Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich komme zunächst zu den amtlichen Mitteilungen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Deutsche Beteiligung an den militärischen Maßnahmen zur Absicherung des Friedensvertrages für Bosnien-Herzegowina *)
2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für einen Beschluß des Rates über ein viertes mittelfristiges Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die Chancengleichheit von Frauen und Männern ({1}) - Drucksachen 13/2674 Nr. 2.35, 13/3174 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Frauenförderung in der Europäischen Union - Drucksachen 13/2756, 13/3248 4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Kubatschka, Dr. Peter Glotz, Volker Jung ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Energieforschung - Drucksache 13/1424 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Simone Probst, Elisabeth Altmann ({5}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energie für die Zukunft - Drucksache 13/1935 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz ({6}), Eckart Kuhlwein, Michael Müller ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: UmweltAudit in Bundesministerien und -behörden - Drucksache 13/2417 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Wolfgang Bierstedt, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Nachbesserung der Tarifstrukturreform der Deutschen Telekom AG - Drucksache 13/3221 5. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({8})
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 13/ 3233 -
*) In der 76. Sitzung am 6. Dezember 1995 bereits behandelt; siehe Seite 6631 B
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen - Drucksache 13/ 3234 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 13/ 3235 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen - Drucksache 13/ 3236 -
6. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra - Drucksachen 13/3138, 13/3239 -
7. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung einer Vertrauenserklärung zur Erbschafts- und Schenkungssteuer durch die Länderfinanzminister
8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Amke DietertScheuer, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtsberichte und Lageberichte der Bundesregierung für die parlamentarische Arbeit nutzbar machen - Drucksache 13/3210 -
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Krautscheid, Dr. Christian Schwarz-Schilling, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Den Menschenrechten weltweit zur Geltung verhelfen
Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1995 - Drucksache 13/3214 -
10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Konzept für eine deutsche Menschenrechtspolitik in ihrer Verbindung mit den anderen Politikbereichen - Drucksache 13/3229 -
11. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS: Haltung der Bundesregierung zu erheblich ansteigenden Insolvenzen in den neuen Bundesländern und zur Politik der Treuhand-Nachfolgeeinrichtungen
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist - abgewichen werden.
Außerdem ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 4 c - Große Anfrage zur Überfischung der Meere - und 18 g - Beschlußempfehlung zum
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Bericht der Bundesregierung über die Kinderarbeit in der Welt, der ohne Aussprache vorgesehen war - sowie am Freitag den Tagesordnungspunkt 12 - Änderung des Baugesetzbuches - abzusetzen.
Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 f sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Aktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rats in Madrid am 15./16. Dezember 1995
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Die Europäische Union zukunftsfähig machen
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Forderungen zur Reform des Vertrages von Maastricht 1996 und der Europapolitik
zu dem Antrag der Gruppe der PDS Europapolitik der Bundesregierung
zu dem Antrag des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Aktuelle Fragen der Europapolitik, insbesondere Vorschau auf die Tagung des Europäischen Rates am 26./27. Juni 1995
- Drucksachen 13/3040, 13/1739, 13/1728, 13/1734, 13/3247 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Gero Pfennig
Dr. Helmut Haussmann
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({14})
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch über die praktischen Fragen des Übergangs zur einheitlichen Währung
({15})
zu der Entschließung zum Grünbuch der Europäischen Kommission über die praktischen Fragen des Übergangs zur einheitlichen Währung
- Drucksachen 13/2307, 13/3117, Nr. 1.3, 13/3213 -
Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann
Dr. Barbara Höll
Jörg-Otto Spiller
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für einen ökologisch verantwortbaren europäischen Binnenmarkt für Energie
- Drucksache 13/2907 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({16})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ursula Schönberger, Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elektrizitäts-Binnenmarkt der Europäischen Union
- Drucksache 13/3212 -
f) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Für einen europäischen Elektrizitätsbinnenmarkt
- Drucksache 13/3215 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über ein viertes mittelfristiges Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die Chancengleichheit von Frauen und Männern ({18})
- Drucksachen 13/2674 Nr. 2.35, 13/3174 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Grießhaber Heidemarie Lüth
Ortrun Schätzle
Hanna Wolf ({19})
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Frauenförderung in der Europäischen Union - Drucksachen 13/2756, 13/3248 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Susanne Tiemann Karin Rehbock-Zureich
Marieluise Beck ({21})
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Forderungen zur Reform des Vertrages von Maastricht 1996 und der Europapolitik liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Frauenförderung in der Europäischen Union liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir entsprechend.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den kommenden Jahren stehen wir in der europäischen Politik vor einer Reihe ganz entscheidender Weichenstellungen. Sie werden das Gesicht unseres Kontinents bis weit in das kommende Jahrhundert hinein prägen.
Ich will daran erinnern, daß mit Beginn des neuen Jahres die italienische Präsidentschaft die Aufgabe übernimmt, die Regierungskonferenz zu eröffnen, daß dann im zweiten Halbjahr des kommenden Jahres die irische Präsidentschaft folgt und daß wir hoffen und darauf hinarbeiten, daß im ersten Halbjahr des Jahres 1997 unter der niederländischen Präsidentschaft die Regierungskonferenz, wie ich gerne sagen möchte, mit einem Maastricht-II-Vertrag zum Abschluß kommen wird.
Es gilt jetzt, mit Augenmaß, mit Mut, aber auch mit Geduld die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die deutsche Außen- und Europapolitik muß dabei von bestimmten Rahmenbedingungen ausgehen. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört, daß wir vor allem auch im Ansehen all unserer Nachbarn als das größte und wirtschaftlich stärkste Land im Herzen Europas mit unserem Verhalten ganz besonders beobachtet werden.
Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn und Grenzen, und wir dürfen auch nicht übersehen, daß die Belastungen aus der jüngsten deutschen Geschichte latent nach wie vor spürbar sind. Ich weiß auch, daß es ebenso Gefühle von Neid und gelegentlich von Eifersucht über die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland gibt.
({0})
Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht täuschen: Es gibt nach wie vor, wie auch in den Jahren 1989/90 in der Entwicklung zur deutschen Einheit, reale Befürchtungen angesichts der Größe und
Stärke des vereinten Deutschlands. Deswegen ist es wichtig und ein Gebot der Zukunftssicherung für unser Land, daß wir die Lage realistisch einschätzen und immer wieder, auch in sogenannten kleinen Fragen, berücksichtigen, wie unsere Nachbarn uns sehen und betrachten.
Eine deutsche Außenpolitik, die nicht klar zu den Grundsätzen und Zielen der europäischen Einigung stehen würde, wäre unverantwortlich. Es gibt kein Zurück zur nationalen Machtpolitik. Es gibt auch kein Zurück, weder für die Deutschen noch für die anderen in Europa, zum überkommenen Gleichgewichtsdenken. Kern unserer Außen- und Europapolitik muß und wird deshalb auch in Zukunft die konsequente Fortsetzung des europäischen Einigungswerks sein. Dieses Werk, das vorausschauende Politiker wie Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi und - ich betone es - auch alle meine Vorgänger im Amt in diesen Jahren mit Optimismus, manchmal mit Resignation, mit Einsatz und vor allem mit einer Maren Vision begonnen haben, hat ganz entscheidend dazu beigetragen, daß wir in Europa und in den vergangenen fünfzig Jahren Frieden, Freiheit und auch wachsenden Wohlstand erleben konnten.
({1})
Bei all dem, was man über diese Jahrzehnte kritisch sagen kann, gilt der Satz: Die Politik der europäischen Einigung ist die größte Erfolgsgeschichte unseres Kontinents geworden.
({2})
Dies gilt auch für die Zukunft. Die Politik der europäischen Einigung ist und bleibt für Deutschland und Europa eine Frage von existentieller Bedeutung, und - ich wiederhole diesen Satz noch einmal sehr bewußt - sie ist in Wirklichkeit auch die Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Deshalb müssen wir alles tun, um den europäischen Einigungsprozeß entschlossen voranzubringen und ihn politisch unumkehrbar zu machen.
Dabei, meine Damen und Herren, müssen wir uns bewußt sein, daß es in den kommenden Jahren immer wieder Fortschritte, aber auch Rückschläge geben wird, zumal - und das ist ein spürbarer Unterschied zu den Verhandlungen, die zu Maastricht I führten - die innenpolitische Lage in vielen Partnerländern alles andere als leicht ist. Je näher die Detailentscheidungen rücken, desto mehr wächst die Kritik an der europäischen Entwicklung und der europäischen Politik bei vielen Bürgern, auch bei uns in Deutschland. Dennoch ist für mich klar, daß für EuroPessimismus oder gar Euro-Skepsis nicht der geringste Anlaß besteht. Dies um so weniger, wenn wir uns noch einmal deutlich machen, was wir in den letzten Jahren erreichen konnten.
Ich erinnere mich sehr gut an den ersten Europäischen Rat in Kopenhagen im Dezember 1982, an dem ich als neugewählter Bundeskanzler teilnahm. Damals gab fast niemand mehr dem Projekt Europa eine Zukunftschance, und das Wort von der EuroSklerose war das bestimmende Wort zur europäischen Entwicklung.
In einer gemeinsamen Anstrengung haben wir diesen gefährlichen Stillstand überwunden. Dabei waren Frankreich und Deutschland ganz wesentlich engagiert. Ich erinnere an die vielen gemeinsamen Aktionen, die Staatspräsident François Mitterrand und ich in gemeinsamer Zusammenarbeit mit dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors immer wieder unternommen haben.
Aus der damaligen Krise ist durch eine enge deutsch-französische Partnerschaft und nicht zuletzt durch die Arbeit von Jacques Delors eine neue Dynamik entstanden. Ich erinnere an das Binnenmarktprogramm aus dem Jahre 1985 und die Einheitliche Europäische Akte von 1986.
Auch nach der grundlegenden Veränderung der politischen Lage in Europa durch die friedliche Revolution im Osten unseres Kontinents - auch unseres eigenen Landes nach dem Fall der Mauer - hat die Bundesregierung konsequent an der europäischen Integration festgehalten. Wir haben nie einen Zweifel daran aufkommen lassen - und diese Position bestimmt auch in Zukunft unsere Politik -, daß deutsche Einheit und europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Unser Europakurs hat es uns ermöglicht, die Zustimmung unserer überwiegend zögerlichen Partner in Europa zur deutschen Einheit zu erlangen.
Aus dieser Lage heraus ist im Jahre 1990 die gemeinsame Initiative zwischen Deutschland und Frankreich zum Maastricht-Vertrag entstanden. Das Konzept von Maastricht umschreibt unsere gemeinsame Zukunft. Es definiert die Aufgaben der nächsten Jahre. Diese wollen wir in bewährtem engen Schulterschluß mit Frankreich angehen. Ich hoffe sehr, daß das heute mittag beginnende deutsch-französische Treffen in Baden-Baden, das sich in erster Linie mit europapolitischen Fragen befassen wird, in diesem Sinne dienlich sein wird.
Unsere Partnerschaft ist vom festen Willen zu enger Zusammenarbeit und von der Entschlossenheit, Europa gemeinsam voranzubringen, geprägt. Beim informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Mallorca im September dieses Jahres haben wir uns sehr eingehend der umfangreichen europäischen Agenda bis zum Jahr 2000 gewidmet. Wir haben dort in Anknüpfung an unser Gespräch vom Europäischen Rat in Essen in einer offenen Diskussion die mittel- und langfristige Ausrichtung der Europapolitik und die damit entstehenden zeitlichen Herausforderungen erörtert.
Lassen Sie mich kurz die wesentlichen Themen nennen, die in den nächsten Jahren auf der „Europäischen Agenda 2000" stehen:
Erstens. Die Regierungskonferenz zur Überprüfung und Fortentwicklung des Maastricht-Vertrages, von der ich bereits eingangs sprach.
Zweitens. Die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion unter strikter Wahrung der Kriterien und gemäß dem Zeitplan des Maastricht-Vertrages.
Drittens. Die Verhandlungen zur künftigen Mittelausstattung der Union müssen rechtzeitig vor dem
Auslaufen der Finanzregelung von Edinburgh im Jahre 1999 abgeschlossen werden. Ich betone, daß sie rechtzeitig vor 1999 abgeschlossen werden müssen. Die neuen Vereinbarungen müssen insbesondere, wie ich denke, dem Prinzip einer fairen Lastenteilung stärker als bisher entsprechen.
({3})
Viertens. Die weitere Heranführung der mittel- und osteuropäischen Reformländer an die Europäische Union und die Vorbereitung ihres Beitritts.
Fünftens. Der Beitritt der jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa muß durch den Ausbau enger und partnerschaftlicher Beziehungen zu den Nachbarregionen der Europäischen Union im Osten und Süden ergänzt werden. Ich nenne hier Rußland, ich nenne die Ukraine, ich nenne die Türkei, die Mittelmeerregion und nicht zuletzt Israel.
Sechstens. Es wird in den nächsten Jahren darum gehen, weiter an einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem zu bauen. Wichtige Eckpunkte hierfür sind die geplante NATO-Erweiterung sowie der parallele Aufbau einer besonderen Partnerschaft mit Rußland und der Ukraine.
Siebtens. Es ist in diesen Tagen wieder besonders deutlich geworden, wie wichtig folgender Punkt ist: Es geht schließlich um die langfristige Absicherung und Vertiefung des transatlantischen Verhältnisses. Wir wollen und müssen die Partnerschaft Europas mit den Vereinigten Staaten festigen und vertiefen. Ich danke ausdrücklich dem spanischen Ministerpräsidenten, der spanischen EU-Präsidentschaft, daß beim transatlantischen Treffen mit Präsident Clinton vor wenigen Tagen eine neue und, wie ich denke, zukunftsweisende transatlantische Agenda und ein Aktionsplan für die nächsten Jahre vereinbart wurden.
({4})
Aus diesen Abmachungen ergibt sich ein komplexer, schwieriger Zeitplan sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene, ein Zeitplan, der enorm viel Arbeit enthält und der vor allem eine Gesamtstrategie erfordert.
In Fortführung der Diskussionen auf Mallorca wollen wir beim Europäischen Rat in Madrid in der nächsten Woche erste konkrete Fragen dieser „Europäischen Agenda 2000" aufnehmen. Es geht zunächst um die weitere Konkretisierung der einzelnen Schritte zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Europa muß als Gemeinschaft für Stabilität und Wohlstand weiter zusammenwachsen. Die Beschlüsse von Maastricht zur Wirtschafts- und Währungsunion sind die Antwort auf die neuen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts.
Wir brauchen die Wirtschafts- und Währungsunion: für die Stärkung des Standortes Europa angesichts der globalen Herausforderungen der kommenden Zeit, zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes, für die Erhaltung und Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze und zur angemessenen Stärkung
des europäischen Gewichts im internationalen Währungssystem. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen sind dauerhafte Konvergenz und Stabilität in den Mitgliedstaaten.
Ich bin deswegen ausgesprochen erfreut darüber, daß der Vorschlag des Kollegen Waigel für einen Stabilitätspakt von den anderen Mitgliedstaaten der EU positiv aufgenommen wurde. Wir hoffen, daß möglichst viele Mitgliedstaaten an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen werden. Deshalb ist es wichtig, daß in allen Mitgliedstaaten noch nachhaltige wirtschaftspolitische Anstrengungen erfolgen müssen.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang aber auch sagen: Ich würde es als nützlich empfinden, wenn wir bei der deutschen Diskussion auch zur Kenntnis nähmen, daß Ratschläge, die wir anderen geben, zum Teil nicht gerade mit Freude aufgenommen werden.
({5})
- Entschuldigung, ich glaube, der Zwischenruf ist ganz unangemessen. Wenn der Kollege Waigel in einem Ausschuß auf Befragen durch Kollegen eine korrekte Antwort gibt und durch ein ziemlich unmögliches Verfahren dann aus diesem Ausschuß öffentlich berichtet wird, trifft den Kollegen Waigel keine Schuld.
({6})
Wenn die Bundesregierung ihrer, wie ich denke, selbstverständlichen Pflicht nachkommt, bei Informationen auf Fragen korrekte Antworten zu geben, muß sie allerdings davon ausgehen können, daß diese Antworten nicht dazu mißbraucht werden, um im innenpolitischen Kampf Geschäfte zu machen.
({7})
Auf dem nächsten Europäischen Rat in ein paar Tagen in Madrid werden wir über wichtige Entscheidungen auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion sprechen. Ich nenne insbesondere die Festlegung eines Szenarios für den Übergang zur einheitlichen europäischen Währung, die Entscheidung über den Namen der europäischen Währung und den Auftrag zur konkreten Ausgestaltung des Stabilitätspakts.
Ein nicht minder wichtiges Thema wird angesichts der Situation in Europa die Frage von Wachstum und Beschäftigung sein. In Europa sind gegenwärtig rund 18 Millionen Menschen arbeitslos. Daß wir über dieses Thema miteinander sprechen, was wir jeweils im nationalen Bereich tun, was im europäischen Bereich geschehen kann, ist selbstverständlich.
Ein drittes ganz wichtiges Thema des Europäischen Rats in Madrid ist die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips. Seine konsequente Umsetzung ist zentral für die Akzeptanz der Europäischen Union beim Bürger. Wir, die Bundesregierung und vor allem ich selbst, haben uns in den letzten Jahren immer wieder für eine strikte Beachtung dieses Prinzips stark gemacht. Ich denke, daß der Bericht der
Kommission, der in diesen Tagen vorgelegt wird und den ich selbst nur in seinen Umrissen kenne, den aber eine Reihe von denen, die ihn studiert haben, als sehr positiv bewerten, hier Fortschritte deutlich macht.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß auf allen Feldern der europäischen Politik - bei der Kommission, beim Europäischen Parlament wie bei den nationalen Parlamenten und in den Administrationen der Mitgliedstaaten - das Bewußtsein für die Bedeutung des Prinzips der Subsidiarität noch weiter verbessert und gestärkt werden muß.
({8})
Ich bin sicher, daß es auch nützlich ist, daß der jetzt vorgelegte Bericht der Kommission nicht nur im Europäischen Parlament und den Europäischen Räten diskutiert wird, sondern daß man ebenfalls in dem Bereich der nationalen Zuständigkeiten, und zwar von gegebener Seite aus, diesen Bericht diskutieren wird.
Aber, meine Damen und Herren, wenn ich dies so nachdrücklich vertrete, will ich gleich hinzufügen, daß es zu billig ist, in der Frage der Subsidiarität immer alle Schuld Brüssel zuzuschieben. Alle, nicht nur die Kommission - alle, auch in den Mitgliedstaaten, das heißt, auch wir selbst -, müssen sich immer wieder prüfen, inwieweit sie aus Gründen der nationalen Politik über den europäischen Umweg nationale Gegebenheiten eingebracht und dabei das Subsidiaritätsprinzip eben nicht geachtet haben.
Es hat keinen Sinn, sich zu verkriechen und zu sagen: In Brüssel oder im Europäischen Parlament wird die Subsidiarität nicht begriffen, aber in der nationalen Dimension wird sie begriffen. Sie, meine Damen und Herren, wissen ja, daß auch auf der nationalen Ebene der Föderalismus eine nicht ganz einfache Sache ist.
({9})
Der Föderalismus umschließt nach meinem Verständnis immer auch Bund, Länder und Gemeinden. Dies ist keineswegs selbstverständlich, auch bei uns in Deutschland nicht.
({10})
Was wir brauchen, ist eine offene Diskussion über diese Fragen. Was wir vor allem brauchen, ist die Bereitschaft auch auf der europäischen Ebene, bereits verabschiedete Richtlinien zu überprüfen und sie, wenn sie dem Prinzip der Subsidiarität nicht entsprechen, zurückzunehmen. Ich halte das für eine ganz wichtige Botschaft. Ich denke, wir werden in Madrid in dieser Sache ein gutes Stück vorankommen.
In Madrid werden wir uns ferner eingehend mit der Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 befassen. Ich gehe davon aus - das sagte ich schon -, daß die italienische Präsidentschaft diese Konferenz im Frühjahr 1996 eröffnet. Es ist erforderlich, daß wir dann mit großer Konsequenz diese Arbeit beginnen.
Unser Ziel und mein Ziel in Madrid ist es, wesentliche Eckpunkte sowie die Ausrichtung der Regierungskonferenz festzulegen, ohne - es ist wichtig, daß ich das hier sagen darf - bereits jetzt Inhalt und Ergebnisse festzulegen.
Ich will warnend darauf hinweisen, daß die Bundesregierung in Madrid nicht bereit sein wird, Vorfestlegungen zu treffen, bevor die eigentliche Arbeit der Regierungskonferenz überhaupt begonnen hat. Diese Arbeit ist schwierig genug, und es ist ein Prozeß des Gebens und des Nehmens. Ich rate uns und anderen, daß wir jetzt mit großer Geduld die Themen zusammentragen, daß wir dann Stück für Stück, wie ich hoffe, richtig entscheiden und daß am Ende ein Gesamtpaket geschnürt wird, das uns in Europa entscheidend voranbringt.
({11})
Der Bericht der Reflexionsgruppe, der gestern vorgestellt worden ist, stellt dabei einen wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der Regierungskonferenz dar. Ich denke, die Erfahrung der Reflexionsgruppe zeigt auch, daß der deutsche Vorschlag, daß in dieser Reflexionsgruppe auch Vertreter des Europäischen Parlaments mitarbeiten sollen, sich sehr bewährt hat. Ich will schon jetzt ankündigen - die Zustimmung wird nicht ganz einfach zu erreichen sein -, daß wir auch bei den jetzt folgenden Arbeiten rechtzeitig, vielleicht ähnlich wie bei der Reflexionsgruppe, Vertreter des Europäischen Parlaments in die Verhandlungen mit einbeziehen. Das erleichtert die spätere Entscheidung im Europäischen Parlament. Das könnte es auch erleichtern, die unterschiedlichen Meinungen der nationalen Parlamente entsprechend mit einzubringen.
Darüber hinaus wollen wir zusammen mit Frankreich mit der gleichen Zielsetzung einen Beitrag zur Vorbereitung der Konferenz leisten. Staatspräsident Chirac und ich werden heute nachmittag in BadenBaden bei unserer Konsultation diese Fragen eingehend diskutieren. Wir haben die Absicht - wie wir dies in der Vergangenheit immer wieder getan haben -, dem Vorsitzenden des Europäischen Rates, Ministerpräsident Gonzàlez, und den anderen Kollegen in einem gemeinsamen Brief eine Reihe von Hinweisen zu geben.
Durch die Zeitplanung können wir den Brief erst heute mittag endgültig erarbeiten und erstellen, so daß ich ihn beim besten Willen heute im Plenum nicht vorlegen kann. Ich bitte dafür um Verständnis.
Es geht uns darum, unser gemeinsames Engagement für die europäische Einigung deutlich zu machen und dabei Grundüberlegungen sowie Zielsetzungen vorzutragen. Aus unserer Sicht muß die Regierungskonferenz vor allem in vier zentralen Bereichen Fortschritte bringen:
Ich nenne erstens die Stärkung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen erreichen, daß gemeinsames außenpolitisches Handeln sichtbarer und effizienter wird. Die Erfahrungen im früheren Jugoslawien in diesen Jahren liefern die hinreichende Begründung für jedermann.
Zweitens geht es um eine grundlegende weitere Verbesserung der Zusammenarbeit im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Insbesondere ein Mehr an innerer Sicherheit auf europäischer Ebene - der Schutz vor organisiertem Verbrechen, Terrorismus und Drogenmafia - ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für die Akzeptanz der Europäischen Union innerhalb der Bevölkerung.
({12})
Wenn ich dies hier vortrage, muß ich allerdings fairerweise hinzufügen, daß die Aussichten auf eine baldige Einigung in dieser Frage auf der Ebene der Gemeinschaft nicht gerade überzeugend sind. Ich brauche hier nicht zu erklären, was ich gestern schon im Europaausschuß des Parlaments gesagt habe: Wenn sich herausstellen sollte, daß wir jetzt und in diesen Beratungen auf Gemeinschaftsebene keine Entscheidungen finden, wäre ich dafür, im Bereich der nationalen Absprachen unter den Mitgliedern eine Zwischenstufe einzubauen, um überhaupt voranzukommen. Dabei erwarte ich, daß wir, wie wir das früher schon getan haben, eine Art Öffnungsklausel vorsehen, bei der nach drei, vier oder fünf Jahren die Möglichkeit gegeben ist, das bisher Erreichte auf Gemeinschaftsebene zu übertragen.
Es muß gelingen, daß wir in diesen wichtigen Fragen - Schutz vor organisiertem Verbrechen, Terrorismus und Drogenmafia - wirklich die notwendigen Entscheidungen treffen. Wenn wir nicht gleich die eleganteste Lösung finden, bin ich absolut dafür, daß wir - ich will es einmal so formulieren - dann vielleicht auf Umwegen, aber mit sofortigem Handeln in dieser Sache weiter vorankommen.
Drittens geht es um die Steigerung von Effizienz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Wir müssen versuchen, dieses Europa verständlicher und einfacher zu gestalten. Wir können die Zustimmung zur Europäischen Union bei den Bürgern nur erreichen, wenn der Bürger auch versteht, was in Brüssel geschieht. Das hat etwas mit der Ausdrucksweise, aber natürlich auch mit dem Verhalten zu tun.
Viertens nenne ich die Verbesserung der demokratischen Verankerung der Europäischen Union. Das heißt vor allem, daß die nationalen Parlamente wie auch das Europäische Parlament besser in den europäischen Einigungsprozeß einbezogen werden.
Es ist gar keine Frage, daß wir auf diesem speziellen Feld noch ein klares Defizit haben. Wir haben das Defizit gegenüber dem Europäischen Parlament, obwohl sich hier in jüngster Zeit vieles verbessert hat. Ich sage bei dieser Gelegenheit gerne auch, daß der jetzige Präsident des Parlaments, der Kollege, der aus Deutschland kommt, einen ganz wesentlichen Beitrag zur Verbesserung geleistet hat.
({13})
- Ich habe bewußt die Formel so gebracht, daß alle hier mitklatschen und sich niemand beeinträchtigt fühlt.
({14})
Meine Damen und Herren, wenn wir aber über das Europäische Parlament sprechen, müssen wir in einer solchen Debatte ehrlich hinzufügen, daß die Einbindung der nationalen Parlamente im Verhältnis zum Europäischen Parlament alles andere als gelungen ist.
Ich füge auch noch hinzu, daß es in einem föderal gegliederten Land wie der Bundesrepublik Deutschland - denken Sie an Themen wie die Kulturhoheit der Länder - auch möglich sein muß, eine Lösung zu finden, die die Landtage in einer gemäßen Weise mit einbindet.
Das heißt, hier ist noch viel zu tun. Der jetzige Zustand ist auf jeden Fall nicht befriedigend. Ich möchte sehr dazu raten, daß wir uns gemeinsam anstrengen, hier die angemessenen Entscheidungen zu treffen.
Meine Damen und Herren, wir wollen die hier skizzierten Fortschritte gemeinsam mit allen unseren Partnern in Europa erreichen. Aber ich füge hinzu: Es darf nicht die Überschrift für die kommende Entwicklung sozusagen so lauten: Das langsamste Schiff bestimmt das Tempo des Geleitzuges.
({15})
In unserem Interesse muß es sein, möglichst viele auf diesem Weg mitzunehmen; aber wir können auf gar keinen Fall hinnehmen, daß etwa durch Blokkade von wenigen oder von einzelnen die Entscheidungen ad calendas graecas vertagt werden.
Sollten einzelne Partner nicht bereit oder in der Lage sein, bestimmte Integrationsschritte mitzuvollziehen, so darf dadurch den anderen nicht die Möglichkeit genommen werden, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens voranzugehen und eine verstärkte Zusammenarbeit zu entwickeln.
Wir werden uns in Madrid in Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates in Essen erneut mit den Staats- und Regierungschefs der assoziierten Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zyperns treffen. Wir wollen dabei die Partner über die Ergebnisse unterrichten. Zugleich werden wir auch Eckpunkte des weiteren Vorgehens zur Vorbereitung des Beitritts dieser Länder zur Europäischen Union zu beraten haben.
Ich will hier für die Bundesregierung deutlich erklären, daß wir die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten bzw. Südosten wollen. Für uns - ich sage das noch einmal, wie schon so oft von dieser Stelle aus - ist es völlig inakzeptabel, daß die Westgrenze Polens auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bleibt.
({16})
Polen, Ungarn und Tschetschenien, um nur einige zu nennen, gehören genauso zu Europa - ({17})
- Tschechien, Entschuldigung! Meine Damen und Herren, es ist ein großer Genuß, morgens um 9 Uhr in diesem Saal eine Regierungserklärung abgeben zu können.
({18})
Und wenn es Ihnen den Beifall erleichtert, wiederhole ich das noch einmal.
({19})
- Ja, stellen Sie sich einmal vor, was es für mich ausmacht, Stunde um Stunde - wie es meine verfassungsmäßige Pflicht ist - Sie zu ertragen.
({20})
Polen, Ungarn und Tschechien, um nur einige zu nennen, gehören ebenso zu Europa und verkörpern ebenso die europäische Kultur wie Frankreich, Italien, Deutschland oder Spanien.
({21})
Wir treten als Bundesregierung weiterhin ganz entschieden dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit jedem Land und je nach Erfolg der jeweiligen Reformschritte zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufzunehmen und einzeln zu führen. Eine Verhandlung in einem Gruppenbezug scheint uns nicht der richtige Weg zu sein. Die Erfahrungen beim Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands - leider kam der Beitritt Norwegens nicht zustande - zeigen mir, daß wir Land für Land mit den Beitrittskandidaten verhandeln müssen. Mit Malta und Zypern werden die Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach dem Ende der Regierungskonferenz entsprechend früheren Beschlüssen aufgenommen.
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß dieses Datum für erste Länder aus Mittel- und Osteuropa eine realistische Perspektive ist. Dies würde es ermöglichen, bereits um das Jahr 2000 herum Grundentscheidungen über die ersten Beitritte für Assoziierungspartner in Mittel- und Osteuropa zu treffen.
Ich habe jetzt „um das Jahr 2000 herum" gesagt, weil ich gerne einmal hinzufügen möchte, was in den Debatten meistens nicht zum Ausdruck kommt: Es müssen ja nicht nur die Verhandlungen abgeschlossen sein. Vielmehr muß in allen nationalen Parlamenten der einzelnen Länder die Ratifikation vollzogen werden. Das wird seine Zeit brauchen. Hier werden noch einmal ganz andere nationale Interessen deutlich. Wir müssen also deutlich unterscheiden zwischen den Verhandlungen an sich, der Beschlußfassung und der Ratifikation in den einzelnen Parlamenten.
Natürlich ist es auf diesem Wege absolut zwingend, daß die Länder in Mittel- und Osteuropa ihre erfolgreiche Reformpolitik konsequent fortsetzen und sich auf die Erfordernisse des Beitritts vorbereiten. Wir anderen in Europa können ihnen dabei helfen; aber die Hauptanstrengung muß im jeweiligen Land selbst erfolgen. Das Motto muß lauten: Reformkurs ist zugleich Beitrittskurs.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, trotz der umfassenden und schwierigen Agenda der nächsten Jahre dürfen wir unser vorrangiges Ziel nicht aus den Augen verlieren: Es geht uns um ein vereintes, demokratisches und handlungsfähiges Europa, das auf dem Prinzip der Einheit in Vielfalt basiert, die kulturellen Eigenheiten und die regionalen Besonderheiten achtet, ein Europa, das auch nie aus den Augen verliert, daß es von den Bürgern getragen - nicht ertragen - wird.
({22})
Ziel unserer Politik gerade unter den Gegebenheiten Deutschlands ist es, die Einigung Europas unumkehrbar zu machen. Das ist der entscheidende Maßstab. Es ist gewiß nicht immer leicht; denn um das gemeinsame Haus Europa tatsächlich zu bauen, sind viele Schwierigkeiten zu überwinden. Es müssen in den verschiedensten Bereichen - ich spreche das klar an - auch Opfer gebracht werden. Dies betrifft nicht nur unser eigenes Land, sondern auch unsere Partner und Freunde in Europa. Wenn wir aber dieses vereinte Europa als die beste Voraussetzung für Frieden und Freiheit auch für die Deutschen im 21. Jahrhundert schaffen wollen, führt an dieser Erkenntnis kein Weg vorbei.
Die Aufgaben und die Herausforderung, vor denen wir heute in Europa stehen, sind zu groß, sind zu schwierig, um sie mit den Mitteln nationaler Politik vergangener Zeit erfolgreich meistern zu können. Die Zukunft zu sichern wird nur möglich sein im solidarischen Handeln der beteiligten Partner. Ich denke, darauf kommt es vor allem an. Nur so können wir Frieden und Freiheit, Wohlstand und Stabilität in Europa dauerhaft sichern.
Es ist der entschiedene Wunsch der Bundesregierung, daß wir vor diesem Hintergrund, vor allem während der Regierungskonferenz, in einer engen Kooperation mit dem Parlament und mit seinen Ausschüssen den richtigen Weg finden. Ich bitte Sie, diese Politik zu unterstützen.
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Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Kollege Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Vertiefung der Integration, die Erweiterung der Union und ihrer Möglichkeiten, ihre Behauptung im weltweiten Prozeß und die Verteidigung ihrer Ideale, das sind alles unbestrittene Ziele. Wenn man aber über Europa so routiniert und so leidenschaftslos redet wie der Bundeskanzler,
({0})
dann drohen diese Ziele zu sich verbrauchenden Formeln zu werden,
({1})
dies insbesondere deshalb, weil die Menschen, wie ich denke: zu Recht nach Jahren der europäischen Integration und ihrer Vermittlung über den wirtschaftlichen Vorteil fragen, ob die Vertiefung der Union den Menschen und ihrer konkreten Lebenssituation tatsächlich hilft.
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Herr Bundeskanzler, Sie haben neben vielen anderen Themen - leider nicht mehr zum Erstaunen der SPD - die wirtschaftliche und soziale Entwicklung unseres Kontinents wiederum nur am Rande gestreift. Dies ist ein schweres Versäumnis.
({3})
Dies ist insbesondere deshalb ein schweres Versäumnis, weil die Bundesanstalt für Arbeit in diesen Minuten jene Zahlen bekanntgeben wird, die bezogen auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland - dem wirtschaftlich wichtigsten Land in Europa - bedenkliche Signale beinhalten.
Im November 1995 ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland erneut gestiegen. Die Zahl der Arbeitslosen liegt um 150 000 Personen über der Zahl im November 1994. Die Zahl der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik Deutschland ist um 163 000, im Westen Deutschlands sogar um 190 000 Personen zurückgegangen.
Wer im Rahmen einer Regierungserklärung über diese Entwicklung, die diese Zahlen darstellen, kein einziges Wort verliert, der hat nicht verstanden, daß wir in Europa nur dann eine gemeinsame Chance haben, wenn es in Europa auch endlich eine gemeinsame Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik gibt.
({4})
Niemand bestreitet, daß wir eine Vertiefung der Europäischen Union brauchen und daß zur Vertiefung der Europäischen Union gehört, daß wir uns auf Bürgerrechte verständigen. Deshalb hat die Sozialdemokratie vorgeschlagen, sich im Rahmen der Vertragsverhandlungen zur Revision von Maastricht I auf eine Charta europäischer Bürgerrechte zu verständigen. Deshalb haben wir gefordert, daß Europa auch ein Kontinent der inneren Sicherheit mit einer grenzüberschreitenden Bekämpfung der organisierten Kriminalität wird. Deshalb haben wir gefordert, die Rechte des Parlaments zu stärken und die Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union zu vereinfachen und durchschaubarer zu machen. Deshalb haben wir gefordert, nicht allein die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen zu stärken, sonRudolf Scharping
dern auch dafür zu sorgen, daß europäische Institutionen kompetenter und entscheidungsmächtiger werden.
Wir sind der Meinung, daß diese politische und demokratische Vertiefung der Union eine unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung ist.
({5})
Wer allerdings seine Hausaufgaben nicht macht, der kann in Europa nicht glaubwürdig für solche Ziele eintreten.
({6})
Wer sich hier in den Deutschen Bundestag stellt und entgegen einem erstrittenen Parlamentsvorbehalt, entgegen der Bestimmungen des Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes sagt: „Ihre Fragen zur Wirtschafts- und Währungsunion will ich nicht beantworten",
({7})
der verstößt gegen den Geist einer demokratischen Kontrolle, und er kann in Europa nicht glaubwürdig vertreten, was er mit arroganten Worten dem eigenen Parlament verweigert.
({8})
Wer - ich schaue jetzt die Bundesjustizministerin mit ein wenig Mitleid an - nicht in der Lage ist, in Deutschland die notwendigen Gesetze zur Bekämpfung organisierter Kriminalität zu schaffen, der kann schlecht in Europa für entsprechende Ziele eintreten.
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Natürlich, Herr Bundeskanzler, ist auch richtig, daß wir Stabilität im Umfeld der Europäischen Union brauchen, daß wir dort eine hohe Verantwortung wahrnehmen. Es bleibt auch richtig, daß wir diese Stabilität durch sehr vielfältige Formen der Kooperation, der Zusammenarbeit auf vielen Feldern der Politik voranbringen müssen.
Da wäre als Beispiel zu nennen die durchaus erfolgreiche Mittelmeerkonferenz. Da ist zu nennen die Notwendigkeit einer Perspektive für Zypern und Malta, für Zypern notfalls ohne Regelung aller Einzelprobleme, die diese Insel belasten. Da wäre zu nennen die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit mit den Staaten im Nahen Osten, um den dort stattfindenden faszinierenden, allerdings auch immer noch gefährdeten Friedensprozeß zu unterstützen. Da ist zu nennen die Zollunion mit der Türkei, die hoffentlich noch in diesem Monat im Europäischen Parlament eine Mehrheit findet.
({10})
Da ist zu nennen die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten: wirtschaftlich, auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik, durch Erweiterung der NATO, durch Stärkung der OSZE, durch Kooperation mit Rußland. Da ist - das will ich alles unterstützen - die transatlantische Agenda zu nennen, die wir in vielerlei Hinsicht erweitern müssen, beispielsweise ökonomisch, indem wir zunehmend mehr Prinzipien einer Freihandelszone zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Nordamerika entwickeln.
Das alles sind unbestrittene Ziele. Aber auch da muß man fragen, ob in Europa selbst Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß diese Ziele erreicht werden können. So notwendig die Vertiefung der bestehenden Union ist, so unabdingbar ist auch, daß die Europäische Union im Zuge dieser vertieften Integration erweiterungsfähig gemacht wird.
({11})
- Wenn das für Sie nichts Neues ist, verehrter Kollege, dann frage ich mich, warum Sie nicht endlich mit den Hausaufgaben anfangen.
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Wer in Deutschland allerdings Angst davor hat, sich mit Subventionsempfängern und mit wohleingerasteten Gewohnheiten auseinanderzusetzen - ({13})
- Sie rufen „Kohle". Wir können über die Kohle reden. Wir können auch über den Stahl reden. Ich bin gespannt, Herr Haussmann, wann Sie Ihre Politik Ihrer begrenzten Klientelorientierung aufgeben.
({14})
Fangen Sie doch einmal an, nicht über die Klientel der anderen zu reden, sondern über Ihre eigene.
({15})
Sie fordern Subventionsabbau und begeben sich gleichzeitig hinter die Büsche, wenn es um die Subvention der eigenen Klientel geht. Das ist keine besonders mutige, auch keine besonders überzeugende Politik.
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Damit wären wir bei dem dritten großen Hauptthema, nämlich der wirtschaftlichen Integration. Es ist richtig, daß zwischen wirtschaftlicher und politischer Integration eine unauflösliche Wechselwirkung besteht. Es ist auch richtig, daß die ökonomische, die soziale, die kulturelle, die innenpolitische, am Ende die politische Integration Europas Friedenspolitik mit anderen Mitteln ist. Es bleibt richtig, daß die Integration Europas das gelungenste Beispiel von Lernfähigkeit aus zwei verheerenden Weltkriegen auf unserem Kontinent ist.
Wenn sich dieses Europa nicht in zwar wichtigen, am Ende aber unzureichenden Möglichkeiten erschöpfen soll, dann müssen die wirtschaftlichen Entwicklungen auf unserem Kontinent mit Blick auf seine Behauptung im globalen Wettbewerb und mit Blick auf die Lösungsmöglichkeiten für schwerwieRudolf Scharping
gende Beschäftigungsprobleme in den einzelnen Mitgliedstaaten gleichermaßen bedacht werden. Das letzte geschieht nicht.
Die Europäische Kommission hat unter dem Vorsitz des soeben von Herrn Bundeskanzler Kohl zu Recht, wie ich finde, hochgelobten Jacques Delors
({17})
1993 ein Weißbuch mit konkreten Perspektiven für die Vertiefung der Union im Sozialen und im Wirtschaftlichen vorgelegt.
Ich finde, es ist an der Grenze der Glaubwürdigkeit, wenn ein Bundeskanzler im Deutschen Bundestag den Präsidenten, der für dieses Weißbuch verantwortlich war, in hohen Tönen lobt, die Notwendigkeit wirtschaftlicher Kooperation einklagt und dann gleichzeitig eine Regierung anführt, die alle konkreten Maßnahmen auf der Grundlage dieses Weißbuchs in der Europäischen Union verhindert, verzögert oder gar aktiv bekämpft. Das ist gänzlich unglaubwürdig.
({18})
Dafür gibt es leider sehr viele Beispiele: Es ist nicht gelungen, einen Beschäftigungspakt in Europa zustande zu bringen. Wer will das auch in Europa zustande bringen, wenn er es noch nicht einmal in Deutschland zustande bringt?
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Ich bleibe bei der Feststellung, daß alle Probleme, alle Aufgaben, alles, was wir uns im Wirtschaftlichen, Sozialen und Ökologischen vornehmen, in Europa besser zu regeln sind, als wenn es jedes Mitgliedsland für sich allein versuchen wollte. Das befreit aber nicht davon, in Europa und zu Hause konkret etwas zu tun.
Ich habe mir die Ergebnisse angesehen und muß sagen: Der faszinierende, tiefgreifende Wandel in den Auffassungen der Gewerkschaften in Deutschland, ihre Bereitschaft, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und sie ihren Mitgliedern offen zu sagen, wie auch ihr Angebot - ausgehend von der IG Chemie und dann in einer großen Initiative von der IG Metall und ihrem Vorsitzenden Klaus Zwickel -, ein „Bündnis für Arbeit" in Deutschland zustande zu bringen, wird auf der Arbeitgeberseite mit einer Verweigerung und auf der Regierungsseite sogar mit einer Verschärfung des Kurses des sozialen Abbaus beantwortet. Das ist verantwortungslos.
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Es ist, Herr Bundeskanzler, genau jene Haltung, die die Bundesregierung daran hindert, in Europa für einen wirksamen Beschäftigungspakt einzutreten. Auch dafür gibt es leider Beispiele.
In Europa wird seit langem - ich nenne nur zwei dieser Beispiele - die Frage der geringfügigen Beschäftigung diskutiert. In Deutschland sind viereinhalb Millionen Menschen ohne Sozialversicherung beschäftigt. Im nächsten Jahr wird der Beitrag zur Rentenversicherung steigen.
Gelänge es, einen großen Teil dieser geringfügigen Beschäftigung in Deutschland in geregelte Teilzeit umzuwandeln, notfalls mit einem Sozialversicherungsscheck, notfalls mit einer pauschalen Leistung an die Rentenversicherung, dann müßte der Rentenversicherungsbeitrag nicht steigen.
({21})
Wer in Deutschland die Höhe der Lohnnebenkosten und die daraus folgende Belastung der Arbeitsplätze beklagt, der muß sich zu fragen beginnen, welchen Beitrag die Politik, die Bundesregierung und diese Koalition geleistet haben. Es ist heuchlerisch, die Höhe der Lohnnebenkosten zu beklagen und gleichzeitig eine Politik zu betreiben, die genau diese Belastung der Wertschöpfung und der Arbeitsplätze in Deutschland in immer neue Rekordhöhen treibt.
({22})
Wir brauchen in Deutschland wie in Europa eine Entlastung der Mitte: der Mitte der Gesellschaft, der Mitte der Einkommensbezieher. Das wird nur gelingen, wenn man die Systeme insgesamt tragfähiger macht und dafür sorgt, daß sich nicht alle möglichen Leute davonstehlen können oder herausgedrückt werden.
Geringfügige Beschäftigung, die uns in Europa mit Sicherheit noch beschäftigen wird - dazu wird es auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs geben -, ist ein Beispiel für das Herausdrücken von Menschen aus den Systemen der sozialen Sicherheit und des sozialen Konsenses. Ebenso ist für die kümmerliche Haltung der Bundesregierung in Sachen Ordnung auf dem ersten Arbeitsmarkt die Entsenderichtlinie ein signifikantes Beispiel. Wer unfähig ist, für Stabilität auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen, der wird am Ende unfähig bleiben, für stabile Entwicklung in Europa zu sorgen.
({23})
Deshalb ist es nicht nur ein Thema in Deutschland, wenn man um die Frage ringt, ob es in diesem Land - auch vorbildlich für Europa; ich erinnere einmal an die Situation in Frankreich - zu einem Bündnis zugunsten der Arbeit und der Arbeitsplätze kommt. Wenn allerdings ein Bundeswirtschaftsminister
({24})
von morgens bis abends nur die Sorge um seinen eigenen Arbeitsplatz hat, dann kann er sich um die Arbeitsplätze anderer kaum noch sorgen. Dafür ist keine Luft mehr.
({25})
Was Sie uns auf diesem Felde bieten, das ist eine lustlos vorgetragene Regierungserklärung. Das ist
erstaunlich, weil ja niemand von uns bestreitet, daß dieser Bundeskanzler durchaus europäisches Engagement hat - seine Regierung weniger und die sie tragenden Kräfte auf eine höchst unterschiedliche Weise. Dabei bleiben eben ganz viele Dinge im Vagen und im Ungefähren.
Unsere erste Aufforderung ist, in Deutschland ein „Bündnis für Arbeit" zu schmieden, damit man in Europa Beschäftigungspolitik glaubwürdig einfordern kann.
({26})
Unsere zweite Aufforderung ist, daß in Europa der Trend gestoppt wird, immer mehr soziale Standards, soziale Rechte und soziale Möglichkeiten abzubauen.
({27})
In Deutschland wird häufig argumentiert, der Sozialstaat sei zu teuer. Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, die Arbeitslosigkeit wird zu teuer.
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Sie ist es nicht nur finanziell. Wenn wir am Beginn dieses Jahres eine wirtschaftliche Entwicklung mit einigermaßen befriedigenden Wachstumsraten und mit einer Arbeitslosenzahl, die rund eine viertel Million unter dem Vorjahresstand lag, hatten und jetzt im November verzeichnen müssen, daß wir nicht mehr 250 000 Arbeitslose weniger als im Vorjahr, sondern 150 000 mehr haben, dann kennzeichnet das die dramatische Wende in der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland.
({29})
Das kennzeichnet den Handlungsbedarf, und das kennzeichnet die Notwendigkeit, daß wir auf dem Stuhl des Bundeswirtschaftsministers endlich wieder einen Fachmann haben müssen,
({30})
nachdem die F.D.P. dieses Amt, das von Erhard und Schiller geprägt worden ist, in seinem öffentlichen Ansehen und in seiner Wirksamkeit nicht nur auf Null, sondern unter Null gebracht hat.
({31})
Da kommt ja nicht nur Herr Rexrodt, da kommt die gesamte Koalition und sagt, das liege an den Sozialkosten in Deutschland. Wegen des sozialen Konsenses, wegen der Bedingungen menschlichen Zusammenlebens , wegen der gegenseitigen Verantwortung und wegen der europäischen Solidarität wehren wir uns dagegen, daß hier immer der Sozialstaat für die Unfähigkeit der Regierung in Deutschland und mancher in Europa, etwas Wirksames gegen Arbeitslosigkeit zu tun, verantwortlich gemacht wird.
({32})
({33})
Das läßt sich übrigens auch mit Zahlen untermauern. Im Westen Deutschlands ist die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt, auf 27,3 Prozent gesunken. In Großbritannien beträgt diese Quote 27,2 Prozent, in Europa insgesamt 27,1 Prozent. Ich belasse es bei diesen einfachen Zahlen und füge hinzu: Wer den Menschen ständig einreden will, daß die soziale Verpflichtung untereinander nur noch unter finanziellen Gesichtspunkten zu betrachten und diese finanzielle Dimension zu groß geworden sei, redet an der Wahrheit vorbei. Er belügt die Leute, er zerstört den sozialen Zusammenhalt in den Mitgliedstaaten, und er zerstört die Chance, ein an Beschäftigung und sozialem Zusammenhalt orientiertes Europa aufzubauen.
({34})
Als dritten Punkt nenne ich die Wirtschafts- und Währungsunion.
({35})
Ich halte zunächst fest, daß nach unserer Überzeugung die Wirtschafts- und Währungsunion notwendig ist. Sie liegt im ökonomischen Interesse der Bundesrepublik Deutschland. Sie liegt im Interesse der Integration Europas. Sie liegt im Interesse der Behauptung Europas im weltweiten Wettbewerb. Sie liegt im Interesse der politischen Integration unseres Kontinents.
Ich füge hinzu - ich zitiere jetzt -:
Wir wollen keineswegs Termine verschieben.
({36})
Aber realistischerweise muß ich darauf hinweisen, daß die Reihenfolge so sein muß, daß das Stabilitätskriterium an erster Stelle rangiert
({37})
und die Frage des Kalenders die zweite Stelle einnimmt. Das muß klar und deutlich ausgesprochen werden.
Jetzt rufen Sie dazwischen: „Er kennt den Vertrag nicht!". Sie rufen dazwischen: „Vertrag, Vertrag, Vertrag!" Können Sie mal ein bißchen mehr Phantasie entwickeln?
({38})
Was ich eben zitiert habe und was Sie so kritisch
kommentieren, ist die Stellungnahme Ihres eigenen
Bundeskanzlers aus der Sitzung des Bundestages vom 27. Mai 1994.
({39})
Sie müssen schon ein bißchen aufpassen! Ich zitiere hier den Bundeskanzler aus den Reihen der CDU/ CSU. Es ist ja verständlich, daß das gleich kritisiert wird. Herr Haussmann muß seine Existenz in einer Fraktion, die zu mittlerweile fast 20 Prozent aus ehemaligen Ministern besteht - ({40}) Herr Bundeskanzler, ärgert Sie das?
(
Nein!)
Ich muß Ihnen sagen, es bestehen ja gewisse Aussichten, daß der Prozentsatz noch steigt.
({0})
Daß Sie das nicht mögen, weil es etwas über den Zustand Ihres Koalitionspartners sagt, kann ich nachvollziehen. Die Sorge, daß das auf Sie übergreifen könnte, kann ich auch nachvollziehen. Sie machen bisher nur nicht den Eindruck, daß Sie das ändern können.
({1})
Das stimmt schon numerisch nicht. Ich will Ihnen im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion noch einmal sagen: Ich finde es erstaunlich, daß Sie mit Zwischenrufen, Kritik und Ablehnung ein Zitat des Bundeskanzlers zur Wirtschafts- und Währungsunion begleiten.
Ich will im Zusammenhang mit der Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion auch sagen: Das Problem ist - jedenfalls bis 1998 - vermutlich nicht der Zeitplan. Forderungen, im Zusammenhang mit der Revision des Maastricht-Vertrages zugleich eine Revision der Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion herbeizuführen, sind aus unserer Sicht falsch. Sie führen nicht zu einem vernünftigen Ergebnis.
Was aber erreicht werden muß, ist zweierlei. Es muß zwischen den Staaten, die an der Währungsunion teilnehmen, eine dauerhafte Verständigung auf die Stabilität zwischen diesen teilnehmenden Staaten geben.
({2})
Das hat mit der Unabhängigkeit des Europäischen Währungsinstitutes zu tun und mit der Frage, ob dieses Währungsinstitut auf der anderen Seite ein politisches Gegengewicht erhält. Um Jacques Delors zu zitieren: Ohne eine Wirtschaftsregierung wird am
Ende auch die gemeinsame Währung nur schlecht funktionieren.
({3})
Ich füge hinzu: Stabilitätskriterien dürfen nicht nur Eintrittskriterien sein. Sie müssen dauerhaft gelten, nicht nur für das Geld, sondern auch für die Stabilität des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft selbst.
Noch wichtiger scheint mir zu sein, daß man zu einer Regelung zwischen den Ländern, die teilnehmen, und jenen Ländern findet, die nicht teilnehmen. Wenn sich kein Europa der zwei Geschwindigkeiten auf Grund ökonomischer Zwänge entwickeln soll, wenn wir nicht ökonomisch auseinanderfallen sollen, dann muß auch eine Vereinbarung zwischen den an der Währungsunion teilnehmenden und den an ihr nicht teilnehmenden Ländern gefunden werden; denn sonst wird das zum wirtschaftlichen Schaden aller in Europa und in der Europäischen Union.
Wie sich die Währungsrelationen in den letzten Jahren entwickelt haben, das ist im Ergebnis nicht nur eine ständige Höherbewertung der Deutschen Mark, sondern auch eine Antriebskraft dafür, daß Arbeitsplätze aus Deutschland exportiert werden
({4})
und gleichzeitig ungesteuerte Einwanderung nach Deutschland stattfindet.
Meine Damen und Herren, ich finde es erstaunlich, daß der Bundeskanzler im Zusammenhang mit der Europäischen Union nicht über die Entwicklung der wirtschaftlichen, der sozialen und der Dimension der Beschäftigung gesprochen hat - allenfalls in Nebensätzen.
Man kann fast alles unterschreiben, was er zur Vertiefung der Europäischen Union sagt. Wir sehen gewisse Probleme, ob das gelingen wird und ob es ernst gemeint ist im Zusammenhang mit den Rechten des Parlamentes, mit einer Charta der Bürgerrechte, mit dem Willen, wirklich innere Sicherheit in Europa zu schaffen.
Aber ich sage Ihnen voraus: Wenn wir Herz, Seele und Verstand der Menschen erreichen wollen, dann wird Europa viel konkreter, und zwar viel konkreter dort werden müssen, wo die größten Bedrängnisse sind: bei der wirtschaftlichen Entwicklung, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei der Sicherung des sozialen Zusammenhalts, beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen - alles Stichworte, zu denen die Bundesregierung weder etwas sagt noch etwas Hinreichendes tut. Ändern Sie das bitte!
({5})
Als nächster spricht unser Kollege Rudolf Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ein elementares deutRudolf Seiters
sches Interesse an einer starken Gemeinschaft Europa - in der Mitte des Kontinents, vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen, angesichts aktueller Gefährdungen. Wir wollen die Handlungsfähigkeit Europas stärken, seine demokratische Legitimität sichern, das Subsidiaritätsprinzip durchsetzen und die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch unsere östlichen und südlichen Nachbarn an Stabilität, Prosperität und Sicherheit teilhaben.
({0})
Deutschland gilt zu Recht als ein Motor der europäischen Entwicklung. Der Deutsche Bundestag sollte der Bundesregierung und dem Bundeskanzler die volle Unterstützung und Rückendeckung für die deutschen Initiativen geben mit dem Ziel eines unwiderruflichen politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlusses und auch einer Beschäftigungspolitik, wie wir sie ja auch auf dem Gipfel in Essen angesteuert haben.
({1})
Gestern, meine Damen und Herren, hatten wir ja noch Hoffnung auf Lernfähigkeit bei der SPD. Herr Kollege Scharping, Ihre Rede und ihre Kritik an dieser europäisch ausgerichteten Bundesregierung war überzogen und völlig abwegig,
({2})
und sie reiht sich leider ein in eine lange Kette außenpolitischer Fehler und Irrtümer in den ganzen letzten Jahren. Schauen Sie sich doch die Helden in Ihrer ersten Reihe einmal an! Die eine, die Dame, ist die personifizierte Belastung des deutsch-französischen Verhältnisses, und der andere steht für eine bündnisunfreundliche Politik.
({3})
Auf Schröder, Lafontaine und Spöri kommen wir noch zu sprechen. Damit ist kein europäischer Staat zu machen.
({4})
Ich habe hier ein Zitat von Helmut Schmidt aus seiner leider nicht gehaltenen Rede für den SPD-Bundesparteitag:
Man muß sich bisweilen schämen, wenn Sozialdemokraten selbst zu tun nicht bereit sind, was sie von anderen verlangen.
({5})
Auch zum Korrigieren eigener irrtümlicher Meinungen braucht man Tapferkeit. Aber Opportunismus,
- Herr Kollege Scharping Eitelkeit und Egomanie sind vom Übel. Sie können sogar zu Todsünden eines Politikers werden.
Und dann sagt er:
Kümmert euch - hier schließe ich Heidi Wieczorek ein - um die Freundschaft mit Frankreich. Sie ist das kostbarste Gut, was uns im 20. Jahrhundert zugefallen ist.
({6})
Wir haben für die Regierungskonferenz ehrgeizige Ziele. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihre Vorstellungen sehr präzise formuliert. Wir wissen, daß wir nicht alles durchsetzen können. Aber ich sage an die Bedenkenträger, die schon jetzt unterwegs sind, um die Erwartungen an die Regierungskonferenz herunterzuschrauben: Es wäre ein großer Fehler, im Vorfeld der Konferenz jene Ziele zur Disposition zu stellen, für die eine Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten noch nicht gesichert ist. Wenn die politische Union Europas eine Schicksalsfrage für unseren Kontinent ist, dann müssen wir um die notwendigen Fortschritte auch kämpfen und werben, und dann müssen die Vorschläge zur Reform der Europäischen Union auch dem Anspruch genügen, den europäischen Einigungsprozeß entscheidend voranzubringen.
Ich möchte einige Punkte herausgreifen. Wir wollen, daß Europa außenpolitisch wirksamer und überzeugender als bisher handelt. Wer die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stärken will, muß ja zur Schaffung der gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik und Verteidigung sagen. Deshalb muß die WEU weiter gestärkt und möglichst bald in die Europäische Union integriert werden.
Erforderlich ist auch, daß wir in allen Fragen der gemeinsamen Außenpolitik vom Vetorecht wegkommen. Ohne Mehrheitsentscheidungen wird die Europäische Union in entscheidenden außen- und sicherheitspolitischen Fragen keine größere Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit erreichen.
Mehrheitsentscheidungen will auch die SPD; aber sie will die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik an deren vorherige Vergemeinschaftung binden. Jeder weiß: Das ist 1996 nicht erreichbar. Deswegen sage ich Ihnen: Wer auf der Regierungskonferenz die Einführung von Mehrheitsentscheidungen von der vorherigen Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik abhängig macht, muß wissen, daß er damit das Vetorecht zementiert, die Einführung von Mehrheitsentscheidungen blockiert und damit gleichzeitig die Stärkung der Wirksamkeit der europäischen Außenpolitik behindert. Deswegen lehnen wir diese falsche und unsachgerechte Bedingung ab.
({7})
Noch einmal zur europäischen Verteidigung: Sie wird nur funktionieren, wenn Deutschland keine Sonderrolle für sich beansprucht. Was die SPD in Wiesbaden und Mannheim beschlossen hat, ist eine Absage an die von allen WEU-Partnern vereinbarte Petersberg-Erklärung und damit auch eine grundsätzliche Absage an die geplante Verteidigungspolitik und Verteidigung im Rahmen von WEU und EuroRudolf Seiters
päischer Union. Deswegen appellieren wir an die SPD-Bundestagsfraktion, sich wie in der Bosnienfrage nicht an den Beschlüssen von Mannheim zu orientieren. Wenn Sie an Mannheim festhalten, ja, wenn Sie zulassen, wie in dieser Woche geschehen, daß Herr Verheugen die außen- und sicherheitspolitischen Beschlüsse der Grünen in Bremen ausdrücklich begrüßt, dann werden Sie noch lange Zeit bündnis- und europaunfähig bleiben.
({8})
Wenn es richtig ist, daß die europäische Einigung immer auf ganz Europa angelegt war, dann muß der Norderweiterung jetzt bald die Osterweiterung folgen. Wenn wir die Wohlstandsgrenze in Europa nicht beseitigen, wird das fortbestehende wirtschaftliche Gefälle am Ende die Stabilität der gesamten Union gefährden. Deshalb ist die konkrete Beitrittsperspektive der Polen, der Ungarn, der Tschechen und anderer für uns Deutsche so wichtig. Ihre Vorbereitung auf die Mitgliedschaft erfordert größte Anstrengungen. Aber zu Opfern - das zeigt ja auch das Beispiel Frankreich - ist bekanntlich nur bereit, wer ein Ziel vor Augen hat, welches er auch erreichen kann.
Wir setzen uns deshalb dafür ein, daß erste mittel- und osteuropäische Staaten um das Jahr 2000 in die Europäische Union aufgenommen werden können und daß Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach der Regierungskonferenz beginnen.
({9})
Wir erwarten, daß die beim Essener Gipfel vereinbarte Heranführungsstrategie im Sinne einer immer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit weiterentwickelt wird.
Auch die Art und Weise - das hat der Bundeskanzler auch bei dem Gipfel in Essen praktiziert -, wie die Regierungschefs unserer assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder bei EU-Gipfeln, auch bei dem in Madrid, einbezogen werden, ist eine politisch-psychologisch wichtige Frage, die die Europäische Union nichts kostet, den Menschen in diesen Staaten aber signalisiert, wie sehr sie bereits dazugehören.
Ich denke speziell an unser Verhältnis zu Polen, das in der Vergangenheit zu oft von Unrecht und Verletzungen überschattet war. Ich bin dafür, daß wir uns mit Blick auf die Europäische Union, aber auch mit Blick auf die NATO weiterhin als Anwalt Polens betrachten. Mir jedenfalls fällt kein Argument ein, warum wir den Polen den Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO verwehren oder erschweren sollten, wenn die Voraussetzungen vorliegen und Polen ihn wünscht.
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Meine Damen und Herren, ich habe von den Bedenkenträgern gesprochen, die in unserem Lande wieder unterwegs sind. Die Wirtschafts- und Währungsunion steht nicht auf der Tagesordnung der
Regierungskonferenz. Sie gehört aber zu den wichtigsten Themen, die die Menschen in unserem Lande interessieren. Sie wird auch auf dem bevorstehenden Gipfel in Madrid erörtert werden.
Wir haben nichts gegen eine öffentliche Auseinandersetzung. Die gemeinsame Währung braucht das Vertrauen der Menschen. Wir müssen die Sorgen der Bürger, daß eine europäische Währung unter Umständen weniger stabil sein könne als die D-Mark und sich die Währungsunion zu einer Umverteilungsunion zu Lasten Deutschlands entwickeln könne, sehr ernst nehmen.
Die Stabilität der D-Mark und die Geldpolitik der Bundesbank sind eine Erfolgsgeschichte, auf die wir mit Recht stolz sind. Wir werden auch vor diesem Hintergrund die Stabilität der Währung nicht auf dem Altar der europäischen Währungsunion opfern.
({11})
Deshalb sind strenge Kriterien im Maastricht-Vertrag enthalten, dem der Deutsche Bundestag mit einer Mehrheit von 96 Prozent und der Bundesrat einstimmig zugestimmt haben. Daran will ich doch noch einmal erinnern.
Was uns Sorge bereitet, ist die leichtfertige Art und Weise, mit der Sozialdemokraten, Herr Lafontaine und Herr Schröder an der Spitze, mit den Sorgen und Ängsten unserer Bürger im wahrsten Sinne des Wortes spielen.
Wer heute noch, wie Lafontaine, seine alten Ressentiments gegen die erfolgreiche und alternativlose deutsch-deutsche Währungsunion pflegt, ist wohl kaum berufen, besonders qualifiziert über die europäische Währungsunion zu reden.
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Wer, wie Schröder, auf der Regierungskonferenz Nachverhandlungen zum Maastricht-Vertrag fordert und heute das Zieldatum 1999 nicht nur in Frage stellt, sondern für unmöglich erklärt, Herr Scharping und Herr Verheugen, der verabschiedet sich, so der Präsident des Europäischen Parlaments, Klaus Hänsch, von seiner politischen Verantwortung für die Europäische Union, verbrennt die Balken des eigenen Hauses, lockert den Konvergenzdruck und die Finanzdisziplin der Mitgliedstaaten, fällt der französischen Regierung, aber auch anderen Regierungen bei ihrem Stabilitätskurs in den Rücken, will ein Wahlkampfthema. Das ist unverantwortlich.
({13})
Als Kommissionspräsident Santer in der vergangenen Woche im Zusammenhang mit der Währungsunion von den Propheten des Unglücks gesprochen hat, muß er auch an führende Vertreter der SPD gedacht haben.
Eines fand ich besonders interessant. Herr Scharping erklärt: Wir stellen den Zeitplan nicht in Frage; die Kriterien sind zwar wichtiger als der Zeitplan, aber wir stellen ihn nicht in Frage. - Heute fand eine Attacke gegen die Währungsunion aus den Reihen von Schröder und Lafontaine statt. Wer reiht sich ein? Der SPD-Politiker Spöri erklärt die Währungsunion zu einem Alptraum für die europäische Idee und sagt: Der Zeitpunkt 1999 ist tot.
Gott sei Dank widerspricht der DGB. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hält am Zeitplan für die Währungsunion fest. Je früher sie komme, desto eher könne es eine europäische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik geben.
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Mit anderen Worten - das kennzeichnet das Motto der SPD -: „Es lebe der Stammtisch! Arbeitsplätze sind nicht so wichtig! "
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Meine Damen und Herren, wir halten am Zeitplan und an der strikten Auslegung der Stabilitätskriterien fest. Wir begrüßen den von Finanzminister Waigel vorgeschlagenen Stabilitätspakt, der keine Verschärfung der Eintrittsbedingungen, sondern eine Konkretisierung der im Maastricht-Vertrag niedergelegten Sanktionsmechanismen darstellt. Die im Vertrag von Maastricht vereinbarte Wirtschafts- und Währungsunion ist ein entscheidender Schritt, die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die Beschäftigungsmöglichkeiten und die Stabilität in der Europäischen Union zu sichern und zu stärken.
Das will ich noch in Ihre Reihen hinein sagen. Wären wir 1990 den Bedenkenträgern gefolgt, die damals den Fahrplan zur deutschen Einheit verändern und den deutschen Einigungsprozeß verzögern wollten, hätten wir heute nicht die Einheit unseres Vaterlandes.
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Weil das so war, werden wir auch heute mit Blick auf die europäische Währungsunion den Bedenkenträgern von 1995 aus Verantwortung für Deutschland und für die politische Einigung Europas entgegentreten.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Christian Sterzing.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenige Tage vor dem Rat in Madrid stehen die Zeichen für den Integrationsprozeß in Europa nicht günstig. Die geplante dritte Stufe der Währungsunion erweist sich schon vor ihrem Beginn als ein politischer und sozialer Sprengsatz. Man braucht nur nach Frankreich zu schauen. Der druckfrische Bericht der Reflexionsgruppe ist in der Substanz enttäuschend mager. Die Regierungserklärung heute morgen
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hat wohl auch niemanden vom Hocker gerissen.
({1})
Nichts war zu hören von durchgreifenden Reforminitiativen. Es wurden kaum irgendwelche konkreten Vorstellungen geäußert.
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Alles blieb offen, blieb wolkig, blieb unklar. Das hat deutlich gezeigt, daß in Sachen Europa die Diktatur des Larifariats herrscht.
Nun will uns die Regierung immer wieder glauben machen, daß Ihre Verhandlungspositionen noch nicht festgelegt werden könnten, daß man sich alle Optionen offenhalten will, daß man die Entwicklung abwarten wolle. Aber die Devise „kleine Brötchen backen" soll uns gleichzeitig als hohe Kunst der Politik verkauft werden.
Diese Zwischenbilanz ist wirklich ernüchternd. Aber, ich denke, es kommt noch etwas sehr Schwerwiegendes hinzu. Der europäische Einigungsprozeß verliert mehr und mehr an Unterstützung in der Bevölkerung. Dies zeigen alle Umfragen in diesen Monaten. Das Akzeptanzproblem ist heute so groß, daß dadurch der europäische Einigungsprozeß insgesamt gefährdet wird. Wir sollten uns nun nicht der Illusion hingeben, daß das Imageproblem der Europäischen Union mit einer millionenschweren PR-Kampagne zu beseitigen sei. Notwendig ist vielmehr eine glaubwürdige Perspektive für diesen europäischen Integrationsprozeß, ist eine glaubwürdige Reforminitiative, mit der konkrete Schritte aufgezeigt werden und die den Menschen zeigt, welche Ziele in welchem Zeitraum realistisch erreicht werden können.
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Ich glaube, daß viele Menschen spüren, vor welchen entscheidenden Weichenstellungen und Herausforderungen dieses Europa steht. Aber ich glaube auch, daß viele Menschen spüren, daß diese Regierung diesen Herausforderungen nicht gerecht wird. Die Kluft zwischen der Eloquenz europapolitischer Sonntagsreden und dem Stottern, wenn es um konkrete europäische Reformperspektiven geht, ist zu groß.
Da ist zum einen die Herausforderung der Erweiterung der Union und zum anderen die Herausforderung der inneren Reformfähigkeit. Beides ist unlösbar miteinander verbunden. Hier liegt die Aufgabe, die uns für die nächsten Jahre gestellt ist: Wir müssen dieses Europa gesamteuropatauglich machen.
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Das ist aber nicht etwa nur ein technokratisches Problem, ein Problem, das sich auf Fragen der Handlungsfähigkeit, der Effizienz, der Reform von Institutionen reduzieren läßt. Die Menschen spüren, daß der Reformbedarf viel größer ist. Erweiterung und Vertiefung werden von vielen Menschen zur Zeit als Bedrohung empfunden. Die Erweiterung nach Osten und Süden gefährdet in den Augen vieler Menschen die Wohlstandsinsel in Westeuropa. Mit der unsäglichen Nettozahler-Diskussion in Deutschland als angeblichem Zahlmeister Europas werden diese Ängste immer wieder aufs Neue geschürt. Und mit der Vertiefung der Union verbinden viele Menschen die Befürchtung weiterer Zentralisierung, Bürokratisierung und Entdemokratisierung. Die Menschen haben immer mehr das Gefühl, daß diese Regierung angesichts der wachsenden Problemberge nicht über den notwendigen Reformwillen verfügt und daß auch die notwendige Handlungsfähigkeit nicht vorhanden ist, denn die Widersprüche sind in vielen Bereichen viel zu offensichtlich.
Da wird im Zusammenhang mit der Währungsunion immer wieder kanonartig betont, daß an den Konvergenzkriterien und am Zeitplan nicht gerüttelt werden darf. Aber ist das denn heute noch glaubwürdig, wenn es offensichtlich immer weniger Staaten gelingt, im vorgesehenen Zeitraum diese vorgeschriebenen Konvergenzkriterien zu erfüllen?
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- Sie brauchen nur die Statistiken und die Prognosen zu lesen. Und Sie brauchen nur nach Frankreich zu schauen, wo wir im Augenblick sehr deutlich erleben, welche Schwierigkeiten dort bestehen und welche Folgen eine Politik hat, die einseitig auf eine solche Erfüllung der Konvergenzkriterien setzt.
Auf der anderen Seite wird aber auch immer wieder vollmundig die Osterweiterung der Union beschworen. Bis zum Jahr 2000 sollen die ersten Staaten Mitglied werden können. Aber jeder weiß, daß Voraussetzung für diese Erweiterung grundlegende Reformen innerhalb der EU sind. Die Menschen spüren, daß dafür die notwendige Reformbereitschaft nicht besteht.
Da wird von den europäischen Herausforderungen zum Ende dieses Jahrtausends gesprochen, doch auf der vorgesehenen Tagesordnung der Folgekonferenz läßt sich davon nichts finden. Diese Tagesordnung ist reduziert auf einen technokratischen Minimalkatalog. Es fehlt eine wirklich glaubwürdige Integrationsperspektive.
Wir sind der Überzeugung, daß der europäische Integrationsprozeß fortgesetzt werden muß. Wir glauben auch, daß mit einer wirklichen Reforminitiative die Zustimmung der Menschen zu diesem Prozeß wiedergewonnen werden kann. Aber dafür ist es notwendig, Erweiterung und Vertiefung als Chance für eine gesamteuropäische Friedensordnung zu verstehen. Das, was bislang auf der Tagesordnung der Regierungskonferenz steht, verspricht keineswegs diese erforderliche Auseinandersetzung mit den anstehenden Problemen. Die Menschen in Europa haben nicht das Gefühl, daß die drängenden Fragen der europäischen Zukunft und des europäischen Einigungsprozesses hier in Angriff genommen werden.
Die von der Bundesregierung gerade heute geäußerten Vorstellungen lassen nun auch diesbezüglich wirklich keine Hoffnung aufkommen. Wir müssen deutlich machen, daß ein demokratisches, daß ein ziviles Europa nur dann eine Chance auf Realisierung hat, wenn wir die notwendigen Instrumente in der Regierungskonferenz entwickeln, erarbeiten und dann auch konkrete Ziele für deren Umsetzung festzurren.
In der Union ist in den letzten Jahren der Integrationsprozeß weit vorangeschritten. Aber wir stoßen auch an die Grenzen dieses Integrationsprozesses, insbesondere wenn er einseitig auf den Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion gerichtet ist. Die Ausweitung auf eine Umweltunion; auf eine Sozialunion, auf ein überlebensfähiges und reformfähiges Gesamteuropa ist, glaube ich, die Hoffnung vieler Menschen. Weil diese Regierung diese Hoffnung immer wieder enttäuscht, mangelt es an der Akzeptanz in der Bevölkerung.
Der Reformprozeß könnte auf der Regierungskonferenz 1996 einen entscheidenden Anstoß erhalten. In Madrid könnte dafür der Startschuß gegeben werden. Doch wenn die Regierung weiterhin unentschlossen in den Startlöchern verharrt, dann wird damit eine große Chance verspielt.
Vielen Dank.
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Ich erteile dem Bundesminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich gerne an Herrn Scharping wenden. - Wie ich sehe, ist er nicht im Saal. Ich will es trotzdem tun.
Herr Scharping, Sie haben heute morgen - hoffentlich hören Sie wenigstens am Fernseher zu - dem Bundeskanzler Vorwürfe gemacht. Wenn ich mir so ansehe, was Sie in Ihrer Rede geäußert haben, dann war das so richtig europapolitisches Feuer, das aus Ihren Bemerkungen geschlagen ist. Es war schon bemerkenswert: absolute Leidenschaft. Wenn Sie sonst für Europa diese Leidenschaft aufbringen würden, wäre es erfreulich.
Wenn ich mir ansehe, was die SPD in letzter Zeit in Sachen Europa zuwege gebracht hat, dann war das nichts anderes als diese unsäglichen populistischen Äußerungen von Herrn Schröder - und leider auch von Herrn Scharping - zur Europäischen Währungsunion.
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Von Ihnen kam nur unverantwortliche Angst- und Bangemache, reiner Populismus. Aber Sie haben bald gemerkt, wohin die Reise geht. Deshalb haben Sie das eingestellt.
Doch Herr Schröder läßt nicht locker. Heute morgen lese ich, daß er erneut Nachverhandlungen über die Eintrittsbedingungen für die Europäische Währungsunion gefordert habe;
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sie seien nicht klar genug definiert. - Dazu möchte ich gerne sagen, daß die Forderung von Herrn Schröder absoluter Quatsch ist und zeigt, daß er von der Materie keine Ahnung hat;
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denn nichts ist im Maastrichter Vertrag klarer definiert als die Konvergenzkriterien.
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Aber das zeigt, daß es um andere Dinge geht.
Herrn Scharping möchte ich noch etwas sagen, ganz ruhig und ganz gelassen: Wenn Sie meinen, Herrn Rexrodt und die F.D.P. unfair angreifen zu können,
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dann sollten Sie daran denken, daß es einem gescheiterten Enkel wahrlich nicht gut ansteht, mit Steinen zu werfen, wenn er selber im Glashaus sitzt.
({5})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Norbert Wieczorek?
Nein.
Wenn es an die Sachfragen geht, Herr Verheugen, und Herr Scharping uns vorwirft, das Weißbuch werde nicht umgesetzt, weil Deutschland das verhindere, dann ist das noch schlimmerer Unsinn. Das ist ein derartiger Unsinn und Blödsinn, daß es sich erübrigt, darauf einzugehen.
({0})
Die sozialpolitische Platte ehrt Sie, Herr Scharping, aber Sie müßten einmal eine andere auflegen, eine bessere.
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Bundesregierung und Koalition sorgen - im Gegensatz zur Opposition - dafür, daß Deutschland auf europäischem Kurs bleibt.
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- Dann muß Herr Scharping eine andere Sprache wählen. Er hat diesen Ton in die Debatte hineingebracht.
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Lieber Herr Verheugen, Sie kennen mich seit Jahren. Ich bin nicht derjenige, der einen solchen Ton in die Debatte bringt. Herr Scharping hat ihn - mit sehr unfairen und unflätigen Bemerkungen, die unter die Gürtellinie gingen - hineingebracht.
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Die Fortsetzung des europäischen Einigungswerks ist die einzig denkbare Antwort auf zwei Herausforderungen: die unserer neuen Zeit wie die der europäischen Geschichte.
Die Debatte um Europa wird in meinen Augen etwas zu eng geführt. Wir sollten stärker über den Tellerrand nach draußen sehen, in den asiatischpazifischen oder beispielsweise auch in den NAFTA-Raum. Die revolutionären Veränderungen dort lassen den europäischen Völkern doch nur noch die Wahl, sich gemeinsam zu behaupten oder von anderen bestimmen zu lassen, wie sie im 21. Jahrhundert leben und wirtschaften sollen. Deshalb müssen Deutschland und Europa zukunftsfähig bleiben. Dafür brauchen wir eine handlungsfähige, wettbewerbsstarke und bürgernahe Union europäischer Demokratien.
({5})
Es geht, wenn man sich die Welt ansieht - stärker, als wir wahrhaben wollen -, um die Selbstbehauptung von uns Europäern im globalen Wettbewerb, um die Sicherung unserer Lebensweise, unserer Kultur und unserer geistigen Traditionen und Werte. Wir müssen uns als Europäer dieser neuen globalen Wettbewerbswelt gegenüber öffnen und stellen, das heißt, als Akteur und Mitgestalter mitwirken. Wir dürfen nicht zulassen, daß wir sozusagen nur Objekt dieser weiteren Gestaltung sind.
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Kein Land in Europa kann heute seine Sicherheit und seinen Wohlstand noch allein garantieren. Nur mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und einem Währungsraum werden wir der Wirtschafts- und Finanzkraft der Dollar- und Yen-Zonen in zehn Jahren noch etwas entgegenzusetzen haben.
({7})
Das ist zuwenig bekannt; deshalb müssen wir unseren Bürgern das deutlicher sagen. Daß sich die USA, Kanada und Mexiko zur NAFTA zusammengeschlossen haben, war kein Zufall, genausowenig wie der Zusammenschluß der ASEAN-Staaten oder die Zusammenarbeit der APEC-Länder.
Europa hat das Zeichen einer neuen politischen und wirtschaftlichen Kultur gesetzt und wurde weltweit zum Zukunftsmodell. Wir sind - ich sage das einmal so drastisch - abgekupfert worden. Wir sind aber teilweise - leider - inzwischen auch überholt worden.
({8})
Bei uns in Deutschland wird das zuwenig registriert, und die Europaskeptiker machen auf Kirchturmspolitik. Wem europaweites Denken zu weit geht, der muß sich eben das Wachstum in China, in Indonesien, in Südkorea und in anderen Gebieten im pazifischen Raum ansehen. Die Lehre daraus für uns kann doch nur sein: Der Nationalstaat wird seine Funktion auch im vereinten Europa behalten. Aber mit dem Nationalstaat allein ist im 21. Jahrhundert kein Staat mehr zu machen.
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Damit bin ich bei der zweiten Herausforderung für Europa. Das ist unsere eigene Geschichte, eine Geschichte von jahrhundertelangen Bruderkämpfen, von Neid, Hegemoniegelüsten und Ängsten. Nach zwei furchtbaren Weltkriegen haben Männer wie Monnet, Schuman und Konrad Adenauer gehandelt und die Europäische Gemeinschaft aufgebaut. Bundespräsident Herzog hat kürzlich das europäische Einigungswerk die „Renaissance einer elfhundert Jahre alten Idee der europäischen Versöhnung" genannt. Wir müssen jetzt in dieser entscheidenden Phase der europäischen Entwicklung bis zum Jahr 2000 sicherstellen, daß dieses Einigungswerk auch in Zukunft Bestand hat. Es darf kein Zurück zu Nationalismus, Angst und Mißtrauen geben.
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In den nächsten Jahren entscheidet sich, wie wir Deutsche als bevölkerungsreichstes und wirtschaftsstärkstes Land nach der Wiedervereinigung in der Mitte unseres Kontinents mit dieser Verantwortung umgehen. Von unserer Lage, von unserer Geschichte und von unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit her - es gibt kein großes Wirtschafts- und Industrieland auf dieser Erde, das so total einseitig von einer Region abhängig ist wie Deutschland von Europa; das müssen wir unseren Bürgern sagen - haben wir noch mehr als unsere Nachbarn ein vitales Interesse daran, daß das europäische Bauwerk gelingt. Dieses Bauwerk braucht, wenn es wirklich Bestand haben will, solide Fundamente, Tragmauern und auch ein wetterfestes Dach. Das heißt nichts anderes, als daß Europa zu einer echten Schicksalsgemeinschaft werden muß: mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Währung und einer Politik gemeinsamer Sicherheit nach innen und nach außen.
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Da es um die Fundamente und auch das feste Dach geht, ist die intensive öffentliche Debatte, die gegenwärtig über die Währungsunion stattfindet, notwendig und richtig. - Die Menschen machen sich Sorgen, nicht nur hier in Deutschland, aber auch bei uns. - Diese Debatte muß sachlich sein. Es geht um die Information der Bürger. In bezug darauf haben wir Politiker ganz zweifellos, auch wenn man es auf die Maastricht-Erfahrungen bezieht, eine Bringschuld, der wir bisher alle noch nicht gerecht geworden sind.
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Angst- und Stimmungsmache - ich sage das nochmal - ist das falsche Signal. Dafür ist zu bedeutsam, was mit der europäischen Währung auf dem Spiel steht.
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Wir haben uns vertraglich für die Währungsunion entschieden, weil eine stabile europäische Währung im vitalen deutschen Interesse liegt. Deshalb sollte man auch aufhören, so zu tun, als ob wir mit zusammengebissenen Zähnen auf diese gemeinsame Währung zumarschieren.
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Wir haben uns vertraglich zur Währungsunion verpflichtet; wir wollen sie, und sie ist im vitalen deutschen Interesse.
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Wenn sich - hoffentlich 1999 - die stärksten Währungen in Europa - möglichst viele sollten dabeisein - zu einer Leitwährung zusammenschließen, dann muß nach einigen Jahren das Urteil lauten: Europa und auch Deutschland, die Bürger, die Menschen haben dadurch gewonnen.
Wenn man sich die Argumente der Gegner etwas näher ansieht, dann geht es im Grunde immer um das eine, nämlich um den Glauben, man könne mit dem Beharren auf dem Vertrauten, auf dem Althergebrachten, auf dem, was man gewöhnt ist, die Risiken der Zukunft ausschließen. Das ist ein totaler Fehlschluß.
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Nur wenn wir mit Mut an die notwendigen Veränderungen herangehen, können wir das bewahren, was uns aus der Vergangenheit überkommen ist, was uns wertvoll ist und was wir behalten wollen.
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Das ist natürlich vor allem unsere Stabilitätskultur; das ist das wirklich wichtige.
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Die Ersparnisse dürfen nicht zerrinnen. Unsere Partner sind zu einer Vereinbarung bereit, die die Stabilität der gemeinsamen Währung auch nach ihrem Beginn garantiert.
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Genauso wird überlegt, wie das Verhältnis der Währungen zueinander aussehen soll: das zwischen denen, die später in der Währungsunion sein werden, und denen, die draußen sind. Dabei wird ein besonderes Problem sein, daß es in bezug auf diejenigen, die draußen sind, zwei Kategorien geben wird, nämlich diejenigen, die an sich die Konvergenzkriterien erfüllt haben, aber aus politischen Gründen nicht in der Union sein können oder wollen, und diejenigen, die die Konvergenzkriterien nicht erfüllen. Wir werden einen Modus vivendi finden müssen, wie das geregelt werden kann. Den Bürgern muß jedenfalls gesagt werden, daß das, was als neue Währung angepeilt ist, eben keine Währungsreform darstellt. Davor haben sie Angst. Wert und Kaufkraft von Sparguthaben sollen voll erhalten bleiben. Die Bürger können darauf vertrauen, daß Vorsorge getroffen ist, daß die Eurowährung so stabil sein wird wie die D-Mark. Sonst wird es diese Eurowährung eben nicht geben; das müssen wir deutlich und klar sagen.
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Meine Damen und Herren, ein Europa, das nicht in der Lage ist, in seinem eigenen Haus für Ordnung zu sorgen, ist in den Augen seiner Bürger nicht viel wert - mit Recht! Deshalb muß die gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik der Union zu dem gemacht werden, was der Name verspricht, und zwar durch eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Das wird bei wichtigen Sicherheitsfragen nicht gehen, und es wird nicht gehen, wenn es um ganz vitale Interessen auch kleinerer und mittlerer Länder geht.
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Aber wir werden Wege finden - darüber ist in der Reflexionsgruppe nachgedacht worden -, wie wir zu solchen Mehrheitsentscheidungen kommen.
Wir brauchen eine gemeinsame Planungs- und Analysegruppe. Stimme und Aktion müssen nach draußen überzeugender zum Ausdruck kommen. Ich sage allerdings, daß nach meiner Meinung die Lösung dort gefunden werden muß, wo die politische Verantwortung ist und bleiben muß, nämlich beim Europäischen Rat.
Zur Politischen Union gehört auch eine gemeinsame Verteidigung und Friedenssicherung, gehört die Normalisierung unserer Position bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Unsere Entscheidung von gestern war in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Der Arm für die europäische Verteidigung und Friedenssicherung ist die WEU. Dieser europäische Pfeiler der transatlantischen Sicherheit muß längerfristig mit der EU verschmolzen werden. Da gibt es noch erheblichen Gesprächsbedarf mit unseren britischen Partnern und Freunden. Aber die jetzige Wiederannäherung Frankreichs an die NATO eröffnet - ich habe das gestern schon hinsichtlich der WEU gesagt - neue und wichtige Perspektiven.
Die Arbeiten der Reflexionsgruppe haben ergeben, daß eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten trotz vieler Meinungsunterschiede im einzelnen zu wichtigen Reformschritten bereit ist. Auch hier gilt es, bei unseren britischen Freunden weiter Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich füge hinzu: Großbritanniens Platz - da sollten wir uns einig sein - muß, wie Premierminister Major es kürzlich angedeutet hat, im Herzen Europas sein und bleiben. Das ist von zentraler Bedeutung.
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Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen in gleicher Weise an der europäischen Integration teilnehmen können. Jedoch darf der langsamste Dampfer nicht das Tempo der anderen diktieren. Dafür muß eine Lösung unter Erhaltung des einheitlichen institutionellen Rahmens gefunden werden. Ich brauche hier nicht zu betonen, daß Fortschritte in dem weiteren europäischen Integrationsprozeß natürlich nur möglich sind, wenn Deutschland und Frankreich weiter an einem Strang ziehen. Das wird so sein; davon können Sie ausgehen.
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Auf der Regierungskonferenz geht es im Kern damm, daß sich die EU auf ihre eigentliche Jahrhundertaufgabe vorbereitet, nämlich auf die Aufnahme der jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Wir fühlen diesen Ländern gegenüber aus zwei Gründen eine besondere Verpflichtung: Den Menschen in diesen Ländern ist im deutschen Namen Schlimmes angetan worden. Das ist der eine Grund. Der andere Grund ist, daß wir die eigentlichen Nutznießer der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa sind, daß unsere Partner und Freunde uns, das wiedervereinigte Deutschland, mit in die Europäische Union und in die NATO aufgenommen haben. Das ist eine Verpflichtung gerade den Ländern gegenüber, die jetzt vor den Türen beider Organisationen stehen und zu Recht massiv anklopfen, um möglichst bald aufgenommen zu werden.
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Wir sollten nicht vergessen, daß es schließlich der Freiheitswille dieser Länder war, der uns die Wiedervereinigung gebracht hat. Die ersten Beitrittsverhandlungen sollten nicht nur mit Zypern und Malta, sondern auch mit unseren östlichen Nachbarn nach dem Ende der Regierungskonferenz rasch aufgenommen werden. Die grundlegenden Entscheidungen über ihren Beitritt sollten in der Tat bis zur Jahrhundertwende auf der Schiene sein.
Die Erweiterung ist im übrigen nicht umsonst. Sie hat Konsequenzen für die Agrarstrukturpolitik, für die Finanzen und den Arbeitsmarkt. Wir müssen bei uns das Tempo der Modernisierung und Strukturveränderungen erhöhen, und zwar Hand in Hand mit der Nutzung der neuen Chancen, die unsere Nachbarn für uns wirtschaftlich bieten. Diese Chancen sind ganz beträchtlich. Es wird immer wieder verschwiegen oder zumindest nicht erwähnt, daß Deutschlands Anteil am Handel mit den östlichen Nachbarn inzwischen bei 50 Prozent des Handels aller EU-Staaten liegt. Er wächst jährlich um weitere 25 Prozent.
Ein Wort zur Zollunion mit der Türkei: Die Entscheidung, die im Europäischen Parlament ansteht, ist von grundlegender Bedeutung. Die Türkei sieht diese Entscheidung zu Recht als Lackmustest dafür an, ob Europa gewillt ist, dieses laizistisch geführte Land, das mit den fundamentalistischen Auswirkungen des Islam zu kämpfen hat, weiter zu Europa zu rechnen. Das müssen wir tun, und zwar mit Nachdruck. Deshalb sollten auch wir alles tun, damit die Entscheidung im Europäischen Parlament positiv ausgeht.
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Bei Umfragen erklären 78 Prozent der Deutschen, daß sie mit dem Begriff Europa den Begriff Zukunft verbinden. - Das ist ein bißchen anders als das, was vorhin dargestellt worden ist. - Die Umfragen weisen auch aus, daß 66 Prozent der Befragten mit dem Begriff Europa Frieden verbinden. Generalsekretär Boutros-Ghali hat das vor dem Europäischen Parlament vor kurzem mit den Worten gewürdigt: Die Welt braucht Europa als Modell für die Förderung von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten.
Deshalb erkläre ich zum Schluß: Deutschlands Zukunft liegt in Europa. Deutschlands Schicksal ist Europa. Die Koalition und die Bundesregierung werden dafür sorgen, daß wir unseren europäischen Weg unbeirrt weitergehen.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Manfred Müller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, ich habe mir drei Wörter aus Ihrer Rede notiert: Unsinn, Blödsinn und unflätig. So haben Sie die Rede des Oppositionsführers im Deutschen Bundestag tituliert. Ich habe immer mehr Zweifel, ob Sie allein von Ihrer Sprache her die Anforderungen erfüllen, die an einen Außenminister, der Chef des diplomatischen Dienstes ist, zu stellen sind.
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Vielleicht denken auch Sie über eine neue Beschäftigung nach, bei der solche Wörter eher angemessen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS hat den Maastrichter Vertrag stets abgelehnt; aber sie hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß es keine Alternative zur europäischen Integration gibt. Gerade weil wir dies so sehen, weil wir beim Scheitern dieser Integration befürchten, daß das Gespenst des Nationalismus zurückkehrt, möchten wir die Bundesregierung dringend davor warnen, sich weiter auf einen Integrationsfahrplan festzulegen, der Europa ausschließlich aus der Perspektive des Monetarismus, der Effektivierung der Institutionen und der gemeinsamen Sicherheitspolitik betrachtet.
Schauen wir nach Frankreich, meine Damen und Herren, und wir sehen, wohin diese Politik führt. Was dort Hunderttausende zum Streik treibt, zu einem Streik, der von zwei Dritteln der Bevölkerung Frankreichs unterstützt wird, ist eine Politik, die kein anderes Ziel mehr kennt, als endlich die Konvergenzkriterien zu erfüllen. Ich meine, es ist höchste Zeit, daß in einer europapolitischen Debatte im deutschen Parlament Solidarität mit den Streikenden und ihren Gewerkschaften zum Ausdruck kommt. Ich freue mich darüber, daß die deutschen Gewerkschaften deutlich gemacht haben, daß sie alles tun werden, um Streikbrecherarbeiten etwa aus Deutschland zu verhindern. Ich meine, daß das Sozialdumping, das bisher das Bild in Europa prägt, nicht noch ergänzt werden darf durch ein Europa der Streikbrecherorganisationen. Deshalb ist es höchst notwendig, daß die Gewerkschaften ihre sozialpolitische Aufgabe innerhalb Europas noch stärker, noch kräftiger erfüllen, als es in der Vergangenheit der Fall war. Sie müssen endlich näher zusammenrücken, um ein entschiedenes Gegengewicht gegen die allein auf die Freiheit des Geldes innerhalb Europas fixierte bisherige Europapolitik zu setzen.
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Wenn das Erreichen der einseitig fiskalischen, monetaristischen Konvergenzkriterien dazu führt, daß das soziale Netz eines Landes zerstört wird, wenn das gewaltsame Reduzieren der Staatsverschuldung die öffentliche Infrastruktur zerstört und Zehntausende von Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verlieren, dann verliert das künftige Europa nicht nur die vielbeschworene soziale Dimension, es verliert auch noch seinen letzten Rest an öffentlicher Akzeptanz. Da nutzen auch keine schönfärberischen Umfragen. Die Akzeptanz innerhalb Europas hängt eben davon ab, was dieses Europa den Menschen nutzt. Schafft es Arbeitsplätze, oder vernichtet es Arbeitsplätze? Schafft es soziale Sicherheit? Sichert es bisher erreichte soziale Standards, oder zerstört die Europapolitik diese bisher erreichten Kriterien?
Die Bürger, von denen im Antrag der Koalition ganz wenig die Rede ist, haben ein berechtigtes Interesse an Arbeitsplätzen. Aber die in Essen beschlossenen und bejubelten Beschäftigungsstrategien haben bisher nicht zu einem Erfolg geführt, sondern werden durch die einseitige Fixierung auf monetäre und fiskalische Konvergenzkriterien zur Makulatur gemacht.
Die in Madrid vorgesehene Überprüfung der Beschäftigungsstrategie ist eine Farce, solange sie
Manfred Müller ({2})
von den Konvergenzkriterien der Währungsunion konterkariert wird. Immer noch sind nach den letzten Erhebungen fast 18 Millionen Menschen in der Union offiziell arbeitslos. Die Arbeitslosenquote liegt annähernd unverändert bei 10,6 Prozent. Alle Sachverständigen gehen davon aus, daß sie im nächsten Jahr steigen wird.
