündigung hätten. Das ist eine Erhebung aus dem Jahre 1992. Ich muß ihm bestätigen, daß das natürlich in Bereichen, in denen die Verkehrswerte relativ niedrig sind, in denen das unattraktiv ist, zutrifft.
Aber ein Vermieter hat überhaupt kein Interesse daran, in einem Gebiet, in dem er für den Quadratmeter 600 oder 800 DM erreichen kann, dieses Haus bzw. dieses Grundstück jahrelang zu vermieten. Wenn er 800 DM Miete im Monat bekommt und 300 bis 400 DM hineinstecken muß, dann bleibt ihm ein Gewinn von 400 DM im Monat. Das sind 5 000 DM im Jahr. Wenn er die Mieter oder die Nutzer aus dem Grundstück herausbekommt und für dieses Grundstück eine halbe oder eine dreiviertel Million bekommen kann, dann hat er sehr wohl ein Interesse daran, dieses Grundstück mieterfrei oder nutzerfrei zu bekommen. Da sind ihm auch ziemlich alle Methoden recht, ganz eindeutig. Man kann also nicht sagen, daß hier kein Interesse an einer Eigenbedarfskündigung vorliegt. Das liegt sehr wohl vor.
Man muß einfach berücksichtigen, daß es Sondersituationen gibt. Man kann nicht alles über einen Kamm scheren. In Mecklenburg-Vorpommern oder in Sachsen-Anhalt oder bei Ihnen unten im Erzgebirge, wo die Arbeitsplätze äußerst rar sind, sieht die Situation völlig anders aus. Aber auf besondere Bedingungen muß man auch mit besonderen Gesetzen reagieren. Da kann man nicht die Gesetze mit der Gießkanne machen und sagen, das gilt für alle Gebiete gleich. Wenn es Gebiete gibt, wo besondere Gesetze erforderlich sind, dann müssen wir sie auch haben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Ich erteile nun das Wort dem Abgeordneten Dr. Michael Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Warnick, als ich mich während Ihrer Rede auf meine Rede hier vorbereitet habe, habe ich einen Moment lang überlegt, ob ich jetzt zum selben Tagesordnungspunkt rede wie Sie. Ich erinnere noch einmal: Es geht um das Nutzerschutzgesetz, das heißt um eine Vorlage, die Sie eingebracht haben. Als ich mich auf dieses Thema vorbereitete, habe ich mir überlegt: Wieso reden wir denn schon wieder über das Nutzerschutzgesetz? Wir haben doch soeben den Antrag des Bundesrates zum Nutzerschutzgesetz hier im Deutschen Bundestag in erster Lesung behandelt
({0})
und haben noch vor Weihnachten mit Berichterstattergesprächen zu diesem Thema begonnen. Aber vielleicht findet sich in Ihrem Gesetzentwurf etwas Neues, und deswegen habe ich versucht, das, was in Ihrer Gesetzesvorlage steht, sehr aufmerksam zu lesen.
Ich darf an dieser Stelle den ersten Satz aus Ihrer Begründung zitieren, der mir vieles sehr viel deutlicher gemacht hat. Ich zitiere:
Der Versuch, die Vermögensveränderungen, die zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 2. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern stattgefunden haben, zurückabzuwickeln, teilweise für Unrecht zu erklären, teilweise als unredlich darzustellen und generell zu „offenen Vermögensfragen" zu erklären .. .
Meine Damen und Herren, wissen Sie, was Sie mit diesem einen Satz zum Ausdruck gebracht haben? Daß das Enteignungsunrecht, das in der DDR geschehen ist, heute als Unrecht dargestellt wird, das wollen Sie verurteilen.
({1})
Das verstehe ich nicht. Aber ich verstehe natürlich eines - und in diesem Sinne bedanke ich mich auch recht herzlich dafür, daß Sie diesen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt haben -:
({2})
Daraus wird nämlich Ihr Wille deutlich und klar. Sie wollen sozialistische Eigentumsverhältnisse sichern.
({3})
Sie wollen das private Eigentum vernichten.
({4})
Auch die Methoden gehen aus dem Gesetzentwurf hervor, nämlich Enteignungen oder Verfügungsbeschränkungen, das, was bereits alles erlebt wurde. Das Ergebnis kennen wir, es ist katastrophal. Ich sage es klar: Das ist das, was wir in der DDR erlebt haben,
Meine Damen und Herren, in Ihrer Begründung machen Sie noch etwas falsch. Sie haben nämlich geschrieben „in den neuen Bundesländern" . Von dem Zeitraum, über den Sie dort reden, müssen Sie richtigerweise nicht von den „neuen Bundesländern" reden, sondern von der DDR oder von der Diktatur des Proletariats.
({5})
Dann würde das Zitat richtigerweise lauten: Der Versuch, die Vermögensveränderungen, die zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 2. Oktober 1990 während der Diktatur in der DDR stattgefunden haben, zurückabzuwickeln - - Ich denke, das ist dringend notwendig;
({6}) denn es ist Unrecht geschehen.
Aber - das will ich dazusagen - das Unrecht, das geschehen ist, ist vor dem Hintergrund geschehen, daß in diesem Land, den heutigen neuen Bundesländern, Menschen leben, die diese Geschichte mitgemacht haben. Diese Menschen und ihre Schicksale, die sich damit verknüpfen, müssen in der Diskussion beachtet werden.
Dieser Aufgabe haben wir uns als Koalition, haben wir uns als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern, hat sich die Bundesregierung in den letzten fünf Jahren gestellt.
