Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich komme zunächst zu den amtlichen Mitteilungen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt, Dr. Angelika Köster-Loßack, Gerd Poppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 50 Jahre Vereinte Nationen - die Vision einer demokratischen Weltorganisation schrittweise verwirklichen und nationalstaatlichen Egoismus überwinden - Drucksache 13/27392. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({0}), Dr. Eberhard Brecht, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: 50 Jahre Vereinte Nationen - Drucksache 13/2751 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Dr. Jürgen Meyer ({1}), Michael Müller ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Vertragsverletzung des EURATOM-Vertrags durch Frankreich - Drucksache 13/2749 -
4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Verbesserungen des Naturschutzes in Deutschland - Drucksache 13/2743 -
Darüber hinaus sind interfraktionell folgende Änderungen der verbundenen Tagesordnung dieser Woche vereinbart worden:
Die für Donnerstag vorgesehene zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung soll bereits heute im Anschluß an die Beratung zum Euratom-Vertrag erfolgen.
Für Donnerstag ist eine vereinbarte Debatte zum Thema „Frauenförderung in der Europäischen Union" vorgesehen. Der Tagesordnungspunkt wird gegen 12 Uhr aufgerufen und fällt damit in die Kernzeit. Die zu diesem Thema von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verlangte Aktuelle Stunde entfällt somit.
Die von der Fraktion der SPD verlangte Aktuelle Stunde zur Altschuldenregelung für ostdeutsche Kommunen soll am Freitag nach der Regierungserklärung „40 Jahre Bundeswehr" und der zweiten und dritten Beratung zum Wehrrechtsänderungsgesetz aufgerufen werden.
Über den Tagesordnungspunkt 11 „Umstellung der Steinkohleverstromung ab 1996" soll ohne Aussprache abgestimmt werden.
Des weiteren sollen die in Verbindung mit der Beratung zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der Medien" aufgeführten Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 8 b und c, der Tagesordnungspunkt 14a und b „Gewässerverunreinigungen und Düngeverordnung" , der Tagesordnungspunkt 15 „Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Neugestaltung der Arbeit" sowie der Tagesordnungspunkt 17n „Zweite Zwangsvollstreckungsnovelle" abgesetzt werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 a bis c sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:
1. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
50. Jahrestag der Vereinten Nationen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Karl Lamers und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Ulrich Irmer und der Fraktion der F.D.P.
50 Jahre Vereinte Nationen - eine große
Vision schrittweise verwirklichen
- Drucksache 13/2744 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({3}) Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Heinrich Graf von Einsiedel, Dr. Willibald Jacob, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
VN-Politik der Bundesregierung - Drucksache 13/2632 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt, Dr. Angelika Köster-Loßack, Gerd Poppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
50 Jahre Vereinte Nationen - die Vision einer demokratischen Weltorganisation schrittweise verwirklichen und nationalstaatlichen Egoismus überwinden
- Drucksache 13/2739 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({5})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({6}), Dr. Eberhard Brecht, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneten und der Fraktion der SPD
50 Jahre Vereinte Nationen - Drucksache 13/2751 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({7}) Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Ich weise darauf hin, daß der unter Tagesordnungspunkt 1 b aufgeführte Antrag von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebracht wurde.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Dann verfahren wir entsprechend.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vereinten Nationen befinden sich in ihrem Jubiläumsjahr in einer schweren Bewährungsprobe. Deutschland steht in dieser kritischen Phase hinter der Weltorganisation. Das habe ich vor zwei Tagen auf der Sondersitzung der 50. Generalversammlung in New York mit einem klaren deutschen Bekenntnis zu einer starken UNO und einem verantwortungsbewußten und solidarischen deutschen Beitrag zur Lösung der globalen Friedensaufgaben in unserer Zeit bekräftigt. .
Die Bundesregierung begrüßt, daß dieses deutsche UN-Engagement von einem breiten, parteiübergreifenden Konsens getragen wird. Dieser Konsens entspricht der Verpflichtung aus unserer Verfassung, in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Deshalb bleibt auch für die Bundesregierung das Eintreten für die Vereinten Nationen neben der
Europapolitik ein zentrales Thema unserer Verantwortungspolitik.
({0})
Die UNO ist das, was die 185 Mitgliedstaaten aus ihr machen. Die UNO kann nur so stark sein, wie es ihre Mitgliedsländer wollen und zulassen. Verantwortungsbewußtsein zeigen, sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen, das verlangt, die Vereinten Nationen in ihrer jetzigen schwierigen Lage zu stärken, vor allem aber sie zu reformieren.
Der Zwang zu noch engerer Zusammenarbeit in der Staatengemeinschaft wird immer stärker. In welchem Rahmen sollte diese Zusammenarbeit stattfinden, wenn nicht im Rahmen der UNO? Oder kennt jemand eine andere internationale Organisation, die das besser könnte? Noch nie war so deutlich wie jetzt, an der Schwelle des neuen Jahrtausends, daß die Menschheit nur noch die Wahl hat, gemeinsam zu gewinnen oder gemeinsam zu verlieren. Deshalb gibt es zu einer Politik für die Vereinten Nationen, für eine Reform und Stärkung der Weltorganisation keine Alternative.
({1})
Die UNO ist das unersetzliche Forum der Menschheit. Wo sonst könnten 185 Staaten dieser Erde ihre Probleme miteinander zur Sprache bringen, Meinungsverschiedenheiten austragen und nach gemeinsamen Lösungen bei der Bekämpfung der Armut, der Bevölkerungsexplosion oder der Umweltzerstörung suchen? Wer sonst als die UNO tritt überall auf der Welt für die Schwachen und für die Verfolgten ein, für die Hungernden und für die Flüchtlinge? Wer setzt sich so wie die UNO für das Völkerrecht und den Schutz der Menschenrechte ein?
Die UNO-Charta ist so aktuell wie vor fünfzig Jahren. Zwei neue Entwicklungen gilt es allerdings zu beachten:
Erstens. Die Charta wurde zur Verhinderung von Kriegen zwischen den Staaten geschaffen. Heute stehen innerstaatliche ethnische, religiöse und soziale Konflikte im Vordergrund. Wir sind auf dem Weg zu einer Weltinnenpolitik. Das zeigt die Entwicklung von der Menschenrechtskonferenz in Wien über die Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro und dem Sozialgipfel in Kopenhagen bis zur Weltfrauenkonferenz in Peking.
Zweitens. Auch die Akteure haben sich gewandelt. Die vielen engagierten Mitarbeiter in den Nichtregierungsorganisationen sind mit ihrem Engagement und mit ihrem Sachverstand zu einem wichtigen Faktor der Weltinnenpolitik geworden. Wir sollten ihnen für ihr Engagement und ihre Arbeit herzlich danken.
({2})
Die Bundesregierung sieht in diesem Bürgerengagement eine wichtige und willkommene Ergänzung ihrer eigenen multilateralen Politik und legt Wert auf eine enge, vor allem aber konstruktive Zusammenarbeit mit diesen Nichtregierungsorganisationen.
Meine Damen und Herren!
Wir sind gekommen, um - auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten - weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen.
Das waren die Worte von Willy Brandt bei der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die Vereinten Nationen im Jahre 1973.
({3})
Ich glaube, sagen zu können, daß wir Wort gehalten haben. Das deutsche Engagement im UNO-Rahmen kann sich sehen lassen. Das gilt für die Friedenssicherung wie vor allem auch für unsere Beiträge zur globalen wirtschaftlichen und ökologischen Stabilität.
Wir waren an den meisten erfolgreichen Friedensoperationen der UNO beteiligt, so z. B. in Namibia und Kambodscha. Heute unterstützt die Bundeswehr die Arbeit der Abrüstungskommission im Irak mit Lufttransportkapazität und Personal. In Georgien sind Ärzte und Sanitäter der Bundeswehr als Militärbeobachter tätig. In Ruanda und in der Westsahara stellt der Bundesgrenzschutz Polizeikontingente. In Angola arbeiten deutsche Minensuchexperten.
Wir haben uns am Schutz des schnellen Einsatzverbandes in Bosnien beteiligt, und wir werden auch zur NATO-Friedenstruppe einen angemessenen Beitrag leisten. Das hat das Kabinett gestern beschlossen.
In einer Woche sollen in Ohio die Friedensgespräche über Bosnien-Herzegowina beginnen. Eine internationale Friedenstruppe unter Führung der NATO soll den Rückzug und die Entflechtung der Streitkräfte der Konfliktparteien überwachen. Es ist vorgesehen, daß sich auch Nicht-NATO-Staaten, insbesondere Rußland und die islamischen Länder, daran beteiligen. Wir Deutsche waren es, die darauf ganz besonders gedrängt haben und auch weiterhin drängen werden.
({4})
Das deutsche Kontingent soll bis zu 4 000 Mann stark sein. Über die deutschen Soldaten hinaus, die bereits jetzt zur Unterstützung des schnellen Eingreifverbandes in Bosnien im Einsatz sind, geht es um zusätzliche Lufttransportkräfte, Personal und Unterstützungskräfte für die internationalen Hauptquartiere, logistische Unterstützung und Pionierkräfte. Die bereits in Kroatien eingesetzte Sanitäts-
und Sicherheitskomponente soll auf 100 Betten verstärkt werden und zusätzlich mobile Sanitätskräfte erhalten. Für eventuell notwendig werdende maritime Operationen sind eine Fregatte, ein Zerstörer sowie drei Seefernaufklärer vorgesehen.
Diese Kräfte sollen, abgesehen von unserem Beitrag für die Hauptquartiere, nicht in Bosnien-Herzegowina stationiert werden. Sie stehen jedoch für den zeitlich begrenzten Einsatz dort zur Verfügung. Es werden grundsätzlich nur Berufs- und Zeitsoldaten
zum Einsatz kommen, Wehrdienstleistende nur bei freiwilliger Meldung.
Vor der endgültigen Entsendung des deutschen Kontingents werden ein weiterer Beschluß des Bundeskabinetts und eine konstitutive Entscheidung des Deutschen Bundestages notwendig sein. Vor allem wird es zur Entsendung der internationalen Friedenstruppe eines neuen Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen bedürfen.
Meine Damen und Herren, der Beschluß des Bundeskabinetts unterstreicht erneut, daß die Bundesregierung zur Übernahme weltpolitischer Mitverantwortung bereit ist, wie es inzwischen ganz selbstverständlich von uns erwartet wird. Dabei werden die von unserer Geschichte gezogenen Grenzen beachtet. Bei der Verantwortung für Frieden und Menschenrechte darf eben niemand abseits stehen, auch wir Deutsche nicht.
({5})
Ich versichere nochmals für die Bundesregierung, daß wir an unserer bewährten Kultur der Zurückhaltung festhalten werden. Das kann und darf aber nicht heißen, daß das Wort von der gewachsenen Verantwortung bloßes Lippenbekenntnis bleibt. Dieser vernünftige Kurs bekommt immer mehr Unterstützung, je weiter die Diskussion über Friedensmissionen unserer Bundeswehr voranschreitet. Dieser wachsende Konsens ist wichtig. Er ist außerordentlich wichtig für unsere Soldaten, aber auch für unser Ansehen und unsere Glaubwürdigkeit im Ausland.
({6})
Vergessen wir nicht: Gegenwärtig sind in 14 Krisengebieten unserer Erde fast 63 000 Blauhelme aus über 84 Staaten dieser Welt im Einsatz. Sie leisten ganz wichtige Arbeit für den Frieden und damit für die Menschen. Im Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen sollten wir an sie alle ganz besonders denken. Sie verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung.
({7})
In diesem Zusammenhang denke ich natürlich auch ganz besonders an unsere Bundeswehrsoldaten, die oft unter Gefahr für Leib und Leben in Kambodscha, in Somalia, über der Adria oder auch über dem ehemaligen Jugoslawien im Einsatz waren, um Menschen zu helfen. Wir sind stolz auf sie. Ihnen danken wir ganz besonders.
({8})
Sie sind überall auf der Welt - das sage ich als Außenminister mit einem gewissen Stolz - sehr gute Botschafter für uns.
({9})
Unser Dank und unsere Anerkennung gelten ebenso - ich sage das noch einmal - den zahllosen freiwilligen Helfern und Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen.
Meine Damen und Herren, unsere wachsende Rolle in der UNO wurde und wird in New York gewürdigt. Im Oktober 1994 sind wir zum dritten Mal mit immerhin 164 von 170 möglichen Stimmen zum nichtständigen Mitglied des Sicherheitsrates gewählt worden. Ein ständiger Sitz Deutschlands in diesem Gremium, den wir wollen, ist auch ein deutsches Angebot zur Übernahme größerer Verantwortung. Dies stößt international und bei den Bürgern in unserem Land auf Zustimmung. Wir setzen uns vor allem aber dafür ein, daß die Reform des Sicherheitsrates auch zu einer besseren Vertretung der großen Länder der Dritten Welt - Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik - führt.