Die Bürger der Union haben die berechtigte Erwartung, daß sich ihre sozialen Lebensbedingungen durch die Integration verbessern. Aber was passiert wirklich? Nicht nur daß die Armut in der Union zunimmt, das Wachstum der Armut beschleunigt sich auch noch. Nicht nur in Frankreich, wo die sozialen Sicherungssysteme auf dem Altar der Konvergenzkriterien geopfert werden - was Millionen zum Widerstand auf die Straße treibt -, nein, auch in der Bundesrepublik kommen die sozialen Standards unter den Rasenmäher des Finanzministers.
Es ist doch kein Zufall, daß aus dem Hause des Finanzministers just in dem Moment neue Vorschläge zur Verschlechterung der Vorruhestandsregelung und der sozialen Absicherung älterer Arbeitsloser kommen, in dem die Wirtschaftswissenschaftler berechtigte Zweifel anmelden, ob die Bundesregierung in diesem Jahr tatsächlich die geforderten Konvergenzkriterien erreichen wird. Und es ist auch kein Zufall, daß die Schraube des Sozialabbaus in diesem Haus um so schneller gedreht wird, je näher die Regierungskonferenz kommt, auf der die Bundesregierung ihre Forderungen gegenüber Europa um so nachdrücklicher formulieren kann, je mehr sie sich als Musterknabe der Haushaltsdisziplin ausgeben kann.
Es kann sein, daß die Bundesregierung dieses Ziel erreicht. Es ist sogar möglich, daß bis 1999 Frankreich und vielleicht sogar noch Großbritannien in das monetaristische Korsett der Währungsunion passen - aber um welchen Preis? Sie dürfen doch nicht glauben, daß die Menschen in diesem Lande nicht allmählich begreifen, daß der geplante Integrationsprozeß nicht nur keine Verbesserungen, sondern sogar dramatische Verschlechterungen bringt. Es gibt einen unauflöslichen Widerspruch zwischen der Jagd nach dem Erreichen der präzise festgelegten Konvergenzkriterien und den schwammigen Zielen der Integration.
Es ist unübersehbar, daß Sozialleistungen und Arbeitsplätze nicht nur in Frankreich, sondern gerade auch in der Bundesrepublik den monetären Konvergenzkriterien geopfert werden - geopfert werden müssen, wenn man keine anderen Kriterien hat, wenn man bewußt darauf verzichtet, soziale, arbeitsmarktpolitische und ökologische Standards für die Integration vorzuschreiben.
Die Koalitionsfraktionen haben in einer Stellungnahme zu unserem Antrag vom 21. Juni die kühne Position vertreten, daß soziale Kriterien für die Integration überflüssig seien, weil sich Vollbeschäftigung von alleine einstellen werde, wenn nur die Haushaltsdefizite abgebaut und die Zinsen niedrig gehalten werden. - Dafür fehlt nicht nur ein Nachweis, sondern der Gegenbeweis ist längst erbracht.
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Solange sich diese Politik darauf kapriziert, den Besserverdienenden und den Unternehmen die Steuern zu senken, und man in der Folge bei eben diesen Leuten Kredite aufnimmt, weil die Steuerausfälle tiefe Haushaltslöcher reißen, bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als die Haushaltskonsolidierung mit Sozialabbau, Leistungskürzung und Arbeitsplatzvernichtung zu erkaufen.
Arbeitslosigkeit ist in der Bundesrepublik keine Folge zu hoher Löhne oder zu hoher sozialer Transferleistungen - erst recht nicht im übrigen Europa -, sondern eine Folge zu geringer Binnennachfrage. Wäre es anders, müßten überall in Europa die Arbeitslosenquoten niedrig sein, wo auch die Löhne niedrig und die sozialen Transferleistungen gering sind. Sie wissen, daß das Gegenteil der Fall ist. Aber genau diese Binnennachfrage bauen Sie weiter ab, wenn Sie Sozialabbau verschreiben und Arbeitsplätze für öffentliche Dienstleistungen abbauen.
Sie tun dabei immer so, als seien Löhne und Sozialleistungen lediglich ein Kostenfaktor und als verwandele sich das Mehr an Gewinnen, das Sie den Unternehmen durch Steuersenkungen zuschieben, in reine Nachfrage. Das Gegenteil ist der Fall. Sinkende Löhne und sinkende soziale Transferleistungen schränken die Nachfrage ein, und steigende Profite verwandeln sich nicht in Arbeitsplätze, sondern in Finanzinvestitionen.
Ein Europa, in dem sich lediglich die Hoffnungen der Finanzminister und Notenbankpräsidenten erfüllen, wird schwerlich jenes Engagement der Bürger finden, von dem es in der Vorlage der Regierungskoalition heißt, daß es unverzichtbar ist. Ein Integrationsprozeß, bei dem der soziale Besitzstand und die öffentliche Infrastruktur unter den Hammer kommen, findet weder Engagement noch Akzeptanz; er schürt nationalistische Ängste und gefährdet den sozialen Frieden.
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Wir halten es für unverzichtbar, daß die dritte Stufe der Währungsunion mit den klar definierten Zielen einer Sozialunion verkoppelt wird. Dazu gehören die Halbierung der Arbeitslosenrate bis zum Jahr 2000, die Entwicklung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors und eine Neuverteilung der gesellschaftlichen Arbeit. Dazu gehören soziale Mindeststandards, die Verhinderung von Lohndumping und der Anspruch auf mindestens ortsübliche Bezahlung für alle.
Eine Einbindung solcher Kriterien in den Vertrag würde ein wirkliches Europa der Bürger schaffen und kein Europa der Finanzminister. Ein solches Europa würde in der Bevölkerung das finden, was der von ihnen gewollten Integration immer mehr fehlt, nämlich positives Engagement und demokratische Akzeptanz.
Ich danke Ihnen.
({5})
Ich erteile dem Bundesminister Dr. Theodor Waigel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bevorstehende Europäische Rat in Madrid wird wegweisende Vorentscheidungen treffen. Das gilt auch für die Regierungskonferenz 1996, das heißt für die Währungsunion. Wir sehen dabei das große Ziel und die Sorgen der Bürger. Wir nehmen sie ernst; denn nur mit den Bürgern können wir Europa politisch und ökonomisch verwirklichen.
({0})
Wir wissen, daß die Währungsunion die Menschen wie kaum ein anderes Europathema beschäftigt. Auf der anderen Seite muß sehr klar gesagt werden: Wo befänden wir uns ohne die Europäische Union vor dem Hintergrund, daß es in Europa und in der übrigen Welt überall dort brennt, wo die friedensstiftende Wirkung einer Europäischen Union seit Jahren und Jahrzehnten fehlt?
({1})
Insofern leben wir in einer glücklichen Region, die nur durch die europäische Integration und durch die Bemühungen in den 50er Jahren bis hin in die 80er und 90er Jahre möglich war.
Die Erfolgsgeschichte der D-Mark hat das Bewußtsein der Bürger für den Wert stabilen Geldes in unserem Land geschärft. Das ist gut so; denn ohne stabiles Geld geht vieles nicht, können wirtschaftlicher Erfolg und soziale Sicherheit bestenfalls ein kurzlebiges Strohfeuer sein.
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Diese Bundesregierung läßt sich in ihrem Eintreten für einen stabilen Geldwert von niemandem übertreffen.
({3})
Angesichts einer Herausforderung, wie es sie noch nie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gab, angesichts dessen, daß wir für die größte Solidaraktion der deutschen Geschichte, nämlich die Wiedervereinigung, insgesamt mehr als 1 000 Milliarden DM aufgewandt haben, daß zu keinem Zeitpunkt die D-Mark gewackelt hat, die Inflationsrate heute unter 2 Prozent liegt, die D-Mark die stabilste Währung der Welt und natürlich der Anker in Europa ist, brauchen wir uns schon gar nicht von der SPD oder gar von den Grünen einen Rat über die Stabilität der D-Mark geben zu lassen.
({4})
Der noch größere Erfolg liegt darin, daß sich unser Stabilitätsdenken in ganz Europa ausgebreitet hat und unser Stabilitätsdenken akzeptiert wurde. Anfang der 80er Jahre - man erinnere sich: seinerzeit war Helmut Schmidt noch Bundeskanzler - lag die Inflationsrate in Deutschland bei 6,3 Prozent und in der Europäischen Gemeinschaft bei durchschnittlich 13 Prozent. Heute liegt die Inflationsrate in Deutschland unter 2 Prozent, in ganz Europa liegt sie bei 3 Prozent. Dies ist ein Erfolg unserer Politik. Mit uns verbindet sich die Härte der D-Mark.
({5})
Diesen Erfolg hätte es nicht gegeben, wenn sich nicht ganz Europa auf den Weg der Stabilität gemacht hätte, wenn wir uns nicht zusammen mit unseren Partnern seit Maastricht angestrengt hätten - wir müssen uns weiterhin anstrengen - und damit eine Stabilitätskultur in Europa erreicht haben, wie es sie seit 1949 nicht gegeben hat. Wer dies in Frage stellt, der geht ein ganz gewagtes Spiel ein, der muß wissen, daß Stabilität ganz schnell wieder verlorengehen kann. Wir dürfen dazu die Hand nicht reichen.
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Wir müssen die Fragen ernst nehmen, die die Bürger in unserem Land, vor allen Dingen die Bürger, die schon eine oder gar zwei Währungsreformen haben hinter sich bringen müssen, nach der Stabilität der D-Mark und nach der Stabilität einer europäischen Währung stellen. Ihnen muß man sagen: Es geht nicht um eine Währungsreform, sondern es geht darum, daß sich die Stabilitätsordnung der Deutschen Mark verbreitert, daß wir die D-Mark, unsere Währung, auf eine breitere, stabilere Basis stellen und daß wir damit für uns, für unsere Volkswirtschaft, für unsere Exporte, aber auch für den Frieden unendlich viel erreichen und, wenn wir diesen Weg nicht gehen, unendlich viel gefährden können.
({7})
Meine Damen und Herren, die Sorgen und Fragen nehmen wir ernst.
({8})
Aber gegen die billigen Populisten werden wir uns zur Wehr setzen.
({9})
Wer plötzlich glaubt, ein nationales Thema gefunden zu haben, - ({10})
- Sie meine ich nicht, weil Sie davon nichts verstehen.
({11})
Ich meine den, den Sie, Herr Scharping, abgemeiert haben und der ein paar Wochen später wiedergekommen ist. Für wen, Herr Scharping, sprechen Sie eigentlich? Sprechen Sie für die Fraktion? Sprechen Sie als stellvertretender Parteivorsitzender?
({12})
Wozu stehen Sie eigentlich? Nehmen Sie doch Stellung zu den heutigen Meldungen, der alte, nach der
Resozialisierung wieder neue wirtschaftspolitische Sprecher der SPD fordere Nachverhandlungen zur EWU. Was wollen Sie eigentlich?
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- Ich setze mich im Moment nicht mit Ihnen auseinander, sondern mit Herrn Scharping. Ich hoffe, daß sich Herr Scharping auch ohne Sie, Herr Fischer, artikulieren kann.
({14})
Herr Scharping, wollen Sie Nachverhandlungen? Oder sagen Sie ja zu dem Stabilitätspakt für Europa, den ich vorgeschlagen habe? Zwischen den beiden Alternativen müssen Sie sich entscheiden.
({15})
Das heißt nicht: Rede-, Denk- und Diskussionsverbot in Sachen Währungsunion. Im Gegenteil: Wir werden über die Währungsunion sprechen, sachlich und offen. Wir werden Antworten auf die Fragen der Bürger geben.
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Wir müssen und werden Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmer und Wirtschaft kontinuierlich und umfassend über den Übergang zur neuen europäischen Währung informieren.
Ich halte es jedenfalls für ein gutes Zeichen, wenn sich die immerhin große Mehrheit oder vielleicht sogar die gesamte Fraktion der SPD - mit Ausnahme ihres Parteivorsitzenden und des wirtschaftspolitischen Sprechers -, CDU, CSU, F.D.P., Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Banken und alle großen Institutionen sowie die Kirchen für ein Ziel einsetzen, das im Verlauf dieses Jahrhunderts das wichtigste ist. Ich halte es für ein gutes Zeichen, daß Deutschland erstmals in seiner Geschichte von Freunden und Partnern und nicht mehr von Feinden und Gegnern umgeben ist. Das ist die Dimension, vor der wir stehen.
({17})
Wir brauchen die Währungsunion. Sie ist ein Kernstück der europäischen Integration. Sie ist Ausdruck des Willens der EU-Mitglieder, enger und wirksamer zum gemeinsamen Nutzen zusammenzuarbeiten. Erst sie vollendet den Binnenmarkt.
Man muß aber ganz nüchtern fragen: Was bringt sie? Welche Vorteile? Welche Risiken? Man muß das nüchtern abwägen, ökonomisch, aber auch jenseits von Angebot und Nachfrage.
Niemand bestreitet: Sie bringt Wachstumsimpulse für die Wirtschaft und Vorteile für die Verbraucher. Die Kosten für Devisengeschäfte und die Investitionsrisiken vermindern sich. Eine größere Transparenz der Preise stärkt den Wettbewerb und verbilligt Waren wie Dienstleistungen. In einer immer enger verflochtenen Weltwirtschaft sichert die Währungsunion Europa und damit gerade auch Deutschland einen Spitzenplatz.
Auf die Dauer wären wir nicht in der Lage, die Turbulenzen und die Probleme dieser Welt allein zu tragen. Nur wenn sich Europa auch hier zusammentut, sind wir in der Lage, uns in der Wallstreet, in Tokio und an anderen Finanzplätzen so zu behaupten, daß wir nicht untergehen und nicht zu einem Spielball der Spekulanten und der Bewegungen auf den Finanzmärkten werden.
({18})
Eines ist aber klar: Die neue europäische Währung muß so stabil sein wie unsere D-Mark. Das haben wir zugesagt, das werden wir einhalten. Nur dann ist sie für uns, nur dann ist sie für die Menschen in Deutschland akzeptabel. Nur dann kann sie ihren Nutzen voll entfalten. Ich habe daher bei den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht allergrößten Wert auf strenge Stabilitätskriterien als Eintrittsvoraussetzung in die dritte Stufe gelegt.
Manchmal wird gefragt: Was geben die Deutschen auf? Ich bitte Sie, dann auch einmal ehrlich zu fragen: Was geben die anderen auf? 14 Staaten in Europa und andere, die noch beitreten wollen, sind bereit, ihre Zentralbanken so zu ändern, daß sie der Deutschen Bundesbank entsprechen. 14 Staaten machen Konsolidierungsanstrengungen über das hinausgehend, was wir in Deutschland bisher getan haben. 14 Staaten ändern ihre Gesetze und übernehmen im Grunde die deutsche Wirtschafts-, Währungs- und Stabilitätsordnung. 14 Staaten haben sich damit einverstanden erklärt, daß die künftige europäische Währungspolitik von Frankfurt und damit von Deutschland aus gelenkt wird. Das ist ein Erfolg deutscher Außen-, deutscher Wirtschafts- und deutscher Finanzpolitik.
({19})
Vor fünf, sechs Jahren haben uns viele gefragt: Habt ihr nicht zuviel versprochen? Je mehr man sich den Terminen nähert, desto lauter werden die Fragen und desto größer die Gefahr der Aufweichung sein. Und was findet statt? Das Gegenteil.
Niemand in Europa, kein Land - und sei es im Moment in einer noch so großen Schwierigkeit - hat je die Frage gestellt oder die Anregung an uns gerichtet, auch nur ein Kriterium aufzuweichen. Gerade diejenigen, die noch einen schwierigen Weg vor sich haben, sagen: Nein, es muß dabei bleiben, weil wir nur auf diese Art und Weise national das erreichen, was wir allein nicht erreichen würden, weil wir die europäische Solidarität, weil wir die europäische Loyalität, weil wir die europäische Stabilität benötigen, um die Kriterien innenpolitisch durchsetzen zu können.
({20})
An diesen Kriterien - das weiß jeder - wird nicht gerüttelt. Lassen Sie mich als Finanzminister aber eines sagen: Man wird, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, nur dann die europäische Währung verstehen, wenn andere Dinge in Europa auch
vorankommen. Man kann nicht zu Europol, zur europäischen Verbrechensbekämpfung und zu einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik nein sagen, aber die europäische Währung wollen. Beides gehört zusammen.
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Wenn es uns bei der nächsten Verhandlung gelingt, hier Erfolge zu erreichen, dann werden wir auch im ökonomischen Bereich noch mehr Verständnis und Akzeptanz erzielen.
Wir debattieren im ECOFIN-Rat und in einer Woche in Madrid das Übergangsszenario. Es werden Vorschläge an die Staatsmänner herangetragen, erarbeitet vom ECOFIN-Rat, vorbereitet vom Europäischen Währungsinstitut, bei uns im Detail mit der Deutschen Bundesbank, mit den Banken, mit der Wirtschaft und mit anderen am wirtschaftlichen Leben Beteiligten abgestimmt. Sie liegen weitgehend auf unserer Linie.
Wir werden 1998 so früh wie möglich auf der Basis von Ist-Werten des Jahres 1997 entscheiden. Darauf legen wir größten Wert. Wir können und wir müssen, wenn das Referenzszenario 1997 gewollt wird, nur auf der Grundlage belastbarer Ist-Daten des Jahres 1997 so früh wie möglich im Jahre 1998 entscheiden. Mit Prognosen und mit Quartalsrechnungen kann man eine solche Entscheidung nicht begründen. Das festzustellen, halte ich für wichtig und für unverzichtbar.
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In der Stufe 3 a, also nach Eintritt in die Endstufe der Währungsunion und vor der tatsächlichen Ausgabe der neuen Banknoten, muß eines klar sein: kein Zwang. In dieser Zeit muß die nationale Währung gesetzliches Zahlungsmittel sein. Aber selbstverständlich muß die Möglichkeit für jeden im Bereich der Banken - Interbankenverkehr und vieles anderes mehr - bestehen, der neuen europäischen Währung soviel Raum zu geben, wie die Kunden und die Marktteilnehmer es wollen.
Wir werden eines gewährleisten, nämlich daß die dezentrale Bankenstruktur in Deutschland nicht gefährdet wird. Das, was Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken in den ländlichen Regionen bewältigen - die Führung von 80 Prozent der Konten -, ist für uns wichtig. Ihr Fortbestehen ist unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz. Sie müssen so behandelt werden, daß sie gegenüber den Großen und Marktmächtigen nicht an Einfluß, Markt und Macht verlieren. Darauf werden wir bestehen.
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Es ist interessant, daß das Europäische Währungsinstitut und die überwältigende Mehrheit der EU-Finanzminister uns in dieser Haltung unterstützt.
Nun zum Namen. Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung in Madrid auch über den Namen für die einheitliche Währung zu befinden. Dieser Name entscheidet zwar nicht über ihre Stabilität, doch er ist auch nicht nur Schall und Rauch. Um Goethe zu zitieren: „Man kann das Wesen mancher Dinge an ihrem Namen erkennen." So gehört es zur Glaubwürdigkeit und Akzeptanz der Währungsunion, daß baldmöglichst ein einvernehmlicher, akzeptabler Name gefunden wird. Ich habe auf dem informellen ECOFIN in Valencia als Namen Euro vorgeschlagen. Für die Übergangszeit könnte man sich vorstellen, daß nationale Währungsbezeichnungen wie Euro-Mark, Euro-Francs oder Euro-Pfund hinzukommen. Ich glaube, daß wir damit eine breite Akzeptanz finden.
Ich habe vor etwa einem halben Jahr in Valencia dezidiert und am 10. November 1995 erstmals im Deutschen Bundestag einen Vorschlag gemacht, wie ein Stabilitätspakt für Europa aussieht. Für die Glaubwürdigkeit und die Akzeptanz ist die Frage von größter Bedeutung: Wie sichern wir eine solide Finanzpolitik der teilnehmenden Staaten in der dritten Stufe?
Die Finanzpolitik bleibt in der dritten Stufe in der Souveränität der Mitgliedstaaten. Um ein zusätzliches Vertrauenssignal für die Märkte zu setzen, habe ich deshalb diesen Stabilitätspakt für Europa vorgeschlagen und auch dafür große Zustimmung sowohl bei den Partnern und der Kommission als auch innenpolitisch gefunden. Mit dem Stabilitätspakt verpflichten sich die Teilnehmer an der dritten Stufe im eigenen wie im europäischen Interesse zu einer soliden und stabilitätsorientierten Finanzpolitik. Die Wachstumsraten der Staatsausgaben sollen möglichst unter dem Zuwachs des nominalen Bruttosozialprodukts liegen. Nur dadurch ist eine Senkung der Staatsquoten in diesen Ländern erreichbar.
Beim Staatsdefizit soll die 3-Prozent-Grenze von Maastricht auch in wirtschaftlich ungünstigen Perioden nicht überschritten werden, auch nicht im Lauf eines Konjunkturzyklus. Mittelfristig streben wir mit Unterstützung vieler Partner eine Grenze von 1 Prozent an. Manche Partner - sogar solche, denen es finanzpolitisch im Moment sehr schwerfällt - sagen: Wir brauchen mittelfristig einen Ausgleich - manche sagen sogar: einen Überschuß -, um die Lasten, die sich durch eine expansive Finanzpolitik in den 60er, 70er und 80er Jahren angehäuft haben, wieder abtragen zu können, damit die nächste Generation sie nicht abzuzahlen hat.
Überschreitet ein Mitgliedstaat die Obergrenze, wird automatisch ein Sanktionsprozeß in Gang gesetzt. Der betroffene Mitgliedstaat hat eine unverzinsliche Stabilitätseinlage zu hinterlegen. Wird die Obergrenze wieder unterschritten, wird die Einlage zurückgezahlt. Wird nach zwei Jahren die Obergrenze weiterhin verfehlt, wird die Einlage in eine Geldbuße umgewandelt.
Zur Umsetzung dieser Selbstverpflichtung gründen die Teilnehmer einen Stabilitätsrat. Dieser überwacht die Eckpunkte und Ziele des Stabilitätspaktes und entscheidet über Ausnahmen beim Defizit.
Was ist jetzt eingetreten? Ursprünglich bestand meine Hoffnung darin, daß multilateral die mitstimmen und mitmachen, die sich eine Chance ausrechnen, bei der dritten Stufe dabeizusein. Beim letzten ECOFIN haben alle gesagt: Das sind auch unsere
Ziele, wir wollen sie als Gemeinschaftsziel für die Zukunft umsetzen.
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Mehr kann man an deutscher Stabilitätspolitik in Europa wirklich nicht erreichen. Mehr kann man den Partnern auch nicht zumuten. Mehr kann man wirklich nicht erwarten.
Als zweites müssen wir rechtzeitig ein System etablieren, das auch das Verhältnis der Teilnehmer in der dritten Stufe zu den Nicht-Teilnehmern regelt. Wir wollen damit eine Spaltung Europas verhindern und es diesem Kreis ermöglichen, so rasch wie möglich in die Stabilitätsgemeinschaft zu kommen.
Meine Damen und Herren, zu diesem Europa gehört die Osterweiterung. Der Beitritt dieser Staaten ist unter realistischen Annahmen möglich. Er bietet die große Chance dieses Jahrhunderts. Jahrzehnte haben wir das erhofft. Jetzt haben wir die Chance. Aber die Beitrittsreife dieser Länder und die Erweiterungsfähigkeit der Gemeinschaft müssen noch hergestellt werden.
Lassen Sie mich am Schluß noch einmal die Frage stellen: In wessen Interesse liegt die europäische Einigung? Liegt sie im Interesse unserer Nachbarn? Liegt sie in erster Linie im Interesse von Frankreich, Österreich, der skandinavischen Staaten, die jetzt neu hinzugekommen sind?
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Liegt sie nur im Interesse von Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei?
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Sicher ja. Aber wird die Frage an uns gerichtet, kann die Antwort nur lauten: Fortgang und Fortschritt liegen auch im ureigenen deutschen Interesse.
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Es sind deutsche Interessen, die wir hier einbringen.
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Im Grunde begann bei uns die Europapolitik 1950 mit Konrad Adenauer. 1990 war über die und mit der Europapolitik die deutsche Einheit möglich. 1995 sind wir erstmals in der Geschichte nur von Partnern und Freunden umgeben. 14 Partner stimmen unseren ökonomischen Vorstellungen zu.
Es ist ein Abwägungsprozeß, dem man sich stellen muß. Die Vorteile sind Binnenmarkt, Wachstum, Arbeitsplätze und die Stellung Europas in der Welt. Bei den Risiken müssen wir über Stabilität, nationale Spannungen und über die Ängste reden. Wer Vor- und Nachteile abwägt, muß aber auch darüber nachdenken, was passieren würde, wenn es einen Rückschlag gibt: welches Mißtrauen, welcher Neid, welcher Haß? Ich bitte jeden, der sich dazu äußert, einmal zu überlegen, wie sich seine Äußerungen morgen auf den Devisenmärkten auswirken können und welches Problem wir dann hätten.
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- Ja, Sie müssen sich das überlegen. Wenn sich Ihr Spitzenkandidat und wahrscheinlicher Kanzlerkandidat Lafontaine so äußert, kann das verhängnisvoll sein. Ein Land, das wie das Saarland so auf nationale und internationale Solidarität aus ist, dessen Ministerpräsident sollte sich seine Worte besser überlegen, als er das in den letzten Wochen und Monaten getan hat.
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Wir müssen die heutige Neuordnung Europas als einmalige Chance begreifen. Die Hinwendung der Staaten des ehemaligen Ostblocks zu Freiheit und Demokratie, zu Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft eröffnet die historische Möglichkeit zur dauerhaften Sicherung des Friedens in ganz Europa.
Das Konzept der europäischen Einigung erfordert Mut, aber auch den Sinn für das Machbare. Wir werden unseren Beitrag zum Gelingen dieses Werkes leisten, damit am Ende die Menschen das Zusammenwachsen Europas nicht nur vom Verstande her, sondern mit dem Herzen mittragen.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Norbert Wieczorek.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Vorsitzender des Europaausschusses stelle ich eines fest: Eigentlich sollte diese Debatte der Vorbereitung der Madrider Konferenz dienen. Sie wird aber total überlagert durch die Währungsunion. Ich werde mich selber gleich an dieser Diskussion beteiligen. Aber vielleicht sollte man mal darüber nachdenken, ob dieses Verhältnis in Ordnung ist und ob die Fragen der Währungsunion so entscheidend sind für die weitere Entwicklung in Europa, entscheidender als das, was in Madrid verhandelt wird.
Herr Kollege Waigel, unsere Forderung im Zusammenhang mit Maastricht war immer, daß die politische Union vorangetrieben wird. Das ist in Maastricht nicht ordentlich geregelt worden. Es sieht jetzt gar nicht so gut aus für die Regierungskonferenz. Trotzdem tragen wir die Währungsunion - ich weiß, was ich sage - wie eine Monstranz vor uns her, ohne uns um die Probleme der Währungsunion und die Aufgeregtheiten, die auch hier im Hause zu verspüren sind, überhaupt zu kümmern.
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Dies ist das Problem, das wir in der Debatte haben. Wir sind, was die Europapolitik angeht, auf einem ganz gefährlichen Weg.
Lassen Sie mich deshalb eines unmißverständlich wiederholen: Für die SPD ist die Währungsunion ein
ganz zentraler Beitrag zur Europäischen Union. Sie ist im übrigen selber Teil einer politischen Union. Allerdings möchte ich hinzufügen: nicht in dem Sinne dessen, was ich gerade von Herrn Tietmeyer gelesen habe, der in einer Sendung gesagt haben soll, außerdem müsse sichergestellt werden, daß die nationale Haushaltspolitik unter überstaatliche Kontrolle gestellt werde.
Wenn dies die Situation ist, dann frage ich mich: Wer will denn eigentlich, Kollege Waigel, Neuverhandlungen mit Ratifizierungszwang? Ich komme auf den Stabilitätspakt à la Waigel noch zurück. Wer will das denn? Und wer will dann überhaupt noch die Systematik, die wir auf Grund von Maastricht haben? Gerade wer dafür ist, Haushalts- und Fiskalpolitik besser abzustimmen, wer dafür ist, das nicht in der neuen Regierungskonferenz neu zu verhandeln, der muß doch darauf achtgeben, daß er nicht in anderer Weise Staatsverträge zur Ratifizierung bringt.
Ganz am Rande bemerkt: Ich bin gespannt, wie dann der Kampf zwischen Herrn Stoiber auf dieser Seite und Herrn Waigel auf jener Seite ausgeht,
({1})
wenn Sie den Ländern und Gemeinden verpflichtend Verschuldungsquoten vorgeben wollen. Das würde auch für den Bundeskanzler in seiner Haltung zu den Kommunen gelten.
Lassen Sie mich zum Thema zurückkommen. Die Währungsunion ist - deswegen sollten wir nicht leichtfertig darüber reden; das sehe ich auch so - für uns von großem wirtschaftlichem Interesse; denn wenn wir die Wechselkurse nicht auf einem vernünftigen realen Niveau stabilisieren, werden wir die Arbeitsplätze nicht stabilisieren. Wenn wir die Währungsunion hätten, wäre das auch ein guter Ausgangspunkt, um international im Verhältnis zu Yen und Dollar zu einem besseren System zu kommen.
Herr Kollege Kinkel, Sie haben vorhin von zehn Jahren gesprochen, bis wir die Stabilisierung des Weltwährungssystems auf der Basis der Währungsunion erreichen können. Wenn wir sie im Jahre 2002 abgeschlossen haben, dann sind das von jetzt aus gerechnet keine zehn Jahre. Da schien mir bei Ihnen ein bißchen Freud drin zu sein, oder aber Sie haben das auf Grund der Verunsicherung der F.D.P. gesagt. Darauf wollte ich nur kurz hinweisen.
Wenn die europäische Währung - das ist fast einstimmige Meinung des Hauses - die gleiche Härte haben soll, wie sie die D-Mark heute hat, dann sind die Konvergenzkritierien eine unverzichtbare Bedingung. Ich kann nur wiederholen, was Herr Scharping gesagt hat. Es war der Bundeskanzler, der betont hat, die Kriterien seien wichtiger als der Zeitplan. Die Bundesregierung hat dies dem Verfassungsgericht vorgetragen. Gilt das plötzlich nicht mehr? Dann lassen wir doch diese albernen Diskussionen darüber.
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Wenn Sie es anders sehen, müssen Sie es sagen.
Das führt auch im Ergebnis dazu, daß eine Reihe von Ländern am Anfang nicht an der Währungsunion teilnehmen werden. Ich beteilige mich nicht an der Spekulation, wer es sein wird; aber es ist sicher, daß es so sein wird. Wenn das aber so ist, dann gilt für mich: Wir sollten nicht jetzt anfangen, offiziell irgendwelche Zeitpläne zu verschieben, weil das Konsolidierungsbemühungen in anderen Ländern gefährdet. Wenn ich mir die Entwicklung in Italien ansehe, dann haben die Konsolidierungsbemühungen dazu geführt, daß sich die übertriebene Abwertung der Lira gegenüber der D-Mark zum Teil korrigiert hat, was ja für unsere Exportwirtschaft gut ist. Nur sollten wir auch nicht so tun, als hinge das allein davon ab, denn die Notwendigkeit, die Haushalte zu konsolidieren, ist in Italien evident, und in Frankreich ist die Notwendigkeit, das dortige Sozialsystem zu revidieren, ebenfalls evident, weil es nicht mehr zu bezahlen ist. Darauf komme ich aber noch einmal zurück.
Wir müssen jedenfalls darauf achten, daß die D-Mark nicht real weiter aufgewertet wird. Wenn das aber so ist, dann bin ich allerdings dafür, daß wir uns um einen zentralen Punkt sehr intensiv kümmern, Herr Kollege Waigel, und da vermisse ich tatsächlich das Engagement der Bundesregierung: Kriegen wir endlich wieder ein System zur Wechselkursstabilisierung innerhalb Europas? Das alte EWS funktioniert nicht mehr; es besteht nur noch auf dem Papier. Was machen wir denn, wenn wir eine Währungsunion haben, mit denen, die ihr angehören, und denen, die ihr nicht angehören? Haben dann vielleicht diejenigen, die der Währungsunion angehören, eine Aufwertungsorgie und die anderen eine Abwertungsorgie?
Herr Kollege Seiters, der jetzt leider nicht mehr anwesend ist, hat vorhin den Ministerpräsidenten von Niedersachsen angegriffen. Trotzdem möchte ich ihm eines sagen: Die Sorge des Kollegen Schröder ist doch, daß, wenn wir keine Stabilisierung hinbekommen, dann ein Land wie Italien - er hat es erwähnt, und ich kann es hier ebenfalls nennen; das ist auch kein Problem - und andere Länder erst recht in einen Abwertungsdruck hineinkommen. Dann wäre es aber sinnvoll, mit der Aufnahme in die Währungsunion so lange zu warten, bis sie mit der Konsolidierung soweit sind. Wenn das aber nicht die Zielsetzung des Vertrages ist, dann sind doch die Sorgen um die Arbeitsplätze entscheidend: um die Arbeitsplätze bei VW oder bei mir im Wahlkreis bei Opel oder bei Herrn Stoiber bei BMW. Dies ist doch der zentrale Punkt, warum die Bundesregierung mit aller Energie ein neues Stabilisierungssystem vorsehen muß. Ich greife Herrn Lamfalussy überhaupt nicht an, wenn er sagt, das EWI werde das bis zum Herbst des nächsten Jahres machen; das ist sein Auftrag. Aber warum drängt die Bundesregierung nicht darauf, daß ein solches System viel schneller auf den Tisch gelegt wird, als wir es bisher gehört haben? Wir brauchen es doch dringend.
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Wenn - das sage ich nur ganz am Rande - aus Gründen, die wir nicht zu vertreten haben, der TerDr. Norbert Wieczorek
min ins Rutschen kommt, dann wäre es auch sehr nützlich, wenn wir ein solches System hätten. Da sehe ich aber überhaupt kein Engagement der Bundesregierung.
Damit komme ich auf den Punkt, warum wir jetzt in der Diskussion um den Terminplan sind: doch deshalb, weil die Währungsunion keine fiskalpolitische, monetäre oder juristische Veranstaltung ist - das ist sie auch -, sondern ihre Verwirklichung entscheidend von der Entwicklung der Volkswirtschaften abhängt. Hier liegt das zentrale Problem der Europäischen Union: die viel zu hohe Arbeitslosigkeit. Für uns Sozialdemokraten gilt hier der Satz: Wer keine Beschäftigung schafft, schafft keine Stabilität.
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Wenn Sie der Opposition das nicht glauben wollen, dann verweise ich Sie auf den Bericht der UNO-Kommission für Wirtschaft/Europa, abgedruckt im „Handelsblatt" vom 4. Dezember. Dort fordern die ECE-Experten, daß die Diskussion um die konjunkturellen Auswirkungen der Maastricht-Beschlüsse nicht weiterhin ein Tabu bleibt und sie in Zukunft offener und eingehender diskutiert werden, als dies bisher geschehen ist. Genau dies müssen wir endlich machen; denn es sind die Arbeitslosigkeit, der Rückgang der Beschäftigung und der Rückgang der Wachstumsraten, die die europäische Währungsunion gefährden, und nicht irgendwelches Gerede.
Kollege Waigel, Sie haben meine Unterstützung bei der Durchsetzung eines Stabilitätspaktes. Übrigens haben Sie nicht die Unterstützung der Abgeordnetenkollegen auf Ihrer Seite des Europaausschusses;
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sie haben nämlich diese Formulierung in dem Antrag abgelehnt. Das nur als Randbemerkung; das ist Ihr internes Problem.
Herr Kollege Waigel, wir stimmen auch darin überein, daß die Zielsetzungen von den meisten Partnerländern, nicht von allen, geteilt werden. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Mit dem, was Sie im Speziellen vorschlagen, habe ich ganz erhebliche Probleme. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es akzeptabel ist, so in die Haushaltspolitik einzugreifen - ich habe vorhin bewußt Herrn Tietmeyer zitiert -, wie das Ihr Vorschlag macht.
Mir ist auch aufgefallen, daß die Zielsetzung und die Übereinstimmung darin immer wieder betont wird. Man könnte etwas lässig sagen: Der ECOFIN-Rat ist nun einmal die Gewerkschaft der Finanzminister. Im Detail aber ist das keineswegs in Ordnung. Ich fordere Sie auf, uns auch für die Bundesrepublik einmal vorzulegen, wie das rechtlich aussieht - da bin ich bei dem Punkt, den ich gerade schon angesprochen habe -: Brauchen wir dann überall Verfassungsänderungen? Brauchen wir Staatsverträge, die zu ratifizieren sind, weil es um das Kernrecht der Parlamente, nämlich um die Haushaltshoheit, geht?
Darum haben Sie sich herumgeschwindelt. Ich glaube, daß Sie Ihren Vorschlag weit überzogen haben.
Wenn wir in der Konjunkturpolitik mit der Konsolidierung so fortfahren - zuerst sollten 3 Prozent erreicht werden; jetzt plötzlich ist es nur noch 1 Prozent, mit angedrohten Strafen -, kommen wir immer mehr in die Situation, daß die Menschen den Weg zur vollständigen Umsetzung des MaastrichtVertrages nicht mehr als etwas ansehen, was ihnen eine bessere Zukunft verspricht. Sie werden es vielmehr als eine Verschlechterung ihrer gegenwärtigen Lage betrachten.
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Das ist doch im Moment auch das Kernproblem in Frankreich. Wir können uns nicht darüber freuen. Ich möchte nicht, daß Frankreich ausschert. Das schlägt auf uns zurück; das ist gar keine Frage. Was dort abläuft, ist, daß die EU nicht als etwas Positives erlebt wird. Es wird vielmehr gesagt: Weil ihr die Maastricht-Kriterien erfüllen wollt, bekommt ihr diese Schwierigkeiten. Die Folge davon ist das, was wir jetzt in Frankreich erleben.
Ob die Regierung das überlebt oder nicht, ist Sache Frankreichs. Wie sie die Konsolidierung fortführt, ist ebenfalls Sache Frankreichs. Daraus sollten wir uns tunlichst heraushalten. Der Haushalt des Kollegen Waigel ist schließlich auch nicht so sauber.
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- Ich könnte aus dem Nähkästchen plaudern: Im Finanzministerium wird auch schon überlegt, wann man die 60-Prozent-Grenze überschreitet - das nur am Rande - und wie nah man an den 3 Prozent ist. Das will ich gar nicht tun.
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Das Entscheidende aber ist doch, daß wir, wenn die Beschäftigung in Europa nicht angekurbelt wird, keine weitere Unterstützung für den Prozeß der Konsolidierung erhalten, was zunächst einmal Einschnitte bedeutet. Das ist das Problem.
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Hier klage ich die Bundesregierung ganz ausdrücklich an: Ihr größtes Versäumnis bei der Hinführung zur Währungsunion ist doch, daß Sie es nicht geschafft haben, die Vorschläge von Jacques Delors umzusetzen. Im Gegenteil, Sie haben mit Ihrer Politik der Kürzungen im Haushalt geschafft, daß die öffentlichen Investitionen heruntergefahren werden und durch die Abgaben- und Steuererhöhung für den Bürger die Massenkaufkraft stagniert, mit dem Ergebnis, daß die private Endnachfrage stagniert. Diese macht noch immer 50 Prozent der Nachfrage und damit auch der Arbeitsplätze aus.
Genau an diesen Stellen haben Sie in der Vorbereitung versagt. Deswegen fordere ich Sie auf: Fangen Sie endlich an, nicht nur über finanzpolitische
Kriterien zu reden - ich kann das vielleicht am unbefangensten sagen, da ich aus dieser Ecke des Hauses komme -, sondern auch die realwirtschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir in Europa gemeinsam die Währungsunion durchsetzen können.
Was von dieser Bundesregierung bis jetzt gekommen ist, hat weder der Bundesrepublik noch Frankreich, noch anderen Ländern wie zum Beispiel Italien geholfen.
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Wenn wir es nicht schaffen - das ist ein Angebot -, durch mehr Beschäftigung und durch mehr ökologisches Wachstum - natürlich, Herr Kollege Sterzing - Zustimmung zu finden, dann werden wir nicht nur bei der Bevölkerung hinsichtlich der Zustimmung zu Europa scheitern. Vielmehr werden auch die finanzpolitischen Kriterien nicht erfüllt werden können, weil die Gegenläufigkeit von finanzpolitischen Kriterien und realer Entwicklung dann offensichtlich wird.
({11})
Ich sage das noch einmal - darauf habe ich schon hingewiesen -: Der Zeitplan des Vertrages ist das eine. Das gilt für die Gesetzestechnik und alles andere, was dazugehört. Eine tatsächliche Wirtschaftsentwicklung läßt sich jedoch nicht durch Verträge, auch nicht durch juristische Spitzfindigkeiten diktieren, sondern allein durch eine konsequente Wirtschaftspolitik. Das ist das, was ich auf seiten der Regierungskoalition vermisse, was aber Voraussetzung ist, damit wir mit der Währungsunion beginnen können.
Ich danke.
({12})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Ich weiß, daß Europa bei der Bevölkerung nicht gerade Begeisterungsstürme hervorruft. Ich glaube, daß dies auch damit zu tun hat, daß wir es noch nicht geschafft haben, die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft durch Globalisierung und durch die informationstechnische Revolution zu begreifen; denn auf das Phänomen der internationalen Massenarbeitslosigkeit gibt es nur eine Antwort: größere Märkte, einheitliche Währung. Das ist auch die Antwort für die Beschäftigungspolitik und nicht umgekehrt der Rückfall in kleine nationalstaatliche Programme, sondern der größere Währungsraum, der größere Wirtschaftsraum, mehr europäische Wettbewerbsfähigkeit und nicht Kleinstaaterei à la Schröder, à la Spöri, meine Damen und Herren.
({1})
Es ist ein absoluter Skandal - ich muß das wirklich sagen -, wie ein international gültiger Vertrag, ratifiziert in elf Mitgliedsländern, in vielen Landtagen diskutiert wird. Es ist ein großer Schaden für die Bundesrepublik.
({2})
In vielen Landtagen wird von Sozialdemokraten so getan, als könne man morgen den Vertrag einfach wegwerfen. 1999 ist tot, sagt der Wirtschaftsminister in Baden-Württemberg. Frau Schmidt sagt, ich will die Währungsunion, aber nicht jetzt. Meine Damen und Herren, das ist vertragswidrig. Wenn Sie das ändern wollen, müssen Sie den Vertrag ändern, und zwar mit Zweidrittelmehrheit.
({3})
- Entschuldigung. Dann müssen Sie den Vertrag ändern, und Sie müssen hier beantworten, ob Sie vertragstreu sind oder ob sie nicht vertragstreu sind, meine Damen und Herren.
({4})
Was die Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene angeht, so können wir die Diskussion über das Delors-Programm führen. Delors hat auch uns für die nationale Beschäftigungspolitik wichtige Vorgaben gegeben.
Erster Punkt. Im Delors-Bericht ist klar herausgearbeitet, daß Europa im Vergleich zu Asien und Amerika Arbeitsplätze verloren hat, weil die Produktivität in Europa zurückgegangen ist und die Produktivitätsfortschritte in Asien und Amerika zugenommen haben. Darauf gibt es nur eine Antwort: die europäische Wirtschafts- und Währungsunion, nicht neue nationale Programme, die die Verschuldung wieder hochtreiben.
Zweiter Punkt. Im Delors-Bericht ist klar, daß im Vergleich zu Amerika und Asien die noch nationalen Arbeitsmärkte zu starr sind, zu wenig flexibel sind, meine Damen und Herren. Das ist unser Thema; vom Ladenschluß über andere Themen. Es ist ja jämmerlich, wie Sie hier ein solches Symbolthema behandeln. Es war bezeichnend, daß der große reformerische Durchbruch bei den Grünen damit geendet hat, daß der Ladenschluß so bleiben soll. Das ist ein äußerst „frauenfreundliches" Programm der Grünen. Das muß ich einmal in Ihre Richtung sagen.
({5})
Dritter Punkt. Im Delors-Bericht für mehr Beschäftigung in Europa ist die Senkung der Lohnzusatzkosten ein Thema. Was vertreten wir denn hier, Herr Gerhardt und Herr Solms? Wir wollen die Lohnzusatzkosten senken, um in Deutschland und Europa
mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wer ist dagegen? Rot-Grün, meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.
({6})
Insofern sage ich hier im Umkehrschluß zu Herrn Wieczorek, dem verehrten Vorsitzenden: Zu mehr Beschäftigung gehören sanierte Haushalte. Selbst wenn es den Vertrag von Maastricht nicht geben würde, müßten Länder wie Frankreich und Italien aus nationalen Beschäftigungsgründen ihre Haushalte endlich in Ordnung bringen. Führen Sie jetzt nicht eine antieuropäische Diskussion, indem Sie im Grunde nationale Notwendigkeiten mit dem EuropaArgument kaputtmachen. Was ich sagen will, ist, daß in der Wirtschaft bei Globalisierung auch die nationalen Möglichkeiten abnehmen. Politisch wichtig ist, daß die Globalisierung der Wirtschaft die politischen Möglichkeiten des Nationalstaates einschränkt und daß es deshalb demokratietheoretisch geboten ist, die Legitimation für Europa zu erhöhen, weil wir sonst mehr multinationale Unternehmen bekommen und immer weniger demokratische nationalstaatliche Möglichkeiten, eine globalisierte Wirtschaft demokratisch zu kontrollieren.
({7})
Deshalb ist es auch so wichtig, daß das Europäische Parlament in mehr Verantwortung hineinwächst, daß wir im Deutschen Bundestag und im Europaausschuß mehr Verantwortung zur Legitimation europäischer Entscheidungsprozesse übernehmen, daß wir endlich, wie Herr Kinkel sagt, mehr Mehrheitsentscheidungen im außenpolitischen Bereich schaffen und daß endlich bei der Verbrechensbekämpfung die Innen- und Rechtspolitik zunimmt, sonst wird Europa nicht begriffen.
Ein weiteres Ziel sehe ich in der Erweiterung. Die F.D.P. hat die Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa immer auch als Chance gesehen, altmodische westeuropäische Entscheidungsprozesse und Subventionspraktiken zu reformieren.
({8})
- Die Osterweiterung, verehrter Kollege Glos, ist nicht nur ein Mittel des Almosens für frühere kommunistische Staaten, sondern sie ist die große Chance, junge Demokratien in Osteuropa zu belohnen und zu festigen
({9})
und in Westeuropa alte Strukturen wieder in Ordnung zu bringen,
({10})
das heißt, die zu teure und zu langsame Wirtschaft zu verjüngen, die Produktivität zu steigern, mit Ingenieuren aus der Tschechischen Republik. Meine Damen und Herren, es ist doch besser, wenn westeuropäische Unternehmen Arbeitsplätze auslagern in die Tschechische Republik oder nach Polen, als wenn sie überhaupt Europa verlassen und letztlich nur
noch in Amerika oder in Asien Arbeitsplätze schaffen. Hier muß mehr paneuropäisches Denken einkehren. Insofern sind wir für eine mutige Osterweiterung, und ich halte es für wichtig, daß Bundeskanzler und Außenminister ganz klar gemacht haben, daß sechs Monate nach Abschluß von Maastricht II die Beitrittsverhandlungen beginnen und daß wir das mutige Ziel haben, wenn möglich noch bis zum Jahr 2000 erste Kandidaten aufzunehmen.
Es ist interessant, daß man sich bei den Sozialdemokraten im Ausschußbericht auf eine zeitliche Fixierung nicht eingelassen hat. Es wird vorgeschoben, es müsse noch das eine oder andere reformiert werden, aber sie haben sich zu diesem Zeitplan nicht klar geäußert.
Meine Damen und Herren, ich sage gern etwas zur Wirtschafts- und Währungsunion, das ist ja mein Lieblingsthema. Ich kann mich kurzfassen. Wir sind für die Einhaltung der Konvergenzkriterien, aber auch für das Datum. Es ist doch interessant und spricht von dem großen europapolitischen Mut unserer französischen Partner, daß der französische Außenminister in einem Interview in dieser Woche klar gesagt hat, und zwar trotz der riesigen Probleme in Frankreich: Vorrangiges Ziel der französischen Politik ist die Einhaltung des Zeitplans.
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Welch ein Kleinmut bei deutschen Sozialdemokraten, während Frankreich mit seinen Problemen dies einhält!
Es ist schon schlimm, daß ein Wirtschaftsminister aus Baden-Württemberg, wo immerhin führende mittelständische Unternehmen und wo Mercedes, Bosch und Porsche tätig sind, nicht einmal begreift, welch großen Vorteil es für baden-württembergische Arbeitsplätze bedeutet, wenn im Jahr 1999 70 Prozent baden-württembergischer Umsätze in einer einheitlichen Währung abgewickelt werden können. Er spricht vom „Alptraum der Währungsunion". Er sagt: 1999 ist tot. Das zeigt auch, daß die große Koalition dort tot ist und daß es auch in Baden-Württemberg notwendig ist, mit liberalem Mut europolitische Ziele durchzusetzen.
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Meine Damen und Herren, zum Stabilitätspakt sage ich nur soviel: Er findet die Zustimmung der F.D.P., erst recht dann, wenn er auch im Finanz- und im Europaausschuß beraten ist. Das werden wir tun, und deshalb behalten wir uns das vor.
Zum letzten Punkt. In dieser Debatte sollten wir Westeuropäer nicht nur an Westeuropa denken. Außerhalb Europas gibt es ein riesiges Interesse an diesem bisher einmaligen übernationalen Organisationsmodell. Es herrscht auch Interesse - das möchte ich am Schluß sagen - an einer zweiten Leitwährung neben dem Dollar. Wer sich normalerweise so für entwicklungspolitische Anliegen einsetzt wie Rot-Grün, der sollte zumindest einmal darüber nachdenken, ob es nicht Sinn macht, neben dem Dollar, der ja keine echte Leitwährung in dem Sinne mehr ist, weil sie aus innen- und handelspolitischen Gründen nicht
mehr verteidigt wird, auch im Interesse armer Entwicklungsländer eine zweite, stabile europäische Leitwährung einzuführen, die gerade auch Entwicklungsländern große Vorteile bringt.
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Insofern wird die F.D.P. die Europapolitik nicht nur unterstützen. Sie wird sie mittragen. Sie wird sich mit all denen anlegen, die durch Kleinmut oder durch Spaltung dieses Ziel nicht mitvertreten.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile der Abgeordneten Kristin Heyne das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist notwendig in diese Debatte den schwerwiegenden Beschluß, der gestern gefaßt worden ist, einzubeziehen. Ich meine den Beschluß, deutsches Militär zur Friedensbewahrung nach Bosnien zu entsenden; denn dieser Beschluß ist unter anderem gerade deswegen notwendig geworden, weil sich in den letzten Jahren eine erschreckende Unfähigkeit der EU-Staaten zu einer gemeinsamen zivilen Außenpolitik erwiesen hat.
({0})
Wir haben in den letzten Jahren einen Rückfall in die außenpolitischen Denkmuster und Einflußstrategien der 20er und 30er Jahre erleben müssen. Die Brüchigkeit der EU ist gerade in der Außenpolitik beklemmend deutlich geworden.
Aber gerade weil das so ist, möchte ich für meine Fraktion erklären, daß wir den Integrationsprozeß in Europa für dringend geboten halten, daß wir ihn nach Kräften unterstützen wollen und daß wir auch das Projekt der Währungsunion unterstützen. Wir halten die Währungsunion für notwendig, um den europäischen Binnenmarkt zu stabilisieren. Wir halten sie auch für ein geeignetes Mittel, um den Weg zu einer immer engeren Union der Völker Europas gehen zu können.
({1})
Es ist die Aufgabe der Opposition, immer die Fehler und die Mängel zu sehen und zu beschreiben. Das ist unser Job. Das wird leicht als eine grundlegende Ablehnung mißverstanden. Deswegen war es mir wichtig, das hier noch einmal zu betonen. Ich möchte auch sagen, daß ich Ausführungen von Herrn Spöri, wie wir sie heute über den „Alptraum Währungsunion" lesen können, oder auch von Herrn Schröder, der an der Währungsunion das nationale Thema findet, für fahrlässig halte.
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Allerdings denke ich, daß der Weg zur Währungsunion sehr viel Umsicht und sehr viel Sensibilität erfordert. Die Unruhen in Frankreich machen deutlich, welcher Sprengstoff mit dem Thema Währungsunion und mit den damit verbundenen intensiven Bemühungen für Stabilität verbunden sind. Dies ist nicht nur ein nationaler Sprengstoff in den jeweiligen Mitgliedsländern. Im Moment ist in Frankreich noch mehrheitlich die Bemühung um Stabilität akzeptiert. Aber in so einer angespannten Situation, wie wir sie im Moment in Frankreich erleben, ist der Schritt nicht weit, daß die Stimmung umkippt und daß es dann eine Stimmung gegen ein vermeintliches deutsches Stabilitätsdiktat und eine Bevormundung durch die Bundesbank in Frankfurt gibt.
Ich glaube, die Geste des Musterschülers der Stabilität, die uns Minister Waigel noch einmal vorgeführt hat, ist zum einen innenpolitisch - wenn ich mir den Haushalt anschaue - nicht sehr gerechtfertigt und andererseits halte ich sie auch auf europäischer Ebene für ungeeignet. Problematisch finde ich dann aber auch eine Äußerung, wie wir sie vom Kollegen Scharping gehört haben, der vom wichtigsten Land in Europa spricht, sich dann kurz korrigiert und vom wirtschaftlich wichtigsten Land spricht. Auch dieses finde ich auf europäischer Ebene wenig sensibel.
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Die Philosophie der Währungsunion, die monetäre Konvergenz anzustreben, alle Folgeerscheinungen aber der Verantwortung der einzelnen Mitgliedsländer zu überlassen, ist zumindest ein riskantes Unternehmen, weil sie dazu führen kann, daß die Bürgerinnen und Bürger die EU hauptsächlich als Einrichtung erleben, die Sparen und Sozialabbau fördert. Es heißt, Illusionen zu wecken, wenn man eine vollständige Angleichung der Sozialpolitik und der sozialen Standards in Europa fordert. Das ist mir schon klar.
Trotzdem sollte der gemeinsame Weg zu mehr Stabilität für eine gemeinsame Währung von gemeinsamen Anstrengungen begleitet werden, die Stabilität zum Beispiel nicht auf Kosten von Beschäftigung zu erlangen. Schweden schlägt vor, in Maastricht ein zusätzliches Kapitel zur Beschäftigungspolitik einzuführen,
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das ein Frühwarnsystem und ein soziales Monitoring enthält. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen schwedischen Vorschlag zu unterstützen.
({5})
Das Vorhaben, die europäische Integration durch die Währungsunion zu fördern, sehen wir schließlich auch durch den Zeitautomatismus gefährdet. Es ist sicher nötig, einen erheblichen Anreiz zur Einhaltung der Stabilitätskriterien zu schaffen und sich deswegen auch einen Zeitrahmen zu setzen. Es ist aber doch auch nötig, die Erfahrungen im Zusammenwachsen der Währungen auszuwerten und ihnen Rechnung zu tragen. Die inzwischen vorliegenden Daten machen deutlich, daß bei einem Beginn 1999 vermutlich eine Währungsunion mit sehr wenigen
Ländern zustande käme. Damit wäre auch die integrierende Wirkung der Währungsunion in Frage gestellt.
Wir betonen deswegen den Parlamentsvorbehalt. Es wird notwendig sein, Anfang 1998 im Bundestag auf der Grundlage der dann vorliegenden Daten zu diskutieren, ob die wirtschaftlichen, die währungspolitischen, aber auch die integrierenden Möglichkeiten, die wir in der Währungsunion sehen, zum Zeitpunkt 1999 wirklich zum Tragen kommen können oder ob wir 1998 entscheiden müssen, daß es sinnvoller ist, das EWS neu zu beleben und im Rahmen des EWS die Währungen zueinander heranzuführen und den Zeitpunkt für den Beginn der Währungsunion zu verschieben.
Ein so sensibler Prozeß wie das Zusammenwachsen Europas kann nicht durch einen Jahre im voraus festgelegten Automatismus gelingen. Er braucht immer wieder sorgsam und sensibel bedachte Entscheidungen, die der Lage in den jeweiligen Ländern gerecht werden.
Danke.
({6})
Ich erteile jetzt dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber das Wort.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Wenn ich die Debatte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt habe, dann kann ich einmal aus meiner Sicht ein Resümee ziehen und dem voll zustimmen: Die Politik der europäischen Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Sie liegt im deutschen Interesse. Aber ich möchte auch besonders betonen, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung sehr deutlich gemacht hat, daß die Bürger und Bürgerinnen diese Erfolgsgeschichte und alles, was noch weiterführen soll, auch verstehen sollen und verstehen müssen und daß man mehr dazu tun soll.
({1})
Ich freue mich sehr darüber - das kam auch in vielen Wortbeiträgen zum Ausdruck -, denn es gab eine Zeit, in der die Europapolitik fast ausschließlich in den Kabinetten und Konferenzen ausgehandelt wurde. Die Öffentlichkeit hatte zuwenig Anteil daran. Kritische Nachfragen damals - daran kann ich mich noch sehr gut erinnern, auch an eine Diskussion hier vor zwei Jahren - wurden nicht immer honoriert, sondern sie wurden gar als Europafeindlichkeit abqualifiziert, obwohl diejenigen, die bestimmte innere fehlerhafte Strukturen kritisieren, es mit Sicherheit besser mit Europa meinen als andere, die generell sagen, jetzt, mit der Europäischen Währungsunion, hätte ich endlich ein nationales Thema und damit könnte ich Ängste provozieren. So sollte man es nicht machen.
({2})
Maastricht I war in der Tat das letzte Glied in dieser Kette. Der Vertrag von Maastricht - das wissen wir heute mehr als 1991 - hat die Bürgerinnen und Bürger relativ unvorbereitet getroffen und natürlich weit verbreitete Skepsis hervorgerufen.
Ich begrüße es, daß heute ein breiterer Konsens darüber besteht, dieses Defizit bei der Regierungskonferenz 1996 nicht zu wiederholen. Nur durch Offenheit ist das möglich. Da nützen alle Umfragen nichts, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die Menschen haben in vielen Bereichen eine tiefe Skepsis gegenüber der europäischen Integration. Wir wissen, daß diese Skepsis unberechtigt ist, aber dann ist es auch unsere Aufgabe, diese Skepsis zu überwinden. Ich sage noch einmal: Skeptiker darf man nicht am Wegrand stehenlassen, sondern man muß sich bemühen, sie mitzunehmen.
({3})
Offenheit muß auch im Umgang der Verfassungsorgane in Deutschland untereinander herrschen. Die deutschen Länder haben ein ureigenes Interesse am anstehenden Umbau Europas. Ein besonders wichtiges Element ist dabei der Föderalismus. Deswegen habe ich mir auch erlaubt, das Wort zu ergreifen.
Meine Damen, meine Herren, man muß es einfach sehen: Wir Deutsche haben eine spezifische, historisch gewachsene Staatstradition, eben nicht zentralistisch, sondern sehr stark föderalistisch. Das hat Vorteile, und das hat Nachteile. Die Vorteile überwiegen die Nachteile. Wenn wir mit heute 15 Mitgliedern in einer Europäischen Union zusammen sind, in der 14 oder dreizehneinhalb Staaten eine im Prinzip sehr zentralistische Staatsstruktur haben, dann ist folgende Frage natürlich aus Ländersicht außerordentlich interessant: Wie wird sich diese Europäische Union entwickeln? Führt die Tatsache, daß die bei weitem überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine sehr zentralistische Staatsorganisation hat, nicht letzten Endes dazu, daß über die europäische Integration auch die innere Staatsstruktur Deutschlands fundamental verändert wird? - Das wollen wir eigentlich gar nicht, aber das können wir möglicherweise gar nicht mehr verhindern, weil wir gegenüber vielen anderen Interessen sehr einsam dastehen.
Ich bin optimistisch. Der Anfang ist gemacht, mit der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, der Einsetzung des Ausschusses der Regionen im EG-Vertrag und mit dem neuen Art. 23 des Grundgesetzes. Aber bei der Regierungskonferenz 1996 müssen diese föderalen Strukturen in Europa weiter gestärkt werden. Das ist keine deutsche Marotte, sondern es ist eine Chance für Europa. Ein Europa mit über 400 Millionen Menschen kann nicht zentral organisiert sein; es würde dann aus der inneren Struktur
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({4})
heraus zerbrechen, wenn wir uns nicht bemühen, die Dezentralisierung viel, viel stärker voranzutreiben.
({5})
- Sie haben das gerade gesagt, Herr Haussmann: Europa steht vor einem entscheidenden Umbau.
Die Probleme, die mit dem Ende des Ost-WestKonfliktes zusammenhängen und die sich aus der Aufnahme neuer Staaten ergeben, stehen zur Lösung an. Der Bundeskanzler hat heute wiederum das Datum 2000 genannt. Das ist in vier Jahren.
({6})
Unsere Wirtschaft muß sich dem Wettbewerb der globalen Märkte stellen, aber zu Hause soziale Leistungen finanzieren. Das ist ein außerordentlich großer Widerspruch, den wir auflösen müssen. Die strukturelle Arbeitslosigkeit wächst trotz immenser Anstrengungen in Europa insgesamt seit 20 Jahren. Auf diese Fragen, die gestellt sind, erwarten natürlich alle Antworten.
Ich habe es bedauert, daß in der Debatte eigentlich überhaupt nicht über die Arbeiten der Reflexionsgruppe gesprochen worden ist. Unter den Mitgliedstaaten herrscht vielfach Unklarheit über den weiteren Weg. In der Reflexionsgruppe regiert, wie nun vielfältig geschrieben wird, nicht die Strategie, sondern die Taktik. In zentralen Punkten gehen die Auffassungen diametral auseinander. Völlig ungeklärt ist die künftige Richtung der Europäischen Union. Sollen die integrativen Elemente, also Kommission und Europäisches Parlament, oder die zwischenstaatlichen Elemente, also der Rat, gestärkt werden? Da gibt es natürlich tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten. Hier ist nicht einmal der Ansatz einer einheitlichen Linie zu erkennen.
Mit Zögerlichkeiten und Halbherzigkeiten werden wir allerdings die Zustimmung der Bevölkerung nicht gewinnen. Was verspricht der Maastricht-Vertrag den Bürgern nicht alles? Mehr Transparenz, mehr Bürgernähe - das steht alles drin -, konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Ich erinnere besonders an die verheißungsvollen Aussagen des Europäischen Rates vom Dezember 1992 in Edinburgh. Was ist eigentlich aus diesen hohen Erwartungen, die wir ja auch untermauert haben, geworden?
Nehmen wir das Subsidiaritätsprinzip. In Edinburgh wurde es als das Allheilmittel gegen Eurosklerose gepriesen. Die Kommission - das kann ich nicht akzeptieren - will es bei allen Rechtsakten zur Verwirklichung des Binnenmarktes gar nicht erst anwenden. Das heißt: Es ergibt sich ein absoluter Widerspruch zwischen dem, was wir politisch wollen, und dem, was die Wirklichkeit innerhalb der Europäischen Kommission ist. Im übrigen reduziert die Kommission es meines Erachtens contra legem auf die reine Frage nach einem angeblichen „europäischen Mehrwert" .
({7}) Das ist nicht der Inhalt des Subsidiaritätsprinzips. Die Folgen dieser Auffassung sehen wir allenthalben. Jetzt sagen Sie nicht: Er kommt schon wieder mit den Richtlinien für Baustellensicherheit, Fleischhygiene und Feuerschutzanzüge. - Nein, meine Damen und Herren, wöchentlich ergeben sich immer wieder neue Entscheidungen, die völlig anders als das sind, was in diesem Hohen Haus und darüber hinaus geredet wird. Im Umweltbereich - ich will das nur einmal deutlich machen - regelt der IVU-Richtlinienentwurf die Zulassung verschiedener industrieller Anlagen. Man würde nun erwarten, daß dort europaweite materielle Grenzwerte für Umweltbelastungen festgeschrieben werden. Nichts dergleichen. Statt dessen regelt man die Einzelheiten des Verwaltungsverfahrens. Dadurch bringt die Richtlinie keinen Gewinn für die Umwelt. Sie ermöglicht weiterhin Umweltdumping in der EU zu Lasten Deutschlands. Entgegen allen Appellen in Richtung auf den schlanken Staat führt sie zu weiterer Bürokratisierung und verhindert die Deregulierungsmaßnahmen, die auch hier in diesem Hohen Hause permanent angemahnt werden.
({8})
Also müssen wir darüber reden, daß das so nicht bleibt.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Besonders ärgerliche Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip finden sich immer wieder im Statistikbereich. So ist zum Beispiel die Einführung eines umfassenden Informationssystems über den Tourismus in der Europäischen Union jetzt geplant. Dazu sollen auf europäischer Ebene Daten geliefert werden: Anzahl der Betriebe, Zimmer und Betten, Anzahl der Ankünfte und Übernachtungen Gebietsansässiger und Gebietsfremder, detaillierte Angaben über das Fremdenverkehrsvolumen, die Reisemerkmale, das Profil der Touristinnen und Touristen sowie der Touristenausgaben.
Ich frage hier: Wozu soll das Ganze eigentlich dienen? Wird hier nicht anders gehandelt, als wir es politisch insgesamt wollen?
({9})
Trauen wir denn unseren Tourismusregionen in Europa nicht mehr die nötigen Aktivitäten zu?
53 Vorschläge hat die Bundesregierung auch in Abstimmung mit dem Bundesrat eingebracht, wo Aufgaben sinnvollerweise unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips verlagert werden sollten, entweder auf die Nationalstaaten oder auf Regionen. Was ist geschehen? Es ist leider nichts oder fast nichts geschehen, weil der europäische Geist in Brüssel natürlich nicht föderalistisch denkt. Hier müssen wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten, im Interesse Europas - ich sage das noch einmal - und nicht allein im Interesse der Länder.
Das ist für mich das, was unsere Bürger draußen auf die Palme bringt. Im bürokratischen Detail
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({10})
schlägt die EU erbarmungslos zu; aber dort, wo sie gefragt wäre - Stichwort: Bosnien -, blamiert sie sich in den Augen der Öffentlichkeit trotz aller Bemühungen.
({11})
Als Eurokratie hat Europa keine Zukunft, die wir alle wollen. Die Europäische Union - das darf ich hier aus meiner Sicht sagen - muß sich den großen Herausforderungen unseres Kontinents stellen. Das ist primär die Sicherung des Friedens - natürlich ist Europa eine Frage von Krieg und Frieden -, aber auch die Bewältigung des Asyl- und des Flüchtlingsproblems. Ich würde mich freuen, wenn wir endlich nicht mehr solche quälenden Diskussionen vor dem Bundesverfassungsgericht hätten. Wir hätten sie dann nicht mehr, wenn wir endlich eine einheitliche europäische Asylgesetzgebung hätten. Das bräuchten wir in Europa, nicht aber europäische Statistiken.
({12})
Wie will ich denn die Bekämpfung des organisierten Verbrechens überhaupt durchführen, wenn die Regelungen zwischen der Polizei aus Holland und Deutschland, aus Belgien und Deutschland, aus Luxemburg und Deutschland und gegenüber den anderen anrainenden Ländern alle unterschiedlich sind? Schauen Sie sich einmal an, unter welchen Bedingungen ein nordrhein-westfälischer Polizeibeamter nach Holland darf und umgekehrt. Es ist geradezu wunderbar für den einen oder anderen Verbrecher, über die Grenze zu kommen. Da muß man Dinge ändern, aber nicht im Statistikbereich und nicht durch neue Verfahrensvorstellungen.
({13})
Hören Sie ein bißchen zu. Ich meine das gar nicht so parteipolitisch, wie Sie immer versuchen, das darzustellen. Das ist doch ein gemeinsames Interesse, das wir in diesen Dingen haben. Wenn wir nicht zu Veränderungen kommen, dann nehmen uns die Leute nicht ab, daß wir durch Europa ein Stück mehr an Sicherheit vor Verbrechen haben. Dann reden wir zwar darüber, aber die Leute nehmen uns das nicht ab.
Wir brauchen die Öffnung gegenüber den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas. Das ist meine feste Überzeugung. Hier stimme ich dem Bundeskanzler ausdrücklich zu, wenn ich von seiner Regierungserklärung für die ganze Debatte ausgehen darf.
Wir brauchen eine klare und für jedermann nachvollziehbare Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten. Professor Weidenfeld nennt das „Maastricht entrümpeln". Unkontrollierte Kompetenztransfers fördern Zentralisierungsängste. Über eine Generalklausel wie den Art. 235 des EG-Vertrages, wonach Entscheidungen an den Parlamenten - sowohl dem Europäischen Parlament als auch an den nationalen Parlamenten - vorbeigehen, sind Hunderte von wichtigen Entscheidungen gegangen, die überhaupt nicht mehr politisch diskutiert worden sind. Dies sind die Probleme Europas viel stärker als manche Dinge - wenn ich das so sagen darf -, die heute so stark in Konfrontation darzustellen versucht worden sind.
({14})
Ich bin wirklich der Meinung, daß wir die große Aufgabe haben, diese Generalklausel entscheidend zu verändern; und wann haben wir denn die Chance dazu, wenn nicht bei Maastricht II 1996!
Ich sage Ihnen: Leider fanden diese Gesichtspunkte in den Arbeiten der Reflexionsgruppe zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 1996 so gut wie keinen Niederschlag. Die nötige Präzisierung des Subsidiaritätsartikels wurde dort nur kurz angesprochen.
Die Frage einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, die eigentlich im primären Interesse dieses Parlaments hier liegt, wurde überhaupt nicht angegangen. Hier müssen wir meines Erachtens nachhaken.
Darüber hinaus, meine Damen, meine Herren, brauchen wir in manchen Bereichen eine Rückverlagerung von Aufgaben auf die Mitgliedstaaten.
({15})
Dazu ein Beispiel. Ich spreche das sehr deutlich an. Heute entfällt noch die Hälfte des Gemeinschaftshaushalts auf den Agrarbereich. Das sind über 70 Milliarden DM für nur 2,42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU-Staaten.
Ich will gar nicht den Präsidenten des Europäischen Parlaments zitieren, der vor ein paar Wochen gesagt hat: Eine Europäische Union, die jedes Jahr zum Beispiel 1,87 Milliarden DM für die Subventionierung des Tabakanbaus ausgibt, statt sie in Forschung und Entwicklung zu investieren, sei nicht arm an Geld, sondern arm an Geist.
({16})
Meine Damen, meine Herren, da ist sicherlich eine Menge dran; aber den Worten müssen auch Taten folgen. Darüber wird irgendwann auch in diesem Hause einmal diskutiert und werden Entscheidungen herbeigeführt werden müssen.
Meine Regierung, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bayerische Staatsregierung, hat daher zum Beispiel einen weitreichenden Vorschlag zur Regionalisierung der EU-Agrarpolitik vorgelegt. Wir wollen die Vereinfachung der EU-Marktordnung und ihre Rückführung auf Rahmenbedingungen. Wir wollen die Zuständigkeit für Direktzahlungen zur Einkommenssicherung der Landwirte von der EU auf die Mitgliedstaaten bzw. Regionen zurückverlagern.
({17})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({18})
Wir wollen als Ausgleich für die dadurch entfallenden EU-Nettotransferleistungen den Kohäsionsfonds zugunsten der finanzschwächeren EU-Mitgliedstaaten angemessen erweitern.
Im Ergebnis, meine Damen und Herren, würden die nationalen Gestaltungsspielräume zur Realisierung einer angemessenen Einkommenspolitik für die Landwirtschaft erheblich ausgeweitet. Ich sage das jetzt auch als Ministerpräsident eines Landes, das Gott sei Dank immer noch sehr stark agrarisch und von der bäuerlichen Landwirtschaft geprägt ist. Gerade im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik haben wir eine Regelungsdichte erreicht, die jegliches Maß überschreitet und überhaupt nicht mehr verstanden wird. Da nützen auch manche Gaben nichts mehr.
({19})
Die von uns vorgeschlagene Reform hätte vier Wirkungen: erstens mehr Transparenz, Effizienz und schlankere Verwaltung; zweitens adäquate nationale Einkommenssicherung gerade für die bäuerliche Landwirtschaft, weil wir es dann selber entscheiden; drittens angemessene Honorierung der ökologischen und landeskulturellen Leistungen der bäuerlichen Landwirtschaft und viertens, meine sehr verehrten Damen und Herren, etwas ganz Entscheidendes,
({20})
die Vorbereitung der Europäischen Union auf die Erweiterung nach Osten.
Wenn man die Europäische Union erweitern will - ich bin der festen Überzeugung, wir haben die politische Chance, Mitteleuropa nach Europa zu holen, Warschau, Preßburg oder Bratislava, Prag, Budapest nach Europa zu holen -, so ist das eine politische Aufgabe, die uns genauso gestellt ist, wie sie uns damals in bezug auf Lissabon und Madrid gestellt war.
Wir wissen auch: Wenn diese Länder nach Europa kommen, vermehrt sich die Zahl der Landwirte um das Doppelte. Das heißt, wir können diese Länder nur aufnehmen, wenn wir bereit sind, bestimmte Dinge nicht mehr europäisch zu regeln, weil es sonst die europäische Kasse zerreißt, weil die europäische Kasse sie nicht aushält.
Wir müssen deutlich machen: Entweder wir wollen die Erweiterung - dann müssen wir auch Konsequenzen ziehen -,
({21})
oder wir wollen sie nicht; dann dürfen wir es aber auch nicht mehr anders sagen. Ich will die Erweiterung. Diese schaffen wir aber nur, wenn wir Entlastungen durchsetzen.
({22})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Peters?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Selbstverständlich.
Herr Ministerpräsident Stoiber, das, was Sie eben gesagt haben, hat mich schon interessiert. Auch wenn ich natürlich nicht übersehe, wie Ihre Vorschläge genau aussehen, frage ich einmal nach: Hoffen Sie, daß Sie sie durchbekommen, und wenn ja, in welchem Zeitraum? Würden Sie mir bitte noch erläutern, was genau Sie vorhaben.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Um es vereinfacht darzustellen: Der deutsche Finanzminister gibt gutes Geld nach Europa,
({1})
allein für den Ausgleichsfonds in der Landwirtschaft 20 Milliarden DM. Unsere Bauern bekommen - nach großen Mühen und bei all den Problemen im Zusammenhang mit dem Währungsausgleich - insgesamt 10 Milliarden DM zurück. Dies kann so auf die Dauer nicht bleiben.
Deswegen will ich einen Vorschlag dazu unterbreiten, wie wir das ändern können. Natürlich brauchen wir dazu zunächst einen nationalen Konsens, und dann brauchen wir einen internationalen Konsens. Aber dieser internationale Konsens wird schneller kommen, als Sie glauben. Denn eine Entscheidung kommt dadurch, daß die Jahreszahl 2000 im Raum steht - der Bundeskanzler hat sie im Zusammenhang mit Polen genannt -, relativ schnell auf uns zu. Daher ist es notwendig, schon jetzt die Vorbereitungen zu treffen, damit wir unseren Landwirten gegenüber - ich sage das auch unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität - glaubwürdig bleiben.
({2})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ja, bitte sehr.
Herr Ministerpräsident, Sie haben eben ausgeführt, daß wir für unsere Landwirtschaft 10 Milliarden DM aus Europa bekommen, aber 20 Milliarden DM in den europäischen Topf geben. Das heißt, es bleibt eine Differenz von 10 Milliarden DM. Sie haben auch darauf hingewiesen, daß Sie die Regionen in Europa weiter unterstützen wollen. Was, denken Sie, können Sie dabei heraushandeln? Oder wollen Sie die 10 Milliarden DM weiter der Europäischen Union überlassen?
Herr Ministerpräsident, das, was Sie ausführen, ist offenbar so interessant, daß es noch eine Zwischenfrage gibt. Können wir die gleich dazunehmen?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Es ist lebhaft. - Bitte sehr.
Herr Ministerpräsident, ich habe Ihre Ausführungen zur Europapolitik vernommen. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß diese Politik das Ergebnis des versammelten Sachverstandes der Ministerpräsidenten der europäischen Länder ist und daß an den Ministerratsentscheidungen unter anderem auch immer der Bundesfinanzminister, der Bundeslandwirtschaftsminister, der Bundesgesundheitsminister Anteil haben? Kommen Sie trotzdem zu der gleichen Bewertung, oder reden Sie nur gegen die Regierungsbank?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Versuchen Sie doch einmal, nicht nur in Schablonen zu denken!
({1})
Die Bundesregierung verhält sich vertragstreu. Sie verhält sich so, wie sie sich verhalten muß, um möglichst viel herauszuholen. Das ist gar keine Frage. Nur, ich halte die Struktur für nicht mehr zukunftsgerecht. Wir müssen den europäischen Vertrag angehen, damit bestimmte Dinge künftig nicht mehr notwendig sind.
Um auf die erste Frage zu antworten: Ich bin der festen Überzeugung, daß wir in vielen Bereichen - auch im Hinblick auf die Landwirtschaft - eine ganz andere ökologische Einstellung haben, als das zum Beispiel in Holland oder in Frankreich der Fall ist. Das ist keine Kritik, sondern eine Feststellung. Bei uns ist die Bewußtseinslage anders. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir bei den ökologischen Ausgleichsleistungen, die wir der Landwirtschaft auferlegen, viel nationaler, wenn Ihnen das besser gefällt: viel regionaler, also aus eigener Souveränität entscheiden sollten. Dann müßte man das Geld dafür nicht mehr nach Brüssel geben, um dann dort für ökologische Ausgleichsleistungen zu kämpfen. Bestimmte Bereiche könnten nach unseren Vorstellungen geregelt werden, genauso wie dies die Tschechen nach ihren Möglichkeiten und nach ihren Vorstellungen tun könnten. Das heißt, es muß nicht alles so dicht geregelt sein. Ich möchte keine Nationalisierung der europäischen Agrarpolitik. Bestimmte Dinge, vor allem die ökologischen Ausgleichsleistungen oder die Leistungen im Rahmen des Kulturlandschaftsprogramms, können aber zweifellos in Sizilien und Bayern oder in Irland oder wo auch immer unterschiedlich behandelt werden. Dies ist für mich die konkrete Ausformulierung des Subsidiaritätsprinzips, über das immer nur abstrakt geredet wird. Ich möchte dies ausformen.
({2})
Wir müssen darüber reden, ob wir dies nicht auch bei dem einen oder anderen Punkt der Strukturpolitik machen. Damit Sie mich nicht mißverstehen, sage ich auch: Die europäische Integration ist ohne europäische Solidarität nicht denkbar. Dazu gehört, daß die stärkeren Mitgliedstaaten den ärmeren finanziell unter die Arme greifen. Mein Verständnis von europäischer Solidarität schließt die von Deutschland eingegangenen Verpflichtungen - Stichwort Edinburgh und Stichwort Eigenmittelbeschluß - ein. Aber dies rechtfertigt für die Zukunft keine viel zu hohen deutschen Beiträge und auch nicht das heute praktizierte Finanzgebaren der Europäischen Union.
Die Menschen verstehen jedenfalls nicht, daß Deutschland, das nach seiner Wiedervereinigung, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen, in das Mittelfeld der EU-Mitgliedstaaten zurückgefallen ist, zwei Drittel aller Nettobeiträge in die EU-Kasse zu zahlen hat.
Die finanzielle Belastung ist meines Erachtens künftig - auch hier müssen wir über 1999 hinaus denken und Vorstellungen entwickeln - am wirtschaftlichen Wohlstand auszurichten. Dies wollen wir 1999 erreichen.
Es geht nicht an, daß einige Mitgliedstaaten und EU-Organe ständig nach neuen EG-Förderrichtlinien rufen. Es geht vor allen Dingen nicht an, daß immer weitere Politikbereiche - zum Beispiel über das Vehikel einer europäischen Raumordnung - in den Umverteilungsmechanismus einbezogen werden sollen. Wenn dies so käme, würde die Raumordnungspolitik in großem Umfang an diesem Parlament vorbei betrieben; dann würde auf anderer Ebene entschieden werden. Dies halte ich nicht für gut.
Ich unterstütze den Bundesfinanzminister in all seinen Bemühungen, den Stabilitätspakt auch in Deutschland mit allen Ländern zu schaffen. Dies ist überhaupt keine Frage.
Es ist großartig, daß der Bundeshaushalt um 1,3 Prozent geringer ist als im Vorjahr. Auch die Länder halten sich daran, unterhalb des Zuwachses des Bruttosozialproduktes zu bleiben. Aber dazu paßt es nicht, daß der EU-Haushalt 1996 wiederum um über 8 Prozent steigt und wir allein letzten Endes ein Drittel zum EU-Haushalt beitragen, während wir in Deutschland den Menschen immer mehr abverlangen müssen.
({3})
Hier entsteht ein enormes Konfliktpotential für die Zukunft.
Erlauben Sie mir ein letztes Wort. Unter das Stichwort Finanzen fällt zwangsläufig das heute am meisten diskutierte europapolitische Thema der Wirtschafts- und Währungsunion.
Ich habe dem, was der Bundesfinanzminister und der Bundeskanzler dazu gesagt haben, überhaupt nichts hinzuzufügen. Dies gilt insbesondere für den Stabilitätspakt sowie für vieles andere. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, was ich europapolitisch für besonders wichtig halte: Eine Währungsunion darf auf die Dauer nicht von einer politischen Union abgekoppelt sein. Dies haben wir Maastricht I aufgegeben. Dies müssen wir in Zukunft erreichen, weil wir sonst auf die Dauer die EuropäiMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({4})
sche Währungsunion - wenn wir sie erreichen sollten - nicht halten werden.
Aber ich meine etwas anderes: Die Währungsunion soll zur Einigung, nicht zur Spaltung Europas beitragen.
({5})
Dazu brauchen wir eine Mehrheit. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler heute in seiner Regierungserklärung davon gesprochen hat.
({6})
In Maastricht I haben wir in Art. 109 - von dem heute niemand mehr redet - vereinbart, daß 1997 mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten dabeisein sollen.
({7})
- Das ist richtig. Aber ich sage Ihnen, Herr Haussmann: Das, was 1997 gegolten hätte, kann für 1999 eigentlich nicht falsch sein.
Ich halte die „ Lokomotiventheorie ", daß der Kern die anderen mitzieht, für sehr gefährlich, wenn die Anzahl derer, die von den 15 Mitgliedstaaten eine Europäische Währungsunion bilden könnten, zu gering ist, vielleicht nicht einmal ein Drittel beträgt; denn das könnte natürlich auch das Gegenteil bedeuten. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn diese wenigen Mitgliedstaaten, die eine Europäische Währungsunion bilden könnten, von den anderen oder von einigen der 15 Mitgliedstaaten so weit entfernt wären, daß es zu einer Spaltung innerhalb der Europäischen Union kommen könnte. Dies darf es nicht geben.
({8})
1991 hat man das möglicherweise nicht in der Tragweite gesehen. Deswegen bin ich froh, daß wir darüber noch einmal ernsthaft diskutieren - sowohl hier als auch im Bundesrat -, wenn die Entscheidungen getroffen werden müssen.
({9})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Haussmann?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ja.
Herr Ministerpräsident, sind Sie mit mir der Meinung, daß es klug war, im Vertrag von Maastricht zunächst für 1997 eine qualifizierte Mehrheit zu verlangen, aber dann den Druck auf die Länder zu verstärken und zu sagen, mit der Wirtschafts- und Währungsunion werde 1999 mit den Mitgliedstaaten begonnen, die die Kriterien erfüllen? Sind Sie mit mir der Meinung, daß es durchaus Sinn macht, an diesem Zeitplan festzuhalten, weil er auch die nationalen Stabilitätsbemühungen fördert, und nicht umgekehrt den Zeitplan in Frage zu stellen, weil dann auch nationale Stabilitätsbemühungen sofort nachlassen?
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ich darf Ihnen erstens sagen, Herr Kollege Haussmann: Es ist allgemeiner Konsens, daß der Zeitplan nicht das Maß aller Dinge ist. In der Zwischenzeit sagt nämlich jeder: Gott sei Dank, die Einhaltung der Konvergenzkriterien bestimmt den Zeitplan und nicht umgekehrt.
({1})
Diese generelle Aussage, über die hier allgemeiner Konsens besteht, verweist natürlich auf eine entsprechende Relativität des Zeitplans.
Zweitens. Ich muß deutlich machen: Da Maastricht I keine einheitliche Finanz- und keine einheitliche Wirtschaftspolitik vorschreibt, sondern nur die Ergebnisse einfordert - das heißt, die Mitgliedstaaten müssen bestimmte Ergebnisse erreichen, zum Beispiel 60 Prozent oder 3 Prozent; wie das erreicht wird, steht jedem Land frei -, müssen Sie klarmachen, daß eine Europäische Währungsunion nur mit Risiko zustande kommt, wenn lediglich vier oder fünf der 15 Mitgliedstaaten die Kriterien erfüllen, die anderen aber nicht. Damals gehörten der Europäischen Union noch nicht 15 Mitgliedstaaten an, morgen sind es vielleicht schon 19 Mitgliedstaaten; hier wurde von den Visegrad-Staaten gesprochen. Es ist meine Meinung, zu sagen: Diese Frage muß noch sehr, sehr sorgfältig abgewogen werden.
({2})
Dieses Parlament und auch der Bundesrat beschäftigen sich 1998 mit dieser Frage.
Ich sage an die Adresse der SPD: Sie wissen ganz genau, wann die entscheidende Debatte laufen wird. Ich bin dem Bundesfinanzminister dankbar, daß er sich nicht auf Prognosen für 1997 einläßt, sondern nur auf Daten. Diese werden wir im Frühjahr des Jahres 1998 bekommen. Sie alle wissen, daß das Jahr 1998 ein Wahljahr ist.
Ich sage Ihnen voraus: Wir würden außerordentlichen Schaden anrichten, wenn es in diesem Hause hinsichtlich der Beurteilung der Kriterien und der Beurteilung, wie wir die Europäische Währungsunion einleiten, zu einer streitigen Diskussion und einer streitigen Abstimmung käme. Ich würde das außerordentlich bedauern und möchte an alle appellieren: Diese Frage kann nicht Gegenstand einfacher politischer Angstmacherei sein, weil dann viel Schaden angerichtet würde. Ich bin dafür, ernsthaft darüber zu reden, welche Konsequenzen dies oder jenes hat. Das habe ich heute - seien Sie mir nicht böse - ein bißchen vermißt. Ich habe heute zuviel von
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({3})
Innenpolitik und zuwenig von den europäischen Strukturen gehört.
Danke schön.
({4})
Wir geraten in Zeitnot, aber wir haben darüber verhandelt. Wir werden ein wenig verlängern.
Zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege Gerald Thalheim, SPD, das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Herr Ministerpräsident, ich sehe mich durch Ihre Einlassungen zu einer Kurzintervention veranlaßt. Sie haben hier so getan, als hätte Bayern mit Ihrem Papier, wenn man so will, das Ei des Kolumbus in der Agrarpolitik gefunden.
Ich möchte daran erinnern: Ihr Papier richtet sich in seiner Kritik im wesentlichen gegen die EU-Agrarreform. Diese hat, wenn ich mich richtig erinnere, der ehemalige CSU-Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle als den großen Abschluß seiner Laufbahn, als einen großen Erfolg gefeiert.
Insofern erstaunt es schon, wenn Sie jetzt der Meinung sind, daß das Ergebnis zu kritisieren sei. In der Tat ist es so. Wir haben in Brüssel eine übergroße Regelungsdichte, Reformen sind angesagt. Es erstaunt, daß nicht der zuständige Bundesminister, Herr Borchert, das Papier als erster geliefert hat, sondern die Bayerische Staatsregierung.
In der gestrigen Ausschußsitzung haben wir das beraten. Es war bemerkenswert, daß ungeteiltes Lob zu Ihrem Papier nur von der PDS zu' hören war; in allen anderen Fraktionen gab es sehr große Meinungsdifferenzen.
Das Ziel des Papiers - ich möchte es vereinfachen -, des agrarpolitischen Ansatzes ist es, die Einkommenspolitik zu nationalisieren. Wir befürchten, daß das im Kern die Renationalisierung der Agrarpolitik ist, nach der Melodie: Die Länder, die viel Geld haben, sollen ihren Bauern viel Geld geben; diejenigen, die weniger haben, können es eben nicht.
Das bedeutet im Kern eine Entsolidarisierung in der Gemeinschaft. Ich weiß nicht, ob die Botschaft an die Länder, die dazukommen wollen - wer nichts hat, kann seinen Leuten halt nichts geben -, die richtige ist.
Herr Ministerpräsident.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ich will keine landwirtschaftliche Debatte auslösen.
({1})
- Ja, dann will ich auch kurz darauf antworten. Ich wußte nicht, daß es das Instrument der Kurzintervention gibt.
Das ist keine Kritik an der europäischen Agrarreform, aber das bedeutet, daß die Leistungen, die Ausgleichsleistungen nach der europäischen Agrarreform sind und jetzt über Europa gezahlt werden, im Grunde genommen in höherem Maße national gezahlt werden sollten.
Das Thema der europäischen Osterweiterung müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Ich will nicht, daß die Bauern sozusagen unter dem politischen Druck der Notwendigkeit, daß die Osterweiterung vor der Tür steht, unter den Rost fallen und wir die Dinge nicht geregelt haben.
Ich höre und lese sehr viel. Man müßte sich richtigerweise Gedanken über die Allianz, über die gemeinsame Wirtschaftszone, die mit den Vereinigten Staaten von Amerika geplant ist, machen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie das machen - dagegen ist nichts zu sagen -, hat das ungeahnte Auswirkungen auf die europäische Agrarpolitik. Vielleicht ist das bisher noch nicht so gesehen worden. Deshalb möchte ich frühzeitig einen Beitrag dazu leisten.
Ich bedaure es, daß so viele Ministerpräsidenten, die sich sonst häufig zu Europa zu Wort melden, an der heutigen Debatte, in der entscheidende Weichenstellungen vorgenommen werden, nicht teilnehmen und morgen oder übermorgen von außen versuchen, Einfluß zu nehmen.
({2})
Darüber muß man ernsthaft diskutieren. Wir haben versucht, nicht nur zu reden, sondern einen Vorschlag zu unterbreiten. Über diesen kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber am Ende wird der Weg in diese Richtung gehen, weil wir sonst die Osterweiterung nicht schaffen.
Ich sage noch einmal: Entweder Sie erreichen die Osterweiterung, oder es zerreißt den europäischen Haushalt. Da ich nicht will, daß der europäische Haushalt zerreißt, und ich für die Osterweiterung bin, müssen wir Strukturveränderungen innerhalb des europäischen Vertrags angehen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul, SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, daß heute deutlich geworden ist, daß die Position, die wir, die SPD, in der Frage der Währungsunion haben,
({0})
ausdrücklich vom bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber - offensichtlich gegen die F.D.P. - unterstützt worden ist.
Im übrigen möchte ich folgendes anmerken. Heute ist die Debatte, in der der Deutsche Bundestag der Regierung die Positionen zur Regierungskonferenz für das nächste Jahr, in dem Maastricht überprüft werden soll, mitgeben will. Nach dem, was ich heute morgen gehört habe, habe ich den Eindruck, daß sich noch nicht einmal die Regierungsparteien untereinander einig sind, was eigentlich als Auftrag mitgegeben werden soll.
({1})
Das läßt einen Böses befürchten, denn wenn in so zentralen Fragen wie der Währungsunion zwischen CSU und F.D.P. - das ist in dem Disput eben ja deutlich geworden - so unterschiedliche Auffassungen sind, muß man sich fragen, welche Linie nachher vertreten wird.
({2})
Der zweite Punkt. Es ist noch eine weitere Situation deutlich geworden. Eigentlich ist alles - Herr Stoiber hat es diplomatisch ausgedrückt - eine immanente Kritik an der Verhandlungsweise von Herrn Hoyer in der Reflexionsgruppe gewesen, in der er für die Bundesregierung saß.
({3})
Drittens. Er hat gesagt - das ist schon immer die Position der SPD gewesen -: Die Fehler, die die Bundesregierung bei Maastricht gemacht hat, dürfen sich nicht wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Die Regierungsparteien sind jedenfalls heute nicht gewillt - das wird sich nachher auch in der Abstimmung zeigen -, der Bundesregierung konkrete Weisungen für die Verhandlung bei der Regierungskonferenz mitzugeben, weil sie offensichtlich alles offenlassen wollen.
Damit ist die Gefahr sehr groß, daß folgendes wieder eintritt: Die Bundesregierung verhandelt im stillen Kämmerlein; sie konfrontiert die Bevölkerung mit den Ergebnissen, und der nächste Frust in der Bevölkerung ist vorbereitet. Das darf sich nicht wiederholen, liebe Kolleginnen und Kollegen. So darf die Bundesregierung nicht weiter verhandeln.
({4})
Wenn man der Debatte heute morgen die ganze Zeit gefolgt ist, so kann man ganz gut feststellen - Sie haben das wahrscheinlich genauso empfunden wie ich -: Bundeskanzler Kohl hat durchaus - wenn auch nicht mit der notwendigen Leidenschaft - europäisches Wollen deutlich gemacht. Das Problem seiner Europapolitik und damit unsere zentrale Kritik ist, daß er ein Konzept der Europapolitik hat, das immer noch von der Vergangenheit ausgeht, als würde es reichen, wenn sich europäische Regierungs- und Staatschefs untereinander verschwören und etwas verabreden. Europapolitik ist nicht mehr die traditionelle Außenpolitik von Konrad Adenauer und anderen. Sie ist Innen- und Gesellschaftspolitik.
({5})
Der Bundesregierung fehlt jedes Konzept, wie eine solche gesellschaftliche Vision am Ausgang dieses Jahrhunderts tatsächlich sein sollte.
Es gibt eine historische Aufgabe am Ausgang dieses Jahrhunderts, dieses Jahrtausends. Sie wissen: Im letzten Jahrhundert und zu Beginn dieses Jahrhunderts haben Gewerkschaften und Sozialdemokratie den Sozialstaat durchgesetzt. Es ist bei allem, was heute an Nachdenklichem gesagt worden ist, eine Binsenweisheit deutlich geworden: Der Nationalstaat ist unter vielen Gesichtspunkten nicht mehr ausreichend steuerungsfähig. Die Erkenntnis und die Perspektive für das Ende dieses Jahrhunderts ist: Wir werden den Sozialstaat in unserem eigenen Land nicht bewahren können, wenn wir nicht alles unternehmen, damit er auf europäischer Ebene auf- und ausgebaut wird.
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Das muß die Perspektive sein, sonst wird in jedem unserer Länder durch die Globalisierung das weiter abgeräumt, was in diesem Bereich schon ins Rutschen gekommen ist.