Meine Damen und Herren, ich habe bisher nur den einleitenden Satz zitiert. Ich will auch zeigen, daß das richtig ist, was ich soeben vorgetragen habe und wie ich es bewertet habe. Was fordern Sie denn? Sie fordern nicht viel anderes als das, was im Nutzerschutzgesetz steht. Ich sagte bereits, dazu machen wir ein Berichterstattergespräch, und dann wäre die heutige Debatte nicht notwendig gewesen.
Gibt es ein paar neue Punkte? Ich habe tatsächlich einen neuen Punkt gefunden. Ich war richtig erstaunt, als ich diesen, nämlich Ihren ersten, gelesen habe. Sie wollen einen neuen Restitutionstatbestand einführen, indem Sie sagen, daß Schenkungen, weil Menschen in der DDR ihr Eigentum nicht halten konnten und es deshalb dem Staat geschenkt haben, einfacher zurückgeführt werden sollten. Das ist interessant.
Ist die PDS deshalb zur Eigentümerpartei geworden? Das ist eine Frage, die sich mir gestellt hat.
({7})
Ich will das erläutern. Wir müssen das in Verbindung mit weiteren Punkten Ihres Antrags sehen. Sie gehen auch auf das Problem der Verfügungsbeschränkung des § 3 Abs. 3 des Vermögensgesetzes ein. Sie sagen ganz einfach, daß dann keine Verfügungsbeschränkung bestehen soll, wenn es sich um eine Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage handelt oder wenn redlicher Erwerb vorgelegen hat. Das ist ganz hervorragend.
Aber Sie vergessen wiederum: Wir leben nicht in der DDR, sondern in einem Rechtsstaat. In der DDR war es einfach, da konnte der Parteisekretär festlegen, was richtig und was falsch ist. Hier entscheiden darüber Instanzen, Gerichte, Gott sei Dank.
Die Feststellung, ob es besatzungsrechtliche oder besatzungshoheitliche Enteignung ist, kann letztendlich erst das Gericht oder eine andere Instanz des öffentlichen Rechts tun. Erst dann ist festgestellt, daß tatsächlich kein Restitutionsanspruch besteht.
Enteignungen - das ist nichts Neues, das steht bereits im Vermögengesetz - auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage sind kein Restitutionstatbestand, und da kann nicht zurückgegeben werden. In diesem Sinne ist das, was Sie schreiben, plakativ, klingt gut, ist jedoch reiner Populismus und daher wirkungslos.
Ihr Antrag geht weiter. Sie wollen Modernisierung und Instandsetzung auch dort ermöglichen, wo es einen Restitutionsantrag gibt; denn Sie sagen, die Verfügungsbeschränkung behindert Investitionen und bringt Menschen in dem Sinne in eine schwierige Situation, daß sie in einem Haus wohnen, das nicht modernisiert wird.
Das ist tatsächlich ein Problem. Darüber müssen wir reden. Es stellt sich bei dem, was Sie vorschlagen, die Frage: Was passiert dann? Welche Chancen hat derjenige, dem Sie durch ein erleichtertes Restitutionsverfahren - siehe Punkt 1 - das Eigentum besser zurücküberführen wollen, nachdem in diesem Haus modernisiert oder instandgesetzt wurde?
Kann der zu DDR-Zeiten Schenkende das Haus überhaupt übernehmen? Ist er kreditfähig? Er muß möglicherweise die Kreditbelastung auf diesem Haus auf Grund der Instandsetzung oder Modernisierung übernehmen. Kann er das überhaupt leisten? Wie sieht es auf Grund der Mieteinnahmen mit seiner Kostendeckungsversion aus? Hätte er nicht eine Modernisierung oder Instandsetzung anders führen können, beispielsweise mit mehr Eigenleistung, oder die Sanierung stufenweise vornehmen sollen?
All diese Entscheidungen werden durch einen solchen Vorschlag, wie Sie ihn unterbreitet haben, dem Antragsteller, dem Restitutionsberechtigten abgenommen. Er hat letztendlich nur eine Chance: Entweder nimmt er an und kann die Modernisierung
bzw. Instandsetzung mit den Kosten übernehmen oder er muß die Restitution ausschlagen.
Das Ganze würzen Sie mit einem weiteren Schritt. Sie wollen unkündbare Mietverhältnisse bis zum Jahre 2000 einführen, unabhängig davon - ich habe versucht, das nachzuvollziehen -, ob der Mieter Miete zahlt oder nicht, oder ob er einer Mieterhöhung zustimmt oder nicht oder ob er den Gebrauchsgegenstand Mietwohnung ordentlich nutzt oder nicht.
All diese Dinge stehen im BGB. Dort steht ja nicht, daß ich morgen jemandem die Wohnung in einem Mehrfamilienhaus kündigen kann, sondern es sind Ausnahmebedingungen genannt, wann ich das darf, und die wollen Sie aushebeln.
Meine Damen und Herren, auch das ist mir nicht neu. Deswegen haben die Leute zu DDR-Zeiten ihr Haus verschenkt. Denn sie durften zwar Eigentümer sein, aber nur dann, wenn sie alle Kosten trugen und keine Rechte hatten. Das ist Sozialismus, und das geht letztendlich nicht.
Meine Damen und Herren, diese zwei Beispiele sollen genügen, um das, was Sie aufgeschrieben haben, aus meiner Sicht zu bewerten. Wir werden die Ideen, die Vorschläge, die Sie haben, natürlich mit in das Berichterstattergespräch einfließen lassen. Ich denke, daß wir dort miteinander ein ganzes Stück weiterkommen werden und daß wir auch weiterkommen müssen.