Die Ernennung des früheren Personalchefs des Auswärtigen Amtes, Paschke, zum UNO-Sparkommissar im Range eines Untergeneralsekretärs war ebenfalls ein Zeichen der Anerkennung unserer wachsenden Rolle. Er hat im übrigen in diesen Tagen, nach einem Jahr, seinen ersten bemerkenswerten Bericht über seine Vorschläge und seine Maßnahmen zur Reform der Vereinten Nationen vorgelegt. Was die Anerkennung anbelangt, gilt dasselbe für die Übertragung der Koordinierung der Blauhelm-Einsätze auf den deutschen General Eisele.
Die Ansiedlung des Internationalen Seegerichtshofes in Deutschland, des UN-Freiwilligenprogramms in Bonn, des UN-Informationszentrums und des Sekretariats der Klimarahmenkonferenz muß für uns Verpflichtung sein, weiter mitzuhelfen, daß wir unseren Kindern und Enkeln eine bewohnbare Erde hinterlassen, eine Welt, in der Haß, Gewalt und Vertreibung entgegengetreten wird, eine Welt, in der derjenige, der foltert und die Menschenrechte mit Füßen tritt, nicht ruhig schlafen kann und von der Weltöffentlichkeit an den Pranger gestellt wird.
({10})
Meine Damen und Herren, das Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen ist natürlich auch ein Jahr großer Probleme. Die UNO wird ihre Rolle verspielen - das war in den zurückliegenden Tagen ein zentrales Thema -, wenn ihre Finanzkrise nicht gelöst und ihr Wirtschafts- und Sozialbereich nicht rationalisiert wird. Zudem müssen die Möglichkeiten und - das füge ich hinzu - auch die Grenzen der Friedenssicherung überdacht werden. Deshalb verlangt ein Engagement für die Vereinten Nationen heute auch und vor allem ein Engagement für die Reform. Aus den in Somalia, Ruanda und Bosnien gemachten Erfahrungen gilt es, Lehren zu ziehen:
Erstens. Die Kräfte der Vereinten Nationen sind gegenwärtig eindeutig überfordert. Die UNO muß sich in ihren Einsätzen wieder auf das Machbare konzentrieren. Wenn ein Friedenswille der Konfliktparteien nicht erkennbar ist - und so war es leider Gottes relativ lange im früheren Jugoslawien -, bedarf es für ein Engagement - ich sage es so deutlich - ganz besonderer Umstände, weil man natürlich nicht in der Lage ist, gegen einen erklärten Willen von Konfliktparteien von außen Frieden zu schaffen.
({11})
Wenn aber Schutz zugesagt ist, dann muß er auch gewährt werden. Žepa und Srebrenica dürfen sich nicht wiederholen.
({12})
Zweitens. Die UNO muß sich mehr dem Vorfeld von Konflikten, also der Konfliktvorbeugung, zuwenden - Stichwort: Burundi.
({13})
Ich habe vor zwei Tagen in New York erneut ein langes Gespräch mit dem Präsidenten von Burundi gehabt, und ich sage hier vor dem Deutschen Bundestag, daß wir uns um die Entwicklung in diesem Land große Sorgen machen sollten.
({14})
Ich fürchte sehr - wir haben als Bundesregierung versucht, alles zu tun, was wir nur können -, daß wir vor einer Entwicklung stehen könnten, die mit der in Ruanda vergleichbar wäre. Das würde der Weltöffentlichkeit, vor allem dem Ansehen der Vereinten Nationen, sehr schlecht bekommen.
({15})
Drittens: Bessere Abstimmung zwischen der UNO und anderen mitbeteiligten Organisationen, wie etwa der NATO, Effizienz der Kommandostruktur.
Viertens: Entlastung durch Regionalorganisationen. Nicht jeder Konflikt muß sofort bei der UNO landen. Den Bemühungen der Bundesregierung war es vor allem zuzuschreiben, daß sich die OSZE ausdrücklich zu ihrer Erstverantwortung bekannte. Die OSZE muß ihrer Rolle bei der regionalen Friedenssicherung auch im Rahmen der UNO gerecht werden. Unser weiteres Ziel, daß sich die OSZE notfalls auch ohne Zustimmung der Konfliktparteien um Konfliktlösung bemühen kann, haben wir bisher leider noch nicht erreicht. Wir werden weiter dranbleiben.
Meine Damen und Herren, der Schutz der Menschenrechte bleibt ein zentrales Ziel der Bundesregierung und unserer Politik. Die Einsetzung eines Hochkommissars für Menschenrechte - im vergangenen Jahr - ist von uns nachdrücklich gefordert worden. Auch nach dem Waffenstillstand in Bosnien dürfen massive Verletzungen der Menschen- und Minderheitenrechte nicht unter den Teppich gekehrt werden.
({16})
Wer sich schuldig gemacht hat, muß zur Verantwortung gezogen werden.
({17})
Friedenssicherung heißt auch, den Rückfall in das Wettrüsten zu verhindern und die Menschheit von Massenvernichtungswaffen zu befreien. Ich will zwei Aufgaben herausgreifen:
Spätestens 1996 muß es in Genf zum Abschluß eines umfassenden Atomteststoppvertrages kommen. Die Tür dafür steht jetzt offen wie nie zuvor. Präsident Chirac hat vorgestern vor der Generalversammlung noch einmal bekräftigt, daß Frankreich dieses Ziel unterstützt.
Personenminen sind eine besonders scheußliche Massenvernichtungswaffe.
({18})
Sie töten und verstümmeln jedes Jahr mehr als 20 000 Menschen, zu oft Frauen und vor allem Kinder, und das noch Jahre nach dem Ende von Konflikten. Die Produktion einer solchen Mine kostet zum Teil ganze 4 DM, ihre Räumung heute im Durchschnitt 1 500 DM. Auf Betreiben der Europäischen Union ist bei der UNO ein Minenräumfonds eingerichtet worden. Hunderttausend Minen sollen und können in diesem Jahr geräumt werden; gleichzeitig aber werden schätzungsweise 2 Millionen neue Landminen auf der Erde gelegt. Das kann und darf auf Dauer so nicht bleiben.
({19})
Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin energisch für ein weltweites Verbot und die Ächtung von Personenminen einsetzen. Deutschland exportiert keine Personenminen, und es produziert auch keine. Noch ist die Landminenkonferenz in Wien nur suspendiert; noch besteht die Chance für einen großen Schritt in Richtung Menschlichkeit.
Es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die UNO ist natürlich weit mehr als Blauhelmmissionen.
({20})
Was die UNO und ihre Sonderorganisationen weltweit tun, damit die Schwachen und Armen dieser Welt eine Lebensperspektive bekommen, steht leider selten in den Schlagzeilen. Dennoch ist dies der Bereich, wo sie mit weitem Abstand am erfolgreichsten und wohl auch am wichtigsten ist.
({21})
Pro Jahr unterstützen die UNO und ihre Sonderorganisationen die Entwicklungsländer mit ca. 5 Milliarden Dollar. Die UN-Hochkommissarin für Flüchtlinge, Ogata, hilft gegenwärtig etwa 27 Millionen Menschen. Über 14 Millionen von ihnen müssen sich in fremden Ländern aufhalten. Deutschland hat mit
der Aufnahme von über 400 000 Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien zur Linderung des Flüchtlingselends in Europa einen wichtigen Beitrag geleistet.
In rund 88 Ländern, die Hälfte davon in Afrika südlich der Sahara, sind Hunger und Unterernährung immer noch weit verbreitet. 1994 wurden durch Nahrungsmittelhilfen des Welternährungsprogramms 57 Millionen arme und hungrige Menschen erreicht. Das Gesamtprojektvolumen dieser Unterstützung beträgt 2,6 Milliarden Dollar.
UNICEF hat für die Kinder, wahrhaft die schwächsten Glieder in unserer und in allen Gesellschaften, viel erreicht. 1994 führte UNICEF in 149 Ländern Programme durch - Gesamtausgaben: 800 Millionen Dollar.
Die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren ist in den letzten drei Jahrzehnten mehr als halbiert worden. Aber es bleibt noch unendlich viel zu tun: Mehr als 100 Millionen Kinder auf der Welt können nicht in die Schule gehen. 800 Millionen Menschen, davon 200 Millionen Kinder, sind chronisch unterernährt, haben von der ersten Sekunde ihres Lebens an nicht die geringste Chance, ein einigermaßen menschenwürdiges Leben zu führen. Das darf uns nicht ruhig und ruhen lassen.
({22})
Meine Damen und Herren, Entwicklungspolitik ist Friedenssicherung. Die Agenda für Entwicklung muß zu einer neuen Entwicklungspartnerschaft führen. Diese setzt aber die längst überfällige Reform des Wirtschafts- und Sozialbereichs der UNO voraus. Die Staats- und Regierungschefs der G 7 haben in Halifax konkrete Vorschläge für eine „ Schlankheitskur" gemacht.
({23})
Wir sind uns einig über die Ziele: schärfere Definition der Entwicklungsziele, klare Prioritäten; Beschneidung des Wildwuchses von 150 Sonderorganisationen, Programmen und Unterorganisationen; Anpassung der Mandate der einzelnen Organisationen, keine Überlappung und Doppelarbeit sowie vor allem Sicherstellung von Koordinierung und Rechenschaftspflicht.
Die Konferenz von Rio hat der Weltöffentlichkeit vor Augen geführt, daß die Kräfte der Erde begrenzt sind. Der Mensch muß die Entwicklung in diesen Grenzen halten, wenn er überleben will. Konventionen zum Klimaschutz, zum Erhalt der biologischen Vielfalt und zur Bekämpfung der Wüstenbildung konnten abgeschlossen werden. Die Bundesregierung drängt weiter; der Rio-Prozeß darf sich nicht festfahren. Wir haben im April mit der Klimakonferenz in Berlin dafür ein gutes Zeichen gesetzt.
({24}): Ha, ha, ha!)
Die Ansiedelung des Sekretariats der Klimarahmenkonvention in Bonn ist auch Ausdruck der hohen Erwartungen an Deutschland.
({25})
Meine Damen und Herren, Generalsekretär Boutros-Ghali hat seine Organisation mit einer Feuerwehr verglichen, die gleichzeitig eine Vielzahl von Großbränden löschen soll, während noch für ihre Ausrüstung gesammelt wird. Bis heute haben erst 67 der 185 Mitglieder ihre Beiträge zum Haushalt 1995 entrichtet. Die ausstehenden Zahlungen erreichen inzwischen die Summe von 3,2 Milliarden Dollar. Und da beklagt man sich über die mangelnde Leistungsfähigkeit der UNO!
Die fünf größten Beitragszahler der UNO sind: USA, Japan, Deutschland, Frankreich und Rußland. Wir Deutsche bezahlen 8,94 % des UNO-Haushalts und liegen damit an dritter Stelle. Zum Stichtag 15. Oktober waren die USA mit ihren Zahlungen zum regulären Haushalt mit 527,2 Millionen Dollar im Rückstand. Bei den Zahlungen für Blauhelmmissionen sind von den fünf größten Beitragszahlern mit Ausnahme Deutschlands alle im Rückstand.
In den Beitragsstatistiken der UNO werden allerdings auch wir - ich sage das ganz bewußt - mit 13,7 Millionen Dollar als Schuldner geführt. Dabei handelt es sich um einen rückständigen Beitrag der ehemaligen DDR zu der Blauhelmmission im Libanon.
({26})
Die Bundesregierung hat sich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht
({27})
- hören Sie doch bitte zu! - freiwillig bereit erklärt, diesen Rückstand zu tilgen.
({28})
Wir haben bereits Zahlungen in Höhe von 2,1 Millionen Dollar vorgenommen und sind über die Art und Weise der restlichen Tilgung im Gespräch mit der UNO.
({29})
- Geld scheint sehr aufregend zu sein.
Als pünktlicher Beitragszahler appellieren wir an alle säumigen Mitgliedstaaten, ihren Beitragsverpflichtungen in vollem Umfang und pünktlich nachzukommen.
({30})
Ich habe das auch in beiden Reden vor den Vereinten Nationen in New York in den letzten drei Wochen so deutlich gesagt.
Präsident Clinton hat in seiner Rede vor der Sondergeneralversammlung vor zwei Tagen ein Bekenntnis zur UNO und zu den finanziellen Verpflichtungen der USA abgegeben. Als Freunde und Partner der USA hoffen wir, daß sich auch der amerikanische Kongreß endlich zu dieser Verantwortung bekennt.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD -
Sehr gut!)
Die Vision der UNO-Charta wurde nicht durch Zufall in den Vereinigten Staaten geboren. Die USA haben sich immer zu Recht als Vorkämpfer der Freiheit und der Menschenrechte betrachtet. Deshalb müssen die USA ihre Führungsrolle auch in den und für die Vereinten Nationen wahrnehmen.