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- Ja, aber ich ziehe eine ganz andere Schlußfolgerung daraus. Eine Währungsunion ohne die Sozialunion bringt - an dieser Stelle hat Herr Stoiber etwas Richtiges gesagt - die Europäische Union zum Platzen,
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weil sie in letzter Konsequenz - das hat der Kollege Norbert Wieczorek vorhin angesprochen - die realen Probleme bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Probleme von Menschen nicht einbezieht. Die Sozialunion muß die Ergänzung zur Währungsunion sein.
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Ohne das hat Europa keine wirkliche Chance, sich weiterzuentwickeln.
Das heißt auch, die Europäische Union auf Vollbeschäftigung zu verpflichten. Das heißt auch, daß das Sozialprotokoll in den Vertrag einzugliedern ist. Da muß es eben so sein, daß Arbeitsschutz und Mitbestimmung, daß Ausbildungsplätze für Jugendliche, Sozialversicherungspflicht für bisher ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse und die Entsenderichtlinie verwirklicht werden. Es muß endlich Schluß sein mit den Einstimmigkeitsabstimmungen in sozialpolitischen Fragen im Ministerrat. Sonst werden Großbritannien und die Regierung Kohl jeden sozialpolitischen Fortschritt in der Europäischen Union blockieren. Dann wird sich Europa eben nicht weiterentwikkeln können.
Da ist jetzt eine Differenz ganz deutlich. Stoiber und andere sprechen von Subsidiarität. Meine Befürchtung ist - der Binnenmarkt existiert -: Alles, was jetzt an sozialpolitischen Elementen neu geschaffen werden soll, wird unter das Verdikt „Subsidiarität" gerechnet und nicht verwirklicht. Das ist eine Konsequenz, die für die Weiterentwicklung fatal wäre.
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Vor allem gehört zu einer Sozialunion und zu einem europäischen Sozialstaat, daß die Gleichberechtigung von Frauen auch auf dieser Ebene eine verpflichtende Aufgabe staatlichen und überstaatlichen Handelns ist.
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Die Bundesregierung - das habe ich in einer anderen Debatte schon gesagt - will offensichtlich alles abräumen, was in diesem Bereich an Gleichberechtigung bisher im Vertrag verankert ist. Wir sagen: Wenn Sie die Gleichstellung von Frauen aus dem Vertrag oder aus den anderen europäischen Entscheidungen herausziehen, reduzieren Sie in der Tat Europa auf ein Europa der Händler, der Exporteure und der Agrarier. Wir sind der Meinung, Europa ist auch eine Chance für Frauen, wenn dafür gesorgt wird, daß aktive Beschäftigung und Förderung für Frauen in dem Vertrag verankert werden und damit vor allen Dingen auch nationale Politik zugunsten der Frauengleichstellung verwirklicht wird.
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Von Frau Nolte hat da niemand etwas zu erwarten. Frau Nolte, wer sich auf der EU-Ebene hergibt, auch das geringste Programm, das die Bundesrepublik Deutschland 10 Millionen DM im Jahr zur Frauengleichstellung gekostet hätte, noch zu halbieren, der hat den Namen Frauenministerin nicht verdient, wenn er auf diese Art und Weise den Frauen in den Rücken fällt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt völlig unterschiedliche gesellschaftspolitische Konzeptionen von der Weiterentwicklung Europas. Deshalb wird es auch heute kontroverser als in früheren Debatten. Die konservativen Parteien dieses Hauses - das haben sie heute noch nicht so richtig rausgelassen - wollen natürlich Europa faktisch zu einer traditionellen militärischen Supermacht entwickeln.
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Dabei tauchen interessante Differenzen etwa auch zwischen CDU/CSU und F.D.P. auf. Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie sich alle die Empfehlungen bzw. den Bericht des Europaausschusses dazu an. Die Frage, wozu die Militärstruktur neben der NATO
dienen soll, ist von allen bisher nicht beantwortet worden.
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Vor allen Dingen kommt dazu, daß CDU/CSU wollen, daß zukünftig mit Mehrheit entschieden werden kann, daß Militäreinsätze unter dem Titel „Europäische Union" laufen und wir sie auch noch finanzieren sollen. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Erstens braucht die Europäische Union keine neue militärische Struktur; die NATO gibt es. Zweitens ist die Frage, warum eigentlich die Bundesregierung in diesem Sektor heute noch mit Frankreich eine gemeinsame Rüstungsagentur zur Vertretung gemeinsamer Interessen empfiehlt. Wer Europa in einer solchen Situation, in der sich heute Deutschland und Frankreich befinden, mit einer Rüstungsagentur beglücken will, wird nicht Europa retten, sondern dafür sorgen, daß die Waffenexporte in die Welt zunehmen. Das fände ich unerträglich.
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Schließlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wer Mehrheitsentscheidungen - das will die CDU/CSU, die F.D.P. nicht, das ist auch wieder ein Unterschied - im Bereich der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik empfiehlt und dann auch noch sagt, daß die Deutschen das mitfinanzieren sollen, obgleich sie sich hier oder an anderen Aktionen nicht beteiligen, der empfiehlt ein Unsinnsprogramm. Ich empfehle Herrn Seiters und der CDU/CSU, solche Vorschläge schleunigst wieder zurückzupacken. Dankenswerterweise stimmt die F.D.P. in diesen Fragen ja mit uns.
Lassen Sie mich zum Schluß zur Osterweiterung kommen. Leider ist Herr Stoiber nicht mehr da. Es wäre schön, wenn er noch hier wäre; denn der Dialog soll ja auch geführt werden, und das setzt voraus, daß man sich nicht nur selber reden hört, sondern auch die Antworten mitbekommt. - Wo ist er? Ran mit ihm!
({17})
- So, das ist auch in Ordnung. Da kann er nur lernen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die Frage der Osterweiterung noch einmal ansprechen, und es ist ein Problem, das die Bunderegierung bisher nicht erkannt hat. Wir alle sind dafür, daß die Osterweiterung kommt. Aber Helmut Kohl sagt, die Europäische Union darf nicht mehr kosten, die Osterweiterung muß kommen, und bei der Agrarpolitik muß alles so bleiben wie bisher.
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- Aber er macht es so.
Ich sage Ihnen: Ich lege Ihnen heute hier einen Vorschlag vor, den die SPD in diesem Bereich vertritt. Wir wollen, daß zukünftig die Europäische Union nur in dem Umfang mehr Finanzmittel erhält, wie sie
auch neue Aufgaben übertragen bekommt. Das wäre schon einmal ein ganz wichtiger Schritt.
({19})
Um die Erweiterung, die Aufnahme neuer mittel- und osteuropäischer Länder, finanzieren zu können, wollen wir, daß im Bereich der Agrarpolitik bis zum Jahr 2010 bei den Marktordnungen und bei den Exportbeihilfen drastisch gestrichen wird. Mit den dann frei werdenden Mitteln soll die Osterweiterung, die Aufnahme neuer mittel- und osteuropäischer Länder, vorbereitet werden.
Man muß das, was Stoiber unter dem Gesichtspunkt der Regionalisierung vorgeschlagen hat, nicht teilen, aber eines ist klar: Die Bundesregierung, die dafür verantwortlich wäre, die Fragen der Finanzierung und der Osterweiterung hier zu beantworten, hat in dieser Frage keinen einzigen wirklich sinnvollen Vorschlag auf den Tisch gelegt. Sie handelt nur nach dem Prinzip „Weiter so! " und beläßt alle Sachen ohne jede wirklich strategische Orientierung so, mit allen Widersprüchen.
Unser Vorschlag ist also die Finanzierung durch drastische Einschnitte im Agrarbereich. Das würde im übrigen auch dazu führen, daß der englische Rabatt hinfällig wäre, und das würde auch die Ausgangs- und Finanzsituation der Bundesrepublik Deutschland sehr verbessern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Bitte.
Frau Kollegin, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten bis zum Jahr 2010 die Agrarsubventionen in Europa deutlich zurückfahren, und haben gleichzeitig gesagt, daß Sie damit dann die Osteuropaerweiterung finanzieren wollen. Sie haben drittens gesagt, daß die Bundesregierung keine konkreten Vorschläge dazu hätte.
Ich frage Sie darum: Was glauben Sie denn, was das kosten wird? Wie weit wollen Sie denn dann die Agrarsubventionen bis zum Jahr 2010 zurückfahren? Sie haben ja Konkretisierung eingefordert.
Sie haben ja vorhin gehört, die Hälfte des jetzigen Haushaltes ist der Agraranteil, also rund 49 Prozent. Wir wollen das in diesem Bereich - Sie werden jetzt von mir nicht hören, es muß die Hälfte sein, aber näher an die Hälfte als an ein Viertel - reduzieren, aber sagen, das, was bisher an Strukturmaßnahmen im Bereich der Agrarpolitik war, soll in die normale Regionalpolitik eingegliedert werden. Das heißt, das, was vor allen Dingen ländliche Existenzen von Bauern fördert und unterstützt und Beihilfen in diesem Bereich gibt, soll im Haushalt weiter vorgesehen werden, auch steigen und entsprechend eingesetzt werden.
Ein letzter Punkt dazu. Das, was hier zur Übertragung an die Regionen vorgeschlagen worden ist, mag auf den ersten Blick vernünftig aussehen.
({0})
Was aber nicht gesagt worden ist, ist natürlich, daß nachher die Nationalstaaten bzw. die Regionen die Finanzierung zusätzlich übernehmen müssen. Denn es bleibt dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn Sie nicht weitere Steuerquellen erschließen wollen und weitere Einkünfte haben, muß die Osterweiterung aus dem Vorhandenen auch der Europäischen Union finanziert werden, und dann muß hier offengelegt werden, aus welchen Quellen.
Ich habe all dies heute bei einer Regierungserklärung vermißt, bei der die Frage Regierungskonferenz, Währungsunion, Finanzierung und Osterweiterung angesprochen waren. Deshalb: Die Europapolitik der letzten Jahrzehnte, das war sicher eine Außenpolitik, die auch jeder von uns geteilt hat. Aber für die Zukunftsaufgaben dieses Landes und der Europäischen Union werden neue Ideen und auch neue Leute benötigt. Diejenigen von der Regierung, die das heute hier dargestellt haben, zeigen, daß sie keine Perspektiven in diesem Bereich haben.
Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gero Pfennig, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wieczorek-Zeul, ich weiß nicht, ob Sie die Forderung nach neuen Leuten an sich selbst gerichtet haben. Was Sie hier vorgetragen haben, ist in manchen Dingen wieder so gewesen, wie wir es aus der Ausschußarbeit kennen: sehr blumig, aber wenn man genauer nachfragt, stellt man fest, nichts dahinter.
({0})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben zusammen mit der F.D.P.-Fraktion für die Tagung des Europäischen Rates einen Antrag eingebracht, der präzisiert, was wir von der Bundesregierung erwarten. Wir unterstützen das, was die Bundesregierung in ihrer Regierungserklärung heute deutlich gemacht hat. Ich möchte die Gründe für unsere Unterstützung anhand von vier Punkten erläutern.
Erstens. Für die Heranführung der assoziierten Reformstaaten Mittel- und Osteuropas an die Union soll ein Zeitplan festgelegt werden. Dies ist notwendig, damit die Erweiterung der Union nicht in technischen Fragen steckenbleibt. Ich erinnere an die Aufnahmeverhandlungen mit Spanien im vergangenen Jahrzehnt, wo das Vorbringen immer neuer technischer Fragen den Beitritt ständig verzögert hat. Derartiges soll sich nicht wiederholen. Wir sind deshalb
dafür, daß die Kommission der Europäischen Union ein Ablaufszenario für Beitrittsverhandlungen vorlegt. Diese sollen spätestens sechs Monate nach Abschluß der Folgekonferenz zu Maastricht beginnen und zu einer Aufnahme erster Staaten um das Jahr 2000 führen.
Zweitens. Wir unterstützen auch das Vorhaben der Bundesregierung, daß in Madrid zur Neuordnung der Finanzen der Europäischen Union erste Beschlüsse gefaßt werden sollen. Das, was Herr Ministerpräsident Stoiber hier heute vorgetragen hat, haben wir im Deutschen Bundestag schon häufig vorgetragen. Um die Kernsätze noch einmal zu nennen: Wir halten es für erforderlich, daß unmittelbar nach der Folgekonferenz mit der Erarbeitung einer grundlegenden Reform des EU-Finanzsystems begonnen wird, damit die Reform vor 1999 steht und nach 1999 in Kraft treten kann. Dazu gehört ein faires System für die Aufbringung der Finanzen, und die Einnahmen und Ausgaben sind rechtzeitig vorher den dann bestehenden Aufgaben anzupassen.
Frau Wieczorek-Zeul, was Sie hier beispielsweise zu den Finanzen und dem Beitritt vorgetragen haben, ist doch wieder nur eine Scheinformel gewesen.
({1})
Wo sonst soll denn die EU Polen Hilfe leisten, wenn nicht bei der Agrarumstrukturierung? Da werden natürlich Kosten im Agrarbereich anfallen. Wenn man aber vorher die Agrarausgaben auf die Hälfte zurückschneidet, wie Sie es machen wollen, dann hat man überhaupt kein Geld mehr, um die Beitrittskandidaten zu unterstützen.
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Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion sieht es als notwendig an, daß in Madrid eine Zeiteinteilung für den Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion festgelegt wird. Darüber hinaus halten wir es für wünschenswert, daß die vom Bundesfinanzminister Waigel angekündigten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Stabilität nach Beginn der dritten Stufe in Madrid beschlossen werden. Wir gehen davon aus, daß die Währungsunion zum 1. Januar 1999 vertragsgemäß verwirklicht wird; darin sind sich CDU, CSU und F.D.P. übrigens einig. Das bedeutet für uns, daß die Stabilitätskriterien einzuhalten und auch keine neuen hinzuzufügen sind.
Wir begrüßen, daß die SPD inzwischen klargestellt hat, wie aus dem Ausschußbericht auf Seite 35 ersichtlich ist, daß die Anerkennung des Sozialprotokolls für sie nicht ein zusätzliches formelles Kriterium für die Teilnahme an der dritten Stufe der Währungsunion ist. Ich sage allerdings: Das läßt der SPD nach wie vor die Möglichkeit offen, diese Forderung wie auch noch weitere Forderungen dann als sogenannte materielle Kriterien wieder neu aufzutürmen. Wir werden sehen, was da passiert.
Viertens. Für die 1996 beginnende Folgekonferenz erhofft sich die Bundesregierung neben der Festlegung des Zeitplans für die Erweiterung Durchbrüche bei der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Rechts- und Innenpolitik, Fortschritte bei bestehenden gemeinschaftlichen Politikbereichen wie zum Beispiel der Umweltpolitik, die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und die Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit durch Neuordnung des institutionellen Gefüges. Alles zusammen soll mehr Transparenz, Bürgernähe und eine Kultur der Rechtsvereinfachung bringen.
Die Erwartungen der CDU/CSU sind in dem Antrag wiedergegeben. Wir befinden uns dabei in Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Europäischen Volkspartei in Madrid vom 7. November 1995.
Wir wissen, daß die Folgekonferenz ein bedeutender, aber eben auch nur ein Schritt im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses bis zum Ende dieses Jahrhunderts sein wird. Im Vertrag von Maastricht ist bereits vorgesehen worden, diese Konferenz zu einem begrenzten Thema einzuberufen. Ihre Aufgabenstellung ist inzwischen erweitert worden.
Wenn ich den Bericht der Reflexionsgruppe vom 5. Dezember betrachte, dann zeigt sich, daß hinsichtlich der Ziele und Inhalte noch erhebliche Differenzen bestehen.
In diesem Zusammenhang begrüße ich übrigens ausdrücklich, daß die Bundesregierung dafür eintritt, daß an den zukünftigen Beratungen für die Folgekonferenz weiterhin zwei Abgeordnete des Europäischen Parlaments teilnehmen sollen. Dies nämlich wird dazu führen, daß die Aspekte der Europäischen Union weiterhin im Vordergrund stehen.
Differenzen hinsichtlich der Ziele und Inhalte bestehen aber nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zwischen den politischen Richtungen. Wir, die CDU/CSU, verstehen diese Konferenz wie unsere Schwesterparteien in der Europäischen Volkspartei als Weichenstellung in der Europäischen Union für Frieden, Freiheit und Wohlstand für die Bürger im geeinten Europa des 21. Jahrhunderts.
Für uns gehört dazu, daß die Europäische Union nicht nur wirtschafts- und währungspolitisch eine Einheit bildet, sondern auch in der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Justiz- und Innenpolitik; dies ist hier schon gesagt worden. Um als Einheit akzeptiert zu werden, braucht die Union Handlungsfähigkeit, demokratische - das heißt parlamentarische - Verantwortung auf der Ebene der Union und in den Mitgliedstaaten sowie Transparenz und Bürgernähe.
Bei der Beratung der verschiedenen Anträge im Ausschuß ist deutlich geworden, daß die Fraktionen zwar bei letzterem in vielen Punkten im Grundsatz übereinstimmen, bei den Bereichen der politischen Einheit aber erhebliche Differenzen bestehen. Dazu möchte ich einige Anmerkungen machen.
CDU und CSU treten dafür ein, daß im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik die im Maastrichter Vertrag vorgesehene Entwicklung fortgesetzt wird: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik soll auch Verteidigungspolitik und Verteidigung umfassen. Dazu ist die WEU mittelfristig in die EU als europäischer Pfeiler der NATO in der transatlantischen Partnerschaft zu integrieren. Dem
stimmen die Oppositionsfraktionen hier nicht zu; das haben sie ausdrücklich gesagt.
Es ist schon erstaunlich, zu sehen, in welchen Gegensatz sich die SPD damit zum Beispiel zu den von der französischen Europa-Abgeordneten Guigou im Europaausschuß des Bundestages geäußerten Auffassungen bringt, die immerhin für die sozialistische Fraktion des Europäischen Parlaments Mitglied der Reflexionsgruppe ist. Noch erstaunlicher ist, wenn ausgerechnet die sozialdemokratische Seite so großen Wert darauf legt, daß ausschließlich die NATO über militärische Strukturen verfügen sollte, deren Auflösung man doch noch wenige Jahre zuvor gefordert hat.
Diese Art Fundamentalismus in SPD-Forderungen hat sich auch bei den Beratungen über die Grundsätze einer gemeinschaftlichen Innen- und Justizpolitik gezeigt. Zwar ergaben auch hier die Ausschußberatungen in einigen Grundsätzen Gemeinsamkeiten - so zum Beispiel darin, daß die gegenseitige Rechts- und Amtshilfe der Behörden und Gerichte Gemeinschaftsprinzip werden soll und Asyl- sowie Zuwanderungsrecht durch Gemeinschaftsrecht geregelt werden sollten. Jedoch wollten SPD und Bündnis 90/Die Grünen in diesen Politikbereichen eine Vergemeinschaftung nur zulassen, wenn die konkrete Gesetzgebung der Europäischen Union den Bedingungen der SPD oder der Grünen folgt.
({3})
Auf diese Weise kommt man natürlich nie zu einer Vergemeinschaftung.
Zum Beispiel kann ein Land wie Frankreich mit seiner langen Asyltradition über die Forderung der SPD nach Vergemeinschaftung der Asylpolitik ausschließlich nach Bedingungen der SPD nur lachen.
({4})
Die CDU/CSU-Fraktion nimmt den Hinweis des Bundeskanzlers zur Kenntnis, daß bei Verweigerung einzelner Mitgliedstaaten Fortschritte bei einer gemeinsamen Innen- und Justizpolitik notfalls im Wege von Vertragsabkommen zwischen den übrigen Mitgliedstaaten, ähnlich dem Schengener Protokoll, erreicht werden sollen. Für diesen Fall gehen wir davon aus, daß derartige Abkommen mit einer Zeitklausel versehen werden, das heißt, daß nach einem bestimmten Zeitablauf die Materie in kommunitäre Strukturen überführt wird und es nicht nur zu Opting-out-Klauseln kommt, wie zum Beispiel beim Sozialprotokoll, dem Großbritannien auch unter einer Regierung Tony Blair wohl nicht ohne weiteres beitreten würde. Deshalb wird es so schnell auch nicht zu einer Sozialunion aller Mitgliedstaaten kommen, wie von der SPD beklagt wurde.
In diesem Zusammenhang, Frau Wieczorek-Zeul, noch ein Satz zu den Frauenprogrammen. Ich wiederhole das, was Ihnen die Kollegin Limbach schon in der vorigen Woche gesagt hat:
({5})
Sie können es nicht ertragen, daß Sie einem EU-Programm zustimmen wollen, das es nicht mehr gibt. Und einem Programm, das es gibt, wollen Sie nicht zustimmen. Das ist das einzige, was Sie bewegt.
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Meine Kolleginnen und Kollegen, namens der CDU/CSU-Fraktion bitte ich Sie, nachher unserem mit der F.D.P.-Fraktion gemeinsam eingebrachten Antrag entsprechend den Empfehlungen des Europaausschusses zuzustimmen.
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Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei Jahren hat eine Mehrheit in diesem Hause der Einführung des europäischen Binnenmarktes zugestimmt und damit die Grundlage für die Situation, vor der wir heute stehen, gelegt: Europa ist im Namen von Konzerninteressen und Gewinnmaximierung in den letzten Jahren immer weiter gespalten und nicht geeint worden - und das sowohl wirtschaftlich als auch politisch und vor allem sozial.
Auf der Regierungskonferenz im nächsten Jahr sollen nun Veränderungen und Nachbesserungen am Maastrichter Vertrag vereinbart werden. Das, denke ich, ist auf absehbare Zeit die letzte Chance, Voraussetzungen für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger zu konzipieren. Allerdings lassen die bisherigen Vorbereitungen für dieses Gipfeltreffen wenig Raum für Optimismus. Bis jetzt sind lediglich Einigungen zu den Themenbereichen gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Rechtspolitik und Vereinfachung der Gesetzgebungs- und Abstimmungsverfahren im Europäischen Parlament erzielt worden.
Wichtige Fragen aber, die das tägliche Leben der Europäerinnen und Europäer und damit auch der Bevölkerung der Bundesrepublik unmittelbar beeinflussen werden, stehen bis jetzt nicht einmal auf der Tagesordnung von Maastricht II. So wird sich die bevorstehende Regierungskonferenz, die mit einer voraussichtlichen Dauer von ungefähr einem Jahr ein rekordverdächtiges Pensum vor sich hat, nicht eine Minute lang mit den sozialen Folgen des ungebremsten Marktes beschäftigen und erst recht nicht mit der Frage, wie sich die europäische Einigung auf die Situation einer Mehrheit der europäischen Bevölkerung, nämlich der Frauen, bereits auswirkt bzw. auswirken wird.
Ein kritischer Blick auf die patriarchalen westeuropäischen Gesellschaften zeigt, daß trotz bestehender nationaler Unterschiede Frauen in allen Mitgliedstaaten der EU eine diskriminierte Mehrheit darstelChristina Schenk
len. Sowohl im Erwerbsbereich als auch in der Familiensphäre sind Frauen mit Benachteiligungen konfrontiert, bei denen Kapitalverwertungsinteressen einerseits und patriarchale Strukturen andererseits zusammenwirken. Das zeigt sich in der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung, die eine mangelnde Präsenz von Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und ihren weitgehenden Ausschluß aus den Entscheidungsgremien in Industrie und Politik bewirkt.
Das sehen wir ebenso in der anhaltenden geschlechtsspezifischen Segmentierung des Arbeitsmarktes, in der trotz Art. 119 EWG-Vertrag andauernden Einkommensdiskriminierung von Frauen und in ihrer systematischen Benachteiligung in den sozialen Sicherungssystemen und nicht zuletzt an den strukturellen und personalen Gewaltverhältnissen, mit denen Frauen in ganz Europa tagtäglich konfrontiert sind.
Maßnahmen zum Abbau bestehender und zur Verhinderung neuer Benachteiligungen von Frauen sind nicht Bestandteil von Maastricht I gewesen. Ich denke, wenn es nicht gelingt, die Frage der europäischen Gleichstellungspolitik auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz im nächsten Jahr zu setzen, werden es die Regierungen auch weiterhin dem Zufall überlassen bzw. diese Frage auf die lange Bank schieben oder gänzlich ignorieren.
({0})
Die Ergebnisse einer solchen, den Marktmechanismen überlassenen Entwicklung für Frauen sind in den letzten fünf Jahren aus nächster Nähe in den ostdeutschen Bundesländern zu besichtigen gewesen.
Wir fordern deshalb den Bundeskanzler nachdrücklich auf, sich bei der Konferenz in Madrid dafür einzusetzen, daß die Frage der Gleichstellung der Geschlechter im Rahmen eines europäischen Grundrechtekatalogs Bestandteil der Maastricht-II-Verhandlungen wird.
({1})
Die Bundestagsgruppe der PDS hat bereits im Sommer konkrete Vorschläge unterbreitet, die darauf abzielen, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen als einklagbares Persönlichkeitsrecht auszugestalten und Frauenfördermaßnahmen einschließlich der Quotierung zu sichern.
Ich denke, es ist an der Zeit, die seit langem aufgezeigten Defizite des Maastrichter Vertrages endlich zu beseitigen. Dazu gehört die Beseitigung der Diskriminierung der weiblichen Bevölkerungsmehrheit an vorderster Stelle.
({2})
Dieses Problem muß endlich als politische Aufgabe wirklich ernst genommen werden. Madrid ist eine erneute Gelegenheit, den Übergang von einer Politik der Lippenbekenntnisse, die in Sachen Gleichstellung von Männern und Frauen in den letzten Jahren
bis ins Unerträgliche gesteigert worden ist, zu einem ernstzunehmenden Engagement wenigstens zu versuchen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist heute morgen in der Debatte schon häufig und aus gutem Grund über das Thema der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gesprochen worden. Ich will hier für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ich denke, ich darf das auch für die Kollegen der F.D.P. tun - sagen: Wir halten sowohl an den Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages als auch am Zeitplan fest.
({0})
Wenn dieses wichtige Werk der Integration der Europäischen Union gelingen soll, dann müssen wir allerdings in den vor uns liegenden Jahren noch einige Anstrengungen unternehmen. Ich möchte auf zwei Punkte dieser Anstrengungen zu sprechen kommen.
Zunächst müssen wir, meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land über das, was dort geschehen soll, informieren. Wir müssen ihnen sagen, daß die Wirtschafts- und Währungsunion die logische Fortsetzung und die Vollendung des europäischen Binnenmarktes ist. Wir müssen ihnen auch sagen, daß die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa zu einer Stabilitätsgemeinschaft führen soll.
In diesem Zusammenhang scheint mir eines wichtig zu sein: Wir dürfen heute, im Jahr 1995, nicht immer nur darauf verweisen, daß dies etwa in zwei, drei oder vier Jahren eintreten werde. Nein, wir müssen sagen: Schon heute haben wir durch die psychologische Wirkung des Maastricht-Vertrages eine weitestgehende Stabilitätskultur in Europa erreicht.
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Das Ziel der Stabilität ist nicht ein fernes Ziel der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik; nein, es ist bereits heute ein in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft erreichtes Ziel. Ich will an die Adresse vieler Deutscher, die sich in der Öffentlichkeit hierzu äußern, sagen: Wir sollten schon zur Kenntnis nehmen, daß es im Augenblick in der Europäischen Union drei Länder gibt, die eine höhere Geldwertstabilität erzielt haben als die Bundesrepublik Deutschland.
Meine Damen und Herren, es stellt sich nicht nur die Frage nach der ökonomischen Stabilität nach innen, sondern auch die Frage nach der Stabilität der europäischen Ökonomie nach außen. Wir wollen auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig bleiben und dort, wo wir es nicht mehr sind, werden, zum Beispiel mit dem Dollarraum, zum Beispiel mit dem südostFriedrich Merz
asiatischen Raum. Deswegen ist es wichtig, daß wir ein Stück weit unsere Abhängigkeit vom Dollar und vom Yen beseitigen und mit einer starken europäischen Währung ein Stück mehr Selbständigkeit auf den internationalen Devisenmärkten erzielen.
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Dies werden wir mit nationaler Politik in Deutschland allein nicht erreichen können.
Wir müssen aber auch sagen, daß ein solches Projekt nicht ohne Risiko ist. Deswegen muß ein solches Projekt sorgfältig vorbereitet werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist deswegen dem Bundesfinanzminister dankbar, daß er mit seinem wichtigen Vorschlag eines Stabilitätspaktes in Europa eine Initiative ergriffen hat, die in dieser Woche offenkundig auf die überwiegende Zustimmung der Partnerländer in der Europäischen Union gestoßen ist.
Meine Damen und Herren, dieser Stabilitätspakt - das ist mir in der Debatte heute morgen zu kurz gekommen - hat drei wichtige Elemente. Zunächst einmal soll er die dauerhafte Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion über das Eintrittsdatum hinaus sichern. Zum zweiten fordert er auch uns in Deutschland auf, einen nationalen Stabilitätspakt einzugehen. Dazu gehört nicht nur der Bund, sondern auch die Länder, die Gemeinden und ebenso die Sozialkassen in unserem Land müssen diese Anstrengungen unterstützen, denn die Defizite der Gebietskörperschaften und der Sozialkassen werden bei der Bemessung des Stabilitätskriteriums „öffentliche Verschuldung" addiert. Deswegen ist dies auch für uns eine wichtige Herausforderung.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben nicht gelesen, was der Bundesfinanzminister vorgeschlagen hat; deswegen liegen Sie mit Ihrer Kritik falsch. Dieser Stabilitätspakt weist drittens auch ein Element der Stabilität zwischen den Staaten, die zum erstmöglichen Datum in die Währungsunion eintreten, und denen, die zu diesem Datum noch nicht dabei sind, auf.
Ich bin gerne bereit, einzuräumen, daß der Maastricht-Vertrag hier ein gewisses Defizit aufweist. Der Maastricht-Vertrag sagt nämlich nichts darüber aus, wie sich im Bereich der Währungspolitik die Teilnehmerstaaten der ersten Runde zu den Nichtteilnehmerstaaten verhalten. Deswegen ist es wichtig, daß der Vorschlag des Bundesfinanzministers auch Elemente eines Stabilitätspaktes innerhalb der Europäischen Union zwischen den Teilnehmerstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion und denen enthält, die an der Wirtschafts- und Währungsunion in der ersten Runde nicht teilnehmen.
Lassen Sie mich zum Abschluß eines sagen: Zum Ende des Jahres 1995 ist es viel zu früh, darüber zu spekulieren, vor allem öffentlich darüber zu spekulieren, wer und wann denn nun an dieser europäischen Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen wird. Wir müssen heute eigene Anstrengungen unternehmen; auch andere müssen Anstrengungen unternehmen. Dann werden wir im Lichte der Erfahrungen der zurückliegenden Jahre zu Beginn des
Jahres 1998 darüber entscheiden, wer an der Wirtschafts- und Währungsunion teilnimmt.
1998 ist ein Wahljahr in Deutschland. Wenn die SPD denn meint, mit diesem Thema nun endlich ein nationales Thema gefunden zu haben, mit dem sie Wahlkampf betreiben will, dann sage ich Ihnen: Tun Sie das! Wir werden im Wahljahr 1998 diese Herausforderung annehmen. Wir werden diese Herausforderungen vor den Wählerinnen und Wählern in Deutschland bestehen, weil wir mit diesem Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion, wenn sie denn zu den Bedingungen, die im Vertrag niedergelegt sind, möglich wird, nicht nur einen großen Fortschritt für Europa erzielen, sondern auch zutiefst im Interesse der Bundesrepublik Deutschland handeln werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorhin vom Kollegen Dr. Pfennig angesprochene Antrag der Regierungskoalition enthält auch einige wenige Sätze zur europäischen Rechts- und Innenpolitik. Er ist auch in diesem Teil ein Dokument halbherziger Schritte und verpaßter Chancen dieses Parlaments. Die Begründung der CDU für den Abbruch der Verhandlungen über einen gemeinsamen Antrag vor einer Woche war erstaunlich. Ihr Sprecher erklärte, im Falle eines gemeinsamen Antrages müsse man den Koalitionsantrag für erledigt erklären, und das könne man nicht akzeptieren. Als ob es nicht gerade der Erfolg eines gemeinsamen Antrages wäre, daß das Parlament in besonders wichtigen Fragen mit einer Stimme spricht! Sie von der Koalition wollten das nicht; Sie müssen dafür die Verantwortung tragen.
Die Gründe für Ihr Verhalten liegen auf der Hand. Sie wollen der Regierung bei ihren Verhandlungen durch einen möglichst unverbindlich und allgemein gehaltenen Antrag freie Hand lassen. Sie verzichten damit auf die durch Art. 23 des Grundgesetzes garantierten Gestaltungsmöglichkeiten des Europaausschusses und des Parlaments - ein mehr als merkwürdiges Demokratieverständnis!
Außerdem beweisen Sie, daß die in vielen Fragen zerstrittene Koalition nicht fähig ist, ein Papier, zu dem man sich einmal zusammengerauft hat, trotz klar erkannter Mängel und besserer Einsichten auch nur um ein Jota zu verändern.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen und mit einem halbwegs erfreulichen Punkt beginnen. Wir begrüßen, daß sich die Koalition unserer Forderung angeschlossen hat, einen Grundrechtskatalog für die Europäische Union zu entwickeln, neben dem selbstverständlich der nationale Grundrechtsschutz erhalten bleibt. Ich habe diese Forderung in der Debatte am 22. Juni 1995 für die SPD-Fraktion ausführlich begründet. Es geht darum, die WeiterentDr. Jürgen Meyer ({0})
wicklung Europas von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu der so oft beschworenen politischen Wertegemeinschaft für alle Bürgerinnen und Bürger sichtbar zu machen und zu vertiefen.
({1})
Das ist für uns nicht weniger wichtig als die heute im Vordergrund stehende und gewiß wichtige Währungsunion. Ich hoffe, daß die Koalition mit uns darin übereinstimmt, daß die Europäische Union in einem ersten Schritt der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten sollte und daß die Federführung für die Erarbeitung des Grundrechtskatalogs der Menschen- und Bürgerrechte dem Europäischen Parlament zu übertragen ist.
({2})
Leider war die Koalition nicht dazu bereit - das macht die Halbherzigkeit Ihres Vorschlages aus -, wenigstens ein paar Grundelemente zu nennen, zu denen der Grundrechtskatalog etwas sagen soll und die uns gemeinsam wichtig sind.
Was haben Sie eigentlich dagegen, den Grundsatz der Gleichberechtigung und der Gleichstellung von Männern und Frauen wenigstens als Thema zu nennen
({3})
oder den großen Bereich sozialer Grundrechte, auf die mein Kollege Gloser näher eingehen wird, zumindest anzusprechen?
Warum wollen Sie nicht wenigstens das Thema des Verbots der Diskriminierung wegen Rasse, Abstammung, Sprache, Geschlecht, sexueller Identität nennen? Ihr Schweigen zeigt, daß Sie sich über den Inhalt des Grundrechtskataloges, den Sie gleichwohl fordern, noch reichlich wenig Gedanken gemacht haben.
({4})
Ich komme zu einem bedenklicheren Beispiel für die Halbherzigkeit und Unklarheit des Koalitionsantrags. Sie fordern mit uns eine weitgehende Vergemeinschaftung des Asyl- und Zuwanderungsrechts. Während der Beratungen über einen gemeinsamen Antrag habe ich die Aufnahme des folgenden Satzes vorgeschlagen: „Dabei darf kein Mitgliedstaat verpflichtet werden, die für ihn geltenden verfassungs- oder völkerrechtlichen Standards abzusenken" - also nicht etwa die unsinnige Forderung, wie sie eben der Kollege Pfennig kritisiert hat, daß sich alle nach unseren Standards zu richten hätten. Keiner soll verpflichtet werden, die im eigenen Land geltenden Standards abzusenken.
({5})
- Sie haben das abgelehnt. Ausweislich des Ausschußberichts haben Sie erklärt, eine solche Regelung müsse zu erheblichen Nachteilen für Länder mit einem höheren Standard führen.
Glauben Sie denn im Ernst, wir Sozialdemokraten würden dabei mitmachen, auf dem Weg über eine
Vergemeinschaftung die noch geltenden Restbestände des Grundrechts auf Asyl vollends zu beseitigen? Oder wollen Sie demnächst mit dem Argument, die Europäische Union sei bekanntlich der Genfer Flüchtlingskonvention nicht beigetreten, durch den Schritt zur Vergemeinschaftung des Zuwanderungsrechts die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen blockieren können? Hier bleiben Sie bisher die notwendigen klaren Antworten schuldig.
({6})
Die Koalition war auch nicht in der Lage, irgend etwas Weiterführendes zu Europol zu sagen. Wir alle wissen: Europol ist bisher keine Erfolgsgeschichte. Die Behörde befindet sich noch in der vorkonventionellen Phase und ist noch nicht einmal als Datensammelstelle in Betrieb. Von einem europäischen FBI, wie es der Bundeskanzler so gern beschwört, kann überhaupt noch keine Rede sein.
Wie aber kann eine Regierung in diesem Bereich überzeugend auftreten, die im eigenen Land bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität offenkundig versagt? Seit zwei Jahren liegen unsere Vorschläge und Gesetzentwürfe zur Gewinnabschöpfung und auch zum sogenannten Lauschangriff vor. Sie werden mit wechselnden Begründungen abgelehnt. Was der Bundeskanzler heute morgen sagte, war schlicht Resignation. Offenbar sollen jetzt zwischenstaatliche Regelungen versucht werden. Das ist ein Europa nicht von zwei oder drei, sondern von beliebig vielen Geschwindigkeiten. Das ist kein Fortschritt in der Rechtspolitik und bei der inneren Sicherheit für Europa.
({7})
Eine weitere Bemerkung zu den Unklarheiten der Regierungspolitik: Der Herr Bundeskanzler hat - das müßte eigentlich das ganze Haus interessieren - in der Vergangenheit unterschiedliche Aussagen zu den französischen Atombombentests gemacht, die wir hier nicht unkommentiert stehenlassen können. Diese Regierung handelt genauso mißverständlich, wie das bei dem der Fall ist, was die Regierungskoalition heute vorträgt. Mißverständliche Gesten werden zum Markenzeichen dieser Regierung.
Dafür sind die französischen Atombombentests ein gutes Beispiel. Durch den Außenminister und durch Herrn Staatsminister Hoyer hat die Regierung die Tests abgelehnt und erklärt, sie wolle - in geeigneter Form, versteht sich - dagegen auch beim Präsidenten Chirac vorstellig werden. Um so verwunderter mußten wir sein, als wir in den Zeitungen lasen, Präsident Chirac habe sich gegenüber der amerikanischen Regierung und ihrer Kritik an den Atombombentests auf die Zustimmung des deutschen Bundeskanzlers berufen. Dem wurde seitens der Bundesregierung nicht widersprochen. In dieser Woche hat der französische Außenminister de Charette in einem
Dr. Jürgen Meyer ({8})
„Spiegel"-Interview erklärt - ich zitiere -: „Wir sind Bundeskanzler Helmut Kohl für seine verständnisvolle Haltung in Sachen Atomtests dankbar."
({9})
Wir fordern die Regierung auf, klarzustellen, was der Wahrheit entspricht:
({10})
die wiederholten Erklärungen gegenüber diesem Parlament oder die, so sage ich vorsichtig, angeblich gegenteiligen Äußerungen außerhalb dieses Parlaments. Solange Sie das nicht klarstellen, werden Sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, daß die Regierung entweder dem Parlament nicht die Wahrheit gesagt oder sich doppelzüngig verhalten hat.
Ich danke Ihnen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den europapolitischen Themen dieser Tage und Wochen gehören auch der zu verwirklichende Binnenmarkt für Elektrizität und insbesondere die Frage, ob von deutscher Seite dem spanischen Vorschlag für eine Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie beim nächsten Energieministerrat Zustimmung erteilt werden kann. Wir befürworten die Errichtung eines Energiebinnenmarktes mit dem Ziel einer wettbewerblichen Öffnung im Elektrizitätsbereich für alle Stromverbraucher, Stromverteiler und Stromerzeuger. Nach wie vor wird der nunmehr vorliegende Entwurf diesem Ziel jedoch nicht gerecht, und er ist deshalb noch heftigst umstritten.
Insbesondere ist es nicht gelungen, die beiden sich von ihrer Grundidee gegenseitig ausschließenden Modelle zu einem gemeinsamen Modell zu vereinen, nämlich das von Frankreich bevorzugte Alleinkäufermodell sowie das von anderer Seite vorgeschlagene Konzept des verhandelten Netzzuganges. Eine parallele Umsetzung beider Ordnungssysteme innerhalb der Europäischen Union müßte strengsten Maßstäben genügen, die für eine Zustimmung im Energieministerrat erfüllt sein müssen. Die Grundbedingung liegt in der gleichgewichtigen und gleichzeitigen Marktöffnung auf allen Seiten. Im einzelnen heißt dies beispielsweise:
Erstens. Unabhängige Erzeuger und Verteiler müssen uneingeschränkt auf den Märkten zugelassen sein.
Zweitens. Verteilunternehmen müssen das Recht haben, ihren Lieferanten frei zu wählen. Sie müssen in das wettbewerbliche Marktgeschehen voll einbezogen sein. Dies ist insbesondere hinsichtlich der französischen Stromwirtschaft von Bedeutung, zumal dort Verteiler nur in verschwindend geringer Zahl vorhanden sind. Ich habe durchaus Verständnis für die Schwierigkeiten der französischen Seite auf diesem Gebiet, insbesondere in diesen für die französische Wirtschaft schwierigen Tagen. Aber die französische Seite würde den Weg zu einem Strombinnenmarkt erheblich erleichtern, wenn sie ein Konzept vorlegen würde, wie der monopolistisch strukturierte Staatskonzern EdF in der Zukunft entflochten werden könnte.
Drittens. Jeder zugelassene Verbraucher muß auch im Alleinkäufermodell - ich unterstreiche dies ausdrücklich - jederzeit das Recht und die Möglichkeit haben, mit einem Produzenten oder Verteiler seiner Wahl direkt in Verhandlungen beziehungsweise in Lieferbeziehungen zu treten.
Viertens. Bereits jetzt sollte in einem Konzept zum Strombinnenmarkt auch darüber nachgedacht werden, wie innerhalb der Gruppe der unabhängigen Erzeuger die Erzeuger von erneuerbaren Energien - sie sind von der Größenordnung der Energieerzeugung her sehr klein - ihren Platz behalten können.
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Eine wachsende Zahl von Erzeugern regenerativer Energie ist von uns ja auch politisch gewünscht. Dies haben viele Debatten auch in diesem Jahr schon einheitlich für alle Seiten des Hauses zum Ausdruck gebracht.
Auf einem völlig freien Strommarkt ohne jegliche Flankierung wären solche Kleinerzeuger allerdings verloren. Zum einen haben sie von ihrer Kapazität her nicht die Möglichkeit, Verbraucher in nennenswerten Umfang zu beliefern; zum anderen können sie sowohl bei der Direktbelieferung von Verbrauchern hinsichtlich der Tarife als vor allem auch bei der Durchleitung vom jeweiligen Netzbetreiber diskriminiert und an die Wand gedrückt werden. Deshalb sind auch in einer künftigen deregulierten Stromwirtschaft Flankierungen wie beispielsweise durch das Stromeinspeisungsgesetz unverzichtbar.
({1})
Unter diesen Maßgaben ist der vorliegende Richtlinienentwurf nicht akzeptabel. Ich richte dennoch an die deutschen Verhandlungsführer, namentlich an den Bundeswirtschaftsminister, das Ersuchen, nach den vorhandenen Maßgaben weiterzuverhandeln, damit dieses große europäische Ziel im Rahmen unserer Anstrengungen zur Schaffung eines Binnenmarktes für Energie verwirklicht wird.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Volker Jung, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was der Herr Kollege Ramsauer nicht erwähnt hat, ist, daß genau in einer Woche, nämlich am 14. Dezember, der Energieministerrat über die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie entscheiden soll, ohne daß dazu der Bedarf an parlamentarischer Beratung befriedigt werden konnte.
Wenn ich den Bundeswirtschaftsminister richtig verstanden habe - da ist er überhaupt nicht falsch zu verstehen gewesen - ,
({0})
dann wollte er in Brüssel bis zur letzten Minute verhandeln und damit seine Entscheidung offenhalten. Aber dazu hat ihm der Wirtschaftsausschuß jetzt das parlamentarische Mandat entzogen. Gestern hat der Wirtschaftsausschuß einmütig festgestellt, daß die Verhandlungen über den spanischen Ratsvorschlag den Anforderungen an eine gleichgewichtige Marktöffnung in allen europäischen Ländern nicht genügen und deshalb der Richtlinienentwurf in seiner jetzigen Form nicht zustimmungsfähig ist.
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Ich denke auch, daß deswegen alle Anträge, die vorliegen, überwiesen werden können. Denn das muß in Zukunft weiterhin eine nationale Diskussion sein, weil die nationalen Interessen ganz erheblich berührt werden.
Wäre es bei dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission geblieben, dann stünden in allen Ländern der Europäischen Union ein uneingeschränktes Durchleitungsrecht bei den leitungsgebundenen Energien, der freie Bau von Direktleitungen zwischen Produzenten und Verbrauchern sowie die Trennung von Produktion, Transport und Verteilung zur Diskussion. Dies haben aber die Länder, in denen die Energieversorgung bei Staatsmonopolen liegt, allen voran Frankreich, abgeblockt, weil das nämlich letztlich zu einer Zerschlagung dieser Monopole führen würde. Deswegen hat die französische Regierung neben dem verhandelten Netzzugang den Alleinkäufer vorgeschlagen, der Strom und Gas aufkaufen, weiterleiten und auch verteilen kann, allerdings weitgehend zu seinen Bedingungen.
Die Europäische Kommission hat diese beiden Systeme für nicht vereinbar erklärt und weitgehende Öffnungen in dem Alleinabnehmersystem gefordert. Dennoch hat der Ministerrat - und zwar am 1. Juni unter deutscher Präsidentschaft, also unter der Präsidentschaft des Bundeswirtschaftsministers - das Nebeneinander beider Systeme beschlossen - ein folgenschwerer Fehler, der in dem gesamten weiteren Verfahren nicht mehr zu korrigieren war.
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Dafür trägt der Bundeswirtschaftsminister, der alle Warnungen in den Wind geschlagen hat, die alleinige Veranwortung. Ihm ist es offensichtlich nur darum gegangen, ein europäisches Mandat für sein nationales Gesetzgebungsvorhaben zu erhalten, für das er in unserem Land bisher wenig Unterstützung gefunden hat, noch nicht einmal bei seinen eigenen Ressortkollegen.
Meine Damen und Herren, weitgehende Durchleitungsrechte würden in unserem Land bedeuten - das sehen die Regierungsfraktionen nicht so -, daß der kartellrechtliche Ausnahmetatbestand für die leitungsgebundene Energieversorgung abgeschafft wird, Demarkationsverträge nicht mehr zulässig sind und die Ausschließlichkeitsregelungen in den Konzessionsverträgen gegenstandslos werden. Mit anderen Worten, geschlossene Versorgungsgebiete würde es nicht mehr geben.
Das hätte zur unmittelbaren Konsequenz, daß die über 900 Stadtwerke mit den acht großen Verbundunternehmen in unserem Land um die Belieferung der industriellen Großkunden konkurrieren müßten. Dazu sind sie im Grunde wegen ihrer vergleichsweise bescheidenen Finanzausstattung kaum in der Lage. Auf der anderen Seite aber soll ihnen auferlegt werden, daß sie weiterhin eine flächendeckende Versorgungspflicht für alle Haushaltskunden haben.
Wenn die industriellen Großabnehmer aus ihrem Versorgungskreis herausgebrochen werden, dann werden die vorwiegend kommunalen Unternehmen, die ja in den letzten Jahren erhebliche Vorleistungen beim Umweltschutz und bei der Energieeinsparung erbracht haben, im Grunde nicht mehr mithalten können. Es wäre zu befürchten, daß dann unsere gesamte Versorgungsstruktur durch eine gewaltige Konzentrationswelle bereinigt wird.
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Eine weitere Konsequenz wäre, daß bei sinkendem Stromabsatz die wegen ihrer hohen Energieausbeute besonders umweltfreundliche Kraft-Wärme-Kopplung derart unter Druck gerät, daß nicht nur das Risiko von Neuinvestitionen gescheut, sondern auch das vorhandene Fernwärmepotential unwirtschaftlich werden würde.
Eine weitere Konsequenz wäre schließlich, daß das Konzessionsabgabeaufkommen und auch die Ertragsausschüttung der kommunalen Unternehmen sinken, wenn nicht gar in vielen Fällen wegfallen würden.
Meine Damen und Herren, wenn man diese Entwicklung sehenden Auges hinnimmt, ohne die Frage zu beantworten, wie die wegfallende Finanzierung öffentlicher Aufgaben ersetzt werden soll, ist das in unseren Augen unverantwortlich, einmal ganz von der Frage abgesehen, wie denn die verfassungsVolker Jung ({4})
rechtlich geschützte Selbstverwaltungsautonomie der Kommunen in der Zukunft gesichert werden soll.
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Meine Damen und Herren, damit haben die anderen europäischen Länder, die das Alleinabnehmersystem anwenden wollen, im Grunde überhaupt keine Last, weil sie nämlich ihre Versorgungsstrukturen im wesentlichen erhalten können. Sie werden bei dem derzeitigen Stand der Verhandlungen nicht nur den Aufkauf, sondern auch die Weiterleitung und die Endverteilung von Strom kontrollieren können.
Der spanische Richtlinienvorschlag beinhaltet nämlich so viele Ausnahmetatbestände, Genehmigungsvorbehalte und Ablehnungsgründe, daß die Zulassung unabhängiger Erzeuger vom Belieben des Alleinabnehmers abhängig gemacht werden kann, die Durchleitungsgebühren prohibitiv gestaltet werden können und der Bau von Direktleitungen zwischen unabhängigen Erzeugern und Verbrauchern praktisch ausgeschlossen werden kann.
Wo die Kontrollmöglichkeiten der Alleinabnehmer nicht ausreichen, wird dann eine Generalklausel greifen, die besagt, daß die Energieversorgung als eine öffentliche Aufgabe von besonderem wirtschaftlichen Interesse, zu der bezeichnenderweise auch die staatliche Langfristplanung gehört, regulierende Auflagen ermöglicht, die einen freien Wettbewerb verhindern. So und genau so kann beispielsweise die französische Atomindustrie von dem europäischen Markt vollständig abgeschottet werden. Man hat den Eindruck, daß das der eigentliche Zweck der Veranstaltung war, mindestens was die französische Regierung betrifft.
Meine Damen und Herren, als Ergebnis bleibt festzuhalten: Wenn der spanische Vorschlag angenommen werden würde, würde der deutsche Elektrizitätsmarkt - später sicherlich auch der Gasmarkt - für ausländische Konkurrenten geöffnet werden, während die Märkte der anderen europäischen Länder deutschen Exporteuren weitgehend verschlossen blieben.
Dadurch würden auch die vergleichsweise hohen Umweltinvestitionen in unserem Land nachträglich bestraft werden. Überhaupt: Wenn man auf einen reinen Preiswettbewerb abstellt, würde das dazu führen, daß längerfristig nur noch Erzeugungsanlagen gebaut werden, die besonders kostengünstig sind und sich schnell amortisieren.
Nicht zuletzt: Bei den heute bestehenden Überkapazitäten würde die Stromerzeugungswirtschaft in den Nachbarländern besser ausgelastet werden, in unserem Land allerdings noch weiter unterbeschäftigt werden.
Zeit, Herr Kollege!
Das würde bei uns Arbeitsplätze in erheblichem Umfang kosten, nicht nur in der Stromwirtschaft, sondern auch bei den Kraftwerksbauern, die lange Zeit keine Aufträge mehr erhalten würden. Darum muß dieser Richtlinienvorschlag abgelehnt werden.
Herr Kollege, nur noch einen Satz bitte.
Ich komme zum Schluß: Wir Sozialdemokraten verlangen, daß die Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene harmonisiert werden, insbesondere im Umweltbereich, bei der Energiebesteuerung und bei der Energiesparpolitik, bevor man daran denken kann, Preiswettbewerb zuzulassen, der diese Ziele alle nicht fördert.
Danke schön.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat Staatssekretär Dr. Lammert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um jede mögliche Irritation hinsichtlich der Lagebeurteilung oder der Verhandlungsposition der Bundesregierung mit Blick auf den jetzt mehrfach angesprochenen Energieministerrat in der nächsten Woche auszuräumen, will ich für die Bundesregierung - nur in aller Kürze - feststellen:
Erstens. Die Organisation der Energiemärkte ist zweifellos ein Standortthema ersten Ranges mit großen Auswirkungen auf Investitionen und Arbeitsplätze. Die Stromversorgung ist eine der letzten Bastionen abgeschotteter Märkte mit einer umfassenden Regulierung. Wir müssen ein gemeinsames Interesse an einem europäischen Rechtsrahmen mit wirklichem Wettbewerb haben. Ich habe auch keinen Zweifel, daß dies die gemeinsame Position von Parlament und Bundesregierung ist.
({0})
Zweitens. Für die Bundesregierung wie für das Parlament - wir haben dieses Thema ja im übrigen in den vergangenen Wochen mehrfach im Bundestag bzw. in den Ausschüssen behandelt - kommt ein Einbahnstraßenwettbewerb selbstverständlich nicht in Betracht. Wir bejahen den Zugang ausländischer Wettbewerber zum deutschen Markt. Aber wir bestehen selbstverständlich auf der Voraussetzung, daß unsere Unternehmen gleiche Chancen des Marktzugangs auch in anderen Mitgliedstaaten haben müssen.
({1})
Drittens. Es werden gegenwärtig - das ist zu Recht dargestellt worden - unterschiedliche Systeme in Europa diskutiert, die überhaupt nur dann akzeptiert werden könnten, wenn sie jeweils das Gleichgewicht
des Marktzugangs gewährleisten. Das ist gegenwärtig bei den vorliegenden Beschlußempfehlungen nicht der Fall.
Deswegen - viertens - ist das bisher erreichte Ergebnis aus deutscher Sicht nicht zustimmungsfähig. Ich kann Ihnen nur sagen: Aus heutiger Sicht ist auch nicht damit zu rechnen, daß der Energieministerrat in der nächsten Woche einen solchen Richtlinienentwurf verabschieden wird. Das ist nicht zuletzt auch Ergebnis unserer bis in die letzten Stunden hinein mehrfach stattgefundenen Gespräche mit der Ratspräsidentschaft, vor allen Dingen aber auch mit unseren französischen Partnern.
Eine fünfte, abschließende Bemerkung: Wir sind uns hoffentlich gemeinsam auch darüber einig, daß dies nicht das Ende der Anstrengungen sein kann. Vielmehr müssen wir sowohl im nationalen wie im europäischen Rahmen ein gemeinsames Interesse an einer durchgreifenden Reform des Ordnungsrahmens zum Ausdruck bringen und weiterhin das Ziel verfolgen, auch im Strommarkt Wettbewerb zu ermöglichen, um im Interesse von Investition und Arbeitsplätzen möglichst bald zu wettbewerbsfähigen Strompreisen beitragen zu können.
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Das Wort hat die Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die deutsche Elektrizitätswirtschaft wendet sich geschlossen gegen den Kompromißvorschlag der spanischen Präsidentschaft zum Binnenmarkt der Elektrizität.
Dies ist ein Zitat aus einem Brief der VDEW, der Vereinigung der Deutschen Elektrizitätswerke. Ausnahmsweise kann ich der Aussage der VDEW ausdrücklich zustimmen.
({0})
Wir haben einen Antrag in den Bundestag eingebracht, weil wir wollen, daß dieser Bundestag heute beschließt, daß der Wirtschaftsminister - wer es dann auch immer sei - am 14. Dezember nicht dem spanischen Präsidentschaftsvorschlag zustimmt. Wir wissen, daß es viele Abgeordnete gibt - meine Vorredner, auch der Staatssekretär, haben das deutlich gemacht; auch die Debatte im Wirtschaftsausschuß hat das noch einmal gezeigt -, die diese Meinung teilen.
Auch der Bundeswirtschaftsminister behauptet, er hätte inzwischen Probleme mit der von ihm selbst maßgeblich mitgestalteten Richtlinie.
({1})
Aber - das sage ich hier ganz deutlich - wir trauen
diesem Frieden nicht. Wir trauen dem Noch-Minister
Rexrodt nicht. Wir wollen, daß das Parlament hier
absolute Sicherheit darüber hat, daß hier nicht im liberalen Alleingang über den Brüsseler Umweg Fakten geschaffen werden, die weder im Interesse der beteiligten Unternehmen noch dem der Bürger liegen.
Die Energieversorgungsstruktur ist die Basis dieses Wirtschaftssystems, und die Energieproduktion ist gleichzeitig auch die Hauptursache für den drohenden Treibhauseffekt. Man kann hier nicht im liberalen Alleingang etwas machen, was das Parlament nicht gutfindet.
Uns macht es außerordentlich mißtrauisch - das sage ich hier ganz deutlich -, daß die Regierungsparteien verhindern wollen, daß es hier und heute zu einer Abstimmung über die vorliegenden Anträge, die sehr einheitlich gestaltet sind, kommt. Haben Sie eigentlich Angst vor dem klaren Votum, das dabei herauskommen würde? Haben Sie vielleicht vor, sich ein Hintertürchen offenzulassen und dann, wenn es zu marginalen Änderungen kommt, eventuell doch zuzustimmen? Wenn der 14. Dezember vorbei ist und es doch zu einer Zustimmung kommen sollte, nützt uns die Abstimmung über die überwiesenen Antikanträge überhaupt nichts mehr.
({2})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wenn hier getrickst wird, wird es danach Rabatz geben. Dann kommen die Anträge wieder auf den Tisch des Hauses, und glauben Sie nicht, daß Sie dann damit durchkommen werden. Wir haben dieses Gemauschel viel zu häufig erlebt.
Den letzten Fall, in dem dies als Sachzwänge verkauft wurde, in dem wir aber ein schizophrenes und dabei bewußt kalkuliertes Vorgehen feststellen konnten, hat Herr Minister Waigel auf dem letzten Treffen der Finanzminister praktiziert, wo er als Wolf im Schafspelz durch immer weitergehende Forderungen eine Einigung der Finanzminister der Europäischen Union über einen Rahmen für eine europaweite Energiesteuer verhindert hat.
Nun kommen die gleichen Leute und sagen, sie wollen eine europäische Energiesteuer, aber im nationalen Alleingang können sie sie leider nicht machen. Diese Trickserei lassen wir nicht mehr durchgehen. Wir werden dies auch in Zukunft sehr aufmerksam verfolgen.
({3})
Meine Hauptkritik, gerichtet an die Adresse der Bundesregierung, lautet aber: Sie haben es bisher versäumt, die Debatte über die Struktur des Energiebinnenmarktes in diesem Lande öffentlich und gemeinsam mit diesem Parlament zu führen. Bevor man überhaupt zu einer Neuordnung des Energiemarktes auf europäischer Ebene bereit ist, muß man erst einmal im eigenen Land klären, wo man gemeinsam hin möchte, auf welche Reise man sich begeben möchte.
Wir agieren hier immer noch auf der Basis eines 60 Jahre alten Energiewirtschaftsgesetzes, nach dem der Reichsenergieminister die Verantwortung für die Energieversorgungsstruktur trägt.
Herr Jung hat die Probleme mit den Kommunen beschrieben. Ich möchte auf zwei weitere Punkte hinweisen: Zum einen reden Sie hier immer von Wettbewerb. Aber haben Sie sich auch einmal überlegt, wie man einen monopolisierten Markt so öffnet, daß es nicht nur zu einem Dumping-Wettbewerb zwischen den großen Monopolen - dem französischen Monopol auf der einen und dem deutschen Monopol auf der anderen Seite - kommt, sondern daß es wirklich eine Chance gibt, Neuanbieter in diesen Markt aufzunehmen? Diese Frage muß man sich stellen - ich richte sie insbesondere an meine liberalen Kollegen -, wenn man von Wettbewerb im Rahmen der Energieversorgung redet.
({4})
Aus meiner Sicht ist das Stromeinspeisungsgesetz ein gutes Beispiel, wie es funktionieren kann. Hier sind Neuanbieter auf den Markt gekommen; kleine und mittlere Investoren sind in den Wettbewerb eingestiegen und hatten auch eine Chance.
Das zweite Problem ist: Dem Wirtschaftsministerium liegt eine Studie von Prognos vor, die besagt, daß die Bundesregierung das Klimaschutzziel bei weitem nicht erreichen wird, daß es im Gegenteil ab sofort sogar wieder zu einer Steigerung von CO2-Emissionen kommen wird.
Wir haben enge Haushaltsspielräume; das weiß jeder. Wenn man die Gestaltungskraft und den Gestaltungsanspruch der Politik ernst nehmen will, dann darf man nicht immer tiefer in die Haushaltskassen greifen, sondern dann muß man Rahmenbedingungen schaffen, um das Ziel der Reduzierung der CO2-Emissionen zu erreichen.
Die Energieversorgungsstruktur ist eine der wichtigsten Rahmenbedingungen, um die es dabei gehen muß. Diese muß so umstrukturiert werden, daß sie dem Umweltschutz und dem Klimaschutz dient.
({5})
Dazu gehört - wir haben ein Eckpunktepapier zum Energiewirtschaftsgesetz vorgelegt, das unsere Vorstellungen beinhaltet -, zum Beispiel privates Kapital so zu mobilisieren, daß es dem Umweltschutz und dem Klimaschutz dient, die Energieeinsparung zu einem wirtschaftlichen Gewinnprinzip zu machen und Neuanbietern den Zugang zum Markt zu eröffnen, und hier insbesondere den Neuanbietern im Bereich der regenerativen Energien.
Dies alles erfüllt der Vorschlag der spanischen Präsidentschaft zur Neustrukturierung des Energiebinnenmarktes überhaupt nicht.
Vor diesem Hintergrund erwarte ich von der Bundesregierung, daß sie schleunigst das längst überfällige Konzept für die Neustrukturierung der verkrusteten monopolistischen deutschen Energiewirtschaft vorlegt. Präsentieren Sie endlich Ihre Novelle zum Energiewirtschaftsgesetz.
Ich glaube nicht, daß die zukünftige Energieversorgungsstruktur in Mauschelgesprächen mit der Industrie ausgekungelt werden sollte. Das Thema muß im Bundestag, in den Ausschüssen - im Wirtschaftsausschuß genauso wie im Umweltausschuß - auf den Tisch. Das muß mit den Stadtwerken und den Kommunen ausführlich besprochen werden; ihre Bedenken müssen aufgenommen werden. Das muß auf Umweltverträglichkeit abgeklopft werden. Erst dann - das ist meine Position - hat die Bundesregierung eine geeignete Grundlage, um sich in die EU-Debatte einzumischen - vorher nicht.
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Der VDEW ist, wie gesagt, strikt dagegen, den Vorschlag der spanischen Präsidentschaft anzunehmen. Ich möchte an Sie appellieren, insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen der CDU, gleich mit uns für eine Abstimmung über dieses Verfahren zu stimmen, mit der wir darüber entscheiden können, wie sich der Minister auf dem Treffen der Energieminister der Europäischen Union verhalten sollte. Ich finde, das Parlament hat ein Recht darauf, hierzu etwas zu sagen, weil es keine Nebensächlichkeit, sondern eine ganz zentrale Frage der deutschen Politik ist. Da sollten wir nicht schweigen, sondern unsere Position formulieren, insbesondere deshalb, weil sie sehr einmütig ist.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Günter Gloser, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die letzte Energie in dieser Europa-Debatte auf die Regierungskonferenz 1996 lenken. Wer die politische Union will - da gab es heute vormittag, glaube ich, einen großen Konsens -, muß sich aktiv auch für eine soziale Union einsetzen. Wo bürgernahe Politik reklamiert wird, da darf auch der soziale Gedanke nicht ausgeklammert werden. Wer will, daß sich die Bürgerinnen und Bürger mit Europa identifizieren, muß auch die soziale Union wollen.
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Ich möchte konkret den Kollegen Dr. Pfennig ansprechen, der uns hier kritisiert hat. Ich meine, man kann nicht einerseits von der politischen Union sprechen und andererseits die soziale Union ausklammern.
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Ich erinnere an die schrecklichen Zahlen: 18 Millionen Menschen in den 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind arbeitslos, und Millionen von Menschen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze. Aber was ist unsere Konsequenz? Europäische Wirtschaftspolitik und europäische Beschäftigungs- und Sozialpolitik müssen Arbeitslosigkeit abbauen und sozialen Schutz garantieren. Ich meine, das ist besser als so manche teure InformationskampaGünter Gloser
gne darüber, warum die Akzeptanz für Europa bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht vorhanden ist.
({2})
Wenn wir als SPD-Bundestagsfraktion die soziale Union fordern, dann aus zwei Gründen: Erstens hat diese Bundestagsfraktion bereits bei der Beratung und Entscheidung über Maastricht I gesagt, daß die soziale Dimension in diesem Vertrag zu kurz kommt. Ich füge hinzu: Das wurde bereits in einer Entschließung der Bundesländer, des Bundesrates, am 18. Dezember 1992 festgestellt.
Zweitens. Auf die Probleme der Beschäftigung mit Stichworten wie Deregulierung und Flexibilisierung zu antworten, das reicht nicht aus.
({3})
Ich hätte mir gewünscht, daß der Bundeskanzler, nachdem er gestern im Europa-Ausschuß ausweichend geantwortet bzw. gar nichts zur Beschäftigungspolitik gesagt hat, zumindest heute dem Parlament und damit auch den Bürgerinnen und Bürgern sagt, wie er in diese Regierungskonferenz gehen wird, mit welchen Zielen und mit welchen Schritten. Aber auch das war nicht der Fall. Das ist auch nicht verwunderlich; denn selbst in einem Papier der CDU zu ihrem Bundesparteitag findet man nur einige wenige Zeilen über die europäische Sozialpolitik.
Von der F.D.P. ganz zu schweigen: Die möchte sowieso, daß die Europäische Union in eine große Freihandelszone - möglicherweise ohne Sozialkomponente umgewandelt wird.
Nicht viel anderes, verehrte Kolleginnen und Kollegen von dieser Seite des Hauses, steht in Ihrem Koalitionsantrag. Es ist schon auffällig, wie wenig Sie sich mit dieser sozialen Dimension beschäftigen wollen. Andererseits erleben wir dabei auch, wie diese Koalition das soziale Niveau herunterschraubt.
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Mit Ihrer Einstellung unterscheiden Sie sich kaum vom Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, der auf eine entsprechende Frage meinte: „Wenn Sie mich fragen, wir brauchen diese soziale Union nicht."
Auch in den Erwartungen des Deutschen Industrie- und Handelstages an die 'europäische Regierungskonferenz wird nichts von der Sozialunion zu finden sein.
Diese Eindimensionalität, diese Einseitigkeit der Interessengruppen gerade zu einem Zeitpunkt, wo die deutschen Gewerkschaften, der Deutsche Gewerkschaftsbund, insbesondere die IG Metall aufzeigen, was es bedeutet, Standpunkte aufzugeben und sich anzunähern, um das Problem Arbeitslosigkeit zu beseitigen, ist schon erstaunlich.
({5})
Gerade mit Blick auf andere Länder ist deutlich geworden - Sie berufen sich immer so gerne auf die Geschichte -, daß sich auch in einem modernen Staatengefüge soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht ausschließen.
Auch bei den Arbeitgeberverbänden sollte sich langsam herumgesprochen haben, welche Bedeutung der soziale Rechtsstaat für die Stabilität in einem Land und damit auch für die Stabilität in Europa hat. Sozialer Friede - das muß einmal in Ihr Stammbuch geschrieben werden - ist auch ein Standortvorteil.
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Die Regierungskonferenz 1996 bietet die Chance, Instrumente zu schaffen, daß sich neben der Wirtschaftsunion eine gleichwertige Sozialunion entwikkeln kann. Konkrete Forderungen der SPD-Fraktion lauten daher: Die in der Sozialcharta enthaltenen sozialen Grundrechte sowie das Sozialprotokoll sollen in den europäischen Vertrag integriert werden. Ebenso ist eine Grund- und Bürgerrechtscharta zu erarbeiten, die dem Vertrag über die Europäische Union vorangestellt werden soll.
Das Streben nach Vollbeschäftigung und nach sozialer Sicherheit soll als Unionsziel sichtbar verankert werden; denn eines der wichtigsten Unionsziele muß hohe Beschäftigung sein.
Ich verweise auf die aktuelle Diskussion in Dänemark und Schweden. Deren Forderung nach einem eigenen Kapitel „Beschäftigung " im europäischen Vertrag kann ich nur nachhaltig unterstützen.
({7})
Damit wäre ein wichtiges Signal geschaffen, um im europäischen Integrationsprozeß mehr Glaubwürdigkeit, mehr Legitimation bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern herzustellen. Warum nicht dieselbe Energie aufbringen, wie wir es bei der Gestaltung des sogenannten Übergangsszenarios bei der Wirtschafts- und Währungsunion aufbringen? Warum können wir nicht endlich sagen, bis zu welchem Zeitpunkt wir die Arbeitslosigkeit abbauen wollen?
({8})
Was trägt diese Bundesregierung dazu bei? Ihr Engagement für ein soziales Europa ist wahrlich nicht groß. Im Gegenteil: Die Unionsparteien und natürlich auch die F.D.P. stricken auf nationaler Ebene in einer Art unsozialer Kettenreaktion daran, ein Gesetz nach dem anderen zu verschlechtern - wohlgemerkt Gesetze, die die Existenz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern berühren.
Fest steht: Die Koalition geht mit einem stark gedrosselten Motor - man könnte fast sagen, sie stottert auf dem Weg - an die Verwirklichung des sozialen Europas. Ich erinnere beispielsweise an das Entsendegesetz.
Wundern Sie sich nicht, meine Damen und Herren von der Koalition, wenn immer mehr Handwerksbetriebe in den letzten Monaten den Glauben an dieses Europa verloren haben, weil ihre Erwartungen an die
Sozialpolitik der Bundesregierung erheblich erschüttert wurden.
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Die Handwerker in Nürnberg - woher ich komme - sagen: „Ja, wir sind für dieses Europa, aber nicht zu dem Preis, daß wir Stammbelegschaften reduzieren müssen, weil andere sich gerade nicht an bestimmte Sozialstandards halten. "
Europäische Sozialpolitik bedeutet in unseren Augen: verbindliche soziale Mindeststandards, bessere Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Gleichbehandlung atypischer Arbeitsverhältnisse, Mehrheitsvotum im Bereich der Sozialpolitik und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern über den Beschäftigungsbereich hinaus.
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Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt daher die Vorstellungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach einer Verbindlichkeit des sozialen Dialogs und einer Stärkung des Wirtschafts- und Sozialausschusses.
Wir brauchen festgeschriebene soziale Rechte, wie das Recht auf Berufsbildung, das Recht auf Bildung von Koalitionen, das Recht auf Kollektivverhandlungen und Persönlichkeitsrechte in der Arbeitswelt überhaupt.
Für ein Europa, gerade für ein soziales Europa, lohnt es sich zu streiten. Wer Europa nur als Institution und nicht als ein Europa der Bürgerinnen und Bürger begreift, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb muß bei der Regierungskonferenz die Beschäftigungs- und Sozialpolitik von dem Nebengleis auf das Hauptgleis gezogen werden.
Aber, meine Damen und Herren, wo ist die Lokomotive in dieser Regierung? Ich kann sie nicht nur hier und heute nicht sehen, ich sehe sie auch sonst nicht.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 3 a. Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3209 zur federführenden Beratung an den Finanzausschuß und zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft sowie an den Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Einverständnis? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 b, Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Forderungen zur Reform des Vertrages von Maastricht 1996 und zur Europapolitik. Das ist die Drucksache 13/3247 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1739 abzulehnen.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/3249? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS abgelehnt.
Wer stimmt jetzt für die Beschlußempfehlung des Europa-Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Gruppe der PDS bei überwiegender Stimmenthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu einer zukunftsfähigen Europäischen Union, Drucksache 13/3247 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3040 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu aktuellen Fragen der Europapolitik, Drucksache 13/3247 Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1734 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und der PDS bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Europapolitik der Bundesregierung, Drucksache 13/3247 Nr. 4. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1728 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen vom Bündnis 90/Die Grünen und der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 c. Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zum Grünbuch über die praktischen Fragen des Übergangs zur einheitlichen Währung und zu einer Entschließung des Europäischen Parlamentes dazu. Das sind die Drucksachen 13/2307 und 13/3213. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 d:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Für einen ökologisch verantwortbaren europäischen Binnenmarkt für Energie
- Drucksache 13/2907 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 e:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ursula Schönberger, Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Elektrizitäts-Binnenmarkt der Europäischen Union
- Drucksache 13/3212 Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die Vorlage zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu überweisen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verlangt hingegen sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung in diesem Hause geht die Abstimmung über den Überweisungsvorschlag vor, so daß wir jetzt über den Überweisungsvorschlag abstimmen müssen. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktion CDU/CSU? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen. Damit können wir heute in der Sache nicht abstimmen.
Tagesordnungspunkt 3 f:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Für einen europäischen Elektrizitätsbinnenmarkt
- Drucksache 13/3215 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft
Der Antrag soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und - abweichend vom Überweisungsvorschlag der Tagesordnung - zur Mitberatung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 2 und 3 auf, und zwar zunächst den Zusatzpunkt 3:
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Frauenförderung in der Europäischen Union - Drucksachen 13/2756, 13/3248 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Susanne Tiemann Karin Rehbock-Zureich
Marieluise Beck ({2})
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Beschluß des Rates über ein viertes mittelfristiges Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die Chancengleichheit von Frauen und Männern ({4})
- Drucksachen 13/2674 Nr. 2.35, 13/3174 Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Grießhaber Heidemarie Lüth
Ortrun Schätzle
Hanna Wolf ({5})
Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2756 abzulehnen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3250 vor, über den wir jetzt zunächst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt jetzt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Damit ist materiell der Zusatzpunkt 2 erledigt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis j sowie die Zusatzpunkte 4 a bis d auf:
17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Feststellung des Bedarfs von Magnetschwebebahnen ({6})
- Drucksache 13/3103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({7})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Allgemeinen Magnetschwebebahngesetzes ({8})
- Drucksache 13/3104 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({9}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 über die Satzung der Europäischen Schulen
- Drucksache 13/3106 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({10})
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 19. Juni 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Indien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 13/3168 -
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 13/3169 -Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. April 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen
- Drucksache 13/3170 -
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Februar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 13/3171 -
Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Margareta Wolf und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freigabe und zivile Nutzung von ehemals militärisch genutzten Waldflächen im Viernheim-Lampertheimer-Käfertaler Wald
- Drucksache 13/1932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rochlitz, Michaele Hustedt, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kriterien für die oberirdische Ablagerung von Abfällen - Novellierung von TA Abfall und TA Siedlungsabfall
- Drucksache 13/2496 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit, Anke Fuchs ({12}), Ilse Janz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rahmenkonzept für die Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Drucksache 13/2906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({13})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung
ZP4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({14})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Kubatschka, Dr. Peter Glotz, Volker Jung ({15}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Energieforschung
- Drucksache 13/1424 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({16})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuß
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Simone Probst, Elisabeth Altmann ({17}), Antje Hermenau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Energie für die Zukunft
- Drucksache 13/1935 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung,
Technologie und Technikfolgenabschätzung ({18})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz ({19}), Eckart Kuhlwein, Michael Müller ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
UmweltAudit in Bundesministerien und -behörden
- Drucksache 13/2417 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({21})
Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Wolfgang Bierstedt, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Nachbesserung der Tarifstrukturreform der Deutschen Telekom AG
- Drucksache 13/3221 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Antrag der Fraktion der SPD zu einem Rahmenkonzept für die Bundesforschungsanstalt nach Drucksache 13/ 2906 in Tagesordnungspunkt 17j soll zusätzlich an den Ausschuß für Gesundheit und den Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 18. Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 18a auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1995 ({22})
- Drucksache 13/2210 - ({23})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({24})
- Drucksache 13/3243 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Regenspurger Thomas Krüger
Rezzo Schlauch Dr. Max Stadler
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({25}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 13/3246 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz
Uta Titze-Stecher
Oswald Metzger
Dazu hat der Kollege Conradi gebeten eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben zu dürfen. Herr Kollege Conradi, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz nicht zu und möchte das hier begründen.
({0})
Ich habe nichts gegen die Erhöhung der Beamtengehälter. Die Beamten, vor allem die des einfachen, des mittleren und des gehobenen Dienstes, haben die von der ÖTV erstrittene Gehaltserhöhung verdient. Bei manchen höheren Einkünften könnte man Zweifel haben und wenigstens auf der Offenlegung von Nebeneinkünften bestehen. Ich denke etwa an den Inhaber des Lehrstuhls für Abgeordnetenentschädigung in Speyer,
({1})
der offenbar durch seine Lehrtätigkeit nicht ausgelastet ist.
Ich stimme dem Gesetz nicht zu, weil mit ihm auch die Gehälter der Mitglieder der Bundesregierung sowie der Ministerpräsidenten und Minister der Länder angehoben werden, obwohl es sich bei diesen eindeutig nicht um Beamte handelt. Ich beanstande nicht die Höhe der Bezüge - obwohl man nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit bei dem einen oder anderen Minister vielleicht unterschiedlicher Meinung sein könnte -, aber ich beanstande, daß über die Bezüge in einem Gesetz über die Beamtenbesoldung mitentschieden wird.
Ich stimme diesem Gesetz nicht zu, weil ich verfassungspolitische - keine verfassungsrechtlichen - Bedenken habe. Das Gesetz entspricht nicht den Forderungen nach Offenheit, Nachvollziehbarkeit und Transparenz, die beispielsweise die Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein und Hessen bei der
Regelung der Abgeordnetenentschädigung erhoben haben.
({2})
Statt mit diesem Gesetz auch über ihre eigenen Bezüge zu beschließen - ein typischer Fall von Selbstbedienung -, sollten die Bundesratsmitglieder ihre Bezüge von der Beamtenbesoldung abkoppeln und durch eigene Gesetze ihrer Landtage regeln lassen.
({3})
Ich stimme diesem Gesetz nicht zu, weil diese Fragen hier im Bundestagsplenum nicht erörtert wurden und weil nicht zu erwarten ist, daß die Mitglieder des Bundesrates diese Fragen in ihrer Sitzung am 15. Dezember offen diskutieren, auch im Licht der Tatsache, daß einige von ihnen nach den Diätenerhöhungen ihrer Landtage - ich denke etwa an die nicht geringe Diätenerhöhung in Hessen - nun eine zweite Gehaltserhöhung bekommen. Die Annahme, der Bundesrat werde wegen dieses Mangels an Transparenz den Vermittlungsausschuß anrufen oder gar das Gesetz ablehnen, ist wenig realistisch. Ich halte dieses Gesetz für unehrlich und stimme ihm deshalb nicht zu.
({4})
Danke schön, Herr Kollege Conradi.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit - wir sind uns hier einig - in zweiter Beratung angenommen worden, allerdings mit einer erheblichen Zahl von Enthaltungen und Gegenstimmen von den Oppositionsfraktionen.
({0})
- Dann möchte ich es doch noch etwas genauer haben und bitte um Wiederholung.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen worden mit den meisten Stimmen der Koalitionsfraktionen und einer Stimme aus den Reihen der Oppositionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen, und gegen fünf Stimmen aus den Koalitionsfraktionen sowie bei etlichen Enthaltungen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz zustimmen wollen, sich zu erheben. ({1})
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den eben aufgezählten Stimmverhältnissen angenommen worden, wobei es zwei Zustimmungen auf seiten der SPD gab.
Tagesordnungspunkt 18 b:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2})
zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Wege in die Informationsgesellschaft"
zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
Einsetzung einer unabhängigen ExpertenKommission „Demokratische und soziale Antworten auf die Herausforderungen der neuen Informationstechnologien" ({3})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Nutzung der neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik für Deutschland"
- Drucksachen 13/1782, 13/2741, 13/2753, 13/3219 Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier Dr. Dagmar Enkelmann
Jörg van Essen
Simone Probst
Andreas Schmidt ({4})
Wir haben über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" auf Drucksache 13/3219 Nr. 1 abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt, die Anträge auf Drucksachen 13/1782 und 13/2753 zusammenzufassen und in der Ausschußfassung anzunehmen.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/3238 vor. Dieser Änderungsantrag besteht aus zwei Alternativen.
Wir stimmen daher zunächst über Nr. I des Änderungsantrags der PDS ab; es geht hier um 17 Mitglieder und 17 Sachverständige. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Nr. I ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS abgelehnt worden.
Wer stimmt für Nr. II des Änderungsantrags der PDS, in dem es um 16 Mitglieder und 11 Sachverständige geht? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Nr. II ist mit demselben Stimmenverhältnis wie eben abgelehnt worden. Damit ist der Änderungsantrag insgesamt abgelehnt.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden. Damit ist die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien" eingesetzt.
Dann kommen wir zu der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Gruppe der PDS auf Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission „Demokratische und soziale Antworten auf die Herausforderungen der neuen Informationstechnologien" auf Drucksachen 13/2741 und 13/3219 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 18c und 18d gemeinsam auf:
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der von den britischen Streitkräften freigegebenen bundeseigenen Wohnsiedlung in Werl
- Drucksachen 13/2650, 13/3163 -
Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({6}) zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft in Leipzig, Essener Straße 1-3, an den Freistaat Sachsen
- Drucksachen 13/2678, 13/3164 Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller
Susanne Jaffke Oswald Metzger Jürgen Koppelin
Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei zwei Stimmenthaltungen aus der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 18 e:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 23 02 ap1.-Titel 686 25 - Nahrungsmittel-, Not- und Flüchtlingshilfe - Drucksachen 13/2677, 13/2973 Nr. 2, 13/3165 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Emil Schnell
Michael von Schmude
Antje Hermenau
Jürgen Koppeln
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 18f:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({8}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 1418 Titel 554 01 - Beschaffung von Schiffen, Betriebswasserfahrzeugen, Booten, schwimmendem und sonstigem Marinegerät - Drucksachen 13/2715, 13/2973 Nr. 3, 13/3166 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Jürgen Koppelin Ernst Kastning Oswald Metzger
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei zwei Gegenstimmen aus der Gruppe der PDS und bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und den sonstigen Stimmen der PDS ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD angenommen worden, wobei das manchmal wie La Ola geht: Die SPD kommt immer etwas verzögert.
({9}) - Das ist zum Vergnügen der Präsidentin. Tagesordnungspunkt 18 h:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({10}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
MwSt - Annäherung der Sätze
- Drucksachen 13/1096 Nr. 2.11, 13/3108 Berichterstattung: Abgeordnete Nicolette Kressl
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 18 i:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 86 zu Petitionen - Drucksache 13/3147 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 18j:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 87 zu Petitionen - Drucksache 13/3148 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden.
Wir kommen zu Zusatzpunkt 5:
Weitere Abschließende Beratungen ohne Aussprache
({13})
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 13/3233 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 90 zu Petitionen - Drucksache 13/3234 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 91 zu Petitionen - Drucksache 13/3235 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 92 zu Petitionen - Drucksache 13/3236 -
Wir stimmen zunächst über Sammelübersicht 89 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über Sammelübersicht 90. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 90 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über Sammelübersicht 91. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Sammelübersicht 91 ist mit denselben Stimmverhältnissen wie eben angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über Sammelübersicht 92. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch Sammelübersicht 92 ist angenommen worden, und zwar mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Opposition.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b sowie die Punkte 4 d bis 4 g und Zusatzpunkt 6 auf:
4. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes
- Drucksache 13/1930 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({18})
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Vera Lengsfeld, Elisabeth Altmann ({19}), Gila Altmann ({20}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ({21})
- Drucksache 13/3207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({22})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus
d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller ({23}), Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbesserungen im Naturschutz und wirksame Strategien zur Erhaltung der biologischen Vielfalt
- Drucksachen 13/1904, 13/2637 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller ({24}), Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Notwendige Naturschutzmaßnahmen im
europäischen Naturschutzjahr 1995
- Drucksache 13/1350
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({25})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller ({26}), Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Beendigung der Waffenerprobung und Schießübungen im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer
- Drucksache 13/1391 -
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaele Hustedt, Dr. Jürgen Rochlitz, Joseph Fischer ({27}), Kerstin Müller ({28}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Meer ist keine Müllhalde
- Drucksache 13/3211-Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({29})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für die Angelegenheiten
der Europäischen Union
ZP6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra
- Drucksache 13/3138 - ({30})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({31})
- Drucksache 13/3239 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abgeordnete Ulrike Mehl das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende eines Europäischen Naturschutzjahres ist es wohl angebracht, einmal Revue passieren zu lassen, wie es um den Naturschutz bestellt ist.
Das letzte Europäische Naturschutzjahr liegt nun schon 25 Jahre zurück. Immer mehr Menschen engagieren sich vorwiegend in Naturschutzorganisationen für die Erhaltung unserer natürlichen Reichtümer. Das läßt zwar hoffen; es ist aber nicht mehr so viel Natur übrig, und die Vernichtung und Zerschneidung der Lebensräume geht unvermindert weiter. 3 bis höchstens 5 Prozent der Fläche der Bundesrepublik sind noch natürliche oder naturnahe Lebensräume bzw. Biotope. Die Hoffnung auf das Engagement darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Naturschutz trotz gestiegenen Bewußtseins noch immer in der Defensive ist. Wir alle, die wir uns im Naturschutz engagieren, sind ständig gezwungen, neue Argumente für dessen Nützlichkeit und Existenzberechtigung zu finden; denn bisher haben wir es noch nicht geschafft, von unserem gewohnten Gewinndenken Abstand zu nehmen. Wenn sich das Gewinndenken auf eine intakte Natur und Umwelt bezöge, wäre das in Ordnung. So ist es aber eben nicht.
Das wird an einem Beispiel, nämlich an der Waffenerprobung im schleswig-holsteinischen Wattenmeer, deutlich. Hier werden Granaten durch das Watt im Nationalpark geschossen, obwohl dies ein hochsensibler Lebensraum ist und es durchaus andere Erprobungstechniken gibt. Es gibt überhaupt keine Argumente dafür, dort auf den Naturschutz weiter zu schießen, zumal es mindestens fünf weitere europäische Staaten gibt, die solche Erprobungen machen und dafür andere Techniken haben; die haben nämlich kein Watt.
({0})
Ich meine, diese Länder sollten sich endlich einmal zusammentun und mit umweltverträglichen Techniken proben, jedenfalls nicht im Wattenmeer.
Eigentlich sollten wir im Jahre 1995 längst begriffen haben, daß die Menschen Teil der Natur sind. Die intakte Natur ist unsere unverzichtbare Lebensgrundlage. Sauberes Wasser, gesunde Luft, lebende Böden sind Teile des sensiblen Gleichgewichts zwischen den vielen Arten und Lebensräumen. Das alles muß nicht nur von uns, sondern für uns - man muß fast sagen: vor uns - geschützt und wiederhergestellt werden.
({1})
Spätestens bei den inzwischen eingetretenen großen wirtschaftlichen Schäden durch Naturzerstörung - hier nenne ich nur das Thema Hochwasserschäden - müßte bei jedem das Alarmlämpchen geleuchtet haben. Ein deutlicheres Zeichen, daß uns im Naturschutz das Wasser bis zum Hals steht, kann es kaum noch geben.
({2})
Aber solche menschengemachten Katastrophen führen nur zu Reparaturmaßnahmen, die im übrigen auch bald keiner mehr bezahlen kann. Diese Diskussion werden wir möglicherweise wieder im nächsten Frühjahr haben.
Es muß statt dessen zu einer umfassenden Naturschutzstrategie führen, die aber fehlt. Wie ist es sonst zu erklären, daß Nutzungsinteressen - ob Bauern, Verkehr, Landwirtschaft, Tourismus oder Erholung - wieder nach Planungsbeschleunigung oder finanziellem Ausgleich verlangen und damit das zarte Pflänzchen Naturschutz plattzudrücken drohen? Erst wenn es massive finanzielle Anreize gibt, wird auch außerhalb von Naturschutzkreisen über Sinn und Zweck der Erhaltung der biologischen Vielfalt nachgedacht.
Genau deshalb wird die Konvention zur biologischen Vielfalt in der Öffentlichkeit hauptsächlich unter ökonomischen Gesichtspunkten hinsichtlich der Nutzung der Genressourcen wahrgenommen; oder verkürzt: Artenschutzkonvention - immerhin wenigstens das, denn dann kommt das Wort wenigUlrike Mehl
stens vor. Wenn wir aber nicht vom reinen Nützlichkeitsdenken Abschied nehmen, sind wir gezwungen, zu hoffen, daß sich der Milliarden Dollar schwere Markt mit pharmazeutisch nutzbaren Naturstoffen möglichst schnell weiter entwickelt. Solange Gewinne in Aussicht stehen, besteht wenigstens Interesse, diese natürlichen Vorkommen erhalten zu wollen. Aber das ist schon der blanke Zynismus.
Es kann und darf nicht ausschließlich um Genressourcen einzelner Arten gehen, vielmehr muß Naturschutz heute ökosystemaren Zusammenhängen gerecht werden. Genau das ist das Problem. Die Ökologie reagiert in eigenen Rhythmen, die immer weniger zu den menschengemachten Rhythmen unserer Wirtschaft passen. Obwohl wir wissen, spätestens seit dem Brundtland-Bericht, daß Wachstum ökologische Grenzen hat, tun wir alles, eben dieses Wachstum auf Kosten der Natur zu beschleunigen.
Mit dieser Entwicklung geht eine hochgradige Spezialisierung des Wissens einher, und gleichzeitig verlieren wir das Verständnis und Wissen für das Ganze, für die Sensibilität des Zusammenspiels einzelner Teile. Dieses allgemeine Phänomen spiegelt sich im Naturschutz haargenau wider.
Um es noch einmal klarzumachen: Naturschutz ist nicht ein zusätzlicher Nutzungsanspruch an die Landschaft. Naturschutz ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe für alle.
({3})
Wir müssen begreifen, daß eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen nur auf dem Erhalt der Natur aufgebaut werden kann. In Wirklichkeit klaffen theoretisches Wissen und aktives Handeln weit auseinander. Internationale Verträge und gesetzliche Vorgaben dürfen nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern müssen neue Wege eröffnen, und dies nicht auf dem Papier, sondern in der Praxis. Die Wege, die von der Bundesregierung aufgezeigt werden, gleichen nach meinem Eindruck eher einem Kreisverkehr mit Abzweig in eine Sackgasse.
({4})
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage zum Naturschutz ist das beste Beispiel. Auf unsere konkreten Fragen antwortet sie folgendes: Dies alles sei im Umweltbericht der Bundesregierung und im Bericht der Umsetzung der Konvention über die biologische Vielfalt beantwortet.
({5})
Schaut man da nach, erfährt man, daß die Konvention ratifiziert ist, der Rest im Bundesnaturschutzgesetz geregelt ist, das noch nicht novelliert ist, und im übrigen die Länder zuständig sind. Damit ist die Bundesregierung, glaube ich, am Ende ihrer Weisheiten.
({6})
Offenbar freut sich die Bundesregierung schon selber auf ihren Gesetzentwurf des Bundesnaturschutzgesetzes, weil sie nach neun Jahren der Ankündigung desselben immer kraftvoller auf die Inhalte der nicht vorhandenen Novellierung hinweist.
Schon 1986 wurden die Forderungen der SPD zum Naturschutzgesetz mit dem Argument abgelehnt, daß eine baldige umfassende Novellierung geplant sei. Nun hat uns der Kollege Friedrich bei der Haushaltsberatung im November dieses Jahres gesagt, Herr Töpfer habe in seiner Amtszeit ja bereits alles angekündigt, was anzukündigen sei, und Frau Merkel könne nun gar nichts mehr ankündigen, sondern sie wolle umsetzen. Frau Merkel, darauf sind wir äußerst gespannt.
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- So ist es, das hat er ja auch bestätigt. Außerdem hat er noch bemerkt, daß Herr Stoiber, der heute morgen hier auch geredet hat, erklärt habe, nun könne man ein Gesetz auch novellieren; mit Frau Merkel könne man das machen, es komme allerdings auf die Inhalte an. Darauf warten wir ganz gespannt.
Wir haben die notwendigen Änderungen des Naturschutzgesetzes in unserem Gesetzentwurf zum drittenmal klar formuliert. Ich will die Schwerpunkte des Gesetzentwurfs noch einmal nennen:
Erstens. Wir wollen den Schutz der Natur auch - nicht nur, aber auch - um ihrer selbst willen.
Zweitens. Wir wollen auf mindestens 10 Prozent der Landesfläche Vorrang für den Naturschutz. Es stehen heute nur knapp 2 Prozent der Landesfläche unter Naturschutz. Außerhalb von Wäldern gibt es insgesamt noch 3 bis 5 Prozent natürliche oder naturnahe Lebensräume. Wir brauchen diese Vorrangflächen auch zum Aufbau des europaweiten Biotopverbundsystems „Natura 2000".
Drittens. Das Verhältnis von Land- und Forstwirtschaft zum Naturschutz wird neu geregelt. Die sogenannte Landwirtschaftsklausel, die besagt, daß die Land- und Forstwirtschaft den Zielen des Gesetzes dient, wird gestrichen. Statt dessen wollen wir die Landwirtschaft zur umweltschonenden Bewirtschaftung umsteuern. Wir brauchen die Landwirtschaft als wichtigsten Partner für den Naturschutz, weil sie bundesweit über 50 Prozent der Fläche bewirtschaftet.
({8})
Eine nachhaltige, also umweltverträgliche Landwirtschaft, die Düngemittel gezielter ausbringt, den Pestizideinsatz auf ein Minimum reduziert und das Klima insbesondere durch eine flächengebundene Tierhaltung weniger gefährdet, können wir nur erreichen, wenn die Milliardenbeträge für die heutige Landwirtschaft nur noch auf der Grundlage ökologischer Vorgaben vergeben werden.
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Es ist völlig unmöglich, daß der Naturschutz mit seinen kargen Mitteln nun für das bezahlen soll, was die vollen Geldtöpfe der EU vorher ruiniert haben.
Ein Instrument dafür, an die Landwirtschaft Ausgleichszahlungen für Sonderleistungen für den
Naturschutz zu leisten, kann der Vertragsnaturschutz sein. Aber es ist eben nur ein Instrument. Es muß daneben auch möglich sein, Flächen für den Naturschutz auf unbegrenzte Dauer zu sichern und zu entwickeln und eicht nur auf der Ebene eines 10 oder 15 Jahre dauernden Pachtvertrages.
Bei einer Reihe von Gebieten ist der Flächenankauf unverzichtbar. Darum muß sich der Bund im Rahmen der Förderung von Großschutzgebieten mit gesamtstaatlicher Bedeutung auch weiterhin an Flächenankäufen beteiligen.