Ich sehe an vielen Stellen auch Handlungsbedarf. Diesen will ich bei dieser Gelegenheit ganz kurz in vier Punkten formulieren.
Erstens. Im Nutzerschutzgesetz des Bundesrates wird auf die Heilungsklausel bei zivilrechtlichen Mängeln in Verträgen - wenn Eigentumswechsel, redlicher Erwerb stattgefunden hat - hingewiesen und eingegangen. Dabei wird auch die Rechtsprechung von obersten Bundesgerichten einbezogen. Die Situation, die vor einem Dreivierteljahr gegeben war, hat sich durch diese Rechtsprechung aktualisiert und ist eine andere geworden. Aber - das sage ich auch ganz deutlich - dies hat noch nicht alle Fälle gelöst. Aus meiner Sicht ist eine Lösung, wie im Nutzerschutzgesetz der Länder formuliert, nicht möglich. Aber es muß in dieser Richtung eine Lösung erfolgen.
Zweitens. Die Verfügungsbeschränkung des § 3 Abs. 3 Vermögensgesetz. Auch hier, habe ich gesagt, gibt es Probleme. Diese Probleme wollen und müssen wir ebenfalls aufgreifen. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir allen Seiten gerecht werden, demjenigen, der investieren möchte und muß, demjenigen, der in der Wohnung wohnt, dem Mieter, und demjenigen, der restitutionsberechtigt ist und wieder in sein Eigentum kommen will. Auch hierzu gibt es Überlegungen und Vorstellungen. Ich denke, auch hierüber werden wir im Berichterstattergespräch reden müssen.
Einige Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz stellen, sind noch nirgendwo angesprochen worden. Dies sind technische, aber auch inhaltliche Fragen. Auch sie werden wir in diesem Zusammenhang diskutieren müssen.
Es gibt ein weiteres Problem, auf das ich aufmerksam gemacht wurde. Dabei handelt es sich um die Erbausschlagung wegen drohender Überschuldung. Wir müssen - lassen Sie mich das kurz in einem Satz sagen - sicherstellen, daß die Überführung ins Volkseigentum bei einer Erbausschlagung wegen drohender Überschuldung und die anschließende Restitution gesichert bleiben.
Meine Damen und Herren, die Koalition ist über diese Fragen seit längerem im Gespräch. Die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern haben den Handlungsbedarf bereits im letzten Jahr auf ihrer Klausurtagung in Berlin angemeldet. Wir diskutieren seither über die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten. Aber ich denke, im Zusammenhang ist auch deutlich geworden, daß das Thema sehr kompliziert ist und daß man genau darauf achten muß, mit welcher Regelung man versucht, die Probleme zu lösen. Aber ich bin mir sicher, daß wir eine Lösung finden werden.
Herr Bundesminister Schmidt-Jortzig, gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit, daß ich Ihnen erstens für Ihr neues Amt alles Gute wünsche. Zweitens freue ich mich auf die Zusammenarbeit insbesondere auch in bezug auf das Nutzerschutzgesetz und auf die Fragen, die ich eben aufgeworfen habe. Ich hoffe, daß wir gemeinsam zu einer Lösung kommen werden.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile dem Abgeordneten Hans-Joachim Hacker das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Warnick wollte wieder an einigen Stellen überholen, ohne einzuholen. Und Sie, Herr Luther, kommen bei der Lösung dieser drängenden Fragen aus dem Schneckentempo nicht heraus. Diese Dinge harren ja nun in den neuen Ländern seit über fünf Jahren dringend einer Regelung. Wenn Sie hier sagen, Sie hätten sich mit der Problematik beschäftigt und sogar in einer Berliner Klausurtagung die Problematik erörtert, dann frage ich Sie: Wo sind Ihre konkreten Vorschläge? Wo ist Ihr Gesetzentwurf? Die Frage richte ich noch stärker an den Justizminister, den auch ich ganz herzlich grüße. Wo ist der Gesetzentwurf des Justizministeriums zu diesem Problem?
Herr Dr. Luther, ich finde es gut, daß Sie nicht nur auf den heutigen Trommelwirbel des Herrn Warnick, sondern insbesondere am Ende Ihrer Ausführungen auf die Substanz der Vorschläge der PDS eingegangen sind, denn ich meine, es ist auch Substanz in dem Gesetzentwurf enthalten. Ich habe auch genug Kritikpunkte. Ich glaube, in dem Berichterstattergespräch - wir haben leider erst eines zustande gebracht - haben wir deutlichen Behandlungsbedarf festgestellt und sind auch ein Stück weitergekomHans-Joachim Hacker
men. Ich werde im Detail nachher noch an einigen Stellen darauf zu sprechen kommen.
Aber wir müssen uns immer wieder bewußt werden, daß die Probleme, über die wir heute reden, aus der Uneinsichtigkeit der Bundesregierung resultieren, Lebensrealitäten in den neuen Ländern wahrzunehmen und im Sinne der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands zu regeln. Das begleitet uns jetzt im sechsten Jahr der deutschen Einheit. Das müssen wir doch erst einmal zur Kenntnis nehmen.
Ein zentrales Feld des Versagens der Bundesregierung und auch der Koalitionsfraktionen ist der Bereich der Vermögens- und Restitutionsfragen. Da hat die PDS recht. Die Kritik geht zu Recht dahin, daß die Grundsatzentscheidung Rückgabe vor Entschädigung falsch war. Sie war ein Investitionshemmnis, eine Blockade erster Ordnung und hat zu andauernden Widerspruchsverfahren und Gerichtsprozessen geführt. Das ist die politische Bewertung, in die Sie jetzt einstimmen sollten. Diesen Fehler sollten Sie einsehen. Es hilft nichts, Sie müssen das bestätigen. Wir müssen heute über Lösungen nachdenken, die in diesem Hause zum Teil bereits diskutiert wurden, nämlich über Vorschläge aus dem Bundesrat und aus der SPD-Fraktion.