({0})
Die Fortschritte - auch das sollte nicht vergessen werden -, die Boutros-Ghali in puncto Rationalisierung und Einsparung schon erreicht hat, sind beachtlich. Seit 1992 wurde die Zahl der stellvertretenden Generalsekretäre von 17 auf 10 reduziert, die Abteilungen wurden neu gegliedert und gestrafft, überflüssige Stellen gestrichen, neue Schwerpunktbereiche ausgebaut. Regionale, internationale Entwicklungszusammenarbeit, Drogenkontrolle, Bevölkerungsfragen, Menschenrechte, humanitäre Hilfe und interne Kontrolle wurden verstärkt. Der Haushalt für die kommenden zwei Jahre weist einen Rückgang von 4,2 % oder 105 Millionen Dollar aus.
Die UNO verfügt weltweit über rund 51 500 Bedienstete. Das entspricht dem Personal von Polizei und Feuerwehr der Stadt New York. Der reguläre UN-Haushalt ist mit rund 1,3 Milliarden Dollar genauso hoch wie der Haushalt von Bonn oder Bielefeld. Fazit: Vom bürokratischen Moloch kann wohl nicht die Rede sein.
({1})
Meine Damen und Herren, in der Beschlußvorlage des Bundestages vom September 1993 zur Reform der UN heißt es lakonisch, aber völlig richtig: Alternativen: keine. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das wird den Kurs unserer UN-Politik auch in Zukunft bestimmen.
Im übrigen: Deutschlands Verhältnis zu den Vereinten Nationen war immer auch ein Spiegel unserer Geschichte. Vergessen wir nicht: 1933 sind wir aus dem Völkerbund ausgetreten. Die Gründung der
Vereinten Nationen war ein Hoffnungszeichen am Ende des von uns entfesselten Zweiten Weltkriegs. Die Aufnahme zweier deutscher Staaten in die UNO am 18. September 1973 war der Anfang vom Ende des Ost-West-Konflikts.
Deutschland hat seine Politik seit dem Zweiten Weltkrieg in den Dienst des Friedens und der Menschenrechte gestellt. Wir haben unser Schicksal mit dem vereinten Europa verknüpft und uns an dem weltweiten Kampf gegen Armut und Unterentwicklung solidarisch beteiligt.
Heute ist unsere engagierte Unterstützung der Vereinten Nationen ein Spiegel unseres Neuanfangs seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir Deutsche werden uns auch in Zukunft für eine starke UNO einsetzen - im Interesse Deutschlands und der einen Welt, in der wir leben.
({2})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Eberhard Brecht.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben in Ihrer Rede eben den Anspruch von Willy Brandt zitiert, dem nach Deutschland weltpolitische Mitverantwortung übernehmen solle. Sie haben für sich in Anspruch genommen, die Bundesregierung habe Wort gehalten. Aber was, Herr Bundesaußenminister, hätte Willy Brandt wohl dazu gesagt, daß sein Kanzlerenkel Kohl nicht zur Jubiläumsfeier in New York erschienen ist?
({0})
Hätte er dafür Verständnis aufgebracht, daß sich zwar Clinton, Jelzin, Major, Chirac und Murayama mit dem mehr symbolischen Fünf-Minuten-Redebeitrag abgefunden haben, der deutsche Bundeskanzler dies aber ablehnte? Er, der deutsche Bundeskanzler, werde bei nächster Gelegenheit - so war zu lesen - in einer angemessenen Länge vor einer entsprechenden Kulisse reden. Ich frage mich: Wer ist dieser deutsche Bundeskanzler, daß er diesen arroganten Anspruch erhebt?
({1})
Einen schlechteren Dienst hätte er dem Außenminister und dem Auswärtigen Amt, das um internationale Reputation am East River bemüht ist, nicht erweisen können. Zudem bemerkt man natürlich in New York hämisch, daß außer Helmut Kohl nur noch Männer wie Saddam Hussein und Muammar Gaddafi fehlten.
({2})
Ist es nun Arroganz? Ist es Ungeschicklichkeit? Oder ist es Desinteresse des deutschen Bundeskanzlers an dieser Weltorganisation?
Herr Brecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fritz?
Aber bitte schön.
Herr Kollege Brecht, sind Sie nicht auch der Meinung, daß mancher von denen, die sich in New York für ein Foto plaziert haben, besser daran getan hätte, zu Hause zu bleiben und die Beiträge rechtzeitig an die UNO zu überweisen?
({0})
Herr Kollege Fritz, Sie wissen doch genau, daß dieser deutsche Bundeskanzler einen ungeheuer großen Wert auf symbolische Akte legt. Daß er es gerade im Zusammenhang mit den UN-Feierlichkeiten versäumt hat, ein solches Zeichen zu setzen, finde ich für die deutsche Außenpolitik beschämend.
({0})
Willy Brandt und Walter Scheel haben die Bundesrepublik Deutschland doch nicht aus Prestigegründen in die Vereinten Nationen geführt. Nein, unsere belastete Geschichte, unsere geographische Lage, aber auch unsere weltwirtschaftliche und politische Verzahnung zwingen unsere Außenpolitik geradezu in eine multilaterale Option. Deutschland hat ein starkes Interesse, mit Hilfe der UNO die globalen Bedrohungen abzuschwächen oder, wenn möglich, sogar zu beseitigen.
Noch bevor das internationale Parkett im UN-Hauptquartier am East River für das festliche Treffen auf Hochglanz gebracht wurde - auf dem der deutsche Kanzler ohnehin durch Abwesenheit glänzte -, schlüpfte in diesem Monat sein Finanzminister auf der IWF-Konferenz in die Rolle des Außenministers. Er erklärte nämlich kurzerhand, daß Deutschland die Einrichtung eines Hilfsfonds für die LDC-Länder, also für die Ärmsten der Armen, rundweg ablehne. Es kann doch wohl nicht angehen, daß Herr Waigel in Amerika verkündet, was Deutschland in der UNO bezahlt und was nicht. Wer macht in diesem Land eigentlich UN-Politik?
(Beifall bei der SPD -
Die Bundesregierung!)
Diese Frage habe ich mir schon des öfteren stellen müssen. Als Mitglieder des Unterausschusses Vereinte Nationen 1993 die deutsche UN-Vertretung besuchten, war dort der im Bundestag gerade verabschiedete Antrag der Koalition - nicht der der SPD - zur Reform der Vereinten Nationen noch immer nicht bekannt. Wie soll denn eine Reformpolitik in New York umgesetzt werden, wenn sie dort nicht einmal bekannt ist? Als Grund für die Zurückhaltung dieses Antrages wurde mir erklärt, daß das BMF gegenüber diesem Beschluß noch Vorbehalte habe. Nun frage
ich mich erneut: Wo liegt bei dieser Bundesregierung die Federführung in der UN-Politik?
({0})
Zudem bleibt natürlich auch zu fragen, welches Demokratieverständnis hier vorherrscht, wenn die Exekutive die Beschlüsse der Legislative nach Gutdünken umsetzt - oder auch nicht.
({1})
Ein weiteres Beispiel für die mangelnde Abstimmung der UNO-Politik der Bundesregierung bietet die Auseinandersetzung zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesminister der Verteidigung über die sogenannten Stand-by Arrangements. Botschafter Henze, der bemerkte, daß Deutschland zum damaligen Zeitpunkt bei Friedensoperationen der Vereinten Nationen ein nicht sehr beeindruckendes Bild abgebe, kündigte - offensichtlich in Ihrem Auftrag, Herr Bundesaußenminister - in New York eine deutsche Beteiligung an; eine Zusage, die dann anschließend vom Kanzleramt wieder gecancelt wurde. Als Generalsekretär Boutros-Ghali im Januar 1995 in Bonn weilte, mußte er sich dann noch einmal das generelle Nein der Hardthöhe anhören. Welche Gründe gab es eigentlich für die Hardthöhe, hier generell nein zu sagen? Hier geht es doch nicht um Kampftruppen, sondern um die prinzipielle Bereitstellung von Logistik und hochtechnologischen Ausrüstungsteilen für die Friedensarbeit der Vereinten Nationen.
Stand-by Arrangements wurden inzwischen mit einer ganzen Reihe von Staaten abgeschlossen. Ich nenne Jordanien, Ägypten und Dänemark. So kleine Staaten können das, aber Deutschland offensichtlich nicht. Ich frage mich, ob hier der politische Wille fehlt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Geschäftsordnung der Bundesregierung, die die Regeln zur Ressortabsprache enthält, nützt überhaupt nichts, wenn die Ressorts ihre eigene Politik vertreten.
({3})
Dem Buchstaben nach hat der Kanzler die Richtlinienkompetenz. Doch wer koordiniert die deutsche UN-Politik? Gibt es eine Staatssekretärsrunde, die UN-Politik aus einem Guß gestaltet? Wäre es nicht sinnvoll, UN-Weltkonferenzen grundsätzlich im Kanzleramt oder im Auswärtigen Amt zu koordinieren? Dann wären die Reibungsverluste, die ich im einzelnen nicht nennen möchte, vermieden worden. Ich denke, daß die Bundesregierung gerade an dieser Stelle ihre Hausaufgaben noch zu machen hat.
({4})
Es ist unumstritten, daß der grundlegende Wandel der internationalen Beziehungen seit 1989 und die damit verbundenen neuen Aufgaben für die Vereinten Nationen eine grundlegende Reform der UNO nötig machen. Die Bundesregierung, die Bundesrepublik verfügt über entsprechende Möglichkeiten, um einen substantiellen Beitrag dazu zu leisten. Eine
solche vorwärtsweisende Rolle kann ich bei der Reform eines besonders kranken, aber auch besonders wichtigen Organs des Systems der Vereinten Nationen, des ECOSOC, des Wirtschafts- und Sozialrats, nicht erkennen. Sie, Herr Bundesaußenminister, haben zwar gerade auf Halifax abgehoben und mystische Reformvorstellungen wie „klare Ziele", „klare Prioritäten" und „keine Doppelarbeit" angesprochen. Aber es gibt keinen substantiellen Beitrag Deutschlands, der sagt, wie diese Reform durchzuführen ist. Man kann nicht nur ständig referieren, wie die Vorschläge anderer aussehen, z. B. der Beitrag von Maurice Bertrand oder der Beitrag der nordischen Staaten, sondern irgendwann muß man in den Gesprächen auch eine eigene Position beziehen.
({5})
Um so nachdrücklicher macht sich die Bundesregierung für eine Reform des Sicherheitsrates stark. Es wäre jedoch sehr kurzsichtig, wenn der deutsche Reformeifer nur aus purem Eigeninteresse angetrieben würde.
({6})
Jeder, der sich in der UNO auskennt, weiß, daß es den sogenannten quick fix nicht geben wird. Entscheidend ist vielmehr eine angemessene Repräsentanz von Vertretern der Regionen Südamerika, Afrika und Asien.
Zwar teilen wir Sozialdemokraten prinzipiell die Auffassung der Koalition, daß ein ständiger Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat ein legitimes Ziel ist, solange ein gemeinsamer EU-Sitz nicht möglich ist. Der Eifer, mit dem die Regierung jedoch in dieser Angelegenheit agiert, ist problematisch. Die Bundesrepublik Deutschland in der Rolle des Demandeurs ({7})
- ja, Nachhilfe können wir nachher geben - verschreckt nicht nur den einen oder anderen europäischen Partner - siehe Italien -, sondern ein auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat drängendes Deutschland wird möglicherweise auch größere Zugeständnisse machen müssen, als das überhaupt nötig wäre. Es gibt überhaupt keinen Grund, den politischen Preis für das Eintrittsbillett so hoch zu gestalten. Da sich nicht wenige Länder im Westen und in der südlichen Hemisphäre von einem multilateral orientierten Deutschland eine konstruktive Rolle in der Weltorganisation versprechen, sollten wir in dieser Frage, meine Damen und Herren von der Koalition, sehr viel mehr Gelassenheit zeigen.
({8})
Der Bundesaußenminister hat hier eine flammende Rede zur Beitragszahlung der USA gehalten. Das geschieht zu Recht, aber ich frage mich, wo dieser Mut und dieser Eifer waren, als er sein Fünf-Minuten-Statement in New York abgegeben hat. Jacques Chirac hat wesentlich deutlichere Worte gefunden. Ich glaube, daß wir Deutsche in einer ganz besonderen Verantwortung stehen, auf den amerikanischen Bündnispartner Einfluß zu nehmen. Die amerikaniDr. Eberhard Brecht
schen Beitragsrückstände gefährden die UN in ihrer Existenz.