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Eine Änderung der Förderrichtlinie für diese Großschutzgebiete darf die Geldmittel des Bundes nicht zu einer neuen Subvention für die Landwirtschaft machen. Wir brauchen auch den Flächenankauf. Allein der Vertragsnaturschutz kann das nicht erreichen.
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Großschutzgebiete dürfen nicht auf Dauer am Tropf des Vertragsnaturschutzes hängen.
Wir müssen neue Wege finden, wie wir der Landwirtschaft flächendeckend zu einer umweltverträglichen Wirtschaftsweise verhelfen können, aber nicht zu Lasten des Naturschutzes. Ich gehe darauf jetzt nicht näher ein, weil mein Kollege Sielaff in seinem Redebeitrag dies noch einmal aufgreifen wird.
Viertens. Wir wollen eine flächendeckende Landschaftsplanung zur Absicherung des Naturschutzes in der Raumordnung und Landesplanung. Aufgabe der Landschaftsplanung ist es, die konkurrierenden Nutzungsansprüche an die Natur miteinander sinnvoll zu vereinen. Die Abwägung findet also bereits im Landschaftsplan statt und nicht erst danach in den weiteren Bauleitplanungen. Sie ist nicht nur als schlichte Naturschutzplanung anzusehen.
Fünftens. Die Regelung bei Eingriffen in Natur und Landschaft soll auf den Grundwasserschutz, den Schutz des Bodens und der Luft und die stofflichen Einwirkungen erweitert werden. Ist ein Ausgleich nicht möglich, müssen Ersatzzahlungen mit Zweckbindung für den Naturschutz geleistet werden. Im übrigen ist eine Erfolgskontrolle vorgesehen. Man weiß aus der Praxis, daß man gelegentlich hinschauen muß, um zu erfahren, was aus den Planungen geworden ist.
Sechstens. Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU, kurz FFH-Richtlinie, zum Aufbau eines europaweiten Biotopverbundes wird umgesetzt. Diese hätte schon bis Juni 1994 umgesetzt sein müssen. Aber da diese Rechtsgrundlage nach wie vor fehlt, haben die Länder auch noch keine Gebiete gemeldet. Schon deshalb ist die Bundesregierung gezwungen, das Naturschutzgesetz zu novellieren. Wenn wir keine völlige Zersplitterung des Naturschutzrechtes wollen, wie sie uns im Artenschutz droht, muß die Umsetzung der FFH-Richtlinie im Naturschutzgesetz auf jeden Fall verankert werden. Wir haben das in unserem Entwurf getan.
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Siebtens. Wir haben eine neue Schutzkategorie „Biosphärenreservat" eingeführt. Zum einen soll dem Gedanken des großflächigen Naturschutzes Rechnung getragen, zum anderen aber einer umweltverträglichen Nutzung von Natur und Landschaft Vorschub geleistet werden.
Achtens. Wir haben eine jährliche Berichtspflicht der Bundesregierung vorgesehen und den Ländern empfohlen, eine entsprechende Regelung in ihre Ländergesetze aufzunehmen.
Neuntens. Wir führen die seit Jahren zu Recht geforderte Verbandsklage ein; denn in einer Zeit, in der immer mehr Menschen darüber mitreden wollen, welche Planungen und Vorhaben um sie herum beabsichtigt sind und wie sie gestaltet werden sollen, kann es nur richtig sein, betroffene Gruppen so früh wie möglich an den Verfahren zu beteiligen.
({13})
Es muß ihnen die Verantwortung übergeben werden, im Zweifelsfall gegen eine Maßnahme klagen zu können. Die immer wieder aufgestellte Behauptung, Öffentlichkeitsbeteiligung sei der Grund für zu lange Verfahrensdauer, ist schlicht falsch. Es gibt keinerlei Beleg dafür, daß durch Ausschluß der Öffentlichkeit Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren schneller laufen würden. Wer seine Landesentwicklung und -planung im Sinne einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung durchsetzen will - wir reden ständig von Mediationsverfahren, insbesondere im Umweltbereich -, der kommt mit der Öffentlichkeitsbeteiligung besser zum Ziel und zu besseren Lösungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sollte es nun doch noch wahr werden, daß die Bundesregierung eine Gesetzesnovelle vorlegt, dann freue ich mich schon auf die Diskussion.
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Ich hoffe, Frau Merkel, daß Sie sich dann als Vorkämpferin für den Naturschutz entpuppen werden. Dies können Sie bereits in Ihrem eigenen Wahlkreis Rügen probieren, wo die Mehrheit im Kreistag beabsichtigt, Nutzung und Schutz der Natur unter einen Hut zu bringen.
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Ich fordere Sie auf, sich dort als oberste Naturschützerin für eine beispielhafte Zusammenführung von Ökonomie und Ökologie mit Nachdruck einzusetzen.
Mit dem Gesetzentwurf der Bündnisgrünen hätte ich mich nun auch gerne auseinandergesetzt. Aber die Kolleginnen und Kollegen hatten ihr Gesetz schneller auf der Tagesordnung des Bundestages, als sie es beschlossen haben. Deshalb werden wir uns dann in den laufenden Beratungen damit auseinandersetzen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einen anderen Aspekt zur Notwendigkeit der Naturerhaltung einbringen. Edward O. Wilson, Biologieprofessor an der Harvard-Universität in Cambridge und Vorkämpfer für den Erhalt der Artenvielfalt, unterstreicht in seiUlrike Mehl
nem jüngsten Buch „Der Wert der Vielfalt", daß die Menschen eine unbewußte Neigung zur Nähe der übrigen Lebensformen haben. Dazu zähle auch die Sehnsucht nach der Wildnis, in der der Mensch neue Lebenskraft sucht und der der Mensch ursprünglich entstammt.
Er sagt weiter, daß es viele Anzeichen dafür gibt, daß der Verlust der biologischen Vielfalt nicht nur unser physisches, sondern auch unser geistiges Wohlbefinden gefährdet. Wilson endet damit, folgendes festzuhalten:
Ziel einer dauerhaften ökologischen Ethik wird es sein, nicht nur die Gesundheit und Freiheit unserer Art, sondern auch den Zugang zu der Welt zu bewahren, in der der menschliche Geist entstanden ist.
Um das zu schaffen, brauchen wir eine umfassende Strategie. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Warten wir nicht bis zum nächsten Europäischen Naturschutzjahr - vielleicht in 25 Jahren!
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Wilma Glücklich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesetze zu erarbeiten und zu erlassen ist natürlich unser Geschäft. Das und die Tatsache, daß wir daneben auch unser Bild als Politiker in der Öffentlichkeit verkaufen, sollte uns allerdings nicht den Blick für das Wesentliche versperren. Ich sage das ganz bewußt ein wenig überspitzt in die Richtung der SPD-Fraktion; denn die von Ihnen eingebrachte Novelle zum Naturschutzgesetz bewegt sich wieder einmal nur in dem Rahmen, den wir Naturschützer uns selbst irgendwann einmal zugewiesen haben.
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Dabei wissen Sie genauso gut wie ich, daß unser Spezialgesetz und dessen weitere Verfeinerung uns nicht weiterhelfen werden - im Gegenteil.
Ich bin sicher, daß jeder in diesem Haus einem effizienten Naturschutz nicht nur ideelle oder ökologische Bedeutung, sondern insbesondere auch steigende ökonomische Bedeutung beimißt.
Ich setze voraus, daß die vorgelegte Novelle in der Absicht zur Gesetzesverbesserung formuliert wurde. Als Praktikerin weiß ich allerdings, daß einschneidende Gesetzesänderungen wegen der damit verbundenen Anpassungsschwierigkeiten landauf, landab nicht leichtfertig vorgenommen werden dürfen, sondern so, daß unsere Regelungsinstrumente für die Aufgaben der Zukunft tauglich werden und den Anforderungen gerecht werden, die wir künftig an die räumliche Entwicklung von Stadt und Land stellen müssen. Da springen Sie zu kurz.
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Hinter unserer Forderung, die Belange des Natur- und Umweltschutzes in stärkerem Maße zu berücksichtigen, steht die leidvolle Erfahrung mit der nackten Flächenkonkurrenz. Ich spreche es offen aus: Wenn wir die vergangenen 20 Jahre Revue passieren lassen, so stellen wir fest: Das Bundesnaturschutzgesetz und die Ländernaturschutzgesetze haben zur Klärung der Position zwischen Bewahrung von Flächen für Natur und Landschaft und den um sich greifenden Ansprüchen von Verkehr und Bebauung beigetragen. Den Konflikt auf den Punkt zu bringen, beispielsweise innerhalb der Eingriffsregelung, hat die Fronten geklärt.
Sie wissen aber genau wie ich, daß das Naturschutzgesetz als zweites großes flächenrelevantes Gesetzeswerk in der Konkurrenz um Boden immer nachrangig gewesen ist. Hier ist die eigentliche Spielwiese, denn hier geht es um Geld. Solange die Belange von Natur- und Umweltschutz nicht im Baugesetzbuch vollends integriert sind, sondern wir - im Gegenteil - den Planern, Architekten und Bauherren suggerieren,
({2})
daß nur wir Naturschützer eine spezielle Zuständigkeit und Verantwortung für die Natur hätten, schaffen wir uns genau den Flaschenhals, mit dem wir vollends matt gesetzt werden.
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So gesehen ist auch die von Ihnen formulierte „echte Abwägungspriorität" von Belangen des Naturschutzes in der Landschaftsplanung Makulatur. Damit spezialisieren und befrachten Sie die Landschaftsplanung weiter, ohne wirkliche Fortschritte zu erreichen. Ich für meinen Teil habe aus langjähriger Erfahrung gelernt und sage Ihnen: Ich möchte künftig da mitmachen, wo die „großen Jungs spielen". Darin haben mich erst gestern meine Berufskollegen, die Landschaftsarchitekten, bestärkt.
Ich spreche mich deshalb dafür aus, daß das Naturschutzgesetz jetzt nicht noch weiter verfeinert und weiter verengt wird, sondern daß wir zunächst einmal im Konsens das angehen, was wir in der CDU/ CSU-Fraktion seit Jahren diskutieren: die Änderung des Städtebaurechts. Gefordert ist - zum Wohle des Naturschutzes - eine Abkehr vom rein baulichen Bezug des Städtebaurechts und die Hinwendung zu umfassendem Boden- und Flächenbezug. In unserer Verfassung ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Verantwortung für zukünftige Generationen verankert. Flächendispositionen jeglicher Art müssen die soziale und kulturelle Integration
aller Bevölkerungsgruppen ebenso berücksichtigen wie die Beseitigung bestehender Benachteiligungen. Und nicht zuletzt geht es natürlich um die Wahrung kultureller Werte und die Beachtung von Stadtgestalt und Landschaftsbild.
Nur in einer umfassenden, auf die Gesamtfläche der Bundesrepublik bezogenen Leitplanung lassen sich alle für die Bodennutzung relevanten Elemente gleichrangig beurteilen, sowohl die Entwicklung des besiedelten als auch die des unbesiedelten Bereichs. Die Prüfung der Umweltverträglichkeit ist dann eine integrative Aufgabe bei der Entscheidung über die künftige Nutzung von Flächen. Es führt auf Abwege, wenn für sie ein gesondertes Verfahren eingerichtet wird, das die Sache nur komplizierter macht und so den Schutzzielen abträglich ist. Das habe ich vorhin mit „Flaschenhals" gemeint.
Übrigens, Frau Kollegin, Beschleunigung heißt nicht unbedingt weniger Qualität. Vielmehr kann Beschleunigung sehr häufig den Schutzzielen sehr förderlich sein.
({4})
Naturschutzrechtliche Grundsätze und Ziele müssen auf der Ebene des Flächennutzungsplanes einer Gesamtbetrachtung mit dem Ziel eines ökologischen Gesamtgewinnes unterzogen werden. Bilanzen müssen also her; da gebe ich Ihnen recht. Ist kein deutlicher Gesamtgewinn vor Ort möglich, muß eine Kompensation geschaffen werden. Das ist ebenfalls richtig. Ich finde nur, die Eingriffsregelung gehört ins Baugesetzbuch zurück, damit ihre Bewältigung dort geschehen kann. Das ist kein Einfallstor zur regellosen Nutzung von Flächen,
({5})
sondern die Beseitigung von Rechtsunsicherheiten. Es ist ureigene Aufgabe der Planer, ökologisch optimierte Nutzungsformen zu finden und die Verträglichkeit von Vorhaben zu fördern. Ich möchte einfach nicht so weitermachen wie in den vergangenen Jahren, als die Planer bei der Aufstellung von Bauleitplänen diese Sachen immer auf die Naturschützer abgeschoben haben.
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Naturschutz außerhalb von Schutzgebieten läßt sich wirklich nur dann realisieren, wenn wir vielfältige Nutzungsmischungen nach den Prinzipien der gegenseitigen Rücksichtnahme und der Vermeidung oder - wenn das nicht möglich ist - der Minderung von Störungen ermöglichen.
Ich spreche nicht gegen das Naturschutzgesetz.
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Auch die CDU/CSU wird gemeinsam mit der F.D.P. einen Novellierungsentwurf vorlegen ({8})
besser vorbereitet allerdings. Es geht mir darum, das Planungssystem insgesamt mit dem Ziel neu zu ordnen, Raum- und Flächennutzung als Ganzes zum Gegenstand einer sachlichen Gesamtbetrachtung zu machen, natürlich unter besonders starker Einbeziehung der Naturbelange. Alles andere ist Flickwerk.
Ich danke Ihnen.
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Liebe Frau Kollegin Glücklich, das war Ihre erste Rede in diesem Parlament. Wir möchten Ihnen im Namen des Hauses dazu gratulieren.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Vera Lengsfeld.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Glücklich, das war nun Ihre erste Rede in diesem Parlament. Trotzdem hätte ich nicht in Ihrer Haut stecken mögen. Denn es ist natürlich ein schwieriges Geschäft, hier für die Regierungskoalition am Pult stehen zu müssen und nach drei Legislaturperioden, in denen jeweils eine Naturschutzgesetznovelle angekündigt worden ist, eine vierte Ankündigung hinzufügen zu müssen.
({0})
Wir dürfen natürlich gespannt sein.
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Denn bisher gab es zwar einen BMU-Entwurf, der durch die verschiedensten Institutionen und Fraktionen geisterte. Aber die Angst vor der eigenen Courage hat ja offenbar bewirkt, daß sich Frau Merkel damit nicht an die Öffentlichkeit wagte.
Frau Kollegin Glücklich, weil Sie auf die Gefahren der Gesetzgebung hingewiesen haben, sage ich: Wie man es ungeachtet dessen machen kann, haben die neuen und auch einige alte Bundesländer vorgemacht, die inzwischen sehr moderne Landesnaturschutzgesetze entwickelt und zum Teil schon wieder novelliert haben. Im übrigen hätten Sie auch einmal einen Blick in die Entwürfe, die von den Bündnisgrünen, aber auch der SPD vorlagen, werfen können, um zu sehen, wie man das macht. Das ist eigentlich gar nicht so schwer; man muß es nur anpacken.
({2})
Darüber sind sich alle einig: Die Neufassung des Naturschutzgesetzes wird immer dringender. Ich will
nur einige wichtige Tatsachen nennen: Täglich werden in Deutschland 120 Hektar Fläche versiegelt, während der Anteil von Schutzgebieten kaum 2 Prozent der Gesamtfläche des Landes beträgt. Um das vielleicht noch ein bißchen plastischer zu machen: Den bundesdeutschen Kraftfahrzeugen wird allein an Parkfläche etwa die Hälfte der Fläche zugestanden, die in Deutschland als Naturschutzgebiete ausgewiesen sind. Der Schutz in diesen Gebieten ist aber nicht gewährleistet. Selbst in Naturschutzgebieten der ranghöchsten Schutzkategorie finden nach wie vor starke Eingriffe und Beeinträchtigungen statt. So hat eine Studie im Süden Deutschlands, die mehr als 10 Prozent der Gesamtzahl der Naturschutzgebiete umfaßte, ergeben, daß nur 0,19 Prozent in einem sehr guten, 21,4 Prozent in einem guten, 54,3 Prozent dagegen in mäßigem und 21,2 Prozent in schlechtem Zustand waren. 2,9 Prozent der Naturschutzgebiete waren sogar völlig zerstört.
Nach den „Roten Listen" gilt derzeit in Deutschland rund die Hälfte der Wirbeltierarten als in ihrem Fortbestand gefährdet. Von den Arten der Farn- und Blütenpflanzen wird rund ein Drittel als gefährdet angesehen. Bis zu 10 Prozent der Arten der verschiedenen Gruppen sind bereits ausgestorben oder verschollen. Der zunehmende Rückgang der biologischen Vielfalt, der Verlust oder die Beeinträchtigung von Arten in ihren Lebensräumen führt zur irreversiblen Verarmung der Natur und bedroht letztendlich auch die Lebensgrundlage der Menschen.
Eine kurzsichtige Landnutzungsplanung berücksichtigte weder das Vorsorge- noch das Vermeidungsprinzip. Zwischen 1950 und Mitte der achtziger Jahre wurden rund 360 000 Kilometer der Fließgewässer dritter Ordnung, das heißt der Bäche und Gräben, begradigt, mit Beton ausgegossen, mit Brettern verschalt, verrohrt oder kanalisiert. Nur noch 10 Prozent dieser Bäche fließen in ihrem ursprünglichen Bett. Die Gewässer zweiter Ordnung und die Flüsse sind fast vollständig begradigt und beschleunigt. Feuchtflächen in den Einzugsgebieten der Flüsse wurden trockengelegt und in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt. Ihre Speicherungsfunktion für Niederschläge ging verloren. In kurzen Abständen wiederkehrende Jahrhunderthochwasser sind die Folge dieser Eingriffe in den Wasserhaushalt und haben in Europa während der Jahreswende 1994/1995 zu 300 000 Umweltflüchtlingen geführt, die ihre Häuser verlassen mußten.
Trotzdem versucht die Bundesregierung seit der Wende, den naturnahen Stromlandschaften im Osten, die noch nicht begradigt, entwässert, verrohrt und zerstört sind, den Garaus zu machen. Das Projekt 17 des Bundesverkehrswegeplans, das die Flüsse und Kanäle von Hannover über Magdeburg nach Berlin zu Großbaustellen machen will, hat verheerende Folgen für die wenigen Feuchtgebiete, die uns noch geblieben sind. An der Havel sollen Röhrichtgürtel, Altarme, weite Überschwemmungszonen, Erlenbrüche und wechselfeuchte Grünlandflächen vernichtet werden. Selbst vor international anerkannten Vogelschutzgebieten wie in Ketzin wird nicht haltgemacht.
Der Saale-Ausbau, ebenfalls „vordringlicher Bedarf" im Verkehrswegeplan, gefährdet das größte Schutzgebiet Sachsen-Anhalts, das UNESCO-Biosphärenreservat „Mittlere Elbe" mit dem größten erhaltenen Auenmischwald Mitteleuropas. Dort leben noch Elbebiber, Schwarzstörche und eine der größten Weißstorchpopulationen. Eine umfassende Regulierung von Saale und Elbe im Oberlauf würde außerdem auch das Fließverhalten der restlichen Elbe ändern. Folge: Wichtige Hochwasser blieben aus, so daß das geplante Biosphärenreservat „Elbtalaue" im ehemaligen Grenzgebiet gefährdet wäre.
Ein weiteres Beispiel: Der Freistaat Thüringen will auf dem Höhenzug Hainich einen BuchenwaldNationalpark einrichten. Einen großen Teil des künftigen Nationalparks nimmt die Bundesliegenschaft „Truppenübungsplatz Weberstedt" mit 55 Quadratkilometern ein. Mit der Aufgabe der militärischen Nutzung durch die Bundeswehr wird der Truppenübungsplatz planmäßig zum 31. Dezember 1995 geräumt. Doch damit hat Thüringen noch lange kein neues, großflächiges Schutzgebiet wie vorgesehen. Denn das Bundesfinanzministerium verlangt jetzt vom Freistaat Thüringen 70 bis 80 Millionen DM für die Übertragung, die das Land natürlich nicht hat. In der Übergangszeit wird aus wertvollen Buchenwäldern des Hainich rausgeholt, was nur geht. Die Bundesforstverwaltung läßt mehrere tausend Festmeter Holz einschlagen, und zwar ausgerechnet die Bäume, die für die Kernzone des zukünftigen Nationalparks unverzichtbar sind.
Im ursprünglichen Entwurf des Koalitionsantrags, den Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, im Oktober vorgelegt haben, stand noch, daß vom Bund bei Bedarf ehemalige Truppenübungsplätze als National- oder Biosphärenparkgebiete kostenlos zur Verfügung gestellt werden sollen. Leider wurde dieser Passus in letzter Minute gestrichen. Das ist charakteristisch für den Eiertanz, den die Koalitionsfraktionen seit Jahren in Sachen Naturschutz aufführen.
({3})
Ihre Bilanz ist - insgesamt gesehen - eine Schande. Ihre Naturschutzpolitik zeichnet sich dadurch aus, daß im Osten Deutschlands all das so schnell wie möglich zerstört wird, was im Westen längst nicht mehr existiert: großflächige Schutzgebiete, intakte Flußauen oder mäandrierende Flüsse.
Aber regelrecht verschlafen hat die Bundesregierung wegweisende Entwicklungen auf europäischer Ebene. Das gilt insbesondere für die Flora-FaunaHabitat-Richtlinie vom 21. Mai 1992. Damit wird das Bundesnaturschutzgesetz sogar auf EG-Ebene überholt. Frau Kollegin Mehl hat schon daran erinnert, daß die Richtlinie bereits zum Juni 1994 hätte umgesetzt werden müssen. Ausgerechnet im Europäischen Naturschutzjahr bildet die Bundesrepublik Deutschland das Schlußlicht bei der Umsetzung dieser Richtlinie. Sogar die neu beigetretenen EU-Staaten Schweden, Finnland und Österreich haben
bereits ihre Entwürfe in Brüssel präsentiert - wir nicht.
({4})
- Das liegt ganz bestimmt nicht an den Ländern, sondern an der Zögerlichkeit der Bundesregierung.
({5})
Der Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen trägt all dem Rechnung. Es ist ein grundlegend neues Konzept, das wir mit unserem Gesetzentwurf umsetzen wollen.
Der Naturschutz muß vom Reservatschutz zu einem generellen Flächenschutz entwickelt werden. Wir erreichen erst dann großflächigen Naturschutz, wenn die Naturnutzung durch Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, durch Freizeitaktivitäten sowie durch die Landnahme für Siedlungen und Verkehrswege naturverträglich wird. Das heißt, wir müssen die Nutzung in ein Naturschutzkonzept integrieren. Wir setzen dies in unserem Entwurf um, indem wir Leitlinien für eine naturverträgliche Naturnutzung definieren.
Naturschutzpolitik ist zu einem großen Teil auch Landwirtschaftspolitik.
({6})
Bei Fortsetzung der gegenwärtigen Agrarpolitik wird prognostiziert, daß in den nächsten 20 bis 30 Jahren etwa ein Drittel bis zur Hälfte der gegenwärtig landwirtschaftlich genutzten Fläche stillgelegt wird. Aus Sicht des Umwelt- und Naturschutzes ist dies eine katastrophale Entwicklung, denn sie bedeutet eine Aufspaltung der Kulturlandschaft in Schmutzgebiete mit intensivster Nutzung und hohem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden und in ungenutzte Bracheflächen.
Durch eine drastische Extensivierung der Landwirtschaft würden Agrarüberschüsse beseitigt, würde der Rückzug der Landwirtschaft aus der Fläche aufgehalten. Es wäre auch dem Naturschutz gedient, da eine kleinräumige, regionale und diverse Agrarstruktur automatisch zum Erhalt ökologisch wertvoller Kulturlandschaften führt. Dadurch würden Millionen gespart, die derzeit für aufwendige Pflegemaßnahmen zur Erhaltung von Landschaftskulissen ausgegeben werden.
({7})
Durch die neue Schutzgebietskategorie der Biosphärenparks in unserem Entwurf sollen Modellregionen gefördert werden, in denen ein ausgewogenes Nebeneinander und Zusammenwirken zwischen nachhaltigem menschlichem Wirtschaften und natürlicher Dynamik demonstriert wird. Außerdem würdigt die Aufnahme der Biosphärenparks in das
Naturschutzgesetz die Entwicklungen in den neuen Bundesländern.
({8})
- Ich weiß nicht, was Sie meinen, aber wir können uns anschließend gern darüber unterhalten. Meine Redezeit läuft nämlich ab.
Naturschutz kann nur mit den Menschen und nicht gegen sie durchgesetzt werden. Wir brauchen dringend mehr Kooperation und Partizipation im Naturschutz. Auch dem trägt unser Entwurf Rechnung. Wir haben in unserem Entwurf den Naturschutzverbänden, die in den letzten hundert Jahren äußerst wichtige Beiträge zum Erhalt von Natur und Landschaft geleistet haben, größere Rechte eingeräumt, unter anderem das Recht auf Verbandsklage, das in mehreren Landesnaturschutzgesetzen schon sehr erfolgreich praktiziert wird.
Der Schutz von Natur und Landschaft darf nicht nur an der Nützlichkeit der Natur für den Menschen orientiert werden. Natur und Landschaft sind auch um ihrer selbst willen aus der Verantwortung des Menschen für die natürliche Umwelt heraus zu schützen. Deshalb ist in den neugefaßten Zielbestimmungen nicht mehr von Leistungs- und Nutzungsfähigkeit des Naturhaushalts die Rede, sondern von der Funktions- und Regenerationsfähigkeit.
Die Neufassung der Ziele in unserem Entwurf greift außerdem das neue Denken in ökosystemaren Zusammenhängen auf. Den Zielen des Naturschutzes werden der Ökosystemschutz und der Schutz der Umweltmedien Boden, Wasser, Luft und Klima hinzugefügt.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist vorbei.
Ich sehe, meine Redezeit geht zu Ende. Ich kann deshalb leider nicht mehr auf die Problematik der Nordsee eingehen, zu der wir einen besonderen Antrag vorgelegt haben.
Ich möchte nur ein letztes Wort zu dem Werra-Entsalzungsgesetz sagen, das jetzt vorgelegt worden ist. Hier hat die Koalition gezeigt, daß sie durchaus Tempo vorlegen kann. Wenn es um die Interessen der Kali und Salz AG geht, ist es möglich, innerhalb einer Woche ein Gesetz im Bundestag durchzubringen. Ich würde mir das Tempo, das Sie da im Interesse Ihrer Klientel vorlegen, zum Wohle der Allgemeinheit wünschen, wenn Sie wichtige Gesetzesvorhaben umsetzen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, mehr Sachpolitik und weniger Klientelpolitik würde unserem Land guttun.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute eine Vielzahl von Anträgen sowie Anfragen, die sich mit dem Naturschutz befassen. Das steht uns, wie es die Kollegin Mehl schon gesagt hat, am Ende des Europäischen Naturschutzjahres gut an. Ich denke, wir sind uns alle darüber einig, daß der Naturschutz in Deutschland noch weiter verbessert werden kann und weiter verbessert werden muß.
Wir sollten uns vor Augen halten, daß die Artenvielfalt in Deutschland trotz vieler Anstrengungen noch immer nicht dauerhaft gesichert ist. Wenn man sich beispielsweise die „Roten Listen" anschaut, muß man feststellen, daß etwa die Hälfte aller Wirbeltierarten in ihrem Fortbestand gefährdet sind. Etwa ein Drittel der Farn- und Blütenpflanzen müssen als gefährdet angesehen werden.
({0})
Vor allem durch die Zerstörung, Zersplitterung, Verkleinerung und Entwertung der Lebensräume wildlebender Tiere und Pflanzen wird der Artenrückgang ausgelöst.
Es ist jedoch - das will ich ganz klar sagen, vor allem auch, weil schon ein entsprechender Zwischenruf kam, bevor ich richtig begonnen habe - Aufgabe des Ländervollzugs, Naturschutzgebiete groß genug zu gestalten, sie sinnvoll zu vernetzen und vor allem auch wirksam zu schützen.
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Es geht doch schlicht an der Sache vorbei, wenn die Länder die bisher nicht vorgenommene, aber jetzt anstehende Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes für Defizite im Naturschutz verantwortlich machen. Denn die Bundesregierung bzw. der Bundestag hat im Naturschutzbereich nur eine Rahmengesetzgebungskompetenz. Im wesentlichen sind die Länder für den Vollzug, die Finanzierung und für eigene Landesgesetze des Naturschutzes zuständig.
Natürlich ist auch uns die Umsetzung der FloraFauna-Habitat-Richtlinie ein wichtiges Anliegen, ebenso wie diese Umsetzung für die Bundesregierung ein Kernpunkt bei der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes ist. Aber die Länder haben bei der Umsetzung der FFH-Richtlinie bis jetzt kläglich versagt - das muß man einfach einmal festhalten -: Sie haben bisher nicht ein einziges Schutzgebiet angemeldet. Solch ein Vorgehen bringt den Naturschutz keinen Deut weiter, sondern blockiert ihn.
Es ist daher unredlich, wenn die SPD in ihrem Antrag verlangt, daß die Bundesregierung die Liste der Schutzgebiete von gemeinschaftlichem Interesse der Europäischen Kommission vorlegen soll. Was, zum Teufel noch mal, soll die Bundesregierung vorlegen, wenn die Länder ihren Pflichten nicht nachkommen und nichts melden?
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Die SPD, die heute mit besonders vielen Anträgen aufwartet, sollte erst einmal mit dem Bundesrat - in dem sie ja die Mehrheit hat - reden. Ebenso liegt es bei den Ländern, Flächen als Vorrangflächen für den Naturschutz auszuweisen, wie SPD und Grüne das fordern. Bei der SPD sind 10 Prozent, bei den Grünen 15 Prozent gefordert.
({3})
Niemand verbietet den Ländern dies; aber sie tun nichts.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
({0})
Nein, Frau Präsidentin. Ich will jetzt einmal im Zusammenhang vortragen,
({0})
welche Defizite die Länder an dieser Stelle haben.
({1})
Wir haben das oft genug diskutiert. Ich denke, man
sollte das auch einmal im Zusammenhang ausführen.
({2})
Es ist das Recht der Kollegin, nein zu sagen.
Auch die Opposition muß zur Kenntnis nehmen, daß sich die Gesetzgebungskompetenzen geändert haben. Den Ländern wurden im Rahmen des Maastricht-Vertrages mehr Regelungskompetenzen eingeräumt. Vollregelungen des Bundes sind bei Rahmengesetzgebungsvorhaben, also auch im Naturschutz, kaum noch möglich. Daran müssen sich eben auch Ihre Gesetzentwürfe messen lassen.
Es ist zumindest intensiv zu prüfen, ob zum Beispiel bundesweite Flächenvorgaben für Naturschutz überhaupt noch zulässig sind. Ich bezweifle das. Wir werden sehen, ob sich die Länder die Forderungen von SPD und Grünen zu eigen machen oder ob Sie mit Ihren Gesetzentwürfen, die Sie hier vorlegen, wieder nur Luftschlösser gebaut haben.
({0})
Eine Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes ist notwendig; sie wird auch von der F.D.P. gefordert und unterstützt. Aber man muß die Verantwortlichkeiten klar zuweisen.
Neben der Überschreitung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes sind Ihre Gesetzentwürfe auch inhaltlich, und zwar insbesondere an zwei Punkten, für die F.D.P. nicht akzeptabel. Darauf möchte ich jetzt näher eingehen.
Erstens. Mit den zusätzlichen Genehmigungspflichten für Eingriffe schaffen Sie zusätzliche Genehmigungsverfahren, damit zusätzliche bürokratische Hürden und eine zusätzliche Zuständigkeitszersplitterung. Deutschland - das wissen wir alle - ist das Land der Genehmigungspflichten und der Behörden. Wir ersticken nahezu in Bürokratie. Deswegen muß es unsere Aufgabe sein, Genehmigungsverfahren zu konzentrieren und zu beschleunigen, anstatt neue zu erfinden.
({1})
Dazu gehört auch, daß die Opposition durch die Einvernehmensregelung den Naturschutz blockieren wird. Nutzungskonflikte können nicht durch eine Blockade, sondern nur durch Abwägung der verschiedenen, widerstreitenden Interessen gelöst werden.
({2})
Sehen Sie sich beispielsweise die Situation in Mecklenburg-Vorpommern an, wo noch unter ehemaligem DDR-Recht eine solche Situation entstanden ist. Hierzu hat das Oberverwaltungsgericht Greifswald vor kurzem klar entschieden, daß die dortige Einvernehmensregelung verfassungswidrig ist. Deswegen kann man sie nicht aufrechterhalten und auch nicht in einen Gesetzentwurf hineinschreiben. Man muß sich vorher erst einmal über die Sachlage informieren.
Zweitens fehlt in beiden Entwürfen jede Regelung für Ausgleichszahlungen für ökologische Leistungen der Landwirtschaft. Es ist richtig und findet auch unsere volle Unterstützung, daß die Landwirtschaft stärker in den Naturschutz einbezogen wird. Aber dort, wo dies zu Einnahmeverlusten führt, muß für einen gerechten Ausgleich gesorgt werden.
({3})
Die Finanzverantwortung liegt bei den Ländern. Sie von der SPD und den Grünen befürchten, von ebenjenen Ländern im Regen stehengelassen zu werden. Deshalb schweigen Sie sich in Ihren Gesetzentwürfen zu diesem Thema aus.
({4})
Die F.D.P. erachtet diese Regelung als notwendig. Sie sieht die Länder in der Pflicht. Die Bundesregierung sollte in ihrem Gesetzentwurf die Länder zur Regelung von Ausgleichsleistungen an die Landwirtschaft verpflichten.
({5})
Weil es vorhin von Ihnen, Frau Kollegin Mehl, angesprochen worden ist, möchte ich ganz deutlich sagen, daß es die F.D.P. nach wie vor für wichtig hält, die Möglichkeit des Vertragsnaturschutzes mit der Landwirtschaft zu verbessern.
({6})
- Herr Kollege, ich denke nicht, daß das notwendig sein wird.
({7})
Ich bitte um etwas mehr Ruhe. Ich habe im übrigen dafür gesorgt, daß das Mikrophon etwas lauter gestellt wird.
({0})
Nein, ich glaube nicht, Herr Kollege, daß dies etwas helfen wird. Eigentlich könnte es aber nicht schaden, wenn sie etwas zuhören würde. Aber wir haben im Ausschuß noch Gelegenheit, uns darüber zu unterhalten. Vielleicht ist es da besser.
Ich möchte an dieser Stelle zur Verbandsklage kommen. Wir sind uns, so denke ich, quer durch das Haus darin einig, daß im Bereich des Naturschutzes die Möglichkeit einer Verbandsklage eingeführt werden muß.
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Ein weiterer Komplex unserer Debatte betrifft den Meeresschutz. Auch Deutschland steht in der Verantwortung, wenn es um die Einleitung von Schadstoffen in die Meere geht, insbesondere auf Grund der beiden großen Flußläufe Rhein und Elbe, die in die Nordsee münden. Beim Rhein haben wir bereits große Erfolge im Bereich des Gewässerschutzes zu verzeichnen. Die hohe Zahl von 40 Fischarten und 127 Arten von Kleinlebewesen, die sich wieder im Rhein wohl fühlen, ist ein Zeichen für die gute Wasserqualität dieses Flusses.
Als sich die Bundesregierung - jetzt komme ich zu der Zwischenfrage: Was heißt denn wir? - verpflichtete, den Eintrag der Gefahrstoffe von 1989 bis 1995 um 50 Prozent zu verringern, haben Sie dies nicht geglaubt. 1994 war dieses Ziel allerdings erreicht. Das ist ein Erfolg des „Aktionsprogramms Rhein", das durchgeführt wurde. Die Zielvorgaben wurden größtenteils weit unterschritten. Das bestätigen auch die Trinkwasserwerke. Hierzu kann man nur ganz klar sagen: Das ist ein voller Erfolg dieser Bundesregierung.
({1})
Auch die Verbrennung und Verklappung auf See wurde eingestellt. Im Juni wurde auf der Nordseeschutzkonferenz endlich auch die Einleitung von Öl aus Schiffen in die Nordsee verboten. Insgesamt
haben wir damit eine rückläufige Schadstoffbelastung zu verzeichnen.
Ich sage aber nicht, daß das genügt. Ein zentrales Anliegen ist die Bekämpfung der Überdüngung der Nordsee. Bislang haben wir das Ziel einer 50prozentigen Reduzierung der Nährstoffeinträge nur bei Phosphor, aber noch nicht bei Stickstoff erreicht. Um dieses Ziel zu erreichen, sind neben der Düngeverordnung, die die Bundesregierung nun endlich vorgelegt hat, auch weitere Maßnahmen in der Landwirtschaft notwendig. Daher haben wir in unserem Koalitionsantrag „Verbesserung des Naturschutzes in Deutschland" unter anderem gefordert, daß sich die Bundesregierung in der EU dafür einsetzen soll, daß die bestehenden Agrarumweltprogramme der Länder fortentwickelt und dauerhaft kofinanziert werden.
({2})
Die Grünen überschreiben ihren Antrag, den sie hier eingebracht haben, schön plastisch mit „Das Meer ist keine Müllhalde". Dieser Überschrift kann man sich eigentlich vorbehaltlos anschließen.
({3})
Wir haben erst vor wenigen Monaten ein Beispiel dafür gehabt. Die Gefahr der Versenkung einer ausgedienten Ölplattform konnte abgewendet werden, und zwar durch gemeinsame Aktionen vieler Akteure, auch durch gemeinsame Erklärungen in diesem Parlament. Diese Entscheidung war und ist richtig, auch wenn sich jetzt herausstellt, daß sich Greenpeace bei den Berechnungen geirrt hat.
Man muß deutlich sagen: Diese Entscheidung war eine symbolische Entscheidung; sie war das Signal, daß der Atlantik nicht als Schrottplatz oder Sondermülldeponie mißbraucht werden darf.
({4})
Es muß der Grundsatz gelten, daß ausgediente Plattformen an Land verschrottet werden, vor allem, wenn man bedenkt, daß in den nächsten Jahren 400 weitere Ölplattformen zur Verschrottung anstehen.
({5})
Ein weiteres Problem ist die Überfischung der Meere, die in der Großen Anfrage der SPD angesprochen wird.
({6})
Überall gehen die Fischbestände zurück, an manchen Orten sogar so bedrohlich, daß schon von einer Überfischung gesprochen werden kann.
Die Bundesregierung teilt in ihrer Antwort auf diese Anfrage unter anderem mit, daß mindestens 20 Prozent der Fänge aus der Nordsee sogenannte Discards sind, das heißt Beifänge, die wieder über
Bord gespült werden. Dies zeigt, daß die Techniken der Fischerei überdacht werden müssen. Vor allem wird häufig mit viel zu engmaschigen Netzen gefischt, was zur Folge hat, daß noch nicht geschlechtsreife Fische gefangen werden, wodurch der Rückgang der Bestände forciert wird.
Indem mit immer engmaschigeren Netzen und noch effektiveren Fangmethoden gefischt wird, berauben sich die Fischer ihrer eigenen Lebensgrundlage. Es müssen neue Wege gefunden werden, um die Fischerei weiterhin zu ermöglichen, gleichzeitig aber auch den Fortbestand der Arten zu gewährleisten.
Ich sehe, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Beratungen im Ausschuß mit großem Interesse entgegen und hoffe, daß wir dem Ziel, den Naturschutz in Deutschland zu verbessern und dafür eine rahmengesetzliche Grundlage zu schaffen, in dieser Legislaturperiode nicht nur näher kommen, sondern daß wir es auch erreichen werden. Von seiten der F.D.P. werden wir hierzu jedenfalls beitragen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit einer Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes scheint 20 Jahre nach Erlaß des alten Naturschutzgesetzes Übereinstimmung zu bestehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die EG-Richtlinie Fauna-FloraHabitat bereits bis Juni 1994 in bundesdeutsches Recht hätte umgesetzt werden müssen.
Laut dieser Richtlinie soll Deutschland innerhalb des Schutzgebietsystems „Natura 2000" das Kernstück dieses europaweiten Netzes besonders geschützter Lebensräume bis zur Jahrtausendwende bereitstellen. Auch angesichts dessen ist es eine äußerst schwache Leistung der Bundesregierung, noch immer keinen eigenen Entwurf vorgelegt zu haben. Im Gegenteil: Zahlreiche von der Koalition durchgedrückte Einzelgesetze wie das Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz haben die Rechte der Natur zugunsten der Gewinne einiger Branchen eingeschränkt - und das, obwohl sich durch die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten das Gefährdungspotential für Natur und Umwelt ständig erhöht hat.
Da das existierende Bundesnaturschutzgesetz den negativen Veränderungen in keiner Weise angemessen begegnet, unterstützt die PDS ausdrücklich, daß Bündnis 90/Die Grünen und SPD die Initiative zur Novellierung an Stelle der Bundesregierung übernommen haben.
({0})
Eine Kernfrage des künftigen Naturschutzrechts ist unserer Ansicht nach, warum wir die Natur schützen wollen. Ist die natürliche Umwelt - nach dem anthropozentrischen Ansatz - vor allem Quelle für Produktion, Reproduktion und Erholung der Menschen und muß deshalb dementsprechend geschützt werden? Oder hat die Natur auch ein Eigenrecht? Akzeptieren wir neben dem Zweck der Sicherung menschlicher Lebensgrundlagen einen Schutz der Natur um ihrer selbst willen?
Die Bundestagsgruppe der PDS erkennt dieses Eigenrecht der Natur an. Was Parteien mit dem C im Namen Wahrung der Schöpfung nennen, allerdings in meiner Heimat beispielsweise beim Ausbau der Donau vielfach mit Füßen treten, ist für uns zweierlei: Zum einen haben wir gar nicht das Recht, uns über die Natur zu erheben. Die kurzfristigen ökonomischen Interessen der Wirtschaft sind es einfach nicht wert, daß in Millionen von Jahren gewachsene biologische Vielfalt innerhalb von zwei, drei Menschheitsgenerationen unwiederbringlich vernichtet wird.
Zum anderen müßte ein konsequenter anthropozentrischer Ansatz letztlich zur Akzeptanz eines Eigenrechts der Natur führen. Unser Wissen über die Wechselwirkungen innerhalb der natürlichen Umwelt wird immer begrenzt bleiben. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob ein Eingriff in die Natur langfristig für die Menschheit ohne Folgen bleiben wird. Oder umgekehrt: Welche unbekannten Substanzen gegen Krebs und andere Krankheiten mit jedem Hektar gerodeten Regenwalds für immer verlorengehen, werden wir nie erfahren.
Diese etwas abstrakte Betrachtung findet ihren konkreten Niederschlag unter anderem in der Forderung von Naturschutzverbänden nach einem gesetzlichen Vorrang der Erhaltung bestehender funktionsfähiger Naturlandschaften vor deren Gestaltung. Sie findet sich ebenfalls in den vorliegenden Gesetzentwürfen in der Streichung der Landwirtschafts- und der Abwägungsklausel. Diese im bisherigen Recht vorhandenen Klauseln sehen eine ordnungsgemäße Bodennutzung nicht als Eingriff in die Natur an. Die Schutzvorschriften für besondere Tieroder Pflanzenarten haben hier keine Anwendung.
Die Definition von Betreiberpflichten für eine umweltverträgliche land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Bodennutzung findet deshalb unsere Zustimmung. Gleiches gilt für die Weiterentwicklung der Eingriffsregelungen in den Gesetzentwürfen. Die Eingriffsvermeidung muß hier die zentrale Kategorie sein; denn die beispielsweise bei Bauvorhaben durchgeführten Ausgleichsmaßnahmen können kaum den Gesamtzusammenhang von Ökosystemen berücksichtigen.
Notwendig ist grundsätzlich eine Genehmigungspflicht von Eingriffen. Bei Verwaltungsentscheidungen im Zusammenhang mit Eingriffen in die Natur ist Einvernehmen - nicht wie bisher nur Benehmen - mit der jeweiligen Naturschutzbehörde auf gleicher Verwaltungsebene herzustellen. Insgesamt sind Eingriffe in die Natur unter der neuen Zielbestimmung Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Naturhaushalts und nicht nach der Erhaltung der Leistungsfähigkeit zu bewerten.
Eine zentrale Bedeutung für die Erhaltung von wertvollen großräumigen Natursystemen haben Biosphärenparks. Die PDS folgt hier der von Professor Succow entwickelten Theorie, die sich von dem international unverbindlich verwendeten Begriff Biosphärenreservat unterscheidet. Damit wird die neue Qualität eines in mehrere Zonen eingeteilten Natursystems, in welchem moderner Naturschutz mit umweltverträglicher und eigenständiger Regionalentwicklung verbunden wird, deutlicher. Bei der Schaffung von Biosphärenparks kann im übrigen auf vielfältige Erfahrungen aus dem Nationalparkprogramm Ostdeutschlands zurückgegriffen werden.
Grundsätzlich muß sich die Abkehr vom kleinflächigen und engräumigen Reservatsdenken zum über Biotopverbund hinausgehenden großflächigen integrierten Gebietsschutz im nationalen Recht wiederfinden.
Die Natur kann sich nicht allein verteidigen, sie braucht die Lobby kompetenter und engagierter Bürgerinnen und Bürger: Es widerspricht der Erfahrung, daß Naturschutzbelange allein von Behörden gegenüber Dritten oder gar gegenüber der eigenen Behörde konsequent verteidigt werden. Deshalb ist es längst an der Zeit, die Mitwirkungsmöglichkeiten von Verbänden auszuweiten. Sie besitzen Kompetenz und haben keine anderen Interessen als den Schutz der natürlichen Umwelt. Diese Rechte von Verbänden müssen vor allem in den ersten Phasen von Planungsprozessen gewährleistet werden.
Wenn überhaupt etwas gegen Wirtschaftsinteressen auszurichten ist, dann am ehesten hier. Die Verbandsklage, die bisher 11 von 16 Bundesländern mit guten Erfahrungen eingeführt haben, ist nur der letzte Schritt einer Ausschöpfung von demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten. Ihre Präventivwirkung stärkt aber die Stellung der Verbände im gesamten Planungsprozeß. Deshalb sollte dieses Instrument mit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz einen bundeseinheitlichen Rahmen erhalten.
Abschließend noch ein Wort zum Koalitionsantrag zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra. Es ist schon erstaunlich, daß die Koalition kein Problem hat, zur Gewährung von Abbaurechten in Thüringen für die hessische Kali und Salz den Einigungsvertrag zu ändern. Im Falle des ostdeutschen Bergrechts hat sie damit aber größte Probleme.
({1})
Hat es vielleicht damit zu tun, daß es beim ersten Fall wie bei der Schließung von Bischofferode um die Interessen westdeutscher Konzerne geht, in dem anderen Fall aber nur um die Interessen der Umwelt sowie ostdeutscher Kommunen?
Ich danke.
({2})
Jetzt hat der Abgeordnete Simon Wittmann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre sicherlich vernünftig gewesen, Frau Mehl, wenn Sie Ihren Gesetzentwurf noch etwas hätten liegen lassen, um ihn zu bearbeiten; denn dann wäre in ihm manches Verfassungswidrige nicht enthalten, dann wäre die FFH-Richtlinie hinsichtlich des Artenschutzteils umgesetzt. Dann hätten Sie die neue Artenschutzverordnung gleich mitberücksichtigen können. Dann hätten wir wohl eine bessere Diskussionsgrundlage gehabt.
({0})
Ich bin überzeugt, daß wir im nächsten Jahr über einen wesentlich besseren Entwurf sprechen können, den Frau Merkel entsprechend vorlegen wird.
({1})
- Nein, ich werde einiges dazu sagen. Wir haben das Ganze im groben schon stehen, und Frau Merkel will selber etwas dazu sagen. Ich glaube, wir sind ziemlich weit.
({2})
Ich wäre heute fast geneigt gewesen, meine Übereinstimmung mit Frau Homburger zum Ausdruck zu bringen. Leider hat sie mit der Verbandsklage begonnen. Deshalb muß ich diese Übereinstimmung etwas relativieren, werde dazu aber später etwas sagen.
({3})
Lassen Sie mich mit etwas beginnen, was, glaube ich, Erwähnung im Deutschen Bundestag verdient. Ich darf dem Freistaat Bayern gratulieren, der in diesen Tagen seit 25 Jahren ein Umweltministerium hat.
({4})
Das ist ein Beispiel dafür, was Länder in dem Bereich tun können.
({5})
- Wir werden den Donauausbau so gestalten, daß er naturverträglich ist.
({6})
Dazu braucht man mit Sicherheit nicht diejenigen, die in Mitteldeutschland in Teilbereichen eine Umweltkatastrophe hinterlassen haben. Wir werden den Ausbau vielmehr in Abwägung von ökonomischen und ökologischen Interessen gestalten. Sie sind zwar aus Bayern, Frau Bulling-Schröter - ist ein Stück Schande, daß Sie aus Bayern sind -, aber Sie
gehören zu der Gruppe, die dort drüben für manches die Verantwortung trägt.
Meine Damen und Herren, 25 Jahre Umwelt- und Naturschutz in Bayern: Das Umweltministerium ist gerade deswegen geschaffen worden, weil aus der Zielsetzung heraus, Bayern vom Agrar- zum Industriestaat zu machen, die damalige Staatsregierung der Überzeugung war, daß wir ein zusätzliches Instrumentarium brauchen, um die Interessenkollisionen, den Abwägungsprozeß besser in den Griff zu bekommen.
Ich stehe in einem kleinen Widerspruch zur Frau Kollegin Glücklich. Wir brauchen natürlich eine Verankerung des Naturschutzes auch in anderen Gesetzen. Umweltschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Aber wir brauchen vor allem ein eigenständiges Naturschutzgesetz, mit dem letztlich eine umfassende Darstellung der Ziele möglich ist. Das ist eigentlich kein Widerspruch, sondern nur eine Ergänzung zur Frau Kollegin Glücklich.
Der Entwurf des Naturschutzgesetzes wird kommen.
({7})
Ich darf aber ein paar Dinge klären. Das Naturschutzgesetz von 1976 und die Novelle von 1986 haben allen Unkenrufen zum Trotz Erhebliches geleistet. Man muß sehen, daß der konservierende Naturschutz bis zu diesem Zeitpunkt in Reservaten Dominanz gehabt hat und daß man mit diesem Naturschutzgesetz sowie der Novelle erstmals dafür gesorgt hat, alle Bereiche, also bebaut und unbebaut, umfassend zu berücksichtigen.
Ich glaube, daß es nicht sinnvoll ist, in kurzen Abständen zu novellieren. Es war sinnvoll, die ersten zehn Jahre bis 1986 mit einer Novelle zu warten. Das gleiche gilt für die zweiten zehn Jahre bis 1996, weil man im Naturschutz, vor allem dort, ein Stück Rechtssicherheit braucht.
({8})
Wenn Sie die Dinge draußen genau anschauen, dann wissen Sie, daß heute manches von dem, was wir beklagen, ein Vollzugsproblem ist, weil man auf der unteren Verwaltungsebene noch keine Möglichkeiten gefunden hat, es entsprechend zu vollziehen, und weil natürlich auch die Widerstände da sind.
({9})
Die Novelle ist jetzt nach wieder genau zehn Jahren notwendig. Deshalb werden wir sie auch 1996 machen.
({10})
Uns sind aber auch Grenzen gesetzt - das kritisiere
ich an den Entwürfen sowohl von den Grünen als
auch von der SPD -: Wir können keinen WarenhausSimon Wittmann ({11})
katalog in das Gesetz hineinschreiben, weil das nicht unsere Zuständigkeit ist.
({12})
Wir haben hier eine Leitlinienkompetenz, eine Rahmenkompetenz. Die haben wir sogar durch die Verfassungsänderung im Oktober 1994 noch eingeschränkt. Das heißt, dieses Gesetz können nur die Bundesländer mit Fleisch füllen. Das konnten sie übrigens auch bisher schon. Es gibt ja Beispiele dafür, was getan wurde. Ich habe in meiner letzten Rede hier dazu Beispiele aus Bayern gebracht.
Mich stört an Ihren Gesetzentwürfen das eine oder andere natürlich ganz gewaltig. Sie haben zum Beispiel aus dem alten Entwurf der SPD die ökozentrische Zielsetzung abgeschrieben. Die ist nicht vereinbar mit unserem Menschenbild und auch nicht mit der Staatszielbestimmung im Grundgesetz.
({13})
- Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt der Politik, Herr Sielaff.
Wir brauchen die von Frau Homburger schon angesprochene Abwägung. Dabei werden wir die sittliche Verpflichtung
({14})
und die Verantwortung, sich für die Natur einzusetzen, in Zukunft stärker betonen.
Ich halte es für höchst bedauerlich - Herr Sielaff wird sicher noch darauf eingehen, weil er sich jetzt schon durch Zwischenrufe bemerkbar macht -, daß die SPD mit Rücksicht auf die von ihr regierten Bundesländer nicht bereit war, den Entschädigungsanspruch für die Landwirte in das Gesetz aufzunehmen.
({15})
Ich habe vor kurzem schon einmal gesagt: Wenn wir im Naturschutz etwas bewegen wollen, brauchen wir eine Versöhnung von Landwirtschaft und Naturschutz.
({16}) Diese Versöhnung ist nicht möglich,
({17})
wenn wir mit der quasi schleichenden Enteignung oder Teilenteignung Eingriffe in das Eigentum der Bauern vornehmen und letztlich nicht bereit sind, eine verläßliche Entschädigungsregelung vorzusehen.
({18})
- Wir haben ein gutes Landwirtschaftsministerium.
Herr Kiechle hat - auch das haben Sie anscheinend
nie kapiert - mit seiner EU-Agrarreform eines der größten Naturschutzprogramme auf den Weg gebracht; denn er hat mit den Ausgleichszahlungen und der Reduzierung der Preise, also mit diesem Mischsystem dafür gesorgt, daß es sich für den Landwirt in den meisten Fällen lohnt, nicht in die Produktion zu gehen. Das sollte man auch einmal berücksichtigen. Da ist eine ganze Menge passiert.
Wenn Sie sich auf den Landwirtschaftsminister beziehen: Warum schreiben Sie dann Betreiberregelungen in Ihr Naturschutzgesetz? Die gehören in den Bereich der Landwirtschaft. Das wird in den einzelnen Fachgesetzen entsprechend bearbeitet. Das gehört nicht in ein Naturschutzgesetz, das Sie einfach auffüllen mußten, um einer bestimmten Klientel gerecht zu werden. Ich glaube, so kann man kein Naturschutzgesetz vernünftig und ehrlich auf den Weg bringen.
({19})
Für uns muß ein neues Naturschutzgesetz - damit Sie das auch noch hören, darf ich ein paar Punkte ansprechen - vor allem folgende Aspekte enthalten: erstens natürlich die vollständige Umsetzung des EG-Rechts. Dazu zählen insbesondere die FFH- Richtlinie, auch im Artenschutzteil
({20})
- das wird kommen -, und die in Kürze zu erwartende EG-Artenschutzverordnung. Auch die gehört dazu, wenn wir nächstes Jahr dieses Gesetz machen.
({21})
Weiter muß das Gesetz eine Regelung des Ausgleichs von Wirtschaftsbeschränkungen der Land- und Forstwirtschaft enthalten. Das ist natürlich in erster Linie Sache der Länder. Die Länder haben die Kompetenz. Deshalb sind sie auch zu Ausgleichszahlungen heranzuziehen. Wir haben ja den Finanzausgleich Bund/Länder. Dort sind ja die Aspekte der eigenen Finanzierung solcher Programme bereits berücksichtigt. Sie können sicher sein: An Bayern wird es nicht scheitern, sondern an anderen Bundesländern wird es scheitern, wenn es um diese Ausgleichsregelung im Bundesrat geht.
Die Verankerung des Vertragsnaturschutzes im Bundesrecht - auch hier eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Frau Homburger - ist etwas, was Vertrauen herstellen kann, wo man auch an die Problematik heranführen kann, wo man natürlich das Know-how, das die Landwirtschaft besitzt, ganz gezielt für den Naturschutz und für den Umgang mit der Natur nutzen kann.
Wir sind natürlich ebenfalls für die Einführung des Biosphärenreservats als eigene Schutzkategorie. Das ist im Entwurf der SPD auch enthalten.
({22})
Simon Wittmann ({23})
- Entschuldigung, ich muß gestehen, ich habe Ihren Entwurf nur überflogen, weil er in letzter Minute gekommen ist,
({24})
weil die Grünen noch schnell draufsatteln wollten, um ja nicht zu spät zu kommen, um die Diskussionen mit führen zu können. Gescheiter wäre es gewesen, wenn wir vier Wochen gewartet hätten; dann hätten wir eine kluge Vorlage gehabt und vernünftig diskutieren können.
Ich hoffe, daß die Frau Ministerin in ihren Entwurf auch eine medienübergreifende und fortlaufende ökologische Umweltbeobachtung aufnimmt. Es ist ganz wichtig, den ganzen Bereich einzubeziehen. Er gehört heute auch zum Naturschutz.
Wir brauchen auch eine vollzugsfreundlichere Gestaltung des Artenschutzes. Vor allem die Eingriffsregelung mit zig Bescheinigungen und all dem Hin und Her ist nach meiner Überzeugung ein Problem, wodurch letztlich nicht die Arten geschützt werden, sondern ein riesiger bürokratischer Aufwand betrieben wird und sich mancher eigentlich nur schikaniert fühlt, wodurch letztlich also nichts erreicht wird.
Wir müssen das Gesetzeswerk natürlich insgesamt überprüfen auf die Planungsbeschleunigung, die Genehmigungsbeschleunigung und den Wirtschaftsstandort Deutschland. Diese Punkte spielen sicher eine Rolle. Das heißt nicht, daß wir damit den Schutz verringern müssen, aber wir müssen das Gesetz durchforsten, um auch hier sinnvolle und praktikable Regelungen zu finden.
Wir müssen auf eine Verbandsklage verzichten, liebe Frau Homburger, Da stehe ich wahrscheinlich im Widerspruch zu allen.
({25})
Aber wir werden sie nicht zulassen, weil sie nicht notwendig ist. Wenn es andere Bundesländer wollen, wir in Bayern wollen es nicht.
({26})
Wir stimmen der Verbandsklage nicht zu, weil sie nichts Zusätzliches bringt, weil es keinen Grund gibt, Umweltverbänden Sonderrechte einzuräumen, die andere Verbände nicht haben. Wir geben den Verbänden in Bayern mit einer starken Verbandsbeteiligung bereits im Vorfeld die Möglichkeit, sich entsprechend einzuschalten. Letztlich sind wir in Bayern gegen die Verbandsklage, weil wir eine Umweltbehörde haben, die besser ist als alle Verbände. Deshalb brauchen wir sie nicht und werden ihr auch nicht zustimmen.
({27})
Meine Damen und Herren, ich gehe davon aus, daß wir im nächsten Jahr einen Gesetzentwurf beraten und die anderen Entwürfe dann vergessen, einen Gesetzentwurf, der unsere Natur, unsere Landschaft, unsere Arten und schließlich die Lebensgrundlage der Menschen sichert und in den nächsten Jahren verbessert. Wir werden dafür sorgen, daß gerade unsere Verantwortung für zukünftige Generationen in diesem Bereich wahrgenommen wird.
Ich bedanke mich.
({28})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Sielaff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Naturschutz und Landwirtschaft sind existentiell aufeinander angewiesen.
({0})
Sie sind von Natur aus keine Gegner. Eine Vielzahl der erhaltenswerten Ökosysteme ist durch landwirtschaftliche Nutzung entstanden und daher auf ihren Fortbestand angewiesen. Die Landwirtschaft hat also eine besondere Verantwortung.
Falsche Rahmenbedingungen, Unwissenheit und eine teilweise gefährlich verengte Ideologie haben die Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten zum Mitschuldigen an Umweltschäden gemacht - leider, Herr Hornung. Die Bereitschaft zum Umdenken und zur Übernahme der Verantwortung ist aber da. Dafür brauchen wir allerdings eine Politik, die dieser besonderen Verantwortung gerecht wird.
({1})
Bewertet man sowohl die aktuelle Agrar- als auch die Naturschutzpolitik im Hinblick auf ihre Hauptziele, so müssen beide aus sozioökonomischer als auch ökologischer Sicht aus folgenden Gründen als völlig ineffizient bezeichnet werden.
Erstens. Die landwirtschaftlichen Einkommen und die Lebensqualität im ländlichen Raum sinken, weil kulturelle und infrastrukturelle Angebote hier seit Jahren auf dem Rückzug sind.
Zweitens. Das Versorgungsziel ist zwar bei fast allen landwirtschaftlichen Produkten übererfüllt, trotzdem besteht eine hohe Abhängigkeit von Rohstoff-, Energie- und Futtermittelimporten.
Drittens. Obwohl ein Umdenken vielerorts eingesetzt hat,
({2})
schreitet die Schädigung unserer Lebensgrundlagen in vielen Bereichen fort. In der Landwirtschaft ging im Zusammenhang mit der EU-Agrarreform von 1992 die Anbauintensität zurück und damit auch der Aufwand an Dünger und Pflanzenschutz. Herr Minister Borchert und der Deutsche Bauernverband ziehen ja seitdem durch das Land und verkünden je nach Tagesform Rückgänge bei Stickstoff und Phosphor von zwischen 30 und 60 Prozent.
({3})
Diese Entwicklung ist allerdings schon wieder rückläufig; der Düngerverbrauch ist leider wieder angestiegen.
Viertens. Heute sind dank erster Erfolge der EU- Agrarreform die Interventions- und Lagerbestände bei Rindfleisch, Butter und Getreide nahezu erschöpft. Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, daß in den vergangenen Jahren als Folge der Überschußproduktion Exporterstattungen in Milliardenhöhe gezahlt wurden. Das hatte nicht nur schlimme Folgen für die hiesigen Agrarmärkte, sondern erst recht für die vieler Entwicklungsländer.
Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist eine integrierte Agrar- und Naturschutzpolitik. Es muß mit der Einteilung in Schutz- und Schmutzgebiete und mit einem Naturschutz „unter der Käseglocke" auf einem oder zwei bis drei Prozent der Staatsfläche Schluß sein.
({4})
Das Leitbild einer modernen, der Zukunft zugewandten Agrarpolitik muß der umweltverträgliche und bodenabhängig wirtschaftende Betrieb sein, der seine Tiere artgerecht hält. Die Ökologisierung der Landbewirtschaftung ist ein fester Bestandteil sozialdemokratischer Agrarpolitik.
({5})
Voraussetzung für eine solche integrierte Politik ist: Wir müssen Rahmenbedingungen für landwirtschaftliche Betriebe schaffen, damit die auch unter den meisten Landwirten völlig unstrittigen Erfordernisse des Naturschutzes mit den ökonomischen Zielen des einzelnen Bauern in Einklang gebracht werden können.
({6})
Der Landwirt muß darüber hinaus aus eigenem Interesse umweltverträglicher wirtschaften; denn sonst hat er keine Zukunft.
({7})
Anreizorientierte Strategien verschiedener Umwelt- und Naturschutzprogramme haben es möglich gemacht, naturschützerische Ziele relativ konfliktfrei auf landwirtschaftlichen Flächen umzusetzen. Der rote Faden, der sich in Zukunft durch die gesamte landwirtschaftliche Förderungspolitik ziehen muß, sollte heißen: Geld gegen ökologische Leistungen, die über die sogenannte gute fachliche Praxis hinausgehen. Da, meine Damen und Herren auch der Regierungskoalition, sind wir eindeutig für Ausgleich und Förderung der Landwirte.
({8})
Die Forderung „Geld gegen Leistung" sollte zum Beispiel auch für die sogenannten flankierenden Maßnahmen gelten, die im Zuge der EU-Agrarreform beschlossen wurden. Die Bundesregierung ist mit dem hehren Anspruch angetreten, sich - so steht es jedenfalls in den vollmundigen Broschüren - an „konkreten Umweltzielen" zu orientieren. Da diese flankierenden Maßnahmen allerdings finanziell miserabel ausgestattet sind, können sie nur die ökologischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen des sich verschärfenden Strukturwandels abmildern. Ein einziges einsames Prozent aller Mittel dieses Programms sind für umweltrelevante Maßnahmen vorgesehen - ein ökologisches Feigenblatt, leider nicht mehr!
({9})
In diesem Zusammenhang muß allerdings auch die Auswahl der Förderkriterien in den verschiedenen Bundesländern kritisiert werden. Es kann einfach nicht angehen, daß ein Landwirt, der nach den Kriterien des ökologischen Landbaus wirtschaftet, als Förderprämie nur 50 DM bis 100 DM mehr erhält als jemand, der sich am sogenannten integrierten Landbau orientiert, im Grunde also nur das betreibt, was heute bereits gute fachliche Praxis sein sollte.
Der integrierte Anbau wurde vom Berufsstand und auch von einigen industriellen Verbänden mit großem Getöse nach vorne gepuscht.
({10})
Er ist aber weitgehend zu unverbindlich, um einen wirklichen Qualitätsmaßstab darzustellen. In dieser Einschätzung, meine Herren von der F.D.P.
({11})
- der Zwischenruf kam von einem Herrn -, stimme ich mit der Landwirtschaftskammer Rheinland überein. Der integrierte Anbau ist ein guter Einstieg, kann aber in der heutigen Form nicht schon das Ziel sein.
({12})
Was wir wollen, ist eine umweltverträgliche Landwirtschaft auf der gesamten bewirtschafteten Fläche.
Meine Damen und Herren, ökologische und soziale Kriterien müssen gerade angesichts der Osterweiterung der EU und der stärkeren Öffnung des Agrarmarktes für andere Länder fester Bestandteil der Agrarpolitik werden; das spielte heute vormittag in der Diskussion über die EU-Politik eine Rolle.
Nur so können die weitere Zerstörung von Lebensräumen für Menschen, Tiere und Pflanzen und die Freisetzung von klimarelevanten Gasen in größerem Umfang als unbedingt nötig vermieden werden. Nur so kann auf landwirtschaftlichen Flächen entscheidend zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beigetragen werden. Nur so kann die Konzentration der Bewirtschaftung in begünstigten Regionen und die gleichzeitige Aufgabe von immer mehr Betrieben in den benachteiligten Regionen, verbunden mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und Lebensqualität, verhindert werden.
Mit uns wird es keine intensiven Agrarinseln auf bevorzugten Flächen, wie es manchmal diskutiert wird, geben;
({13})
denn nur so, meine Damen und Herren, kann der Gedanke einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft, die der Garant für eine sinnvolle Balance von Nährstoffzufuhr und Nährstoffabfuhr innerhalb eines Betriebes und einer Region ist, Wirklichkeit werden.
Es hat bereits verschiedene vielversprechende Versuche gegeben, das Miteinander von Landwirten, Naturschützern, Wissenschaft und Politik herzustellen. Einer dieser Versuche kommt aus RheinlandPfalz.
({14})
Es handelt sich hierbei um die sogenannten Mainzer Thesen, die noch zu Zeiten des Ministers Karl Schneider, zusammen mit Klaudia Martini als Umweltministerin, entstanden sind. Sie enthalten, wie ich meine, sowohl die richtige Situationsanalyse als auch die passenden Handlungsempfehlungen.
({15})
Manches war sicherlich noch nicht ausdiskutiert. Der Ansatz aber war verdienstvoll und richtig.
Herr Heinrich, Ihr Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium Rheinland-Pfalz, Herr Eymael,
({16})
hat gesagt, er wolle die jetzige Agrarpolitik auf Basis dieser Thesen fortführen.
({17})
Wir warten darauf, daß dies sichtbar wird, meine Damen und Herren.
({18})
Leider haben die Landwirte auf diese Vorschläge eher panisch reagiert und sich von ihren teilweise rückwärtsgewandten Verbandsvertretern schrecken lassen. Unser Vorschlag zur Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes - das hat Frau Mehl deutlich gesagt - bezieht die Landwirtschaft mit ein und ist nicht gegen sie gerichtet.
Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend noch einige Bemerkungen zu dem machen, was hier gesagt wurde. Zunächst zu dem Beitrag von Frau Glücklich. Vielleicht springen wir zu kurz, Frau Glücklich, aber wir springen wenigstens und machen klare Aussagen.
({19})
Ich erinnere daran, wie sich in den letzten Jahren das Umwelt- und das Agrarministerium in der Frage des Schutzes unserer Natur gegenseitig blockiert haben und nichts zustande brachten.
({20})
Außer den Ankündigungen seit 9 Jahren haben wir nichts Konkretes auf den Tisch bekommen.
Meine Damen und Herren, es ist doch bezeichnend, wenn ich auf die Regierungsbank schaue und sehe, daß vom Agrarministerium heute niemand in dieser, wie ich meine, auch für die Landwirtschaft wichtigen Debatte anwesend ist.
({21})
Man kommt zu dem Eindruck, daß das Agrarministerium wiederum die Politik des leeren Stuhles praktiziert.
({22})
Da sieht man, Frau Umweltministerin, welchen Stellenwert der Agrarminister Ihrer Arbeit zumißt. Hier wird deutlich, daß Herr Borchert für das Klientel Landwirtschaft zuständig ist und dort das erzählt, was man hören möchte, und die Umweltministerin für die Umweltverbände zuständig ist und dort erzählt, was man dort hören will.
({23})
Aber ein gemeinsames Programm der Regierungskoalition liegt bis jetzt nicht vor. Wir sind gespannt, wie es weitergeht mit den Ankündigungen, die heute wieder gemacht worden sind. Dies ist leider ein Armutszeugnis für die Regierungskoalition.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Auf einen Einwurf von mir hat der Abgeordnete Simon Wittmann behauptet, daß ich eine Schande für Bayern sei.
({0})
- Der Abgeordnete der CSU, Simon Wittmann. Ich habe den Eindruck, daß hier Vertreter der bayrischen Staatspartei wiederum Andersdenkende denunzieren wollen, wie es bei uns in Bayern immer üblich ist, wo schon Franz Josef Strauß Andersdenkende als Ratten und Schmeißfliegen bezeichnet hat. Ich verwehre mich dagegen.
({1})
Zweitens hat er behauptet, daß ich für fünfzig Jahre Umweltverschmutzung in Mitteldeutschland zuständig sei. Ich bin leider noch keine fünfzig Jahre alt und bin auch nicht in Mitteldeutschland aufgewachsen, sondern ich wohne in Südbayern, bin dort geboren, setze mich sehr aktiv für den Umweltschutz ein, zum Beispiel in Wackersdorf und jetzt auch in Gundremmingen.
({2})
Herr Abgeordneter Wittmann, wollen Sie antworten? - Bitte.
Ich habe eigentlich nichts zurückzunehmen. Ich habe bloß eines zu ergänzen. Wenn ich für fünfzig Jahre CSU-Politik in Bayern verantwortlich gemacht werde, weil ich CSU-Mitglied bin, dann sind Sie als PDS-Mitglied natürlich auch für das verantwortlich, was die Partei in den letzten fünfzig Jahren gemacht hat. Es ist ganz klar: Mitgefangen, mitgehangen, auch in der Verantwortung.
Das Wort hat jetzt die Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Angela Merkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist sicher richtig, daß wir eine umfassende Naturschutzstrategie brauchen und daß wir uns vom Reservatsdenken verabschieden. Dies ist eine Erkenntnis, die spätestens seit Rio und seit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung auch deutliche Auswirkungen auf den Umweltschutz hatte. Darüber brauchen wir in diesem Hause nicht zu streiten. Es gibt inzwischen Strategien eines abgestuften Naturschutzes, keine Konzentrierung mehr auf die reinen Naturschutzgebiete. Das Europäische Naturschutzjahr ist auch Ausdruck genau dieses Denkens, denn dieses Europäische Naturschutzjahr hat den Naturschutz außerhalb ausgewiesener Schutzgebiete zum Ziel. Ich glaube, das ist genau das, was sich in den 25 Jahren verändert hat. Hier sind wir uns einig.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei dem Nationalkomitee bedanken, das das Europäische Naturschutzjahr in unserem Lande mit viel Engagement begleitet hat, bei all denen, die sich an dem Wettbewerb um Projekte des Monats beteiligt haben, auch beim Bundespräsidenten, der die Schirmherrschaft für dieses Naturschutzjahr übernommen hatte, und dafür, daß alle dazu beigetragen haben, daß dies eine Initiative war, die in unserem Lande Auswirkungen hat. Wir sind uns nicht mehr ganz so einig, wenn es um den einfachen Satz geht: Natur und Landschaft müssen um ihrer selbst Willen geschützt werden, wie es die Grünen heute gesagt haben.
Und im nachhinein kommt dann die Bemerkung: Das geht nicht gegen den Menschen, sondern das geht nur mit den Menschen. Wir müssen uns darüber klar sein, daß sich genau hier die Musik abspielt, um die es geht und .um die wir ringen. Da ist die Frage: Was ist nachhaltige Entwicklung? Daß eben nicht gegen den Menschen, sondern nur mit den Menschen entschieden werden kann, und hierüber wird diskutiert. Hierüber wird zwischen Naturschützern und Landwirten diskutiert. Hierüber wird zwischen Naturschützern und denen, die in Siedlungsgebieten agieren, diskutiert. Und hierüber wird ganz besonders in den neuen Bundesländern diskutiert.
Deshalb, Frau Mehl, möchte ich ganz gern auf Rügen eingehen, denn dies ist mein Wahlkreis, und dort leben 80 000 Menschen. Ich persönlich bin in vollem Einvernehmen damit, daß auf dieser Insel mit diesen 80 000 Menschen heute bereits 46 Prozent der Fläche unter Landschafts- und Naturschutz gestellt sind. Daran kann sich manches Gebiet in der alten Bundesrepublik ein Beispiel nehmen. Ich bin auch der Auffassung, daß diese Insel ein gutes Gebiet ist, um einen Naturpark daraus zu machen. Ich bin auch dafür, daß wesentliche Teile des Gebiets dieser Insel unter Landschafts- und Naturschutz gestellt werden sollen, wie es ein Naturpark verlangt. Das spielt sich eben zwischen 60 und 100 Prozent ab. Genau da liegt wiederum die Frage: Was wollen wir für die 80 000 Menschen an wirtschaftlicher Entwicklung? Was wollen wir an Naturbewahrung? Und wie bringen wir das in Einklang?
({0})
Liebe Frau Mehl, ich bin zum Beispiel nicht der Meinung, daß sich die Leute auf Rügen, wo es mit Arbeitsplätzen sowieso schon schwierig ist, eine Verordnung geben lassen müssen, nach der ihnen auch verboten ist, Weihnachtsbäume außerhalb schon bestehender Waldgebiete anzupflanzen. Dänemark hat damit hervorragende Ergebnisse erzielt. Genau dieses Verbot stand in der Verordnung und noch viele andere Sachen, die ich jetzt hier nicht alle aufführen möchte. Genau darüber ist es zum Konflikt gekommen, nicht über die Frage, ob Rügen Naturpark wird, und nicht über die Frage, ob man dort nicht noch mehr Gebiete unter Landschafts- und Naturschutz stellen kann.
Ich sage dies hier so deutlich, weil genau hierüber der Streit entbrennt. Dazu muß ich sagen: Natürlich wollen wir die Menschen für den Naturschutz gewinnen. Man muß sehen, daß viele Menschen heute ihr Geld in der Natur verdienen, zum Beispiel die Landwirte, zum Beispiel die Forstwirte, zum Beispiel auch die Fischer. Warum eigentlich haben diese Menschen kein Recht auf Ausgleich, wenn wir hier einen besonderen Schutz schaffen wollen?
({1})
- Doch, ich habe sehr genau gehört, daß Sie eine relativ stringente Haltung gegen zu viele Ausgleichszahlungen haben, weil Sie fürchten, daß auch Sie es im politischen Kampf in ihren Ländern, wo Sie die Möglichkeiten dazu haben, nicht schaffen, aus Ihrer Sicht ausreichend Geld zu bekommen, um diese Ausgleichsmaßnahmen zu bezahlen!
({2})
Das sehe ich nun auch nicht ein, denn wir haben hervorragende Ausgleichszahlungen in allen anderen Bereichen, in denen in das Eigentum eingegriffen wird. Natürlich gilt auch für die Landwirte die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, ebenso für die Forstwirte und die Fischer. Das aber an dieser Stelle nun überzustrapazieren, weil wir als diejenigen, die sich für Naturschutz interessieren, uns an vielen Stellen nicht hinreichend durchsetzen können, kann ich nicht verstehen. Es gibt viele Bereiche in unserer Gesellschaft, für die andauernd Geld ausgegeben
wird. Deshalb müssen wir gemeinsam dafür kämpfen, daß dies möglich sein wird.
({3})
- Darüber, das will ich jetzt einmal festhalten, freue ich mich!
Herr Sielaff, nun will ich gleich anfügen: Ich war auf dem Deutschen Bauerntag und habe mit den Bauern gesprochen. Ich bin dort nicht gerade überfreundlich empfangen worden. Und als ich dann wieder weg war, waren sie vielleicht auch noch mißtrauisch, sicherlich aber ein bißchen weniger, denn wir haben uns gut gestritten und gut unterhalten. Herr Borchert spricht auch mit den Naturschutzverbänden. Auch ich sage den Naturschutzverbänden nichts anderes. Die Naturschutzverbände werden Ihnen sagen, daß ihre Stellungnahmen nach meinem Gespräch mit ihnen über das, was ich gesagt habe, so euphorisch nicht sind. Also sowohl bei den Bauern als auch bei den Naturschutzverbänden sage ich schon dasselbe. Es hat ja auch gar keinen Sinn, hier davon abzuweichen.
({4})
Auch hier sind ausreichend Mitglieder des Landwirtschaftsausschusses und des Umweltausschusses; da habe ich überhaupt keinen Zweifel.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat zur Zweiten Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens über die biologische Vielfalt einen sehr umfassenden Bericht über die Naturschutzpolitik in Deutschland vorgelegt. Wir waren das erste Land, das sich zu dieser internationalen Vertragsstaatenkonferenz mit einem nationalen Bericht gemeldet hat. Man kann ihn kritisieren, aber wir haben ihn vorgelegt und waren damit auch Schrittmacher für andere Länder.
Wir haben in den letzten Jahren Erhebliches erreicht; das wird wohl niemand bestreiten. Ich denke, die Magdeburger Erklärung der letzten Umweltministerkonferenz zwischen Bund, Ländern und Umweltverbänden war ein neuer Schritt zu mehr Gemeinsamkeit, zur Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Politik und Naturschutz.
Wir haben eine Situation, in der Wirtschaftswachstum immer noch mit zunehmendem Flächenverbrauch einhergeht. Ich denke, dies darf keine Dauererscheinung werden. Wir haben es geschafft, den Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln. Wir müssen es auch schaffen, den Flächenverbrauch vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln.
({5})
Wir müssen das gemeinsam mit den Ländern schaffen; denn im Naturschutz ist es schon so, daß wir die Zuständigkeiten sehr klar beachten müssen.
In Ihrer Novelle schauen Sie sich überhaupt nicht an, welche Rechtslage zwischen Bund und Ländern besteht. Ich weiß nicht, ob Sie sich einmal mit der Änderung des Art. 75 des Grundgesetzes befaßt haben. Es war der ausdrückliche Wunsch aller Länder, auch der SPD-Länder, dem Bund weniger Kompetenzen in seiner Rahmengesetzgebung zu geben. Sie können eben heute nur noch mühevoll bestimmte Ausgleichsregelungen oder bestimmte Vollregelungen machen, und damit steigt notgedrungen, ob man das will oder nicht, die Verantwortung der Länder für bestimmte politische Regelungsbereiche.
Der Bund wird seiner Verantwortung bei der Rahmengesetzgebungskompetenz nachkommen. Ich lege mich hier nicht auf Wochen fest. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir mit Hochdruck an einer solcher Regelung zum Bundesnaturschutzgesetz arbeiten. Wenn Sie etwas gewartet hätten, hätten wir vielleicht eine gemeinsame Debatte führen können.
Ich möchte noch zur sogenannten FFH-Richtlinie ganz klar sagen, daß die Länder natürlich FFHSchutzgebiete ausweisen können. Die Länder haben es nicht gemacht. Ihnen sind damit Life-Mittel verlorengegangen, Mittel für den Naturschutz. Es tut mir in der Seele leid, daß dies so ist und die Länder nur aus einer Blockadehaltung heraus gehandelt haben. Ich glaube, die Länder sollten noch einmal darüber nachdenken, ob das richtig ist.
({6})
Das EG-Recht führt zu einer Verbesserung des Naturschutzes. Das ist sowohl über die FFH-Richtlinie der Fall als auch über die neue Artenschutzverordnung. Allerdings muß man sagen, daß Sie die EGArtenschutzverordnung nicht richtig umsetzen. Frau Mehl, das kann man noch entschuldigen, weil Sie vielleicht den Text noch nicht so genau kennen. Aber wir staunen schon, daß die Nichtberücksichtigung der Artenschutzbestimmungen der FFH-Richtlinie in Ihrem Gesetzentwurf so ist, wie sie ist. Das müßte Ihnen doch eigentlich bekannt sein, was dabei notwendig ist. Wir sind der Meinung, daß klare und eindeutige bundesrechtliche Vorgaben fehlen, die nach der Umsetzung in Gesetzentwürfen, übrigens auch in dem der Grünen, enthalten sein müßten.
({7})
Darüber hinaus - darüber können wir noch detailliert diskutieren - halten beide Entwürfe an den EGrechtswidrigen Ein- und Ausfuhrvorschriften für geschützte Tiere fest. Sie wissen, daß wir uns insoweit nicht haben durchsetzen können. Deshalb denke ich, daß auch Sie wissen, daß das mit dem Binnenmarkt nicht vereinbar ist. Das, finde ich, sollte in den Entwürfen doch berücksichtigt werden.
({8})
Es gibt auch eine Reihe von Unklarheiten in Ihren Gesetzentwürfen, die eine sichere Rechtsanbindung unmöglich machen. Wir wissen zum Beispiel gar nicht: Was ist unter dem neuen Begriff der Regeln umweltschonender Land- und Forstwirtschaft zu verstehen? Wir sollten vielmehr versuchen, auf einem schon bestehenden klaren Begriff, nämlich dem der guten fachlichen Praxis, aufzubauen und
die gute fachliche Praxis dann durch Umweltgesichtspunkte Schritt für Schritt zu erweitern und dort miteinzuarbeiten; denn das scheint mir das viel bessere Vorgehen, als wenn wir jetzt einen neuen Begriff finden, der in der Landwirtschaft bis jetzt überhaupt keine Akzeptanz findet, und mit dem dann als unbestimmter Rechtsbegriff argumentieren, der überhaupt nicht durchzusetzen ist.
({9})
Nun will ich sagen, daß es natürlich auch eine Reihe von positiven Ansätzen aus unserer Sicht gibt. Die Einführung der Schutzkategorie „Biosphärenreservat" unterstütze ich nachdrücklich. Ich denke, daß dies ein modernes und abgestuftes Naturschutzkonzept ist. Ich sage auch, daß wir die Umsetzung der Biotopschutzvorschriften der FFH-Richtlinie vernünftig und richtig finden.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, daß ich glaube, daß wir ein starkes und eigenständiges Naturschutzgesetz brauchen
({10})
und daß wir nicht zu viele Regelungen in andere Bereiche hineingeben dürfen. Frau Glücklich hat vom Baubereich gesprochen. Man könnte auch sagen, auch die Landwirte hätten gerne manches anders in der Eingriffsregelung. Das würde aber dann wieder zu einem Zerfasern des Naturschutzgesetzes führen, was ich und auch viele andere nicht für richtig halten.
({11})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch kurz etwas zu der Waffenerprobung im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer sagen. Seit 1969 wird dort im Bereich der Meldorfer *) Bucht im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer - ({12}) Bucht!)
- Ich war noch nicht dort. Deshalb sollte ich das vielleicht einmal machen. Dann weiß ich auch, wie das ausgesprochen wird.
({13})
Die meisten Menschen sagen auch Stral sund, und es heißt Stralsund. Nun sage ich Meldorfer **) Bucht im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.
Dort wird eine Fläche von etwa 100 Quadratkilometern durch das Bundesverteidigungsministerium genutzt. Auf Grund der ökologischen Bedeutung des Gebietes wurde der Betrieb in den letzten Jahren erheblich reduziert. Sie wissen, daß in Mauserzeiten, in Brutzeiten, in Zugvogelwanderzeiten und mit Rücksicht auf touristische Belange auch im Sommer, in der Hauptferienzeit, keine Erprobungsbetriebe mit Beschuß stattfinden.
*) mit langem e gesprochen
**) mit kurzem e gesprochen
Ich will Ihnen sagen, daß ich mich weiter für eine Reduzierung hier einsetzen werde. Mit einer sofortigen Schließung ist nach den Bedürfnissen und Belangen des Bundesverteidigungsministers - auch begründeten Belangen - nicht zu rechnen. Dennoch: Mein Engagement wird in Richtung einer Reduzierung hier weitergehen.
Ein letztes Wort, und zwar zum Meeresumweltschutz. In diesem Bereich haben wir natürlich durch die Diskussion um die Brent-Spar-Plattform eine erhebliche Emotionalisierung gehabt. Trotzdem kann man festhalten: Das Meer ist keine Müllhalde, jedenfalls heute nicht mehr. Das ist auch das Ergebnis ganz wesentlicher internationaler Bemühungen, die ich hier aus Zeitgründen gar nicht alle aufführen will. Wir haben alle eine relativ erfolgreiche Nordseeschutzkonferenz gehabt. Wir haben andere internationale Abkommen und werden in diesem Bereich auch weitermachen.
({14})
Abschließend möchte ich noch einmal auf folgendes hinweisen: Wir haben vor wenigen Wochen über die Vorbereitungen zur Konferenz über die Biodiversität in Jakarta gesprochen. Ich kann heute sagen, daß diese Konferenz nicht, wie viele Auguren es wieder vorher behauptet haben, ein Reinfall war, sondern daß es auf dieser Konferenz zugunsten der Erhaltung der Artenvielfalt durchaus vorwärtsging, wenngleich dieser Prozeß schwierig ist. Wer einmal auf einer solchen Konferenz war, der weiß, daß es außer unseren nationalen Streitpunkten international noch viele andere mehr gibt.
Ich halte es für ein ganz wichtiges Ergebnis, daß es in Jakarta gelungen ist, festzulegen, ein Mandat zur Erarbeitung eines Protokolls über die sichere Weitergabe gentechnisch veränderter Organismen zu verabschieden. Ich glaube, daß es bei unserem national hohen Schutzniveau und auch bei dem europäisch hohen Schutzniveau wichtig ist, daß wir auch international ein bestimmtes Schutzniveau erreichen. Ich finde, dies könnte nun auch einmal von den Oppositionsfraktionen in diesem Hause anerkannt werden, denn international sind diese Dinge gar nicht so einfach durchzusetzen.
({15})
Wir als Bundesrepublik Deutschland haben außerdem erreicht, daß es Fortschritte bei der nachhaltigen Nutzung der Meere und der Wälder gibt. Im Clearinghouse-Mechanismus wird zur Förderung der technischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Entwicklungsländern ein spezielles Informationssystem aufgebaut - ein ganz wichtiger Punkt, gerade auch für die Entwicklungsländer.
Unter Federführung unseres Bundesamtes für Naturschutz wird in Bonn bereits in der Zentralstelle für Agrardokumentation und Information die notwendige Infrastruktur dafür geschaffen.
Sie sehen also daran: Die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich aktiv an der Diskussion über den
Naturschutz. Zur Weiterentwicklung des Naturschutzes, die wichtig ist, betone ich allerdings auch noch einmal: Naturschutz muß so gestaltet werden, daß er die Menschen überzeugt. An dieser Überzeugungsarbeit allerdings müssen wir noch erheblich mitarbeiten.
Herzlichen Dank.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte noch einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit.
Auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Republik Kenia, Herr Daniel arap Moi, mit seiner Delegation Platz genommen.
({0})
Herr Präsident, ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen aller Mitglieder des Deutschen Bundestages.
Es ist für uns eine Ehre, und wir freuen uns, daß Sie sich im Rahmen Ihres Besuches in Deutschland die Zeit genommen haben, den Deutschen Bundestag zu besuchen und sich hier im Plenum und anschließend bei Ihrem Gespräch mit meinem Präsidiumskollegen Herrn Klose einen Eindruck von unserer parlamentarischen Arbeit zu verschaffen.
Möge Ihr Besuch dazu beitragen, die deutschkenianischen Beziehungen weiter zu festigen und in der Folge vielleicht auch auf parlamentarischer Ebene zu intensivieren.
Wir wünschen Ihnen weiterhin einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land.
({1})
Jetzt erhält das Wort zu einer Kurzintervention die Abgeordnete Mehl.
({2})
Frau Merkel, ich wollte noch einmal auf den Punkt Landwirtschaft eingehen. Wir brauchten uns ja gar nicht zu streiten, wenn wir uns über eines einig wären, nämlich daß die derzeitige Form der Landwirtschaft nicht dem Naturschutz nützt.
({0})
Darüber hat es sehr lange Diskussionen, auch mit Vertretern der Landwirtschaft, gegeben. Auch ich diskutiere mit Landwirten. Ich komme aus einem Agrarland. Ich weiß, daß das alles schwierig ist. Und trotzdem: Wenn wir gemeinsam der Meinung sind, daß sich auch in der Landwirtschaft etwas ändern muß, damit wir zu einer nachhaltigen Landwirtschaft gelangen - diese Einigkeit gibt es noch nicht durchgängig -,
({1})
dann müssen wir darüber nachdenken, wie wir es finanzieren können, zu einer nachhaltigen Landwirtschaft zu kommen.
Die Finanzierung kann nicht allein über den Naturschutz laufen; vielmehr kann es nur so laufen, daß man dann, wenn man in bezug auf den Naturschutz Sonderregelungen haben will, also solche Regelungen, die über das normale umweltverträgliche Wirtschaften hinausgehen, dafür bezahlen muß. Darüber sind wir uns ebenfalls einig. Aber für die Basis des naturverträglichen Wirtschaftens muß, verdammt noch einmal, die Landwirtschaftspolitik selbst sorgen.
({2})
Wenn fast 30 Milliarden DM in der EU für die Landwirtschaft und für alles das, was daran hängt, ausgegeben werden, dann kann doch keiner, der Naturschutz im Rahmen der Landwirtschaft verlangt, ernsthaft sagen, daß das aus den Mitteln des Naturschutzes bezahlt werden soll.
({3})
Da kann man sich ja nur an den Kopf fassen. Mit den knappen Mitteln dafür, 40 Millionen DM auf Bundesebene für Großschutzgebiete, kann man doch dieses Problem der Landwirtschaft nicht lösen.
({4})
Außerdem wäre es in der Sache falsch.
Deswegen sage ich noch einmal: Die Basis für ein naturverträgliches Wirtschaften muß die Landwirtschaftspolitik selbst schaffen.
({5})
Dazu hätte ich sehr gern einmal Herrn Borchert gehört. Er hätte hier vielleicht auch noch einiges lernen können.
({6})
Frau Bundesministerin, wollen Sie replizieren?
({0})
Herr Präsident, Frau Kollegin Mehl, es ist doch völlig unstrittig, daß sich erstens in der Landwirtschaft unheimlich viel
geändert hat, und zwar durch das Gespräch mit den Bauern und nicht durch eine Konfrontation,
({0})
und daß sich zweitens Weiteres ändern muß. Klar ist auch - das sage ich in jeder zweiten Rede -, daß der Ansatz, der in einer Richtlinie - es ist, glaube ich, die Richtlinie 2078/92 - gefunden worden ist, nämlich im Landwirtschaftsbereich auch für Naturschutzbelange Gelder auszugeben, verbreitert werden muß. Wir haben uns in der Europäischen Union vorgenommen, mit den Landwirtschaftsministern gemeinsam darüber zu reden. Dies darf aber nicht dazu führen, daß sich die persönliche Lebenssituation der Bauern dauernd verschlechtert, während sich sonst im ganzen Land die Lebenssituation eher verbessert. Das kann nicht sein.
({1})
Denn die Landwirte sind diejenigen, die letztendlich die Kulturlandschaft erhalten.
({2})
Das werden wir mit unseren Mitteln für den Naturschutz alleine nicht schaffen.
Das ist der Punkt. Wir stimmen darin überein, daß neben den Geldern, die für den Landwirtschaftsbereich zur Verfügung stehen, weitere Mittel gesucht werden müssen, um auch das naturverträgliche Wirtschaften zu fördern. Da sind die EU-Haushalte noch nicht ausgeschöpft. Wichtig ist die Botschaft an die Bauern, daß wir nicht daran mitarbeiten, daß sich ihre persönliche Lebenssituation verschlechtert. Das ist mir wichtig.
({3}) Wenn Sie dem zustimmen, sind wir einig.
({4})
Wenn Sie Ihren Dialog beendet haben, schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/1930, 13/3207, 13/1350 und 13/3211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Das Meer ist keine Müllhalde" auf Drucksache 13/3211 - Tagesordnungspunkt 4 g - soll allerdings entgegen dem auf der Tagesordnung ursprünglich ausgedruckten Überweisungsvorschlag nicht an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Gesundheit und den Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Der Antrag der Fraktion der SPD zur Beendigung der Waffenerprobung und der Schießübungen im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer auf Drucksache 13/1391 - das ist der Tagesordnungspunkt 4 f - soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß überwiesen werden. Besteht Einverständnis des Hauses? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra auf Drucksache 13/3138. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 13/3239, den Gesetzentwurf unverändert zu übernehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung einer Vertrauenserklärung zur Erbschaft- und Schenkungsteuer durch die Länderfinanzminister
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Die heutige Aktuelle Stunde hat die F.D.P.-Fraktion deshalb beantragt, weil die Länderfinanzminister nicht bereit waren, dem Vorschlag des Bundesfinanzministers zu folgen und eine Vertrauenserklärung bei der Erbschaftsteuer für das Jahr 1996 abzugeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 22. Juni 1995 wesentliche Paragraphen des Erbschaft- und Schenkungsteuergesetzes für unvereinbar mit der Verfassung erklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 31. Dezember 1996 zu treffen. Zitat:
Für die Zeit ab 1. Januar 1996 kann es bei der Regelung des § 165 Abgabenordnung verbleiben, die die Finanzverwaltung ermächtigt, im Falle der verfassungsgerichtlichen Feststellung der Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz die Steuer auf der Grundlage dieses Gesetzes vorläufig festzusetzen.
Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus:
Eine nur einmalige vorläufige Steuerfestsetzung und ihre nachträgliche Korrektur zum Vor- oder Nachteil des Steuerpflichtigen ist bei Berücksichtigung der Interessen der Steuerpflichtigen ebenso wie der fiskalischen Belange tragbar und angemessen.
Der Bundesfinanzminister hat eine Einigung mit den Ländern dahin gehend versucht, im Wege einer gemeinsam abgegebenen Erklärung von Bund und Ländern Nachteile für die Steuerpflichtigen zu vermeiden. Dies sollte insbesondere für die Eigenheimbesitzer, aber auch für die Inhaber von kleinen und mittleren Betrieben gelten.