Wir haben seit 1990 zahlreiche parlamentarische Initiativen ergriffen, um zu sozialverträglichen Lösungen bei der Regelung der widerstreitenden Interessen, die wir vorfinden, zu kommen. Ich muß heute feststellen, daß trotz der Teilerfolge bei einzelnen Vorschriften nach wie vor ein dringender Handlungsbedarf besteht. Dieser wird von den Ländern, von den Kommunen und von den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern eingefordert. Wir, die Sozialdemokraten, stellen uns dieser Herausforderung.
({0})
Sowohl der Bundesrat als auch die SPD-Bundestagsfraktion haben Vorschläge eingebracht. Diese Vorschläge sollten zusammen mit dem heute von der PDS eingebrachten Vorschlag beraten werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der von der PDS am 31. Oktober 1995 eingebrachte Gesetzentwurf veranlaßt mich zu einer Randbemerkung, insbesondere in die Richtung der Kollegen von der PDS. Ich meine, nicht nur die Überschrift, sondern auch wesentliche Regelungsvorschläge in Ihrem Gesetzentwurf sind zum Teil wörtlich aus dem Gesetzentwurf des Bundesrates, wobei der Initiator das Land Brandenburg war, übernommen worden. Ich will an dieser Stelle nicht auf die Frage der Urheberschaft und der Urheberrechte bei den einzelnen Vorschlägen eingehen. Die von mir erwähnte Tatsache mag damit zusammenhängen, daß Sie, Herr Warnick, aus Brandenburg kommen. Für mich steht alles unter der Überschrift: Wenn es der Sache dient, dann sollten wir darüber beraten.
Ich will an dieser Stelle die Vorschläge hervorheben, zu denen von meiner Fraktion eine zustimmende Position eingenommen wird, zumindest soweit es um die Zielrichtung und den Grundansatz geht. Ich meine insbesondere die vorgeschlagene Regelung zu § 3 Abs. 3 des Vermögensgesetzes, nämlich die Erweiterung der Ausnahme von der Verfügungssperre. Herr Dr. Luther hat bereits gesagt: Wir sind im Gespräch. Wir sind bei unseren Gesprächen eigentlich weiter, als er es hier dargestellt hat. Ich möchte Sie, Herr Dr. Luther, ermuntern: Seien Sie ruhig mutig, gehen Sie diesen Weg in der Berichterstatterrunde weiter.
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Ich glaube, wir haben die Sache schon etwas bewegt.
Ich meine, daß diese Vorschläge der PDS genau auf der Linie des Bundesrates und der SPD-Bundestagsfraktion liegen. Wir sollten die Ecken und Kanten noch einmal ausloten und versuchen, eine Regelung zu finden. Bei der Änderung des Investitionsvorranggesetzes hinsichtlich der Ausweitung des Begriffs des besonderen Investitionszwecks bei Investitionen im Wohnraum sollte eine Regelung gefunden werden.
Für mich bleibt an dieser Stelle unverständlich, warum die PDS in ihren Gesetzentwurf nicht die Modernisierung aufnimmt. Herr Dr. Luther hatte sich eben stark dagegen ausgesprochen. Ich glaube, hierüber müssen wir noch einmal diskutieren, und vielleicht können Sie sich in dieser Hinsicht auch noch ein Stück bewegen. Ich glaube, gerade in diesem Bereich besteht ein ganz großer Nachholebedarf in den neuen Ländern. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen, vor allem vor dem Hintergrund, daß in den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen noch über Jahre mit Entscheidungsprozessen zu rechnen sein wird. Wir müssen uns hier der Lebensrealität, wie sie heute in den neuen Ländern existiert, stellen und dann über die Einzelregelungen diskutieren.
Ich sehe auch dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich einer Heilungsvorschrift für zivilrechtliche Mängel bei Grundstücksveräußerungen während der DDR-Zeit. Auch dieser Regelungsvorschlag der PDS wird hinsichtlich der Zielrichtung von meiner Fraktion nachdrücklich unterstützt.
Ich muß allerdings sagen, daß der Vorschlag der PDS auf Bedenken stoßen muß, wenn auf geltender Rechtsgrundlage getroffene gerichtliche Entscheidungen, bei denen schon die Rechtskraft eingetreten ist, aufgehoben werden sollen. Ich habe da große Probleme und muß bei aller Kritik an den Mängeln beim Grundstücksverkehrsverfahren während der DDR-Zeit und bei aller Kritik gegenüber der konservativen Politik, die in diesen Fragen in den letzten Jahren betrieben worden ist,
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feststellen, daß rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen in diesem Hause eigentlich nicht mehr zur Disposition gestellt werden können. Welches Rechtsstaatsverständnis, Herr Warnick, hat bei der vorgesehenen Regelung in Art. 5, das heißt der vorgeschlagenen Ergänzung des Art. 233 EGBGB, Pate gestanden? Das frage ich Sie, meine Damen und Herren von der PDS.
Ich kann mit Blick auf die Uhr nicht auf alle Vorschläge eingehen, sondern möchte noch auf zwei Punkte zu sprechen kommen, die für mich aus rechtspolitischer Sicht von Bedeutung sind und wo ich erhebliche Probleme sehe.