({9})
Wenn wir der Ernsthaftigkeit dieses Problems nicht gerecht werden und uns nicht stärker - auch mit Blick auf den Kongreß - einsetzen, werden wir keine Erfolge erzielen. Ich meine, Herr Bundeskanzler, Sie sollten als Bundeskanzler dieses Landes mit Bill Clinton Kontakt aufnehmen. Dazu war in New York eine Gelegenheit, die Sie leider verpaßt haben.
Meine Damen und Herren, auf der Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre UNO" der SPD-Bundestagsfraktion vor zwei Wochen hat der schwedische Ministerpräsident Ingvar Carlsson ein engagiertes Plädoyer für ein Mehr an politischem Willen zur Stärkung und Reform der Vereinten Nationen gehalten. Er zitierte eingangs jene klassische Passage von Olof Palme aus dem Jahr 1985, die angesichts der Kassandrarufe über die Zukunft der UNO heute besonders aktuell ist. Ich zitiere:
Lassen Sie uns die Vereinten Nationen nicht zum Sündenbock für jene Probleme machen, die unsere eigenen Schwächen widerspiegeln. Es ist nicht so, daß die Vereinten Nationen nicht an unsere hohen Erwartungen heranreichen. Wir sind es, die die Ideale der Vereinten Nationen noch nicht erreicht haben. Nur indem wir uns selbst und unsere Politik verbessern, können wir auch die Vereinten Nationen verbessern.
Meine Damen und Herren, diese Maxime sollte auch für den Deutschen Bundestag, aber noch mehr für die deutsche Bundesregierung gelten, die nun endlich eine einheitliche Sprache in der UN-Politik finden sollte.
Ich bedanke mich.
({10})
Ich gebe jetzt das Wort an den Kollegen Dr. Christian Ruck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann in der Kürze der Zeit nicht alles richtigstellen, was mein Vorredner ausgeführt hat. Aber lassen Sie mich zwei Dinge sagen:
Herr Brecht, Ihre Kritik am Bundeskanzler hat denselben wahrscheinlich im Mark getroffen.
({0})
Insbesondere war Ihr Ratschlag, endlich mit Bill Clinton Kontakt aufzunehmen, sehr wertvoll.
({1})
Man sieht, auch die SPD braucht den Kanzler überall. Denn wenn er in New York gewesen wäre, hätten
Sie gefragt: Wo ist denn der Kanzler heute angesichts der Probleme im eigenen Land?
({2})
Aber jetzt einmal im Ernst: Herr Brecht, Sie sind doch ein alter, erfahrener UN-Hase.
({3})
Auch Sie wissen doch, wo in Wirklichkeit UN-Politik angeschoben wird. Der Kanzler war immer da, wo es galt, UN-Politik zu machen.
({4})
Herr Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gleich; diesen Gedanken möchte ich noch zu Ende führen.
({0})
Die SPD hat vor dem Rio-Gipfel, vor dem Klimagipfel in Berlin und vor dem Gipfel in Halifax gejammert, sie hat in der Zeit dazwischen gejammert, und sie hat nachher gejammert, während der Kanzler diese für die UNO so wichtigen Gipfel ganz entscheidend mitgeprägt, angeschoben und dafür gesorgt hat, daß diese Gipfel für die UNO zum Erfolg geworden sind.
({1})
- Ich glaube schon, daß der Kanzler weiß, wo im Zusammenhang mit der UNO die Musik spielt. - Bitte.
({2})
- Für wen denn, Herr Duve?
Herr Kollege Ruck, können Sie mir irgend jemanden aus dem Inland oder dem Ausland nennen, der Ihrer Interpretation folgen würde, daß der Bundeskanzler zu diesem Zeitpunkt hier mehr gebraucht wurde?
({0})
Es steht mir nicht an, das Privatleben des Bundeskanzlers zu kommentieren. Ich kann nur nochmals sagen: Aus Ihren Worten, Herr Brecht, ging zweifellos hervor, daß der Kanzler auch für die SPD überall gebraucht wird, sowohl in New York als auch im eigenen Land.
({0})
Im übrigen Herr Brecht: Ich habe von Ihnen auch schon intelligentere Fragen gehört.
Herr Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?
Herr Duve, bitte.
Herr Kollege, wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Reise des Herrn Bundeskanzlers zu einem Fußballspiel in die Vereinigten Staaten, als hier der 17. Juni zu begehen war und er hier gebraucht worden wäre,
({0})
er aber meinte, bei dem Fußballspiel sein zu müssen?
Als Mitglied der Bundestagsfußballmannschaft bewerte ich das ausgesprochen positiv.
({0})
Meine Damen und Herren, bei aller Freude am frühen Morgen ist für die meisten von uns - um zum Ernst der Sache zurückzukommen - die Freude über das 50jährige Jubiläum der Vereinten Nationen trotz aller Feierlichkeiten eher gedämpft. Zu tief sitzen Schrecken und Enttäuschung über die Fehlschläge der internationalen Staatengemeinschaft in der jüngsten Vergangenheit, z. B. in Afrika und im ehemaligen Jugoslawien. Die Finanzsorgen der UNO sind erdrückend, die Reformen überfällig. Manche aufkeimende Hoffnung war verfrüht.
Vor einigen Jahren wäre der Jubel sicher größer gewesen als in diesen Tagen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien ein neues Zeitalter für die UNO angebrochen zu sein. Die Weltorganisation hatte plötzlich neuen Schwung und einen erheblichen Bewegungsspielraum, die zu bis dahin in Art und Umfang einmaligen Operationen wie in Kambodscha führten oder zu einer Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, bei der die UNO Regierungshäupter und Fachleute aus Nord und Süd, Ost und West zu einem konstruktiven Dialog über drängende Zukunftsfragen der Erde an einen Tisch brachte.
Die UNO wurde plötzlich von Hoffnungen, Erwartungen und Anträgen geradezu gejagt. Sie war mit einemmal gleichzeitig in mehr Konflikte verwickelt als in all den vorhergehenden Jahrzehnten zusammen. Sie sollte plötzlich wieder das tun, wozu sie vor 50 Jahren gegründet wurde, nämlich die Welt zivilisieren, die Umwelt retten und die Armut abschaffen. Mit anderen Worten: Die UNO sollte sich in kürzester Zeit von einem zahnlosen Papiertiger in einen richtigen Tiger zurückverwandeln, den die Gründerväter vor Augen hatten und den der Ost-West-Konflikt niederstreckte.
Ich kann mich noch gut an unsere optimistische Grundstimmung bei der letzten UNO-Reformdebatte im Bundestag 1993 erinnern. Aber nun sehen wir, daß das Wiedererstarken der Vereinten Nationen erheblich schwieriger ist, als die meisten von uns dachten. Zwischen den Anforderungen an die UNO und den Möglichkeiten der Organisation, die ihr die Staatengemeinschaft bislang einräumt, klafft eine gewaltige Lücke. Meine Vorredner haben die wesentlichen Faktoren bereits angesprochen. Die organisatorischen, administrativen und finanziellen Strukturen stammen großenteils noch aus einer anderen weltpolitischen Zeit, als es eben nicht darum ging, daß die Vereinten Nationen rasch, effizient und umfassend handeln sollten.
Die Sanktionsmittel gegenüber den von der UNO geächteten Verbrechen sind zu schwach. Die politische Struktur der Entscheidungsmechanismen ist einerseits demokratisch, aber ineffizient - wie in der Generalversammlung -, andererseits - wie im Sicherheitsrat - effizient, aber undemokratisch und damit immer weniger akzeptiert.
Herr Ruck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Stetten?
Bitte schön.
Herr Kollege Ruck, es wurde viel über Organisation und über den finanziellen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Finden Sie nicht, daß wir zumindest darauf hinarbeiten müßten, daß der Art. 107 der UN-Charta, die sogenannte Feindstaatenklausel, die insbesondere für Japan und Deutschland gegolten hat, aufgehoben, außer Kraft gesetzt wird? Ich frage Sie, ob der Auswärtige Ausschuß hier bereits Initiativen ergriffen hat oder ob Initiativen ergriffen werden. Denn es kann nicht sein, daß Japan und Deutschland zu den größten Zahlern und zu den Entsendern von Ordnungskräften gehören, aber immer noch unter die Feindstaatenklausel fallen, die anderen Staaten, wenn auch nur formell, diesen beiden Staaten gegenüber alles mögliche erlaubt. Ist es nicht sinnvoll, hier eine Initiative zu ergreifen?
({0})
Ich glaube, daß es diese Initiative im Auswärtigen Ausschuß schon lange gibt, auch im UN-Unterausschuß und in unserer Arbeitsgruppe. Aber sie spielt selbst im politischen Leben keine Rolle mehr. Ich bin dafür, daß wir im Zuge der UNO-Reform die Feindstaatenklausel abschaffen, und zwar auch deshalb, weil sie - um mit dem ehemaligen polnischen Außenminister zu sprechen - auf dem Müllhaufen der Geschichte landen sollte. Ich glaube, da gibt es auch in der Staatengemeinschaft keinen Widerspruch.
({0})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, vor all den Schwierigkeiten, die die Vereinten Nationen haben, zu resignieren und sich von der UNO zurückzuziehen, wäre jedoch sowohl eine grobe UngerechtigDr. Christian Ruck
keit gegenüber der Organisation als auch eine verfehlte Politik für die Zukunft. Trotz aller Schwächen und Kritikpunkte hat die UNO in den 50 Jahren ihres Bestehens Großartiges geleistet. Im Gedächtnis festgehalten sind zwar oft nur die schlagzeilenträchtigen Katastrophen; wir sollten uns aber auch an die unzähligen oft stillen Erfolge der Vereinten Nationen erinnern: im Bereich der Entwicklungs-, Flüchtlings- und Katastrophenhilfe, der Weltgesundheit, der Hilfe für die Dritte Welt auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die erfolgreichen Friedensbemühungen in Zypern und auf dem Golan, in Namibia und in El Salvador.
Wir sollten an die vielen tausend engagierten Männer und Frauen denken, die hinter der UNO stehen, und auch an diejenigen, die bis in die jüngste Zeit hinein für die Idee der Vereinten Nationen gestorben sind.
({1})
Meine Damen und Herren, ich glaube auch, es wäre eine törichte Politik, die Bemühungen um eine Stärkung der Vereinten Nationen aufzugeben. Die Welt braucht die Vereinten Nationen mehr denn je. Die Völker und Nationen rücken immer enger zusammen, so daß auch einstmals lokale oder nationale Probleme immer häufiger zu internationalen Problemen werden. Viele international gewordene Herausforderungen werden zudem immer komplizierter und bedürfen einer verstärkten grenzüberschreitenden oder weltweiten Zusammenarbeit, etwa auf dem Gebiet der Proliferation von Massenvernichtungswaffen, der Drogenkriminalität oder der Umweltzerstörung. Dies hat Vizekanzler und Bundesaußenminister Kinkel in New York noch einmal ausführlich gewürdigt.
Die Devise gerade auch für unsere deutsche UN-Politik muß sein, unbeirrt und mit neuer Kraft an eine Aufarbeitung der Defizite der UN heranzugehen. Dabei müssen wir eines klar im Auge behalten: Schuld an den Defiziten haben nicht in erster Linie der Generalsekretär bzw. die Untergeneralsekretäre der UNO und ihre Mitarbeiter; Stärke und Schwäche, Wohl und Wehe der Vereinten Nationen hängen vielmehr vom Willen und der Politik der einzelnen Mitgliedstaaten ab, von denen natürlich einige einflußreicher sind als andere. Nur bei den einzelnen Mitgliedstaaten zusammen liegt der Schlüssel für eine Reform der Vereinten Nationen.
Es erfüllt daher schon mit Zuversicht, daß zum 50. Geburtstag der Vereinten Nationen zwar nicht viel gejubelt werden kann, daß aber nach allen Erfahrungen der letzten Jahre alle Mitgliedstaaten in einer bisher nicht gekannten Weise über eine grundlegende Reform der UNO diskutieren, die UNO für reformbedürftig und auch für reformfähig halten.
({2})
Diese Stimmung in New York gibt auch den Reformbemühungen von CDU/CSU und F.D.P. neuen Elan,
der sich, wie ich hoffe, in unserem vorliegenden Antrag - Sie haben ihn wahrscheinlich nicht gelesen - niederschlägt und von dem ich auch hoffe, daß ihn der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit verabschieden wird.
({3})
({4})
Folgende Punkte der Reform und folgende Vorstellungen möchte ich noch einmal herausstellen:
Erstens. Wir anerkennen die wichtigen Reformschritte, die bereits in den letzten Jahren durchgeführt oder eingeleitet wurden, etwa die Straffung des UN-Sekretariats, die Errichtung internationaler Strafgerichtshöfe, die Reorganisation der Peace-keepingAbteilung der UNO. Man muß sich vorstellen, daß diese Abteilung mehr Soldaten in Bewegung hält als das Pentagon, aber nur mit einem Siebtel der Mitarbeiter.