({0})
Für diesen Personenkreis sollte Rechtssicherheit geschaffen werden.
({1})
Durch die beabsichtigte gemeinsame Erklärung von Bund und Ländern sollte sichergestellt werden, daß bei der Neuordnung der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Jahr 1996 keine Schlechterstellung der Steuerpflichtigen gegenüber der derzeitigen Rechtslage eintritt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine solche Absichtserklärung liegt im Interesse der Steuerpflichtigen.
({3})
Um so unverständlicher ist es, daß die Länder Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein es abgelehnt haben, eine solche Erklärung abzugeben.
({4})
Auch wenn seitens einzelner Länder verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Formulierung des Bundesfinanzministeriums ins Spiel gebracht werden - wer hindert denn die Länder daran, eine anders formulierte Vertrauenserklärung abzugeben? Wer von unseren Steuerbürgern wird denn durch eine solche Erklärung beeinträchtigt? Wer kann denn überhaupt negativ betroffen sein? Niemand, nur die Länder, weil ihnen das Aufkommen aus der Erbschaft- und Schenkungsteuer zufließt.
Wenn diese Länder diese Vertrauenserklärung abgegeben hätten, dann hätten sie sich mit den betroffenen Steuerpflichtigen solidarisiert, und hierzu waren sie nicht willens.
({5})
Nach Auffassung der F.D.P. sollten die Länderfinanzminister Rücksicht auf Eigenheimbesitzer, Firmeninhaber und Arbeitsplätze nehmen.
({6})
Die reine Raffsucht der Länder darf nicht dazu führen, daß die Bürger dieses Landes von den Ländern lediglich obrigkeitlich als Steuerobjekte gesehen werden. Wir halten dieses Verhalten einzelner SPDgeführter Länder für so unverantwortlich, daß wir dies hier und heute zum Thema einer Aktuellen Stunde gemacht haben.
({7})
Daß auch Ministerpräsidentin Heide Simonis aus Schleswig-Holstein - das war nicht nur das Stichwort des Kollegen Weng - an diesem Beutezug gegenüber den Steuerpflichtigen teilnimmt, überrascht.
({8})
Öffentlich gibt sie sich immer viel bürgerfreundlicher als mit dieser Verfahrensweise.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auf der einen Seite werden die Sozialdemokraten nicht müde, den Arbeitsplatzabbau in Deutschland und teilweise auch die Steuerbelastung der Bürger anzuprangern. Aber wenn es ans Eingemachte geht, dann kneifen sie. Die SPD will abkassieren und umverteilen, und dieses ist unverantwortlich.
({9})
Dieses wird von uns kritisiert, und dieser Haltung schließen sich hoffentlich alle Redner der Deutschen Bundestages an.
Herzlichen Dank.
({10})
Kollege Volker Kröning, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu dieser Aktuellen Stunde, die die F.D.P.-Fraktion beantragt hat, hätte mein übrigens auch selbständig tätig gewesener Großvater gesagt: „Nachtigall, ick hör' dir trapsen!"
Der Bund der Steuerzahler, meine Damen und Herren, fühlt sich in der Dezemberausgabe seiner Zeitschrift bemüßigt, dem Bundesverfassungsgericht nach seiner Entscheidung zur Erbschaftsbesteuerung vorzuwerfen, es habe eine „beispiellose Rechtsunsicherheit" hervorgerufen.
Ich finde, Sie als Vertreter einer Rechtsstaatspartei, verehrter Herr Kollege Thiele, und als Vorsitzender des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages haben sich entlarvt; denn Sie haben sich, nachdem der Bund der Steuerzahler offenkundig Veranlassung für Ihren Vorstoß gegeben hat, von dessen Kritik am Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht abgegrenzt. Ich finde, diese Kritik ist langsam einem demokratisch-rechtsstaatlichen Verständnis von der
höchsten Instanz unseres Rechtsstaates nicht mehr angemessen.
({0})
Obwohl das Urteil vom 22. Juni 1995 stammt, ist das Bundesfinanzministerium erst am 2. November 1995 an die Länderfinanzminister und -senatoren herangetreten, um eine sogenannte Übergangsregelung bis zur Reform des Erbschaftsteuerrechts herbeizuführen, die zum 31. Dezember 1996 erfolgen muß.
Der Bundesfinanzminister hat einen „gemeinsamen Beschluß" vorgeschlagen, nach dem Erbschaften und Schenkungen 1996 nicht höher belastet werden sollten, als dies nach dem bisherigen Recht der Fall sein würde. Von einigen Ländern - das haben Sie zu Recht erwähnt - sind dagegen rechtliche Bedenken geltend gemacht worden, und diese lassen sich hören.
Denn der Kernsatz des Urteils, der nicht auf Seite 20 des Umdrucks, die Sie zitiert haben, steht, sondern weiter vorne - im Tenor -, lautet: „Das bisherige Recht ist längstens bis zum 31. Dezember 1995 anwendbar."
Im Klartext heißt dies: Die vom Bundesverfassungsgericht auch im Erbschaftsteuerrecht verbindlich durchgesetzte Gleichbehandlung von einheitswertgebundenem und nicht einheitswertgebundenem Vermögen hat Vorrang. Dieser Maßstab muß bei jeder Neuregelung - sei es, daß sie gesetzlich erfolgt, sei es, daß sie übergangsweise untergesetzlich erfolgt - beachtet werden. Den Gleichheitsgrundsatz muß jedermann - der Erbe von Grundbesitz und der Erbe von sonstigem Vermögen - für und gegen sich gelten lassen. Eine Meistbegünstigung von höherwertigem Grundbesitz wäre auch übergangsweise verfassungswidrig.
Eine Vertrauenserklärung könnte also aus Rechtsgründen keine präjudizierende Wirkung haben. Dann aber, Herr Kollege Thiele, wäre sie gegenüber den Steuerpflichtigen wertlos. Deshalb übrigens haben die Steuerabteilungsleiter von Bund und Ländern den Vorschlag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, daß der Bund seinen Vorschlag nicht weiter verfolgt hat. Der neue Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen
({1})
hat fallengelassen, was sein Vorgänger versucht hat. Allerdings hat er in der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses von volkswirtschaftlichen Schäden gesprochen, die im Übergangszeitraum entstehen könnten. Doch er hat diese Behauptung in keiner Weise substantiiert oder gar belegt.
Zur Dramatisierung der Lage besteht kein Anlaß, da das Bundesverfassungsgericht die Anforderungen an die Neuregelung in aller wünschenswerten Deutlichkeit formuliert hat: Die Erbrechtsgarantie des Grundgesetzes als Privaterbfolge und die Testierfreiheit des Erblassers sind zu respektieren, das Verwandtenerbrecht nach dem BGB kann nicht in Frage gestellt werden, und auf die steuerliche Leistungsfähigkeit mittelständischer Unternehmen ist Rücksicht zu nehmen.
Meine Damen und Herren, im Namen der SPD- Fraktion weise ich jede Verdächtigung an die Adresse der Länder zurück, sie würden bei der Umsetzung dieser Vorgaben tricksen.
({2})
Denn das ist ja der Vorwurf, der zwischen den Zeilen erhoben wird.
Wir - Bundestagsfraktion und SPD-geführte Länder - sind uns einig: Die Existenz mittelständischer Unternehmen darf durch die Erbschaftsteuer nicht gefährdet werden. Der Mittelstand ist ein Garant von Produktivität und Arbeitsplätzen
({3})
- hören Sie gut zu -; er ist steuerrechtlich nicht zu schwächen, sondern zu stärken!
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Hans Michelbach das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Unsere Bürger verlangen klares und stetiges politisches Handeln. Sie verlangen eine verläßliche Politik, der sie ihr Vertrauen schenken können.
({0})
Vor dem Hintergrund dieses Anspruches sahen wir von der CDU/CSU nach dem Einheitswertbeschluß des Bundesverfassungsgerichts und der sich daraus ergebenden Übergangssituation bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer die dringende Notwendigkeit der Abgabe einer Vertrauenserklärung von Bund und Ländern.
({1})
Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel und Staatssekretär Hauser haben hierzu intensive Gesprächsverhandlungen geführt. Wir sahen die Notwendigkeit, den Bürgerinnen und Bürgern klipp und klar zuzusichern: Wir wollen keine Schlechterstellung, wir wollen Planungssicherheit durch eine Übergangsregelung, und wir wollen zumindest eine politische Bindungswirkung.
({2})
Dies hätte die Bürger beruhigt. Dies hätte die steuerlichen Belastungen für mittelständische Unternehmen im neuen Jahr planbarer gemacht. Dies hätte
übereiltes, panisches Handeln verhindert. Dies hätte politisches Vertrauen geweckt. - Ich spreche im Irrealis, da die SPD-regierten Länder Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein diese sinnvolle Lösung durch ihr Nein verhindern. Ihre Beweggründe - sie sind auch durch Ihre Rede, Herr Kröning, nicht klarer geworden - sind rätselhaft, da rational nicht nachvollziehbar.
Die Frage ist: Ist es immer noch Ihr alter Neid, oder ist es für die SPD die Wegbereitung für neue Steuererhöhungsvorschläge? Wer weiß es genau? Aber eines weiß man: Die SPD-regierten Bundesländer können am wenigsten mit Geld umgehen. Sie haben hohe Begehrlichkeiten; denken Sie an das Saarland. Dort sind die Begehrlichkeiten, wie Sie wissen, besonders groß.
({3})
Ich kann Ihnen nur sagen: Die rechtlichen Bedenken sind meines Erachtens nur vorgeschoben.
({4})
Woher auch immer Ihr Verhalten rührt, durch Ihre vehemente Ablehnung der Vertrauenserklärung sind Sie nun allein verantwortlich für die jetzt entstandene und für unsere Bürger untragbare Situation. Die Rechtssicherheit ist nicht gegeben. Jetzt sind volkswirtschaftlich falsche Entscheidungen möglich.
Der diesjährige Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Robert Lucas, hat es als wichtigste Aufgabe der Finanzpolitik bezeichnet, der Wirtschaft eine stabile und vorhersehbare Umgebung zu schaffen. Mittelständische Wirtschaft, Handwerk und auch Landwirtschaft brauchen im Interesse des Fortbestandes der Betriebe Klarheit darüber, welche Belastungen im Falle der Übertragung von Unternehmen auf sie in der Zukunft zukommen.
Die genannten SPD-regierten Länder verwehren den Betrieben diese Gewißheit. Sie haben durch ihre Ablehnung der Vertrauenserklärung einmal mehr einen Beweis ihrer Unternehmensfeindlichkeit geliefert.
({5})
Die sich aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ergebenden Konsequenzen sind weitreichend für den Gesetzgeber, für die Bürgerinnen und Bürger und ganz besonders für den Mittelstand. Der Gesetzgeber ist aufgefordert, Neuregelungen für den Bereich der Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung zu finden. Hieraus resultiert verständlicherweise eine Unsicherheit der Bevölkerung. Viele Bürgerinnen und Bürger haben aus Angst, 1996 höher belastet zu werden, den Gang zum Steuerberater oder Notar bereits angetreten. Dies hätte mit der Abgabe einer Vertrauenserklärung verhindert werden können.
({6})
Im mittelständischen Bereich stehen in nächster Zeit über 700 000 Betriebsübergaben an. Zu den enormen Herausforderungen, die die Übernahme eines Familienunternehmens in sich birgt, kommt angesichts des Schwebezustandes nach dem Karlsruher Beschluß nun noch die Angst vor staatlichem Zugriff über die Erbschaft- und Schenkungsteuer.
({7})
Meine Damen und Herren, es kann nicht angehen, daß Familienbetriebe kurzfristig verkauft werden müssen, weil keine ausreichende Liquidität zur Begleichung der Erbschaft- und Schenkungsteuer vorhanden ist. Ich finde, wir sind unseren Bürgern Klarheit schuldig.
({8})
Insbesondere für die mittelständischen Betriebe kann eine Neuregelung weitreichende, existenzbedrohende Konsequenzen haben.
Ich bin jedoch zuversichtlich, daß wir eine Neuregelung finden, die den Bestand der Leistungsträger unserer Wirtschaft, der mittelständischen Betriebe, auch im Erbschafts- und Schenkungsfall sichern wird. Wir haben im Jahressteuergesetz 1996 mit dem Bewertungsabschlag für das Betriebsvermögen bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer einen ersten richtigen Schritt gemacht.
({9})
Es muß auf dieser Grundlage weitergehen. Die Karlsruher Vorgaben fügen sich nahtlos in die Politik unseres Bundesfinanzministers Dr. Waigel und der Finanzpolitiker der Union ein.
({10})
Ich kann Ihnen deutlich sagen: Lassen Sie die Länder jetzt mit ihren Vorgaben kommen! Sie müssen endlich sagen, was sie wollen, und dürfen nicht mauern. Dann packen wir es gemeinsam an.
({11})
Frau Kollegin Christine Scheel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Michelbach, ich kämpfe um Selbstbeherrschung, damit mir bei Ihren Ausführungen nicht die Luft wegbleibt. Was soll dieser Unsinn an dieser Stelle?
({0})
Sie haben eine richtige Äußerung gemacht. Es gab noch einige andere Äußerungen, die man neutral bewerten kann. Aber Sie haben immerhin eine richtige Äußerung gemacht. Sie haben gesagt: Was das
Steuersystem für das nächste Jahr betrifft, ist das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht gegeben. Ich sage Ihnen, daß das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger leider nicht gegeben ist, weil wir in den letzten Jahren eine solche marode Finanzpolitik haben, die Sie als Regierungskoalition zu verschulden haben.
({1})
- Natürlich kann man das sagen. Das haben Sie ja gehört.
({2})
Wir haben seit dem 22. Juni dieses Jahres die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Es war genau das gleiche wie beim Jahressteuergesetz: Erst muß das Bundesverfassungsgericht ein Urteil fällen, dann dauert es ewig, bis sich die Koalition einigt und die Länderminister in die Diskussion und den Entwicklungsprozeß eingebunden werden.
({3})
- Das sowieso. Natürlich kommen sie erst im Vermittlungsausschuß.
Das Problem ist doch, Herr Thiele, daß die Bundesregierung nicht in der Lage ist, von sich aus eine solide Finanzpolitik zu betreiben, die auch verfassungskonform ist;
({4})
sonst bräuchten wir nicht permanent BVG-Urteile zu ganz maßgebenden steuerpolitischen Fragen.
({5})
Ich komme nun auf die Verunsicherung der Bürger und Bürgerinnen zu sprechen. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten in der Presse verfolgt, wer diese Verunsicherung überhaupt betreibt. Herr Graf Lambsdorff ist, glaube ich, nicht da; ich sehe ihn zumindest nicht.
({6})
Ich weiß nicht, ob er noch einmal kommt; aber das ist nicht unser Problem. Er hat wie auch andere Kollegen aus Ihrer Partei seit Bekanntwerden dieser Beschlüsse zur Vermögensbesteuerung und zur Erbschaftsteuer nichts anderes zu tun gehabt, als durch die Lande zu reisen und Spitzenverdienern mehr oder weniger zu suggerieren oder sie sogar aufzufordern, teilweise ab sofort Widerspruch gegen ihre Vermögensteuerbescheide einzulegen, mit der Begründung, es könne sein, wenn Herr Finanzminister Waigel es schaffen würde, die Vermögensteuer im nächsten Jahr abzuschaffen, daß die Veranlagung nicht rechtmäßig sei; deshalb sollte man auf alle Fälle im Vorfeld Widerspruch einlegen. Damit hat er sehr
stark zu einer Verunsicherung beigetragen. Das finde ich nicht in Ordnung.
({7})
- Er hat keine Hoffnungen geweckt, sondern er hat gerade älteren Mitbürgern und Mitbürgerinnen in einer unsäglichen Weise Angst davor gemacht, daß auf Grund der Veränderungen im Zusammenhang mit dem BVG-Urteil ihr mühsam Erspartes vom Finanzamt geholt werde und daß das Familienheim, für das sie schwer gearbeitet haben, im Erbfall so besteuert werde, daß ihren Kindern nichts mehr bliebe.
({8})
Das war genau das Problem, das dahintersteckt.
Man muß an dieser Stelle einmal ganz klipp und klar sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat Vorgaben gemacht. Die kennen wir alle; Sie kennen sie genau so gut, wie die CDU/CSU, die SPD und wir sie kennen. Es hat Vorgaben gemacht, die, wenn man ehrlich ist, den meisten in diesem Land, der Mehrzahl der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen, Verbesserungen bringen werden.
({9})
Denn es wird in Zukunft so sein, daß das Einfamilienhaus und das gemeinsam erworbene Gebrauchsvermögen einer Familie völlig steuerfrei vererbt werden kann. Das ist der eine Bereich. Davon wird ein großer Teil der potentiellen Erben und Erbinnen profitieren. Das heißt, sie brauchen beim Generationenwechsel nichts zu befürchten.
({10})
Der zweite Bereich ist die Besteuerung des betrieblichen Vermögens. Auch hierzu gibt es eine eindeutige Äußerung des Bundesverfassungsgerichts, die besagt, daß die Besteuerung des Betriebes, wenn sie beim Generationenwechsel zu einer Existenzgefährdung führt, unterbleiben wird.
Das sind die zwei Punkte, die man nach außen vermitteln sollte, anstatt den Menschen in diesem Land auf diese unsägliche Art und Weise und mit Polemik Angst zu machen.
({11})
Ihre Redezeit.
Danke, ich weiß. - Es ist so wunderschön von der F.D.P. gesagt worden: „Steuerland ist abgebrannt". Wir haben uns über diesen Spruch sehr amüsiert.
„Steuerland ist abgebrannt", und zwar leider mit der tatkräftigen Hilfe der F.D.P. in den letzten 13 Jahren.
({0})
Frau Kollegin!
Ein letzter Satz, Herr Präsident. Heute gibt es in der „SZ" einen wunderschönen, lesenswerten Artikel, in dem es heißt: „Anstandsland ist abgebrannt"; das ist vielleicht der bessere Slogan.
({0})
Ich habe eine allgemeine Bitte betreffend Aktuelle Stunden: Eine Minute Zeitüberschreitung bedeutet 20 Prozent. Ich bitte, das zu beachten.
({0})
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll und bitte mir aus, gar keinen Widerspruch zu üben.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon sehr verwunderlich: Herr Michelbach steht als Vertreter der Regierungskoalition am Rednerpult und beklagt, daß noch nichts geschehen ist. Sie sind seit 1982 an der Regierungsmacht und haben auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gewartet.
Herr Thiele, so sehr ich Sie als Ausschußvorsitzenden schätze - auf diese Art habe ich das im Plenum noch nie ausgedrückt -, bin ich wirklich darüber erstaunt, daß Sie nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das nun wirklich die oberste Gerichtsbarkeit darstellt, Rechtssicherheit einklagen. Das finde ich sehr befremdlich.
({0})
Ich habe mir angesehen, was Sie mit der Vertrauensschutzerklärung gefordert haben. Für mich ist eindeutig, daß Sie sich mit der heutigen Aktuellen Stunde einmal mehr als Partei der Besserverdienenden entlarven und - ich nenne drei Punkte - damit Fehlinformationen und Ängste in der Bevölkerung organisieren.
({1})
Sie versuchen, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf diese Art und Weise zu umgehen. Drittens frage ich mich, ob Sie damit zusätzliche Zeit für die Gilde der Steuerberater und ihre wohlbetuchten
Mandanten organisieren wollen, um neue Gestaltungsmöglichkeiten herauszufinden.
({2})
In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht eindeutig,
daß bei kleineren Vermögen der Nachlaß dem Steuerpflichtigen völlig steuerfrei zugute kommt und ihm im übrigen zumindest zum deutlich überwiegenden Teil verbleibt.
Das sollten Sie in der Öffentlichkeit sagen. Dann ist nämlich jeder mit einem kleineren Vermögen wirklich sicher. Er weiß, daß das Bundesverfassungsgericht das bestätigt hat.
({3})
Das ist die Grundlage, auf der wir im nächsten Jahr diskutieren werden.
({4})
Laut Urteil ist zu gewährleisten, daß die Fortführung mittelständischer Betriebe im Erbfall nicht durch die Erbschaftsbesteuerung gefährdet werde. Was wollen Sie, bitte schön, mehr? Die Grundlage ist gegeben. Indem Sie so tun, als ob Sie auf einmal für die kleinen Eigenheimbesitzer oder Familienbetriebe auftreten, vertuschen Sie, daß Rechtssicherheit existiert.
In dem Vorschlag für die Finanzministerkonferenz war ausgeführt:
Die Finanzministerkonferenz hält im Interesse der Rechtssicherheit für die Übergangszeit vom Jahresbeginn 1996 bis zur Verkündung der gebotenen Neuregelung des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts eine gesetzliche Billigkeitsregelung für unabdingbar, durch die sichergestellt wird, daß die Bürger für diese Übergangszeit nicht mit einer höheren Erbschaft- und Schenkungsteuer belastet werden, als sie sich bei Anwendung des bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Rechts ergeben würde.
Ich frage: Warum hat das Bundesverfassungsgericht nun ganz bewußt die Vorläufigkeitsregelung eingefügt? Ihr Vorschlag der Vertrauenserklärung ist der schlichte Versuch, diese Rechtsprechung zu umgehen; denn mit der Vorläufigkeitsregelung soll sichergestellt werden, daß zum 1. Januar 1996 rückwirkend und für große Vermögen mehr Geld über die Steuer erhoben werden kann, wenn dieses Hohe Haus das beschließt. Das wird abzuwarten sein. Ich denke, wir haben im nächsten Jahr eine sehr interessante Diskussion vor uns.
Betrachten wir die Gesetzlichkeit, die momentan gilt. Heute gibt es Freigrenzen für Ehegatten in Höhe von 250 000 DM plus Versorgungsvorbehalt von 250 000 DM. Über 50 Prozent der Vermögen, die heute vererbt werden, betragen 200 000 DM und mehr. Wir haben heute schon eine ziemliche Splittung in der Gesellschaft.
Sie wissen sehr wohl, daß sehr viele Menschen in der Bundesrepublik nicht einmal 5 000 DM Barvermögen haben. Ein Drittel hat überhaupt kein Geldvermögen oder weniger als 5 000 DM, selbst wenn man Lebensversicherungen und anderes hinzuzählt. Es ist bekannt, daß in der Bundesrepublik ein Großteil des Vermögens aufgebraucht wird, weil es zur Altersvorsorge angespart wurde.
Mit dem, was Sie vorgegeben haben, unternehmen Sie einen offensiven und - man könnte sagen - leicht dümmlichen Versuch - Entschuldigung -, die Öffentlichkeit zu täuschen
({5})
- doch -, indem Sie sagen, nach dem Urteil sei keine Rechtssicherheit gegeben. Diese Rechtssicherheit ist vorhanden. Wir müssen uns bewegen, und zwar auf der Grundlage dieses Urteils; falls eine Partei oder Fraktion in diesem Hause der Meinung ist, dieses Urteil könne so nicht die Grundlage sein, dann müßte eine Grundgesetzänderung erfolgen. Dann haben wir eine Diskussionsbasis, auf der wir uns auf alle Fälle bewegen werden.
Ich muß im Namen der PDS sagen, daß wir den Versuch, den die F.D.P. mit dieser Aktuellen Stunde startete, insoweit gutwerten, daß er die Möglichkeit gibt, aufzuzeigen, daß gerade Sie als Koalition Mißtrauen säen und Ihrer Verantwortung in der Regierung nicht nachgekommen sind, entgegen den vielfältigen Vorschlägen, die von seiten aller Oppositionsparteien in diesem Hause seit Jahren vorliegen, nämlich eine Änderung im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht anzustreben. Ich hoffe, daß wir im nächsten Jahr zu einem brauchbaren Ergebnis kommen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesministerium der Finanzen, unserem Kollegen Hansgeorg Hauser, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluß vom 22. Juni 1995, der hier schon mehrmals zitiert worden ist, entschieden, daß die geltende Erbschaftsbesteuerung insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, als Grundbesitz mit den überholten Einheitswerten von 1964 bzw. 1935 besteuert wird, während anderes Vermögen, insbesondere Kapitalvermögen, mit zeitnahen Werten zum Ansatz kommt.
Das Gericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, das Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht bis zum 31. Dezember 1996 neu zu regeln. Das heutige Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht gilt in vollem Umfang, wie schon dargestellt, bis zum 31. Dezember 1995 weiter.
In 1996 kann es bis zur Verkündung der Neuregelung nur noch vorläufig angewendet werden. Das heißt faktisch, daß für alle Erwerbe ab 1. Januar 1996 neues Recht zum Zuge kommt. Innerhalb der verbleibenden kurzen Frist war es von vornherein nicht möglich, verbindlich und detailliert zu sagen, wie Grundbesitz künftig bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer anzusetzen ist und wie hoch die künftigen persönlichen Freibeträge sein werden.
Herr Kollege Kröning, wenn Sie monieren, daß man Zeit gehabt hätte, das entsprechend vorzubereiten: Es waren auch keine Eckpunkte an Stelle einer Vertrauenserklärung möglich. Definitive Eckpunkte festzulegen, nach denen das Gesetz zu gestalten ist, das war mit den Ländern in der kurzen Zeit nicht möglich.
Im übrigen darf man vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, daß das Verfassungsgericht für seine Entscheidungen fast zehn Jahre gebraucht hat. Bundesfinanzminister Dr. Waigel hatte daher vorgeschlagen, in die Neuregelung eine gesetzliche Anwendungsvorschrift aufzunehmen, nach der übergangsweise Bürgerinnen und Bürger im Jahre 1996 bis zur Verkündigung der Änderung des Erbschaftsteuergesetzes nicht schlechter als nach altem Recht gestellt werden sollten, das heißt, nicht mit einer höheren Erbschaft- oder Schenkungsteuer zu rechnen hätten, als sie sich nach heutigem Recht ergeben würde.
Eine nach der Neuregelung günstigere Erbschaft- und Schenkungsteuer käme dagegen für die Übergangszeit voll zum Tragen. Diese Übergangsregelung hätte den Vorteil, daß die Bürger ab 1996 für die Erbschaft- und Schenkungsteuerplanungen einen gesicherten rechtlichen Rahmen hätten.
({0})
Herr Kollege Kröning, jetzt muß ich noch einmal auf Sie eingehen. Am 2. November - es ist richtig zitiert - ist der Versuch gestartet worden, nachdem aber vorher klar war, daß es zu keinen Eckpunkten kommt. Das war die eigentliche Begründung dafür. Es war abzusehen, daß es zu keinen Eckpunkten kommt, die mit den Ländern vereinbart werden. Deswegen hat man den Versuch gemacht. Ich glaube, der Versuch als solcher ist nicht unanständig gewesen, sondern aus der Sorge heraus getragen, daß es Rechtsunsicherheit ab dem neuen Jahr gibt.
Da den Ländern das Aufkommen der Erbschaftsteuer in vollem Umfang zusteht und sie einer solchen gesetzlichen Vorschrift im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zustimmen müßten, ist im Hinblick auf die Verbindlichkeit einer Vertrauenserklärung die Zustimmung aller Länder gesucht worden.
Die Finanzminister und Finanzsenatoren der Länder haben aber in ihrer Sitzung am 30. November 1995 endgültig die einstimmige Zustimmung versagt. Es ist kein Vorwurf, Herr Kollege Kröning, daß die Länder hier tricksen wollten oder sonst irgend etwas in dieser Form.
({1})
Ich weise zurück, daß das in irgendeiner Weise unterstellt worden ist. Vielmehr waren die Bemühungen eindeutig, und ich erkenne auch an, daß es in vielen Ländern durchaus eine Bereitschaft gegeben hätte. Aber per saldo hat man sich dann nicht durchringen können. Das ist der entscheidende Punkt dabei.
Ich halte eine solche Übergangsregelung entgegen der Auffassung einiger Länderfinanzminister und -senatoren nicht nur für sachlich gerechtfertigt, sondern auch für verfassungsrechtlich vertretbar. Sie hätte aber noch vor Jahresende 1995 beschlossen werden müssen, um allen Bürgern Planungssicherheit zu geben. Damit wäre für die Bürger der Zwang entfallen, Grundbesitz noch in diesem Jahr übertragen zu müssen, um die Besteuerung nach den Einheitswerten 1964 bzw. 1935 zu erreichen. Das ist die Rechtssicherheit, die im Jahre 1995 noch besteht. Es hat jedoch keinen Sinn, erst nachträglich im Gesetzgebungsverfahren eine solche Übergangsregelung zu beschließen; denn dann können die Bürger rückwirkend ihre Dispositionen nicht mehr ändern.
({2})
Natürlich kann nicht substantiiert werden, welcher volkswirtschaftliche Schaden hier eintritt. Aber wir können uns doch genügend Fälle denken, in denen solche Situationen entstehen. Denken Sie daran, was beispielsweise Erben überlegen müßten, wenn sie entscheiden möchten, ob sie eine Erbschaft annehmen können oder nicht. Auch das wäre ein denkbarer Fall.
({3})
- Das ist nicht spekulativ.
({4})
Das kommt täglich vor. Das heißt, es ist ein ganz konkreter Fall, bei dem nicht mehr beurteilt werden kann, ob man ein Erbe annehmen kann oder nicht, weil man die Belastungen nicht kennt, die daraus entstehen können.
({5})
Es liegt allein in der Verantwortung der Länder und an den engen Fristvorgaben des Bundesverfassungsgerichts, daß die Steuerbürger nunmehr für eine bestimmte Zeit im ungewissen über das ab 1. Januar 1996 geltende Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht bleiben. Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch einmal darauf hinweisen: Nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts bleiben insbesondere im engeren Familienkreis Erbschaften und Schenkungen eines üblichen Familiengebrauchsvermögens, vor allem eines üblichen Einfamilienhauses - was immer das auch in der Größenordnung sei -, auch künftig steuerfrei.
Die Finanzminister und Finanzsenatoren der Länder haben eine Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Beschlüsse eingesetzt, deren Ergebnisse in Kürze vorgelegt werden. Da den Ländern das Steueraufkommen zusteht, ist es sinnvoll, von dieser Seite zunächst entsprechende Vorstellungen vorzulegen. Wenn die Länder ihre Eckpunkte abschließend formuliert haben, wird die Bundesregierung unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Neuregelung des Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts vorlegen.
({6})
Wir wollen den Zustand der Rechtsunsicherheit, der zweifellos ab Januar 1996 eintritt, so rasch wie möglich beseitigen.
({7})
Das Wort hat der Kollege Detlev von Larcher.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Warum diese inaktuelle Stunde? Das Thema ist in verschiedenen Gremien mehrfach besprochen worden und beendet. Alles ist abgefrühstückt. Hier geht es auch gar nicht um das Thema. Es geht einzig und allein um einen untauglichen Rettungsversuch zugunsten der F.D.P. in ihrer desolaten Situation.
({0})
Dafür gibt sich der Finanzminister bzw. sein Staatssekretär her. Aber die Rettungsweste, Herr Thiele, die der Finanzminister oder sein Staatssekretär der F.D.P. zuwirft, hat Löcher. Der Untergang ist damit nicht aufzuhalten.
Worum ging es bei der von den Ländern abverlangten Vertrauenserklärung? Die Länder sollten für den Versuch, das Bundesverfassungsgericht zu umgehen, mißbraucht werden.
({1})
Verfassungsrechtliche Zweifel im Finanzministerium an einer solchen Erklärung sollten durch einen Beschluß der Länder übertüncht werden.
({2})
Das ist schon in der Finanzministerkonferenz deutlich geworden, in der beide Hausers - zunächst der mit „Faltl" und dann der ohne - sich verweigerten. Sie haben sich geweigert, das Bundesfinanzministerium in eine solche Erklärung einzubeziehen.
({3})
Die Erklärung „im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen" haben Sie abgelehnt. Und warum? Weil es massive verfassungsrechtliche Bedenken gibt.
({4})
Das war schon deutlich genug. Sie haben ja auch Ihre Verfassungsressorts, das Justiz- und das Innenministerium, nicht mit einer Überprüfung befaßt. Das ist aus Ihrer Sicht ja auch klar. Denn Sie hatten ja selbst Zweifel. Die wollten Sie nicht bestätigt haben. Für wie kurzsichtig halten Sie eigentlich die Länderfinanzminister, Herr Staatssekretär?
Gestern war Nikolaus. Wenn der zu Ihnen gekommen wäre, dann hätte er aus seinem Sack alle verfassungswidrigen Sachen ausgepackt: Zinsabschlag, Familienlastenausgleich, Einheitswert. Haben Sie denn noch nicht genug?
({5})
Aber bei Ihnen kommt ja auch der Krampus.
Sie haben doch in der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses - anders als eben - selbst zugegeben, daß Sie verfassungsrechtliche Zweifel an einer solchen Vertrauenserklärung haben. Auf meine zweimalige klare Frage, ob das Finanzministerium denn bei einer solchen Erklärung mitgemacht hätte, haben Sie nicht geantwortet, sondern herumschwadroniert.
Nein, meine Damen und Herren von der F.D.P., dies ist ein untauglicher Versuch, sich als ernstzunehmender politischer Faktor wieder ins Gespräch zu bringen. Dieser Versuch ist durch und durch unseriös.
({6})
Ihr Plakat „Steuerland ist abgebrannt" ist das Eingeständnis des Scheiterns der Steuer- und Finanzpolitik der Bundesregierung.
({7})
An diesem Scheitern haben Sie, die F.D.P., kräftig mitgewirkt. 13 Jahre CDU/CSU/F.D.P.-Koalition haben dazu geführt, daß die Steuer- und Abgabenbelastung der Bürger auf Rekordhöhe gestiegen ist, und gleichzeitig hat der Staat kein Geld mehr. Gerade Sie haben in den letzten Jahren mit Ihren ständigen Forderungen nach neuen steuerlichen Sonderregelungen für Ihre Klientel alle bewährten Prinzipien der Besteuerung ins Feuer geworfen. Sie haben damit zur Verwüstung unseres Steuerrechts kräftig beigetragen.
({8})
Heuchlerisch ruft jetzt der Brandstifter nach der Feuerwehr. Statt sich an den notwendigen Aufräumungsarbeiten zu beteiligen, gießen Sie jedoch mit Ihren neuesten Steuerforderungen wieder nur Öl ins Feuer.
Zu den von Ihnen geforderten Steuersenkungen für 1997 im Volumen von rund 30 Milliarden DM können Sie keine einzige Mark an konkreter Gegenfinanzierung nennen.
Die seit der Zeit von Herrn Möllemann - falls Sie sich nicht mehr erinnern, das war der stolze Pfau mit dem güldenen Rasenmäher - von Ihnen gebetsmühlenartig vorgetragene Forderung nach Abbau von Subventionen ist vollkommen unglaubwürdig.
({9})
Sie waren es doch, die zum Beispiel im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1996 einen echten Subventionsabbau verhindert haben.
({10})
Wer wie Sie mit solchen unseriösen Vorschlägen, die Sie auch noch dreist „Aktionsprogramm" nennen, die Bürgerinnen und Bürger derart verkohlen will, ist politisch und personell völlig ausgebrannt. Gescheite Themen für eine von Ihnen initiierte Aktuelle Stunde fallen Ihnen nicht ein. Bei Ihrer Lage kein Wunder. Aber halten Sie uns dann auch nicht mit solchen zu nichts führenden Debatten auf! Sie mißbrauchen damit ein wichtiges parlamentarisches Instrument.
({11})
Herr Kollege Dr. Fell, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es müssen ein paar Dinge geradegerückt werden, damit wir uns von den Nebenkriegsschauplätzen wieder wegbewegen.
({0})
Erstens. Kritik am Bundesverfassungsgericht ist mit der Frage einer Vertrauenserklärung nie verbunden gewesen.
({1})
Es geht im Gegenteil ausschließlich darum, die Folgen dieser Verfassungsgerichtsentscheidung - die ja niemand attackiert - für die Bürger erträglich und verständlicher zu machen.
({2}) Es geht überhaupt nicht um Kritik am Urteil.
Zweiter Punkt, Herr Kröning. Ich werde Sie an Ihren letzten Satz demnächst noch häufiger erinnern, den unterstreiche ich: Mittelständische Unternehmen sind steuerlich zu entlasten. - Dann reden wir einmal über Unternehmensteuerreform, Gewerbekapitalsteuer usw. Dann werden wir hören, wo Butter bei diesem Fisch dazukommt.
({3})
Dritter Punkt, der Beschluß des Verfassungsgerichts vom 22. Juni dieses Jahres. Da es sich um eine Ländersteuer handelt, hätte jeder von uns erwarten können, daß sich die Länder zusammenfinden, sich zusammensetzen, um zumindest Eckwerte, aus denen heraus man für die Zukunft planbare Daten machen kann, auf den Tisch zu legen. Das haben die Länder nicht getan.
({4})
Deshalb ist die Vertrauenserklärung erbeten worden.
Ich sehe das ja nun im Zusammenhang mit der Erklärung Ihres neugekürten Vorturners. Herr Lafontaine hat gesagt: Keine steuerliche Einzelregelung mehr, alles in einem Paket! Wer auf diese Weise eine vernünftige tagesbezogene Lösung im Erbrecht und im Schenkungsrecht verhindert, der muß auch für die Folgen einstehen.
({5})
Was die Folgen anlangt, Herr Kollege von Larcher: Diejenigen, die gut beraten sind - aus meiner eigenen Beratungspraxis könnte ich einiges beitragen -, die, bei denen es um größere Vermögenswerte geht, sind längst auf der sicheren Seite, was Gestaltungslösungen anlangt.
Das Problem sind die Panikreaktionen derjenigen, die sich in den Grenzbereichen wähnen und die deswegen Befürchtungen haben. Wäre es hier zu einer Vertrauenserklärung gekommen, hätte man diesen Menschen jedenfalls erspart, jetzt in Kurzschlußreaktionen zu Notaren zu laufen und Vertragsgestaltungen zu organisieren, die einfach überflüssig sind.
Jetzt - viertens - etwas zu den Auswirkungen für die Länder, die sich ja hier gewehrt haben: Wenn man sich darin einig ist, daß nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts das sogenannte persönliche Gebrauchsvermögen völlig steuerfrei übergeht und die mittelständischen Unternehmen eher entstatt belastet werden, dann bleibt ein verschwindender Rest übrig, bei dem die vorläufige Steuerveranlagung möglicherweise ungünstiger als nach dem neuen Recht aussieht, das wir zu schaffen haben. Was hätte es angesichts eines so geringen Steuervolumens verschlagen, eine solche Vertrauenserklärung abzugeben?
({6})
Herr von Larcher, der einzige Effekt, den wir haben werden, ist folgender: Jeder Todesfall vom 1. Januar 1996 bis zu dem Termin, zu dem wir das neue Recht in Kraft setzen, muß steuerlich vorläufig veranlagt werden, muß also von den Finanzbehörden ein erstes Mal in die Hand genommen und später nach neuem Recht endgültig abgerechnet werden. Meine Damen und Herren, wie viele Steuerbeamte haben Sie denn eigentlich in den Landesfinanzverwaltungen zuviel, daß Sie sich diese Mehrarbeit leisten können? Das verstehe ich nicht.
({7})
Die dritte Reaktion, die hinzukommen muß, ist, so scheint mir, folgende: Wenn das Land Brandenburg hier widerspricht, das im ganzen Jahr 1994 gerade einmal einen Erbschaft- und Schenkungsteuerertrag in Höhe von 5 Millionen DM gehabt hat
({8})
- das macht 1 Promille des Gesamtsteueraufkommens aus -, dann frage ich mich, wo hier der sachliche Grund für die Verweigerung dieser Vertrauenserklärung liegt.
({9})
Frau Professor Dr. Gisela Frick, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Larcher, Sie haben gerade davon gesprochen, daß die F.D.P. diese Aktuelle Stunde mißbrauche. Wir sind der Meinung, daß wir sie sehr wohl dazu nutzen
({0})
- ja, Moment, ich versuche ja gerade, es Ihnen zu erklären -, zu zeigen, wo eigentlich die Verantwortlichkeiten in unserem Steuerrecht liegen.
({1})
Es ist sehr einfach, immer wieder darauf hinzuweisen, daß wir ein sehr kompliziertes und nahezu undurchsichtiges Steuerrecht haben. Das wird ja auch von allen Parteien gleichermaßen zugegeben. Falsch ist aber eindeutig, daß daran nur die Regierungskoalition schuld ist. Um einmal aufzuzeigen, wo die Verantwortlichkeit der Länder liegt, ist jetzt die Situation im Bereich der Erbschaft- und Schenkungsteuer ein hervorragendes Beispiel.
({2})
Wir haben keineswegs das Bundesverfassungsgericht kritisiert, wie Sie behauptet haben, sondern im Gegenteil: Die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht zur Neuregelung der Erbschaft- und Schenkungsteuer gemacht hat, sind uns sehr willkommen. Wir werden uns beeilen, dies tatsächlich in einen entsprechenden Gesetzentwurf einzugießen.
Was uns allerdings etwas Sorge macht, ist die Rechtsunsicherheit, die nun einmal im Volk herrscht. Frau Scheel, das sehe ich ganz anders als Sie. Sie
sagen, wir schürten hier Rechtsunsicherheit. Das stimmt überhaupt nicht. Diese Rechtsunsicherheit ist da. Natürlich wäre es relativ leicht, unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses darauf hinzuweisen, daß ein Großteil dieser Sorgen und damit auch der dadurch ausgelösten Panikreaktionen unsinnig und nicht notwendig ist. Genau das soll ja auch diese Aktuelle Stunde ermöglichen. Da möchte ich Sie fragen, Herr von Larcher: Wo ist denn der Mißbrauch, wenn wir hier von Parlamentsseite aus sagen, daß übereilte Reaktionen und Panikreaktionen nicht notwendig seien? Das ist eine kleine Hilfslösung gegenüber der großen Lösung, die wir eigentlich angestrebt haben, nämlich eine sogenannte Vertrauenserklärung der Finanzministerkonferenz unter Mitwirkung des Bundesfinanzministers,
({3})
damit auch in der Öffentlichkeit ganz klar dargestellt ist, daß niemand ein Risiko eingeht, der nicht bis zum 31. Dezember 1995 übereilte Vermögensübertragungen in dem irrigen Glauben vornimmt, daß es im nächsten Jahr wesentlich teurer würde.
({4})
- Wieso denn „anders heißen müssen"? Wir wollten eine Stellungnahme zu der Ablehnung der Vertrauenserklärung; so ist die Aktuelle Stunde auch überschrieben. Wir wollen durchaus auch etwas anderes erreichen; da stimme ich Ihnen gerne zu.
Zum einen geht es darum, die Unsicherheit im Volk damit einigermaßen einzudämmen. Zum anderen wollen wir auf die Verantwortlichkeiten hinweisen - das habe ich gesagt - und verhindern, daß, wenn solche Panikreaktionen auftreten, der Schwarze Peter bei uns landet. Der Schwarze Peter soll da landen, wo er hingehört.
({5})
Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus BadenWürttemberg. Dort höre ich von dem von Ihnen gestellten Wirtschaftsminister ganz erstaunliche Töne. Da geht es um die Besteuerung von Dienstwagen. In diesem Punkt steht er plötzlich auf der anderen Seite,
({6})
obwohl es im Bundesrat die SPD war, die diese Geschichte in den Vermittlungsausschuß gebracht hat.
({7})
Plötzlich geht es auch um die Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer, bei der Ihrerseits immer nur
entsprechende Hemmnisse aufgebaut worden sind.
Bei uns stellt sich dann Herr Minister Spöri hin und sagt: Das hätte alles schon längst passieren sollen. Dabei verschweigt er natürlich wohlwissend den zweiten Teil des Satzes: Aber leider hat es die SPD bisher verhindert.
Um genau das zu verhindern, müssen wir diese Aktuelle Stunde nutzen.
({8})
Wir müssen klarmachen, daß das keineswegs eine Sache ist, die nur in der Verantwortung unserer Bundesregierung bzw. unserer Koalition liegt, und daß Sie daran nicht nur ein gerüttelt Maß teilhaben. In diesem Fall sind Sie sogar die einzigen, die eine sinnvolle Lösung zum Nutzen unseres Volkes verhindert haben.
({9})
Das Wort hat der Kollege Norbert Schindler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein trauriges Spiel, daß wir, wenn die SPD einmal die Chance hat, für diese Republik steuerpolitisch gestaltend zu wirken - dies seit dem 22. Juni -,
({0})
heute hier stehen und versuchen, Schuld zuzuweisen. Hier ist doch, lieber Freund von Larcher, eindeutig eine Chance vertan worden.
Kollegin Scheel, 1,5 Prozent Inflation ist für dieses Volk wirklich eine „Katastrophe": Das ist beste Sozialpolitik, die man da betreibt. Wenn man sich in einer solchen Debatte, in der es darum geht, durch eine Vertrauenserklärung für die Leute, die angespart haben, Sicherheit für die Zukunft zu schaffen, weil man auf dem politischen Weg nicht so schnell dort hinkommt, wohin man eigentlich gelangen müßte, gegenseitig die Schuld zuweist, ist das nicht gerade ein feiner Stil.
Heute könnten auch einmal Vertreter der Länder auf der Bundesratsbank sitzen; da beziehe ich Frau Simonis ein.
({1})
Sie könnten einmal erklären, was sie sich vorstellen. Wenn es um Ländersteuereinnahmen geht - die Erbschaft- und die Schenkungsteuer fließen den Ländern zu -, sollen sie einmal ihre Gehirne anstrengen und konstruktiv werden, wie wir das im Bund, insbesondere in der Bundesregierung, tun.
({2})
Ich möchte nur feststellen: Wir haben versprochen, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Diese Entscheidung haben wir vertagt, weil die Länder nicht die Kraft dazu hatten.
Was die Fragen hinsichtlich der Vermögensteuer angeht, die zum 1. Januar 1997 anstehen - ({3})
- Natürlich. Was will man anderes tun, wenn es anders nicht geht? Man braucht eben Mehrheiten in diesem leidigen Vermittlungsausschuß. Ich will nur daran erinnern: Die Vermögensteuer sollte abgeschafft werden. 0,5 Prozent hatten wir, mit 1 Prozent sind wir aus den Verhandlungen herausgekommen. Damit wollte ich nur in Erinnerung rufen, was im Vermittlungsausschuß manchmal passiert, wenn der Sachverstand nicht vorhanden ist.
Wovon reden wir denn eigentlich, meine Damen und Herren? Derzeit haben wir eine personenbezogene Erbschaftsteuer, bei der die Elternfreibeträge für zehn Jahre bei 90 000 DM, die Großelternfreibeträge für den gleichen Zeitraum bei 50 000 DM liegen. Wir haben im gewerblichen Bereich einen Freibetrag von 500 000 DM. Beim Gewerbe sind der Wert von Grund und Boden und die Bilanzwerte der Maschinen und Gebäude als Gesamtwert abzüglich der Schulden steuerlich zu veranlagen.
Ich stelle hier fest: Wenn wir von Standortsicherung, von Arbeitsplatzsicherung reden, müssen wir sehen, daß das Gewerbe eigentlich zu hoch besteuert ist. Wenn man überlegt, wie Erbschaftsfälle in gesunden Betrieben, wenn Unternehmer eine glückliche Hand haben, bestraft werden, kommt man zu dem Ergebnis: Da haben die Länder ihre Probleme, ein Bundesverfassungsgerichtsurteil konstruktiv in der Denke nach vorne umzusetzen.
Auch bezüglich der Landwirtschaft gibt es verschiedene Überlegungen. Ich sage hier sehr deutlich: Wenn wir die Ertragsmeßzahl, die 1935 und 1964 bestätigt wurde, nicht beibehalten, wird dies eine Katastrophe sein, nicht nur unter aktuellem Gesichtspunkt. Dies trifft im Vergleich für das Gewerbe genauso zu. Ich spreche hier den Appell aus, daß man an der Grundlage des Ertragswertverfahrens unbedingt festhält. Auch bei den pauschalen Zuschlägen unter dem großen Gesichtspunkt der Steuervereinfachung sollte man in Zukunft daran denken.
Die Bundesländer sollen Mut beweisen, die Steueraufkommensneutralität zu praktizieren. Dies sind deren Hausaufgaben, und die haben sie bis jetzt nicht gemacht. Hier warten wir auf schnelle und konstruktivere Vorschläge.
Vielen Dank.
({4})
Herr Kollege Jörg-Otto Spiller, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als der Liberalismus in Deutschland noch eine prägende politische Kraft war, hat er für die Rechte des Parlaments gegenüber der Exekutive gefochten. Was Sie heute tun, Herr Thiele, Frau Frick, ist: Sie schüren Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber und verlangen, daß Vertrauen durch die Exekutive erzeugt wird. Wir teilen Ihre Auffassung, daß man gegenüber der Mehrheit dieses Hauses mißtrauisch sein muß; das trifft ja zu.
({0})
Aber daß Sie jetzt glauben, nur durch eine Erklärung der Ministerpräsidenten oder der Länderfinanzminister könnte die dürftige Vertrauensbasis, die Sie sich selbst nur noch zutrauen, aufgebessert werden, ist ein krasses Mißverständnis von Parlamentarismus.
({1})
Wir haben die Auflage des Bundesverfassungsgerichtes, daß der Gesetzgeber - und das sind Bundestag und Bundesrat - das Erbschaftsteuergesetz im nächsten Jahr ändern muß. Er muß dabei insbesondere - das ist die inhaltliche Auflage - die Ungleichheit, die derzeit bei der steuerlichen Behandlung von einheitswertgebundenem Grundbesitz einerseits und sonstigem Vermögen im Erbfall andererseits besteht, beseitigen. Warum schüren Sie da Mißtrauen? Warum glauben Sie nicht, daß dieses Parlament die Kraft haben wird, eine vernünftige Lösung zu beschließen?
({2})
Warum glauben Sie, wenn Sie ein Mißtrauen gegenüber den Ländern hegen, daß die Ministerpräsidenten Vertrauen schaffen werden? Woher denn?
({3})
Trauen Sie sich doch selbst etwas mehr Sachlichkeit und Vernunft zu und auch die Kraft, für Vernunft zu fechten!
({4})
Wir haben im Inhalt - das ist hier mehrfach erwähnt worden; ich komme darauf noch zurück - Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes, die für die große Masse unserer Steuerbürger mehr Vertrauen schaffen werden.
({5})
Wenn ich Notar wäre, würde ich jedem - oder zumindest in 90 Prozent aller denkbaren Fälle - davon abraten, jetzt irgendwelche unbedachten Schenkungsaktionen zu unternehmen.
({6})
Sie, Herr Kollege Michelbach, haben gesagt, durch eine Erklärung könnte ein Mißtrauen gegenüber einer künftigen gesetzlichen Regelung klipp und klar beseitigt werden. Das mag vielleicht „klipp" sein, aber nicht klar!
({7})
Nur der Gesetzgeber selbst kann durch ein Gesetz Rechtssicherheit schaffen. Aber Sie schaffen nicht Rechtssicherheit durch eine rechtlich dubiose Erklärung.
({8})
Mehr versprechen, als man dann halten kann - das mag Ihr Stil von Politik sein, unserer ist das nicht.
({9})
Lassen Sie mich zum Inhalt noch etwas sagen. Wir haben die Situation - das trifft zu, Herr Thiele -, daß bei den größeren Vermögen im Erbschaftsfall - ({10})
- Gut, fangen wir bei den Betrieben an. Beim Handwerksbetrieb gibt es die eindeutige Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes an den Gesetzgeber, daß die Besteuerung nicht so zugreifen darf, daß eine Gefährdung dieses Betriebs dabei herauskommen könnte. Das ist eine eindeutige Vorgabe. Wir werden in diesem Hause doch wohl die Kraft haben, aus diesem Grundsatz heraus eine vernünftige konkrete Regelung zu beschließen; das werden wir doch schaffen.
({11})
Da hoffe ich sogar auf die Mithilfe der F.D.P.
({12})
Zum anderen haben wir die Situation: Wenn es einen Erbfall in bezug auf ein großes innerstädtisches Grundstück gibt, das einen Verkehrswert von 10 Millionen DM, aber einen Einheitswert von 800 000 DM hat - das gibt es -, dann wird diese Ungleichbehandlung gegenüber dem Geldvermögen künftig aufhören. Das wollen Sie offenbar durch eine Vorabregelung, die aber einer neuen gerichtlichen Überprüfung rechtlich gar nicht standhalten würde, provisorisch lösen. Davor warne ich.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Vor kurzem hat HansUlrich Viskorf, Richter am Bundesfinanzhof, für Erbschaftsteuerangelegenheiten zuständig, gesagt, eine solche provisorische Vertrauenserklärung wäre eindeutig verfassungswidrig. Schaffen Sie nicht neue Unsicherheit! Wir schaffen eine vernünftige, inhaltlich klare Regelung. Die Bürger können sich auf uns verlassen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Spiller, wenn einer gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der Ministerpräsidenten kein Vertrauen geschenkt werden könnte, dann wäre das für mich ein Grund zum Auswandern. Das muß ich Ihnen ganz deutlich sagen.
({0})
Und wenn in dieser Vertrauenserklärung steht, daß beide, die Länder und die Bundesregierung, alles tun werden, daß ein Gesetz geschaffen wird, welches nicht die negativen Auswirkungen hat, die viele Menschen in unserem Lande befürchten,
({1})
dann ist schon die Sicherheit da, daß genau das passieren wird. Nicht daß wir uns hier bemühen, und dann machen wir doch etwas Verkehrtes, weil einige Länder ausscheren. Also Vorsicht!
Ich kann nicht leugnen, daß mich die ablehnende Haltung der Bundesländer gegenüber dieser Vertrauenserklärung schmerzt, insbesondere aus der Sicht der neuen Bundesländer. Die Menschen in Ostdeutschland haben in den vergangenen fünf Jahren in einer schier unglaublichen Anpassungsleistung auch das Rechtssystem der Bundesrepublik verinnerlicht. Wenn man eine Rechtsordnung auch als ein alltagsbestimmendes Element im gesellschaftlichen Zusammenleben ansieht, kommt man zu dem Ergebnis, daß sich die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger subjektiv gesehen zu Beginn der Wiedervereinigung in eine Rechtsunsicherheit begeben haben und in einem Lernprozeß diese Unsicherheit abgebaut haben bzw. dabei sind, sie abzubauen. Das ist eine tolle Leistung!
({2})
Was sie aber bisher in jedem Fall gelernt haben, ist, daß es im Steuerrecht keine rechtlichen Änderungen gibt, die rückwirkend negative finanzielle Auswirkungen haben könnten. Das ist jetzt leider wieder offen; denn die Bürger wissen nicht, wie die Regelung letztendlich aussehen wird.
Nun habe ich mir das Erbschaftsteueraufkommen der neuen Bundesländer für das Jahr 1994 einmal angesehen; mein Kollege Fell hat schon einmal kurz darauf abgehoben. Es betrug ganze 44 Millionen DM, 44 Millionen DM Erbschaftsteuer haben die neuen Bundesländer 1994 eingenommen. Das Land Brandenburg - es wurde schon gesagt - ist daran mit 5 Millionen DM beteiligt. Ich glaube nicht, daß 5 Millionen DM ein wesentlicher Beitrag zur Haushaltsfinanzierung sind. Ich denke schon, daß Brandenburg bei der Erklärung mitgehen könnte.
In den nächsten Jahren ist in den neuen Ländern keine große Welle von Vermögensübertragungen von einer Generation auf die nächste zu erwarten. Das ist offensichtlich, muß aber trotzdem gesagt werden. Denn wir sind jetzt dabei, im Osten den ersten Vermögenszuordnungsprozeß und den ersten Vermögensbildungsprozeß durchzuführen. Aber natürGerhard Schulz ({3})
lieh gibt es Fälle, daß sich jemand ein Grundstück gekauft und ein Haus darauf gebaut hat. Es gibt auch Fälle, bei denen die Eltern oder Großeltern Alteigentum zurückerhalten haben und immer wußten, sie würden das früher oder später an ihre Kinder weitergeben. Aber sie hatten Zeit dazu. Es gab keinerlei Grund, sich zu beeilen und schnell etwas zu tun; denn die Regeln waren bekannt. Das ist jetzt nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichtes plötzlich völlig anders, und die Unsicherheit besteht. Das kann man nicht wegreden. Die im Osten zugrunde liegenden Einheitswerte von 1935 sind deutlich niedriger als die für die alte Bundesrepublik, die auf einer modifizierten Basis 1964 beruhen, so daß der Sprung bei einer generellen Neubewertung dort wesentlich größer ist als in den alten Ländern.
Selbst wenn sich im nachhinein herausstellt, daß die Sorge, die die Bürger dort haben, nämlich daß die Neuregelung sie negativ betrifft und sie ganz schnell etwas tun müßten, unnötig war, tragen die Unsicherheit und das dumme Gefühl Früchte. Sie tragen böse Früchte; denn die Notwendigkeit, aus steuerlichen Gründen eine Übertragung vorzunehmen, ist in der Praxis kaum zu realisieren. Auf Grund der Vielzahl von Eigentumswechseln, die ganz normal durch Rückübertragung oder Verkäufe stattfinden, sind die Grundbuchämter und Notare schlicht und einfach überlastet und könnten diese zusätzliche Aufgabe, die sie jetzt hätten, nicht mehr leisten.
Für den, der in den letzten Jahren seine Plattenbauwohnung aus Erspartem erworben hat und der sich jetzt vielleicht im Lichte der Diskussion überlegt, seine Wohnung auf die Kinder zu übertragen, ist diese Rechtsunsicherheit, es entweder noch dieses Jahr zu machen, was er aber nicht kann, oder vielleicht Zeit bis nächstes Jahr zu haben, schlicht unerträglich.
Das Fazit für mich ist: Die Länder verdienen nichts daran, wenn wir das Gesetz so machen, wie wir es uns alle gegenseitig versprochen haben. Aber für die Menschen in den neuen Bundesländern besteht die Angst, im Einzelfall möglicherweise sehr viel zu verlieren. Das ist die schlichte Wahrheit. Die Begründung für die Verweigerung der Erklärung halte ich schlicht und einfach für nicht vermittelbar.
Schönen Dank.
({4})
Herr Kollege Otto Reschke, Sie haben jetzt offiziell das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich bin für Lebhaftigkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister weiß seit genau drei Jahren, daß er mit einer Entscheidung aus Karlsruhe zu rechnen hat. Man hat ihm das klar von seiten der Geschäftsstelle signalisiert, weil das Bundesverfassungsgericht einige andere Sachentscheidungen vorgezogen hat. Wie üblich - so muß man wieder einmal sagen - setzte das Verfassungsgericht erneut Termine für den Bundesfinanzminister fest, statt daß er selbst etwas tut. Dabei hätte er schon vor Jahren an die Reform der einheitswertabhängigen Steuern herangehen können.
Die Situation, in der wir jetzt stecken, ist im Grunde genommen selbst verursacht, auch durch dieses Parlament, aber insbesondere durch die Haltung des Finanzministers und durch das Abblocken jeglicher Initiative durch die Koalition.
({0})
Wie kommt es denn eigentlich, daß schon 1992 die ersten Veröffentlichungen von durch das BMF in Auftrag gegebenen Studien vorlagen, die die Möglichkeiten einer Neubewertung des Grundvermögens beinhalteten? Die Folge wäre gewesen, daß die übrigen einheitswertabhängigen Steuern hätten mitreformiert werden können.
Nichts ist geschehen. Ich kann nur sagen: Wenn die Hausaufgaben nicht gemacht werden, so darf dies jetzt nicht im Eilverfahren zu Lasten Dritter gehen. Das ist keine Art, das ist kein Stil. Was das Bundesfinanzministerium heute macht, ist im Grunde genommen die Verfolgung einer Strategie mit Übergangslösungen, mit Zwischenlösungen. Die neueste Situation ist, sich mit Vertrauenserklärungen über Termine oder über bestimmte Zwänge hinwegzusetzen.
Ich frage mich: Wann legt der Bundesfinanzminister endlich Eckwerte für eine verfassungskonforme Reform der Vermögen- und der Erbschaftsteuer vor? Die würde ich gern sehen. Das Parlament hat ein Recht darauf, dies auf den Tisch zu bekommen.
({1})
Das Verfassungsgericht hat dazu einige Vorgaben gemacht. Ich sage ganz deutlich: Der Bundesfinanzminister braucht diese doch nur einfach umzusetzen. Eine breite Diskussion wäre nötig, um Sicherheit zu schaffen. Es reicht nicht, hier jetzt irgendwelche Versprechungen abzugeben.
Jutta Limbach, die Präsidentin des Verfassungsgerichts, hat zu einer breiten Diskussion aufgefordert und hat den Gesetzgeber und die Bundesregierung aufgefordert, mehr Selbstbewußtsein und mehr Gestaltungswillen zu zeigen. Ich glaube, wir sollten uns daran ein Beispiel nehmen.
({2})
Was jetzt abläuft, ist folgendes: Die Finanzministerkonferenz der Länder hat eine Arbeitsgruppe beauftragt, die die Möglichkeiten der Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils prüft. Ein Ergebnis wird Anfang kommender Woche vorgelegt werden.
Am 21. Dezember wird sich die Finanzministerkonferenz mit diesem Thema - verabredet auch mit dem Finanzminister - beschäftigen. Außer der Mitarbeit in der Arbeitsgruppe ist der Bundesfinanzminister bis jetzt im wesentlichen untätig. Das muß man ganz nüchtern und sachlich feststellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die SPD-Fraktion kann ich sagen, daß wir unsere Mitarbeit bei der Reform der Einheitsbewertung und - was zwingend notwendig ist - bei der Reform der einheitswertabhängigen Steuern anbieten. Die Karlsruher Entscheidung zeigt dringenden Handlungsbedarf auf, die Sache richtig anzupacken und nicht nur einfach Flickschusterei mit Zwischenlösungen zu betreiben.
({3})
Wir sagen ganz deutlich, Zielbestimmung ist: Wir müssen neue Einheitswerte haben; Zielbestimmung ist: Wir müssen eine Reform der einheitswertabhängigen Steuern durchführen. Dabei ist für uns Maßstab, die Aufkommensneutralität des Steuersystems sicherzustellen, das System gerecht und sozial zu gestalten, die Überschaubarkeit des neuen Systems zu erreichen, Vereinfachungen umzusetzen und die Verantwortung für die Wertermittlung bei den Stellen anzusiedeln, die die Steuern einnehmen. Das hat auch etwas mit der Verschlankung des Staates zu tun.
Wir wären bereit, eine ganze Menge in Blickrichtung Reform zu tun, weil wir sagen: Schaffen wir neue Grundlagen bei der Bewertung des Vermögens, bei der Reform des Bewertungsgesetzes, so können wir darangehen, aufkommensneutral das Erbschaftsteuergesetz, das Vermögensteuergesetz, das Grundsteuergesetz und in Teilbereichen das Gewerbekapitalsteuergesetz zu reformieren. Das ist dringend notwendig. Dieser Aufgabe wollen wir uns widmen, aber nicht im Eilverfahren und nicht mit Versprechungen, die wirklich für viele nicht überschaubar sind und die nachher die Falschen entlasten.
({4})
Das Wort hat der Kollege Gunnar Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Kollege Reschke und Herr Kollege Spiller, Sie hatten gefragt, ob wir die Kraft finden würden, eine gute Neuregelung für die Erbschaftsteuer zu finden. Wir garantieren Ihnen: Wir werden diese Kraft finden, denn diesmal sind die Frontlinien umgekehrt. Diesmal sitzt der Bundestag am längeren Hebel, und im Bundestag haben wir die Mehrheit.
Bisher ist es immer so gewesen, daß wir im Parlament gute Gesetze beschlossen haben. Dann wurden sie in den Bundesrat gegeben, und dort wurde eine Verschlechterung dieser Gesetze vorgenommen, zum Beispiel beim Arbeitszimmer, zum Beispiel bei der Privatnutzung von Pkws.
({0})
Wir mußten dann diese Verschlechterungen schlukken, damit diese Gesetze rechtzeitig in Kraft treten konnten.
({1})
Diesmal wird es umgekehrt sein: Wenn es mit den Sozialdemokraten, die die Mehrheit im Bundesrat haben, nicht gelingt, eine gute Regelung für eine Neufassung der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer zu finden - wer weiß, ob wir dann hier zustimmen? Wenn nicht zugestimmt wird, hätten ab 1997 die Länder eine entsprechende Steuereinnahme nicht mehr zu verzeichnen.
Deswegen ist Kooperation zwischen Bundestag und Bundesrat angezeigt. Das bedeutet, daß beide aufeinander zugehen, so wie es in der Vergangenheit nicht immer stattfand. Aber ich sage auch: Das Zeichen, das die Ministerpräsidenten mit ihrem Verhalten jetzt gesetzt haben, war kein Signal für eine gute Kooperation bei dieser neuen Gesetzgebung.
({2})
Herr Kollege Spiller und Frau Scheel, es kommt nicht darauf an, wie die objektive Rechtslage nach dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluß ist,
({3})
sondern es kommt darauf an, wie die Bürger sie empfinden.
({4})
Das ist die Situation, mit der wir uns jetzt auseinandersetzen. Da verhält es sich so - das kann man jetzt nicht mehr wegreden und wegdiskutieren -: Die Bürger sind verunsichert und erwarten, daß ihnen irgendeine rechtliche Linie aufgezeigt wird. Da wäre die Vertrauenserklärung eben genau das Richtige gewesen.
({5})
Es ist deswegen nur zu gut zu verstehen, daß man jetzt Überlegungen anstellt: Wie kann ich vermeiden, daß unter Umständen eine zu hohe Steuer zu entrichten ist? Diese Verunsicherungen treffen natürlich nicht die großindustriellen Familien; solche Überlegungen werden dort nicht angestellt. Sie haben durch die Steuerabteilungen ihrer Unternehmen längst überprüfen lassen, wie man sich richtig verhalten muß. Vielmehr trifft es wieder die Familien aus dem Mittelstand, die Familien mit dem kleineren Vermögen.
({6})
Diese werden in erster Linie von dieser Unsicherheit betroffen.
Es sind jetzt leider schon wieder viele Anzeigen in den Zeitungen zu lesen, in denen steht, daß man bis zum Jahresende noch ein geeignetes Grundstück erwerben könnte und daß man, wenn man dieses erworben hätte, die Chance hätte, es in Form einer Schenkung seinen Kindern zu übertragen, um so der vermeintlich höheren Erbschaftsteuer zu entgehen. So werden natürlich vor allem die älteren Mitbürger zu den Notaren getrieben. Leider wird sich, nachdem das Vermögen verschenkt worden ist, in vielen Fällen herausstellen, daß es nicht klug war, auf das Vermögen zu verzichten. Man mag sich zwar für Notfälle etwas abgesichert haben, aber natürlich weiß keiner, was die Zukunft bringt. Ein zu früh übertraGunnar Uldall
genes Vermögen, ein verschenktes Einfamilienhaus oder ein vorzeitig übertragenes Sparbuch werden dann in schwierigen Situationen fehlen.
Meine Damen und Herren, dies ist auch kein guter Einstand des neuen Steuerkoordinators der SPD- Länder, des Hamburger Bürgermeisters Voscherau, gewesen;
({7})
denn er ist selber Notar von Beruf und hätte eigentlich wissen müssen, was er hier mit diesem Verhalten anstiftet.
({8})
Ich frage mich immer: Was ist eigentlich das Motiv der SPD-Länder gewesen, sich hier so bürgerunfreundlich zu verhalten?
({9})
Ist es eine rechtliche Unsicherheit gewesen? Es ist hier eben klar dargelegt worden, daß es das nicht gewesen sein kann.
({10})
Ist es der Steuerausfall gewesen? Herr Kollege Schulz hat eben dargelegt, daß das lächerliche Beträge gewesen sind. Ich frage: Ist es vielleicht wieder der Neid gewesen, der bei den Sozialdemokraten sofort eine rote Lampe aufleuchten läßt, wenn nur die Worte „Vermögen" oder „Erbschaft" in den Mund genommen werden?
({11})
Das haben unsere Bürger nicht verdient, daß sie sich so etwas antun lassen müssen.
Ich frage, meine Damen und Herren, liebe Kollegen von der SPD: Was hätte es geschadet, wer hätte Schaden genommen, wenn die SPD-Ministerpräsidenten zu dieser Vertrauenserklärung ja gesagt hätten?
({12})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten
({1})
- Drucksache 13/2575 - ({2})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3})
- Drucksache 13/3197 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Dr. Jürgen Meyer ({4})
Dazu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Götzer.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das Zweite Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz. Da dieses Thema nun weiß Gott nicht zum ersten Mal in diesem Haus behandelt wird, sind die Probleme grundsätzlich bekannt und hinlänglich diskutiert. Ich möchte deshalb bezüglich der grundsätzlichen Problematik auf meine Ausführungen in der ersten Lesung am 13. Oktober dieses Jahres verweisen.
Aber wir hatten in der Zwischenzeit, am 22. November, eine Sachverständigenanhörung. Diese hat ein eindeutiges Votum für die Verlängerung der Kronzeugenregelung ergeben. Vier von fünf Sachverständigen haben sich grundsätzlich für eine Kronzeugenregelung ausgesprochen.
({0})
Diese Sachverständigenanhörung hat auch ergeben, daß die Aussagen der Kronzeugen zu Aufklärungserfolgen geführt haben, die auf andere Weise nicht zu gewinnen gewesen wären.
Was den Bereich des Linksterrorismus angeht, so wurde die Kronzeugenregelung auf Personen angewandt, die als sogenannte RAF-Aussteiger in der ehemaligen DDR untergetaucht waren. Hier hat diese Regelung zur Aufklärung einer Reihe von RAF- Verbrechen geführt.
({1})
Was die terroristische Ausländerkriminalität angeht, so sind beeindruckende Erfolge bei der Bekämpfung der PKK zu verzeichnen gewesen.
Was den Rechtsextremismus betrifft, ist bislang zwar noch kein Anwendungsfall zu verzeichnen, aber - hier zitiere ich einen Sachverständigen -: Auch für diesen Bereich ist die Option Kronzeugenregelung aus polizeilicher Sicht unbedingt zu erhalten. - Wir wissen nicht, wie sich der Bereich RechtsDr. Wolfgang Götzer
extremismus in der Zukunft entwickelt. Deswegen sollten wir schon aus diesem Grund dieses Instrumentarium beibehalten.
Für die Zukunft aber wird, so glauben wir, der wichtigste Anwendungsbereich jener der organisierten Kriminalität sein. Daß es hier bislang keinen Fall der Anwendung der Kronzeugenregelung gegeben hat, liegt ganz eindeutig daran, daß diese Regelung erst seit einem Jahr in Kraft ist. Der Vertreter des BKA hat in der Anhörung mitgeteilt, daß die durchschnittliche Ermittlungsdauer bei Verfahren wegen organisierter Kriminalität etwa elf Monate beträgt. Somit kann noch gar kein Anwendungsfall gegeben sein.
Aber wir rechnen damit, daß wir mit der Kronzeugenregelung bei der organisierten Kriminalität die Möglichkeit haben, Insiderwissen, Einblick in die innere Organisation dieser verbrecherischen Zusammenschlüsse und Erleichterung bei der Aufdeckung von Strukturen und Hintermännern zu erhalten. Der Kronzeuge ist auch in diesem Bereich ein wichtiges und geeignetes Mittel, die für die Beweisbarkeit von nach § 129 des Strafgesetzbuches erforderlichen Tatsachen durch internes Wissen zu erlangen. Bei ausreichend langer Geltungsdauer der Vorschrift bestehen nach Auffassung des Vertreters des BKA realistische Chancen, Straftäter oder Teilnehmer an Straftaten nach § 129 des Strafgesetzbuches als Kronzeugen zu gewinnen.
Auch im Ausland haben wir schon seit vielen Jahren in einer ganzen Reihe von Ländern in unterschiedlichen Bereichen eine solche Kronzeugenregelung. Ich nenne Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Portugal und Spanien. Besonders beeindruckende Erfolge sind in den letzten Jahren in Italien und in den USA zu verzeichnen gewesen.
Allerdings - auch das hat die Anhörung ganz klar ergeben - sind Verbesserungen im Bereich des Zeugenschutzes dringend notwendig. Oft genug sind Aussagewillige mit dem Tode bedroht, und nicht nur sie, sondern auch ihre Angehörigen. Deshalb brauchen Kronzeugen nicht nur eine Strafmilderung, sondern sie haben Anspruch auf umfassenden Schutz. Das bedeutet zum einen finanzielle Unterstützung, das bedeutet Hilfe bei der Vermittlung einer neuen Wohnung und beim Umzug, bei der Vermittlung eines neuen Arbeitsplatzes und einer neuen Identität.
Deshalb hat der Rechtsausschuß nach der Sachverständigenanhörung die Bundesregierung aufgefordert, bis zum Sommer 1996 ein Konzept für einen wirksameren Zeugenschutz vorzulegen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur wenn der Kronzeuge spürt, daß es dem Staat auch um ausreichenden Zeugenschutz geht, wird er zu umfassender und auch wahrheitsgemäßer Aussage bereit sein.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Kronzeugenregelung hat Erfolge gebracht. Dort, wo sie bislang keine Erfolge gebracht hat, liegt es an der noch zu kurzen Anwendungszeit.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich allerdings auch sagen: Die Häufigkeit der Anwendung sollte angesichts der zu schützenden Rechtsgüter keine Rolle spielen, und sie darf im übrigen über die Reichweite und die Wirkungen einzelner Aussagen von Kronzeugen in der Vergangenheit nicht hinwegtäuschen.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir verkennen die rechtsstaatliche Problematik der Kronzeugenregelung nicht. Aber wir meinen, daß ihre Anwendung auch in Zukunft bei Abwägung aller Gesichtspunkte vor allem zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gerechtfertigt und notwendig ist.
Ich bedanke mich.
({2})
Herr Kollege Professor Meyer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat heute über zwei Fragen zur Kronzeugenregelung zu entscheiden.
Die erste Frage ist, ob die Regelung wegen der bestehenden rechtsstaatlichen Bedenken, die der Kollege Götzer genannt hat, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen, und mangels überzeugender Ergebnisse insgesamt nicht verlängert werden soll.
Die zweite Frage, über die wegen eines Änderungsantrags der SPD-Fraktion vorweg zu entscheiden ist, bezieht sich auf die vor und nach der Sachverständigenanhörung abgegebene Stellungnahme des Justizministeriums. Danach soll jedenfalls die Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten gestrichen werden.
Was die grundsätzlichen Bedenken gegen das Institut des Kronzeugen angeht, will ich meine Ausführungen aus der ersten Lesung nicht wiederholen. Ich stütze mich statt dessen auf die Feststellungen des Sachverständigen, der als einziger im Rahmen der Anhörung am 22. November neue Gesichtspunkte vorbringen konnte, nämlich des Frankfurter Oberstaatsanwalts Harald Hans Körner. Danach gilt grundsätzlich: Wenn die Aussage von Angeklagten zu einer bloßen Handelsware verkommt, wenn Verrat belohnt und respektables Schweigen benachteiligt wird, kann die Justiz nicht mehr Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit gewährleisten,
({0})
und bei der Bevölkerung geht das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.
Ich füge hinzu: Der Handel um Gerechtigkeit mit Schwerkriminellen, die zu Kronzeugen umfunktioniert werden, ist ein viel tieferer Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens als beispielsDr. Jürgen Meyer ({1})
weise der stark umstrittene sogenannte Lauschangriff,
({2})
der strengen rechtsstaatlichen Kontrollen unterliegt und das Verfahrensziel, nämlich Gerechtigkeit zu verwirklichen, nicht preisgibt, Herr Kollege Geis.
({3})
Im übrigen ist die Glaubwürdigkeit eines Straftäters, der zur Erlangung von Strafmilderung oder Straffreiheit seine ehemaligen Komplizen belastet, bekanntlich höchst zweifelhaft.
Da sich Kollege Götzer soeben auf andere Sachverständige berufen hat, will ich mir den Hinweis nicht versagen, daß die Feststellung eines von der Koalition benannten Sachverständigen einer gewissen Komik nicht entbehrte; denn dieser Sachverständige aus Bayern hat berichtet, daß es - wie er es nannte -,,bayernweit" keinerlei Anwendungsfälle gebe,
({4})
die Kronzeugenregelung aber gleichwohl verlängert werden sollte, weil man mit ihr in Italien gute Erfahrungen gemacht hätte.
Die Frage, Herr Kollege Geis, ob es in Deutschland oder gar in Bayern ähnliche Verhältnisse in der Nähe eines Staatsnotstandes wie in Italien gibt, die dort zu der bekannten Antimafiagesetzgebung geführt haben, blieb unbeantwortet. - Aber wenn Sie sie wiederholen wollen, bitte schön, Herr Kollege Geis.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Professor Meyer, stimmen Sie mit mir - und damit mit dem größten Teil der Sachverständigen bei der Anhörung - überein, daß allein die Tatsache, daß das Instrument eines Kronzeugen besteht, eine präventive Wirkung auf mögliche Straftäter hat?
({0})
Ich stimme darin überhaupt nicht mit Ihnen überein. Ich stimme mit der Frau Justizministerin überein, die bei der Debatte zur ersten Lesung in ihrer zu Protokoll gegebenen Rede ausdrücklich und zutreffend erklärt hat, daß nachweisbar keine einzige Straftat durch die scheinbar abschreckende Wirkung des Instruments des Kronzeugen verhindert worden ist. Ich bin also völlig gegenteiliger Auffassung.
({0})
Der Sachverständige Körner hat bei der Anhörung überzeugend darauf hingewiesen, daß die bisherige Kronzeugenregelung kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist, weil sie erstens einen Ausstiegswillen des Kronzeugen nicht voraussetzt, er also nach seinem milden Urteil sein verbrecherisches Tun ohne weiteres fortsetzen kann, weil sie zweitens keinen ausreichenden Zeugenschutz garantiert und drittens Falschangaben, offenbar ein Massenproblem beim Auftreten von Kronzeugen in Betäubungsmittelsachen, nicht mit besonderer Strafe oder auch nur mit einem ins Gewicht fallenden Bestrafungsrisiko bedroht. Mehr will ich zu der grundsätzlichen Problematik heute nicht ausführen.
Anders - jetzt wende ich mich vor allem den Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. zu - müßte es bei der Frage aussehen, ob entsprechend unserem Änderungsantrag die Kronzeugenregelung jedenfalls für den Bereich des Terrorismus gestrichen werden sollte. Hier ist nicht zuletzt die F.D.P. gefragt, die sich gelegentlich immer noch als Rechtsstaatspartei bezeichnet.
({1})
Trotz schwerwiegender und berechtigter rechtsstaatlicher Bedenken und gegen eindringliche und öffentliche Warnungen fast der gesamten Fachwelt wurde die Kronzeugenregelung für terroristische Straftaten im Jahre 1989 eingeführt. Man wollte keinen Versuch ungenutzt lassen, die Handlungsfähigkeit der Terroristen einzuengen. Dieses Ziel sollte in erster Linie erreicht werden durch Gegenleistungen für Angaben, die zur Verhinderung künftiger terroristischer Straftaten beitragen.
Die gegen die Kronzeugenregelung damals, vor sechs Jahren, geltend gemachten rechtsstaatlichen Bedenken bestehen unverändert fort, wie die Ministerin der Justiz, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in ihrer am 13. Oktober 1995 zu Protokoll gegebenen Rede zutreffend ausgeführt hat:
Wer heute die Kronzeugenregelung für terroristische Straftaten wieder um vier Jahre . . . verlängern will, muß sich erst recht mit diesen rechtsstaatlichen Bedenken auseinandersetzen:
({2})
Die Kronzeugenregelung stellt die massivste Durchbrechung des Legalitätsprinzips dar; sie berührt das Rechtsstaatsprinzip und den Gleichheitsgrundsatz, indem sie schwerster Straftaten Verdächtigte und überführte Täter von der Bestrafung ausnimmt.
({3})
Diesen Bedenken stehen nunmehr sechs Jahre Erfahrungen gegenüber. Die nach wie vor amtierende und in dieser Frage von uns zu unterstützende
Dr. Jürgen Meyer ({4})
Justizministerin hat vor sieben Wochen weiter zutreffend ausgeführt - ich zitiere -:
Verfahren gegen zwei ehemalige PKK-Funktionäre im Bereich des Ausländerterrorismus sowie einige Anwendungsfälle in Strafverfahren gegen RAF-Aussteiger, die zuletzt in der ehemaligen DDR gelebt hatten und sich bereits seit Jahren von der RAF gelöst hatten, bilden keine überzeugende Bilanz. Die damals in erster Linie verfolgten Ziele haben sich nicht erreichen lassen. Durch die Aussagen eines Kronzeugen sind keine terroristischen Gewalttaten verhindert
({5})
und RAF-Straftäter weder festgenommen noch zum Ausstieg aus dem Terrorismus veranlaßt worden.
Dieses aber war, wie Sie nachlesen können, das Ziel der Kronzeugenregelung, das offensichtlich nicht erreicht worden ist.
({6})
Wenn man diese Erfahrungen mit der Kronzeugenregelung für terroristische Straftaten mit den erheblichen Bedenken abwägt, erscheint eine Verlängerung der Regelung bei terroristischen Taten, die jetzt vorgeschlagen wird, äußerst problematisch.
Um es in den Worten des früheren Bundesinnenministers Dr. Zimmermann zu sagen, auf den Sie, Herr Kollege Geis, sicher ein gewisses Vertrauen setzen: Die Chance - zwischenzeitlich sogar verlängert - hat sich nicht realisiert. Im Interesse der Glaubwürdigkeit des Gesetzgebers, vor allem aber, um rechtsstaatliche Grundsätze wiederherzustellen, ist es konsequenter, diese Regelung nach einer ausreichend langen, nämlich über sechsjährigen Anwendungszeit auslaufen zu lassen und keine erneute Verlängerung vorzunehmen.
Dies ist das Ziel des Änderungsantrages der SPD- Fraktion, über den zunächst abzustimmen sein wird. Ich wundere mich aber ein wenig darüber, daß die Begründung dieses Antrages bei den Damen und Herren der F.D.P. nur - so schien es mir - vereinzeltes Murren, aber an keiner Stelle Beifall hervorgerufen hat. Denn die von mir vorgetragene Begründung stimmt fast wortwörtlich mit den Ausführungen der F.D.P.-Justizministerin vom 13. Oktober überein.
({7})
Die Abstimmung wird zeigen, ob die F.D.P., die sich über den Lauschangriff streitet, zu erkennen vermag, daß der Eingriff durch Kronzeugen in die Wahrheitsfindung und die Rechtsstaatlichkeit von Strafverfahren wesentlich tiefer ist. Uns Sozialdemokraten ist das Legalitätsprinzip zu wichtig, um es einem Kuhhandel um Gerechtigkeit zu opfern.
Ich danke Ihnen.
({8})
Frau Kollegin Dr. Antje Vollmer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Umgang mit dem Terrorismusproblem hat dieser Staat keine glückliche Hand gehabt. Dies betrifft insbesondere die Gesetzgebungsverfahren, die es in Zusammenhang mit dem Terrorismus gegeben hat. Sie sind alle höchst problematisch gewesen. Die Kronzeugenregelung macht dabei keine Ausnahme. Sie ist unserem Rechtssystem fremd. Sie ist sogar eine der massivsten Durchbrechungen des Rechtsstaatsprinzips, die man sich vorstellen kann.
({0})
Der Staat verbindet sich vor Gericht mit dem Rechtsbrecher und stellt ihn - jedenfalls teilweise - frei von Strafe.
Weil dies der Bundesregierung offensichtlich selbst nicht ganz geheuer war, hat sie die Kronzeugenregelung zunächst auf Probe eingeführt. Dies war insofern richtig, als damit wenigstens das Parlament eine Chance hat, genau zu überprüfen, ob sich diese Regelung bewährt oder nicht. Genau um diese Überprüfung, also um Rechte des Parlaments, geht es heute im Kern.
Eines ist offensichtlich: Was den Terrorismus betrifft, hat sich die Kronzeugenregelung nach sechs Jahren als wirkungslos, geradezu als kontraproduktiv herausgestellt. Die Justizministerin hat selbst gesagt - es ist schon erwähnt worden -, daß es keine überzeugende Bilanz gibt. Sie stellte nämlich fest: Durch die Aussagen eines Kronzeugen sind keine terroristischen Gewalttaten verhindert und RAF- Straftäter weder festgenommen noch zum Ausstieg aus dem Terrorismus veranlaßt worden. Es ist also erstens keine Straftat verhindert, zweitens niemand deswegen festgenommen und drittens niemand zum Ausstieg bewogen worden.
Wenn man sich mit dieser Tätergruppe näher beschäftigte, wüßte man auch, warum. Die Regelung ist deshalb kontraproduktiv, weil jeder, selbst derjenige, der seine Haltung ändern will, gerade weil es dieses Gesetz gibt, Angst hat, daß er in seiner Gruppe als Verräter gilt. Dies treibt ihn eher wieder zurück, als daß er sich in die richtige Richtung entwickelt.
Was hat die Kronzeugenregelung eigentlich gebracht? Daß es überhaupt Aussteiger gegeben hat, ist nicht der Kronzeugenregelung zu verdanken, sondern der Tatsache der deutschen Einheit und der Resozialisierung durch das Alltagsleben, die einige der Aussteiger, die sich bereits getrennt hatten, in der DDR vollzogen haben.
Es gibt aber offensichtlich eine Reihe von Falschaussagen. Hier verweise ich auf den Fall Monika Haas und die Kronzeugin, die ehemalige Palästinenserin Andrawes. Was es da an Aussagen gibt, ist ganz offensichtlich und für jeden nachprüfbar so
hanebüchen, daß schon das dazu ausreichen sollte, diesem Instrument außerordentlich mißtrauisch gegenüberzustehen.
({1})
Es gab die Kinkel-Initiative, eine Initiative, an der ich einigermaßen beteiligt war. Sie war der Versuch einer politischen Lösung. Im Verlauf gerade dieses Versuchs waren wir dicht davor, politisch ein Ende des Terrorismus in der Bundesrepublik zu erreichen. Ausgerechnet in einer solchen Zeit, in der man diese Möglichkeit hat, in der es nur des politischen Willens bedarf, um sie auch zu nutzen, die Kronzeugenregelung zu verlängern heißt, daß man diesen politischen Ausstieg eigentlich gar nicht will.
({2})
Ich finde das verheerend, auch angesichts der historischen Notwendigkeiten, daß jede Epoche die in ihr auftretenden Probleme - der Terrorismus gehörte als Problem, als politisches Phänomen zu einer abgeschlossenen Epoche - rechtzeitig regeln muß, um nicht der nächsten Epoche Probleme aufzuhalsen, die diese nur sehr viel schwieriger lösen kann.
Was die Kronzeugenregelung in bezug auf die organisierte Kriminalität betrifft, sage ich: Das ist nur die nächste große Hoffnung. Sie wissen auch, daß es in diesem einen Jahr noch kein einziges positives Ergebnis dieser Kronzeugenregelung gegeben hat. Warum wollen Sie eigentlich ständig Systeme, mit denen Sie nur schlechte Erfahrungen machen, beibehalten? Das frage ich mich.
Die Justizministerin scheint klüger zu sein. Man möchte sie gern unterstützen - nicht nur aus diesem Grunde, sondern überhaupt. Ich hoffe, daß sie noch genug Kraft haben wird, sich in dieser Frage in der Regierung durchzusetzen. Es sieht allerdings nicht so aus.
Ich fasse unsere Haltung zusammen: Die Kronzeugenregelung ist erstens ein falsches und zweitens ein wirkungsloses Instrument. Sie produziert problematische Falschaussagen, die gerade in diesem Bereich politische Lösungen unmöglich machen. Ich bitte Sie deswegen: Lehnen Sie diese Kronzeugenregelung ab!
({3})
Herr Kollege Heinz Lanfermann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider haben Sie sich, Frau Kollegin Vollmer, mehr in Reminiszenzen ergangen,
({0})
als auf die Ergebnisse der Anhörung einzugehen, die
wir gerade auch auf den Wunsch der Oppositionsfraktionen hin durchgeführt haben, weil wir Ihre - und nicht nur Ihre, sondern alle - Bedenken selbstverständlich anerkennen, die man erstens sicherlich grundsätzlich gegen Kronzeugenregelungen im deutschen Recht haben kann und die man zweitens natürlich auch bei differenzierter Betrachtung der beiden Gebiete, um die wir heute streiten, haben kann.
Es hat aber keinen Sinn, hier eine Scheindebatte zu führen, statt sich um die Inhalte zu kümmern. Der Versuchung sind allerdings Sie, sehr geschätzter Herr Kollege Meyer, etwas erlegen. Sie haben hier in fast schon abenteuerlicher Weise versucht, das Problem des Abhörens in Wohnungen kleinzureden, weil Sie sich nicht so sehr Mühe gemacht haben wie die Rechtsstaatspartei F.D.P., die sich in der Tat mit allem Ernst mit diesem Thema auseinandersetzt und als erste Partei in der Bundesrepublik Deutschland mit Hilfe eines Mitgliederentscheides auch die Basis einbezieht. Sie haben das nachts auf einem Parteitag geregelt, um hinterher über die divergierenden Meinungen in Ihrer Partei hinwegreden zu können.
({1})
Das war nicht gerade eine Glanzleistung. Deswegen haben Sie keinen Anlaß, uns heute Vorwürfe zu machen.
Ich sehe auch, Herr Professor Meyer, daß Ihre Partei auf dem Wege ist, sich von einem bisher eigentlich für selbstverständlich gehaltenen Konsens zu verabschieden. Ihr früherer Parteivorsitzender hat heute morgen sogar gemeint, der F.D.P.,
({2})
der Regierung und der Koalition Vorwürfe machen zu müssen, wir würden nicht genug gegen die Bekämpfung des organisierten Verbrechens tun.
({3})
Er kennt sich in den Einzelheiten, zum Beispiel im Verbrechensbekämpfungsgesetz, nicht so aus; das will ich ihm nachsehen. Aber er hat gemeint, der Koalition Vorwürfe machen zu müssen, während heute nachmittag die Hilfstruppen hier versuchen, sich aus einer gemeinsamen Linie zur Verlängerung der Kronzeugenregelung zu verabschieden. Sie werden sich nachher dazu verhalten müssen.
({4})
Herr Meyer, wenn Sie meinen, das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat werde ausgerechnet dadurch untergraben, daß wir hier eine sinnvolle Regelung verlängern, dann überschätzen Sie doch die Bedeutung dieses Themas in der Öffentlichkeit.
({5})
Der Kern sind nicht die Parlamentsrechte; das sage ich der Kollegin Vollmer. Wir debattieren ja; wir entscheiden heute sogar. Es ist in die Hände des ParlaHeinz Lanfermann
ments gelegt, ob wir diese Regelung verlängern wollen.
Ich will nicht alles wiederholen, was bereits im ersten Beitrag genannt worden ist. Meine persönliche Meinung ist, daß man im Bereich der organisierten Kriminalität - das Gesetz ist erst ein Jahr alt -, Frau Kollegin Vollmer, damals offensichtlich falsch gehandelt hat, indem man die Frist zu kurz gesetzt hat.
({6})
Herr Kollege Lanfermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen, Herr Präsident.
({0})
- Mit Ihnen scheue ich überhaupt keine Debatte, Herr Beck; aber bitte zur rechten Zeit.
Das BKA hat gesagt, daß die Verfahren im Durchschnitt elf Monate dauern. Manche Ermittlungsverfahren dauern Jahre. Deswegen kann es noch keine Erfolge geben, aber es ist sinnvoll - auch das hat die Anhörung ergeben -, dieses Instrument auch in den nächsten Jahren anzuwenden.
Bezüglich des Terrorismus haben Sie einfach nicht in die Unterlagen geschaut oder bei der Anhörung nicht zugehört; denn es gibt eine ganze Reihe von Fällen, die durch Aussagen, die nur durch die Kronzeugenregelung ermöglicht worden sind, besser rekonstruiert und aufgeklärt werden konnten.
({1})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Nein, ich sagte bereits, ich möchte im Zusammenhang vortragen. Es tut mir leid.
Liegt Ihnen nichts daran, daß wir durch die Aussagen der Aussteiger auch die verschiedensten Verbrechen gegen Schleyer, Haig und General Kroesen besser rekonstruieren konnten? Aufklärungserfolge scheinen Ihnen allerdings egal zu sein.
Zur Zeit scheint die RAF nicht aktiv zu sein. Dennoch gibt es eine neue Bedrohung, ich nenne nur die Antiimperialistischen Zellen als Beispiel. Auch das scheinen Sie nicht ganz ernst nehmen zu wollen.
Betrachten wir einmal die bisherigen Erfolge. Sie mögen manchem zahlenmäßig nicht genügend groß sein, aber das ist beim Terrorismus nicht das Problem. Wir haben zum einen die Vorbeugung - das ist erwähnt worden -, die von Ihnen ignoriert wird. Wir haben die Erfolge bei der Aufklärung. Wir haben natürlich auch Probleme, das will ich ja zugeben.
Aber es ist doch kein Spezifikum von Kronzeugen, daß manchmal gelogen wird, daß sich die Balken biegen. Das haben wir doch auch bei ganz normalen Zeugen. Wenn das wirklich so offensichtliche Fälle sind, dann können Sie doch unseren Gerichten zutrauen, daß sie das bemerken und daß solche Aussagen letztlich keine Bedeutung in den Strafprozessen haben können.
Es ehrt jedes Mitglied dieses Hauses, in dieser Angelegenheit eine andere Meinung zu haben. Damit meine ich nicht nur die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, damit meine ich auch jedes andere Mitglied dieses Hauses. Ich finde es aber weniger ehrenhaft, wenn damit versucht wird, taktische Spielchen zu treiben, um von der Sache abzulenken.
Wir treffen eine Sachentscheidung, bei der selbstverständlich jeder nach seinem Gewissen entscheiden kann, bei der wir uns aber - das sage ich für die F.D.P.-Fraktion - durch die Anhörung darin bestätigt sahen,
({0})
daß wir in beiden Bereichen, sowohl bei der organisierten Kriminalität als auch beim Terrorismus, diese Regelung um weitere vier Jahre verlängern wollen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Professor Jürgen Meyer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da sich der Kollege Lanfermann einer kritischen Frage nicht aussetzen mochte, muß ich im Wege einer Kurzintervention folgendes richtigstellen: Der Kollege hat unzutreffend behauptet, es gebe die Kronzeugenregelung im Bereich der organisierten Kriminalität erst seit eineinhalb Jahren und deshalb solle man sie verlängern.
Dabei hat er ausgeblendet - vielleicht weiß er es auch nicht -, daß es diese Regelung im Kernbereich der organisierten Kriminalität, nämlich beim Drogenhandel, seit zwölf Jahren gibt und daß man mit dem Instrument des Kronzeugen zur Aufklärung schwerster Drogenkriminalität ausweislich des Erfahrungsberichts des Sachverständigen Körner bei der Anhörung schlechte Erfahrungen gemacht hat.