Im Vermögensgesetz soll durch Änderung des § 1 Abs. 2 geregelt werden, daß auf der Grundlage des geltenden Rechts abgewiesene Anträge auf Restitution erneut gestellt werden können. Ich persönlich sehe die Notwendigkeit einer solchen Regelung durch die gegenwärtige Verwaltungspraxis eigentlich nicht bestätigt. Ich meine zum zweiten, daß hier auch rechtsstaatliche Prinzipien in Frage gestellt werden. Lassen Sie uns das im Berichterstattergespräch noch einmal diskutieren. Ich habe erhebliche Probleme mit diesem Vorschlag.
Zum anderen ist für § 4 Abs. 2 Vermögensgesetz vorgesehen, einen Rechtsschutz für Kaufverträge zu schaffen, die vor dem 3. Oktober 1990 geschlossen worden sind, die auch nach meiner Auffassung hätten Rechtskraft erlangen müssen, aber wegen der fehlerhaften Gesetze, die in der letzten Legislaturperiode von diesem Bundestag verabschiedet worden sind, bis heute keine Rechtskraft erlangt haben. Diese Kaufverträge sollen also Rechtskraft erlangen. Ich habe in diesem Falle gleichfalls verfassungsrechtliche Bedenken; denn wenn wir für diese Verträge Rechtsschutz schaffen, greifen wir in eine Rechtsbestandsgarantie ein, die der Gesetzgeber - bei aller Kritik, die wir dagegen ausgesprochen haben - den Restitutionsberechtigten nun einmal zuerkannt hat.
Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Das ist im Grunde genommen der Fluch der bösen Tat der Koalition in der letzten Legislaturperiode. Das müssen wir an dieser Stelle immer wieder unterstreichen.
Herr Dr. Luther, Sie sind wie Herr Warnick auf das Problem eingegangen, daß die besonderen Kündigungsschutzregelungen in den neuen Ländern zum 31. Dezember 1995 ausgelaufen sind.
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Ich halte das für einen schweren politischen Fehler,
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und ich meine, wir sollten in den Beratungen noch einmal prüfen, ob es nicht doch möglich ist, das Problem - nicht in dem Sinne, Herr Warnick, wie Sie das sagen, einen generellen Schutz für Mietverträge, die aus der Zeit der DDR stammen, einzuführen, was ich ebenfalls für rechtlich nicht zulässig ansehen würde - anzugehen und eine Sonderregelung zu schaffen, durch die den Ländern eine Möglichkeit eröffnet wird, durch Rechtsverordnung bestimmte Gebiete mit einem besonderen Kündigungsschutz auszustatten. Ich glaube, das käme auch den Interessen der betroffenen Länder entgegen. Soweit ich weiß, gibt es in dieser Hinsicht ja auch in Brandenburg Bewegung.
Herr Kollege, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Herr Präsident, ich danke für den Hinweis.
Ich bin am Ende und erwarte erfolgreiche Konsultationen und Berichterstattergespräche.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Ich gehe davon aus, daß nicht Sie am Ende sind, sondern Ihre Rede.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Gerald Häfner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Auseinandersetzung über die Vermögensverhältnisse in den neuen Bundesländern wird ja fast schon zu einer unendlichen Geschichte. Das liegt zum Teil an den Schwierigkeiten in der Sache selbst, zum Teil aber auch an den schweren politischen Fehlern, die seinerzeit gemacht wurden und nachträglich nur sehr begrenzt wiedergutgemacht werden können. Es ist ein deshalb ausgesprochen schwieriges und heikles Thema. Und wenn man auch nicht alles richtig und es nicht allen recht machen kann, denke ich, daß wir dennoch in der Pflicht stehen, noch alles uns Mögliche zu versuchen, um den jetzigen Zustand zu verbessern; denn hier liegt tatsächlich noch einiges im argen.
Insofern möchte ich deutlich auch an die Gruppe der PDS gerichtet sagen, daß ich in Ihrem Entwurf eine Reihe von sinnvollen Ansätzen finde, von denen ich meine, daß wir sie gründlich im Rechtsausschuß beraten müssen. Ich denke darüber hinaus, daß es angezeigt wäre, einmal eine Bilanz zu ziehen - möglicherweise in Form einer Anhörung - über die verschiedenen und, wie wir wissen, eben auch höchst komplizierten und vielschichtigen Eigentums- und Nutzungsgesetze und ihre Auswirkungen in den neuen Bundesländern.
Ich kann nicht allem in Ihrem Entwurf zustimmen. Er enthält auch manches, bei dem ich deutlich anderer Meinung bin. Aber er enthält im Kern auch sehr vieles Vernünftige. Er hat eine besonnene Beratung im Rechtsausschuß verdient. Es ist jetzt in der Kürze dieser mir gegebenen vier Minuten nicht möglich, hier detailliert auf alle diese Punkte einzugehen.
Deswegen will ich nur auf paar Dinge eingehen. Ich habe schon von der Grundentscheidung gesprochen, die damals im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag gefallen ist. Wir haben hierüber im Ausschuß „Deutsche Einheit", in dem ich ja Obmann gewesen bin, intensiv diskutiert. Dabei hatte ich aufmerksam gemacht auf die Probleme, die kommen werden, wenn so, wie es damals schon absehbar war, entschieden würde. Sie wissen: Wir haben uns nicht durchsetzen können. Und die Probleme sind wie vorhergesagt eingetreten. Jetzt sind wir seit Jahren damit beschäftigt, sie, wo es geht, zumindest zu lindern.