Zweitens. Die administrative und politische Strukturreform muß konsequent weiterbetrieben werden. Sie beginnt bei zeitgemäßen Methoden von Einstellung und Management des Personals sowie der Entschlackung der quälenden Tagesordnungen - z. B. in der Generalversammlung -, führt weiter zu zeitgemäßer Interpretation der Frage, wann Friede und Sicherheit - für ein Eingreifen des Sicherheitsrates - bedroht sind, und endet bei der Frage der zukünftigen Zusammensetzung des Sicherheitsrates.
Unseren Wunsch nach einer gemeinsamen Vertretung der Europäischen Union halten wir dabei aufrecht - nicht in der Absicht, den Einfluß unserer britischen und französischen Freunde in der UNO zu schmälern, sondern in dem aufrichtigen Bestreben, einen Grundstein für eine spätere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik im gemeinsamen europäischen Interesse zu legen. Erst wenn ein solcher Vorschlag endgültig abgelehnt werden sollte, streben wir als Bundesrepublik Deutschland genauso wie Japan einen ständigen Sitz an.
Wichtig ist aber, daß wir auch aus dem Kreis der Entwicklungsländer Asiens, Afrikas und Lateinamerikas eine stärkere Präsenz im Sicherheitsrat für unumgänglich halten.
Drittens. Die finanziellen Grundlagen der Vereinten Nationen müssen gesichert werden. Wir haben dazu eine Reihe von Vorschlägen formuliert. Entscheidend ist zum einen die Feststellung, daß das derzeitige Beitragssystem nicht mehr die objektive wirtschaftliche Leistungskraft der Mitglieder wiedergibt. Viele aufstrebende Schwellenländer sind mit Recht stolz auf ihre gestiegene wirtschaftliche und politische Kraft, möchten aber bei der Bemessung ihrer Mitgliedsbeiträge immer noch als besonders arme Entwicklungsländer eingestuft werden.
({5})
Die Beitragsrückstände, vor allem des mit Abstand wichtigsten Beitragszahlers, der Vereinigten Staaten, haben sich inzwischen lebensbedrohlich aufsummiert. Es steht mir nicht zu, unseren amerikanischen
Partnern gute Ratschläge zu geben, aber ich erlaube mir, an unsere Kollegen von Kongreß und Senat in Washington zu appellieren, ganz nüchtern abzuwägen, wer letztlich von einer dauerhaften und deutlichen Schwächung der UNO am meisten betroffen sein wird.
({6})
Was die vorbeugende, mäßigende und zusammenführende Politik der Vereinten Nationen nicht mehr hat verhindern können, muß mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann, aber mit wesentlich höherem Einsatz, von der verbliebenen Weltmacht USA gelöst werden.
Viertens. Die UNO braucht mehr Biß bei der Verteidigung ihrer eigenen Grundwerte, bei der Abwehr von Völkermord, Aggression und Völkerrechtsbruch, das heißt u. a. auch mehr Glaubwürdigkeit und mehr Befähigung bei der Durchsetzung friedenserhaltender und friedenserzwingender Maßnahmen.
({7})
Wir haben alle z. B. in Somalia und Ruanda und vor allem im ehemaligen Jugoslawien gesehen, welche Fehler dabei in Zukunft zu vermeiden sind und was zu verbessern ist: in der Klarheit des Mandats und der Zielfestlegung, sowohl militärisch als auch politisch, in der Flexibilität des Mandats, bei Ausrüstung und Ausbildung der Friedenstruppen, bei der Eindeutigkeit der Kommandostruktur.
Eines, Herr Kollege Verheugen, müssen wir alle aus den Entsetzlichkeiten im ehemaligen Jugoslawien jedoch mindestens gelernt haben: Die NATO beiseite zu schieben und das Gewaltmonopol ausschließlich der UNO-Administration an die Hand zu geben hätte das Sterben und Leiden in Bosnien um viele weitere Jahre verlängert. Die UNO hat zur Zeit kein Gewaltmonopol, z. B. schon gar nicht über die Serben.
({8})
Dies zu wünschen ist natürlich ein Traum, aber ich glaube nicht, daß wir auf diesen Traum jahrelang vergeblich warten sollten, bevor wir handeln.
({9})
Fünftens. Eine der allerwichtigsten Aufgaben der Vereinten Nationen ist die Bekämpfung von Armut und Elend, politischer Unterdrückung, Ausbeutung und Umweltzerstörung. Zu Recht erwartet der Süden vom reichen Norden mehr Engagement, d. h. insbesondere mehr finanzielles und technisches Engagement in der Entwicklungs- und Umweltzusammenarbeit,
({10})
übrigens auch als Gegenleistung für eigene nationale oder internationale Reformen.
Aber nach wie vor sind die Aktivitäten der Völkergemeinschaft bei allem individuellen Engagement heillos zersplittert und unkoordiniert. Um die ohnehin knapp bemessenen Finanztöpfe raufen sich mittlerweile über 150 Unter-, Neben- und Sonderorganisationen. Von einer Abgestimmtheit untereinander oder gar mit anderen Gebernationen kann nach wie vor keine Rede sein.
So ist es für den dringend notwendigen Erfolg der globalen Umwelt- und Entwicklungszusammenarbeit auch unabdingbar, stärkere Ordnung in das UN-System zu bringen und eine bessere Koordination mit anderen Entwicklungshilfesystemen herzustellen.
Natürlich haben wir auch im eigenen Haus noch das eine oder andere zu verbessern. So beklagen wir zu Recht, daß wir bei der UNO und bei anderen internationalen Organisationen personell unterrepräsentiert sind. Das ist bei genauem Hinsehen auch nicht verwunderlich. Für einen französischen oder britischen Beamten bedeutet ein Auslandseinsatz einen Karrieresprung, bei unseren Beamten allzuoft eine Sackgasse. Das müssen wir ändern.
({11})
Insgesamt aber, glaube ich, sind wir mit unserer UNO-Politik auf einem guten Weg. Das jahrzehntelange deutsche Engagement hat uns bei den Vereinten Nationen hohes Ansehen verschafft. Unsere Reformvorschläge fallen auf fruchtbaren Boden. Wir sollten hier mutig weitergehen und auch Rückschläge einkalkulieren.
Meine Damen und Herren, wir sollten die große Vision, wie sie in der Charta zum Ausdruck kommt, immer vor Augen haben, aber dabei nie den Bezug zur Realpolitik verlieren.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat Kollege Dr. Lippelt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Vorredner haben die Erfolge der UNO in den 50 Jahren ihres Bestehens gewürdigt, haben von den Herausforderungen und Notwendigkeiten gesprochen, denen die UN heute gegenüberstehen. Ich möchte das Thema etwas enger fassen, zugleich aber auch etwas weiter zurückblicken. Ich möchte im engeren Sinne von der deutschen Politik des Anspruchs auf einen permanenten Sitz im Sicherheitsrat sprechen, dann allerdings in dem Sinne, daß wir seit der Wiedervereinigung die gesamte deutsche Geschichte reflektieren, auch über die von 1926 bis 1933 währende kurze Mitgliedschaft in der Vorgängerorganisation, im Völkerbund, sprechen müssen.
Denn beide Versuche der Organisation einer rechtlich verfaßten Weltgemeinschaft hatten den gleichen Grund ihres Entstehens - deshalb, Herr von Stetten, kommen Sie mit Ihrem Wunsch auch schwer voran -,
nämlich die von Deutschland verursachten Weltkatastrophen, als deren Folge dann die Versuche der Errichtung einer Weltfriedensordnung zunächst gegen Deutschland entstanden; Sie wissen, daß die Völkerbundsatzung vorn in den Versailler Vertrag geschrieben wurde. Deutschland wurde aus genau diesem Grunde eben nicht in den Völkerbund aufgenommen. Es war zunächst eine Organisation gegen eine deutsche Großmachtpolitik.
({0})
- Dann müssen Sie aber vielleicht etwas klüger mit Ihren Ansprüchen umgehen.
Dann erfolgte der nächste Akt, als Deutschland wieder in internationale Verbindlichkeiten eintrat - Locarno 1925, der Abschluß der Ostverträge 1971/ 72 -, der Augenblick von Deutschlands Wiederaufnahme in die Völkergemeinschaft.
1926 hat Briand Stresemann sein Vertrauen bekundet:
Es ist ein ergreifendes Schauspiel, daß einige Jahre nach dem grauenvollsten Krieg, der jemals die Welt durchrast hat, während die Schlachtfelder noch feucht sind vom Blut der Völker, die gleichen Völker in dieser friedlichen Versammlung die Beteuerung ihres gemeinsamen Willens austauschen, miteinander am Werk des Weltfriedens zu arbeiten.
1973 hat Willy Brandt bei der Aufnahme der noch zwei deutschen Staaten in New York mit den Worten geendet:
Die Fähigkeit des Menschen zur Vernunft hat die Vereinten Nationen möglich gemacht. Der Hang des Menschen zur Unvernunft macht sie notwendig. Der Sieg der Vernunft wird es sein, wenn eines Tages alle Staaten und Regionen in einer Weltnachbarschaft nach den Prinzipien der Vereinten Nationen zusammen leben und zusammen arbeiten.
({1})
Um so ernüchternder ist es dann, wenn unter solchem Festespathos die Politik nationaler Interessen zum Vorschein kommt. So stellt Karl Dietrich Erdmann, der Nestor der Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit, der konservative Historiker, ganz knapp fest:
Der Eintritt in den Völkerbund verzögerte sich - um fast ein Jahr -.
Es waren Schwierigkeiten entstanden, die sich aus dem deutschen Anspruch an einen ständigen Sitz im Völkerbundsrat ergaben.
Damals verließ wegen solcher Schwierigkeiten Brasilien den Völkerbund, denn es konnte diesen Anspruch so nicht verstehen.
Dabei war ein solcher Anspruch Deutschlands 1926 weit eher zu verstehen als heute; denn damals gab es noch kein verfaßtes Europa. Heute dagegen leben wir in einem vereinten Westeuropa mit zwei ständigen Sitzen im Sicherheitsrat. Und wir sind Mitglied einer Organisation, die ganz anders als der Völkerbund mit ECOSOC und den vielen Sonderorganisationen ein Instrumentarium präventiver Politik entwickelt hat und die sich, so sehr manche Kritik an ihrer Bürokratisierung und Ineffizienz auch berechtigt sein mag, doch den globalen Problemen von Armut, Unterentwicklung, Umweltzerstörung, den Menschenrechten - nicht nur den individuellen, auch denen der zweiten und dritten Generation -, den Rechten auf Erziehung, Gesundheit, Wohnung und Entwicklung zugewandt hat.
Die Aufgabe, die sich für Deutschland gerade aus der Mitarbeit in diesen Organisationen ergibt, ist ja von Anfang an richtig beschrieben worden, so z. B. als Deutschlands erster ständiger Vertreter 1974 erklärte:
Das Ergebnis der Mitwirkung in den UN hängt .. . davon ab, wo und wie ein Land bei einer besseren Gestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen, der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in aller Welt und im friedlichen Zusammenwirken der Völker am tatkräftigsten mitarbeiten kann. Die bestmögliche Mitwirkung bei der Erfüllung dieser Aufgaben wird dem Profil der Bundesrepublik in der Weltorganisation auf die Dauer weit mehr dienlich sein können, als es durch die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat denkbar wäre.
({2})
Auch Altbundespräsident von Weizsäcker wird ja nicht müde, die falsche Prioritätensetzung deutscher UN-Politik zu beklagen:
Deutsche UN-Politik darf sich nicht im Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat erschöpfen. Zunächst geht es neben mehr Rechten und Mitverantwortung vor allem auch um eine sachliche Beteiligung an der Lösung globaler Probleme.
({3})
Dabei muß sich die Bundesregierung fragen lassen, ob sie der immer wieder bekundeten Bereitschaft zur Übernahme globaler Verantwortung in der politischen Praxis auch Taten folgen läßt.
Aber gerade dieser falschen Prioritätensetzung folgt die Bundesregierung. In jeder UN-Rede unseres Außenministers und auch heute wieder finden wir den Hinweis auf Deutschlands Bereitschaft, mehr Verantwortung zu übernehmen, und jedesmal ist der Anspruch auf den permanenten Sitz im Sicherheitsrat gemeint. Dabei weiß jeder, der sich eingehend mit dem Problem befaßt, daß es so bald nicht zu lösen ist. Zwar wissen die meisten UN-Mitgliedstaaten,
daß man den zweit- und den drittgrößten Beitragszahler nicht vor den Kopf stoßen sollte, und signalisieren ihre Unterstützung für Deutschland und Japan. Aber die meisten Länder der Gruppe der 77 verbinden diese Unterstützung auch mit der Forderung nach einer stärkeren Demokratisierung des Gremiums
({4})
durch Sitze für die Repräsentanten von Lateinamerika, Asien und Afrika. Da dies zum Streit dieser Kontinente führt, welches denn das repräsentativste Land sei,
({5})
wird ihnen das Problem mit der Bitte zurückgegeben, sie möchten es lösen. Wir wissen aber alle, daß sich diese Frage so schnell nicht beantworten lassen wird.