Der Sachverständige hat gesagt, man solle die Kronzeugenregelung jedenfalls so lange nicht einsetzen, solange ein ausreichender Zeugenschutz nicht gewährleistet ist, solange ein Ausstiegswille der Kronzeugen nicht gefordert wird und solange es kein
Dr. Jürgen Meyer ({0})
erhebliches Bestrafungsrisiko von Kronzeugen gibt. Alles das hat Kollege Lanfermann ausgeblendet.
Dann habe ich noch eine kleine Bitte. Da wir gemeinsam mit der Bundesregierung mit unserem Änderungsantrag das Auslaufen der Regelung im Bereich Terrorismus wünschen, fände ich es gut, wenn die Bundesregierung zu dieser Frage auch Stellung nähme.
Danke schön.
({1})
Zur Replik Herr Kollege Lanfermann.
Das war eigentlich unter Ihrem Niveau, Herr Kollege.
({0})
Wir alle wissen genau, auch aus der Diskussion im Rechtsausschuß, wo wir diese Frage besprochen haben, daß es die von Ihnen zitierte Regelung schon länger gibt. Hier ist doch nur über die Regelung, die ausgeweitet wurde, diskutiert worden. Insofern bitte ich doch, mir nicht das Wort im Munde herumzudrehen.
Daß Sie dauernd auf dem Ausstiegswillen herumreiten, macht die Sache nicht besser. Natürlich ist es schön, wenn ein Kronzeuge gleichzeitig einen Ausstiegswillen hat. Aber das war niemals Voraussetzung für die Regelung.
({1})
Es geht darum, daß ein aussagebereiter Zeuge dafür in gewisser Weise belohnt wird.
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Das ist ein Geschäft; zu dem kann man stehen, wie man will. Es gibt auch Bedenken dagegen, das haben wir nie verschwiegen. Aber die Kernfrage ist doch, ob man die Aufklärung schwerster Verbrechen, die Verurteilung von schwersten Taten damit ermöglicht
({3})
- was man sonst nicht könnte - und dafür eben, Sie können sagen: leider in Kauf nimmt, daß ein anderer etwas besser wegkommt. Die Frage ist doch nicht, ob der Zeuge, der sich zu einer Aussage bereiterklärt, um etwas Straferlaß zu bekommen, zusätzlich noch den Ausstiegswillen hat. Das fragen Sie ja auch bei den Angeklagten nicht unbedingt.
Deswegen, denke ich, sollten wir uns auf diese Abwägung konzentrieren und überlegen, ob man sagen kann: Ja, die guten Gründe überwiegen die Bedenken. Dazu sind Sie aufgefordert. Dem wollen
Sie sich hier verweigern und statt dessen nur taktische Spielchen treiben.
({4})
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der Kollegin Dr. Antje Vollmer das Wort.
Kollege Lanfermann hat mir entgegengehalten, es habe zur Aufklärung von vergangenen Straftaten beigetragen. Ich stelle erst einmal fest, daß er nicht dem widersprochen hat, was ich gesagt habe, nämlich daß es weder zur Verhinderung, noch zur Erfassung von weiteren Straftätern, noch zum Ausstieg geführt hat. Das können wir erst einmal festhalten. Das war aber damals die Absicht, weil es nämlich ein Instrument zur Bekämpfung des Terrorismus sein sollte.
({0})
Was aber die Aufklärung betrifft, so weiß ich sehr wohl, daß derjenige, der damals ein besonderes Interesse an diesem Instrument hatte, nämlich der Generalbundesanwalt und auch das Bundeskriminalamt, es sehr wohl als besondere Kränkung empfunden haben, daß sie so wenig Aufklärung hatten.
Ich glaube allerdings nicht, daß es den Rechtsstaat voranbringt, wenn wir jetzt, und zwar durchaus unter erheblichem Druck auf die Aussteiger, noch einmal und noch einmal Taten erleuchten und aufklären und den Leuten, die schon 15, 18, 19 oder 20 Jahre im Gefängnis gesessen haben, neue Prozesse aufbürden. Was das mit den Chancen des Terrorismus zu tun hat, das hat er mir wirklich nicht erklärt.
({1})
Vielmehr ist das etwas, was den Terrorismus und zumindest die Gruppe derjenigen, die permanent behaupten, daß dieser Staat mit bestimmten Gruppen von Straftätern anders umgehe als mit anderen, eher aufrechterhält.
({2})
({3})
Also, im Kern erreichen sie genau das Gegenteil von dem, was ursprünglich die Absicht dieses Systems war.
({4})
Herr Kollege Lanfermann.
Frau Kollegin Vollmer, ich will Ihre Verdienste, auf die Sie selber hingewieHeinz Lanfermann
sen haben, gar nicht in Abrede stellen. Ich will auch nicht in Abrede stellen, was alles - ({0})
- Hören Sie doch erst einmal zu! Ich habe Ihnen doch auch gerade zugehört. - Ich will auch nicht streiten über die dienstvollen Versuche und Absichten und alles das, was geschehen ist, um Terroristen zum Ausstieg zu bewegen. Das hat ja schließlich auch Klaus Kinkel als Justizminister in vielfacher Weise versucht. Sie haben darauf hingewiesen. All das ist richtig.
Ich freue mich über jeden Terroristen, der von sich aus oder auch mit ein wenig Hilfe den Weg heraus findet. Es gibt aber auch viele, die dies nicht tun. Ich bitte doch nur, auch zuzugestehen: So richtig es ist, daß jemand von sich aus aussteigt, so falsch kann es denn auch nicht sein, daß man Täter, die nicht den Weg finden, nach ihren Taten auch findet und verurteilt.
({1})
Das Wort hat der Kollege Professor Heuer, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann hat eben, wenn ich ihn recht verstanden habe, gesagt, daß eine Gefährdung des Rechtsstaates durch die Annahme der heutigen Beschlußfassung über die Kronzeugenregelung dadurch gerechtfertigt wird, daß seine Partei in bezug auf eine andere Verletzung des Rechtsstaatsprinzips gegenwärtig eine Mitgliederbefragung durchführt, über deren Ergebnis wir ja noch nichts wissen und die möglicherweise zu einer weiteren Gefährdung des Rechtsstaates führt.
Die Kronzeugenregelung durchbricht das Legalitätsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip. Darüber sind wir uns offenbar einig. Aber einige halten es eben für verantwortbar und andere nicht. Auch die Frau Ministerin weiß das und hat schwere Bedenken. Auch die Vertreter der Opposition wissen es und sind dagegen. Man kann dies alles in den Reden der 61. Sitzung nachlesen.
Mit der Kronzeugenregelung gibt der Rechtsstaat etwas auf, und zwar nicht irgend etwas, sondern Wesenselemente. Was bekommt er dafür? Das ist hier schon gesagt worden. Es sind keine terroristischen Gewalttaten verhindert worden, RAF-Straftäter weder festgenommen noch zum Ausstieg aus der Szene veranlaßt worden.
Nun zur jüngsten Anhörung. Sie hat nichts substantiell Neues für die Verlängerung der Regelung erbracht. Es haben sich einige der Herren dort dafür eingesetzt, daß sie verlängert wird. Aber sie haben eigentlich nichts dazu gesagt, warum das nötig sei. Herr Falk, der Vizepräsident des BKA, hat uns seine Meinung mitgeteilt, daß schon ein positiver Fall der Anwendung der Regelung ausreichen müsse. Das scheint mir wenig überzeugend. Trotzdem sei eine Regelung aus polizeilicher Sicht nicht verzichtbar. Bundesanwalt Wacher hat uns mitgeteilt, daß die
Bundesanwaltschaft in mehreren weiteren Fällen für die Anwendung der Kronzeugenregelung ist. Ich bezweifle, daß es ein hinreichender Grund für eine Regelung, die sich bisher nicht bewährt hat, ist, sie nun auf weitere Fälle auszudehnen.
Die Anhörung hat uns weitere Probleme vor Augen geführt. Das ist hier auch gesagt worden. Der Anreiz, sich durch Bezichtigung anderer Verdächtiger in den Genuß der zugesagten Vergünstigungen zu bringen, ruiniert den Zeugenbeweis und führt im Extremfall zur Bezichtigung auch Unschuldiger. Im Deal mit der Staatsanwaltschaft, wurde erklärt, wird die Aussage zur Ware, was das Vertrauen in den Rechtsstaat nun wirklich beschädigt. So Oberstaatsanwalt Dr. Körner und als Vertreter der Strafverteidiger Christoph Mertens.
Es wurde hier auch und auch dort auf die Vereinigten Staaten von Amerika Bezug genommen. Dabei werden aber die völlig unterschiedliche Kriminalitätslage, der völlig unterschiedliche Strafprozeß und das dort geltende Partei- und Opportunitätsprinzip verkannt. Auf einer Reise von Mitgliedern des Rechtsausschusses wurde uns mitgeteilt, daß dort Mörder, weil sie ihre Obermörder zur Anzeige gebracht und belastet haben, eine neue Identität und 2 000 Dollar monatlich erhalten. Ich weiß nicht, ob es die Absicht gibt, das auch hier einzuführen.
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Die Kronzeugenregelung war 1989 mit der begrenzten Geltungsdauer als Experiment eingeführt worden. Auch in der Rechtspflege kann es Experimente geben. Ich lasse es dahingestellt, ob es nicht von vornherein ein sehr problematisches Experiment war. Man könnte zum Beispiel bei anderen Dingen experimentieren, zum Beispiel bei der Entkriminalisierung von Bagatellstraftaten.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Zeit?
Dieses Experiment ist gescheitert. - Ein Satz vielleicht noch, Herr Präsident. - Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, daß der Versuch bei der organisierten Kriminalität anders ausgeht. Niemand hat das hier ernsthaft beweisen können. Also lassen Sie den Versuch mit dem Jahresende ersatzlos auslaufen! Der Rechtsstaat wird es Ihnen danken.
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Das Wort hat der Kollege Geis, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Vollmer! Es ist verdienstvoll, sich darum zu bemühen, daß Terroristen aus ihrem Terrorismus aussteigen und in ein vernünftiges Leben zurückkehren. Aber denen, die sich mit dieser Hoffnung nicht begnügen und nicht darauf vertrauen, sondern ein weiteres Instrument versuchen, um den Terrorismus zu bekämpfen, vorNorbert Geis
zuwerfen, sie hätten den Terrorismus verlängert, ist schier unmöglich. Da bitte ich Sie höflichst, das zurückzunehmen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann man das nicht stehenlassen.
Es ist falsch, wenn Sie sagen, daß die Kronzeugenregelung keinen Nutzen gehabt habe. Sie hat natürlich Nutzen gehabt in der Szene der RAF. Denn worum geht es denn bei der Strafverfolgung? Es geht doch darum, aufzuklären, zu verfolgen und zu verurteilen, um die präventive Wirkung des Strafrechts überhaupt erst umzusetzen. Wenn das Strafrecht nur im Gesetzbuch steht, hat es doch keine Wirkung. Es kann seine Wirkung erst entfalten, wenn es umgesetzt wird, das heißt, wenn verfolgt und verurteilt wird. Und das haben wir, in mehreren Fällen im RAF-Bereich erreicht, Frau Vollmer.
Es gab die Aufklärung von Morden und Mordversuchen und von Anschlägen. Wir haben das natürlich auch im PKK-Bereich erreicht. Dort gab es die Aufklärung allein von 14 Morden. Es ist doch Aufgabe aufzuklären, aber doch nicht nur, um zu strafen, sondern auch um künftige Straftaten zu verhindern.
Deswegen hat natürlich nach dem Urteil der Sachverständigen die Kronzeugenregelung selbstverständlich ihre Bedeutung. Deswegen wollen wir sie doch auch beibehalten. Deswegen haben wir sie im Bereich der organisierten Kriminalität eingeführt.
Selbstverständlich sehen wir das Problem, daß hier Rechtsstaatlichkeit verletzt werden kann; aber die erste Aufgabe des Staates ist es, dem Bürger Sicherheit zu gewähren. Wenn wir mit der Kronzeugenregelung ein Stück Sicherheit mehr erreichen, um künftige Verbrechen dadurch zu verhindern, dann machen wir es allemal richtig.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zweiten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes, Drucksache 13/2575.
Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 3197, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/3227? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen und einige Stimmen der PDS bei einer Stimmenthaltung angenommen.
({0})
- Eine Enthaltung bei der F.D.P.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS und einer Stimme der F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/3218. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der SPD und PDS - wenn ich das richtig gesehen habe - abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({1})
({2})
- Drucksache 13/2591 - ({3})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({4})
- Drucksache 13/3203 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans-Hinrich Knaape
Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion der SPD. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Harald Kahl, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Problem, mit dem wir uns heute zu befassen haben, hat seinen Ursprung in Strukturen des ehemaligen DDR-Gesundheitswesens. So gab es dort staatliche Polikliniken, Betriebspolikliniken, Ambulanzen sowie staatliche Arztpraxen, die ausschließlich der ambulanten medizinischen Versorgung dienten. Gleichartige ambulante Gesundheitseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft waren jedoch nicht zugelassen. Wohl aber gab es an konfessionellen Krankenhäusern sogenannte
Fachambulanzen in organisatorischer und personeller Einheit.
Mit dem Einigungsvertrag wurden Polikliniken, Betriebspolikliniken und Ambulanzen unbefristet und kirchliche Fachambulanzen mit Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes 1992 bis zum 31. Dezember 1995 befristet zugelassen.
Die Befristung für den Fortbestand kirchlicher Fachambulanzen resultierte dabei aus der Tatsache, daß von konfessionellen stationären Einrichtungen partiell eben auch ambulante medizinische Leistungen erbracht wurden, anders als bei den staatlichen Polikliniken, Betriebspolikliniken und anderen rein ambulanten staatlichen Einrichtungen. So gesehen, ist die Befristung des Fortbestehens kirchlicher Fachambulanzen nicht willkürlich, sondern gemäß unserer Auffassung von ambulanter medizinischer Versorgung durch niedergelassene Ärzte nur folgerichtig.
Im Gesetzentwurf des Bundesrates vom 22. September 1995 wird eine unbefristete Fortschreibung des Bestandsschutzes kirchlicher Fachambulanzen gefordert. Wir von der CDU/CSU-Fraktion können diese Intention des Gesetzentwurfes nicht mittragen.
Erstens. Die Fristverlängerung für den Bestandsschutz der kirchlichen Fachambulanzen bis zum 31. Dezember 1995 wurde bei der Schlußabstimmung zum Gesundheitsstrukturgesetz von allen Fraktionen des Bundestages mitgetragen. Das betone ich an dieser Stelle ganz besonders; insofern muß es schon verwundern, daß die SPD hier heute einen neuen Antrag einbringt, der das Gegenteil fordert.
({0})
Zweitens. Die konfessionellen stationären Einrichtungen hatten mithin genügend Zeit, sich auf eine anstehende strukturelle Veränderung einzustellen. Sie haben diese Chance nicht genutzt.
Drittens. Bei der Neuordnung des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern ist es unsere Auffassung gewesen - dazu stehen wir nach wie vor uneingeschränkt -, ein flächendeckendes leistungsfähiges System von niedergelassenen Vertragsärzten aufzubauen.
Der Anteil an der ambulanten medizinischen Versorgung in den neuen Bundesländern durch Polikliniken und Ambulanzen beträgt mittlerweile nur noch 2,1 Prozent in Sachsen, 7,8 Prozent in Brandenburg und im Durchschnitt aller neuen Bundesländer lediglich 4,8 Prozent.
Obwohl für die stationären kirchlichen Einrichtungen eine Dreijahresfrist für die strukturelle Umgestaltung aus unserer Sicht völlig ausreichend gewesen ist, sind wir zu einem Kompromiß bereit. Mit dem Änderungsantrag der Koalition zum Gesetzentwurf des Bundesrates entsprechen wir sowohl den Interessen der konfessionellen Gesundheitseinrichtungen als auch denen der dort Beschäftigten.
Unser Vorschlag, nach dem alle Träger kirchlicher Fachambulanzen bis zum 31. Dezember 1995 mitzuteilen haben, ob sie die Umwandlung ihrer Fachambulanz in eine Praxisgemeinschaft oder in eine Gemeinschaftspraxis niedergelassener Ärzte vollziehen wollen, sowie die Forderung an die Ärzte, sich zu einer Antragstellung auf Niederlassung bis zum 30. Juni 1996 zu bekennen, ist fair und räumt zeitlich ausreichenden Handlungsspielraum ein.
({1})
Außerdem - das scheint mir wichtig - sind die von der kassenärztlichen Vereinigung ausgesprochenen Zulassungsbeschränkungen für die Niederlassung dieser Ärzte außer Kraft gesetzt.
Das Argument, daß die kirchlichen Fachambulanzen rationell und wirtschaftlich arbeiten und zur medizinischen Versorgung erforderlich seien, ist gegenüber der Tatsache, daß nahezu 95 Prozent aller ambulanten medizinischen Leistungen durch Ärzte in eigener Niederlassung erbracht werden, nicht schlüssig.
({2})
Sie arbeiten effektiv und kommen ihrem Versorgungsauftrag in hoher Verantwortung und Qualität nach.
({3})
Da die Ärzte, die bisher in kirchlichen Fachambulanzen tätig waren, zudem die Möglichkeit erhalten, in den bisherigen Räumen weiter zu praktizieren, ist deren Berufsrisiko vergleichsweise gering, zumal die Investitionsleistungen in schon bestehende und offenbar gut funktionierende Praxen um ein Mehrfaches geringer sind.
Aus diesem Grund lehnen wir sowohl den Gesetzesantrag des Bundesrates als auch den deckungsgleichen Änderungsantrag der SPD-Fraktion zur Beschlußempfehlung des Gesundheitsausschusses ab
({4})
und bitten um Zustimmung zum Votum des Gesundheitsausschusses.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hinrich Knaape, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kahl, wir müssen wohl etwas Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen. Nicht christliche Verpflichtung, sondern historisch Gewordenes, Bewährtes und vor allem von den Kranken Akzeptiertes vor der Auflösung zu bewahren, gab die Motivation. Wohl war diese Motivation damals vorhanden, wurde im Gesundheitsausschuß diskutiert. Reine Konfliktvermeidung aber gab den Ausschlag, Zeitaufschub bis 1995 zu gewähren.
Vor den Sozialgerichten in den neuen Ländern hatten sich einzelne kirchliche Fachambulanzen die Erfüllung ihres Auftrags ohne Ermächtigung durch die kassenärztliche Vereinigung schon erstritten. Dies wolle man nicht rückabwickeln; so der Vertreter des Gesundheitsministeriums im Gesundheitsausschuß am 12. November 1992. So weit war es damals, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, mit der Interpretation der Rechtsgültigkeit des Einigungsvertrages gekommen.
Der Konflikt zwischen der Bundesregierung, den Vertretern der christlichen Regierungsparteien und der F.D.P. war vorhanden. Ich nenne nur die nicht mehr zum Parlament gehörenden Kollegen Bernhard Jagoda und Dr. Paul Hoffacker und auch unseren Kollegen Wolfgang Zöller. Sie sahen die besondere Stellung der kirchlichen Fachambulanzen - dies konträr zum damaligen Kollegen Bruno Menzel und zum Kollegen Dieter Thomae.
({0})
Bernhard Jagoda sagte am Freitag, dem 13. November 1992 - ich zitiere -, der Einigungsvertrag stehe an der Stelle der Zulassungsinstitution. 1995 müsse ein Antrag. auf Zulassung gestellt werden. Dann müsse die örtliche Kassenvereinigung eine Entscheidung treffen. - So hieß es damals.
Zuvor aber hatte der Vertreter der F.D.P., Kollege Dr. Bruno Menzel, gesagt - ich zitiere -, es sei zu fragen, was man wirklich wolle. Wenn man die Fachambulanzen - gemeint waren die kirchlichen - mit den zahlreichen dort tätigen Ärzten berücksichtige, sei der Bedarf schnell erfüllt. Andererseits sei zu fragen, ob die Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte sichergestellt werden könne. - Soweit das Zitat.
Von der F.D.P. wurde also nur die reine Lehre nach dem Wunsch der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zelebriert.
({1})
Wo christliches Denken und Empfinden die Einstellung einzelner Kollegen der CDU/CSU damals noch bestimmten, wurde in der darauffolgenden letzten Sitzung des Gesundheitsausschusses über das Gesundheitsstrukturgesetz am 25. November 1992 die Haltung korrigiert. Der kleine Koalitionspartner hatte die Zügel am Nasenring der großen Parteien angezogen.
So führte der Vertreter des Gesundheitsministers aus - ich zitiere -:
Über 1995 hinaus wäre diese Regelung allerdings ein Systembruch, denn in den kirchlichen Fachambulanzen werde unabhängig von der Historie faktisch dasselbe gemacht wie in den Fachambulanzen anderer Krankenhäuser. Insoweit wäre eine Regelung auf Dauer eine Ungleichbehandlung, die mit der Historie der DDR nicht in Einklang gebracht werde könne, denn die Möglichkeiten für kirchliche Fachambulanzen als Ersatz für Polikliniken seien auch in der DDR nur in den letzten zehn Jahren gegeben gewesen. Daraus könne kein Recht für weitere Jahrzehnte abgeleitet werden.
Der Vertreter der F.D.P. betonte nochmals - ich zitiere -:
({2})
Dies stehe für seine Fraktion nicht zur Diskussion.
So war es 1992, und 1995 ist es so geblieben.
Obgleich die 45 noch bestehenden kirchlichen Fachambulanzen in den neuen Bundesländern effizient und effektiv in der Betreuung von Patienten und Dispensairegruppen sind, sollen sie nach dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition aufgelöst werden und können in Sitze für niedergelassene Ärzte bzw. in Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften mit den dort tätigen Ärzten umgewandelt werden. Auf Systembereinigung wird beharrt.
({3})
Voll wird die Vertretung des Standpunktes der kassenärztlichen Politiker gewahrt, die ausschließlich in der Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Bereich an Krankenhäusern eine kräftige Konkurrenz für die niedergelassenen Fachärzte sehen und sie daher für gefährlich halten. Dies ist in der Ärztezeitung von Montag nachzulesen.
Sind wir als Deutscher Bundestag aber nicht den christlichen Kirchen in den neuen Bundesländern verpflichtet? Konnten sich unter dem schützenden Dach der Kirchen nicht jene Bürgerinnen und Bürger der DDR, die Demokratie und Rechtsstaat unter der SED-Diktatur einforderten, treffen, frei bewegen und diskutieren?
({4})
Trugen diese Bürgerinitiativen nicht wesentlich zum Sturz der SED-Diktatur bei?
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- Warten Sie ab! Sollte dies nicht genügend Anlaß sein, den kirchlichen Krankenhäusern mit ihren Fachambulanzen weiteren Bestandschutz zu gewähren?
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Unsere europäische und deutsche Kultur ist durch die christliche Religion wesentlich geprägt. Von Anfang an standen die aus christlichem Glauben Handelnden den Hilfebedürftigen und Kranken in persönlicher Not zur Seite. Mit dieser Tradition sollten wir nicht brechen. Das Parlament mit seiner Mehrheit sollte nicht wieder einmal die Identität und Befindlichkeit vieler Menschen in den neuen BunDr. Hans-Hinrich Knaape
desländern tangieren und vor allem das Selbstwertgefühl, das Berufsethos und das Verantwortungsbewußtsein der in den kirchlichen Fachambulanzen tätigen Ärzte und medizinischen Hilfkräfte beschädigen.
Ich war 30 Jahre im Gesundheitswesen der ehemaligen DDR tätig. Ich weiß, was es bedeutet, welch ein persönlicher Rückschlag es ist, wenn das, wofür man Jahre hindurch verantwortungsbewußt für die Kranken gestanden hat und Heilung oder Hilfe geben konnte, von heute auf morgen nicht mehr gefragt ist, abgewertet, ja nicht einmal mehr beachtet wird.
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Wenn schon der Systembruch die ausschlaggebende Rechtslage für die Auflösung der kirchlichen Fachambulanzen sein soll, dann wäre doch der Weg für einen Kompromiß offen gewesen, der sich aus dem Vorschlag des Bevollmächtigten der evangelischen Kirche in Deutschland und dem Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe ergeben hätte.
Herr Kollege Knaape, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Dr. Knaape, ich möchte Sie fragen: Worin liegt für die Betroffenen, deren Schicksal Sie besprechen, der Unterschied zwischen der Tatsache, daß sie heute, wie geschildert, tätig sind und morgen, wenn also der entsprechende Zeitpunkt gekommen ist, die gleiche Tätigkeit in den gleichen Räumen mit den gleichen Geräten und mit den gleichen Mitarbeitern wie bisher ausüben können? Wo ist dieses schwere Schicksal, von dem Sie gerade gesprochen haben, das sich daraus ergebe, daß alles keine Gültigkeit mehr habe, was man früher getan habe?
Der Unterschied, Herr Kollege Lohmann, liegt darin, daß es viele kleine Einrichtungen gibt, in denen diese Ärzte sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich tätig sind. Es ist ebenfalls so, daß diese in die Lokalversorgung integriert sind, daß sie in die Zulassungsvereinbarungen mit den kassenärztlichen Vereinigungen einbezogen sind und daß daher etwas zerstört wird, etwas aufgehoben wird, was von den Patienten angenommen wird. Nein, diese Kollegen werden vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie stationär oder ambulant tätig sein wollen. Sie müssen eines machen, aber sie machen zur Zeit beides. Es sind 45 Einrichtungen in den neuen Bundesländern. Das ist keine flächendeckende Versorgung. Das sollte man beachten. Es wäre eine hohe Anerkennung der kirchlichen Leistung in der medizinischen Versorgung, wenn wir sie weiter zuließen.
({0})
Die evangelische Kirche und das Kommissariat der deutschen Bischöfe haben sich beim Gesundheitsminister dafür eingesetzt, die kirchlichen Fachambulanzen beizubehalten, sie aber organisatorisch und personell von den Trägerkrankenhäusern zu lösen, sie also als selbständige Einrichtungen zu führen. Aber auch dieser Vorschlag, ja, dieses Bitten der christlichen Würdenträger wurde von der Regierungskoalition abgewiesen, obgleich einzelne von Ihnen in persönlichen Gesprächen zugaben, daß sie sich mit diesem Vorschlag anfreunden könnten. Wo religiöse Überzeugung das Handeln bestimmt, können Koalitionsvereinbarungen und Fraktionszwang nicht übergeordnete Motivation des Abstimmungsverhaltens sein. Wenn das doch so ist, dann muß ich hinterfragen, wie ehrlich Politik ist und wie ehrlich Politiker sind.
Als Arzt ist man verpflichtet - und dies bestimmt das Handeln -, auf die Befindlichkeiten des Kranken einzugehen. Mit 45 kirchlichen Fachambulanzen wird keine flächendeckende Versorgung vorgenommen. Wohl aber bestehen Nischen, die in die lokale fachärztliche Versorgung und Zulassung integriert sind.
Die SPD-Fraktion möchte diesen Zustand erhalten. Wir bringen daher in die zweite Lesung als eigenen Änderungsantrag den Gesetzentwurf des Bundesrates, der - das möchte ich ausdrücklich erwähnen - von allen neuen Bundesländern einmütig getragen wird,
({1})
als Fraktionsantrag ein. Ich möchte Sie bitten, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen und Ihren Antrag in der Ausschußfassung abzulehnen. Entscheiden Sie sich aus christlicher Verantwortung! Lassen Sie das innere Gefühl sprechen! Denken Sie daran, daß in den kirchlichen Krankenhäusern viele wegen ihrer Auffassung, wegen ihres Handelns in der DDR diskriminierte und von ihren Betrieben entlassene Bürgerinnen und Bürger Arbeit und Unterschlupf bis zur Ausreise in den Westen oder bis zur Zeit der Wende gefunden hatten! Die beiden christlichen Konfessionen in unserem Lande sollten die Gewißheit haben, daß der Deutsche Bundestag diese Haltung in einer schwierigen Zeit zu würdigen weiß.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Nun stehe ich also hier und verteidige die kirchlichen Fachambulanzen gegen die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union.
({0})
Irgendwie ist das recht grotesk.
({1})
Können Sie es auf der einen Seite überhaupt nicht ertragen, daß Sie gar kein Recht haben, den staatlichen Schulen beispielsweise Kruzifixe aufzuzwingen, verzichten Sie qua Gesetzeskraft im SGB V darauf, an Orten kirchlicher Hausmacht die Kreuze hängen zu lassen. Verkehrte Welten!
Was ist das handlungsleitende Motiv der Regierung? Waren die kirchlichen Fachambulanzen in der DDR nur leidlich gelitten, sollen sie fünf Jahre danach aus dem deutschen Gesundheitswesen verschwinden! Der Bestandsschutz läuft ultimativ mit Jahresfrist aus. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung sagt uns, warum:
Die Vertragsärzte in den neuen Ländern haben sich darauf verlassen, daß das gesamte ambulante Versorgungswesen durch Freiberufliche getragen werden soll.
Sie sehen in den 45 kirchlichen Fachambulanzen eine Existenzgefährdung und einen unlauteren Wettbewerb, vergessen dabei gleichwohl, daß nahezu 200 Polikliniken eine unbefristete Existenzberechtigung bekommen haben; das ist doch eine ganz andere Größenordnung.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung behauptet auch, diese Struktur ziehe Patienten in Klinikbetten. Die Beweisführung bleibt sie schuldig. Es geht also um Interessen. Die Patienten in den neuen Ländern sind mit der Qualität der erbrachten Leistungen zufrieden, sonst würden sie bei der neuen Wahlfreiheit überhaupt nicht dorthin gehen.
Sicher, die Befristung ist abgelaufen. Aber das ist ein formales und kein inhaltliches Argument. Es ist in Wirklichkeit so, daß unwirtschaftliche Doppelstrukturen vermieden werden und daß erfolgreich praktiziert wird, was wir Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung nennen. Es ist nicht einzusehen, daß Sie im Angestelltenverhältnis tätige Ärztinnen und Ärzte jetzt in die freie Niederlassung zwingen, wobei Sie genau wissen, daß diese - schon allein aus Altersgründen - in eine Überschuldung hineingeraten. Es ist für viele in der DDR ein Schock, in die westliche Existenzform gezwungen zu werden.
({2})
Wenn Freiheit und Pluralität Ihr Prinzip sind, dann gilt das nicht nur für die Seite der Patientinnen und Patienten, also dafür, daß sie eine Klinikambulanz aufsuchen können und das Verhältnis, das sie gewohnt waren, mit den Ärzten weiterpflegen können. Ich verstehe nicht, warum Sie den Menschen in der DDR alles entziehen wollen, was sie akzeptieren und was sie in den neuen Verhältnissen sehr gerne weiterführen möchten.
({3})
Im übrigen ist es gesundheitspolitisch aus grüner
Sicht ohnehin eine recht sinnvolle Einrichtung, was
in der DDR früher auf diesem Gebiet gemacht worden ist.
({4})
Hatten die Kirchen früher - das ist doch wirklich das Paradoxe - aus ideologischen Gründen das Nachsehen, müssen sie sich heute vor den massiven Interessen der niedergelassenen Ärzteschaft, sprich: der Kassenärztlichen Vereinigung, vorsehen. Sie haben Ihnen, der Christlich-Sozialen Union, vertraut. Heute sind es die SPD und die Grünen, die ihnen weiterhin das Vertrauen schenken wollen.
Danke.
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Das Wort hat der Kollege Uwe Lühr, F.D.P.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um kurz auf meine Vorrednerin einzugehen: Ich denke, die Anachronismen werden sich fortsetzen: Ich glaube, selbst die PDS wird nachher die kirchlichen Fachambulanzen unterstützen. Aber das steht nicht anders zu erwarten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die kirchlichen Fachambulanzen haben in der ehemaligen DDR - das ist unbestritten - und auch in der darauf folgenden Zeit gute Arbeit geleistet.
({1})
Sie haben mit dazu beigetragen, die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Als damals das Gesundheitsstrukturgesetz gemeinsam mit der SPD formuliert wurde, sollten die kirchlichen Institutsambulanzen eigentlich, genau wie die Fachambulanzen an anderen Krankenhäusern, in die offenere Form der ärztlichen Niederlassung überführt werden.
Aus vielen Gründen war das damals mit großen Schwierigkeiten verbunden. Deshalb hat die Koalition diesen Einrichtungen die Möglichkeit gegeben - ich betone noch einmal: auch die SPD -, über drei Jahre hinweg nach anderen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Herr Kollege Lühr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Dreßen?
Bitte.
Herr Kollege Lühr, können Sie mir einmal erklären, warum die sachliche Argumentation bei diesem Gesetz jetzt plötzlich in ein ideologisches Fahrwasser gerät? Ich habe mich in einem anderen Zusammenhang schon einmal mit diesem
Gesetz befassen müssen. Mir wurde von den Sozialministern aus den neuen Ländern erklärt, daß es hier wirklich nur darum geht, jetzt eine längere Übergangsfrist zu schaffen. Ich frage Sie, warum Sie jetzt diese sachliche Entscheidung zu einer ideologischen umkehren, obwohl keine Mehrkosten entstehen und Sie damit unter Umständen helfen würden, die Lükken zu schließen, die es im Moment noch in den neuen Ländern gibt. Können Sie mich aufklären, warum Sie das zu einer ideologischen Sache gemacht haben?
({0})
Also, Herr Kollege, was dem einen recht ist, darf dem anderen billig sein. Deshalb habe ich hier einen kleinen Zungenschlag hineingebracht. Wenn Sie im übrigen meinen weiteren Ausführungen folgen, dann werden Sie mitbekommen, daß es genau um die Verlängerung der Übergangsfrist geht. Das steht auch in unserem Antrag. Hören Sie also erst einmal zu!
Der Schutzraum für die kirchlichen Fachambulanzen ist damals bis zum Ende dieses Jahres begrenzt worden. Eigentlich wäre es eine Selbstverständlichkeit gewesen, daß man diese drei Jahre dafür genutzt hätte, vernünftige Lösungen für alle Beteiligten zu finden. Dies ist leider - aus welchen Gründen auch immer - versäumt worden, so daß wir heute vor der Situation stehen, daß der Vollzug dessen, was wir gemeinsam beschlossen haben, zu einem Aus nicht nur für die Institution der kirchlichen Institutsambulanzen, sondern auch für die dort beschäftigten Ärztinnen und Ärzte führen würde.
Ich bin vom Grundsatz her nach wie vor der Auffassung, daß Wettbewerb auch im ambulanten Bereich notwendig ist. Aber Wettbewerb setzt natürlich Chancengleichheit voraus! Meine Damen und Herren, auch wir sehen natürlich die Schwierigkeiten, vor denen insbesondere die älteren Ärztinnen und Ärzte stehen, wenn sie nun plötzlich nicht mehr im Angestelltenverhältnis tätig sein könnten.
Aus diesem Dilemma mußten wir einen Ausweg finden. Ich denke, daß es uns gelungen ist, mit dem durch die Koalition veränderten Bundesratsentwurf die verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen.
({0})
Wir geben den Einrichtungen noch einmal ein Jahr Frist, die Angelegenheiten in der vom Gesetzgeber gewünschten Art in Ordnung zu bringen. Das ist sehr viel mehr, als wir anderen Fachambulanzen zugestanden haben, in denen die Ärztinnen und Ärzte genau in der gleichen Situation standen wie diejenigen in den kirchlichen . Fachambulanzen heute. Nach diesem zusätzlichen einen Jahr jedoch sollten die Fachambulanzen in Gemeinschaftseinrichtungen niedergelassener Vertragsärzte oder ähnliche Rechtsformen umgewandelt sein. Gleichgültig ob in dem Bezirk bereits genügend niedergelassene Ärzte tätig sind, völlig unabhängig von den
Einschränkungen der Bedarfsplanung also, können sich diese Ärzte niederlassen.
Wir stellen uns vor, daß die kirchlichen Krankenhäuser ihren Ärztinnen und Ärzten die Räumlichkeiten und auch die Geräte, die sie für ihre Praxisausübung benötigen, vermieten oder vielleicht sogar unentgeltlich zur Verfügung stellen.
({1})
Es wird nicht ganz zu Unrecht argumentiert, daß die Bevölkerung in den neuen Bundesländern die kirchlichen Fachambulanzen sehr gut angenommen hat. Wenn das aber so ist, werden diejenigen, die den Betrieb in Gemeinschaftspraxen weiterführen, keinerlei Schwierigkeiten haben, ihren Beruf auch weiterhin auszuüben, und die Patientinnen und Patienten haben weiterhin die Möglichkeit, diese Behandlung aufzusuchen.
({2})
Ich finde es sehr bedauerlich, daß die SPD im Gesundheitsausschuß nicht bereit war, diesen praktikablen und vernünftigen Weg mitzugehen. Von einem Kahlschlag für kirchliche Fachambulanzen, wie die Kollegen Schmidbauer und Knaape diese Lösung bezeichnet haben, kann nun wirklich keine Rede sein.
({3})
Es gibt eine gesicherte Zukunft für die Ärztinnen und Ärzte, und es gibt die Möglichkeit für die Patientinnen und Patienten, sich von diesen Ärzten weiter behandeln zu lassen.
({4})
Deshalb mutet es mich schon ein wenig grotesk an, wenn sich die SPD nun auf einmal zum Wahrer der kirchlichen Fachambulanzen emporschwingt.
({5})
Da darf die Vermutung erlaubt sein, daß es hier um etwas ganz anderes geht, nämlich um einen Systemwechsel, um ein System, in dem die Krankenhäuser für die ambulante Behandlung geöffnet werden sollen. Das ist der Weg, den mitzugehen meine Partei nicht bereit ist.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf Ihre Anfangsbemerkung, Herr Kollege Lühr, möchte ich sagen: Die PDS würde einem vernünftigen Antrag der F.D.P. gern zustimmen. Damit hätten wir keine Probleme - wenn er vernünftig wäre.
Aber zum Thema zurück: Die heute vorliegende Gesetzesinitiative des Bundesrates zielt darauf ab, die bisherige Befristung der gesetzlichen Zulassung für Fachambulanzen an konfessionellen Krankenhäusern in den neuen Bundesländern aufzuheben. Nachdem dies für die noch vorhandenen poliklinischen Einrichtungen bereits mit dem Gesundheitsstrukturgesetz geschehen war, handelt es sich dabei um nichts anderes als um ein klares Gebot der Gleichbehandlung.
Mehr noch: Diese Fachambulanzen stellen ein geradezu klassisches Beispiel für die Verzahnung zwischen Ambulanz und Krankenhaus dar und bieten dem Arzt in idealer Weise die Möglichkeit, ambulante und stationäre Patientenbehandlung aus einer Hand leisten zu können. Hinzu kommt, daß sie in den neuen Bundesländern seit langem Teil der gewachsenen Versorgungsstruktur sind und von den Menschen heute ebenso wie früher angenommen und anerkannt werden. Man sollte also meinen, daß die uneingeschränkte Befürwortung dieses Gesetzes zugleich auch einem Gebot der gesundheitspolitischen Vernunft entspricht.
Was tut angesichts dieser Situation aber die Bundesregierung? - Zunächst einmal lehnt sie den Gesetzentwurf rundweg ab. Alle gelegentlich geäußerten Einsichten in die Notwendigkeit, ambulante und stationäre Versorgung enger miteinander zu verknüpfen, scheinen völlig vergessen. Die Begründung lautet sogar: Für eine rechtliche Gleichstellung mit poliklinischen Einrichtungen sei die organisatorische und personelle Herauslösung der Fachambulanzen aus den jeweiligen Krankenhäusern unerläßlich.
Aber auch nach Erarbeitung eines dieser Forderung entsprechenden Kompromißvorschlages, der den Fachambulanzen eine noch sinnvolle Fortexistenz ermöglicht hätte, ist es dann offenbar die Koalition, die sich untereinander nicht verständigen kann.
({0})
Im Ergebnis legen die Regierungsparteien eine Lösungsvariante ganz eigener Art vor, und so hat restauratives Denken wieder auf der ganzen Linie gesiegt. Rückmarsch in die Niederlassung oder Liquidation ({1}) andere Alternativen kennt man nicht.
({2})
Damit wird der Umgang von Parlament und Regierung mit diesem kleinen Gesetzentwurf des Bundesrates zum gesundheitspolitischen Offenbarungseid. Auch dem gutwilligsten Betrachter muß spätestens jetzt klar werden: Diese Koalition ist zu einer sachgerechten Gesundheitspolitik und zu wirklichen Strukturreformen im Gesundheitswesen weder bereit noch in der Lage.
({3})
Noch ein bezeichnender Aspekt: Der vorliegende Gesetzentwurf wird von allen neuen Bundesländern getragen, vom SPD-dominierten Brandenburg ebenso wie vom CDU-regierten Sachsen; von Thüringen auch, wie ich weiß. Letztendlich bildet er einen weiteren Versuch, in der DDR gewachsene und bewährte Strukturen und Arbeitsformen auch im Interesse gesamtdeutschen Fortschritts zu nutzen. Wieder einmal fällt eine solche ostdeutsche Initiative dem vorherrschenden Besitzstandsdenken und der daraus resultierenden Reformunfähigkeit zum Opfer.
Wie wir abstimmen werden, hat ja der Kollege Lühr schon gesagt. Dann brauche ich das nicht zu wiederholen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort für die Bundesregierung hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich die Rede von Frau Knoche und vor allen Dingen die Rede von Herrn Knaape gehört habe, habe ich gedacht, ich sitze hier in der falschen Debatte.
({0})
Herr Knaape, als ich Ihren Beitrag gehört habe, habe ich gedacht, wir diskutieren über die Abschaffung der Kirchen in den neuen Bundesländern.
({1})
Denn Sie haben sogar die Kirchen bemüht, indem Sie gesagt haben: Unter dem Dach der Kirchen ist die friedliche Revolution gestaltet worden. - Da gebe ich Ihnen völlig recht. Aber die kirchlichen Fachambulanzen waren daran, glaube ich, nicht unbedingt beteiligt.
({2})
Ich denke, wir sollten versuchen, wieder auf den Boden der Realität zurückzufinden; denn wir reden hier über ambulante ärztliche Versorgung - über nicht mehr und über nicht weniger - und darüber, daß hier zufällig die Kirchen die Träger sind. Wenn nun ausgerechnet die PDS sagt, es sei von uns unverschämt, die kirchlichen Fachambulanzen abzuschaffen,
({3})
möchte ich fragen: Wo waren Sie denn eigentlich in dieser Frage zu DDR-Zeiten? Sie waren es doch, die diese Fachambulanzen bekämpft haben.
({4})
Ich aber war in diesen kirchlichen Fachambulanzen und habe mit ihnen zusammengearbeitet.
({5})
- Indem Sie schreien, Herr Kirschner, haben Sie nicht unbedingt recht.
({6})
Meine Damen und Herren, ich frage Sie weiterhin: Wo waren Sie eigentlich, als die vielen Fachambulanzen an anderen Krankenhäusern, und zwar an hochspezialisierten Einrichtungen, zugemacht wurden, weil sie nicht in das System der gesetzlichen Krankenversicherung paßten, nämlich in die Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung?
({7})
Genau das, Herr Kirschner, haben Sie doch auch im GSG unterstützt. Jetzt kommen Sie plötzlich her und wollen eine völlig neue Versorgungsform. Ich denke wirklich, ich bin in der falschen Debatte.
Frau Dr. Bergmann-Pohl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidbauer?
Gern.
Bitte.
({0})
Frau Staatssekretärin, ich habe zwei Fragen.
Eine.
Ich will sie im Zusammenhang stellen.
Die eine Frage ist: Woraus leiten Sie Ihre Meinung ab, die Haltung der SPD sei gewesen, daß sie beim Deutschlandvertrag nicht mit allem Nachdruck dafür sorgen wollte, daß die poliklinischen Strukturen in den neuen Bundesländern erhalten bleiben?
Meine zweite Frage ist: Ist es zutreffend, daß im Ministerium mit den Beteiligten, das heißt mit den Vertretern der beiden Kirchen bzw. der Kommissariate, Gespräche geführt worden sind, eine Vereinbarung zustande gekommen ist und ein Kompromiß formuliert wurde, der eine Gleichstellung der kirchlichen Fachambulanz mit den Polikliniken vorsah? Ist es zutreffend, daß eine solche Vereinbarung zustande gekommen und von den beiden Kirchen bestätigt worden ist?
Herr Schmidbauer, genau da liegt Ihr Denkfehler. Sie vermischen hier selbständig ambulant tätige Polikliniken mit Fachambulanzen, die an einem Krankenhaus angesiedelt sind,
({0})
in denen Ärzte, die eigentlich stationär arbeiten, teilweise ambulante Behandlungen durchführen. Genau da liegt der Unterschied. Wir haben uns doch im GSG geeinigt,
({1})
daß ambulante Einrichtungen, also Polikliniken, weiterhin zur Versorgung zugelassen werden.
Vielleicht kommen wir zur Sache zurück: Wir haben nun schließlich auch für diese Fachambulanzen hervorragende Übergangsregelungen geschaffen. Das haben wir für keine andere Einrichtung gemacht. Wir haben diesen Fachambulanzen zugestanden, daß sie außerhalb - Herr Kirschner, wahrscheinlich haben Sie das nicht gelesen - der Zulassungsbeschränkungen weiterhin die Möglichkeit haben, dort, wo sie einen Antrag auf Niederlassung stellen, ambulante Betreuung zu erbringen. Wir geben ihnen eine Übergangsfrist von einem halben Jahr, damit sie sich das überlegen können. Sie haben sogar den Vorteil, daß sie nicht hohe Investitionen zu tätigen brauchen, wie andere ambulante niedergelassene Ärzte das auch im fortgeschrittenen Alter tun mußten.
({2})
Hier liegt es doch nun wirklich an den Kirchen, für diese Ärzte günstige Verträge zur Verfügung zu stellen und ihnen die Möglichkeit zu geben, in kirchlichen Räumen mit der Nutzung der Geräte weiterhin ambulant tätig zu sein. Das sind doch hervorragende Bedingungen, die wir ihnen bieten.
({3})
Ich verstehe Sie wirklich nicht. Im Gegenteil: Wenn wir sagen, die kirchlichen Fachambulanzen sollen in Polikliniken umgewandelt werden, dann müßten sie nämlich die Einrichtungen mit den Investitionskosten übernehmen und dort andere Trägerschaften finden.
({4})
Ich denke, wir geben den Ärzten eine bessere Chance zu überleben, als Sie sie ihnen geben.
({5})
Frau Dr. Bergmann-Pohl, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? - Bitte sehr.
Frau Staatssekretär, können Sie mir zustimmen, daß wir 1992 in einer sachlichen, nicht emotionalen Diskussion über die kirchlichen Fachambulanzen gesprochen haben,
nachdem zunächst sämtliche Fachambulanzen an allen Krankenhäusern aus den Gesetzentwürfen zum Grundsatzstrukturgesetz herausgenommen worden waren, und daß es das besondere Verdienst der Kirche war, daß wir die kirchlichen Fachambulanzen - Herr Zöller, Sie waren dafür - mit der Festlegung, die Herr Jagoda damals formuliert hat, nämlich daß diese durch den Einigungsvertrag zugelassen sind, wieder in das Gesetz hineingenommen haben?
({0})
Zum einen, Herr Knaape: Eine emotionale Diskussion haben Sie entfacht, indem Sie uns vorgeworfen haben, unser christliches Gewissen nicht ausreichend zu bemühen. Das lasse ich mir ungerne vorwerfen.
({0})
Zum anderen: Wir haben den kirchlichen Fachambulanzen diese Übergangsfrist mit Ihnen zusammen sehr wohl und ganz bewußt bis zum 31. Dezember 1995 gewährt, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in dieser Übergangsfrist über die weiteren Strukturen Gedanken zu machen. Es mutet doch etwas komisch an, wenn sie drei Jahre Zeit haben und im letzten Vierteljahr plötzlich zu uns kommen und völlig neue Versorgungsformen von uns genehmigt haben wollen. Ich habe auch eine Verantwortung den anderen niedergelassenen Ärzten gegenüber, die wirklich um ihre Existenz kämpfen.
({1})
Indem wir diese wirklich sehr guten Übergangsvoraussetzungen über den 31. Dezember 1995 hinaus fortsetzen, geben wir den Ärzten die Chance, weiterhin ambulant tätig zu werden. Das tun wir auch deshalb, weil wir wissen, daß sie bisher eine hervorragende Arbeit geleistet haben.
Ich glaube, daß Sie guten Gewissens unserem Vorschlag zustimmen können.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches, Drucksachen 13/2591 und 13/3203.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 13/3228? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
({0})
({1}) - Drucksache 13/3217 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2}) Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({3})
Ich eröffne die Aussprache, sobald ein bißchen mehr Ruhe eingekehrt ist.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eben wurde schon gefragt, ob jetzt auch noch Ruhe einkehren soll, nachdem heute abend schon so viele eingekehrt sind.
Meine Damen und Herren, wir bringen heute in erster Lesung eine weitere Novelle zum SGB V ein, so wie es bereits bei der Lesung der vierten Novelle vor der Sommerpause angekündigt wurde. Wir setzen das Konzept, das ich seinerzeit genannt habe, fort.
Das Ziel ist es, mit dieser sechsten Novelle die innovativen Kräfte in der Arzneimittelforschung zu stärken. Die Erforschung neuer Arzneimittel soll in Zukunft in Deutschland wieder attraktiver werden.
({0})
Wir schlagen daher mit der sechsten Novelle vor, daß die Bildung von Arzneimittelfestbeträgen der Stufe 2 und 3 bei patentgeschützten Arzneimitteln deutlich eingeschränkt wird, damit die Refinanzierung von Forschungskosten für die Arzneimittelhersteller erleichtert wird. Das gilt das für alle patentgeschützten Arzneimittel, die nach dem 31. Dezember 1995 arzneimittelrechtlich zugelassen werden.
Wolfgang Lohmann ({1})
Auch dieses Thema ist in der gesundheitspolitischen Diskussion nicht neu. Wir haben es bereits mit dem Gesetz zur Anpassung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften im vergangenen Jahr - GKV- Anpassungsgesetz genannt - auch gehabt; es wurde von Ihnen und vor allen Dingen vom Bundesrat abgelehnt.
({2})
Ihre Ablehnungs- und Blockadestrategie wird allerdings dieses Mal - wie übrigens auch bei anderen Gesetzen, die wir bereits eingebracht haben - nicht zum Erfolg führen, da das Gesetz der Zustimmung des Bundesrates nicht bedarf.
({3})
Meine Damen und Herren von der SPD, wenn es richtig ist, daß die Pharmaindustrie eine der letzten High-Tech-Branchen in unserem Land ist, wenn es richtig ist, daß die Zukunft unseres Landes nur durch die nachhaltige Stärkung innovativer Kräfte gesichert werden kann und nicht - das sei nur am Rande bemerkt - durch die Absenkung des Lohnkostenniveaus auf das Niveau osteuropäischer Staaten, wenn das alles richtig ist, dann müssen wir gemeinsam alles daransetzen, daß die Arzneimittelforschung als Zukunftstechnologie optimale Wettbewerbschancen auf den internationalen Märkten hat oder wiedererlangt.
Die Entwicklung, die sich bei der Gentechnologie abgespielt hat, darf sich hier in unser aller Interesse nicht wiederholen.
({4})
Denn wir alle mußten bzw. müssen erkennen, wie schwer es ist, einmal in das Ausland abgewanderte Forschungsschwerpunkte für unser Land zurückzugewinnen.
Der Kollege Dreßler von der SPD, der heute nicht da ist, hat neulich erklärt - und das ist auch nicht neu -, daß die SPD die heute von der Unionsfraktion und von der Koalition in erster Lesung eingebrachte Gesetzesinitiative nicht mittragen kann. Die SPD unterstütze zwar das Ziel, die Regelung über die Festbetragsfähigkeit von patentgeschützten Arzneimitteln zu verbessern; die Initiative der Regierungsfraktionen sei für die SPD jedoch nicht akzeptabel, weil auch sogenannte Molekülvariationen von der Festbetragsbildung damit ausgenommen werden würden. Molekülvariationen oder bloße „Molekülspielereien der Pharmaindustrie", wie er es genannt hat, mit dem Ziel, die Festbetragsbildung zu umgehen, seien für die SPD gesundheitspolitisch unerwünscht und nicht schutzwürdig.
({5})
Das ist - Herr Kirschner, Sie klatschen zum falschen Zeitpunkt - genau der Punkt, an dem wir uns von Ihnen grundsätzlich unterscheiden. Es ist zwar richtig und wird auch von niemandem bestritten, daß Molekülvariationen auch mit dem Ziel entwickelt werden, die Festbetragsregelung zu umgehen. Aber - das ist der springende Punkt - wer soll denn zwischen gesundheitspolitisch sinnvollen und weniger sinnvollen Patenten unterscheiden? Ist denn eine derartige Unterscheidung überhaupt möglich bzw. sinnvoll? Die Politik ist damit mit Sicherheit überfordert. Eine gesetzliche Regelung, die eine derartige Differenzierung tragfähig leistet, ohne zugleich die Innovationskräfte zu strangulieren, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Den Vorschlag des Kollegen Dreßler, das Bundesinstitut für Arzneimittel neben der Aufgabe der Arzneimittelzulassung auch mit der Aufgabe zu betrauen, den therapeutischen Nutzen der zugelassenen Präparate zu beurteilen, kann man wirklich nur mit Staunen zur Kenntnis nehmen. Dieses Institut soll also nach Ihren Vorstellungen künftig auch damit betraut werden, den therapeutischen Nutzen von neuen Patenten, von sogenannten Molekülvariationen, zu beurteilen.
Ich frage Sie - vielleicht können Sie sich, Herr Kirschner, gleich in Ihrem Redebeitrag dazu äußern -: Ist das wirklich ein ernsthafter Vorschlag, zur Stärkung der Innovationskraft der Pharmaforschung ein Bundesinstitut mit der Bewertung und Kontrolle der Forschungsergebnisse zu beauftragen?
({6})
- Sie sagen „Ein sehr guter Vorschlag! ", und im gleichen Atemzug beklagen Sie bei der Diskussion um die Positivliste zu Recht, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, daß die Arbeit genau dieses Institutes bei der Nachzulassung 20, wenn nicht sogar 30 Jahre dauert, ohne ein politisch tragfähiges Ergebnis gebracht zu haben. Sie beklagen das mit Recht, wollen diesem Institut aber anscheinend noch weitere Aufgaben überstülpen.
Die Lösung dieser Frage kann doch nur - entsprechend den Grundprinzipien eines sozialen marktwirtschaftlichen Systems - darin bestehen, die Freiräume für Innovationen wieder zu schaffen und die Rahmenbedingungen so zu regeln, daß innovative Kräfte sich wieder voll entfalten können, und zwar ohne darüber zu entscheiden, ob das nun gute oder schlechte Forschung ist. Über die Arzneimittelsicherheit entscheidet das Bundesinstitut; über den therapeutischen und diagnostischen Nutzen entscheidet allein der Arzt und sonst niemand, allenfalls noch - aber der steht heute abend nicht zur Debatte - Daniel Bendel.
Mit unserem Gesetzentwurf wird die Bildung von Festbeträgen für alle patentgeschützten Arzneimittel, die nach dem 31. Dezember 1995 die Nachzulassung erhalten, eingeschränkt, und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um gute oder schlechte Patente handelt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch klarstellen, was bei derartigen Debatten oft zu kurz kommt, nämlich die Tatsache, daß es bei der Stärkung der innovativen Kräfte der Pharmaforschung zuallererst um die Interessen der Versicherten und Patienten geht, denen derartige neue Wirkstoffe letztendlich zugute kommen sollen. Jegliche Neiddiskussion, die unsere
Wolfgang Lohmann ({7})
Politik zu diskriminieren versucht, ist völlig fehl am Platze.
({8})
Es geht doch um Antworten, die auf Volkskrankheiten wie beispielsweise Krebs oder Herz-KreislaufLeiden - um nur zwei Stichworte zu nennen - gegeben werden müssen. Die Patienten warten bzw. hoffen darauf, daß die Forschung unseres Landes auch künftig Antworten findet, mit denen Erkrankungen geheilt oder zumindest ihre Symptome gelindert werden können.
Gerade weil das so ist und weil wir uns in der grundsätzlichen Beurteilung des Sachverhalts wohl alle weitgehend einig sind, möchte ich Sie dazu auffordern, in den Beratungen des Gesundheitsausschusses eine Lösung zu suchen, die dem grundsätzlichen Anliegen auch gerecht wird.
Klar muß dabei sein, daß wir als Union nicht bereit sind, hinter die heute vorgeschlagene Lösung zurückzugehen. Wir werden - das kündige ich bereits jetzt an - in den Ausschußberatungen auch einen Änderungsantrag einbringen, mit dem die Problematik billiger Reimporte aus dem Ausland zufriedenstellend gelöst wird. Es kann doch wohl nicht richtig sein, daß aus einem Land Europas, in dem die Arzneimittelpreise auf der Grundlage staatlicher Preisbildung künstlich niedrig gehalten werden, diese Arzneimittel zu ebendiesen Billigpreisen nach Deutschland importiert werden und obendrein in der Apotheke kraft Gesetzes angeboten werden müssen. Wenn sich die Preise auf dem Markt entwickelt hätten, wäre dies etwas anderes; sie werden aber, wie man weiß, administrativ niedrig festgesetzt. Nach unserer Auffassung ist die Beantwortung dieser Frage vor dem Hintergrund des europäischen Arzneimittelmarktes überfällig. Ich bin zuversichtlich, daß wir auch auf diese Frage letztlich eine einvernehmliche Antwort finden werden.
Danke
({9})
Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Die Politik treibt die Beiträge hoch." Von wem wohl stammt dieser bemerkenswerte Satz?
({0})
- Ja, vom Kollegen Seehofer. Er ist nachzulesen in der „Welt" vom 15. November 1995. Wo der Bundesgesundheitsminister recht hat, hat er recht.
({1})
Wenn ich diesen Satz und Ihren Gesetzentwurf nebeneinanderlege und werte, kann ich nur noch hinzufügen: Offensichtlich liegen der Koalition hohe Aktienkurse und Gewinnausschüttungen der Pharmaindustrie an ihre Aktionäre mehr am Herzen als die Beitragssätze der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({2})
Heute lese ich - auch hier hat der Bundesgesundheitsminister recht -: „Die defizitäre Finanzentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung ist dramatisch."
({3})
Ich frage mich, was Ihr Gesetzentwurf soll, der nichts anderes vorsieht, als Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen von der Festbetragsregelung auszunehmen, soweit sie nach dem 31. Dezember 1995 zugelassen wurden.
({4})
Damit legen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, selbst das Messer an das Herzstück des Gesundheits-Reformgesetzes.
({5})
- Ich zitiere doch bloß Ihren Norbert Blüm. Vorhin
war er noch hier, jetzt ist er rechzeitig verschwunden.
({6})
Dies ist ein Zitat von Norbert Blüm. So hat Blüm 1988 die Festbeträge selbst genannt.
Der Bundesgesundheitsminister wird es noch gut in Erinnerung haben. Er ist nicht hier, aber die Frau Staatssekretärin ist anwesend. Nehmen Sie es ihm mit. Damals war der Bundesgesundheitsminister noch Parlamentarischer Staatssekretär im Arbeitsministerium.
Nun behaupten Sie plötzlich, Sie wollten innovative Arzneimittel und Investitionen in der Forschung fördern. Das haben Sie gerade gesagt, Herr Kollege Lohmann. Das ist löblich. Aber was Sie hier betreiben, ist eine Klientelbefriedigungspolitik, also genau das Gegenteil.
({7})
Sie treiben - das wissen Sie ganz genau - die Ausgaben der Krankenversicherung und damit die Beiträge für Versicherte und Unternehmen in die Höhe, die Sie andererseits beklagen. Was hat denn dies, was Sie hier vorlegen, mit Standortpolitik zu tun? Erst recht geben Sie keine Anreize für die Arzneimittelforschung in Deutschland.
Vor diesen Fakten verschließen Sie die Augen. Werden patentgeschützte Arzneimittel von der Festbetragsregelung ausgenommen, ist das Festbetragsinstrumentarium in den Stufen zwei und drei praktisch nicht mehr anwendbar; das wissen Sie.
({8})
Es werden auch solche Arzneimittel von der Festbetragsregelung ausgenommen, bei denen es sich lediglich um marginale Molekülveränderungen ohne klinische Relevanz oder therapeutischen Fortschritt handelt. Damit wird letztlich das gesamte Instrumentarium der Festbeträge strategieanfällig. Dies ist der Punkt, um den es geht.
Die erhebliche Bedeutung von patentgeschützten Arzneimitteln wird schon am Preis der einzelnen Packung deutlich: Während der Preis einer Packung eines patentfreien Arzneimittels durchschnittlich bei 29,52 DM liegt, kostet die Packung eines patentgeschützten Arzneimittels 100,17 DM, was Mehrkosten von 240 Prozent bedeutet.
Sie selbst weisen in der Gesetzesbegründung auf den Anstieg des allgemeinen Preisniveaus hin. Allerdings betätigen Sie sich als Märchenerzähler, wenn Sie behaupten, trotz des nunmehr höheren Preisniveaus würden sich keine unmittelbaren Auswirkungen auf das Verbraucherpreisniveau wegen der weiterhin bestehenden Budgetierung der Arzneimittelausgaben ergeben.
({9})
- Das steht in Ihrer Begründung. Sie müssen einmal den Mist lesen, der darin steht.
({10})
Meine Damen und Herren, soviel Unsinn in drei Sätzen wie in Ihrer Gesetzesbegründung habe ich selten gelesen. Sie können zwar dem Mann im Mond erzählen - falls es ihn gibt und Sie daran glauben -, daß eine Preisverteuerung um 240 Prozent durch Budgets, die ein völlig anderes Ausgangsniveau haben, aufgefangen wird. Das können Sie aber selbst nicht ernsthaft glauben.
Im Ergebnis wird das Vorhaben der Regierungsfraktionen und ihres Ministers als eine Stagnation der auf echte Innovationen gerichteten Forschung und damit der Qualität der Arzneimitteltherapie zu Lasten der Patienten entlarvt.
Wir bekennen uns zum Pharmastandort Deutschland.
({11})
Wir wollen sinnvolle Anreize zu verstärkten Innovationen und Investitionen in der Arzneimittelforschung. Wir müssen daher gemeinsam mit der Pharmaindustrie sicherstellen, daß echte Sprunginnovationen, und zwar solche, die nachweisbar therapeutische Verbesserungen für die Patienten bringen, gefördert werden.
Deshalb sind wir entschieden gegen solche Pseudorahmenbedingungen, die eindeutig nicht diesen Zielen dienen, sondern letzten Endes die Beitragsstabilität der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich gefährden. Meine Damen und Herren, daran müssen Sie sich messen lassen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Marina Steindor, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir fahren fort mit dem Ritual: Unsere Novellierung des SGB V pro Sitzungswoche gib uns heute!
({0})
Bald ist Weihnachten. Wahrscheinlich haben der Gesundheitsminister und die gesundheitspolitischen Spitzen der Regierungskoalition die Pharmaindustrie gefragt: Was wünscht ihr euch denn?
({1})
Sie hat geantwortet: Hohe Preise bei patentgeschützten Produkten.
({2})
Die sollen mit dieser Änderung ins Werk gesetzt werden.
Uns wird wieder das Märchen von der Innovation durch patentgeschützte Arzneimittel erzählt. Meine Damen und Herren, wir haben schon im Rahmen der Positivliste über Molekülspielereien und Methylgruppen diskutiert. Derzeit wird alles patentiert, was nicht niet- und nagelfest ist. Aber die Patenterteilung läßt keine Aussage darüber zu, daß dieser Wirkstoff arzneimittelrechtlich überhaupt zugelassen wird.
({3})
Hier werden Märchen konstruiert.
Sie sind der Pharmaindustrie auf den Leim gegangen. Weltweit befindet sich die Arzneimittelindustrie in derselben Situation. Diese Probleme sind laut „Datamonitor" aus London ein Zeichen für den Reifegrad der Branche. Das zeigt sich an den vielen Arzneimitteln, die sich nur geringfügig unterscheiden, an der großen Zahl von Produkten, deren Patent ausläuft, und auch an der Tatsache, daß trotz technischer Innovationen jedes Jahr weniger neue Wirksubstanzen auf den Markt gebracht werden.
({4})
Von 10 000 Stoffen, die die pharmazeutische Industrie synthetisiert, erreichen überhaupt nur 5 Prozent - wenn es hoch kommt - den Markt.
({5})
Das ist ein inhaltliches Problem. Da können Sie mit Innovationen überhaupt nichts lösen; denn dieser Bereich ist technisch an sich schwierig.
Sie lenken die Forschung in diesem Bereich in die falsche Richtung - mein Kollege von der SPD hat das schon ausgeführt -; denn es wird versucht, über Molekülspielereien von schon existierenden Medikamenten den wirtschaftlichen Gewinn zu sichern. Weltweit ist bekannt, daß die Gewinne der zehn größten Pharmakonzerne auf zwei bis fünf Medikamenten beruhen. Das ist nicht nur ein Problem der deutschen Konzerne, sondern ein allgemeines. Das liegt in der Sache selbst. Die Entwicklung ist teuer und aufwendig.
Ich komme zu dem Gerede über den Standort. Herr Wenninger von der Bayer AG hat selbst gesagt: „Firmen wandern nicht ab, sie gehen dorthin, wo die Märkte sind."
({6})
Was hier an Binnenpolitik gemacht wird, hat doch überhaupt keinen Einfluß. In den Vereinigten Staaten leben schlicht und ergreifend einfach mehr Menschen.
({7})
Wenn Sie das Gutachten der Boston Consulting Group lesen, stellen Sie fest, daß genau die den Nachholbedarf im Management beklagt, daß nämlich zu viele Nachfolgeprodukte und Molekülspielereien gemacht werden und daß das in die falsche Richtung geht.
Diese Debatte und auch die Abwesenheit des Herrn Ministers zeigt doch: Sie haben vor dem Hintergrund des Verfahrens vor dem Bundessozialgericht wegen des Zustandekommens der Festpreise die Segel gestrichen. In anderen europäischen Staaten gibt es Preisregulierungen. Dort verzichten die Regierungen nicht auf Gestaltung zum Schutz ihrer sozialen Sicherungssysteme. Sie machen sich hier zu Marionetten der Pharmaindustrie.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomae, F.D.P.
Ich gratuliere der SPD; denn seit Wochen sagt sie: Der Standort Deutschland muß gesichert werden.
({0})
Jetzt ist die Koalition dabei und sichert den Standort, und Sie verweigern sich. Zwischen Theorie und Praxis ist wieder ein himmelweiter Unterschied.
({1})
Zweifelsohne zeigt sich eindeutig, daß die Forschung in Deutschland in den letzten Jahren rückläufig ist.
({2})
Wir haben ganz eindeutig in einem starken Umfang Abwanderungen von Forschungstätigkeit nach Amerika und Japan. Solch innovative Arbeitsplätze dürfen in Deutschland nicht verlorengehen. Wir müssen die Umkehr und die Voraussetzung dafür schaffen, daß deutsche Unternehmen, aber auch ausländische Unternehmen, so Amerikaner und Japaner, nach Deutschland kommen, hier forschen und ihre Produkte entwickeln.
({3})
Wir wären sicherlich bei manchem Krankheitsbild weiter, wenn Deutschland die Forschungstätigkeiten so gefördert hätte, wie es notwendig gewesen wäre. Wir hätten Krankheitsbilder heute besser im Griff.
({4})
Es ist doch wohl wahnsinnig, wenn Insulinproduktionen in Deutschland gentechnisch hergestellt werden und die Hersteller dann abwandern, weil sie in Deutschland die Zulassung nicht bekommen, und wir diese Produkte dann teuer importieren. Das ist Landespolitik in Hessen. So etwas können wir auf Dauer nicht wollen.
({5})
- Auch Sie, Herr Fischer, haben dafür Verantwortung getragen. Ich würde mich schämen, wenn ich eine solche Politik für ältere Leute betrieben hätte; denn ältere Menschen leiden darunter.
({6})
Wir hätten schon lange das Produkt gegen Multiple Sklerose, wenn Sie nicht die Genehmigungsverfahren blockiert hätten.
({7})
Das kann eine Koalition, die verantwortliche Politik in Deutschland betreibt, nicht mehr länger mitmachen.
Wir wollen nicht die Forschung für die Pharmaunternehmen, wir wollen die Forschung für die deutsche Bevölkerung, damit Krankheitsbilder bekämpft werden, die heute noch nicht bekämpft werden können. Von diesem Standpunkt wird sich die Koalition nicht abbringen lassen.
({8})
Herr Kollege, da Sie eine Pause machen, frage ich: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Ist Ihnen bekannt bzw. könnten Sie mir eine Antwort darauf geben, ob es sich für die Pharmaindustrie nur lohnt, Krankheiten mit Blick auf neue Medikamente zu erforschen, unter denen wenigstens 200 000 Menschen leiden? Haben wir in Deutschland noch so viele Krankheitsbilder, für die das zutrifft?
({0})
Ist Ihnen weiterhin bekannt, daß in den USA die Forschung bei Krankheiten, unter denen weniger als 200 000 Menschen leiden, staatlicherseits gefördert wird? Wie steht die Bundesregierung dazu? Wie stehen Sie dazu?
Wir schaffen über die vorgeschlagene Maßnahme die Möglichkeiten für alle Unternehmen - die weltweiten und deutschen -, Forschung zu betreiben, die sich lohnt. Wenn wir die Festbetragsregelung für diese Produkte lockern, lohnt es sich wieder, auch in die Forschung anderer Krankheitsbilder zu investieren. Damit sichern wir hochwertige Arbeitsplätze, die in Deutschland vorhanden sind.
Wir haben doch das Problem - das wissen Sie genau -, daß 60 000 Arbeitsplätze aus Deutschland in die Gentechnologie nach Amerika und Japan abgewandert sind. Das hat doch nichts mit den Märkten zu tun. Der europäische Markt ist ebenso notwendig und muß mit Produkten bedient werden, die hochinnovativ sind.
Wir haben in Deutschland Krankheitsbilder, die unbedingt durch neue Produkte bekämpft werden müssen. Verdammt noch mal, das wissen Sie doch auch.
({0})
- Entschuldigung.
Herr Dr. Thomae, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Dr. Thomae, reden wir jetzt darüber, ob Festbeträge für patentgeschützte Arzneimittel weiterhin gelten sollen, ja oder nein? Wenn wir darüber reden, stimmen Sie mir dann zu, daß es Ihnen - wenn ich Ihre Argumentation, warum Sie die Festbeträge in diesen Bereichen aufheben wollen, richtig verstehe - darum geht, die Gewinnsituation der pharmazeutischen Industrie zu verbessern?
Sie behaupten, mit Festbeträgen würden Innovationen behindert. Können Sie mir ein einziges denkbares Arzneimittel nennen, dessen Erforschung durch die Festbeträge behindert worden ist?
Sehr geehrter Herr Kirschner, Sie wissen doch ganz genau: Man kann mit Blick auf Produkte innovativ tätig werden und Forschung betreiben, wenn die Hoffnung besteht, daß sich diese Forschungstätigkeit später auszahlt. Bei der jetzigen Festbetragsregelung wird der Patentschutz unterlaufen. Das ist das Problem. In der kurzen Zeit können die innovativen Ausgaben nicht hereingeholt werden. Das ist unser Problem, und das wollen wir ändern. Davon lasse ich mich auch überhaupt nicht abbringen.
({0})
Das ist ein Weg, um Arbeitsplätze in Deutschland zu fördern, und ein Weg, um Krankheitsbilder besser zu bekämpfen. Wir wollen Krankheitsbilder bekämpfen. Es ist Aufgabe dieser Politik, in die Erforschung von Krankheitsbildern zu investieren.
({1})
- Doch, natürlich hat das mit Festbeträgen zu tun. Ich muß Ihnen sagen: Die SPD muß sich einmal hinsetzen und dies konsequent durchdenken.
Das ist der Weg, um Krankheitsbilder zu bekämpfen und Arbeitsplätze zu sichern. Das, meine Damen und Herren, wollen wir mit diesem Antrag erreichen. Ich bin froh, daß wir in der Koalition das jetzt auf den Weg bringen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während in der Gesundheitspolitik fast alle von den notwendigen Reformfortschritten reden, erleben wir gegenwärtig in Wahrheit eine beachtliche Rolle rückwärts: nach dem Streichen der Positivliste und nach dem gerade beschlossenen endgültigen Aus für kirchliche Fachambulanzen nun eine massive Aufweichung der Festbetragsregelung.
Mit dem zur Debatte stehenden Gesetzentwurf ist beabsichtigt, alle patentgeschützten Arzneimittel, die ab Januar 1996 zugelassen werden, von der Festbetragsregelung auszunehmen. Diese Regelung war bekanntlich Bestandteil des Gesundheits-Reformgesetzes von 1988, und sie ist eine der wenigen Maßnahmen aus den letzten Jahren, von denen tatsächlich eine sinnvoll regulierende Wirkung ausgegangen ist.
Immerhin konnte die Preisentwicklung im Arzneimittelsektor mit ihrer Hilfe wirksam gedämpft werden. Aber der schöne Traum von den hohen Medikamentenpreisen - besser gesagt: von den speziell in Deutschland teilweise maßlos überhöhten Preisen - hat die Pharmaindustrie natürlich nie ruhen lassen. Die dem heutigen Gesetzentwurf zugrunde liegende Idee ist also keineswegs neu, sondern gehörte von
Anfang an zum Standardrepertoire der Forderungen der Arzneimittelbranche.
Vorgeblich geht es darum, der „notleidenden" Pharmaindustrie die elementaren finanziellen Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer innovativen Kräfte endlich wieder zurückzugeben. Nun ist ja ernsthaft nicht zu bestreiten, daß Arzneimittelforschung, die auf echte Innovationen und gänzlich neue Wirkprinzipien gerichtet ist, mit denen die großen und in der Tat segensreichen therapeutischen Durchbrüche erzielt werden, nicht nur risikoreich, sondern auch mit erheblichem und tendenziell weiter wachsendem Aufwand verbunden ist.
Frau Kollegin Dr. Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich probiere es einmal.
Frau Kollegin Dr. Fuchs, ich wollte ganz gern fragen, worauf Sie es eigentlich zurückgeführt haben, daß es in der ehemaligen DDR - auch zu Zeiten, als Sie noch Sport getrieben haben - nur einen Bruchteil der Medikamente gab, die es in Westdeutschland und den übrigen westeuropäischen Ländern gegeben hat.
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Das Wort zur Antwort hat die Kollegin Dr. Fuchs.
Worauf ich das zurückgeführt habe? Ich glaube, daß dort nicht in dem Umfang geforscht worden ist wie in anderen Ländern. Aber die Medikamentenbehandlung hat ausgereicht, um die Grundbedürfnisse der Gesundheitsbetreuung zu sichern.
({0})
Die Frage ist jedoch: Was ist in diesem Sinne wirklich innovativ, und was alles ist patentgeschützt? Das ist eben keinesfalls deckungsgleich.
({1})
Hinter einem Patent verbergen sich bekanntlich in nicht wenigen Fällen lediglich minimale Variationen im molekularen Bereich, deren therapeutische Relevanz dann allerdings zu wünschen übrigläßt. Wir lehnen deshalb die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehene, generelle und völlig undifferenzierte Aufhebung der Festbeträge für alle patentgeschützten Arzneimittel ab.
Im übrigen gilt wohl: Solange die Pharmaindustrie in der Lage ist, für Arzneimittelwerbung in den öffentlichen Medien und vor allem auch für ihre Marketingstrategien gegenüber der Ärzteschaft Milliardensummen auszugeben, kann es um ihre finanzielle Lage so schlecht nicht bestellt sein.
Natürlich gibt es auch großen Reformbedarf. Dieser besteht aber vor allem darin, endlich die notwendigen Rahmenbedingungen für eine wissenschaftlich begründete und in erster Linie ärztliche gesteuerte Arzneimitteltherapie zu schaffen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Knaape.
Auf die Zwischenfrage von Herrn Lohmann erfolgte ein Zwischenruf durch den Abgeordneten Zöller, daß wir in der ehemaligen DDR fünf Jahre früher gestorben seien. Und Herr Lohmann hat unterstellt, in der DDR habe es nicht genügend Arzneimittel gegeben, um die Patienten sachgemäß zu behandeln. Ich möchte dies zurückweisen. Das ist eine persönliche Beleidigung jener, die sich in der DDR - auch in den kirchlichen Fachambulanzen, die wir zuvor behandelt haben - um die Leiden der Menschen bemüht haben.
({0})
Ich muß den Kollegen Zöller fragen, ob er antworten will.
Nein.
Dann hat jetzt das Wort der Kollege Horst Schmidbauer, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier ja nicht über Peanuts. Wir reden über 1 Milliarde DM. Das ist eine eins mit neun Nullen.
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Wir reden über ein weiteres Geschenk für die Pharmaindustrie. Man hört, daß der Minister seit Tagen für diese Milliarde nach einem passenden Nikolausstrumpf sucht, um dieses Geschenk unterzubringen.
Wir haben ein Geschenk Nummer eins erlebt. Per Schnipsel wurde schon die Positivliste der Pharmaindustrie als Geschenk überreicht. Das war geschmacklos, aber um so gewichtiger, denn es ging um einen Qualitätssprung von 6 Milliarden DM und ein Sparvolumen von 2 Milliarden DM, das hier verschenkt worden ist.
({1})
Das Geschenk Nummer zwei war geschmackvoller - mit einem Nikolausstrumpf -: Per Gesetz soll jetzt eine dritte Milliarde überreicht werden.
Die Krankenkassen haben mit viel Mühe erreicht, daß ein Teil der Arzneimittel durch Festbeträge
Horst Schmidbauer ({2})
kostengünstig vermarktet werden muß. Arzneimittel im Wert von 5,6 Milliarden DM können so durch Festbeträge erfaßt werden. Wenn jetzt die Festbetragsregelung der Stufe zwei und drei gekappt wird, sind Preissteigerungen von 20 bis 30 Prozent programmiert. Nach Adam Riese ist das bei 5,6 Milliarden DM eben diese berühmte 1 Milliarde DM.
({3})
Nun zur Mechanik des Nikolausgesetzes. Sie läßt sich zum Beispiel an einer Gruppe von Mitteln gegen Bluthochdruck erläutern, den sogenannten ACEHemmern. Das Beispiel wird allerdings Ihren Blutdruck nicht senken, sondern steigen lassen. 1,7 Milliarden DM sind für diese ACE-Hemmer bisher jährlich zu Lasten der GKV verordnet worden. Der Renner dieser Gruppe, Captopril, hat einen Anteil von 50 Prozent. Sein Patentschutz ist im Februar 1995 ausgelaufen.
Die Wirkungsweise der Mechanik der Festbeträge bisher ist folgende. Sobald für ein einziges Präparat dieser Gruppe der Patentschutz endet, kann für die ganze Gruppe eine Jumbo-Festbetragsgruppe gebildet werden. Der Erfolg der Mechanik ist: Die verbleibenden patentgeschützten Mittel dieser Gruppe werden zwar nicht zu Generika, aber durch die Festbetragsregelung wird ihr Preis um 20 bis 30 Prozent gesenkt. In unserem Beispiel bringt das den Kassen und Versicherten beim Renner Captopril 400 Millionen DM, für den Rest der Jumbo-Gruppe weitere 200 Millionen DM, also nach dem geltenden Gesetz zusammen 600 Millionen DM.
Herr Kollege Schmidbauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Bitte.
Herr Kollege Schmidbauer, ich möchte Sie fragen, wie Sie dazu stehen, daß Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Herr Dreßler, in einer Rede auf der Hauptversammlung des VfA am 30. November 1995 gesagt hat:
Wir haben in diesem Zusammenhang in den vergangenen Wochen das Anliegen der forschenden Pharmaunternehmen diskutiert, die Regelung über die Festbetragsfähigkeit von patentgeschützten Arzneimitteln zu verbessern. Ich verstehe dieses Anliegen nicht nur, ich unterstütze es.
({0})
Ich werde die Rede zu Ende lesen, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Aber ich möchte Ihnen ein anderes Zitat dazu vortragen. Es lautet:
Die Manager der pharmazeutischen Industrie wissen sehr wohl, daß die augenblickliche Gestaltung der Festbeträge im Arzneimittelmarkt nicht das Problem der pharmazeutischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern wenn es überhaupt ein Problem gibt, dann sind es die eher bescheidenen Ergebnisse der pharmazeutischen Forschung in den letzten zehn Jahren.
Das ist ein Zitat des obersten Beamten des Ministeriums, nämlich von Herrn Schulte.
({0})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, Herr Kollege Schmidbauer?
Ja, selbstverständlich.
Bitte.
Herr Präsident, ich wollte nur wiederholen. Ich hatte gebeten zu sagen, wie Herr Schmidbauer zu dem Zitat seines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden steht, nicht zu dem, was Herr Schulte oder sonst jemand gesagt hat.
({0})
Ich werde in der weiteren Rede noch darauf kommen.
({0})
Herr Dreßler hat die Rede natürlich gehalten und diesen Teil des Prüfungsaspektes berücksichtigt. Er hat dann ausgeführt, daß eben die Vorstellungen, die Sie haben, das nämlich mit der Stufe zwei und drei zu kappen, nicht innovationsfreundlich sind und deshalb abgelehnt werden müssen. Das werden wir auch tun.
({1})
- Genauso hat er es gesagt.
Ich möchte noch einmal zu der Mechanik zurückkommen. Diese Mechanik ist es, die die Pharmaindustrie stört und die sie verändert haben möchte. Die Koalition hilft dabei, diese Mechanik zu zerstören.
Damit hier Klarheit herrscht: Uns liegt tatsächlich an einer leistungsfähigen pharmazeutischen Industrie. Dies lassen wir uns nicht nehmen. Leistung allerdings messen wir an Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit. Davon hängt eben der Nutzen
Horst Schmidbauer ({2})
für die Menschen ab, und davon hängen auch die Produktionsziffern und der Weltmarktanteil ab.
({3})
Das Gesetz dieser Koalition hat schwerwiegende Konsequenzen, die Sie verschweigen. Die Folge eins: Die Pharmaunternehmen würden ermuntert, mit Hochdruck Arzneimittel auf den Markt zu bringen, die nur geringfügig in ihrer Molekularstruktur verändert, dafür aber patentgeschützt und damit festbetragsfrei sind. Die pseudoinnovativen Substanzen würden keinen neuen therapeutischen Nutzen bringen.
Und die Folge zwei: Die neuen Wirkungsmechanismen führten zur Nachbauforschung, die leichter, schneller und lukrativer als Neuentwicklungen sind. Damit werden die eigentlichen Forschungskapazitäten für die Entwicklung von Mitteln mit tatsächlich innovativem therapeutischem Nutzen gebunden und fehlgeleitet.
Wer also Molekularvarianten zusammenbastelt, um auslaufenden alten Patentschutz durch neuen zu ersetzen, wer so die Festbetragsfreiheit auch ohne wirklich innovative Leistung umgehen will, der wird bei uns auf Ablehnung stoßen. Wir wollen Kreativität und Qualität fördern und nicht ideenlose Abzockerei.
({4})
Bilanzpressekonferenzen und Jahreshauptversammlungen verkünden ein Bild mit Rekordumsätzen und explodierenden Gewinnen: Bei Hoechst stieg der Gewinn vor Steuern um 80 Prozent. Bei Bayer stieg der Konzerngewinn gegenüber den schon guten 94er Werten um nochmals 35 Prozent. BASF verzeichnete im ersten Quartal 1995 ein Gewinnplus von 125 Prozent.
Und nun die große Preisfrage: Wer soll eigentlich dieses Nikolausgeschenk bezahlen?
({5})
Da heißt es ganz süffisant in der Begründung des Gesetzes:
Die Auswirkungen auf die Arzneimittelkosten der GKV werden weiterhin durch die Budgets nach § 84 SGB V begrenzt.
Diese Begründung, meine Damen und Herren, ist eine doppelte Trickkiste. Es wird zwar bescheinigt, daß das Gesetz zu einer immensen Preissteigerung führen wird, aber dafür werden die Ärzte nach § 84 in Haftung genommen.
Im Endeffekt bedeutet dieser Crashkurs: Die Budgetdeckel schlagen durch. Im Endeffekt werden die Versicherten diese Milliarden zahlen nach dem Motto: „Nikoläuschen" für die Industrie, die Rute für die Versicherten und die Ärzte.
({6})
Die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl gibt die Rede zu Protokoll. *)
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/3217 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie die Zusatzpunkte 8 bis 10 auf:
8. Vereinbarte Debatte
zum Tag der Menschenrechte
ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer, Gerd Poppe und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsberichte und Lageberichte der Bundesregierung für die parlamentarische Arbeit nutzbar machen
- Drucksache 13/3210 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({1})
Innenausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Krautscheid, Dr. Christian SchwarzSchilling, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Den Menschenrechten weltweit zur Geltung verhelfen
Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1995
- Drucksache 13/3214 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({2})
Innenausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ZP10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Konzept für eine deutsche Menschenrechtspolitik in ihrer Verbindung mit den anderen Politikbereichen
- Drucksache 13/3229 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({3})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und *) Anlage 3
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist inzwischen eine gute Tradition geworden, aus Anlaß des Menschenrechtstages im Bundestag eine Bilanz der Menschenrechtspolitik, ihrer Probleme, aber auch ihrer Erfolge zu ziehen.
({0})
Die Bundesregierung zieht die Bilanz ihrer Menschenrechtspolitik in dem dem Bundestag vorgelegten Menschenrechtsbericht. Der diesjährige Bericht hätte Ihnen eigentlich wesentlich früher zugehen sollen, und er war auch rechtzeitig fertig. Angesichts gravierender Vorfälle der jüngsten Vergangenheit vor allem auch in Nigeria hat Bundesminister Kinkel den Bericht, der den Zeitraum von November 1993 bis Oktober 1995 abdeckt, noch einmal angehalten, um ihm letzte Aktualität über den Berichtszeitraum zu geben. Ich bitte dafür herzlich um Ihr Verständnis.
Die Menschenrechtspolitik hat für die Bundesregierung, vor allem auch für Bundesminister Kinkel und für mich als Beauftragten für Menschenrechte, einen besonders hohen politischen Stellenwert. Dabei ist uns sehr wohl bewußt, daß die Förderung und der Schutz der Menschenrechte nicht eine ausschließliche Aufgabe der Bundesregierung, sondern ein ganz wesentliches Anliegen des Parlaments und einer Vielzahl gesellschaftlicher Kräfte und Organisationen ist.
Deshalb haben der Bundesaußenminister und ich vor wenigen Tagen mit Vertretern von zirka 25 Nichtregierungsorganisationen, von Kirchen, Wirtschaft und Gewerkschaften in einem ganztägigen Kolloquium, an dem auch die Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages aus dem Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe teilgenommen haben, über Probleme einer zeitgemäßen, erfolgsorientierten Menschenrechtspolitik in unseren Außenbeziehungen diskutiert. Der Bundesminister des Auswärtigen hat die Leitlinien der deutschen Menschenrechtspolitik auf dieser Veranstaltung noch einmal in den folgenden acht Punkten festgelegt.
Erstens. Im Mittelpunkt der Menschenrechtspolitik als Kernbereich deutscher Außenpolitik steht die Sorge um die Würde des Menschen. Kinder, Frauen und Männer, für sie alle gelten die gleichen Rechte. Sie alle sollen in Freiheit und ohne Angst leben können. Dabei darf es keinen Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen, zwischen Mehrheit und Minderheit geben.
Zweitens. Fundamentale Freiheitsrechte dürfen nicht mit der Begründung verweigert werden, man müsse zunächst die Menschen von Armut und Hunger befreien. Die einzelnen Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Unser Ziel ist die weltweite Durchsetzung und Sicherung der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte in ihrer ganzen Bandbreite.
Drittens. Hinter die universelle Geltung der Menschenrechte gibt es kein Zurück. Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen lehnen wir ebenso wie neue Feindbilder entschieden ab.
({1})
Viertens. Menschenrechtspolitik fängt im eigenen Land an. Nur dann ist sie glaubwürdig und effizient.
({2})
Fünftens. Massive Menschenrechtsverletzungen gefährden oder zerstören internationale Stabilität und Sicherheit. Sie schaden dem Wohlstand der Staaten und ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Der Schutz und die Förderung der Menschenrechte liegen im wohlverstandenen Interesse der Staaten. Menschenrechtspolitik ist deshalb auch immer gute Interessenpolitik, weil sie dem Frieden, der Stabilität und letztlich der Entwicklung dient.
({3})
Sechstens. Eine auf Dialog und Kooperation angelegte Menschenrechtspolitik ist das Herzstück präventiver Diplomatie und Konfliktvorbeugung. Dialog und Kooperation in der Menschenrechtspolitik sind ein Gebot von Art. 56 der UN-Charta. Solange Menschen vor der Verletzung ihrer Rechte und Grundfreiheiten nicht anders geschützt werden können, muß es bei Kontrolle, Druck und öffentlicher Kritik bleiben.
Siebtens. Menschenrechtspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, der sich die Bundesregierung mit Engagement stellt, national wie international gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union.
Achtens und letztens. Der heute weltweit erreichte Stand der Geltung und Respektierung der Menschenrechte geht ganz wesentlich auf den Einsatz und Beitrag nichtstaatlicher Organisationen zurück.
Am Anfang der meisten Konflikte, die gegenwärtig den Frieden und die internationale Sicherheit bedrohen und in denen die Vereinten Nationen mit Friedensoperationen tätig sind, standen krasse Verletzungen von Menschenrechten, angefangen von der Unterdrückung von Minderheiten bis hin zum Genozid. Die Folgerung daraus ist klar: Die wirksamste Konfliktprävention ist der Schutz von Menschen- und Minderheitsrechten.
Der grausame Krieg im früheren Jugoslawien und andere Rückschläge sollten uns aber nicht den Blick dafür verstellen, daß bei der Sicherung und Durchsetzung der Menschenrechte wichtige Fortschritte erzielt worden sind. Ein beeindruckendes Regelwerk von Menschenrechtskonventionen, vertraglichen und politischen Verpflichtungen und vielfältige
Mechanismen zur Durchsetzung und Sicherung der Menschenrechte sind vorhanden. Auch in der konkreten Politik sind durchaus Erfolge zu verzeichnen. In vielen Staaten wächst das Verantwortungsbewußtsein für die Menschenrechte.
Ich möchte nur zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit nennen: In der Türkei zum Beispiel wird heute eine lebhafte, öffentliche Diskussion über die Menschenrechtslage geführt. Zu den Ergebnissen gehört auch die Änderung von Art. 8 des Antiterrorgesetzes. Mit Befriedigung können wir immerhin feststellen, daß Yassir Kemal in den beiden gegen ihn angestrengten Prozessen freigesprochen wurde.
Ein zweites Beispiel: In Kaschmir erhält das Internationale Rote Kreuz endlich Zugang zu Gefängnissen und Krankenhäusern - eine Forderung, die wir seit Jahren gegenüber der indischen Regierung auf allen Ebenen, einschließlich der des Bundesministers und der des Bundeskanzlers, mit Nachdruck erhoben haben.
Deutschland hat zu einer ganzen Reihe der positiven Veränderungen nach besten Kräften beigetragen.
Die Institution des Hochkommissars für Menschenrechte ist als zentrale Instanz für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte vor eineinhalb Jahren nicht zuletzt auf deutsches Drängen geschaffen worden. Das gilt ebenso für das Ad-hocTribunal für Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien.
Die Chance auf Frieden, die sich für die Menschen in Bosnien-Herzegowina endlich abzeichnet, ist wesentlich auch deutschem Engagement - auch Ihnen hier im Hause gilt dafür Dank - zu verdanken. Der neue ruandische Premierminister hat gerade am vergangenen Wochenende in der deutschen Presse bestätigt, daß kein Land Ruanda so spontan geholfen hat wie Deutschland.
Meine Damen und Herren, angesichts des großen menschlichen Leids, mit dem wir durch viele Konflikte dieser Welt immer wieder konfrontiert werden, fragen sich viele Menschen empört, warum man nicht mehr dagegen tut und warum insbesondere die Vereinten Nationen die schweren Verletzungen der Menschenrechte nicht verhindern.
Die Kritiker haben recht: Das Sterben in Bosnien, der Völkermord in Ruanda und die Hinrichtungen in Nigeria konnten leider nicht verhindert werden. Uns muß aber klar sein: Die UNO ist nur dann handlungsfähig, wenn wir, nämlich die Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen dafür schaffen.
({4})
Es gibt sehr unterschiedliche Interessenlagen in der UNO. Wenn Sie zum Beispiel sehen, daß sich die laufende Generalversammlung derzeit so schwer tut, auf die Vorgänge in Nigeria eine adäquate Antwort zu finden und mit größerer Entschiedenheit zu reagieren, dann hängt das mit den Interessenlagen zusammen. Ich darf dem Deutschen Bundestag von dieser Stelle aus noch einmal nachdrücklich dafür danken, daß mit dem Beschluß vom 1. Dezember ein notwendiges und deutliches Signal gegenüber Nigeria gesetzt worden ist. Die Botschaft dieses Beschlusses heißt: Der Menschenrechtsschutz muß gestärkt werden.
Dies gilt auch für das System der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen geben heute etwa 1,5 Prozent ihres ordentlichen Haushalts für Menschenrechtsaktivitäten aus. Trotz größter Bemühung ist es Deutschland und seinen engagierten Partnern insbesondere aus der Europäischen Union bisher nicht gelungen, mehr zu erreichen. 60 Millionen DM für die weltweiten Menschenrechtsaktivitäten der Vereinten Nationen reichen aber eben nicht aus.
({5})
Bei aller durchaus berechtigten Kritik an der knappen finanziellen Ausstattung von UN-Menschenrechtsaktivitäten sollten wir jedoch das enorme Engagement der Staatengemeinschaft im Bereich der humanitären Hilfe nicht übersehen. Schutz vor Hunger, Seuchen und Obdachlosigkeit ist zugleich auch Schutz elementarster Menschenrechte. Hier leisten die Vereinten Nationen Beachtliches.
Auch die bilateralen Leistungen der Bundesregierung sind 1995 gegenüber dem Vorjahr um knapp 30 Prozent auf fast 90 Millionen DM gestiegen. Dabei sind die humanitären Hilfsaktionen, die für das ehemalige Jugoslawien notwendig wurden, sowie die Leistungen für Hunderttausende von Kriegsflüchtlingen, die bei uns Aufnahme gefunden haben, nicht berücksichtigt.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brecht?
Gerne.
Bitte.
Herr Staatsminister, wenn Sie so beklagen, daß die Vereinten Nationen für ihre Menschenrechtsaufgaben unteralimentiert sind, wie bewerten Sie dann die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland, aber auch alle ihre Partner in der NATO im Rahmen der NATO etwa das Zwanzigfache von dem ausgeben, was sie für die Vereinten Nationen als System kollektiver Sicherheit übrig haben?