In der vergangenen Legislaturperiode hat sich die Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen darauf konzentriert, wenigstens bei den noch offengebliebenen Gesetzen zum privaten Wohneigentum im Rahmen des Sachenrechtsänderungsgesetzes und auch bei der Datschenfrage vernünftige Regelungen zu bewirken. Wir konnten uns da zumindest in einigen Teilbereichen durchsetzen.
Die Gruppe der PDS hat sich damals leider sehr zurückgehalten. Es gelang dann auch durch unser Drängen und durch die Hartnäckigkeit insbesondere - ich möchte ihn hier ausdrücklich nennen - meines Vorgängers und Freundes Dr. Wolfgang Ullmann, die fatalen Überlassungsverträge zumindest in Erbbauregelungen zu überführen, was zu einer deutlichen Verbesserung geführt hat. Auch in anderen Bereichen haben wir konkrete Vorschläge gemacht, zum Beispiel was die Freizeitgrundstücke betrifft. Wir haben Nießbrauchregelungen vorgeschlagen und vieles andere mehr.
Ich greife das deshalb auf, weil wir damals immer wieder das Problem hatten, daß die Gruppe der PDS im wesentlichen öffentliche Kampagnen durchgeführt hat, während die konkrete Gesetzgebungsarbeit, sozusagen die Mühen der Ebenen hier im Parlament, doch mehr uns überlassen blieb.
Der jetzige Entwurf enthält beides: Er enthält Überzogenes, Dinge, die nicht gehen, falsche Versprechungen, und er enthält Praktikables und Vernünftiges. Insofern sehe ich darin einen deutlichen Fortschritt, der aufgegriffen werden sollte.
Herr Häfner, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Professor Heuer?
Herr Professor Heuer, selbstverständlich.
Herr Häfner, Sie waren damals nicht dabei; Ihre Partei war ja eine Wahlperiode lang hier nicht vertreten.
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Jetzt ist sie wieder hier. Ich habe damals mit Herrn Ullmann eine ganze Reihe Dinge gemeinsam gemacht. Stimmen Sie mir zu, daß der öffentliche Druck, den die PDS gemacht hat, eine entscheidende Rolle dabei gespielt hat, daß zum Beispiel sich auch die F.D.P. damals in der Nutzungsfrage bewegt hat?
Zunächst einmal: Es ist nett, wenn Sie mich mit meiner Partei gleichstellen. Ich sprach aber von der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag in der letzten Legislaturperiode. Ich persönlich war damals nicht dabei; da haben Sie völlig recht.
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- Das hatte, wie Sie wissen, viele Gründe. Es war unterm Strich aber zum Nutzen des Ganzen, auch zu unserem Nutzen, wie ich meine.
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Das ist aber eine Debatte, die wir woanders führen sollten.
Herr Heuer, um auf Ihre Frage zu antworten: Nicht immer hat der Wind, den Sie damals gemacht haben, das Boot in die richtige Richtung geblasen. Oft hat er es weit vom Hafen abgetrieben.
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Deswegen sehe ich in dem Spiel, das Sie damals getrieben haben, eine zumindest zweischneidige Sache.
Ich glaube, der wirkliche Druck kam weniger von der PDS, sondern er kam von den faktischen Verhältnissen und von den Menschen. Das dürfen wir nämlich auf keinen Fall vergessen: Es sind konkrete Menschen und deren Hab und Gut betroffen. Das ist es, was wir immer im Auge haben sollten, und nicht parteitaktische Spielchen, Wahlkampfinteressen und ähnliches.
Ich kann über Ihre damalige Rolle, Herr Heuer, im einzelnen nicht urteilen. Ich kann hier nur das, was mir meine Freundinnen und Freunde aus der letzten Legislaturperiode erzählt haben, wiedergeben.
Ich möchte noch einmal auf einige Fragen im Zusammenhang mit Ihrem Entwurf zurückkommen. Auch wenn es häufig richtig ist: Nicht immer trifft das Bild „hier der Böse, reiche Alteigentümer im Westen, dort der gute, arme Besitzer im Osten" zu. Es gibt auch eine Reihe von umgekehrten Fällen. Man muß ausgesprochen vorurteilsfrei und differenziert an die Probleme herangehen und darf das nicht mit ideologischen Scheuklappen tun.
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Ich habe die große Hoffnung - da Herr Professor Schmidt-Jortzig heute sozusagen seine ersten Amtshandlungen hier im Plenum des Deutschen Bundestages vornimmt -, daß wenigstens in einem Punkt, der seit langem offensteht und immer stärker als wunder Punkt erkennbar wird, diejenigen, die seit langem auf eine Rückgabe warten, die Inhaber der ehemaligen Mauergrundstücke, jetzt größere Hoffnungen haben dürfen, Hoffnung nämlich darauf, daß Sie, verehrter Herr Minister Professor SchmidtJortzig, dasjenige, was Sie als Abgeordneter zugesagt haben, nun als Minister rasch und schleunig umsetzen werden. Das wäre ein großer Fortschritt. Damit könnte einem seit langem wartenden großen Kreis von Menschen endlich Genugtuung widerfahren.
Herr Häfner, Sie müssen zum Schluß kommen.
Das bedauere ich. Ich will mich aber in dieser Frage, Herr Präsident, Ihrem Hinweis beugen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Heinz Lanfermann.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kollege Häfner, daß Ihre Erwartungen an den Minister sicherlich erfüllt werden. Aber auch ein neuer Minister kann die Gesetze nicht alleine machen. Man braucht Mehrheiten im Parlament.