({6})
- Doch, Herr Minister; denn Sie versäumen andere, ganz wichtige Prioritätensetzungen. Wir sind viel zu sehr mit dieser Frage beschäftigt.
({7})
So vertieft sich denn bei den inzwischen 130 Ländern der Gruppe der 77 und damit der Mehrheit der UNO-Mitglieder die Abneigung gegen die Dominanz der G-7-Staaten im Sicherheitsrat, gegen die Dominanz des Nordens gegenüber dem Süden. So wird es auch in den Jubiläumsreden hinreichend ausgedrückt.
Herr Bundeskanzler, wenn Sie es nicht hören wollten, hätten Sie zumindest nachlesen können, daß etwa der Staatspräsident vom Sambia mahnt, „die ständigen Ratsmitglieder dürfen nicht zu Hohepriestern werden, die für den Rest der Welt alle wichtigen Entscheidungen treffen" .
Der Kanzler allerdings entzieht sich solch schmerzlicher Einsicht - da es sich um eine Stilfrage handelt, denke ich, ich sollte es noch einmal erwähnen -, indem er die Fünf-Minuten-Rede nicht der Reise wert findet. Ein bemerkenswertes Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit deutscher UN-Politik.
({8})
Ich habe Kollegen der CDU/CSU und SPD gelegentlich mit der Frage behelligt, warum sie nicht statt einem eigenen permanenten Sitz im Sicherheitsrat die Europäisierung der englischen und französischen Sitze fordern. Die Antwort lautet: Das haben wir doch alles längst vorgeschlagen, aber die wollen ja nicht. Dazu sage ich: Was für eine kurzatmige Vorstellung von Außenpolitik! Natürlich geben unsere
EU-Partner ihren inzwischen zum selbstverständlichen Attribut ihrer nationalen Rolle gewordenen Sitz nicht so ohne weiteres auf. Dazu führen außenpolitische Doktrinen in den jeweiligen Außenministerien ein viel zu zähes, oft Jahrhunderte überdauerndes Leben.
Warum - das ist meine Frage - erklären wir nicht, wir würden die Politik, die wir im Sicherheitsrat gern verfolgt sähen, mit unseren europäischen Partnern abstimmen und im Vertrauen auf die Entwicklung einer gemeinsamen EU-Politik den Anspruch auf einen nationalen Sitz im Sicherheitsrat nicht weiterverfolgen?
Herr Dr. Lippelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Ja.
Herr Kollege Lippelt, ich habe eine Frage, weil ich Ihre Bemerkung für sehr interessant halte, wir sollten unsere UN-Politik mit den Briten und den Franzosen abstimmen, es aber bekannt ist, daß Briten und Franzosen z. B. in der Frage militärischer Intervention eine bestimmte Tradition haben. Heißt das, daß Sie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik auf europäischer Ebene wollen, in der Deutsche, Franzosen und Briten sozusagen gesamteuropäisch Mehrheitsentscheidungen fällen, und würden Sie sich dann diesen Mehrheitsentscheidungen unterwerfen wollen?
({0})
Herr Kollege Voigt, abstimmen heißt doch nicht nach so einem primitiven Rechnungsmodell - zwei zu eins - verfahren. Das ist ja nicht einmal ein verfaßtes Gremium.
({0})
- Natürlich will ich sie, aber doch nicht auf einer solch primitiven Grundlage, wie Sie sie hier vorschlagen, wie Sie sie immer vertreten und wie Sie sie mir am liebsten jetzt aufzwingen möchten.
({1})
Damit komme ich zu der Frage zurück, ob es nicht möglich wäre, daß man alt eingewurzelte außenpolitische Doktrinen einmal hinter sich läßt, und weise darauf hin, daß schließlich selbst ein so europaskeptischer Politiker wie der englische Premier bei der Gedenkfeier am 8. Mai 1995 in Berlin erklärt hat, England bedürfe der Politik der „balance of power" nicht mehr, es sei in Europa angekommen. Wie wir zu
solch einem Ausspruch stehen mögen: Was für ein Satz, wenn man die Tradition dieses Begriffs über mehrere Jahrhunderte als oberste Doktrin englischer Außenpolitik kennt!
Ich würde deshalb nicht so kleinmütig sein und sagen, wir haben gefragt, die wollen ja nicht. Nein, es geht darum, eine klare politische Linie durchzuhalten und zu sagen: Liebe Freunde, wir haben diesen Anspruch nicht; wir haben einen Anspruch an euch auf einen gemeinsamen Sitz. Das hält man dann eben zehn Jahre durch. Das verstehe ich unter einer Politik, die wirklich Verhältnisse ändern will.
({2})
Sonst landen Sie immer wieder in kurzfristigen Interessenpolitiken. Das Interesse wird abgeklärt, man bekommt gesagt, nein, so läuft es nicht, und dann geht man zur Tagesordnung über. So geht es nicht.
Nehmen wir also Major beim Wort! Üben wir uns im neuen außenpolitischen Denken! Denn wohin altes Denken führt, zeigt das Beispiel eines italienischen Diplomaten in New York - Herr Lamers, das ist vielleicht auch für Sie sehr interessant -,
({3})
von dem berichtet wird, daß er herumlaufe und alle Welt frage, warum denn ausgerechnet Italien als letzte der ehemaligen Achsenmächte nicht in den Sicherheitsrat aufgenommen werde. Ich hoffe, nicht nur die Mitglieder meiner Fraktion erschrecken ob solch grotesker Argumentation. Vielmehr sollten wir alle darin übereinstimmen, daß die dringend notwendige UN-Reform nicht in der Öffnung des Sicherheitsrats für die Besiegten von 1945 bestehen darf, sondern nur in umfassender Demokratisierung und Regionalisierung ihrer nach 50 Jahren und angesichts der Verdreifachung ihrer Mitgliederzahl nicht mehr repräsentativen Struktur.
Herr Dr. Lippelt, Ihre Redezeit.
Schließlich - damit ende ich, Herr Präsident - findet sich in der Rede unseres Außenministers in der Sondersitzung des Sicherheitsrats vom 26. September 1995 außer dem falschen Anspruch auf den deutschen permanenten Sitz auch die beherzigenswerte Mahnung:
Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates hängen entscheidend davon ab, daß er von der gesamten Staatengemeinschaft als legitime Vertretung ihrer Sicherheitsinteressen anerkannt wird.
Das wird wohl nur ein umstrukturierter Sicherheitsrat sein können, in den wir weniger drängen, als wir es im Moment tun.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Irmer, F.D.P.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe immer gewußt, daß die Politik der Bundesregierung und der Koalition in und gegenüber den Vereinten Nationen wirklich gut ist. Aber wie hervorragend, makellos und eigentlich genial diese Politik der Bundesregierung und der Koalition wirklich ist, das hat sich mir heute erst erschlossen,
({0})
als ich nämlich hörte, was die geballte Opposition, sowohl SPD als auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an dieser Politik zu kritisieren hatten.
({1})
Das waren nämlich einige messerscharf gesehene, brillant formulierte Dinge, die es weiß Gott wert sind, daß sich dieses Hohe Haus stundenlang damit beschäftigt. Es ging nämlich um die Tatsache, daß der Bundeskanzler nicht zu diesem Ereignis nach New York gereist ist.
({2})
Wenn sich die Kritik der Opposition an unserer Politik in den Vereinten Nationen nur darauf bezieht, können wir unglaublich zufrieden sein. Im übrigen werfen Sie dem Bundeskanzler immer vor, er reiße die gesamte Politik des Bundesaußenministers an sich. Die Tatsache, daß Herr Kinkel in New York war, und zwar im Auftrage des Bundeskanzlers, ist das beste Beispiel dafür, daß der Bundeskanzler vernünftig delegieren kann und weiß, auf welche richtigen Leute er im richtigen Augenblick Aufgaben überträgt.
({3})
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Bitte sehr.
Bitte.
Herr Kollege Irmer, da ich Sie seit langem kenne und als ehrlichen Kollegen schätze, frage ich Sie auf Ehr und Gewissen: Ist es nicht doch zutreffend - was nicht nur die OpposiIngrid Matthäus-Maier
tion sagt, sondern gestern und heute in den Kommentaren vieler Zeitungen geschrieben wurde -,
({0})
daß es ein Ausdruck von Arroganz ist, wenn der Bundeskanzler sein Nichterscheinen - es geht nicht darum, daß er nicht dorthin gereist ist; dafür könnte es Gründe geben - damit begründet, mit fünf Minuten Redezeit nicht auskommen zu können, während Herr Jelzin, Herr Clinton und Herr Major bereit sind, mit fünf Minuten auszukommen?
({1})
Wissen Sie, Frau Kollegin, ich traue dem Bundeskanzler sogar zu, daß er in fünf Minuten mehr sagt als mancher Redner in zwei Stunden.
({0})
Insofern kann das eigentlich nicht das Problem sein.
({1})
Sie haben recht. Ich habe die Kritik, die man durchaus vertreten kann, zur Kenntnis genommen. Man kann auch anderer Meinung sein wie ich und einige andere. Wenn Sie aber Ihre Kritik an der Politik der Bundesregierung in und gegenüber den Vereinten Nationen auf diesen Punkt konzentrieren, dann spricht das für die Qualität der Politik der Bundesregierung
({2})
und gegen Ihre Rolle als Opposition. Sie haben nämlich offensichtlich nichts anderes zu bieten.
({3})
Herr Lippelt hat noch einen anderen Punkt herausgegriffen. Er hat kritisiert, wir seien wie der Teufel hinter der armen Seele hinter einem Sitz im Sicherheitsrat her.
({4})
Herr Lippelt, hier bauen Sie doch wieder einen Popanz auf. Natürlich ist das erwünscht. Wir alle haben gesagt - das steht auch in unserem Antrag -, daß wir einen europäischen Sitz, d. h. einen Sitz im Sinne der europäischen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorzögen. Wenn dies aber nicht erreichbar ist - wir wollen realistisch sein: das ist so schnell nicht erreichbar -, dann legen wir allerdings auf einen eigenen Sitz Wert.
({5})
Daß sich darauf aber unsere ganzen Bemühungen konzentrieren, ist ebenso Unsinn wie das von Ihnen ständig verbreitete Märchen von der angeblichen Militarisierung deutscher Außenpolitik. Darauf komme ich später noch einmal zurück.
Meine Damen und Herren, zu den Reformvorschlägen, die wir in unserem Antrag noch einmal niedergelegt haben, hat insbesondere der Kollege Ruck ausgiebig Stellung genommen. Ich möchte das nicht wiederholen. Statt dessen möchte ich jetzt einige Gedanken darüber anstellen, was denn eigentlich die Bedeutung der Vereinten Nationen speziell für uns als Deutsche im vereinigten Deutschland ist und welche Rolle wir in den Vereinten Nationen spielen sollten.
Ich glaube, anläßlich des Jubiläums 50 Jahre Vereinte Nationen sollte man sich noch einmal das Ziel vor Augen halten, unter dem diese Organisation damals ins Leben gerufen worden ist. Das eigentliche Ziel nach den entsetzlichen Schrecken des Zweiten Weltkriegs war nämlich die Parole „Nie wieder Krieg!". Wenn wir heute, 50 Jahre später, die Weltlage betrachten, dann muß das erste und vornehmste Ziel der Vereinten Nationen unverändert die Parole „Nie wieder Krieg!" sein.
Natürlich haben wir heute eine andere Lage. Die Blockkonfrontation ist weggefallen. Gleichwohl gibt es weltweit täglich kriegerische Ereignisse. Wir müssen leider gar nicht in die Ferne schauen; das ehemalige Jugoslawien war eine fürchterliche Lehre. Deshalb stellt sich die Frage: Was können wir in der Weltgemeinschaft tun, um das Entstehen und Sichaustoben solcher Kriege zu verhindern? Was kann insbesondere Deutschland dazu beitragen?
Als 1973 - es ist vorhin erwähnt worden - die Bundesrepublik Deutschland Mitglied der Vereinten Nationen wurde, gab es den zweiten deutschen Staat, der zugleich aufgenommen wurde: die DDR. Es ist seither die beharrliche Politik aller Bundesregierungen gewesen, die zum Überwinden der Ost-WestKonfrontation beigetragen hat. Es ist die Ostpolitik
({6})
von Willy Brandt, Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher gewesen. Es ist später die entschlossene Politik der Bundesregierung Kohl/Genscher gewesen, den NATO-Doppelbeschluß auch umzusetzen und damit der sowjetischen Herrschaft die faktische Grundlage zu entziehen. All dieses hat dazu beigetragen, daß heute das vereinte Deutschland einen einzigen Sitz in den Vereinten Nationen wahrnimmt.