Mir wäre es lieber, Herr Kollege Brecht, das Verhältnis wäre umgekehrt. Aber da die NATO gerade im Augenblick dabei ist, mit einer Aktion den Frieden in Bosnien-Herzegowina herzustellen und dabei wiederum letztlich etwas für die Menschenrechte leisten muß, ist vielleicht in diesem Augenblick das Beispiel nicht ganz so glücklich. Aber generell gesehen teile ich Ihre Meinung: Es wäre umgekehrt besser.
Ich möchte hier ausdrücklich dem Deutschen Bundestag danken, vor allem dem Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, ohne dessen Unterstützung auch unsere Bemühungen in vielfältiger Weise nicht gelungen wären. Aber neben Regierung und Parlament haben viele unserer Bürger, haben nicht zuletzt auch die Nichtregierungsorganisationen wesentlich zur Förderung und Sicherung der Menschenrechte beigetragen. Ohne deren Beitrag, ohne die selbstlose und aufopferungsvolle Arbeit ihrer Mitarbeiter wäre der heutige Stand der Geltung und Respektierung der Menschenrechte nicht erreichbar gewesen.
({0})
Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Menschenrechtspolitik wird ein zentrales Thema unserer Gesellschaft bleiben. Ohne sie wird es keine Ruhe und keinen Frieden in der Welt geben.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Rudolf Bindig, SPD.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn Politik aus wertorientierter Zielsetzung einerseits und Schritten, diese zu erreichen, andererseits besteht, so ist das Gebiet der Menschenrechtspolitik sicherlich der oder ein Bereich, bei dem es in der Zielsetzung einen umfassenden Konsens in diesem Hause gibt. Wir alle erklären, daß wir die Menschenrechte verwirklicht sehen wollen, daß die Menschenrechte universell gelten müssen, daß Kinder, Frauen und Männer in Freiheit ohne Angst und ohne Armut leben können.
Bei dieser gemeinsamen Zielsetzung richtet sich die politische Debatte darauf: Was kann die Politik tun, was tut sie und was müßte sie tun, um die erklärten hohen Menschenrechtsziele zu erreichen? Ich möchte die Aufmerksamkeit in dieser Debatte zum Tag der Menschenrechte diesmal weniger auf die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten richten, sondern auf Probleme und Defizite der deutschen Menschenrechtspolitik. Dabei geht es in erster Linie um mögliches Tun oder Unterlassen der Bundesregierung. Diese Betrachtung ist auch deshalb wichtig, weil die Koalitionsfraktionen für diese Debatte nur einen „Antrag zur Bejubelung der Regierung" vorgelegt haben, aber keine weiterweisenden eigenen Vorschläge einbringen.
Außenminister Kinkel hat bei dem Menschenrechtsforum mit Nichtregierungsorganisationen vor wenigen Wochen auf dem Petersberg bei Bonn seine Menschenrechtspolitik in acht Thesen zusammengefaßt - Sie haben sie gerade noch einmal vorgetragen -, in denen er Ziele und Mittel der Menschenrechtspolitik auf einer sehr abstrakten Ebene dargestellt hat. Probleme und Defizite erkennt man jedoch meistens mehr in der praktischen, das heißt, tagtäglichen Menschenrechtspolitik. Zehn Problempunkte möchte ich nennen:
Erstens. Menschenrechtspolitik hat im Aktionsbereich der Bundesregierung in den letzten Jahren zwar an Bedeutung und Intensität zugenommen; sie bleibt aber an Ideenkraft, in der Institutionalisierung, im Hinblick auf den Einsatz von personellen und finanziellen Kapazitäten noch deutlich hinter anderen Politikgebieten zurück. Dies ist ein Bereich, aber noch kein Schwerpunktbereich des internationalen Engagements Deutschlands geworden.
Menschenrechtspolitik ist Friedenspolitik. Deutschland sollte sich als zivile Friedensmacht mit deutlicherem Profil als bisher in der Menschenrechtspolitik auf bilateraler und multilateraler Ebene einbringen.
({0})
Zweitens. Derzeit liegen die Hauptaktivitäten der Menschenrechtspolitik im Krisenmanagement bei eingetretenen und besonders krassen Fällen von Menschenrechtsverletzungen. Aber sowohl der Bereich der Früherkennung, der Prävention und der Konfliktvermeidung wie der Bereich der rechtlichen Ahndung von Menschenrechtsverletzungen werden weit weniger beachtet.
Die Häufigkeit, mit der die Notwendigkeit präventiven Menschenrechtsschutzes auf allen Ebenen betont wird, steht im Gegensatz zum tatsächlichen Handeln auf diesem Gebiet. Dabei gibt es doch eine breite Spannweite von Möglichkeiten, eine menschenrechtsbezogene Projektpolitik zu entwickeln. Sie reicht von der Menschenrechtserziehung über die Mithilfe beim Aufbau eines unabhängigen Justizwesens über die menschenrechtsbezogene Ausbildung von Kräften im Sicherheits- und Vollzugsbereich bis hin zu Maßnahmen zur Demobilisierung und beruflichen Integration ehemaliger Soldaten oder Guerilla-Kämpfer.
Drittens. Im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union hat sich die Zusammenarbeit zwar im klassischen Bereich diplomatischer Mittel, also bei Konsultationen, Demarchen, der Einbestellung von Botschaftern, Resolutionen, Erklärungen durch die Präsidentschaft oder durch die Troika, verbessert, doch ist die Fähigkeit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, für Problemländer gemeinsame Behandlungsstrategien zu entwickeln und vor allem auch durchzuhalten, noch unterentwickelt. Erst neulich haben wir dies bei der schicksalhaften Entwicklung in Nigeria erlebt.
Viertens. Die Bundesregierung spricht zwar selbst immer wieder davon, daß die im Rahmen der OSZE oder der UN entwickelten internationalen Menschenrechtsinstrumente deutlich gestärkt werden müssen, bringt aber selbst nicht die Kraft auf, in einer bewußten, gezielten politischen Aktion diese Institutionen zu stärken und damit international die Bedeutung der Menschenrechte zu betonen und auch andere Länder zu motivieren, sich auf diesem Gebiet stärker zu engagieren.
({1})
Das in zäher Kleinarbeit geschaffene Amt des UN- Hochkommissars für Menschenrechte, die Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Themen und Länder sowie das Genfer Menschenrechtszentrum leiden unter chronischer Finanznot. Es reicht nicht, nur darauf hinzuweisen, daß diese Institutionen im UN-System besser ausgestattet werden müssen. Mittel für den präventiven Menschenrechtsschutz können zudem Ausgaben für spätere Konfliktbereinigung ersparen helfen.
Ganz besonders demotivierend wirkt dann natürlich, wenn gemeinsame Bemühungen der Menschenrechtspolitiker im Bundestag und einstimmige Bundestagsbeschlüsse zur minimalen Verbesserung der Finanzausstattung des freiwilligen Fonds für die beratenden Dienste des Menschenrechtszentrums in Genf und für den Folteropferfonds der Vereinten Nationen von einer wohl sachunkundigen Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion, die als Berichterstatterin im Haushaltsausschuß eine wichtige Funktion hat, wieder zunichte gemacht werden.
Fünftens. Im UN-System kommen die Bemühungen zur Errichtung eines ständigen Internationalen Gerichtshofs und die Arbeiten zu einem Internationalen Strafgesetzbuch, den Kodex der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit, nur langsam voran. Welche Wirkungen die strafrechtliche Verfolgung von Einzelpersonen wegen Kriegsverbrechen zu entfalten beginnt, sehen wir jetzt im ehemaligen Jugoslawien. Zwar ist dies eine völkerrechtlich komplizierte Materie, doch wegen der außerordentlichen Bedeutung, die die Bestrafung von Menschenrechtsverbrechen hat, sollte sich Deutschland in besonderem Maße bemühen und anstrengen, um diese Vorhaben voranzubringen.
Sechstens. Müssen Menschenrechtsverletzungen, um international wahrgenommen zu werden, im Bereich der bürgerlichen und politischen Menschenrechte meistens bereits ein erhebliches Ausmaß erreicht haben, so ist die Fähigkeit, die Verletzungen sozialer und wirtschaftlicher Menschenrechte wahrzunehmen und darauf zu reagieren, oftmals noch geringer. Nicht selten ist sie sogar mehr von der Medienpräsenz abhängig als von der Bereitschaft, die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte ernst zu nehmen. Aktuelle Not- und Krisensituationen, über die in Massenmedien berichtet wird, werden oft politisch mehr beachtet und mit humanitärer Hilfe bedacht als längenandauernde oder sogenannte „stille" Krisen. Die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland, die weltweit geleistet wird, leidet seit Jahren unter chronischer Finanzknappheit und wird in der Abwägung zu anderen Politikbereichen völlig unzureichend ausgestattet.
Siebtens. Die Integration und Verknüpfung der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung mit den anderen Politikbereichen ist ungenügend.
({2})
Dies gilt insbesondere für den Bereich der Rüstungsexportpolitik. Rüstungsexporte tragen die Gefahr
der Konfliktverschärfung, neuer Kriege und schwerer Menschenrechtsverletzungen in sich. Die Verdrängung oder Verleugnung von möglichen Zusammenhängen zwischen deutschen Rüstungslieferungen und Menschenrechtsverletzungen stellt wohl die größte Schwachstelle der deutschen Menschenrechtspolitik dar.
({3})
Ich erinnere hier an die Diskussion um Rüstungslieferungen in die Türkei.
({4})
- Ich glaube, daß dies keine SPD-Position ist, weil wir mehr für Konversionsüberlegungen eintreten.
Achtens. Die Abstimmung der deutschen Menschenrechtspolitik mit der Handelspolitik ist mangelhaft. Auch Außenwirtschaftspolitik muß den Dialog über Menschenrechte einbinden. Maßnahmen zur Erhaltung sozialer Mindeststandards und zur Bekämpfung von Kinderarbeit und Sklavenarbeit sind erforderlich. Die Debatte in der letzten Woche über das chinesische Laogai-System hat gezeigt, daß die Bundesregierung auf diesem Gebiet tatenlos die Dinge treiben läßt.
({5})
Neuntens. Was die Organisation der deutschen Menschenrechtsarbeit angeht, so ist festzustellen, daß mit der Ernennung eines Beauftragten des Auswärtigen Amtes für humanitäre Hilfe und Menschenrechtsfragen und durch die Schaffung einer neuen Abteilung mit dem Arbeitsstab Menschenrechte zwar eine gewisse Verbesserung erreicht worden ist. Dennoch bleibt die personelle Ausstattung und die institutionelle Ausgestaltung der deutschen Menschenrechtspolitik hinter dem Notwendigen deutlich zurück.
({6})
In vielen Politikbereichen, von der Entwicklungspolitik über die Forschungspolitik und die Sozialpolitik bis hin zur Umweltpolitik haben sich Systeme aus Beiräten, Institutionen oder spezialisierten Durchführungsorganen gebildet. Eine derartige Umfeld- und Vorfeldentwicklung gibt es im Bereich der Menschenrechte bisher nicht. Daher sollte die Einrichtung eines deutschen Instituts für Menschenrechte nach dem Vorbild anderer europäischer Länder geprüft werden.
({7})
Diesen Prüfauftrag hat der Deutsche Bundestag im Juni 1994 einstimmig beschlossen.
({8})
Bisher gibt es darauf keinerlei Antwort der Bundesregierung an den Bundestag.
Zehntens. Der Programmansatz der Bundesregierung, daß Menschenrechtspolitik im eigenen Land anfängt - auch Sie haben das gerade wieder gesagt -, hat leider in der Innenpolitik Vollzugsdefizite.
({9})
Probleme gibt es vor allem beim Asylrecht im Flughafenverfahren, bei der Drittstaatenregelung und beim Abschiebungsvollzug. Problematisch ist darüber hinaus teilweise die Qualität und die Bedeutung der Lageberichte im Asylverfahren wie auch die Tatsache, daß der Sonderstatus für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge bisher nicht geschaffen wurde. Schließlich sind Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen Ausländer gesellschaftliche Entwicklungen, durch die die Menschenrechte verletzt werden.
({10})
Diese zehn Punkte - weitere könnten genannt werden - zeigen den Reformbedarf der deutschen Menschenrechtspolitik auf. Wir fordern deshalb mit einem Antrag zu dieser Debatte die Bundesregierung auf, ein Konzept für eine deutsche Menschenrechtspolitik in ihrer Verbindung mit den anderen Politikbereichen zu entwickeln. Die Bundesregierung ist aufgefordert, darzulegen, wie die Menschenrechtspolitik mit der allgemeinen Außenpolitik, der Außenwirtschaftspolitik, der Rüstungsexportpolitik, der Entwicklungszusammenarbeit und der Innenpolitik verknüpft werden kann.
({11})
Ein solches Konzept in Theorie und Praxis sind Sie uns bisher schuldig geblieben.
({12})
Das Wort hat der Kollege Andreas Krautscheid, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Bindig, vor Eintritt in das, was ich eigentlich vorhabe vorzutragen: Ich bin schon etwas erstaunt. Wenn die Regierungsfraktionen einen Antrag vorgelegt haben, der die Arbeit der Regierung in einigen Teilen begrüßt, kann ich zwar verstehen, daß Ihnen entgangen ist, daß die Arbeit der Regierung grundsätzlich so gut ist, daß sie begrüßenswert ist,
({0})
aber hätten Sie den Antrag zu Ende gelesen, dann
wären Sie dazu gekommen, daß wir in zwölf sehr
konkreten Punkten Vorschläge, Initiativen, Forderungen an die Bundesregierung richten.
({1})
Ich muß eines sagen: Das hat mich ein bißchen gewundert. Denn wir arbeiten im Ausschuß eigentlich sehr gut und intensiv zusammen.
({2})
Wir haben nach Jahren erstmals wieder eine Debatte zum Tag der Menschenrechte. - Sie haben gerade eine Menge Ideen vorgetragen; darüber kann man auch diskutieren. Aber das einzige, was Ihnen dann als Antrag einfällt, sind acht magere Zeilen mit der Forderung, die Regierung möge bitte ein Konzept vorlegen. Wo sind denn die konkreten Punkte? Dafür hätten Sie Zeit gehabt.
({3})
Leider ist im Antrag von dem, was die Leute interessiert, nichts vorhanden.
Herr Kollege Krautscheid, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß gerade auch die SPD im Unterausschuß Menschenrechte und humanitäre Hilfe in den letzten Monaten nicht nur einmal, sondern mehrfach darauf hingewiesen hat, daß die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung in den letzten Monaten deutlich an Konturen gewonnen habe, daß vor allen Dingen durch die Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen, aber auch durch die Neuorganisation im Auswärtigen Amt eine deutliche Zunahme der Bedeutung zu verzeichnen sei?
Frau Kollegin Schwaetzer, erstens kann ich das sehr wohl bestätigen.
Das zweite, was mir eben auch aufgefallen ist, ist folgendes: Es gibt schon eine gewisse Diskrepanz zwischen dem, wie wir im Ausschuß in Sacharbeit uns gegenseitig auch in Detailfragen zusammenraufen, und dem, wie hier heute aufgetreten worden ist. Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, und das ist relativ traurig.
Ich möchte vermeiden - Sie werden das gleich auch merken -, daß Detailfragen der Menschenrechtsarbeit - ich weiß, daß mir viele insgeheim zustimmen - aus dem rein parteipolitischen Streit herausgehalten werden. Wir haben hier in den letzten Wochen in diesen Räumlichkeiten das eine oder andere Erlebnis gehabt, bei dem man die Vermutung haben kann, daß es nicht allein um die Sache geht, sondern daß auch noch parteipolitisches Kapital darAndreas Krautscheid
aus geschlagen werden soll. Dafür sind mir die Fragen der Menschenrechte zu schade.
Herr Kollege Krautscheid, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, zunächst des Kollegen Poppe?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Krautscheid, können Sie mir denn erklären - wenn diese Zusammenarbeit so gut ist -, warum Sie in diesem Jahr im Gegensatz zu früheren Jahren in keiner Weise den Versuch gemacht haben, daß wir vielleicht in puncto Menschenrechtspolitik der Bundesregierung zu einem gemeinsamen Papier aller Fraktionen kommen, sondern daß Sie statt dessen ein Papier vorlegen, das zur Hälfte wirklich darin besteht, daß die Bundesregierung gelobt wird?
({0}):
Die SPD wollte doch keinen gemeinsamen
Antrag machen!)
- Zuviel gelobt wird.
Herr Kollege Poppe, Sie haben es im Prinzip schon auf den Punkt gebracht. Es war leider offensichtlich in diesem Jahr - entgegen meiner Intention - nicht möglich, ein gemeinsames Papier zu machen, weil es einigen Leuten zu sehr darauf ankam, auch in diesem Bereich - was ich für legitim halte! - Oppositionspolitik deutlich zu machen. Das ist legitim, aber es macht gemeinsame Signale nach außen schwieriger. Deswegen auch mein Angebot, im nächsten Jahr, wenn vielleicht eine gewisse Aufregung auf allen Seiten etwas zurückgegangen ist, dieses gemeinsame Papier hinzubekommen. Das ist das Angebot von mir. Ich weiß, daß Sie damit auch keine Probleme haben.
Herr Kollege Krautscheid, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Bindig, bitte.
Herr Kollege Krautscheid, können Sie mir vielleicht bestätigen, daß ich meine Rede so angelegt habe, daß ich maßvolles Lob mit konstruktiver Kritik verbunden habe?
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Herr Kollege Bindig, die Frage des richtigen Maßes mag zwischen uns durchaus streitig bleiben. Das will ich einmal so festhalten. Es ist die Frage der Balance. Sie werden sicherlich das eine oder andere mehr zu kritisieren haben, als ich zu loben habe. Das ist völlig klar und ist eigentlich auch nichts Besonderes.
Ich sage noch einmal: Kritik ist natürlich legitim und Ihre Aufgabe.
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Aber ich stimme Herrn Poppe völlig zu, daß wir im nächsten Jahr versuchen sollten, einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen.
Aber vielleicht kann ich jetzt einmal mit meiner Rede anfangen, denn dann werden Sie vielleicht auch das eine oder andere zu hören bekommen.
Ich muß Sie aber doch fragen, Herr Kollege Krautscheid, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen. Das sollte dann aber zunächst einmal die letzte sein.
Ich bitte darum.
Herr Kollege Neumann.
Ich möchte zunächst einmal zustimmen, daß es tatsächlich um die Menschen geht, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden, und nicht um Parteipolitik, wenn wir uns hier bemühen.
Aber ich möchte eine Frage stellen: Unter Punkt 4 begrüßen Sie die Berücksichtigung von Menschenrechtsfragen bei der Entwicklungszusammenarbeit durch die Bundesregierung. Nachher, unter Punkt 5, fordern Sie, bei der Entwicklungszusammenarbeit verstärkt auf die Respektierung von Menschenrechten zu drängen. Sehen Sie denn darin noch ein Defizit?
Ich begrüße, daß erstmals durch die Kriterien, die Bundesminister Spranger eingeführt hat, das zu einem Kriterium für die Vergabe von entwicklungspolitischen Geldern geworden ist. Ich wünsche mir aber genau wie meine Kollegen auch, daß dies verstärkt und in mehr Fällen der Fall ist. Deswegen sind die beiden Punkte überhaupt nicht widersprüchlich.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Debatte in diesem Jahr gibt mir den Anlaß, zu einigen Punkten auch konkreter Stellung zu nehmen. Ich möchte allerdings jetzt keine einzelnen Länder behandeln, sondern vielmehr auf einige strukturelle Fragen eingehen.
Es kann - ich glaube, nach unserer übereinstimmenden Meinung - nicht davon ausgegangen und davon gesprochen werden, daß sich die Lage der Menschenrechte seit der UN-Konferenz in Wien 1993 generell und allgemein verbessert hätte. Die Ergebnisse der damaligen Konferenz haben vielfach für
hohe Erwartungen und auch eine gewisse Aufbruchstimmung gesorgt. Es ist auch sicher richtig, daß in vielen Teilen der Welt infolge der demokratischen Entwicklungen die Schutzrechte und Mitwirkungsmöglichkeiten der Menschen deutlich verbessert worden sind. Ich nenne hier als Beispiel die erfreulichen Entwicklungen im südlichen Afrika, in Teilen des Nahen Ostens und den Reformstaaten Mittel- und Osteuropas. Dennoch müssen wir trotz dieser positiven Ansätze erkennen, daß weiterhin gewalttätige Auseinandersetzungen aus ethnischen, religiösen oder machtpolitischen Motiven auf der Tagesordnung stehen und schwerste und grausamste Menschenrechtsverletzungen zur Folge haben. Ich nenne hier nur die entsetzlichen Entwicklungen in Ruanda, in Burundi, in Nigeria oder auch auf Haiti.
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Zudem verstärkt sich der Eindruck, daß eine Reihe von Staaten eines der wichtigsten Ergebnisse der Konferenz von Wien nicht akzeptieren bzw. nicht in aktive Politik umsetzen, nämlich die Übereinkunft, daß Kritik an Menschenrechtsverletzungen keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates bedeutet. Wir müssen nach wie vor feststellen, daß etliche Staaten den Dialog über die Verletzung von Menschenrechten immer noch verweigern bzw. aus diesem Dialog keine Konsequenzen für die Politik im eigenen Land ziehen.
Meine Damen und Herren, wir stehen dazu: Der kritische Dialog auch und gerade mit Regimen, die die Menschenrechte verletzen, ist erforderlich und sinnvoll. Hier muß jedoch auch gelten: Je unmenschlicher und je rücksichtsloser das jeweilige Regime mit der eigenen Bevölkerung umgeht, desto deutlicher und unmißverständlicher muß unser Tonfall im Rahmen dieses Dialogs ausfallen.
({1})
Nicht nur, aber auch weil unsere Politik des kritischen Dialoges, vor allem mit Ländern wie dem Iran oder der Volksrepublik China, nicht immer und nicht von allen, auch im Ausland, gutgeheißen wird, muß sie in besonderem Maße darauf ausgerichtet sein, erkennbare Erfolge für die Menschen zu erzielen. Hier erwarten wir von den Regierungen sowohl in Peking als auch in Teheran deutlichere und positivere Fortschritte.
Von vielen Staaten, insbesondere aus dem islamischen, aber auch aus dem asiatischen Bereich, wird uns entgegengehalten, bei der Frage der Einhaltung der Menschenrechte müsse auf den jeweiligen Entwicklungsstand und die besondere Kultur des betreffenden Landes mehr Rücksicht genommen werden. Sicher ist es richtig, daß nicht von jedem Land von heute auf morgen etwa der Aufbau eines differenzierten Rechtssystems mit unabhängigen gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten erwartet werden kann. Wichtig ist hier jedoch, daß eine eindeutige und dauerhafte Entwicklung in diese Richtung angestoßen wird. Besonders umstritten ist derzeit die Frage, inwieweit der kulturelle Hintergrund eines Landes einen besonderen Umgang mit Menschenrechten rechtfertigt.
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Die Einräumung eines sogenannten Kulturrabatts, gewissermaßen als Freibrief für die Mißachtung von Menschenrechten, ist aus meiner Sicht unakzeptabel.
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Verständnis und Wissen um die Kultur des jeweiligen Gegenübers sind sicherlich Grundvoraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog. Dies bedeutet jedoch nicht, daß unterschiedliche kulturelle Entwicklungen und Traditionen ein Vorwand für Menschenrechtsverletzungen sein könnten. Ob Konfuzius, Koran oder Kant - die Achtung der Würde des Menschen steht in allen Weltregionen und Philosophien im Mittelpunkt, und ein derartiger Mindeststandard ist nach unserem Verständnis der universellen Geltung von Menschenrechten unverzichtbar.
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Dies hat auch nichts mit Kulturimperialismus oder postkolonialem Auftreten zu tun, denn schließlich haben alle diese Länder die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet und müssen sich mithin auch an diesen Grundmaßstäben messen lassen.
Die derzeit sehr gern geführte Diskussion über den angeblich drohenden „clash of civilisations", den Zusammenprall der Kulturen, verzerrt die tatsächliche Lage nach meiner Einschätzung völlig. Zum Beispiel tritt uns der Islam weder staatlich noch religiös als ein monolithischer Block gegenüber.
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Auch die Respektierung von Menschenrechten ist in einzelnen islamischen Republiken und Königreichen höchst unterschiedlich und reicht von verhältnismäßig großer Toleranz bis hin zu grausamster Unterdrückung. Notwendig ist daher der Dialog und die Zusammenarbeit mit denjenigen islamischen Kräften, die zu demokratischen Reformen willens sind. Ihre Arbeit zu fördern und zu schützen gehört zu unseren vordringlichen politischen Aufgaben in den nächsten Jahren.
Meine Damen und Herren, ein weiterer in den letzten Wochen wiederholt diskutierter Punkt ist das Verhältnis von Menschenrechten und wirtschaftlichen Interessen in unseren Außenbeziehungen. Als exportorientiertes Land ist Deutschland grundsätzlich bestrebt, mit allen Ländern auf der Welt Handel treiben zu können. Dies gilt grundsätzlich auch für
Länder, in denen Menschenrechte weniger geschützt werden als bei uns. Das Eintreten für Menschenrechte einerseits und die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen andererseits schließen einander auch nicht grundsätzlich aus. Wer aber glaubt, es werde irgendwann gewissermaßen automatisch ein demokratischer „Wandel durch Handel" eintreten, der irrt.
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Die Strategie, man müsse nur hinreichend wirtschaftliche Beziehungen aufbauen, dann würden sich irgendwann auch die demokratische Struktur und der Schutz der Menschenrechte von selbst einfinden, genügt unseren Anforderungen nicht;
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denn ein aktives und dauerhaftes Eintreten für die Menschenrechte gehört zu den Grundelementen deutscher Außenpolitik.
Es ist aus meiner Sicht ohnehin eine verkürzte und falsche Definition „deutscher Interessen", wenn hier ausschließlich an wirtschaftliche oder strategische Kriterien gedacht wird. Die Durchsetzung der Menschenrechte, die Schaffung freier Demokratien und die Förderung rechtsstaatlicher Strukturen liegen sehr wohl im deutschen Interesse. Dies sind wir nicht nur unserem demokratischen Selbstverständnis schuldig, sondern die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist auch die beste Prävention gegen neue Fluchtbewegungen, gegen Aggression und gegen zunehmende Verelendung in anderen Teilen der Welt. Die Verfolgung deutscher Interessen muß folglich auch die Förderung und Durchsetzung der Menschenrechte beinhalten.
Aber nicht nur die Politik, sondern auch die Medien und die Öffentlichkeit nehmen Menschenrechtsverletzungen häufig sehr selektiv wahr. Ich erinnere an die Unterstützungskampagnen für einzelne Todeskandidaten in den USA, wie Abu Jamal, oder den internationalen Einsatz für ein von der Todesstrafe bedrohtes philippinisches Dienstmädchen in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Wenn gleichzeitig allein in diesem Jahr in Saudi-Arabien über 200 Menschen nach äußerst fragwürdigen Gerichtsverfahren öffentlich enthauptet werden, führt dies in der Presse allenfalls zu einer beiläufigen Erwähnung.
Wie schnell die dauerhafte und grausame Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten in den Hintergrund treten kann, zeigt die Tatsache, daß sich heute der Einmarsch Indonesiens in Osttimor und die systematische Unterdrückung der dortigen Bevölkerung schon zum zwanzigsten Male jährt und als solche kaum mehr registriert wird.
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Ich komme zum Schluß. So notwendig die Beschäftigung mit aktuellen, besonders aufsehenerregenden Menschenrechtsverletzungen auch ist, so wichtig ist die Auffassung von Menschenrechtspolitik als dauerhafte und als Querschnittsaufgabe. Ich hoffe daher zum Beispiel, daß die außerordentlich positive Rolle, die die Bundesregierung im Rahmen der jährlichen Tagung der UN-Menschenrechtskommission spielt, im Jahre 1996 ihre Fortsetzung findet. Dies gilt auch in der Frage, ob die Lage der Menschen in China bei der Sitzung in Genf erneut beleuchtet werden sollte.
Wer von Jahr zu Jahr keine nennenswerten Fortschritte in Menschenrechtsfragen vorzuweisen hat, ja nicht einmal Zeichen guten Willens gibt, der darf sich nicht wundern, wenn er sich regelmäßig auf der Anklagebank der Weltöffentlichkeit wiederfindet.
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Auf der Tagesordnung bleibt auch die Entwicklung eines besseren Frühwarnsystems, welches als Präventionsmechanismus einsetzbar ist. Die besten Frühwarnsysteme machen aber letztlich nur dann Sinn, wenn die Signale von der Staatengemeinschaft auch ernst genommen werden.
Sie müssen zum Schluß kommen, Herr Kollege.
Ja.
Monate vor der menschlichen Tragödie in Ruanda hat der zuständige UN-Sonderberichterstatter vor der sich abzeichnenden Katastrophe in Ruanda und Burundi gewarnt, aber die Völkergemeinschaft hat nicht reagiert.
Ein Lichtblick in den letzten Wochen war, daß - nicht zuletzt durch das Engagement der Bundesregierung - in das Friedensabkommen von Dayton Menschenrechtsklauseln und Grundrechtsvereinbarungen aufgenommen werden konnten. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Ich hoffe, daß wir auch zukünftig mit unserer gemeinsamen Arbeit dazu einen kleinen Beitrag leisten können.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Amke Dietert-Scheuer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich sollte heute der Dritte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung Gegenstand dieser Debatte sein.
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- Doch, das habe ich eigentlich schon so aufgefaßt.
Wegen der kurzfristigen Vorlage ist das leider nicht möglich. Dieses Problem ist kein neues. In ähnAmke Dietert-Scheuer
licher Weise hat das bei der Vorlage des Zweiten Menschenrechtsberichts schon bestanden. Unsere Fraktion hat daher zu diesem Thema einen Antrag eingebracht.
Ich muß daher an einen zentralen Kritikpunkt des „Forum Menschenrechte" an dem Zweiten Menschenrechtsbericht der Bundesregierung anknüpfen, der aber auch ein weiterhin bestehendes Grundproblem anspricht, und zwar den sehr verengten Menschenrechtsbegriff. Der Schwerpunkt wurde ausschließlich auf die bürgerlich-politischen Menschenrechte gelegt. Die sozialen Menschenrechte und insbesondere die Abhängigkeit der unterschiedlichen Menschenrechtsbereiche voneinander wurden nicht ausreichend berücksichtigt.
Menschenrechtspolitik muß eine Querschnittsaufgabe sein, die in der Außenpolitik, der Entwicklungspolitik, den wirtschaftlichen Beziehungen und auch in der Innenpolitik verankert sein muß.
In der Entwicklungspolitik werden fünf Kriterien für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit postuliert. An erster Stelle wird darunter die Beachtung der Menschenrechte genannt. Wenn man die Hauptempfängerländer deutscher Entwicklungshilfe betrachtet, kommen einem jedoch Zweifel an der Umsetzung dieser Kriterien. Es sind Ägypten, die Türkei, Indien, Indonesien und China, alles Länder, in denen die Menschenrechte massiv verletzt werden.
Da drängt sich doch der Verdacht auf, daß die Menschenrechtskriterien keine Rolle spielen, wenn strategische und wirtschaftliche Interessen der Bundesrepublik berührt sind. Ein Beispiel dafür ist der Besuch von Kanzler Kohl beim chinesischen Militär.
Es ist unglaubwürdig, wenn die Kriterien nur bei kleinen, für die wirtschaftlichen Interessen der Bundesrepublik unbedeutenden Ländern angewandt werden.
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Mit bestimmten Problemländern, wie zum Beispiel China oder dem Iran, wird zwar ein kritischer Dialog zu Menschenrechtsfragen geführt. Es scheint aber, daß dies eher ein Feigenblatt ist, um den guten Geschäften den anrüchigen Anstrich zu nehmen.
Die einstimmige Verabschiedung eines interfraktionellen Antrags mit der Forderung nach verschärften Sanktionen gegen Nigeria hat gezeigt, daß der Bundestag in diesem Punkt einhellig eine konsequente Politik wünscht.
Die Bundesrepublik ist der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt. Geliefert werden Waffen auch an Staaten, die auf gravierende Weise die Menschenrechte verletzen,
({2})
teilweise auch gerade mit diesen Waffen, wie zum Beispiel Indonesien und die Türkei.
Im Widerspruch zu den offensichtlichen Tatsachen bestreitet die Bundesregierung, daß in der Türkei Waffen aus Deutschland gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt werden, und weigert sich, die Waffenlieferungen endlich einzustellen. Selbst der türkische Verteidigungsminister hat den Einsatz dieser Waffen inzwischen vor Abgeordneten des Bundestages bestätigt.
Gerade die aktuelle Situation in der Türkei zeigt, in welche politische Sackgasse das unzureichende Eintreten für Menschenrechte gegenüber der Türkei geführt hat. Vielleicht liegt es auch daran, daß die Aufsetzung unseres Antrags zur Türkei-Politik der Bundesregierung und die von uns beantragte Aktuelle Stunde anläßlich des Besuchs der türkischen Ministerpräsidentin Ciller blockiert wurden.
Einzelne Wirtschaftszweige oder bestimmte Produkte, die die Bundesrepublik importiert, sind direkt mit Menschenrechtsverletzungen verknüpft. Ein Beispiel ist die Kinderarbeit in der indischen Teppichindustrie, die die Bundesregierung in ihrem Menschenrechtsbericht auch ausdrücklich erwähnt. Dennoch hat sie es bisher versäumt, durch Abkommen und gesetzliche Regelungen sicherzustellen, daß keine Produkte aus Zwangsarbeit und Kinderarbeit importiert werden. Ich verweise hier auch auf unseren Antrag für einen Importstopp von Kinderspielzeug aus chinesischen Arbeitslagern.
Außenminister Kinkel hat in seiner Rede anläßlich der Menschenrechtskonferenz auf dem Petersberg erklärt: „Menschenrechtspolitik fängt im eigenen Land an. Nur dann ist sie glaubwürdig und effizient." Da ist ihm voll und ganz zuzustimmen. Dies sollte aber auch Anlaß für die Bundesregierung sein, die Umsetzung der Menschenrechte im Bereich der Innenpolitik kritisch zu betrachten.
Der Bericht von Amnesty International über polizeiliche Mißhandlungen von Ausländern in der Bundesrepublik wurde als maßlos und überzogen empört zurückgewiesen. Nicht in bezug auf die tatsächliche Situation, aber bezüglich der Reaktion auf Kritik hat sich die Bundesregierung in eine Reihe mit Staaten gestellt, die schwerwiegend und systematisch die Menschenrechte verletzen. Da sind die Reaktionen nämlich immer genauso. Angemessen wäre dagegen ein entschiedenes Vorgehen gegen bestehende Mängel gewesen.
Innenpolitisch leidet die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik am meisten beim Thema Asyl. Für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden die Grenzen geschlossen. Menschen werden in Länder abgeschoben, in denen sie erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt sind.
({3})
In dieser Legislaturperiode ist es im Petitionsausschuß des Bundestages noch nicht einmal in einem einzigen Fall möglich gewesen, diese Politik zu korrigieren, weil die Koalitionsfraktionen prinzipiell jede
Asylpetition ablehnen. In erster Linie ist diese Politik dem Innenminister anzulasten.
({4})
Wenn neuerdings aber sogenannte Sicherheitsgarantien von Verfolgerstaaten eingeholt werden, um Asylsuchende abschieben zu können, dann trägt auch das Auswärtige Amt Mitverantwortung.
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Das Auswärtige Amt leistet hier einem Innenminister Amtshilfe, unter dessen Regie das Asylrecht längst zu einer traurigen Farce verkommen ist. Gerade Herr Kinkel sollte aber wissen, daß mit diesen Sicherheitsgarantien die Grundprinzipien des internationalen Flüchtlingsschutzes untergraben werden.
({6})
Auf internationaler Ebene spielt die Bundesregierung durchaus eine aktive Rolle bei der Weiterentwicklung von Menschenrechtsabkommen und Durchsetzungsmechanismen. Das wollen wir gerne anerkennen.
Aber auch hier gibt es noch einigen Nachholbedarf. Ein Beispiel ist das Übereinkommen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung. Wann wird die Bundesregierung endlich eine Erklärung abgeben, die den Opfern von rassischer Diskriminierung ein Individualbeschwerderecht einräumt? Nötig sind auch Abkommen mit bestimmten Ländern, um Sextourismus und Kinderprostitution zu bekämpfen und die Täter strafrechtlich belangen zu können.
({7})
Bedrohte Menschenrechtsaktivisten in vielen Ländern wünschen sich die Verabschiedung einer Deklaration der Vereinten Nationen zur Anerkennung und Stärkung des Rechts, die Menschenrechte zu verteidigen.
Bisher ist dies daran gescheitert, daß einige Staaten aus durchsichtigen Gründen dagegen Widerstand leisten. Ich hoffe, daß die Bundesregierung auch in diesem Punkt ihren internationalen Einfluß geltend machen wird.
Die Verabschiedung von Erklärungen und Konventionen zum Menschenrechtsschutz ist allerdings nur die eine Seite der Medaille. Entscheidend ist ihre Einhaltung in der Praxis. Hier ist vor allem der Beitrag der Bundesregierung gefordert.
({8})
Ich erteile der Abgeordneten Irmgard Schwaetzer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da nun mehrfach das Vorlagedatum des Menschenrechtsberichts der Bundesregierung angesprochen worden ist, möchte ich gleich zu Beginn unterstreichen: Ich bin ganz froh, daß uns, weil der Bundesaußenminister großen Wert darauf gelegt hat, den Menschenrechtsbericht so aktuell wie möglich zu gestalten, Gelegenheit gegeben wird, hier im Plenum innerhalb sehr kurzer Zeit zweimal über grundsätzliche Fragen der Menschenrechtspolitik und des Menschenrechtsschutzes zu debattieren.
({0})
Heute besteht in der Tat die Notwendigkeit, sich sorgfältig zu überlegen, wie die Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte in dieser stark veränderten Welt, nach dem Ende des Kalten Krieges, in die Politik eingegliedert werden kann. Dies muß außerhalb von Stereotypen geschehen, die in der Menschenrechtspolitik vielfach Platz gegriffen haben und die auch heute in den ersten Redebeiträgen - bei Ihnen, Kollege Bindig, mußte ich das zu meinem Bedauern feststellen - zu spüren waren.
({1})
- Teilweise war es sehr wohl stereotyp.
Die Definition der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, wie sie in Wien vorgenommen wurde, hat sicherlich zusätzlich an Bedeutung gewonnen auf Grund der Tatsache, daß in mittel- und osteuropäischen Staaten verläßliche demokratische Strukturen wachsen, daß der Pluralismus wächst, daß Krisenherde, zum Beispiel im südlichen Afrika - in Südafrika, in Mosambik, in Angola -, so weit bewältigt werden konnten, daß Friedensstrukturen aufgebaut werden. Ein solcher Prozeß ist nun auch für Israel und Palästina eingeleitet worden.
Aber auch neue Krisenherde sind zu verzeichnen: zum Beispiel Ruanda und Burundi. Wir müssen uns natürlich fragen, ob es eine Zeit gegeben hat, in der zum Beispiel in Ruanda noch die Möglichkeit der Prävention bestanden hat.
({2})
Wir müssen überlegen, was wir in Zukunft zu tun haben, um sich ankündigende Krisenherde diplomatisch - möglicherweise auch mit wirtschaftlichen Mitteln - anders und besser bewältigen zu können.
({3})
Insofern ist es wichtig, daß die Politik gegenüber Burundi und dem sich dort abspielenden schleichenden Putsch ein wenig anders ist, als sie gegenüber Ruanda zu einem Zeitpunkt war, als uns vor allem
Nichtregierungsorganisationen darauf aufmerksam gemacht haben, daß sich dort etwas abspielt.
Der Fall Bosnien-Herzegowina - hierzu hätte ich mir einige zusätzliche Worte gewünscht - zeigt, daß auch die Einhaltung und die Beachtung der Menschenrechte ganz unterschiedliche Maßnahmen erfordern, und zwar sehr viel differenziertere Maßnahmen, als sie früher vielleicht in unserem Konzept enthalten waren. Es gibt keine Schablonenlösung. Aber es gibt eine Menge zusätzlicher und neuer Aufträge nicht nur für die Vereinten Nationen, sondern auch für andere multilaterale Organisationen. Ich nenne hier an erster Stelle die OSZE, bei der wir uns auch fragen müssen, ob sie für die Aufgaben, für die sie jetzt in Frage kommt, genügend ausgerüstet ist.
Ich möchte an dieser Stelle der Bundesregierung ausdrücklich für ihr Engagement in den letzten Jahren in Menschenrechtsfragen danken.
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Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, daß die organisatorischen Strukturen des Auswärtigen Amtes mit der Zusammenfassung in der Unterabteilung für Menschenrechte, humanitäre Hilfe und die Vereinten Nationen und daß die Benennung von Staatsminister Schäfer zum Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung wichtige Zeichen sind, die auch deutlich machen, daß die Bundesregierung die Bedeutung der Menschenrechtspolitik in einer veränderten Welt sieht.
Die Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen ist bei dem letzten Gespräch der NGOs mit dem Unterausschuß gewürdigt worden. Aber wir werden auch in Zukunft den Dialog mit der Bundesregierung über die Fortentwicklung einer kohärenten Menschenrechtspolitik in allen Bereichen nicht nur der Sicherheitspolitik, sondern auch der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und die Fortentwicklung der Einordnung in andere Politikfelder führen müssen.
Ich bin, Herr Kollege Bindig, sehr gespannt, wie sich die SPD zu der Frage der Rüstungsexportpolitik einlassen wird, wenn es darum geht, den Gewerkschaften klarzumachen, daß es in der Bundesrepublik Deutschland zu Arbeitsplatzverlusten kommen kann.
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- Sie beschäftigen sich mit sehr wechselndem Erfolg seit 20 Jahren damit. Ich erinnere mich daran, daß es zu Zeiten des von der SPD gestellten Bundeskanzlers zum Rüstungsexport immer hieß: Was schwimmt, läuft; was rollt, läuft nicht. - Hier ging es um Arbeitsplätze an der Küste. Es hat sich wenig geändert. Aber dies macht deutlich, wie schwierig es ist, hier Kohärenz zu zeigen.
Ich möchte ausdrücklich unterstreichen, daß wir die Einschätzung der Bundesregierung teilen, daß es bei der Lösung von Einzelfällen sehr häufig viel effizienter ist, auf großartige Deklamationen zu verzichten und durch stille Diplomatie etwas für Menschen in Bedrängnis zu tun.
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Meine Damen und Herren, dies möchte ich sehr deutlich unterstreichen. Menschenrechtspolitik hat immer viel mit bedrängten Menschen zu tun. Dies bedingt häufig, daß Dinge nicht an die große Glocke gehängt werden dürfen, wenn man wirklich etwas für die Menschen tun möchte.
Wir begrüßen es, daß der kritische Dialog geführt wird. Aber wir begrüßen natürlich auch, daß Sanktionen als selbstverständliches Element mit in Betracht gezogen werden. Wo aber welches Element eingesetzt wird, ist eine Frage, die auch im Einzelfall entschieden werden muß.
Im Falle Nigerias erscheinen uns Sanktionen, um wirklich eine Veränderung der Politik zu bewirken, völlig unerläßlich. Die Effizienz wäre sicher am größten, wenn hier ein Einfrieren der Auslandskonten möglich wäre und durchgeführt würde.
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Der kritische Dialog mit dem Iran hat bisher nicht zum Erfolg geführt. Dies ist kein Grund, ihn aufzugeben. Aber es ist ein Grund, sich zu überlegen, wie er angefaßt werden muß, mit welcher Deutlichkeit er geführt werden muß, um hier einen Effekt zu erzielen. Die Frage, ob Sanktionen im Falle anderer Länder angezeigt oder nicht angezeigt sind, wird sicher auch immer wieder am Beispiel der Türkei kontrovers diskutiert. Das Nicht-Inkrafttreten-Lassen der Zollunion wäre sicherlich ein Stück Sanktion auch gegenüber der Türkei. Wir hören aus dem Europäischen Parlament, daß sich dort eine Mehrheit für das Inkraftsetzen abzeichnet.
Von den Voraussetzungen, die in dem Zusammenhang genannt worden sind - das macht schon deutlich, daß es Gelegenheiten geben kann, bei denen ein Menschenrechtsdialog und die Durchsetzung von Menschenrechtspolitik auch die Formulierung von Bedingungen notwendig machen -, ist eine erfüllt: Art. 8 des Antiterrorgesetzes ist von der Türkei geändert worden. Die Freilassung von Abgeordneten hat zumindest in dem von uns allen für notwendig erachteten Umfang nicht stattgefunden.
Es gibt auch nach dem letzten Besuch der Ministerpräsidentin Ciller in der Bundesrepublik Deutschland keinerlei Anzeichen dafür, daß Regierung oder Parlament bereit wären, den Kurden-Konflikt mit nichtmilitärischen Mitteln, das heißt im Wege des Dialogs zu lösen.
Insofern wird noch einmal der Zielkonflikt deutlich. Ich sehe große Probleme darin, die Entscheidung zu akzeptieren, die sich im Europäischen Parlament mehrheitlich abzeichnet. Sicherlich ist es richtig - auch das muß bei dieser Abwägung bedacht werden -, daß wir die Türkei nicht einem islamischen
Fundamentalismus in die Arme treiben dürfen. Das ist wohl wahr.
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Dennoch stellt sich mir die Frage - ich finde sie nicht ausreichend beantwortet -, ob es mit ein wenig mehr Druck auf die extrem unkooperative türkische Regierung und das türkische Parlament nicht doch möglich wäre, weitere Erfolge zu erzielen.
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Ein großes Problem - zum Beispiel auch bei der Auseinandersetzung mit Amnesty International - ist die Frage der Selektivität oder Nichtselektivität von Maßnahmen gegenüber einzelnen Ländern. Ich möchte ausdrücklich für Selektivität plädieren; denn es ist in der Tat richtig, daß wir bei unseren Beziehungen zu einem Land einerseits überlegen müssen, womit wir die meisten Erfolge erzielen, andererseits aber auch andere Punkte mit in Erwägung ziehen müssen. Ich habe das gerade am Beispiel der Türkei deutlich gemacht.
Ich will versuchen, das auch am Beispiel Chinas zu erörtern. China ist Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Die Weltöffentlichkeit hat ein Interesse an der Öffnung Chinas, am Dialog mit China. So richtig es ist, daß sich Menschenrechtspolitik nicht ausschließlich auf Wandel durch Handel berufen kann, so richtig scheint mir aber gerade im Falle China - dies sage ich auf Grund der Diskussionen, die ich dort anläßlich der Frauenkonferenz geführt habe - zu sein, daß dieses Prinzip durchaus Erfolg haben kann.
Eine Öffnung Chinas bedeutet auch, daß es sich bestimmten Einflüssen von außen gar nicht wird entziehen können. Die Menschen reisen dahin und diskutieren mit den Chinesen darüber, wie es woanders aussieht. Sie haben Zugang zum Internet; da kann man Informationen nicht ausblenden. Wer Steuern bezahlt - genau das ist in China eingeführt worden -, der will auch mitbestimmen, wie diese Staatseinnahmen ausgegeben werden. Ich unterstreiche aber noch einmal, daß Wandel durch Handel nicht das alleinige Prinzip sein kann.
Gute Beziehungen - auch das sage ich in bezug auf China - erfordern eine klare Sprache und Kohärenz. Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung, daß sie bei der regelmäßigen Tagung der Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien im Februar/März des nächsten Jahres bei der Einbringung einer Resolution in bezug auf China und die Tibet-Politik genau wie in diesem Jahr besonders aktiv wird.
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Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.
Herr Präsident, ich möchte in meiner letzten Anmerkung unterstreichen, daß einer der Hauptpunkte in den nächsten Monaten und Jahren sicherlich der Dialog mit den islamischen Staaten sein wird, der dringend ist - trotz der verschobenen Konferenz -, der mit allen geführt werden muß - meine Auffassung unterscheidet sich vielleicht von der des einen oder anderen in diesem Haus -, aber natürlich vorrangig mit denen, die dazu bereit sind, und der deutlich machen muß, daß Interpretationsunterschiede gerade in bezug auf die Politik hinsichtlich der Frauen in islamischen Staaten existieren. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir neue Krisenherde und damit neue Gefahren für die Menschen und die Menschenrechtspolitik bewältigen müssen.
Danke.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die verehrte Kollegin Frau Dr. Schwaetzer hat gesagt: Wir müssen im Parlament manchmal auch die Stimme derjenigen sein, die die Menschenrechtsverletzungen hinzunehmen haben. Wir müssen das um so mehr sein, weil manchmal Agenturmeldungen leider nur die Stimme derjenigen verbreiten, die die Unterdrücker sind.
Ich darf Ihnen ein ganz konkretes und aktuelles Beispiel sagen. Heute ist um 18.11 Uhr folgende Meldung, die von Reuter stammt, über den Ticker gelaufen:
Bei schweren Kämpfen in Burundis Hauptstadt Bujumbura zwischen der Armee und aufständischen Hutus sind nach einer Meldung des staatlichen Rundfunks 26 Menschen getötet worden. Durch den Vorstoß der von Tutsis beherrschten Armee am Mittwoch auf östliche Stadtteile seien 25 Rebellen und ein Zivilist umgekommen ...
Wir kennen diese Entwicklung seit vielen Monaten. Es findet eine „ethnische Säuberung" der Vorstädte von Bujumbura statt. Das wird auf diese Art und Weise mitgeteilt: Es sind Rebellen getötet worden.
In der Meldung steht weiter, daß die Rebellen bisher in einzigartiger Weise mit schweren Waffen ausgerüstet waren. Ich möchte gerne wissen, wie sie erkannt haben, wo die Rebellen mit schweren Waffen sind. In diesem Fall handelt es sich um eine reine „ethnische Säuberung".
Ich glaube, daß wir immer wieder unserer Verpflichtung nachkommen müssen, wenigstens im Deutschen Bundestag solche Verbrechen anzuprangern und den dafür Verantwortlichen deutlich zu
machen, daß internationale Gerichtshöfe sie für ihre Taten einmal zur Rechenschaft ziehen werden.
({0})
Frau Dr. Schwaetzer, wollen Sie dazu eine Bemerkung machen?
({0})
- Gut.
Ich erteile dem Abgeordneten Steffen Tippach das Wort.
Herr Präsident! Geehrte Damen und Herren! Herr Staatsminister Schäfer, Sie haben vorhin eine wunderschöne Rede gehalten. Gestatten Sie, daß ich zur Realität zurückkomme.
47 Jahre, nachdem die Völkergemeinschaft mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in eine neue Ära eintreten wollte, ist die Verhöhnung derselben schwer erträgliche Tagesordnung. Die Bände von Deklarationen, mit denen neue Standards gesetzt werden sollten, lesen sich wie Märchenbücher aus einer anderen Welt. Vom Recht der Völker auf Frieden ist ebenso zu lesen wie vom Schutz der Flüchtlinge, von der Gleichstellung der Frau, vom Recht auf Bildung und gesunde Umwelt und vom Recht auf stetige Verbesserung der Lebensbedingungen.
Realität ist jedoch: Es herrscht bitterste Armut in weiten Teilen der Welt. Diktatoren und Menschenrechtsverletzer der ersten Garnitur sichern das ungestörte Agieren internationaler Konzerne, die Ausplünderung von Rohstoffen und damit den Wohlstand des reichen Nordens.
Während im Süden alle sechs Sekunden ein Kind verhungert - das ist ein Stereotyp, mögen Sie sagen; es ist aber wahr -, werden in Deutschland Milliarden Mark für Haustierfutter ausgegeben. Die Mächtigen des Nordens haben dieses schreiende Unrecht festgeschrieben, sie zementieren und verteidigen es mit allen Mitteln. Oft sind sie es auch, die sich als Vorreiter für Menschenrechte aufspielen.
Nach wie vor gilt: Menschenrechte werden dem Diktat von Ökonomie und Interessenpolitik untergeordnet. Ich möchte das an einigen Beispielen verdeutlichen. Mein erstes Beispiel ist der Iran. „Handel bringt Wandel", zitiere ich Außenminister Kinkel. Das ist insofern unrichtig, als daß Handel zunächst einmal Geld statt Wandel bringt, und zwar 3,9 Milliarden DM. Das ist die Zahl, die die Handelsbilanz 1994 mit dem Iran ausweist. Wen wundert es, daß unter diesem Berg Kohle schon einmal das eine oder andere Menschenrecht verschwindet?
Herr Kinkel kann auch Klartext sprechen. Er tat das zum Beispiel in der „Frankfurter Rundschau" am 10. November 1995: „Iran liegt in einer strategisch äußerst wichtigen Region, hat große Ölvorkommen und eine hohe Waffendichte." Genau darum geht es: um 01, Waffen und strategische Interessen.
Mein zweites Beispiel ist die Türkei. „Folter ist eine der schändlichsten und widerwärtigsten Verhaltensweisen, zu denen Menschen gegenüber ihresgleichen fähig sind", erklärte Frau Ministerin Nolte, die nachher noch sprechen wird, am 14. August 1995 in einer Pressemitteilung.
Am 18. November 1993 verurteilte das Komitee der Vereinten Nationen gegen die Folter einstimmig die türkische Regierung wegen „weitverbreiteter, ständiger, vorsätzlicher und systematischer Folter". „Wenn nur einem Zivilisten die Nase blutet, beginnt die Diskussion über die Menschenrechte", sagte Herr Kinkel in Ankara anläßlich der türkischen Invasion in den Nordirak im März 1995. Ich konnte diese Invasion damals vor Ort erleben. Die Berichte von Opfern gingen um die Welt, doch an Stelle einer Diskussion über Menschenrechte stehen Zollunion und Waffenlieferungen bei den Gesprächen mit der türkischen Regierung auf der Tagesordnung.
Während der Bundeskanzler die türkische Ministerpräsidentin Çiller am Dienstag dieser Woche mit offenen Armen empfängt, probt dieselbe Politikerin das Bündnis mit der MHP, einer faschistischen Partei. Hier von Demokratisierung als Voraussetzung der Zollunion zu sprechen, erfordert nicht nur Blindheit, sondern auch den Willen zur Mittäterschaft.
Oder nehmen wir das Beispiel China. Herr Staatsminister Schäfer, Sie sagten im „General-Anzeiger" vom 17. Mai 1995:
Es ist nicht richtig, mit chinesischen Politikern so umzugehen wie mit dem kubanischen Staatschef. Denn bei den unterschiedlichen Mentalitäten würden wir mit harten Ansprachen nur das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollen.
Ich glaube, daß es kaum noch jemanden gibt, der hinter dieser Aussage nicht einen Zusammenhang damit vermutet, daß deutsche Konzerne einen Flughafen und eine U-Bahn in Shanghai und nicht in Havanna bauen wollen.
Herr Krautscheid, 20 Jahre Besetzung Osttimor; Sie führen das richtig an. Das passiert zu einer Zeit, in der die Bundesregierung gepanzerte Fahrzeuge nach Indonesien exportiert; das muß man zur Kenntnis nehmen.
Es werden auch Flüchtlinge in den Sudan zurückgeschickt. Es wird jede Diktatur bedient, wenn es denn nützt. Deutschland, der zweitgrößte Waffenexporteur der Welt, wacht über die Einhaltung der Menschenrechte - dieses Schmierenstück beherrscht den Alltag in Bonn. Dabei ist „wachen" angesichts der Militärintervention mittlerweile nicht nur symbolisch, sondern auch wörtlich gemeint.
Auch hier im Lande steht es mit den Menschenrechten nicht zum besten. Der Umgang mit Flüchtlingen wird in schöner Regelmäßigkeit von den UN und Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert, ohne daß Kanther & Co. davon auch nur Notiz nehmen. Das Europäische Parlament kritisierte Menschenrechtsverletzungen in Ostdeutschland. Immer mehr Kinder in Deutschland, einem der reichsten
Länder der Welt, leben in Armut. Drei Viertel der Langzeitarbeitslosen in Ostdeutschland sind Frauen.
Es gibt Hunderttausende Fälle, von denen jeder einzelne ein Schlag ins Gesicht von Art. 1 des Grundgesetzes ist. Dieser lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar." Jedoch ist die Würde des Menschen antastbar: Sie unterliegt den Erfordernissen des Marktes, dem politischen Kalkül der Machtsicherung und dem Patriarchat.
Frauen sind den verschiedensten Formen von Gewalt ausgesetzt. Sie und Kinder gehören immer und überall zu den ersten Opfern von Bürgerkriegen. Frauen werden vergewaltigt, verkauft, in körperliche und ökonomische Abhängigkeit gepreßt und der Selbstbestimmung über ihren Körper beraubt. Macht ist auf dieser Erde in der Regel männlich definiert, was strukturell eine Fülle geschlechtsspezifischer Menschenrechtsverletzungen zur Folge hat.
Generell gilt: Menschenrechtskritik bleibt letztendlich nur Stückwerk, wenn sie nicht auch soziale Kritik und damit zwangsläufig auch Systemkritik ist. Der Prävention von Menschenrechtsverletzungen muß absoluter Vorrang eingeräumt werden.
Zahlreiche nationale, regionale und globale Organisationen, die weltweit - oft unter schwierigsten Bedingungen - Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und anprangern, müssen in die Lage versetzt werden, ihre Informationen und Erkenntnisse auszutauschen, zu verdichten und frühzeitig veröffentlichen zu können. Der Ausbau und die Stärkung der betreffenden UN-Organisationen und der regionalen Schutzmechanismen ist dringend erforderlich, um mit diesen Informationen effektiv arbeiten zu können.
Ebenso halte ich die vom Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz wiederholt geforderte Einrichtung eines ständigen Menschenrechtstribunals für erforderlich, worauf in der Debatte bereits mehrfach eingegangen worden ist.
Rüstungsexporte müssen gestoppt, Streitkräfte abgebaut und Rüstungsproduktionen in zivile Produktionen umgestaltet werden. Das ist der einzige Weg, um Kriege und letztendlich die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen unmöglich zu machen. Eine Schuldenstreichung für die unterentwickelten Länder der Welt ist ebenso nötig wie eine tatsächliche Entwicklungszusammenarbeit, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert und von diesen selbst gestaltet wird. Diskriminierende Gesetze müssen beseitigt werden.
Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Die vorgesehene Bundestagsdebatte über die Weltfrauenkonferenz in Peking wurde bereits mehrfach verschoben. Ein nationaler Aktionsplan, zu dem die Regierung aufgefordert wurde, ist bis heute nicht diskutiert. Letztlich ist die Voraussetzung für all dies aber, daß internationale Konventionen vom Papier in die Praxis umgesetzt werden.
Dafür ist neben dem guten Willen vor allem eine Umverteilung des vorhandenen Reichtums notwendig. Dafür wiederum müssen ungerechtfertigte Privilegien des reichen, satten Nordens zugunsten der Armen und Unterdrückten abgeschafft werden. Wir, die Bewohner und Bewohnerinnen des reichen Teils der Welt, müssen unsere Angst vor diesem Privilegienverlust überwinden, um eine Menschenrechtspolitik mit den Betroffenen weltweit gemeinsam gestalten zu können. Billiger sind Menschenrechte nicht zu haben.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hartmut Koschyk.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Tippach, an sich ist Advent, und am Tag der Menschenrechte soll man nicht groß streiten. Aber ich habe mir gerade überlegt: Wenn Sie wenigstens ein bißchen von dem, was Sie jetzt an Menschenrechtsverpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesregierung angemahnt haben, in dieser Zeit versucht hätten umzusetzen - ich habe in Ihrem Lebenslauf gelesen, daß Sie 1987 in die SED eingetreten sind; Sie wollten also noch kurz vor Schluß dabeisein ({0})
dann, glaube ich, hätten wir heute Ihre Rede mit einem Stück mehr Sympathie verfolgt.
({1})
- Lieber Herr Verheugen, ich glaube, wenn sich jemand hier hinstellt und eine große moralisierende Rede zum Thema Menschenrechte hält, dann muß er sich auch gefallen lassen, daß man ihn danach fragt.
({2})
Aber wir wollen ja heute nicht streiten; es ist Advent.
({3})
Ich möchte mich jetzt einem Thema zuwenden, bei dem ich glaube, daß es in diesem Haus sehr viel Gemeinsamkeit gibt, nämlich der Frage der Bedeutung eines effektiven Minderheitenschutzes als universellem Teil der Menschenrechte.
Der Bundeskanzler hat ja gestern in der BosnienDebatte zu Recht gesagt, daß durch die Vereinbarung von Dayton die Menschen im ehemaligen Jugoslawien die Chance für einen Frieden und auf Beendigung dieser unsäglichen Gewaltauseinandersetzungen haben, daß es aber jetzt natürlich darauf ankommt, daß der beschlossene Friede auch ein gelebter Friede wird.
Ein Blick in die Vereinbarung von Dayton zeigt, daß für wirklichen Frieden und für wirkliche Stabilität in Bosnien-Herzegowina die Wahrung der unveräußerlichen Menschenrechte und vor allem die Realisierung eines effektiven Minderheitenschutzes von
großer Bedeutung sein werden. Denn nur die Gewährleistung von Volksgruppen- und Minderheitenrechten auf einem Gebiet, auf dem die systematische Verletzung von Minderheitenrechten und die Auseinandersetzungen darüber zu diesem unsäglichen Krieg geführt haben, kann die Voraussetzung dafür schaffen, daß die Menschen dort, wenn es gelingt, den äußeren Frieden wiederherzustellen, auch den inneren Frieden finden, das heißt, den inneren Frieden mit ihren Nachbarn, die einer anderen Nationalität, einer anderen Religion angehören.
Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat uns deutlich vor Augen geführt, daß der Schutz von Volksgruppen und Minderheiten - vor allem auch ein mit Sanktionsmechanismen und mit Kontrollmechanismen bewehrter Schutz - die große Herausforderung für die Schaffung von Stabilität in diesem Raum, aber auch in ganz Europa, ist.
({4})
Deshalb sollten wir an einem solchen Tag würdigen, was mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland, auch mit Unterstützung aus diesem Parlament heraus, auf internationaler Ebene geschieht. Ich möchte an erster Stelle die Bemühungen des Europarates und hier vor allem der Parlamentarischen Versammlung des Europarates nennen. Lieber Kollege Bindig, ich stehe nicht hintan, gerade Ihre Verdienste in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im Rechtsausschuß, im Unterausschuß Menschenrechte, um konzeptionelle Verbesserungen des Minderheitenschutzes auf der Ebene des Europarates zu würdigen. Ich schließe auch unseren vormaligen Vorsitzenden des Unterausschusses und langjährigen Kollegen Friedrich Vogel in diesen Dank mit ein.
({5})
Wäre es nach der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gegangen - das weiß auch die Bundesregierung -, wären wir beim Minderheitenschutz, bei dem der Europarat ja Sanktionsmechanismen bieten könnte, viel weiter, als wir heute sind. Ich glaube, Herr Kollege Bindig, da sind wir uns einig: Es lag nicht an der Bundesregierung, daß wir beim Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten nicht mehr erreicht haben. Es liegt auch nicht an der Bundesregierung, daß wir jetzt beim Zusatzprotokoll für kulturelle Rechte diese Einengung auf kulturelle Rechte haben.
Wir sollten jetzt aus dem vorhandenen Instrument der Rahmenkonvention, die in Deutschland gezeichnet wurde und die in Deutschland auf die in Deutschland ansässigen Minderheiten Anwendung finden wird - der Ratifizierungsprozeß läuft, - die erforderlichen Konsequenzen ziehen. Ich begrüße es deshalb, daß wir heute den Ministerpräsidenten eines Bundeslandes als Zuhörer bei dieser Debatte haben, das für die Rechte der in diesem Bundesland lebenden Sorben in der Landesverfassung und in vielen Gesetzen des Landes deutlich gemacht hat: Wir können als Bundesrepublik Deutschland von unseren Nachbarn im Osten nur dann Minderheitenrechte anmahnen, wenn wir sie den Sorben in Deutschland, den Dänen, den Friesen gewähren.
Ich will hier auch deutlich sagen: Ich begrüße es, daß die Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten, die wir gezeichnet haben, auch auf die Volksgruppe der Sinti und Roma in Deutschland Anwendung findet.
({6})
Wir müssen jetzt aufpassen - deshalb der Appell an die Bundesregierung, Herr Staatsminister Schäfer -, daß wir uns bei dem zusätzlichen Protokoll für kulturelle Rechte nicht mit Unverbindlichkeiten begnügen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, die Abschlußarbeit dieses Ad-hoc-Ausschusses, den das Ministerkomitee eingesetzt hat, jetzt einfach abzusegnen, damit dieses Zusatzprotokoll zur Zeichnung aufgelegt werden kann, sondern wir sollten auch noch einmal unter Mitwirkung des Parlaments im zuständigen Ausschuß darüber diskutieren, ob uns auch aus der Sicht des Deutschen Bundestages das, was hier von CAHMIN ans Ministerkomitee gegangen ist, zufriedenstellt, ob sich also das Auflegen eines Zusatzprotokolls lohnt, oder ob wir nicht lieber die Uhr noch einmal anhalten und auf Verbesserungen drängen sollten.
Ich glaube, die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien haben ganz deutlich gezeigt, daß es für wirkliche Stabilität in Europa im Raum des ehemaligen Jugoslawien, aber auch bei den Nachbarn - ich denke an die Problematik der ungarischen Minderheit in Rumänien und an das rumänische Unterrichtsgesetz, ich denke an die Problematik der ungarischen Minderheit in der Slowakei und an die Situation im Zusammenhang mit dem Sprachengesetz, die jetzt geschaffen wurde, aber ich denke auch an die ungelösten Probleme, die uns in Serbien, im Kosovo, im Sandschak, in der Vojvodina noch vor große Aufgaben stellen - wichtig ist, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Bundesregierung und das Parlament an der Spitze derjenigen steht, die konzeptionelle Verbesserungen, substantielle Verbesserungen im Minderheitenschutz fordern und auch einen Beitrag dazu leisten, daß wir Sanktionsmechanismen und Kontrollmechanismen schaffen, die den Minderheitenschutz zu einem wesentlichen Bestandteil auch der Organisationsstrukturen auf europäischer Ebene - Europarat, OSZE, Europäische Union, bis hin zu den Vereinten Nationen - machen.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Abgeordneten Uta Zapf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe eben mit großer Aufmerksamkeit die Ausführungen von Herrn Koschyk zur prinzipiellen Wichtigkeit der Weiterentwicklung des Minderheitenschutzes gehört. Das drängt mich jetzt, doch
noch einmal auf etwas zurückzukommen, was mir in den Ausführungen von Staatsminister Schäfer gerade unter diesem Gesichtspunkt des Einklagens von Minderheitenschutz bei allen unseren politischen Partnern gefehlt hat.
Wenn Herr Schäfer gesagt hat, daß er in der Türkei durch die Veränderung bei Art. 8 und die Debatte um die Menschenrechte eigentlich Fortschritte sieht, dann frage ich mich, ob man nicht mehr auf die Praxis schauen sollte als auf solche kosmetischen Veränderungen. Zwar sind meines Wissens rund 91 Personen aus den Gefängnissen entlassen worden, die wegen Art. 8 eingesessen haben, aber es werden zur gleichen Zeit mindestens genau so viele wegen desselben Artikels wieder angeklagt. Und das ist ja nicht das einzige, was in bezug auf diese Minderheitenrechte oder die freie Meinungsäußerung hinsichtlich der Kurdenfrage eine Rolle spielt; denn dieser Artikel müßte völlig abgeschafft werden.
Weil uns dies gerade auch in bezug auf die Zollunion beschäftigt, was auch die Frau Kollegin Schwaetzer problematisiert hat - ich kann die Schwierigkeiten, die Sie formuliert haben, Frau Kollegin, gut nachvollziehen -, müßte uns das in einer solchen Debatte doch dazu bewegen, mehr Druck auszuüben, als in den Worten des Herrn Staatsministers Schäfer durchgeklungen ist. Dies gilt beispielsweise für die Gewährung kultureller Rechte, was ja nun wirklich das Minimum ist; aber noch nicht einmal diese werden gewährt. Ich nenne nur ein Beispiel, das ich einer Publikation von Amnesty International aus den letzten Monaten entnommen habe. Wenn ein Schriftsteller verurteilt wird, nur weil er einen Band mit traditioneller kurdischer Lyrik veröffentlicht hat, dann ist das viel schlimmer als alles, was ich mir in dieser Beziehung habe träumen lassen. Dies hat doch mit Separatismus und Terrorismus überhaupt nichts zu tun.
Mein Eindruck ist, daß wir viel zu wenig darauf reagieren, daß der Terrorismus immer als Vorwand dient, um Demokratie- und Menschenrechtsprobleme in der Türkei nicht anzusprechen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich möchte zum Abschluß nur noch den stellvertretenden türkischen Generalstabschef Ahmed Çorekçi zitieren:
Sicherheitskräfte werden durch Menschenrechte und Demokratie in ihrem Kampf gegen den Terrorismus behindert.
Das ist eine Aussage, die wir nicht hinnehmen dürfen.
({0})
Herr Kollege Koschyk, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. - Dann erteile ich der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Menschenrechtstag gilt zunächst mein aufrichtiger Dank allen Organisationen und Menschen, die uneigennützig Gutes leisten. Lassen Sie mich an dieser Stelle Amnesty International stellvertretend für viele nennen.
({0})
In meinen kurzen Ausführungen beschränke ich mich auf einen einzigen Aspekt, den Aspekt: Außenhandel und Menschenrechte. Es gibt Möglichkeiten und Instrumentarien, Menschenrechtsverletzungen handelspolitisch zu sanktionieren. Multilateral reichen sie von der Klage vor der Welthandelsorganisation über das Einfrieren von Zollpräferenzen bis hin zum Embargo, bilateral von der Einschränkung und dem Abbruch der politischen Zusammenarbeit bis zur Kürzung oder dem Einfrieren der Entwicklungshilfe.
Wir haben Instrumentarien, und dennoch ist die Bilanz erschreckend. Im Jahre 1994 wurden in 151 Staaten Menschenrechtsverstöße registriert. In 120 Staaten wurde gefoltert und mißhandelt; viele überlebten diese Torturen nicht. Polizei, Militär und Todesschwadrone mordeten im staatlichen Auftrag in 54 Ländern. Ohne Anklage oder Verfahren wurden Menschen in 79 Staaten inhaftiert. 2 331 Todesurteile wurden in 37 Staaten vollstreckt, 4 032 Menschen wurden zum Tode verurteilt, 8 000 stehen vor der Hinrichtung. Dies sind nur die registrierten Fälle. Wie hoch mag die Dunkelziffer sein?
Meine Damen und Herren, es gibt bilaterale und multilaterale Abkommen, es gibt internationale Organisationen. Doch außer einem Aufschrei, der schnell verhallt, geschieht nur wenig. Es fehlt nicht an Instrumentarien, es fehlt auch nicht an Deklarationen. Es fehlt oft am Willen, und vor allem fehlt es an Mut. Der bedeutende Menschenrechtler und Humanist Lew Kopelew beschrieb treffend das noch immer augenfällige Auseinanderdriften von Anspruch und Wirklichkeit. Ich zitiere:
Seit die Menschen sich ihrer Geschichte bewußt zu werden begannen, wurden die wichtigsten Lehren ihrer Erfahrungen immer wieder verkündet:... in den biblischen Geboten, in der Bergpredigt . . ., in Buddhas Maximen ...
Viele Menschen kennen und bewundern sie. Doch die meisten Staatslenker, Wirtschaftsführer, Feldherren, Wissenschaftler und Kleriker wollen sie nicht ernst nehmen, betrachten sie immer noch bestenfalls als schöne, aber wirklichkeitsfremde Träume.
Menschenrechte - schöne, aber wirklichkeitsfremde und ferne Träume?
Seien wir doch ehrlich: Was ist mit den Attributen unserer Parteien? Das Christentum, die wesentliche Grundlage der abendländischen Kultur, basierte in seinen Anfängen auf Toleranz, Gewaltfreiheit, Einsatz für die Schwächsten, und doch ist seine Geschichte über Jahrhunderte geprägt von IntoleDr. Elke Leonhard
ranz, Gewalt gegen Andersgläubige, Ausgrenzung von kritischen Denkern.
Der Sozialismus, einst angetreten mit dem leidenschaftlichen Appell „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht", degenerierte in der Sowjetunion und in zahlreichen Staaten zur ideologischen Rechtfertigung menschenverachtender Unrechtssysteme.
({1})
Ich bin ganz entschieden der Überzeugung, daß Weltanschauungen und große Worte nicht dazu führen werden, Menschenrechte weltweit durchzusetzen. Die Frage, die nach Beantwortung schreit, lautet: Was kann konkret - ich wiederhole: konkret - getan werden, um den Forderungen nach bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten weltweit Geltung zu verschaffen?
Herr Präsident, meine Damen und Herren, eine Chance und Herausforderung, die wir ernst nehmen müssen, die mit unseren Interessen besetzt werden muß, liegt in der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Ich bin ganz entschieden der Ansicht: Ein gerechter, fairer und freier Welthandel - ich sage bewußt nicht: konditionierter Handel - ist angesichts zunehmender Globalisierung ein geeignetes Instrument für die Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten.
Es geht heute um eine soziale Weltwirtschaft. Mut, Zivilcourage und die Schaffung humaner Lebensbedingungen dürfen nicht vor der eigenen Haustür haltmachen.
({2})
Dieses Prinzip verlangt nur wenig Altruismus und hat gerade deswegen eine wirkliche Chance zur Umsetzung.
Adam Smith brachte es für seine Zeit - ich betone: für seine Zeit - auf den Punkt:
Räume man also alle Begünstigungs- und Beschränkungssysteme völlig aus dem Wege, so stellt sich das klare und einfache System der natürlichen Freiheit von selbst her. Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit, sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen und mit dem Interesse anderer Menschen in Konkurrenz zu bringen.
Des Ökonomen simpler Appell an den individuellen Egoismus führte im 19. Jahrhundert zu beginnendem Abbau von Protektionismus und zur Mehrung von Wohlstand.
Das gleiche Motiv kann, übertragen auf die globalen Zusammenhänge der Gegenwart, Grundlage freien Welthandels sein. Die Folge, weltweite Mehrung des Wohlstands, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Eindämmung von Hunger und Elend und auch ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der Ursachen zunehmender Migration im Interesse der betroffenen Menschen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, das hört sich gut an. Doch was geschieht, wenn nicht mehr die Menschen jener Länder vor unseren Türen - besser: vor unseren Mauern - stehen, sondern die Produkte dieser Länder? Schon beginnt sich wieder der Protektionismus breitzumachen.
Was können wir tun? Menschenrechte dürfen kein Tabuthema sein. Der Grundsatz der Nichteinmischung endet, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen vorliegen.
({3})
Das Prinzip des fairen, gleichberechtigten Handels muß von einem kritischen Dialog flankiert und untermauert werden; das wurde heute oft erwähnt. Das Postulat des Freihandels darf nicht zum Freibrief für eine ausschließlich profitorientierte Außenwirtschaft - als Beispiel sei das Stichwort Rüstungsexporte genannt - werden.
Meine Damen und Herren, von der Wirtschaft, die in der Vergangenheit oft in unseliger Verbindung zu Menschenrechtsverletzungen stand, können im Zeitalter globaler Wirtschaftsverflechtungen Impulse für die Wahrung von Menschenrechten ausgehen. Dies ist eine Chance.
Sorgen wir als Verantwortliche dafür, daß die Instrumentarien, die bereitstehen, angewandt werden. Sorgen wir vor allem dafür, daß in der Welthandelsorganisation effektive Mechanismen zur Sanktionierung von Menschenrechtsverletzungen installiert werden.
Wir erinnern uns an die Diskussion um Korb III bei der Schaffung der KSZE, und wir wissen heute, wie wichtig, ja wie richtig es war, rechtzeitig - und ich betone: rechtzeitig! - Instrumentarien zu etablieren.
„Welthandel und Menschenrechte" muß ein Thema der WTO werden. Zu bedenken ist, daß nur eine einzige Vorschrift, Art. 20 des GATT, diese Frage überhaupt anspricht. Auch dabei handelt es sich nur um eine Minimalforderung, die zudem bislang niemals angewandt wurde. Dies mit Inhalt zu füllen muß daß Ziel sein.
Nachdrücklich fordere ich die Bundesregierung auf, ihren Einfluß geltend zu machen, damit die Frage der Sozialstandards, zu der die Menschenrechte gehören, beim WTO-Gipfel im Dezember des kommenden Jahres endlich auf die Tagesordnung kommt.
„Welthandel und Menschenrechte" - dieser zentrale Zusammenhang muß Gegenstand der künftigen weltwirtschaftlichen Ordnung werden. Menschenrechte, meine Damen und Herren - nur ein schöner, aber wirklichkeitsferner Traum? Ich hoffe nicht.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem Abgeordneten Armin Laschet das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Liste der Erklärungen, Pakte und Übereinkommen zum internationalen Menschenrechtsschutz ist lang und es ließen sich vorzügliche Zitate von der „unveräußerlichen Würde des Menschen" vortragen.
Darüber zu sprechen ist der Wunsch vieler Menschen gerade an diesem 10. Dezember. Das ist ein wichtiger Tag für die Menschenrechtsorganisationen, um in das öffentliche Bewußtsein zu kommen.
So sehr wir, wenn wir über die unveräußerliche Würde des Menschen sprechen, wissen müssen, daß in diesen Sekunden weltweit natürlich die Würde veräußert wird - so unveräußerlich, wie wir das fordern, ist sie ja gar nicht -, so wenig passen Ihre Bemerkungen gegen die Formulierungen, Herr Kollege Tippach, die man aus den unmittelbaren Erfahrungen des Krieges, des Völkermords und des Holocaust 1945 und 1948 in die Erklärungen der UNO hineingeschrieben hat. Damals haben die Menschen diese Formulierung aus dem tiefsten Inneren gefunden, ohne lange Konferenzen, ohne lange Beratungen, ohne lange Protokolle und Bedenken. Das hier so niederzumachen, ist nicht der richtige Stil.
({0})
Ich bin der Überzeugung, daß wir selbst unser Grundgesetz und das, was dort über die Würde des Menschen formuliert ist, heute mit all unseren Kommissionen und Bedenken nicht mehr so hinbekommen würden. Selbst wenn wir durch CNN und andere viel mehr Leiden sehen als die Menschen damals, sind wir doch abgestumpfter als die Generation, die 1945 und 1948 diese Texte formuliert hat.
({1})
- Sie haben das hier sehr lächerlich zitiert und gesagt, das sei alles Rhetorik. Ich weiß nicht, welche Rhetorik Sie 1987 gepflegt haben, als Sie der SED beigetreten sind. Diese Parolen und diese Sprüche lassen sich mit diesen aus tiefer Erfahrung geprägten Erfahrungen nicht vergleichen.
({2})
- Ich habe nicht gesagt 40 Jahre DDR, aber ich weiß nicht, welche Reden er 1987 gehalten hat.
Hatten wir nicht alle gehofft, daß mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, in dessen Windschatten sich menschenrechtsverachtende Systeme bewegt haben, und nach dem Ende des Kommunismus eine neue Weltordnung beginnen würde? Aber ebenso wie das Jahr 1789, das Jahr der Franzöischen Revolution, mit den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die Welt nicht nachhaltig verändert hat und der Rückfall immer wieder stattgefunden hat, ist es auch mit dem Jahr 1989.
Viele nutzen die neuen Freiheiten zum Rückfall in Nationalismus, in ethnische Säuberungen. Das alles hätten wir in dieser Weise nicht für möglich gehalten. Wir brauchen diese Diskussion über die Universalität der Menschenrechte mit großer Intensität.
({3})
- Wir sind ja auch gar nicht auseinander! - Ich kann nicht erkennen, daß es zur regionalen Vielfalt oder zur multikulturellen Bereicherung gehören kann, jemanden für Ehebruch zu steinigen, für Diebstahl die Hand abzuhacken und andere Menschen zu foltern.
({4})
Es gibt zweifellos eine Schuld des Nordens, der früheren Kolonialmächte, in bezug auf manche Situation im Süden. Aber es gibt - das sollten wir auch anmahnen - auch die individuelle Verantwortung des einzelnen. All Ihre Sprüche, die Sie hier gemacht haben, über die Ausplünderung durch den kapitalistischen Norden über internationale Konzerne, die alles bestimmen, gelten in einem der eklatantesten Fälle, nämlich im Fall von Ruanda, eben nicht. Da sind keine wirtschaftlichen Interessen des Nordens im Spiel. Dahin sind keine Waffen
({5})
exportiert worden. Die Menschen bringen sich notfalls mit Knüppeln, mit Macheten und Messern um.
Deshalb sollten wir auch sagen, daß die Verantwortung des einzelnen gefragt ist, daß wir auch für den einzelnen eine neue Ethik formulieren müssen.
({6})
- Ich weiß nicht, Frau Kollegin, was das mit Hunger zu tun hat, wenn sich Hunderttausende gegenseitig umbringen. Versuchen Sie doch nicht, irgendwelche Erklärungen für schlichtes menschliches Fehlverhalten, das es in dieser Welt gibt, hier in die Debatte einzubringen.
({7})
Von Martin Buber stammt eine Übersetzung eines Jahrtausende alten Spruchs. Er hat das Alte Testament übersetzt und dort die Formulierung gefunden: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du." Ein solcher Satz ist eine Jahrtausende alte Überzeugung der Menschheit. Wenn Menschen sich gegenseitig niedermetzeln, sich umbringen, dann hat das damit etwas zu tun, daß diese Erkenntnis verlorengegangen ist, und nicht mit irgendwelchen Gründen, die wir für jedes Verhalten finden können.
Ich glaube - und das ist in Ergänzung dessen, was Frau Schwaetzer hier vorgetragen hat, wichtig -, daß
die stille Diplomatie, wie Sie sie geschildert haben, erforderlich ist. Aber wenn wir über unsere Rolle nachdenken, dann gehört es zu den ureigensten Aufgaben des Parlaments, neben dem kritischen Dialog der Regierungsebene, neben den diplomatischen Beziehungen, die erforderlich sind, neben den Besuchen auch in Ländern, die Menschenrechte verletzen, hier auch aus eigener Kraft einen Schritt weiterzugehen, als dies die Regierung mit ihrer Diplomatie kann.
({8})
Die Kanäle der Regierung sind andere als die des Parlaments. Die Regierung kann vieles im stillen bewirken und kann nicht alles auf dem offenen Markt austragen. Die Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen, Amnesty International, können offener als Regierungen sprechen. Frau Schoppe hat das in einem Beitrag über Ethik in der Außenpolitik erst vor wenigen Wochen publiziert.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn dann das Parlament einmal in einer solchen Frage weitergeht, wie das im amerikanischen Kongreß viel häufiger üblich ist als bei uns, dann ist es nicht hilfreich, weder von den Medien noch von einigen Oppositionsabgeordneten im nachhinein, nach der WelajatiEntscheidung zu sagen: Die Koalition ist gescheitert, die Koalition zerbricht, der Minister hat keine Mehrheit mehr, er sollte zurücktreten.
Wenn wir als Parlament wirklich einmal weitergehen, wenn auch Abgeordnete der Regierung einem Antrag von Ihnen zustimmen, dann darf das nicht im nachhinein für parteipolitische Mätzchen ausgeschlachtet werden.
({9})
Denn dann kommt wirklich der Eindruck auf, daß es in dieser Frage, bei der wir mit wenigen mitgestimmt haben, nicht um Menschenrechte ging, sondern um parteipolitische Spielereien.
({10})
Vielleicht sollten wir mehr als bisher mit unseren Kollegen in anderen demokratischen Parlamenten über diese Grundfragen einen Konsens anstreben. Die Interparlamentarische Union versucht ganz bewußt, als parlamentarisches Gremium einen Gegenpol auch zu den Regierungen zu setzen. Vieles ist dort weiter gediehen, als die Regierungen untereinander austauschen können.
Ich denke, daß diese Debatte zum Tag der Menschenrechte das Parlament mutiger machen sollte, eigene Stellungnahmen abzugeben, ohne daß wir das in den Klischees „hier Mehrheit, da Opposition" festmachen. Die Medien müssen auch das in ihrer Berichterstattung begreifen.
({11})
- Ähnlich war die Medienanwesenheit an jenem Tag, als wir über Welajati abstimmten.
({12})
- Nein, sie war nicht da, Herr Schäfer.
Als ich ins Auto stieg und das Radio anstellte, hörte ich, daß die Koalition ihre erste Abstimmungsniederlage erlitten habe, weil die meisten Abgeordneten schon im Wochenende gewesen seien.
({13})
- Bei Ihnen haben mehr gefehlt. Das wäre beinahe an Ihnen gescheitert, nicht an uns.
({14})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist trotzdem abgelaufen.
Aber die, die nicht da waren, waren die Journalisten. Manche haben sich erst nach einer Stunde korrigiert, nachdem sie die Agenturmeldungen mitbekommen hatten.
Deshalb ist nicht nur das Parlament, sondern auch die Öffentlichkeit und der Journalismus bei diesem Thema gefordert.
({0})
Ich erteile der Abgeordneten Regina Schmidt-Zadel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir über Menschenrechtsverletzungen reden, sprechen wir über Vorkommnisse in allen Teilen der Welt. Wir wissen, daß sie subtil stattfinden oder auch ganz offen praktiziert werden. Wir registrieren, daß Regierungen gezielt gegen die Menschenrechte verstoßen oder Verstöße dulden. All das ist auch durch die bisherigen Redebeiträge bestätigt und dokumentiert worden. Bei dem letzten war ich allerdings nicht so ganz sicher.
({0})
Aber all dies geschieht in besonderer Weise und in besonderer Brutalität an Frauen. Frauen sind einer doppelten Verfolgung ausgesetzt. Die ihnen entgegengebrachte Diskriminierung und Gewalt ist häufig nicht nur politisch, sondern auch geschlechtsspezifisch begründet. Sie ist von einem unvorstellbaren Ausmaß an Grausamkeit begleitet. Konsequenzen bleiben meistens aus. Es wird oft so gehandelt, als wären Frauenrechte Menschenrechte zweiter Klasse.
({1})
Nicht umsonst standen die weltweiten Verletzungen der Menschenrechte von Frauen im Mittelpunkt der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking. Die Teilnehmerinnen haben in China Menschenrechtsverletzungen angeprangert. Das halte ich für wertvoller, als Militäreinheiten die Ehre zu erweisen.
({2})
Vielleicht haben Frauen doch mehr politischen Instinkt; ich will das einmal so sagen.
Auf der Konferenz wurden keine Beschlüsse gefaßt, die Frauen aus unerträglichen Situationen befreien könnten. Doch es wurde ein wichtiger Anfang gemacht. Ich will hier nicht das bisher Erreichte schmälern, doch seien wir miteinander ehrlich: Im Grunde genommen stehen wir besonders im Kampf gegen spezifische Verletzungen der Menschenrechte von Frauen erst am Anfang.
({3})
Wie wichtig es ist, tätig zu werden, zeigt eindrucksvoll die weltweite Kampagne von Amnesty International zu „Frauen in Aktion - Frauen in Gefahr" in diesem Jahr. Es geht um eine sachliche Auflistung von unglaublichen Verletzungen der Menschenrechte von Frauen. Diese Dokumentation zeigt aber zugleich, daß Frauen nicht länger bereit sind, diese Unterdrückungen hinzunehmen. Sie engagieren sich mittlerweile weltweit für die Durchsetzung und Verwirklichung ihrer Rechte. Sie setzen dabei Leib und Leben aufs Spiel. Trotz friedlicher Mittel des Protestes und Widerstandes werden sie mit abstrusen Vorwürfen konfrontiert und verfolgt. Als Folge verschwinden solche Frauen in Gefängnissen oder werden einfach ermordet und in irgendeinen Straßengraben geworfen.
Ich habe hier nicht die Zeit, Ihnen diese ungezählten Schicksale umfassend vorzustellen. Deshalb will ich - ich denke, auch das muß heute passieren - exemplarisch die Geschichten dreier Frauen benennen.
Zunächst: Katja Bengana, 16 Jahre, aus Algerien, wurde auf dem Heimweg von der Schule von Unbekannten ermordet. Sie hatte sich strikt geweigert, einen Schleier zu tragen, obwohl sie Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt war.
Eren Keskin, türkische Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin, wurde wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte in der Türkei eingesperrt. Nur die internationalen Proteste haben ihr mittlerweile die Freiheit verschafft; doch drohen ihr möglicherweise weitere Verfahren. Sie lebt nun mit täglichen Todesdrohungen.
Phuntsog Nyidron, eine tibetanische Nonne, ist für 17 Jahre inhaftiert, weil sie nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an den Dalai Lama friedlich demonstriert und Unabhängigkeitslieder gesungen hat. Sie wird im Gefängnis brutal mißhandelt.
Dies sind drei bekanntgewordene Einzelfälle - von Hunderttausenden!
In knapp 30 Ländern der Welt leiden zirka 110 Millionen Mädchen und Frauen an den Folgen von Geschlechtsverstümmelungen. Die Betroffenen haben ihr Leben lang mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen.
Ungezählt und unbekannt ist auch das Schicksal von Tausenden von Frauen in Kriegssituationen. Perfider und brutaler als im ehemaligen Jugoslawien lassen sich Vergewaltigungen kaum mehr denken. Massenhaft und systematisch wurde hier Frauen Gewalt angetan, um dem Volk Schande anzutun, die Frauen und die gegnerischen Soldaten zu demütigen. Viele der Opfer überlebten diese Tortur nicht. Vergewaltigung wurde als Instrument der ethnischen Säuberung eingesetzt.
Seit 1949 gilt Vergewaltigung im Krieg als Verstoß gegen geltendes Völkerrecht. Ich fordere daher die Bundesregierung auf, mit dafür Sorge zu tragen, daß diese Vergewaltigungen nicht nur als Kriegsverbrechen angeprangert werden, sondern daß sie auch geahndet werden.
({4})
Doch das reicht nicht: Als Folge dieser Greueltaten sind viele Frauen auf der Flucht. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Die Fluchtbewegungen führen dazu, daß die Zahl der Asylsuchenden und gerade der weiblichen Asylsuchenden steigt.
Die Bundesrepublik hat den Zugang zum Asylverfahren und zur Asylgewährung mit der Änderung des Art. 16a des Grundgesetzes deutlich erschwert.
Ich halte es nicht für richtig, daß die geschlechtsspezifischen Fluchtgründe und Verfolgung nur in den eklatantesten Fällen, meine Damen und Herren, als Asylgrund anerkannt werden. Nur unerträglich harte Sanktionen wie die Todesstrafe im Iran werden als Verfolgungsgrund anerkannt. Dies kann nicht unser letztes Wort auf die Situation in den Krisengebieten sein.
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Daher hat die SPD wiederholt darauf gedrängt, geschlechtsspezifische Verfolgung generell als Asylgrund anzuerkennen. An dieser Stelle erneuere ich deshalb unsere Forderung an die Bundesregierung, endlich die Empfehlung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen umzusetzen, nach der auf Grund ihres Geschlechts verfolgte Frauen als Flüchtlinge anerkannt werden.
({6})
Ursachen von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen lassen sich nur bekämpfen, indem sie öffentlich gemacht werden. Daher ist es dringend erforderlich, die Aktionsplattform, die auf der Weltfrauenkonferenz in Peking verabschiedet wurde, auch umzusetzen. Unsere Frauenministerin - sie redet heute noch - hat in Peking richtig festgestellt, daß die Voraussetzung für die Achtung der MenschenRegina Schmidt-Zadel
rechte von Frauen auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist. Sie ist nur in wenigen Staaten vorhanden. Aber auch die gesetzgeberische und politisch festgeschriebene Gleichbehandlung ist kein Garant dafür, daß sie auch tatsächlich praktiziert wird.
Wir müssen die Wahrung der Menschenrechte von Frauen zum Gegenstand unserer außen-, wirtschafts-, entwicklungs- und frauenpolitischen Beziehungen machen. Ein Zusammenspiel dieser Politikfelder eröffnet eine Reihe von Betätigungsfeldern für die Bundesregierung.
Ich fordere den Außenminister auf, die Kontakte zu den Regierungen anderer Länder konsequent zu nutzen, um den spezifischen Menschenrechtsverletzungen an Frauen ein Ende zu setzen. Die Erklärung der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen muß in nationales Recht umgewandelt werden. Zur Überwachung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen muß ein individuelles Petitionsverfahren eingerichtet werden.
({7})
Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, im Rahmen der Entwicklungspolitik Organisationen und Projekte zu fördern, die sich aktiv für die Verbesserung der Lebensumstände von Frauen in der Welt einsetzen.
({8})
Wir fordern ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für ausländische Ehefrauen deutscher Männer.
({9})
Eine erfolgversprechende Menschenrechtspolitik kann nicht bei politischen Erklärungen stehenbleiben; es müssen auch Taten folgen. Die Entscheidung der UN-Menschenrechtskommission zur Ernennung einer Sonderberichterstatterin gegen Gewalt an Frauen ist ein Schritt in die richtige Richtung gewesen.
({10})
- Ich habe ja gesagt: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung gewesen, Frau Schwaetzer.
Ich möchte mit den Worten der Generalsekretärin der 4. Weltfrauenkonferenz schließen: „Frauen sind nicht das Problem, sie sind die Lösung."
Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, Menschenrechtsverletzungen an Frauen deutlicher anzuprangern und wirksamer zu bekämpfen und nicht mit dem diplomatischen Mantel der Verharmlosung Unrecht zuzudecken.
({11})
Es fällt mir wirklich schwer, zu dem Zitat keine Bemerkung zu machen, aber ich erteile das Wort der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte.
({0})
Sie kennen mich doch gut genug; Sie wissen: Ich bin kein Problem. Wir haben einmal zusammen kollegial in einem Ausschuß gesessen, Herr Kollege.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns schockiert immer wieder, was Menschen Menschen antun können. Nicht nur die Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte machen in bedrückender Weise deutlich, wie Würde, Freiheit, Gesundheit und Leben von Menschen verletzt werden. Männer, Frauen und sogar Kinder werden gefoltert, exekutiert; man läßt sie verschwinden, ins Gefängnis werfen und ermorden.
Wir - ich denke, das dürfen wir nie vergessen - sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir widerspruchslos hinnehmen. Weiterhin müssen wir uns der Verpflichtung stellen, dort aktiv Beiträge für die Verwirklichung der Menschenrechte zu leisten, wo wir dies leisten können und wo man uns darum bittet.