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Offensichtlich gilt der einfache Grundsatz, daß es um so schwieriger ist, die Mehrheiten zu bekommen, je komplizierter die Fragen sind. Das gilt natürlich nicht nur bei den Mauergrundstücken. Wir gehen aber auch verantwortungsvoll damit um, Herr Kollege Hacker.
Ich darf zu dem Thema, das uns heute hier bewegt, noch einmal darauf hinweisen, daß sich die F.D.P.- Bundestagsfraktion immer zu dem im Einigungsvertrag niedergelegten Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung bekannt hat.
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- Ja, ich sage immer die Wahrheit, Herr Professor Heuer. Wir haben uns zu diesem Grundsatz bekannt, weil er derjenige Grundsatz ist, der unserer Freiheits- und Eigentumsordnung im Grundgesetz am besten entspricht. Daß dies nicht in allen Fällen einfach sein wird, war jedem bekannt; das brauchen Sie hier nicht als neue Erkenntnis zu verkaufen.
Eine solche Situation, daß eine Diktatur - übrigens weniger wohl des Proletariats als vielmehr einer gewissen Funktionärskaste Ihrer Partei; Sie sind ja auch nur umbenannt, deswegen darf ich Sie da direkt ansprechen - über 40 Jahre laufend Unrecht produziert hat, hat es allerdings in der deutschen Rechtsordnung noch nicht gegeben. Es ist in der Geschichte schon ein ziemlich einmaliger Vorgang, daß man hinterher in einem Rechtsstaat, einem wiedervereinigten Staat als Rechtsstaat, versucht, dies, so gut es eben geht, aufzuarbeiten.
Ich kann Ihnen sagen, auch wenn Sie manchmal versuchten, es etwas hämisch anzuführen, wenn es um bestimmte Einzelprobleme ging - das Stichwort „Datschen" liegt ja heute noch manchem so oder so herum schwer auf der Seele -, daß wir uns immer bemüht haben, natürlich auch einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Betroffenen herbeizuführen.
({2}) Natürlich haben nicht nur die Alteigentümer, die vertriebenen Eigentümer, die herausgedrängten Eigentümer Rechte und Interessen, sondern auch diejenigen, die jetzt, aus welchen Gründen und wie auch immer, nun in diesen Wohnungen und Häusern sind. Das ist uns nicht unbekannt. Wir haben ein sehr gutes, ausgewogenes Mietrecht in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar nicht erst seit fünf Jahren, sondern schon von Anfang an, und wir haben ständig versucht, es zu verbessern und zu verfeinern. Auch da bestehen die Interessengegensätze zwischen Nutzern, wenn ich das Wort in diesem Zusammenhang einmal gebrauchen darf, also Besitzern von Wohnraum und Eigentümern.
Dieses Problem war uns nicht neu. Nur: Daß wir auf so komplizierte Verhältnisse getroffen sind, in denen die Konflikte zwischen Eigentümern und Besitzern oder Nutzern so schwierig aufeinanderprallten, haben wir doch ausgerechnet denen zu verdanken, die uns heute hier mit neunmalklugen Vorschlägen kommen, wie wir alles noch komplizierter machen können.
Ich habe bei vier Minuten Redezeit nicht die Zeit, auf alle Einzelheiten des Vorschlages der PDS einzugehen. Das wird ja im übrigen auch diskutiert, etwa dieses Pingpongspiel, daß das Land Brandenburg das eine und die PDS das andere bringt, während das wahre Problem darin besteht, daß es gerade auf dem Gebiet, das Sie angesprochen haben, Herr Warnick, die von Ihnen zitierten vielen offenen Fälle gibt. Wenn die offenen Fälle energischer angegangen und erledigt würden, bräuchten Sie uns nicht Gesetze vorzuschlagen, mit denen wir Reparaturen vornehmen sollen, die in Wirklichkeit alles komplizierter machen, die kontraproduktiv sind und erneut Rechtsunsicherheit erzeugen. Sie wollen etwas Kompliziertes noch komplizierter machen, schauen immer auf Einzelfälle und meinen, Sie könnten hier Recht setzen, zum Teil auf verschiedenen Gebieten sogar unterschiedliches Recht. Meine Damen und Herren, das ist nicht unsere Zielrichtung.
Ein letztes Wort: Natürlich sind wir im Gespräch, und die Berichterstattergespräche sind wertvoll. Aber gerade weil man auch Mehrheiten finden muß, Herr Hacker - wir wollen Sie ja auch mit Mehrheiten beglücken, die dann hier gute Gesetze machen -, reden wir in der Koalition darüber. Wir reden auch gerne mit den Fachleuten aus dem Ministerium und lassen uns über das beraten, was möglich ist, um den Mietern der Wohnungen, die zum Beispiel von Wohnungsgenossenschaften verwaltet werden, zu helfen, damit in den Wohnungen etwas getan werden kann.
Andererseits kann es nicht angehen, daß wir die Eigentümer zu etwas verpflichten, das sie nachher durch überhöhte Zahlungen oder auch durch Grundpfandrechte, die wir ihnen womöglich noch bescheren, belastet, oder daß sie von uns etwas aufgedrängt bekommen, das sie selbst nicht für sinnvoll halten und was mit der Verfügungsgewalt über das Eigentum nun auch wieder nicht zu vereinbaren ist.