Für uns ist die Bedeutung der Vereinten Nationen gar nicht hoch genug einzuschätzen; denn wir sind ein Land, das mehr als viele andere, mehr als die meisten anderen darauf angewiesen ist, daß wir in internationale Organisationen fest und unwiderbringlich eingebettet sind.
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Wir haben die Lehre aus übersteigertem Nationalismus gezogen. Es gilt nach wie vor der Satz: Nationalismus ist die größte Gefahr für die Nation, und zwar für jede Nation. Die Deutschen haben ihre Nation durch den Nationalsozialismus kaputtgemacht.
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Im ehemaligen Jugoslawien ist der Nationalismus Ursache dafür gewesen, daß dort Blut geflossen ist, daß dort alles in Trümmer gefallen ist. Nationalismus ist nach wie vor eine riesengroße Gefahr. Deshalb müssen wir dabei bleiben, daß wir uns international ausrichten und in die Organisationen einbetten.
Dies, meine Damen und Herren, hat durchaus etwas mit Interessenvertretung zu tun. Ich sehe gar nicht diesen Gegensatz. Herr Lippelt, Sie haben vorhin gesagt, die Vertretung nationaler Interessen sei etwas ganz Schreckliches. Ich kann das nicht sehen. Wer seine eigenen Interessen vertritt, erfüllt nur seine Pflicht und Schuldigkeit gegenüber dem eigenen Volk. Er muß dies nur in einer Weise tun, mit der er nicht die Interessen anderer rücksichtslos überfährt.
Auch hier ist richtig: Was dem anderen nützt, nützt letzten Endes mir selbst am meisten. Dies gilt insbesondere für die Deutschen. Wo kämen wir denn mit unserem Handel, mit unseren Exportmöglichkeiten hin, wenn wir keine Märkte hätten, wenn wir nicht auch zusätzlich Märkte schaffen würden dadurch, daß wir durch Entwicklungsbemühungen neue Kaufkraft, neue Märkte herstellen, die dann unsere Produkte aufnehmen können?
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Dr. Lippelt.
Herr Irmer, meinen Sie nicht, daß man in einem Moment, wo sich eine Weltgemeinschaft verfaßt, vielleicht nationale Politik in internationaler Absicht machen sollte und damit seine nationalen Interessen nicht primär in den internationalen Organisationen, sondern das Interesse dieser Organisationen zunächst zu Hause durchsetzen sollte?
Herr Kollege Lippelt, das ist überhaupt kein Widerspruch. Ich habe ja gesagt, es kommt darauf an, daß wir uns in die internationalen Organisationen, in die abgestimmte internationale Politik eingliedern, daß wir keine nationalen Alleingänge versuchen, und zwar Alleingänge weder im Tun noch im Unterlassen. Dies, meine Damen und Herren, ist dann letzten Endes für unsere eigene Interessenlage das Beste, das wir tun können. In dem wir anderen helfen, helfen wir letzten Endes uns selbst.
Ich will zu dem Beispiel der Märkte und der Exportperspektive noch ein anderes Problem anfügen. Wenn es der Staatengemeinschaft nicht gelingt, schwache Regionen, Krisenregionen, so zu unterstützen, daß sie sich stabilisieren können, dann setzen sich doch Flüchtlingsströme in Bewegung, dann brechen doch Katastrophen aus, wo wir nicht sagen können, was interessiert uns das, wenn fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Nein, das würde uns unmittelbar berühren. Deshalb lege ich Wert darauf, daß man sich mit der Vertretung eigener Interessen nicht versteckt, sondern daß man deutlich sagt, daß wir anderen helfen. Das ist für mich eine moralische Verpflichtung. Ich kann nicht von jemand anderem verlangen, daß er in diesem Punkt meine Weltsicht und mein Menschenbild teilt. Aber wir müssen uns doch darüber klar sein: Wenn wir anderen helfen, nützen wir uns selbst; es liegt in unserem eigenen Interesse. Das ist in meinen Augen keine Schande.
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Wir Deutsche haben wohl eine gewisse Tendenz zu Extremen. Früher war es so, daß wir stärker als alle anderen sein wollten. Ich habe die Befürchtung, daß es jetzt bei uns viele gibt, die unbedingt besser, moralischer, edler als alle anderen sein wollen und daß daraus die falschen Schlüsse gezogen werden. Ich rege mich immer über das Wort „Betroffenheit" auf. Ich finde, es ist eines der schrecklichsten Wörter, und es sollte aus dem politischen Wortschatz gestrichen werden. Wenn jemand sagt: „Ich bin betroffen", dann bringt er damit eigentlich zum Ausdruck, daß er gerade nicht betroffen ist. Wenn irgendwo ein Krieg tobt oder sich ein Erdbeben ereignet, dann sind die Betroffenen die Toten, die Obdachlosen, die Flüchtlinge, die Vertriebenen, die Angehörigen. Wir setzen uns hin und sagen: Wir sind so entsetzlich betroffen. Das ist die falsche Einstellung. Man sollte sich vielmehr überlegen - Herr Lippelt, damit komme ich auf Ihre Frage -: Wie können wir die Organisationen, die wir mit geschaffen haben, denen wir angehören, dazu bringen, daß sie effektiv und dauerhaft zur Lösung dieser Probleme, die vor unserer Haustür liegen, beitragen? Deshalb ist es natürlich gänzlich falsch, die Diskussion etwa auf die Militäreinsätze der Vereinten Nationen zu verengen.
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Es ist von einigen ja immer versucht worden zu sagen: Hier wird die Außenpolitik militarisiert. Nein, das ist - wir haben es immer wieder betont - das allerletzte Mittel, wenn alles andere nichts gebracht hat. Selbst dann ist es immer noch mit großen Fragezeichen zu versehen, ob man militärisch eingreifen soll, darf und kann. Im Vordergrund steht doch ganz eindeutig das Bemühen,
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Krisen, die bevorstehen könnten oder die schon existent sind, zu erkennen.
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Herr Kinkel hat das am Beispiel Burundi deutlich gemacht. Es gibt viele andere Fälle. Hier muß sich auch das Völkerrecht weiterentwickeln, weil es auf die veränderte Weltlage noch nicht ausreichend eingestellt ist. Herr Kinkel hat erwähnt, daß sich die heutigen Kriege nicht so sehr zwischen Staaten abspielen, sondern mehr innerhalb von Staaten. Wir erleben das fast täglich, leider. Hier sind auch die Vereinten Nationen gefordert, das Völkerrecht so weiterzuentwikkeln, daß für diese innerstaatlichen Krisen verbindliche Regeln bestehen, die auch durchgesetzt werden können und deren Anwendung nicht mit dem Hinweis auf einen anderen völkerrechtlichen Grundsatz, nämlich die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, abgewehrt werden kann. Die Vereinten Nationen sind hier einen guten Schritt vorangegangen; man hat nämlich gesagt: Wenn im Inneren eines Landes Menschenrechtsverletzungen in einem solchen Ausmaß stattfinden, daß sie, auch wenn sich das auf das Innere eines Landes beschränkt, zu einer Gefährdung des Friedens werden, dann gilt der Grundsatz der Nichteinmischung nicht mehr, sondern dann ist die Staatengemeinschaft gefordert, Partei zu ergreifen zugunsten der Geschundenen, zugunsten der Menschen, deren Rechte mit Füßen getreten werden. Wir stehen hier aber erst am Anfang einer völkerrechtlichen Entwicklung; wir müssen sie weiterbetreiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schuster?
Bitte, ja.
Herr Kollege, ist Ihnen bewußt, daß vordringlicher, als neues Völkerrecht zu schaffen, ist, vorhandenes Völkerrecht auch zu nutzen? Ich erinnere an einen Fall, den wir beide kennen, Ruanda. Dort ist 1993 von beiden Seiten gebeten worden, man solle UN-Polizei schicken. Damals hatten wir kein Geld. In bezug auf Angola ist 1992 von Frau Angsted gebeten worden, man möge ihr mehr UN-Personal geben, um die Entwaffnung vornehmen zu können. Auch damals hatten wir kein Geld.
Herr Kollege Schuster, ich kenne diese Fälle; ich finde sie ebenso bedauerlich wie Sie. Nur, sie sind kein Widerspruch zu dem, was ich gesagt habe. Hier ist ja schon mehrfach betont worden, daß die Vereinten Nationen in ihren Möglichkeiten und ihrer Organisation gestrafft werden müssen, daß sie mit mehr Geldmitteln ausgestattet werden müssen und daß endlich die säumigen Schuldner ihre Beiträge zahlen, so wie wir und andere das tun. Dann können die Vereinten Nationen mehr tun, als das in der Vergangenheit der Fall war. Aber auch angesichts der Tatsache, daß heute bei weitem noch nicht alles perfekt ist oder auch nur gut
funktioniert, sollten wir nicht die Augen verschließen vor weiteren Aufgaben, auch in der Entwicklung des Rechtes.
Natürlich muß heute das getan werden, was getan werden kann. Aber wir müssen sehen, wie wir für die Zukunft stärker zur vorbeugenden Krisenbewältigung beitragen können, damit etwaige Einsätze von Militär nicht mehr notwendig werden, damit man einen Zustand erreicht, in dem die vorbeugenden Maßnahmen, die wirtschaftlichen, politischen, diplomatischen Mittel, zum Erfolg führen und wir unsere Soldaten zu Hause lassen können. Denn es macht ja nun niemandem Spaß, Soldaten in ein Risikogebiet zu schicken und sie der Gefahr für Leib und Leben auszusetzen.
Meine Damen und Herren, es ist hier mit Recht gesagt worden: Die Vereinten Nationen können nur das leisten, wozu sie von ihren Mitgliedstaaten ausgestattet werden. Es ist üblich geworden - gerade beim Krieg im ehemaligen Jugoslawien -, mit Fingern auf die Organisationen zu deuten und ihnen Versagen vorzuwerfen: Die Vereinten Nationen haben versagt, die NATO hat versagt, die WEU hat versagt, die Europäische Union sowieso - alle haben versagt.
Ich warne vor solchen pauschalen Vorwürfen. Denn eines ist doch ganz klar: Was die Mitgliedstaaten nicht zu tun bereit sind, das kann auch eine internationale Organisation nicht leisten.
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Im übrigen ist die Situation genauso wie in unserem eigenen Staat. Es tauchen doch in unserem Staat immer wieder irgendwelche Probleme auf, die nicht über Nacht gelöst werden können. Dann neigt der Bürger dazu zu sagen: Der Staat soll das einmal machen. - Wenn das nicht über Nacht geschieht, dann heißt es, der Staat habe versagt. Meine Damen und Herren, auch der Staat ist nur so stark, wie ihn die Bürger machen, die ihm selber angehören.
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Was die Bürger nicht zu tun bereit sind, das kann auch der Staat nicht leisten.
Deshalb plädiere ich dafür - nach innen wie nach außen, an unsere Organisationen -, wieder zu lernen, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen, mehr eigene Beiträge zu leisten, uns nicht immer zu fragen, was können, was müssen die eigentlich machen, sondern zu überlegen, was wir selbst dazu beitragen können.
Unser Beitrag zu den Vereinten Nationen erschöpft sich nicht in der Leistung des finanziellen Beitrags, erschöpft sich auch nicht darin, daß wir praktische Reformvorschläge machen. Und er erschöpft sich auch nicht darin - ich habe das bereits gesagt -,
tärkontingente bereitzustellen. Unsere gesamte Außenpolitik ist gefragt. Zur Krisenvorbeugung gehört auch, daß man stabile Sicherheitsstrukturen schafft. Wir sind ja dabei. Unser Hauptziel ist die Festigung und der Ausbau der Europäischen Union, darüber hinaus das Erreichen einer Sicherheitsarchitektur in Gesamteuropa, unter Berücksichtigung der russiUlrich Irmer
schen Interessen. Unsere unmittelbaren östlichen Nachbarn, die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas erwarten, daß wir sie in unsere Organisation aufnehmen, daß wir zu ihrer politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung beitragen. Hier ist unsere Politik gefragt. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen; dann erleichtern wir auch den Vereinten Nationen langfristig ihre Arbeit. Vielleicht gibt es dann weniger Krisen, weniger Streitpunkte.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf einen Aspekt hinweisen, der leider zu selten gesehen wird, nämlich die kulturelle Dimension. Die Welt besteht aus Ländern mit den unterschiedlichsten politischen Strukturen, insbesondere aber aus Völkern mit dem unterschiedlichsten kulturellen Hintergrund, mit unterschiedlichen Religionen, Gebräuchen, allgemein akzeptierten Vorstellungen von Ethos, Sittlichkeit usw.