Deshalb war es für die Glaubwürdigkeit unseres Einsatzes für die Menschenrechte so wichtig, daß der Deutsche Bundestag gestern dem deutschen Beitrag zur Sicherung des Friedens im ehemaligen Jugoslawien zugestimmt hat. Es hat uns erschüttert, dem Morden und Zerstören auf dem Balkan jahrelang ohnmächtig zusehen zu müssen. Hunderttausende Menschenleben hat dieser Konflikt gefordert.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Zivilbevölkerung immer stärker in kriegerische Auseinandersetzungen hineingezogen wird und die meisten Opfer bringt. Im Ersten Weltkrieg lag der Anteil der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung bei 5 Prozent, im Zweiten Weltkrieg schon bei 50 Prozent. Mitte der 90er Jahre sind rund 80 Prozent der Opfer bewaffneter Konflikte Zivilisten, und zwar mehrheitlich Frauen und Kinder.
Diesem Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dem Terror der Heckenschützen, den ethnischen Säuberungen, den systematisch durchgeführten Vergewaltigungen kann jetzt endlich ein Ende gesetzt werden, leider erst jetzt. Es ist gut, daß nun die Chance auf Frieden besteht, aber es hat zu lange gedauert.
Wenn wir es ernst meinen mit den universellen und unveräußerlichen Menschenrechten, dann müssen wir uns auch zu unserer Verantwortung bekennen. Zeigen wir, daß wir aus der Geschichte gelernt haben, daß es uns damit ernst ist, daß nicht nur in unserem Land die Grundrechte gewahrt werden, sondern daß wir auch erwarten, daß man überall auf
der Welt die Menschenrechte anerkennt. Die Achtung der Würde und des Lebens eines jeden Menschen ist keine Frage der Gnade der jeweiligen Machthaber, sondern das unveräußerliche Recht eines jeden Menschen. Deshalb drängt die Bundesregierung auf die weltweite Einhaltung der Menschenrechte und bringt dieses Thema auch dort zur Sprache, wo man dies nicht so gerne hat.
Frauen - dazu ist zu Recht viel gesagt worden - sind spezifischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Dazu gehören die Beschneidung von Millionen Mädchen und Frauen, Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisationen, der internationale Frauenhandel und Zwangsprostitution.
Das alles ist für uns nicht hinnehmbar. Das waren für mich im Vorfeld der 4. Weltfrauenkonferenz, aber auch auf der Konferenz selbst die Gründe, mich dafür stark zu machen, daß die Einhaltung der Menschenrechte ein zentrales Thema der Pekinger Konferenz wurde.
({0})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön.
Frau Ministerin Nolte, mit Ihrer Unterschrift unter die Pekinger Aktionsplattform haben Sie sich verpflichtet, einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Wiener Erklärung vorzulegen. Meine Frage: Können Sie bereits heute sagen, wann genau dieser Aktionsplan vorgelegt wird?
Frau Kollegin, das paßt zwar nicht direkt in diese Debatte hinein; aber ich will Ihnen trotzdem die Antwort nicht vorenthalten. Wir haben schon auf der Pekinger Konferenz selbst Verpflichtungen dargelegt und zu Protokoll gegeben, an die wir uns binden, die wir umsetzen möchten und die natürlich zur Umsetzung von Peking beitragen sollen. Wir haben geplant, eine nationale Nachbereitungskonferenz durchzuführen. Auch das wird ein Beitrag sein, um Initiativen zu bündeln und Maßnahmen zu konkretisieren. Dann ist Zeit bis Ende 1996, bis wir das Protokoll machen müssen. Ich denke, daß wir diese Zeit einhalten werden.
Es gelang, dem Problem der Gewalt gegen Frauen und Mädchen in der Aktionsplattform einen großen Stellenwert einzuräumen. Noch nie ist in einem UN- Dokument Gewalt gegen Frauen so eindringlich beschrieben und benannt worden, und noch nie wurde sie so eindeutig verurteilt. Die Regierungen aller Länder wurden aufgefordert, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen und zu verhindern.
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
So steht es auch in Art. 3 unseres Grundgesetzes. Wir müssen denjenigen in Deutschland, die die unveräußerlichen Menschenrechte und die Würde eines jeden nicht respektieren, mit der ganzen Kraft unserer Gesetze Einhalt gebieten.
Ich finde mich nicht damit ab, daß in unserem Land Kinder mißbraucht werden, daß man Frauen aus ärmeren Ländern nach Deutschland schleppt und hier zur Prostitution zwingt und daß das Leben und die körperliche Unversehrtheit von ausländischen Mitbürgern und Asylbewerbern durch fremdenfeindliche Aktionen rechtsextremer Täter gefährdet sind.
({0})
Glaubwürdigkeit im Innern ist eine Voraussetzung für unsere Stärke beim Kampf um Achtung der Menschenrechte weltweit. Solange Menschen unterdrückt werden, wird es keinen Frieden geben. Wir müssen für diesen Frieden eintreten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 13/3210, 13/3229 und 13/3214 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({0}), Rainder Steenblock, Elisabeth Altmann ({1}), Helmut Wilhelm ({2}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Alternativen zur geplanten ICE-Neubaustrekke München-Ingolstadt-Nürnberg
- Drucksache 13/1934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({3})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann machen wir das so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Albert Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe, daß viele von Ihnen gerne nach Hause möchten. Das möchte auch ich gerne. Ich verstehe auch, daß manche nicht so gerne hören möchten, was ich jetzt zu sagen habe. Ich verstehe sogar, daß einige Kolleginnen und Kollegen nicht so gerne zu diesem Thema reden wollen, weil sie nicht so recht wissen, was sie sagen wollen.
Dennoch kann ich Ihnen diese halbe Stunde leider nicht ersparen. Ich möchte die Argumente, die hier zu sagen sind, Auge in Auge und in aller Spontaneität austauschen. Ich bin sehr gespannt, was Sie zu sagen haben, und kann nicht warten, bis ich das im Protokoll nachlesen kann.
Ich möchte mit einem Zitat beginnen. Sie werden sich vielleicht wundern, wenn Sie erfahren, von wem dieses Zitat ist.
Die ICE-Neubautrasse München-IngolstadtNürnberg
- also das Projekt, um das es heute geht durch das Altmühltal wäre ein Betonriegel mitten durch den größten Naturpark Deutschlands und würde das Altmühltal nach dem Bau des RheinMain-Donau-Kanals in einem weiteren Abschnitt unerträglich belasten.
Diese vernichtende Kritik äußerte der Eichstätter CSU-Landrat Konrad Regler 1985, und zwar kurz nachdem die Neubaupläne der Bundesbahn bekanntgegeben worden waren. Wenige Wochen später allerdings fielen er und alle anderen CSU- Kommunalpolitiker der Reihe nach wie die Dominosteine um. Die Bayerische Staatsregierung hat sie katholisch gemacht, und plötzlich waren sie alle glühende Anhänger und Befürworter dieses Projekts. Doch das war nur der Auftakt einer Geschichte endloser Merkwürdigkeiten.
Ich mache weiter mit August 1990. Da meldete nämlich der Bundesrechnungshof bereits zum erstenmal erhebliche Zweifel an der Wirtschaftlichkeit dieses Projekts an und bezeichnete statt dessen eine alternative Ausbaustreckenführung MünchenAugsburg-Nürnberg als die wirtschaftlichere Variante. Dennoch beharrten Bahn und Bundesregierung auf ihren Neubauplänen über Ingolstadt. Die Ausbaustrecke über Augsburg wurde schließlich sogar aus dem vergleichenden Raumordnungsverfahren im laufenden Verfahren zurückgezogen und nicht weiter verfolgt.
Ebenfalls 1990 hat die höchste bayerische Umweltbehörde, das Landesamt für Umweltschutz, die Planungen in der vorliegenden Form als nicht umweltverträglich eingestuft. Das hat das bayerische Umweltministerium nicht daran gehindert, ein Jahr später den Neubautrassenplänen zuzustimmen, allerdings unter der Maßgabe, daß der Köschinger Forst, ein riesiges zusammenhängendes Waldgebiet, auf voller Länge untertunnelt werden müsse. Heute wird auf die Einhaltung dieser Auflage kein Wert mehr gelegt. Man muß sich fragen, wozu dann eigentlich Auflagen in Raumordnungsverfahren formuliert werden, wenn sie nachher nach Gutdünken über den Haufen geschmissen werden können.
({0})
- Dieser Einwand ist sehr richtig und sehr ehrlich, aber dann kann man sich das ganze Theater im Raumordnungsverfahren sparen.
Im Mai 1994 hat sich der Bundesrechnungshof erneut zu Wort gemeldet und seine Kritik erneuert, indem er ausführte: „Politik und Bahn haben sich für die unwirtschaftlichere Variante entschieden."
Im März 1995 schließlich - im Abschlußbericht - modifizierte der Rechnungshof zwar seine Kritik, indem er die Kostendifferenz zwischen den beiden Planungen - Ingolstadt versus Augsburg - mit nur noch 720 Millionen DM bezifferte. Er distanzierte sich aber von der politischen Fehlplanung mit dem bemerkenswerten Satz - hören Sie genau zu! -, es handele sich hier offenbar um eine politische Entscheidung, die dann allerdings auch politisch verantwortet werden müsse.
Der Rechnungshof blieb trotzdem bei seiner abschließenden Aussage, die Streckenführung über Ingolstadt sei unwirtschaftlicher. Das hat das Bundeskabinett wiederum nicht daran gehindert, am 5. Juli dieses Jahres in einem Beschluß festzulegen: Die ICE-Strecke über Ingolstadt wird gebaut, und der Bau wird privat vorfinanziert.
Auch wenn der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG neuerdings die Bankkredite selbst akquirieren will, wie wir in den letzten Tagen gehört haben, bleibt für den Bund die Verpflichtung, nach der Fertigstellung des Projekts, also ab 2004, in 25 Jahresraten zu je 622 Millionen DM diese Strecke zurückzukaufen. Dadurch explodieren die Gesamtkosten letztendlich auf 15,6 Milliarden DM zu Lasten der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen von morgen. Es ist das teuerste Verkehrsprojekt, das in dieser Republik jemals geplant worden ist, teurer als der Transrapid. Deshalb verstehe ich kaum, warum so wenig Bereitschaft besteht, dieses Thema zu diskutieren.
Das betrifft auch die Haushaltsberatungen. Ich habe gehört, im Haushaltsausschuß habe es keine Rolle gespielt; im Verkehrsausschuß war es unter „ferner liefen". Ich verstehe das überhaupt nicht, denn über den Transrapid - was sehr richtig ist - haben wir sehr ausführlich diskutiert.
Horst Seehofer jedenfalls hat es verstanden - übrigens muß man dazu wissen: Horst Seehofer, Wahlkreis Ingolstadt -, seinem CSU-Häuptling Augenbraue ein 16-Milliarden-Geschenk unter bayerischen Spezeln abzuluchsen. Das Geschenk hat sogar seinen Niederschlag in einem Gesetz gefunden, nämlich im Bundeshaushaltsgesetz 1996, § 28 Abs. 2.
Daß es dabei nicht so ganz mit rechten Dingen zugegangen sein könnte, belegt ein Brief von Professor Dr. Ulf Häusler, Deutsche Bahn AG, Vorstand, an das Bundesverkehrsministerium vom 9. Mai dieses Jahres. Darin wird beklagt, daß der Bundesrechnungshof immer noch bei der Aussage bleibe, die
Albert Schmidt ({1})
Lösung über Augsburg erscheine ihm wirtschaftlicher. Und es heißt weiter: Dies sollte ausgeräumt werden. Ich zitiere weiter: „Wir würden es begrüßen, wenn Sie", also das Verkehrsministerium, „ihn", den Rechnungshof, „zu einer weiteren Anpassung seiner Haltung bewegen könnten." Das muß man sich mal reintun: Da wird ein Organ, das nach Art. 114 Grundgesetz richterliche Unabhängigkeit genießt, vom Vorstand der Bahn AG auf dem Umweg über das Verkehrsministerium genötigt, seine kritische Haltung aufzugeben. Ich finde, das ist - auf Bayerisch gesagt - eine Sauerei. Ich weiß, das ist kein parlamentarischer Ausdruck;
({2})
aber was hier gelaufen ist, war auch kein verfassungskonformer Vorgang.
Aber das ist noch nicht alles. Die Münchner Planer Vieregg & Rössler haben Ende 1994 im Auftrag der Bahn AG ein Gutachten zu einer verbesserten Augsburg-Variante erarbeitet. Und nun streitet die Bahn AG einfach ab, daß es diesen Auftrag je gegeben hat. Heute nachmittag ist wieder die Nachricht, von dpa verbreitet, über den Ticker gelaufen, daß es diesen Auftrag gar nicht gibt.
Ich habe hier den kompletten Werkvertrag zwischen der Deutschen Bahn AG, Vorstandsbereich Konzernentwicklung, Berlin, und der Beratungsfirma Vieregg & Rössler GmbH, Innovative Verkehrs- und Umweltberatung, vorliegen. Für die „genannten Dienstleistungen", die Erstellung von Unterlagen zu den genannten Städten, wird eine Vergütung von 42 000 DM berechnet. Datiert ist der Vertrag auf den 30. Dezember 1994; es folgen die Unterschriften.
Ich verstehe gar nicht, warum die Bahn für etwas bezahlt hat, was sie angeblich gar nicht in Auftrag gegeben hat. Warum diese dreiste Lüge? Die Antwort liegt auf der Hand: weil das Ergebnis dieser Studie dermaßen peinlich war, daß die Bahn dafür nicht einmal die Auftraggeberschaft übernehmen wollte. Es kam nämlich heraus, daß eine verbesserte Strekkenführung über Augsburg dazu führen würde, daß der Fahrzeitunterschied zwischen beiden Trassen nur noch 20 Sekunden beträgt.
Heinz Dürr hat gestern vor der IHK Augsburg immerhin eingeräumt, es handele sich noch um 15 Minuten Unterschied. Aber ob 20 Sekunden oder 15 Minuten - das rechtfertigt doch nicht eine gigantische Neuverschuldung in diesem Rahmen. Es geht doch hier nicht um Peanuts; es geht um eine Neuverschuldung, etikettiert als private Vorfinanzierung. Weil Waigel seine Haushaltslöcher nicht stopfen kann, ernennt er Herrn Dürr quasi zum Nebenfinanzminister, der das tun darf, was Waigel nicht tun darf, nämlich zusätzliche Kredite in Milliardenhöhe aufnehmen, die dann nicht in der offiziellen Haushaltsbilanz erscheinen.
({3})
In Wahrheit aber findet auch mit dem Rückkauf der Strecke nach 2004 keine Abzahlung statt, sondern nur eine Umschuldung; denn der Bund wird auch dann wieder auf den Kapitalmarkt gehen und die Summe Rate für Rate aufnehmen müssen.
Ich möchte zusammenfassen: Bei keinem anderen mir bekannten Verkehrsprojekt wurde dermaßen gelogen und gebogen, um eine bestimmte Planung durchzusetzen, die verkehrspolitisch, finanzpolitisch, ökologisch und wirtschaftlich unhaltbar ist. Wir schlagen deshalb in unserem Antrag vor, dieses Konzept ganz schnell zu vergessen und statt dessen ein Alternativkonzept aufzulegen. Wir wollen ja nicht eine ersatzlose Streichung, sondern einen Investitionseinsatz zugunsten der Schiene, aber wirtschaftlich und effizient.
Das bedeutet hier ganz konkret: erstens einen Ausbau der bestehenden Strecke München-Ingolstadt - es ist unstrittig, daß dort Kapazitätsprobleme existieren -, zweitens den beschleunigten viergleisigen Ausbau der Strecke Augsburg-München - auch das ist unstrittig eines der Nadelöhre der Nation -, drittens - das ist wichtig - einen optimierten ICE-gerechten Ausbau der bestehenden Strecke über Augsburg und viertens den Einsatz moderner Fahrzeugtechnik, also der Neigetechnik und ICEs der dritten Generation, sowie elektronischer Betriebsleittechnik. Dadurch ließen sich auch auf bestehenden Strecken ein erheblicher Fahrzeitgewinn und eine Kapazitätserhöhung erzielen.
({4})
Die Vorteile dieses Konzeptes liegen auf der Hand: Erstens ist es finanzierbar - es kostet nur einen Bruchteil dieser 16 Milliarden DM -, zweitens ist es schneller verfügbar, als wenn man völlig neu durch die Landschaft trassieren muß, weil die Strecken abschnittsweise in Dienst genommen werden können - auch so kann man Zeit kaufen -, und drittens würde es zu einer qualitativen Verbesserung im gesamten Netz führen und nicht nur eine Verringerung der Fahrzeit zwischen zwei Punkten bringen, was einer Minutenfuchserei der Fahrt zwischen zwei Metropolen gleichkäme. Das wäre ein Beitrag zu einem modernen und wirtschaftlichen Schienenausbau, wie wir ihn uns vorstellen.
Ich habe im Moment leider noch die Befürchtung, daß die wahren Modernitätsfeinde in der Bundesregierung sitzen.
({5})
Denn Sie halten an den überholten Plänen von 1985 fest und sind nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Sachstand heute anders ist, daß man heute anders planen, anders diskutieren, anderes einsetzen muß.
Gott sei Dank gibt es - das möchte ich abschließend noch sagen - in der Bahn AG auch Kräfte, die das inzwischen begriffen haben und etwas anderes wollen als diesen Wahnsinn der Ingolstadt-Trasse.
Ihre Zeit ist abgelaufen, Herr Schmidt.
Ich komme zum letzten Satz. - Ich könnte Ihnen hier Papiere vorlegen, in denen zum Beispiel die Arbeitsgruppe „Netz 21" vorschlägt, statt dessen den sogenannten Südstern zu bauen, der Stuttgart und München, Stuttgart und Nürnberg sowie München und Nürnberg besser miteinander verbindet. Für solche Planungsideen werden wir in den bevorstehenden Ausschußberatungen werben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Dionys Jobst das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt hätte sich diese Rede durchaus ersparen können. Außer einigen Saft- und Kraftausdrücken hat er nichts geboten, was uns beeindrucken könnte. Er mußte hier aber reden, weil er seine Rede und auch diese Kraftausdrücke bereits gestern der Presse geliefert hatte. Heute gab es aber etwas Neues.
({0})
Gestern war von Manipulation, von Skandal und Betrug die Rede. Heute hat er auch noch Lüge hinzugefügt.
Ich bin durchaus dafür, Herr Schmidt, daß man sich einer vollmundigen Ausdrucksweise bedient. In Bayern wird das eher hingenommen als anderswo. Aber zu Ihnen muß ich sagen: Sie wollen Fakten einfach nicht zur Kenntnis nehmen und qualifizieren einfach andere Gutachten in einer ungehörigen Weise ab.
({1})
Wer so mit dem, was Sie der Presse gestern geliefert haben, um sich schlägt - ich habe die „Süddeutsche Zeitung" hier und habe es in der „Frankfurter Rundschau" gelesen -, kann nicht ernstgenommen werden.
({2})
Mein Eindruck, Herr Schmidt, ist einfach der: Es geht Ihnen nicht um die Trasse Nürnberg-München über Ingolstadt, sondern es geht Ihnen, wie den Grünen überhaupt, darum, auch den Verkehrsausbau auf der Schiene zu verhindern.
({3})
Sie wollen Ihrer Ideologie entsprechend Verkehr verhindern. Es ist eine Illusion, Verkehr auf diese Weise verhindern zu wollen. Ich verweise nur auf die Verhältnisse in der früheren DDR, wo es eine marode Verkehrsinfrastruktur und völlig unzureichende Lebensverhältnisse gab. Mobilität ist wichtig für das
Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft. Mobilität ist auch ein Wert an sich.
Lassen Sie doch die irrsinnige Behauptung, Herr Schmidt, dem Bundesverkehrsminister, der Bahn und auch uns hier im Deutschen Bundestag gehe es bei dieser Strecke über Ingolstadt um ein Prestigeobjekt. Niemand von uns will ein unnötiges Verkehrsprojekt. Wir wollen die zweckmäßige, vernünftige Trasse. Diese muß gebaut werden.
Wir erleben immer wieder das gleiche Bild, das auch Sie geboten haben: Diejenigen, die gegen den Straßenausbau sind und nach der Bahn rufen, sind auch dann die Gegner und zur Stelle, wenn es um den Schienenausbau geht.
({4}) Dies erleben wir auch heute wieder.
Ich erinnere nur daran, daß 1973 der erste Rammstoß für die erste Hochgeschwindigkeitsstrecke durchgeführt wurde. 1991, nach 20 Jahren Verzögerung, konnten die erheblichen Widerstände überwunden und ein kleiner Teilabschnitt in Betrieb genommen werden. Dies ist das Resultat auch Ihrer Bemühungen, einen vernünftigen Verkehrsausbau, den wir brauchen, zu verhindern.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Steenblock?
Ja, bitte.
Herr Dr. Jobst, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es uns nicht darum geht, ein Projekt zu verhindern, sondern daß wir schon eine ICE-Trasse wollen, nur eine andere Streckenführung, die weitaus billiger ist als die Streckenführung, die die Bundesregierung beantragt hat und weiterverfolgt?
Herr Kollege Steenblock, für diese Trasse sind das Raumordnungsverfahren und die Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt worden. Die Unterlagen für das Planfeststellungsverfahren sind fertig. Sie wollen jetzt wieder ein ganz neues Verfahren, das heißt, Raumordnungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfung usw. für die Alternativtrasse, die auch bereits alternativ mitgeprüft worden ist.
({0})
Ich darf Ihnen folgendes sagen, meine Damen und Herren von den Grünen: Es ist mehrfach geprüft worden, ob diese Trasse München-Nürnberg über Ingolstadt die zweckmäßige Trasse ist. Dieses Projekt ist bereits 1985 in den Bundesverkehrswegeplan in den vordringlichen Bedarf aufgenommen worden. 1993 haben wir im Verkehrsausschuß, im Haushaltsausschuß und im Plenum des Deutschen Bundestages zum Schienenwegeausbauplan den Bedarf für
eine Strecke über Ingolstadt festgestellt. Diese Strecke ist auch im Dreijahresschienenplan enthalten.
In Bayern wurde eine Prüfung durchgeführt. Die Bayerische Staatsregierung hat eine Präferenz für die Trassenführung über Ingolstadt ausgesprochen. Das Bayerische Staatsministerium für Landesplanung und Umweltfragen hat eine positive landesplanerische Beurteilung abgegeben
({1})
und auch die Alternativtrasse über Augsburg eingehend untersucht. Aus ökonomischen, ökologischen und verkehrspolitischen Gründen wurde der Trasse über Ingolstadt der Vorzug gegeben.
Ich habe schon erklärt, daß wir uns im Verkehrsausschuß, im Haushaltsausschuß und auch bei der Beratung im Deutschen Bundestag die Entscheidung nicht leichtgemacht haben, aber zu dem Ergebnis gekommen sind: Das ist die verkehrspolitisch zweckmäßigste Trasse.
Unsere verkehrspolitische Zielsetzung ist: mehr Verkehr auf die Schiene, auf das umweltfreundlichste Verkehrsmittel.
({2})
Der Verkehr wird weiter zunehmen. Ich verweise nur auf die enorme Zunahme im Luftverkehr. Damit die Bahn ihre Aufgaben erfüllen kann, die wir ihr zudenken, braucht sie eine gute Schieneninfrastruktur. Dazu gehören auch die Hochgeschwindigkeitsstrekken, weil sie entsprechende Kapazitäten schaffen.
({3})
Wenn sich die Bahn im Wettbewerb behaupten will, muß zu der Sicherheit und Zuverlässigkeit die Schnelligkeit hinzukommen.
({4})
Ich glaube, wir sind uns einig: Der Verkehr muß - gerade europaweit - stärker auf die Schiene. Die Strecke Italien-München-Nürnberg-Berlin ist eine bedeutende transeuropäische Strecke. Deshalb ist das Teilstück München-Nürnberg über Ingolstadt wichtig. Diese Strecke ist von internationaler, nationaler, aber auch von europäischer und regionaler Bedeutung. Um im Stau auf der Straße nicht zu ersticken, brauchen wir leistungsfähige und schnelle europäische Schienentrassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Wirkung der Strecke stellt sich folgendermaßen dar: Mit der Fertigstellung der Neubau- und Ausbaustrecke Nürnberg-Ingolstadt-München stehen für die Strecke München-Nürnberg zusammen mit der gesondert geplanten viergleisigen Strecke über Augsburg durchgehend zwei zweigleisige Verbindungen zur Verfügung. Mit dieser Neubau- und Ausbaustrecke wird die Streckenlänge von heute rund 200 Kilometern auf 171 Kilometer verkürzt. Die kürzere Strecke und die hohe Geschwindigkeit, die auf den Schienenteilen möglich ist, lassen die Reisezeit zwischen den beiden Endpunkten um fast ein Drittel
({5})
von 100 auf 69 Minuten schrumpfen. Das ist eine entscheidende Verbesserung, die auch gewisse höhere Kosten rechtfertigt.
({6})
Die Mehrkosten, die dabei entstehen, halten sich in vertretbaren Grenzen.
({7})
Entscheidend ist der Wirtschaftlichkeitsnachweis der schon im Mai 1987 ergeben hat: Erlös-KostenVerhältnis über Ingolstadt 3,8, über Augsburg 3,3. Im Dezember 1991 ist eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt worden: Erlös-Kosten-Verhältnis über Ingolstadt 2,02, über Augsburg 1,01.
Die Ingolstädter Trassenführung hat eine um 39 Kilometer kürzere Streckenführung zur Folge, die die Fahrzeit um 31 Minuten verkürzt. Die kürzere Reisezeit kommt besonders den Räumen in Nord- und Ostbayern zugute und verbessert die Anbindung Münchens und des südbayerischen Raumes Richtung Norden, die speziell nach der Wiedervereinigung und der Grenzöffnung einen ganz anderen Stellenwert erhalten hat.
Hinzu kommt, daß im Rahmen des Schienenwegeausbaugesetzes festgestellt wurde, daß auch der viergleisige Ausbau von München nach Augsburg erforderlich ist. Durch die Führung von Zügen zwischen München und Nürnberg über Ingolstadt wird die Strecke zwischen Augsburg und München entlastet, werden Kapazitäten für den Nahverkehr und für weitere auf dieser Strecke zu erwartende Verkehrssteigerungen geschaffen.
Das, was der Kollege Schmidt ausgeführt hat, trifft einfach nicht zu. Es kann weder von Manipulation noch von sonstigen Machenschaften gesprochen werden. Das, was Sie mit dem Gutachten von Vieregg & Rössler eingeführt haben, ist von der Bahn nicht in Auftrag gegeben worden, sondern es war ein Gutachten für den Bund Naturschutz.
({8})
- Sie können rufen, was Sie wollen. Das ist Tatsache.
Weil die Bahn davon gehört hat, hat sie darum gebeten, daß auch ihr dieses Gutachten zur Kenntnis gebracht wird. Sie hat auch etwas bezahlt, um dagegen Stellung zu nehmen; denn dieses Gutachten sollte bei dem Prozeß, der vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München läuft, verwertet werden. Anscheinend wurde es auch vorgelegt.
Wir wollen, daß die richtige Strecke gebaut wird. Wir sind der Überzeugung, daß die Strecke über
Ingolstadt die richtige Strecke ist. Diese Tatsache wird auch dadurch unterstrichen, daß sich die Bahn AG bereit erklärt, diese Strecke selbst vorzufinanzieren.
({9})
Gestern hat der Aufsichtsrat der Bahn AG diesem Vorhaben zugestimmt. Dort sitzen doch auch Leute, die etwas davon verstehen. Ich glaube, sie verstehen etwas mehr davon als Sie, Herr Schmidt.
({10})
Wenn die solche Entscheidungen treffen, dann hat das auch seine Begründung.
Die Strecke von München nach Nürnberg über Ingolstadt muß gebaut werden. Verhinderungen und Verzögerungen, wie Sie sie vorhaben, sind nicht vertretbar. Sie würden zum Nachteil der verkehrspolitischen Zielsetzung „mehr Verkehr auf die Schiene, Entlastung der Straßen, mehr Umweltfreundlichkeit im Verkehr". Wir werden diese Verzögerungen, die Sie vorhaben, nicht eintreten lassen. Wir werden alles unternehmen, damit diese Strecke alsbald und zügig gebraucht werden kann, weil sie von hohem verkehrspolitischen Nutzen ist.
({11})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Kristin Heyne das Wort.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich weiß, daß wir alle drei Sitzungswochen hinter uns haben, daß wir müde sind und daß das eine anstrengende Zeit war. Aber das, was wir im Moment erleben - für mich ist es das erste Mal, daß ich so etwas in diesem Hause erlebe -, bestätigt alle negativen Vorurteile gegen Politiker. Das, was wir soeben gehört haben, sind klar widerlegte Informationen und wissentlich falsch vorgetragene Dinge.
Es ist wieder einmal der Zeitvorteil von 31 Minuten vorgetragen worden. Gestern hat Herr Dürr, dem Sie doch wohl Fachkompetenz zuschreiben wollen, erklärt, daß er bei 15 Minuten liege. Das läßt sich noch weiter herunterrechnen, wenn man sich das ein wenig genauer ansieht.
Ich denke, daß der Vorsitzende des Verkehrsausschusses so informiert ist, daß er solche falschen Informationen nicht mehr vorzutragen braucht.
Es gibt zwei wichtige Punkte an dieser Entscheidung, die ich ansprechen möchte und auf die Sie, Herr Kollege Jobst, leider nicht eingegangen sind. Es hat die Privatisierung der Bahn mit einem gewaltigen Kraftaufwand stattgefunden. Daran haben viele mitgearbeitet. Bei der Privatisierung der Bahn hat der Bundeshaushalt die gesamte Schuldenlast der Bahn übernommen, damit die private Gesellschaft schuldenfrei zu arbeiten anfangen kann. Ich bitte Sie, hier einmal zu erklären: Welchen Sinn macht es jetzt, daß die Bahn auf den Kapitalmarkt geht und Geld für eine Aufgabe aufnimmt, die ganz klar Aufgabe des Bundes ist, nämlich für den Gleisbau? Das heißt doch, daß die Bahn jetzt zur Bank für den Bund wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß das mit dem Europathema zu tun hat, daß das hier einer der Schattenhaushalte ist, mit dem das Finanzministerium erreichen will, die Kriterien für den Beitritt zur Währungsunion zu erfüllen.
({0})
Ein zweiter Punkt, über den der Kollege leider auch nicht gesprochen hat, ist die äußerst merkwürdige Tatsache, daß die „klitzekleine" Summe von über 15 Milliarden DM, die in diesem Jahr für eine einzige Strecke bewilligt worden ist, bei den Haushaltsberatungen zum Einzelplan 12, zum Verkehrshaushalt, nicht mit einem Wort erwähnt worden ist. Diese Summe ist bescheiden im Anhang des Haushaltsgesetzes eingestellt gewesen. Das heißt, als der Haushaltsausschuß und vermutlich auch der Verkehrsausschuß zusammengesessen und beraten haben, wofür welches Geld ausgegeben wird, und sich gefragt haben, was diese oder jene von zwei nebeneinanderliegenden Strecken kostet, ist von der Strecke über Ingolstadt nicht einmal die Rede gewesen. Ich glaube, das hat gute Gründe; denn einen Vergleich hätte diese Strecke nicht ausgehalten. Es würde mich sehr freuen, wenn die Regierungskoalition zu diesen Fragen noch einmal Stellung nehmen könnte.
({1})
Herr Kollege Dr. Jobst, Sie können darauf natürlich antworten.
Frau Kollegin, ich habe Ihnen keine falschen Tatsachen geliefert. Das, was ich vorgetragen habe, entspricht den Gegebenheiten. Hinsichtlich dessen, was Sie zur Finanzierung gesagt haben, sind Sie falsch unterrichtet. Die Strecke München-Ingolstadt-Nürnberg soll im Wege der Privatfinanzierung gebaut werden, also mit Kapitalmitteln.
({0})
Das ist vorgesehen. Diese Aufgabe will jetzt die Bahn AG übernehmen.
({1})
Dies ist eine Art Privatfinanzierung, die nötig ist, weil dann der verkehrspolitische Nutzen viel früher eintritt. Wir haben uns alle bemüht, daß dieses Privatfinanzierungsinstitut eingeführt wird. Das ist nichts Neues.
Der Bundesverkehrswegeplan von 1993 ist erheblich unterfinanziert. Das ist bekannt. Weil aber diese Projekte dringend notwendig sind und wir bestrebt sein müssen, den verkehrspolitischen Nutzen viel
früher zu erreichen, ist der Weg über die Privatfinanzierung gefunden worden. Ich meine, das ist richtig und auch vernünftig.
Die hohen Beträge, die Sie hier genannt haben - letzten Endes 15 Milliarden DM an Kosten -, treffen einfach nicht zu.
({2})
Nach der Kostenschätzung von 1993 - - Warum sind Sie denn so aufgeregt?
({3})
Wenn Sie vernünftig argumentieren wollen und keine ideologischen Scheuklappen aufhätten, dann würden Sie zuhören und mir zu vorweihnachtlicher Zeit nicht so lauthals dazwischenrufen.
({4})
Herr Schmidt, Sie haben zehn Minuten reden können. Ich bitte Sie wirklich, sich etwas zurückzuhalten.
Ihr Verhalten disqualifiziert Sie ja selber. Sie geben doch damit zu, daß Sie bei den Argumenten, die Sie hier vorbringen, kein gutes Gewissen haben und daß es Ihnen nur um ideologische Zielsetzungen geht.
({0})
Es ist Tatsache, daß der Bau dieser Strecke etwa 4 Milliarden DM kostet. Daß natürlich im Wege der Fremdfinanzierung - ({1})
- Frau Kollegin, auch Sie sollten einmal zuhören. Ich möchte Ihnen nicht das gleiche sagen, was ich Ihrem Kollegen gesagt habe. Aber es stünde auch Ihnen an, einmal zuzuhören. - Natürlich sind die Kapitalkosten und die Verzinsungskosten beträchtlich; das kommt 2 Milliarden DM teurer.
Das gleiche Ergebnis hätten wir auch dann, wenn der Bund, der es auch nicht aus dem Haushalt finanzieren kann, auf den Kapitalmarkt ginge und sich die Mittel dort beschafft.
({2})
Ich räume ein, daß der Bund einige Vergünstigungen bekäme
({3})
und vielleicht 20 bis 30 Millionen DM über 25 Jahre verteilt einsparen könnte. Aber es geht hier um ein wichtiges Projekt.
Wir sind auf dem richtigen Weg. Die ökologischen, die ökonomischen und die verkehrspolitischen Gründe und Zielsetzungen sind nach allen Seiten hin untersucht worden. Ich habe extra dieses Konvolut mitgebracht. Das ist ein fünfbändiges Gutachten, das schon 1987 erarbeitet worden ist.
({4})
Schon damals ist man zu dem Ergebnis gekommen, daß die Strecke über Ingolstadt die bessere ist. Nicht nur wir Verkehrspolitiker in Bonn, sondern auch die in Bayern haben sehr hartnäckig und eingehend darum gerungen, was die zweckmäßige Strecke ist. Alle Gutachten sind zu dem Ergebnis gekommen: Die Strecke über Ingolstadt ist die zweckmäßige, weil diese Teilstrecke München-Ingolstadt auch ausgebaut werden müßte, wenn eine Alternativtrasse über Augsburg geführt würde.
({5})
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Heide Mattischeck.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, unsere Diskussion wieder ein bißchen auf das Sachliche zurückzuführen, obwohl es zugegebenermaßen manchmal schwierig ist, bei dem Finanzgebaren der Bundesregierung sachlich zu bleiben. Da kann ich eine bestimmte Erregung durchaus verstehen.
({0})
Trotzdem habe ich zu manchen Dingen, die ausgeführt worden sind, eine etwas andere Meinung, Herr Schmidt, wenn wir auch in Sachen Privatfinanzierung völlig übereinstimmen.
Der Streit um die Trassenführung einer Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen München und Nürnberg ist so alt wie die Planung selbst. Soll der ICE über Augsburg oder über Ingolstadt fahren? Für die Entscheidung, die, wie der Herr Kollege Jobst eben gesagt hat, schon vor langer Zeit angedacht worden und gefallen ist, die Trasse über Ingolstadt zu führen, sprach und spricht eine gewisse Zeitverkürzung. Wir haben gehört, daß es da unterschiedliche Zahlen gibt. Ich traue mir heute nicht zu, die richtige zu sagen. Ich kenne die Zahl 23 Minuten. Sie haben 31 Minuten gesagt, Herr Schmidt hat, glaube ich, 13 Minuten gesagt. Der Antrag, der jetzt vorliegt, hat auf jeden Fall - so hoffe ich zumindest - den Nutzen, daß wir von der Bundesregierung im Laufe der Diskussion darüber vielleicht nicht nur über das Zahlenverhältnis in bezug auf die Fahrzeit konkretere Angaben bekommen, sondern daß insgesamt mehr Helligkeit in diesen Nebel hineinkommt.
Es sprach natürlich nicht nur die kürzere Fahrzeit für diese Trasse, sondern dafür sprachen auch ein besseres Kosten-Nutzen-Verhältnis - die Zahlen liegen mir vor; ich kann nur von denen ausgehen, die mir zur Verfügung stehen - und natürlich auch strukturpolitische Überlegungen. Ich muß sagen, Herr Schmidt: Eine politische Entscheidung ist nicht immer eine falsche Entscheidung. Es kann auch gute und positive politische Entscheidungen geben. Es war damals auch eine strukturpolitische Entscheidung, nämlich für den nordostbayerischen Raum. Das hat natürlich durch die Öffnung der Grenzen nach Osten und auch durch die Öffnung nach Norden hin, also in die neuen Bundesländer, einen höheren Stellenwert erhalten. Wie gesagt, eine politische Entscheidung kann auch eine gute Entscheidung sein.
Gleichzeitig mit dem Votum pro Ingolstadt wurde seinerzeit auch der Bedarf für einen viergleisigen Ausbau zwischen München und Augsburg festgestellt. Damit war damals eine Kernforderung aus dem Augsburger Raum erfüllt worden, wo man sich natürlich zurückgesetzt fühlte. Hierdurch sollte damals - und ich denke, das ist heute auch noch eine wichtige Forderung - der Nah- und Regionalverkehr deutlich gestärkt werden.
Im Schienenwegeausbaugesetz 1993 sind beide Vorhaben, nämlich die Strecke München-IngolstadtNürnberg als „Überhang" und die Strecke München-Augsburg als „vordringlicher Bedarf" anerkannt. Wenn nun Regierung und Koalition konstatieren - wir haben das sehr häufig gehört -, daß die Mittel für Bahninvestitionen auf Grund irgendwelcher Schlampereien nicht abfließen können, frage ich mich, warum sie zum Beispiel nicht schon für dieses Projekt verwandt worden sind.
({1})
Der erste Spatenstich für die Ingolstädter Trasse wurde doch - das muß man sich auch immer wieder vor Augen halten - bereits im Juli 1994 zelebriert, rein zufällig wenige Wochen vor der bayerischen Landtagswahl.
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- Wie es der Teufel will, ganz genau. - Ich denke mir, hier liegt der eigentliche Skandal. Die Bundesregierung und die Bayerische Staatsregierung müssen sich fragen lassen, warum über den Spatenstich hinaus noch nicht mehr geschehen ist. Das Raumordnungsverfahren wurde bereits im Juni 1991 abgeschlossen, Teile sind bereits planfestgestellt.
Es ist nur folgerichtig, daß angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Finanznot des Bundesfinanzministers und auch des Bundesverkehrsministers die Diskussion neu entflammt ist, ob nicht die Trasse über Augsburg billiger sei.
Frau Kollegin Mattischeck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jobst?
Ja.
Frau Kollegin Mattischeck, Ihnen ist doch sicherlich bekannt, daß sich die bayerische SPD - und zuvörderst die Landesvorsitzende der bayerischen SPD, unsere ehemalige Frau Kollegin Schmidt - für die Trasse über Ingolstadt ausgesprochen hat. Wie stehen Sie zu dieser Äußerung?
Darauf komme ich gleich, Herr Jobst, wenn Sie noch ein paar Minuten warten. Ich wollte dazu noch etwas sagen. Ich war auch an diesem Prozeß beteiligt und habe auch nicht gegen die Trasse gesprochen. Wenn Sie richtig hingehört haben, ist Ihnen das nicht entgangen.
Wie gesagt: Es ist nur folgerichtig, daß angesichts der Finanznot Überlegungen angestellt werden. Ich meine, das ist ein ganz legitimer Vorgang. Auch wir - und da komme ich zu dem, was Sie gefragt haben, Herr Jobst -, die SPD in Bayern und die Landtagsfraktion, haben uns im Laufe des September noch einmal intensiv mit diesem Thema beschäftigt, weil nämlich der Bundesrechnungshof und der Oberste Bayerische Rechnungshof Vergleichszahlen vorgelegt haben, die durchaus Zweifel an der damaligen Kosten-Nutzen-Analyse aufkommen ließen. Ich meine, es ist nicht mehr als richtig und verantwortlich, wenn sich Politiker, die an dieser Entscheidung beteiligt waren, noch einmal Gedanken darüber gemacht haben. Es hätte auch der Regierung gut angestanden, wenn sie dies ebenfalls getan hätte.
({0})
Vergleichszahlen, die uns vorlagen, wurden dann vom Bundesrechnungshof wieder relativiert; der Kollege Schmidt hat vorhin darauf hingewiesen. Ob dies „unter Druck", wie Sie gesagt haben, geschehen ist, dazu ist uns, meine ich, die Regierung in der kommenden Diskussion durchaus eine Erklärung schuldig. Das können wir so nicht stehenlassen. Bis jetzt allerdings tun der Verkehrsminister und die Regierung nichts, um irgendwie Klarheit in diesen Nebel zu bringen.
Die SPD-Landtagsfraktion - das hatte ich eben schon gesagt - hat sich im Sommer dieses Jahres noch einmal sehr intensiv mit dieser Problematik beschäftigt. Sie ist dann - und das haben Sie gesagt - unter Abwägung aller Gesichtspunkte und unter der Voraussetzung, daß die Differenz zwischen den beiden Alternativen so ist, wie es der Bundesrechnungshof gesagt hat, nämlich heruntergerechnet auf 700 Millionen, zu dem Ergebnis gekommen - ({1})
- Es gibt unterschiedliche Zahlen, Herr Friedrich; das wissen Sie auch. Sie sind nicht der Bundesrechnungshof, Herr Friedrich. Bei aller Wertschätzung Ihrer Person, das weiß ich jetzt besser: daß die Entscheidung für Ingolstadt unter diesen Gesichtspunkten die richtige wäre; denn wir brauchen eine Lösung, die schnell realisiert werden kann. Durch eine Neuplanung würde nur eine Verzögerung entstehen. Dadurch könnte - das ist unsere Befürchtung, das will ich hier ganz deutlich sagen - eine VerHeide Mattischeck
lagerung der Investitionsmittel für die Schiene in Richtung Westen erfolgen, und Bayern würde dann vollends zu einem Transitland für den Autoverkehr. Das wollen wir nicht.
Die von allen gewollte Verlagerung auf die Schiene - Sie haben das auch betont, aber wir glauben das nicht mehr so richtig - erfordert mehr als eine gut ausgebaute Trasse zwischen München und Nürnberg, vor allem auch für den Güter-, den Nah- und den Regionalverkehr. Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung der bayerischen SPD-Landtagsfraktion unter unserer Beteiligung hat besonders die Tatsache gespielt, daß Professor Häußler vom Bahnvorstand fest zugesagt hat, daß die Inbetriebnahme des vierspurigen Ausbaus der Strecke MünchenAugsburg gleichzeitig mit der Fertigstellung der Strecke München-Ingolstadt-Nürnberg erfolgen werde. Was von solchen Versprechungen allerdings zu halten ist, konnten wir in der letzten Woche in der „Süddeutschen Zeitung" lesen. Danach können wir uns ausrechnen, daß diese Strecke frühestens im Jahre 2006 oder 2007 fertig werden wird. Das hat wohl mit Gleichzeitigkeit nichts mehr zu tun, es sei denn, Sie wollen die Ingolstädter Trasse auch erst zu diesem Zeitpunkt fertig werden lassen.
Bei allem Mitleid für die Situation des Bundesfinanzministers und auch des Verkehrsministers erwarten wir ehrliche und klare Antworten, die wir bereits in den ganzen letzten Wochen eingefordert haben, ohne aber vernünftige und einsichtige Antworten bekommen zu haben. Die Regierung und der Verkehrsminister erwecken den Eindruck, als ob sie alles im Griff hätten, vernebeln aber in Wahrheit alle Tatsachen.
({2})
Die Trasse München-Ingolstadt-Nürnberg soll jetzt privat finanziert werden. In welcher Not muß sich der Verkehrsminister befinden, hat er doch in der Kabinettsitzung im Juli dieses Jahres selbst gesagt, daß die Privatfinanzierung nur als „Krücke" anzusehen sei. Der Finanzminister lehnt eine Ausweitung der bisher 13 privat vorfinanzierten Projekte ab, weil damit Schattenhaushalte geschaffen und Haushaltsbelastungen auf spätere Jahre verschoben würden. Die SPD-Verkehrspolitiker sind strikt gegen diese Art von Finanzierung. Wir lehnen sie auch in diesem Falle ab.
({3})
Ich muß die Zahlen hier nicht noch einmal wiederholen.
({4})
- Auf den Einwurf habe ich gewartet. Aber ich stehe nicht als Haushälterin hier, sondern wir sind uns als Verkehrspolitikerinnen und Verkehrspolitiker einig, daß wir tun, was wir können.
Von den bisher geplanten Investitionen für Schienenwege in den Jahren 1996 bis 1999 - ich muß an dieser Stelle noch einmal daran erinnern - in Höhe von 40 Milliarden DM bleiben nur noch 26 Milliarden
DM übrig. Diese sollen angeblich aus Verkäufen von Immobilien und durch Minderbelastungen aus dem Jahressteuergesetz 1996 aufgestockt werden. - Da lachen ja die Hühner!
Auf alle unsere Fragen, wie sich die annähernde Halbierung der Mittel auf einzelne Projekte im Dreijahresplan Schiene auswirken werde, bekommen wir aus dem Bundesministerium für Verkehr immer wieder nur die stereotype Antwort: ein bißchen mehr Streckung hier, ein bißchen mehr Streckung dort und vielleicht ein etwas späterer Baubeginn da. Das ist doch schlicht und einfach nicht die Wahrheit! Es gibt einen überarbeiteten Finanzierungsvorschlag für den Dreijahresplan Schiene, der weit in das nächste Jahrtausend hineinreicht. Er ist jedoch eine geheime Verschlußsache, über die wir Parlamentarier nicht informiert werden.
({5})
Wir fordern die Regierung auf, endlich die Karten auf den Tisch zu legen, und wir fordern sie auf, Klarheit in die verwirrenden Zahlenspiele zwischen Bundesverkehrsministerium, Bundesrechnungshof und Oberstem Bayerischem Rechnungshof im Zusammenhang mit dem Projekt München-IngolstadtNürnberg zu bringen. Der Antrag, der hier vorliegt, wird eine gute Gelegenheit bieten, manches klarzustellen, was bis jetzt nicht klar ist, und dann werden die vernünftigen Entscheidungen gefällt werden.
Zum Schluß, damit es etwas versöhnlicher ausklingt, möchte ich noch sagen, daß mich diese Diskussion sehr an ein bayerisches Lied erinnert hat: Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau, ob er aber überhaupt nicht kommt, das ist nicht g'wiß.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schmidt, es wäre ja für alle besser, wenn Sie etwas mehr Emotionen aus der Debatte herausgenommen und etwas weniger mit Schlagworten um sich geworfen hätten. Gestern war ja nun ein unrühmlicher Höhepunkt Ihrer Aussagen; ich will es nicht weiter zitieren. Aber es hilft allen Beteiligten hier nichts.
Um einmal etwas richtigzustellen, möchte ich aus Originaldokumenten auch des Bundesrechnungshofes zitieren. Am 12. Juni 1995 ging der Bundesrechnungshof auf die Aussagen im „Spiegel" vom 22. Mai 1995 ein und kam zu dem Schluß, daß statt des im Jahr 1994 angenommenen Defizites in Höhe von 1,7 Milliarden DM nach Überprüfung und unterschiedlicher Bewertung einzelner Punkte mit der DB
AG tatsächliche Mehrkosten von 595 Millionen DM zu erwarten seien.
({0})
Das ist Originalton Bundesrechnungshof und nicht von irgend jemandem lanciert.
Besonders bezeichnend ist bei dieser Situation der Hinweis, daß er sich ausschließlich auf den Vergleich der Investitionskosten beschränkt und weitergehende Aussagen wie Einnahmeverbesserungen durch mehr Verkehr außer Ansatz bleiben. Ich verweise da auf die aktuelle Situation in Frankreich: Der TGV Paris-Lyon war für 6 Millionen Passagiere ausgelegt und fährt mittlerweile mit 22 Millionen. Dies zeigt, daß ein entsprechendes Angebot - ({1})
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit, Herr Präsident, und möchte bald zum Schluß kommen.
Ich möchte auch noch einmal auf die Behauptung eingehen, die Bahn habe niemals ein Gutachten in Auftrag gegeben. Lieber Herr Kollege Schmidt, auch da muß man ein bißchen sorgfältiger differenzieren, als Sie es gemacht haben. Die Bahn ist im Rahmen eines Gerichtsverfahrens auf ein Gutachten angesprochen worden, das Vieregg & Rössler - nicht im Auftrag der Bahn AG - erstellt haben. Die Bahn sollte bei diesem Gerichtsverfahren zu den Fakten Stellung nehmen und hat dann versucht, dieses Gutachten zu bekommen. Daraufhin hat Vieregg & Rössler gesagt, es müßten noch einige Klarstellungen vorgenommen werden, wofür 42 000 DM verlangt worden sind. Weil die Bahn Stellung nehmen wollte, hat sie die natürlich bezahlt. Insofern verstehe ich nicht, daß erklärt wird, die Bahn habe niemals Kontakt mit Vieregg & Rössler gehabt.
Neuerdings ist allerdings festzustellen, daß die Bahn AG auf diese Aussagen mit dem Hinweis reagiert, auch aus dem Gutachten von Vieregg & Rössler ergebe sich, daß, wenn tatsächlich bei Neigetechnikzügen 300 Stundenkilometer auf der Strecke erreicht werden sollen, die Investitionskosten für die Strekkenführung über Augsburg bei 4 Milliarden DM lägen, wohingegen der Bundesverkehrswegeplan, immer Preisstand 1990 gerechnet, von 3,1 Milliarden DM ausging. Das sollte man vielleicht der guten Ordnung halber dazusagen.
({0})
Man kann natürlich auch auf den Vorwurf eingehen, warum noch nicht weitergebaut worden ist. Dazu muß man wissen, daß der Verwaltungsgerichtshof in Bayern zum ersten Bauabschnitt eine Klage des Bundes Naturschutz behandeln mußte, was dazu geführt hat, daß zunächst einmal nicht weitergebaut werden konnte. Diese Klage hat er jetzt ablehnend beschieden, und zwar mit der Begründung, daß der Bedarf der Neubaustrecke wegen des 1993 in Kraft getretenen Bundesgesetzes zum Ausbau der Schienenwege nicht geprüft werden müsse. Außerdem haben die Richter eine Prüfung alternativer Trassen abgelehnt und keinen Verstoß gegen die europäische Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung gesehen.
({1})
Herr Kollege Friedrich, einen Moment! - Herr Kollege Braun, der Kollege Friedrich hat eben schon erklärt, er beantworte im Hinblick auf seine 5 Minuten Redezeit keine Zwischenfragen. Ich habe das als eine generelle Aussage aufgefaßt.
({0})
Ich weiß ja, was der Kollege Braun mich fragen will, weil er aus Augsburg kommt. Ich kann das mit einem Halbsatz erklären: Auch ich verstehe nicht, daß die Bahn seine Fragen zur Passagierkapazität auf den Bahnhöfen nicht beantwortet. Das muß kein Staatsgeheimnis sein.
Ich verstehe allerdings, daß Augsburg und auch Sie, Herr Kollege Schmidt, versuchen, Augsburg als Alternative anzubieten. Ich glaube aber, daß der Antrag zu spät kommt; denn die Entscheidung über die Ingolstädter Trasse ist über mehrere Instanzen demokratisch gefallen. Die Mehrheit hat sich für die Strecke über Ingolstadt entschieden. Das sollte einmal akzeptiert werden. Die SPD in Bayern hat das bereits getan. Es wäre sinnvoll, wenn gefallene Mehrheitsbeschlüsse vom ganzen Haus akzeptiert würden. Der Zwiespalt, den Sie zwischen der Politik und der Bahn immer zu konstruieren versucht haben, ist, so glaube ich, mit den Aussagen der Bahn, was die Finanzierung angeht, beseitigt.
Was es einzufordern gilt - das unterstütze ich allerdings -, ist, daß Herr Dürr die Zusage der Ausgleichsmaßnahme für Augsburg und den Raum Schwaben auch tatsächlich einhält, so zum Beispiel den viergleisigen Ausbau der Strecke zwischen Augsburg und München, der aber sowieso vorgesehen ist.
Die Streckenführung kann eigentlich nur eines zur Folge haben: Es kann in dieser Situation kein Entweder-Oder, es muß ein Sowohl-Als-Auch geben.
({0})
Wenn wir die Kapazitäten tatsächlich bewältigen wollen, brauchen wir zum einen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke, zum anderen eine andere Strecke, die in der Lage ist, den übrigen Verkehr aufzunehmen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolf, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Ich möchte den Ausführungen der Grünen und dem Antrag, der gestellt wurde, zustimmen und zu einem Themenkreis die Position der Grünen noch ergänzen - gewissermaßen als Punkt 5 in Ergänzung zu dem, was Albert Schmidt hier vorgetragen hat, und als krasser Kontrast zu Ihrer Behauptung, Herr Jobst, es solle Verkehr vermieden bzw. verhindert werden: Es soll mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden.
Die wirkliche Alternative zur ICE-Neubaustrecke ist meines Erachtens die Optimierung des Fernverkehrs durch Neigetechnik, ergänzt um einen neu aufzubauenden und zu optimierenden Schienennah- und Regionalverkehr. Erst beides zusammen ergibt die von PDS, Grünen und vielen Verkehrsplanern geforderte Flächenbahn.
Der Streckenabschnitt Nürnberg-Ingolstadt zum Beispiel bringt es auf 85 Kilometer Neubaustrecke. Außer am Ziel- und Endpunkt gibt es keinen einzigen Bahnhof. Da rauschen ICE und schnelle Güterzüge an Mensch und Tier vorbei, und rechts und links gibt es Ruinen ehemals regionaler Wirtschaftskreis- und Wirtschaftsabläufe.
Natürlich gab es diese Flächenbahn in dieser Region wie auch anderswo, und sie funktionierte effizient, flexibel und mehr als ein halbes Jahrhundert lang gewinnbringend. Allein in eben diesem Korridor Nürnberg-Ingolstadt gab es 175 Kilometer Zweigstrecken mit 62 Stationen. All dies wurde stillgelegt, übrigens teilweise auch als Folge des Baus des Rhein-Main-Donau-Kanals. Das letzte Plattmacken datiert auf den 1. April 1995: Stillegung der Strecke Ingolstadt-Nord bis Offendorf.
Nur ein paar Beispiele des vormaligen Netzes in dieser Region: Die Strecke Neumarkt-Dietfurt mit 37 Kilometern und 12 Stationen wurde 1988 stillgelegt. Die Strecke Beilngries-Eichstätt-Stadt mit 41 Kilometern und 15 Stationen wurde endgültig 1973 stillgelegt. Die Strecke Greißelbach-Freystadt mit 10 Kilometern und drei Stationen wurde 1960 stillgelegt.
Unsere Bilanz lautet: Erstens. Eine schnelle Schrumpfbahn - die Strecke München-Nürnberg über Ingolstadt ist ein Beispiel dafür - ist unbezahlbar teuer und bringt den Menschen in der Region nichts außer Landschaftszerstörung und Lärm.
Zweitens. Die geforderte alternative Flächenbahn stellt eine Kombination von optimierten Fernverkehrsstrecken mit Neigetechnik auf bestehenden Trassen und einem Wiederaufbau des Nah- und Regionalverkehrs dar. Durch das letztere wären 62 Orte wieder für den Schienenverkehr zu erschließen, darunter die Fremdenverkehrsstadt Beilngries. Parallel könnte bestehender motorisierter Verkehr verhindert und verlagert werden. Das rechnet sich übrigens durchaus: Für 200 Kilometer Flächenbahn bei teilweise noch vorhandenen Trassen wären Kosten in Höhe von rund 1 Milliarde DM zu veranschlagen. Addieren Sie die optimierte Fernbahn mit Neigetechnik hinzu, so werden Sie weit unter den jetzt veranschlagten Kosten, die hier richtig dargelegt worden sind, bleiben.
Der Bundesrechnungshof, meine Damen und Herren, hat, als er noch nicht - wie inzwischen erfolgt - von Bahn AG und Bundesverkehrsministerium erpreßt wurde, den Planern der Neubaustrecke ins Rechenheft geschrieben: mangelhafte Kalkulation, investive Fehlentscheidung.
Herr Kollege Dr. Wolf, Sie müssen zum Schluß kommen.
Letzter Satz. Der Bundesrechnungshof ist herzlich eingeladen, das alternative Gegenmodell einer Flächenbahn durchzurechnen und es einer betriebs- und volkswirtschaftlichen Kontrollplanung zu unterziehen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/1934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Bestandsaufnahme des von der DDR übernommenen Vermögens
- Drucksachen 13/1866, 13/2629 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe der PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt, PDS.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum späten Abend noch etwas Interessantes. - Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 sah gemäß Art. 10 Abs. 6 eine „Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens" vor. Diese Aufgabe wurde mit Art. 26 Abs. 6 in den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands, Einigungsvertrag, vom 31. August 1990 übernommen.
Nach beiden Verträgen war vereinbart worden, daß nach Möglichkeit den Sparern in OstdeutschWolfgang Bierstedt
land zu einem späteren Zeitpunkt für den bei der Umstellung im Verhältnis 2 : 1 reduzierten Betrag ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen eingeräumt werden kann.
In ihrer Antwort auf die Große Anfrage der PDS zu diesem Thema teilt die Bundesregierung mit - ich zitiere -:
... war hierbei von der Erwägung getragen, daß nach der Verwendung des volkseigenen Vermögens für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts ein verteilungsfähiger positiver Rest verbleiben würde. Dies beruhte auf einer Fehleinschätzung der DDR über den Wert des volkseigenen Vermögens. Die Einschätzung hat sich im nachhinein angesichts der finanziellen Altlasten der DDR, der negativen Vermögensbilanz der Treuhandanstalt sowie des fortlaufenden Unterstützungsbedarfs der neuen Länder als offenkundig unzutreffend erwiesen. Damit ist die von den Vertragsparteien für die Inaussichtstellung von Anteilsrechten am volkseigenen Vermögen zugrunde gelegte Geschäftsgrundlage entfallen.
Interessant an dieser Behauptung ist, daß die Bundesregierung völlig vergessen hat, bei der Einführung der Währungs- und Wirtschaftsunion eine Bestandsaufnahme des DDR-Vermögens und damit eine DM-Eröffnungsbilanz anzufertigen. Denn nur auf dieser Basis könnte die Bundesregierung mit Recht behaupten, daß die DDR nur Schulden hinterlassen habe.
Und so wurden aus dem Bestandsvermögen der ostdeutschen Länder, aus einem Anfangskapitalbestand der Unternehmen von 584 Milliarden DM zum 30. Juni 1990 laut Statistischem Bundesamt - nachzulesen im Jahresgutachten 1995/96 der Fünf Weisen - auf wundersame Weise 256 Milliarden DM Verluste. Diese Summe soll sich 1999 auf 360 Milliarden DM Erblast vergrößern.
Meine Damen und Herren, das bedeutet, daß es bei der Privatisierung der DDR-Volkswirtschaft der Treuhand gelungen ist, fast 1 Billion DM zu verschleudern - wahrlich eine gigantische Leistung! Wo ist denn dieses Geld abgeblieben? Ist Frau Breuel dafür belangt worden? - Mitnichten! Sie wurde bei der Auflösung der Treuhand Ende 1994 für ihre gute Arbeit gelobt und ausgezeichnet. - Daß dieses Lob allerdings nur von einer Seite kam, ist überhaupt nicht verwunderlich. - Sie ist dafür ausgezeichnet worden, daß eine große Umverteilung von Ost- nach Westdeutschland stattgefunden hat, daß eine große Enteignung in Ostdeutschland durchgeführt worden ist und daß es gelungen ist, eine ganze Volkswirtschaft zu liquidieren. Dabei wurden nebenbei noch 6 Millionen Arbeitsplätze vernichtet.
Bei der Privatisierung mußten Verluste übrigbleiben, um eben diesen oben genannten Anspruch der ehemaligen DDR-Bürger nicht befriedigen zu müssen. Deshalb wurden riesige Vermögen verschleudert und Betriebe samt Immobilie für 1 DM verhökert. Zu beachten ist dabei, daß nicht ein ehemaliger DDR-Bürger einen solchen Betrieb oder eine solche
Immobilie für 1 DM erwerben konnte. Tatsache ist, daß lediglich 5 Prozent des industriellen Sachvermögens - meist in Form von MBO-Unternehmen - bei ostdeutschen Bewerbern verblieben, und dies zu meist weniger günstigen Verkaufsbedingungen, als sie Konzernen und Einzelpersonen aus den alten Bundesländern geboten wurden.
Hier waren viele Raffkes, Betrüger, Abzocker und Nieten in Nadelstreifen am Werk, die nur eines im Sinn hatten: bei dieser Privatisierung einer gesamten Industrie ihr Schäflein ins Trockene zu bringen. Gerechterweise muß ich natürlich auch erwähnen, daß es eine Vielzahl von ehrlichen Geschäftsleuten gegeben hat, die sich bemüht haben, in den neuen Bundesländern Fuß zu fassen und sich am Aufbau zu beteiligen.
Die Privatisierung war mit einer Welle spekulativer Geschäfte und krimineller Aktivitäten zu Lasten des Vermögens der DDR und damit der Menschen in den neuen Bundesländern verbunden. Das reicht von unrechtmäßigen Beraterhonoraren über Bestechungsgelder bis zur bewußten Ausplünderung solider Unternehmen um mehrstellige Millionenbeträge.
Es ist natürlich verständlich, daß bei dem Verkauf einer ganzen Volkswirtschaft Marktmechanismen wirken. Diese sind von der Bundesregierung völlig außer acht gelassen worden. Dazu gehören:
Erstens. Massenverkäufe - das weiß jeder Kaufmann - verursachen ein Überangebot mit entsprechendem Preisverfall.
Zweitens. Die unerwartete En-gros-Offerte, die in keinem Verhältnis zur Nachfrage stand, wurde noch künstlich eingeengt. Ausländischen Investoren wurde in den ersten eineinhalb Jahren der Zugang zu den wichtigsten Kaufobjekten beschränkt. Das drückte die Preise weiter nach unten.
Drittens. Die rigide Privatisierung, ohne gezieltes Engagement der Regierung, zum Erhalt oder zur Erschließung von Märkten führte zur Entwertung von Produktionsvermögen, für das sich selbstredend keine Käufer fanden. Deshalb wurden Schleuderpreise von 1 DM pro Objekt und Immobilie angeboten, und willige Käufer wurden mit einem stattlichen Bakschisch in Form von gewaltigen Investitionszuschüssen belohnt. Diese Politik führte dazu, daß die Eigentümer privatisierter Unternehmen die Treuhand-Nachfolgeorganisationen noch heute als melkbare Kuh betrachten und den Staat mit dem drohenden Verlust der übriggebliebenen Arbeitsplätze erpressen.
Viertens. Das Ritual, den Käufern Arbeitsplatz- sowie Investitionszusagen abzuverlangen, Strafen im Falle der Nichteinhaltung anzudrohen, blieb bei den Bietern nicht ohne kaufmännische Reaktionen: Ihr Risiko stellten sie dem Verkäufer, also der Treuhand, in Rechnung und schmolzen den Kaufpreis um eventuelle Pönalen ab.
Fünftens. Das gleiche passierte, wenn gekaufte Betriebe mit ökologischen Altlasten oder Altkrediten behaftet waren. Auch hier hielten sich die Käufer bei
der Treuhand mehr als schadlos. Diese sprang mit großzügigen Verlustübernahmen in die Bresche.
Sechstens. Mindereinnahmen kamen auch dadurch zustande, daß die Investoren sich ihr Portfolio kaum selbst zusammenstellen konnten, sondern Unternehmen nur im Stück kaufen mußten, was vom Prinzip her vernünftig war. Sie waren jedoch nur bereit, für das zu zahlen, was sie für ihren Zweck benötigten. Den „Rest" nahmen sie gnädig mit, allerdings zum Nulltarif.
Die Treuhand hat sich selber unter Druck gesetzt, damit Fehler gemacht, diese auch eingestanden, aber keine Konsequenzen aus dieser miserablen Politik gezogen. Der Gipfel des Zynismus ist dann erreicht, wenn die Bundesregierung sich heute hinstellt und behauptet, die nicht erreichten Einnahmen aus der Privatisierung beruhten auf einer Fehleinschätzung der alten DDR. Damit ist der Schwarze Peter wieder an der richtigen Stelle. Das Nachsehen haben die Bürger in den neuen Bundesländern.
Mit der durchgeführten Privatisierung wurde praktisch das gesamte Volk der neuen Bundesländer enteignet. Das hat wesentlich zu dem bestehenden Frust in der ostdeutschen Bevölkerung beigetragen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn dadurch das Zusammenwachsen außerordentlich erschwert ist.
Die ehemalige Präsidentin der Treuhand, Frau Birgit Breuel, formulierte es etwas salopper: „Nach Abzug der DDR-Staatsschulden - die betrugen, wie jeder weiß, 1990 28 Milliarden DM - müssen die Überschüsse der Treuhand an die Bürger der ehemaligen DDR verteilt werden. Überschüsse sind nicht da, also wird nichts verteilt." Frau Breuel hat das Klassenziel erreicht. Ihre Feststellung veranlaßte den Bürgerrechtler und Pfarrer Schorlemer zu der Aussage: „Wir hatten gedacht, daß nach der Wende aus Staatseigentum Volkseigentum und nicht Westeigentum wird."
Meine Damen und Herren, so wie das produktive Vermögen verschleudert wurde, wurde nach dem gleichen Prinzip das Barvermögen der ehemaligen DDR verschleudert. So wurde zum Beispiel die Berliner Stadtbank AG für nur 49 Millionen DM von der Berliner Bank AG geschluckt, obwohl das Altkreditvolumen dieser Bank zum Kaufzeitpunkt 11,5 Milliarden DM betrug. Die Bundesregierung versteckt sich hinter dem Betriebs- und Geschäftsgeheimnis des Käufers und behauptet, dieser riesige Brocken baren Geldes sei in die Erwägungen zur Kaufpreisbildung einbezogen worden.
Der Bundesfinanzminister fand auch diesen Deal völlig rechtens. Das ist um so verwunderlicher, als doch unser Finanzminister ständig über Mangel an Geld zur Finanzierung der vielen Sozialleistungen klagt. Deshalb läßt Herr Waigel keine Gelegenheit aus, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern und Sozialhilfeempfängerinnen in Deutschland die letzten Groschen aus der Tasche zu ziehen. So sieht die Umverteilung von unten nach oben in Deutschland aus.
Aber das eben genannte Beispiel ist nur eines von vielen Gaunerstücken infolge des Wiedervereinigungsprozesses. Neben der Berliner Stadtbank AG wurden alle weiteren DDR-Banken und -Sparkassen für ein Butterbrot verkauft. Auf Fragen zu diesen „Supergeschäften" verweigerte die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 6. November 1995 durch ihren Staatssekretär Professor Faltlhauser jegliche Antwort. Es handele sich hier um sogenannte Share deals. Was auch immer man darunter verstehen möge, die Wahrheit war es in jedem Fall nicht. Wieder wurde so gehandelt, um die Ostdeutschen von jeder Teilhabe fernzuhalten. Es gebe nichts zu verteilen. Nur so kann man die Schuldenlüge aufrechterhalten.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Problem: Zur Abwicklung von Altschulden ehemaliger DDR- Betriebe wurden die Zinsbelastungen so in die Höhe getrieben, daß der wirtschaftliche Aufbauprozeß in den neuen Bundesländern beeinträchtigt wurde und noch heute beeinträchtigt wird. Rechnet man die generell zu niedrige Eigenkapitalausstattung dieser neuen Unternehmen hinzu, wird deutlich, daß sich ein sich selbst tragender Aufschwung nur schwer entwickeln kann. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sich viele ostdeutsche Betriebe mangels Kapitals nicht auf deutschen, geschweige denn auf ausländischen Märkten behaupten können. Als Folge rollt eine beispiellose Pleitewelle auf diese Unternehmen zu.
Angesichts des desolaten Zustandes der ostdeutschen Wirtschaft betrachten wir es als Hohn, wenn die Bundesregierung auf die Große Anfrage der Gruppe der PDS unter Punkt 2, Seite 3, antwortet:
Verschiedene parlamentarische Initiativen der Gruppe der PDS/Linke Liste bzw. der PDS, die die Erstellung einer Bilanz des ehemaligen „volkseigenen" Vermögens und die teilweise Erstattung des bei der Währungsumstellung „reduzierten" Betrages zum Ziel hatten, sind gescheitert.
Damit werden wir uns nicht ohne weiteres abfinden. Nach unserer Auffassung gibt es in dieser Angelegenheit noch einen großen Aufklärungsbedarf. Gerade auch aus diesem Grund wird die PDS trotz des nur genehmigten Beraterstatus im 2. Untersuchungsausschuß „DDR-Vermögen" mitarbeiten, um Quellen von DDR-Vermögen und Ursachen ihrer Veruntreuung aufzuklären.
Ich danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reiner Krziskewitz, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der PDS-Gruppe hat für mich als Zielsetzung den Versuch, einen Teil der DDR-Geschichte und ganz besonders ihre Endphase, die im totalen ökonomischen Zusammenbruch des Jahres 1989 gipfelte, umzuschreiben. Wenn auch vordergründig suggeReiner Krziskewitz
riert wird, den ehemaligen DDR-Bürgern könnte vielleicht doch noch ein Bonus aus der Währungsunion zur Verfügung gestellt werden, so ist doch das eigentliche Ziel, das von den DDR-Bürgern erlebte ökonomische Desaster des einstmals real existierenden und ebenso real zugrunde gegangenen Sozialismus vergessen zu machen, zu schönen, um letztlich den an dem sozialistischen Experiment und dessen ideologischen Nachläufern haftenden Makel der wirtschaftspolitischen Erfolglosigkeit, ja Unfähigkeit zu überdecken.
Wenn die PDS also ihre Rolle erweitern will, so müssen, meint man, die geschichtlichen Tatsachen eben umgeschrieben werden. Es muß der Eindruck vermittelt werden, daß man doch durchaus kompetent und erfolgreich gewesen sei und damit auch die Kompetenz für neue sozialistische Experimente besitze.
Diesem Versuch gilt es zu begegnen. Dabei geht es nicht darum, einzelnen Vertretern der ehemaligen SED oder der heutigen PDS wissenschaftliche Fähigkeiten abzusprechen oder sie persönlich zu desavouieren. Vielmehr geht es darum, festzustellen, daß dieses System aus Einheit von Partei, Politik und Wirtschaft, wie es sich selbst titulierte, vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt war.
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Nicht eine etwaige Unfähigkeit oder Faulheit von Beschäftigten oder Leitungskräften in den Betrieben oder Verwaltungen war schuld am Niedergang der DDR - die Menschen im Osten Deutschlands waren nicht weniger fleißig, nicht weniger kreativ, nicht weniger einsatzbereit als im Westen Deutschlands -, das System verurteilte sie zur Ineffektivität, zur Erfolglosigkeit.
Nicht zufällig ist eines der markantesten Motive der DDR-Kunst die Figur des Sisyphus, der unter unsäglichen Mühen einen riesigen Stein den Berg emporwälzt, der ihm kurz vor dem Gipfel dann wieder entgleitet und herunterstürzt; ein Symbol des sich abmühenden, sich einsetzenden, sich auf opfernden Bürgers - oder wie man früher sagte: des Werktätigen -, der schließlich um die Früchte und den Erfolg seiner Mühe betrogen wird.
Es stellt sich die Frage: Was wußte eigentlich die obere Führungsriege der SED damals, im Herbst 1989, von der wirklichen Situation? Ich meine nicht den kleinen Gruppenorganisator auf dem Dorf oder im Betrieb. Hatte man keine Ahnung von der Ineffektivität der großspurigen Prestigevorhaben, zum Beispiel der Mikroelektronik? War man nicht informiert über den beklagenswerten Zustand der Infrastruktur: des Schienennetzes der Deutschen Reichsbahn, der Straßen, des Telefonsystems? Hatte man keinen Überblick über das Innovations- und Investitionsgeschehen? Wußte man nichts von dem irrsinnig hohen Verschleißgrad der Grundmittel oder des Kapitalstocks, wie wir heute sagen würden?
Meine Damen und Herren, in der letzten Legislaturperiode stieß der erste Untersuchungsausschuß „Kommerzielle Koordinierung" auf ein von der SEDSpitze als geheim eingestuftes Dokument, das im Auftrag von Egon Krenz Ende Oktober 1989 erarbeitet wurde. Die dortigen Aussagen sind ernüchternd. So heißt es - ich zitiere -:
Der Verschleißgrad der Ausrüstung in der Industrie hat sich von 47,1 Prozent ({1}) auf 53,8 Prozent ({2}) erhöht, im Bauwesen von 48 Prozent auf 67 Prozent, im Verkehrswesen von 48,4 Prozent auf 52,1 Prozent, in der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft von 50,2 Prozent auf 61,3 Prozent.
Dann heißt es weiter:
In bestimmten Bereichen der Volkswirtschaft sind die Ausrüstungen stark verschlissen, woraus sich ein überhöhter und ökonomisch uneffektiver Instandhaltungs- und Reparaturbedarf ergibt. Darin liegt auch eine Ursache, daß der Anteil der Beschäftigten mit manueller Tätigkeit in der Industrie seit 1980 nicht gesunken, sondern mit 40 Prozent etwa gleich blieb.
({3})
Zur Wohnungswirtschaft heißt es:
Dringendste Reparaturmaßnahmen wurden nicht durchgeführt, und in solchen Städten wie Leipzig und in solchen Mittelstädten wie Görlitz gibt es Tausende von Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind.
Die Kosten für die Erzeugnisse der Mikroelektronik betrügen, so steht dort, zur Zeit ein Mehrfaches des internationalen Standards usw. usf. Schließlich stellt man fest, die Zahlungsunfähigkeit des Staates stehe unmittelbar bevor.
Herr Bierstedt, ich akzeptiere, daß Sie der Bundesregierung und auch mir nicht Glauben schenken. Aber glauben Sie dann wenigstens Ihren ehemaligen Genossen! Wenn Sie den Bericht nicht haben - ich unterstelle, daß Sie ihn nicht gekannt haben -, so stelle ich Ihnen diesen gern zu. Aber Ihre Kollegin Lederer hat ihn auch bekommen.
Die Autoren des Berichtes hatten nicht übertrieben. Erst nach dem staatlichen Ende der DDR wurde jedoch das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar mit all den Folgen, die die Bundesregierung in ihrer Antwort ausführlich darlegte: die Notwendigkeit einer nahezu totalen Erneuerung des Kapitalstocks, riesige Transferleistungen zur Sanierung der Infrastruktur, Milliardenbeträge zur Unterstützung von Betriebsneugründungen und Umstrukturierungen, zur Sanierung einer geschändeten Umwelt.
Nicht ein noch zu verteilendes Volksvermögen ist übriggeblieben, sondern ein riesiger Schuldenberg. Es ist notwendig, das klar und deutlich auszusprechen - nicht um die Menschen in den neuen Bundesländern zu beschämen oder ihnen etwas vorzuenthalten, sondern als Warnung vor all denReiner Krziskewitz
jenigen, die das Versagen ihrer gescheiterten Ideologie bis heute noch nicht eingestanden haben.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Manfred Hampel, SPD.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heutige Thema, die Bestandsaufnahme bzw. die Erfassung des in der DDR vorhandenen Vermögens, ist kein neues. Schon in den Jahren 1992 und 1993 wurde die Erfassung des DDR-Vermögens mehrfach thematisiert und in parlamentarischen Gremien behandelt. Daß dieses Thema aber ausgerechnet von der Gruppe der PDS im Deutschen Bundestag behandelt werden will,
({0})
macht schon stutzig.
In Kenntnis dessen, was Ihre Vorgänger, werte Kollegen von der PDS, von der Wirtschaftskraft der DDR noch übriggelassen haben - denn nicht umsonst, worauf mein Kollege Krziskewitz hingewiesen hat, spricht man vom Zusammenbruch des Systems -, ist es schon erstaunlich, warum ausgerechnet Sie den Finger in die Wunde legen, die uns Ostdeutsche noch erheblich schmerzt. In Kenntnis dessen, wie diese Partei in ihrer politischen Arbeit inhaltliche Aussagen durch Polemik ersetzt, empört alle verantwortlich Agierenden in Politik und Wirtschaft, daß die PDS wieder einmal versucht, sich zum Sachwalter der Interessen der ostdeutschen Bürger zu machen.
Das Vermögen der DDR wurde durch die im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vereinbarte Anpassung des DDR-Haushalts an die Haushaltsstrukturen der Bundesrepublik in drei Teile gespalten, das Treuhandvermögen, das Verwaltungsvermögen und das Finanzvermögen.
Eine Bestandsaufnahme des volkseigenen Vermögens war von der damaligen DDR-Regierung gewünscht und in Art. 26 Abs. 4 des obengenannten Vertrages bestimmt worden. In Art. 10 Abs. 6 des selben Vertrages wurde weiterhin darüber entschieden, was mit einem verbleibenden Restwert geschehen sollte, der nach der Verwendung des als positiv eingeschätzten Ertragswertes für Strukturanpassungen der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushaltes der DDR verbliebe. Diese Vorstellung entbehrt jedoch nach heutiger realistischer Einschätzung des Ertragswertes des volksseigenen Vermögens jeglicher Diskussionsgrundlage.
Das volkseigene Vermögen sollte mit Ausnahme des Verwaltungs- und des Finanzvermögens durch die Treuhandanstalt privatisiert werden. So beschloß es am 17. Juni 1990 die erste frei und demokratisch gewählte Volkskammer der DDR im Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens, dem Treuhandgesetz. Eine Kritik an der Bundesregierung wegen der Schaffung dieses Gesetzes wäre also völlig falsch. Ebenso unpassend wäre eine Kritik der Bundesregierung zur Bewertung der Bestandsaufnahme des Treuhandvermögens; denn die DM-Eröffnungsbilanz zum 1. Juli 1990 stellte dem positiven Vermögenswert von rund 114 Milliarden DM einen Fehlbetrag von rund 209 Milliarden DM entgegen.
Daß jedoch nach Abschluß der Tätigkeit der Treuhandanstalt ein Gesamtdefizit von rund 256 Milliarden DM verzeichnet werden mußte, liegt nach unserer Auffassung eindeutig an der von uns oft bemängelten Privatisierungspolitik der Bundesregierung.
({1})
Die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Unternehmen über eine ausreichende Sanierung hätte sicher eine Großzahl von Unternehmenszusammenbrüchen verhindern können.
({2})
Statt die Sanierung und Modernisierung des industriellen Produktionspotentials in Ostdeutschland voranzubringen, hat die Privatisierungsideologie zur Entindustrialisierung beigetragen. Ganze Landstriche sind entindustrialisiert worden, und der Verlust von Arbeitsplätzen in einer ungeahnten Größenordnung ist bekannt.
Trotz aller Ankündigungen der Bundesregierung gab und gibt es keinen sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung in den neuen Ländern - noch immer nicht.
Anhand der Eröffnungsbilanz der Treuhand wurde deutlich, daß vom Treuhandvermögen offensichtlich keine einzige Mark für die Strukturanpassung der Wirtschaft oder gar für die Sanierung des hinterlassenen maroden Staatshaushaltes verwendet werden konnte.
Wenigstens die bekannten Zahlen sollten Sie, werte Damen und Herren von der PDS, langsam zur Kenntnis nehmen, wenn Sie auch anscheinend nach wie vor nicht zu einer Diskussion über die Verantwortung der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR bis 1989, die eine Mitverantwortung für die Entwicklung nach 1989 nicht ausschließen kann, bereit sind.
Herr Kollege Hampel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bierstedt?
Ja.
Herr Hampel, ich trage eine ganze Reihe Ihrer Aussagen ohne weiteres mit. Sie sagten eben, wir sollten wenigstens die vorhandenen Zahlen akzeptieren. Ich habe vorhin eine Zahl aus dem Jahresgutachten 1995/96 der Weisen genannt, in dem auf ein Gutachten des Statistischen Bundesamtes von 1990 Bezug genommen wird und ein Guthaben der DDR von knapp 600 Milliarden
DM verzeichnet ist. Auch das ist eine Zahl, die allgemein bekannt ist. Ich habe Ihre Zahlen zur Kenntnis genommen. Sind Sie bereit, auch diese Zahl zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Kollege Bierstedt, ich bin sehr gerne bereit, diese Zahl zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt auch andere Zahlen. Ich denke zum Beispiel an die erste Zahl von 1,6 Billionen DM. Fast 1 Billion DM stand kurz danach zur Debatte. Aber diese Zahlen realisieren sich letztendlich erst in der wirtschaftlichen Umsetzung. Wie das dann im Ergebnis gewesen ist, wissen Sie selber, das haben Sie zitiert: 256 Milliarden DM Schulden insgesamt.
Ich habe auch darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung natürlich einen wesentlichen Teil an Schuld in ihrem Rucksack mitträgt. Denn diese Privatisierungspolitik - darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig - war eine verfehlte Wirtschaftspolitik, die eben nicht dem Aufbau in den neuen Bundesländern gedient hat.
({0})
Diese Mitschuld kann man der Bundesregierung nicht absprechen. Da sind wir uns völlig einig. Aber alles allein auf die Entwicklung nach 1990 zurückzuführen
({1})
ist ein Urteil, das auch Sie, wenn Sie ganz realistisch nachdenken und zu einer Schlußfolgerung kommen, nicht abgeben können.
({2})
Wenn Sie in der Wirtschaft der ehemaligen DDR tätig gewesen sind, wissen Sie selber, wie der Kapitalstock war, wie die Maschinen, Anlagen und Gebäude ausgesehen haben und wie die Infrastruktur ausgesehen hat. Das müssen Sie doch wissen und zur Kenntnis nehmen!
({3})
Fest steht - wenn ich in meinen Ausführungen fortfahren kann -, daß Sie angesichts des Wertes des Treuhandvermögens keine verbrieften Anteilscheine an volkseigenem Vermögen an die Bürger der ehemaligen DDR verteilen können. Ich glaube auch nicht, daß Sie den Mut haben, die 256 Milliarden DM als Schuldscheine auszugeben.
Daß ein verbriefter Anteilschein am volkseigenen Vermögen aus dem Verwaltungsvermögen absurd ist, können Sie - so hoffe ich trotz aller realitätsfernen Diskussionen - nachvollziehen. Oder wollen Sie Ihren eigenen Bezirksbürgermeistern in Berlin zumuten, erst Anteilscheine abzulösen, um anschließend mögliche Strukturpolitik zu betreiben?
Bleibt noch die Betrachtung des Finanzvermögens. Hier kommen wir zu einem Ansatzpunkt, den wir Sozialdemokraten durchaus für diskussionswürdig halten, allerdings auf einem anderen, sachlicheren Niveau. Auch hier scheidet nach bisheriger Betrachtung ein positiver Restwert des volkseigenen Vermögens und damit die Ausstellung von Anteilscheinen an selbigem aus. Denn „die aufgelaufene Verschuldung des Republikhaushaltes" sollte gemäß Art. 27 Abs. 3 des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, soweit realisierbar,
durch die zu erwartenden künftigen Erlöse aus der Verwertung des Treuhandvermögens getilgt werden. Die danach verbleibende Verschuldung
sollte
je zur Hälfte auf den Bund und die Länder, die sich auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik neu gebildet haben, aufgeteilt
werden.
Der mögliche positive Restwert des Finanzvermögens sollte also teilweise zur Tilgung der DDR-Haushaltsschulden dienen. Dies hat, wie Ihnen bekannt sein dürfte, der Bund schon im Rahmen des FKP übernommen.
Fazit ist: Wo Sie nichts übriggelassen haben, kann auch nichts verteilt werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den einzigen diskussionswürdigen Ansatzpunkt erläutern. In Art. 22 Abs. 1 des Einigungsvertrages ist bestimmt, daß durch Bundesgesetz der Gesamtwert des Finanzvermögens auf den Bund und die neuen Bundesländer jeweils hälftig aufzuteilen ist. Hier frage ich Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung: Wo ist die gesetzliche Regelung für eine entsprechende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Art. 22 des Einigungsvertrages? Diese Aufgabe haben Sie noch nicht erledigt.
Weitere Hausaufgaben stehen an. Es ist bekannt, daß das Finanzvermögen eine Restgröße ist, die durch Subtraktion des Treuhand- und des Verwaltungsvermögens ermittelt wird. Es sind noch nicht alle Vermögensgegenstände erfaßt, und Zuordnungsbescheide stehen nach wie vor aus. Die Menge des Finanzvermögens ist derzeit schwerlich erfaßbar.
Doch nach endgültiger Zuordnung der einzelnen Vermögenswerte werden Sie um eine Bestandsaufnahme zumindest des Finanzvermögens nicht herumkommen. Oder können Sie mir erklären, wie Sie eine unbekannte Größe halbieren wollen, um zwei gleiche Hälften zu erhalten?
Auch kann ich nicht verstehen, wie einerseits eine Bestandsaufnahme des Finanzvermögens aus den eben erwähnten Gründen nicht möglich ist, andererseits aber von der unbekannten Höhe des Finanzvermögens jährlich Abführungen an den Entschädigungsfonds gemäß § 10 des Entschädigungsgesetzes vom Bundesministerium der Finanzen festgelegt werden können. Im Jahr 1995 sind dies zum Beispiel 629 Millionen DM und im Jahr 1996 795 Millionen DM.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt in die Diskussion einbringen,
der mir auf Grund meiner Erfahrungen im Haushaltsausschuß und in der Arbeitsgruppe Aufbau Ost wichtig erscheint. Bis zur Schaffung des eben erwähnten Bundesgesetzes und damit einer gesetzlichen Regelung hierzu wird das Finanzvermögen treuhänderisch durch den Bund verwaltet. Einnahmen und Ausgaben werden in der Anlage zum Kapitel 08 07 im Bundeshaushaltsplan jährlich nachgewiesen. Diese treuhänderische Verwaltung erwirtschaftete von 1991 bis 1995 einen Nettoerlös von 2 Milliarden DM. Ich denke, daß man diese Tatsache auch bei den häufig geführten Auseinandersetzungen um den Erblastentilgungsfonds und die jährlichen Transferleistungen in die neuen Bundesländer auf jeden Fall einbeziehen sollte.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde, in dieser Form schon fast als Zumutung und zum wiederholten Male führen wir hier eine Debatte über das in die deutsche Einheit eingebrachte DDR-Vermögen. Ich kann mich allerdings nicht des Eindrucks erwehren, daß beide Seiten, sowohl die PDS als Fragestellerin als auch die Bundesregierung in ihren Antworten, nicht um die Klärung eines Sachverhalts bemüht sind, sondern beide Seiten betreiben eher Legendenbildung.
Die PDS möchte uns glauben machen, die SED habe doch so miserabel gar nicht gewirtschaftet. Sie will offenbar den Bankrott der DDR uminterpretieren in die Übergabe eines geordneten Staatswesens.
Daß es anders war, wissen Sie und wissen wir eigentlich sehr gut. Immerhin hat Frau Luft als Fragestellerin diese Große Anfrage mit unterzeichnet. Das war die frühere DDR-Wirtschaftsministerin.
({0})
- Sie hat als Professorin an der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst Ökonomen ausgebildet. Sie haben schließlich diesen Bankrott herbeigeführt. Insofern haben Sie Ihren Anteil daran.
Es sollte uns aufhorchen lassen, daß die PDS immer noch die Mißwirtschaft der SED zu rechtfertigen versucht. Auch das ist ein Stück unbewältigter Vergangenheit und fehlender Klarstellung. Zugleich ist es ein Beleg der wirtschafts- und finanzpolitischen Inkompetenz dieser Partei.
Ich sage Ihnen: Nehmen Sie Abschied von Ihren Mythen! Werfen Sie Ballast ab! Versuchen Sie lieber, sich mit den Realitäten anzufreunden!
Ich sagte, beide Seiten treiben Legendenbildung. Auch die Bundesregierung tut das. Indem sie die PDS angreift und indem sie sagt, da war eigentlich gar nichts, lenkt sie davon ab, daß im Erblastentilgungsfonds auch ihre Erblasten oder ihre Schulden auf die Begleichung durch die gesamtdeutschen Steuerzahler warten.
Ich will nur kurz in Erinnerung rufen: Die Währungsunion hat vielen ostdeutschen Unternehmen, die durch die Umstellung auf die Marktwirtschaft und die Öffnung zum Weltmarkt ohnehin extrem belastet waren, den währungspolitischen Rest gegeben. Man mußte das nicht so machen, aber die Bundesregierung hat so entschieden.
Die Eigentumsregelung Rückgabe vor Entschädigung hat über Jahre die Aufbaukräfte in den neuen Ländern behindert und teilweise gelähmt.
({1})
Die Bundesregierung mußte nicht so entscheiden, aber sie hat es.
Niemand hätte die Bundesregierung hindern können, die Altschulden von Unternehmen, Wohnungswirtschaft, Landwirtschaft und Kommunen zu streichen und im Gegenzug die Verpflichtungen gegenüber den ostdeutschen Sparern zu übernehmen. Sie hätte sie sodann - mit einem Preisabschlag für den Marktzugang - an private Kreditinstitute weitergeben können. Heute sind es zu einem erheblichen Anteil diese sogenannten Altschulden, die den Erblastentilgungsfonds in dreistelliger Milliardenhöhe belasten, nachdem sie jahrelang die Investitionsfähigkeit von Unternehmen, Wohnungs- und Landwirtschaft schwer behindert haben.
Die Altschulden sind ein spezielles Problem. Ich will darauf nur kurz eingehen - die Verhandlungen laufen ja noch -: Ich kann die Kommunen nur davor warnen, frühzeitig die Schuldnerposition anzuerkennen.
({2})
Damit wird das rechtliche Problem eigentlich nicht geklärt.
Ich sehe, daß ich ganz wenig Zeit habe, um das Problem darzulegen. Daher noch abschließend: Ich meine, daß die Anteile der SED und die der Bundesregierung am Erblastentilgungsfonds auf Ost-Heller und West-Pfennig wohl kaum genau auszurechnen sind. Aber es bleibt festzuhalten, daß es ein gemeinsamer Erblastenfonds ist. Auslöffeln müssen wir die Suppe allerdings gemeinsam. Und auch die PDS scheint ja nicht gerade den Löffel abgeben zu wollen.
({3})
Es reicht nicht aus, wenn sie nur damit herumfuchteln.
({4})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Türk, F.D.P.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage
der PDS besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil befaßt sich mit der nicht aufgestellten Bilanz von Volksvermögen aus DDR-Zeiten. Der zweite Teil der Anfrage beschäftigt sich mit speziellen Teilverkäufen, von denen die PDS vermutet, daß dort Volksvermögen unter Wert verkauft, wenn nicht gar verscherbelt worden ist.
Mit allem Respekt sage ich: Sie haben sich bei der Aufstellung der vielen Beispiele außerordentliche Mühe gemacht - verständlich, sollen doch die vielen Beispiele als Beweis für den ersten Teil dienen, nämlich daß sich die Bundesregierung mit der deutschen Einheit auf Kosten der Bürger in der ehemaligen DDR bereichert hat. Dazu wird Frau Karwatzki vermutlich noch Stellung nehmen. Vielleicht sagt sie ja, wo sie das Geld versteckt hat.
Diese Unterstellung möchte ich wirklich zurückweisen. Das ist unseriös. Sie berufen sich auf die Konzeption des Art. 25 Abs. 6 des Einigungsvertrages, der laut Modrow-Regierung von einem volkseigenen Vermögen in Höhe von zirka 1 Billion DM ausging. Herr Hampel sprach sogar von 1,6 Billionen DM. Das heißt, man ging davon aus, daß nach der Begleichung der Strukturanpassungskosten noch etwas übrigbleiben würde.
({0})
Wie wir nicht erst seit heute wissen, war das, gelinde gesagt, eine grobe Fehleinschätzung. Damit ist in der Tat die Geschäftsgrundlage für die Verteilung von Gewinnen, von denen man ja ausgegangen ist, entfallen. Die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit der ehemaligen DDR war mehr als offenkundig. Ich verstehe wirklich nicht, daß wir uns darüber jedes Jahr wieder unterhalten müssen. Beides - sowohl Überschuldung als auch Zahlungsunfähigkeit - sind Gründe zur Anmeldung eines Konkurses. Diese Tatbestände waren für die DDR schon in den 80er Jahren erfüllt. Das ist nachgewiesen. Was also soll das Gerede vom DDR-Vermögen?
Wenn man trotzdem den Versuch machen würde, es zu ermitteln, kann man folgendes feststellen: Erstens. Eine umfassende Staatsbilanz der DDR ist nicht aufgestellt worden, weil das ganz offensichtlich unmöglich war bei geschönten und gefälschten Bilanzen, bei unrealen Bewertungen von Kosten und Preisen. Für die Erstellung einer realen Bilanz benötigt man eben auch reale Eingabewerte.
Zweitens. Auch die Treuhandanstalt konnte durch Erfüllung der Umstrukturierungsaufgaben, die Tilgung der Altschulden und die ökologischen Altlasten zwangsläufig keinen Gewinn machen. Ende 1994 betrug das Defizit 256 Milliarden DM.
Ein weiteres Beispiel für Falschbilanzen ist das Sondervermögen Deutsche Reichsbahn. Auch hier stehen am Ende Schulden in Milliardenhöhe.
Man kann also feststellen, daß aus der Überschuldung, wie hoch auch immer, kein Plus herauskommen kann.
Wenn die Große Anfrage der PDS darauf abhebt, daß die Marktwirtschaft diese Schulden verursacht hat, ist dies eine offensichtliche Verdrehung der Tatsachen, auch wenn man Vereinigungskriminalität - die gab es mit Sicherheit - alter und neuer Seilschaften und auch Fehlentscheidungen, die es sicher auch gab, dagegenrechnet.
Ich kann wirklich nicht verstehen - dies sage ich Ihnen so -, daß gerade Sie als PDS sich diese Konkursbilanz antun möchten. Sie haben dies schon einmal vor zwei Jahren versucht. Dieser Versuch ist auch heute untauglich, er ist eine Luftnummer.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 8. Dezember 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.