Meine Damen und Herren, das werden wir sorgfältig abwägen. Wir werden es sicherlich viel differenHeinz Lanfermann
zierter machen, als es in diesem Gesetzentwurf der PDS zum Ausdruck kommt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Justiz, Professor Edzard Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem wir uns im Herbst des vergangenen Jahres mit dem Bundesratsentwurf für ein Nutzerschutzgesetz befaßt haben, liegt uns heute der PDS-Entwurf für ein solches Gesetz zur Beratung vor. Beide Entwürfe sind sich in ihrem Inhalt und in ihrer Zielsetzung sehr ähnlich. Im Grunde hat die PDS den Bundesratsentwurf nur um einige politische Anliegen der Nutzerverbände der neuen Länder angereichert, im übrigen aber übernommen.
Zwei der wesentlichen politischen Anliegen beider Entwürfe sind allerdings inzwischen erledigt. Da ist einmal die Verlängerung des Investitionsvorranggesetzes, die seit dem 15. Dezember 1995 in Kraft ist. Zum anderen ist es die Verlängerung der Wartefrist für Wohnraumkündigungen, die der Bundestag Ende November 1995- aus gutem Grund mit großer Mehrheit abgelehnt hat, weil schon das soziale Mietrecht des BGB einen umfassenden Schutz gewährt, der insbesondere auch verhindert, daß ein Mieter seine Wohnung räumen muß, wenn er keinen angemessenen Ersatzwohnraum finden kann.
Die anderen wichtigen Themen der Entwürfe sind bereits Gegenstand von Gesprächen; darauf wurde verschiedentlich schon hingewiesen. In beiden Fragen, ob und in welchem Umfang Modernisierungsmaßnahmen an anmeldebelasteten Grundstücken zugelassen werden können und sollen und ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen zur Heilung zivilrechtlicher Mängel beim Grundstückserwerb ergriffen werden müssen, sind wir in den bisherigen Gesprächen schon ein gutes Stück vorangekommen. Ich bin sicher, daß es hier zu vernünftigen Lösungen kommt.
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Meine Damen und Herren, die von der PDS außerdem erhobenen Forderungen sind abzulehnen:
Erstens. Ein Ankaufsrecht für die Nutzer von Erholungsgrundstücken zu den Bedingungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes kommt nicht in Frage. Der Grundstückseigentümer soll nur dann gezwungen sein, sein Grundstück zu den Bedingungen des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes, also zum hälftigen Bodenwert, zu verkaufen, wenn der Nutzer eine Investition vorgenommen hat, die dieses Opfer rechtfertigt. Das ist beim Eigenheim nur der Fall, wenn es tatsächlich am 2. Oktober 1990 vorhanden war.
Zweitens. Die Einbeziehung aller Käufer nach dem sogenannten Modrow-Gesetz in den Restitutionsausschluß des § 4 Abs. 2 des Vermögensgesetzes würde eine Aufgabe des Kompromisses bedeuten, den wir mit § 121 des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes geschlossen haben. Seinerzeit ging es um die Frage einer Ausweitung des Restitutionsausschlusses. Wir haben uns im Ergebnis darauf verständigt, daß der Alteigentümer sein im Restitutionswege zurückerhaltenes Grundstück nur unter bestimmten Voraussetzungen an den Nutzer soll verlieren müssen. Dies gilt aber nur unter der Bedingung, daß er dafür einen Geldausgleich in Höhe des hälftigen Boden- und des Gebäudewertes erhält. Mit diesem Ausgleich steht und fällt der Kompromiß.
Drittens. Die zum Teil enormen Grundstückspreise können schon den Gedanken aufkommen lassen, für das Ankaufs- und Erbbaurecht nach dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz Obergrenzen festzusetzen. Dann aber würde der Nutzer den vollen Wert des Grundstücks erhalten, der sich durch solche Obergrenzen nicht verkleinert. Der Grundstückseigentümer würde davon aber nicht mehr die Hälfte, sondern nur einen kleinen Bruchteil erhalten. Die hälftige Beteiligung beider Seiten macht aber den Gerechtigkeitsgehalt dieses Gesetzes aus.
Meine Damen und Herren, wir sollten jetzt das Ergebnis der Berichterstattergespräche abwarten und vor allem eines beachten: Wir haben mit den großen Gesetzen der letzten Legislaturperiode in sozialverträglichem Interessenausgleich einen vernünftigen rechtlichen Rahmen für die Bereinigung der Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern geschaffen. Diese umfangreichen Regelungen müssen von den Rechtsanwendern aufgenommen und umgesetzt werden. Wir sollten deshalb im gegenwärtigen Zeitpunkt Änderungen nur vornehmen, wenn dadurch die Umsetzung nachhaltig vereinfacht werden kann. Aber eben daran wird bei dem PDS-Entwurf überhaupt nicht gedacht.
Vielen Dank.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2822 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keine anderen Vorschläge dazu. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbotsverordnung für Chlorparaffine
({0}) nach § 17 des Chemikaliengesetzes
- Drucksache 13/1428 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Die Reden der Kolleginnen Frau Dr. Hellwig und Frau Bulling-Schröter sowie der Kollegen und Professoren Teichmann, Rochlitz und Ortleb sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Hirche sind zu Protokoll gegeben.*)
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen; dann ist die Aussprache geschlossen. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/1428 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich möchte Sie am Ende dieser Tagesordnung noch daran erinnern, daß wir morgen um 9 Uhr eine Rede
*) Anlage 6 des Herrn Bundespräsidenten zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hören werden. Ich glaube, daß dieser Veranstaltung morgen angesichts der schrecklichen Vorgänge in Lübeck eine besondere Bedeutung zukommt, der wir Rechnung tragen sollten.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 19. Januar 1996, 10 Uhr - nach der Gedenkfeier um 9 Uhr - ein.
Die Sitzung ist geschlossen.