Die Welt ist heute zum Teil geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Islam. In einigen Weltgegenden ist der Islam ja leider aggressiv geworden. Wir sollten uns aber sehr davor hüten, diese Religion als solche zu verdammen. Ich begrüße es außerordentlich, daß Herr Kinkel für Mitte November zu einer großen Konferenz hier nach Bonn eingeladen hat, die sich mit dem Islam beschäftigt. Wenn wir nicht die kulturelle Andersartigkeit anderer kennenlernen und uns mit ihr beschäftigen, werden wir sie nicht verstehen können. Dann werden wir auch nicht wissen, wie wir mit diesen Menschen, mit diesen Völkern, mit diesen Ländern umzugehen haben. Deshalb ist auch dies ein unmittelbarer Beitrag zur weltweiten Friedenssicherung.
50 Jahre Vereinte Nationen - wir wollen herzlich Glück wünschen; aber wir sollten das Unsere dazu beitragen.
Ich habe gerade von der kulturellen Dimension und vom internationalen Verständnis gesprochen. Ich muß betonen: Fangen wir auch da bei uns zu Hause an.
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Die Glaubwürdigkeit unserer Politik gegenüber anderen Ländern und in den Vereinten Nationen wird auch daran gemessen, wie wir im eigenen Lande mit Fremden, mit Ausländern umgehen,
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die, wenn sie in Deutschland geboren sind, keine Fremden mehr sind, sondern eigentlich zu uns gehören.
Deshalb meine ich, daß wir uns bei diesem Jubiläumstag, an dem wir 50 Jahre Vereinte Nationen feiern, alle aufgerufen fühlen sollten, auf unsere Mitbürger fremder Herkunft in Deutschland zuzugehen, um dadurch einen Beitrag zur Verständigung und zum Frieden zu leisten. Diese Aufgabe ist nicht auf die Politiker begrenzt, sondern an ihr kann jeder Bürger mitwirken.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile das Wort der Abgeordneten Andrea Lederer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Irmer, ich bin ganz dankbar, daß Sie immer vor mir an der Reihe sind, da Sie wirklich ausgezeichnete Vorlagen liefern. Das muß ich einmal sagen.
Wenn Sie wiederum den Satz bemühen - er trifft ja zu - „Die UN sind nur so gut, wie ihre Mitglieder es sind" und wenn Sie davon sprechen, daß es bestimmte Ansätze gebe, daß, wenn Bürger nicht zufrieden seien, sie den Staat beschimpften und ihn verantwortlich machten, muß ich Ihnen sagen: Lassen Sie die Bürger in diesem Land ein bißchen mehr entscheiden, und setzen Sie sich in den UN dafür ein, daß die Staaten, die immer wieder gerade durch die UN-Politik der Industrienationen benachteiligt werden und nicht zum Zuge kommen, mehr Entscheidungen treffen können. Sie haben sich mit Ihrer Argumentation ins eigene Fleisch geschnitten.
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Ich möchte auf etwas eingehen, was Ihr gesamter Beitrag meiner Meinung nach ganz stark vermissen läßt; das gilt auch für den Beitrag des Bundesaußenministers, auf den ich noch zurückkommen will. Selbstverständlich unterstelle ich der Bundesregierung nicht, daß sie Alleingänge plant
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- ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie weiter zuhörten -, auch nicht in militärischer Hinsicht. Das Problem liegt ganz woanders. Das nationale Interesse dieses Landes läßt sich derzeit durchaus besser durchsetzen, wenn es sehr massiv in internationale Organisationen eingebracht und dort geltend gemacht wird. Das ist das Problem; das ist die Gefahr, die in der Politik der Bundesregierung liegt. Das bezeichnen wir übrigens auch als Militarisierung der deutschen Außenpolitik.
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Wenn Sie anführen, daß man etwas Gutes damit täte, z. B. bei der Schaffung neuer Märkte in der sogenannten Dritten Welt auch nationales Interesse zu befriedigen, weil dadurch die Exportmöglichkeiten der deutschen Industrie gesteigert würden, dann vermisse ich eine gewisse Art von Altruismus in der internationalen Politik, wie Sie sie formulieren.
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Das heißt, daß Sie nicht immer nur im Auge haben sollten: Wie nützt es diesem Land? Vielmehr sollten Sie, wenn Sie konstatieren, daß die Welt von übergreifenden, internationalen, globalisierten Problemen bedroht ist, die überhaupt nicht in irgendeinem nationalen Rahmen zu lösen sind, diese Frage einmal außen vor lassen und überlegen: Was dient den InterAndrea Lederer
essen der Menschen, die an der untersten sozialen Skala in der Welt stehen? Das muß der Ansatzpunkt sein und nicht die Frage, wie deutsche Exportchancen in der Welt irgendwo verbessert werden können.
In diesem Sinne will ich mich der Kritik an dem Boykott des Bundeskanzlers gegenüber den Geburtstagsfeierlichkeiten anschließen. Es ist Ausdruck der bundesdeutschen UN-Politik; es ist wirklich die Arroganz der Macht, die da zum Ausdruck kommt. Sie hätten gut die Gelegenheit haben und nützen können, beispielsweise mit Herrn Arafat darüber zu reden, wie die Bundesrepublik den Friedensprozeß im Nahen Osten besser unterstützen kann, oder etwa mit Herrn Castro darüber zu reden, wie die Bevölkerung in Kuba unterstützt werden kann, wie Milchpulver an Kuba geliefert werden kann.
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Es gäbe eine Menge Themen, die bei bilateralen Gesprächen angesprochen werden könnten und die das, was Herr Bundesaußenminister Kinkel in seiner Rede gesagt hat, daß die Wiedervereinigung ein Jahrhundertgeschenk sei und deshalb eine besondere Verpflichtung gegenüber den UN bestünde, unterstrichen. Das haben Sie, Herr Bundeskanzler, mit Ihrem Verhalten konterkariert.
Ich will noch zu zwei Punkten Stellung nehmen. Es ist immer wieder die Rede von der Finanz- und Strukturkrise der Vereinten Nationen. Ich würde schon ganz gerne einen kleinen Gegenpunkt zu den Lobeshymnen zum deutschen Finanzverhalten setzen wollen. Absolut gesehen steht die Bundesrepublik an dritter Stelle. Erstens finde ich, muß man sich nicht in Lobeshymnen darüber ergehen, daß man Beiträge pünktlich zahlt. „Pacta sunt servanda" habe ich im ersten Semester Jura gelernt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, Beiträge, zu denen man sich verpflichtet hat, pünktlich zu zahlen.
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Zweitens. Wenn Sie die Beitragszahlung der Bundesrepublik mit dem Bruttosozialprodukt vergleichen, was in diesem Land erwirtschaftet wird, sieht es überhaupt nicht mehr so rosig aus. Das wäre mit ein Punkt zum Thema Finanzreform in der UN, sozusagen auch die Beitragsverpflichtungen anzupassen.
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Drittens will ich Ihnen sagen, daß es nicht nur um Fragen der Zahlungsmoral geht, sondern daß die Finanzkrise der UN ganz gravierende Auswirkungen im Hinblick auf Demokratiefragen und auf politische Entscheidungen hat, die beispielsweise auch im Sicherheitsrat behandelt werden.
Nehmen wir das Beispiel, über das wir in der nächsten Zeit noch zu debattieren haben: die sogenannte NATO-Friedenstruppe für Bosnien-Herzegowina. Es gibt einen Brief vom Generalsekretär der Vereinten Nationen. Aus dem geht hervor, daß ein zentraler Grund, warum diese eigentlich klassische Aufgabe der Vereinten Nationen, nach einem vereinbarten Waffenstillstand einen Friedensschluß im Konsens
mit allen Konfliktparteien auszuhandeln, diese auseinanderzuhalten, um eine weitere politische und friedliche Entwicklung zu ermöglichen, nicht von ihnen übernommen werden kann, sondern auf die NATO delegiert werden: Es fehlt an Geld. Das um den Preis, daß man schwierigste Verhandlungen mit Rußland führt, das ohnehin ununterbrochen wegen der ganzen Diskussion um die NATO-Ostausdehnung vor den Kopf gestoßen wird, daß man versuchen muß, eine Regelung zu finden, wie sich Rußland unter ein NATO-Kommando sozusagen fügt, was eigentlich angesichts der gesamten Konstellation unzumutbar ist. Das sind Auswirkungen dieser sogenannten Finanzkrise. Das heißt, diese Finanzkrise hat nicht nur existenzgefährdende, sondern auch tatsächlich friedensgefährdende Ausmaße angenommen.
Ein zweites Beispiel. Heute lesen wir in der „TAZ" : „Internationaler Strafgerichtshof zu Jugoslawien scheitert fast an Finanznot." Wieso weigert sich nach wie vor die Bundesregierung zusätzlich und freiwillig Beiträge zu leisten, damit dieser Strafgerichtshof arbeiten kann? Wieso verweisen Sie darauf, daß es damit getan sei, die Beiträge zu leisten, zu denen Sie sich verpflichtet haben? Wenn man das politisch ernst nimmt, was man in schönen Worten bei solchen Feierstunden verkündet, dann meine ich, sollten auch Taten folgen. Dann reicht es nicht, nur darauf zu verweisen, daß andere nicht pünktlich und nicht genug zahlen, sondern man muß sich an die eigene Nase fassen.
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Wenn Sie von Reformen der Vereinten Nationen sprechen, dann werden wir mißtrauisch. Aus unserer Sicht ist es dringend nötig, sich wirklich grundsätzlich mit den Dingen auseinanderzusetzen, die beispielsweise auch die Weizsäcker-Kommission vorgeschlagen hat. Es liegen eine ganze Reihe von Anträgen auf dem Tisch, die eine Reform des Sicherheitsrates, eine Stärkung der Generalversammlung und vor allem eine Stärkung der zivilen, nichtmilitärischen, der sozialpolitischen Aufgaben der Vereinten Nationen bedeuten würden, wenn sie umgesetzt würden, wenn hierfür der politische Wille vorhanden wäre.
Deshalb ist es fatal, wenn der Bundesaußenminister im Grunde genommen zu zwei Punkten gesprochen hat: Erstens: Wie kann dieses Land einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat erhalten? Ich kann mich dabei der Argumentation des Kollegen Lippelt nur vollständig anschließen, der dies kritisiert hat. Zweitens: Um dieses Ziel zu erreichen, wird erneut dafür plädiert, per militärischem Engagement auch in Bosnien-Herzegowina „Verantwortung" zu übernehmen. Übernehmen Sie die weltpolitische Verantwortung, die Sie hier deklarieren, endlich in ziviler, in nichtmilitärischer Hinsicht. Greifen Sie endlich die Vorschläge, die von allen möglichen Seiten unterbreitet werden, auf, anstatt in dieser ganzen DiskusAndrea Lederer
sion immer wieder alles auf das Militärische zu reduzieren, anstatt immer nur Machtansprüche geltend zu machen, erneut Machtpolitik zum Ausdruck zu bringen.
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Ich würde vorschlagen, daß Sie endlich den Vorschlag, der auch aus Ihren eigenen Reihen kommt, beispielsweise die Entwicklungshilfe hierzu auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts aufzustocken, umsetzen. Das ist Ausdruck Ihrer Politik gegenüber dem Rest der Welt. Insofern war das Beispiel, das der Kanzler mit seinem Boykott gegeben hat, nicht nur symbolisch, sondern alarmierend. Ich hoffe, daß hierzu auch international kritische Anmerkungen gefunden werden.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Wort.
Vielleicht fünf Minuten. Angesichts der Debatte und angesichts dessen, was hier zum Teil gesagt wird, können fünf Minuten sogar ausreichen.
Frau Lederer, ich weiß nicht, ob Sie keine Zeitungen lesen. Glauben Sie wirklich, ich muß, nachdem ich im Sommer dieses Jahres einen ganzen Tag bei Arafat war, extra nach New York reisen, um mit ihm sprechen zu können?
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Was reden Sie denn für Sachen? Sagen Sie doch die Wahrheit. Wer hat den Friedensprozeß in der Europäischen Union mehr unterstützt als die Bundesrepublik Deutschland, als der Außenminister Klaus Kinkel, als ich?
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Sie wissen das doch, also verbreiten Sie keine Sachen, die hinten und vorn nicht stimmen.
Im übrigen finde ich es bemerkenswert, daß Sie ans Pult gehen und darüber reden, daß geschlossene Verträge eingehalten werden müssen. Sie vertreten doch die Ideologie eines untergegangenen Staatswesens, die die Teilung Deutschlands mit herbeigeführt hat. Sie haben Ihre Schulden bei den Vereinten Nationen nicht bezahlt.
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Die deutschen Steuerzahler im Westen, die Sie jahrelang verunglimpft haben, müssen jetzt Ihre Schulden bezahlen. Hören Sie also auf, das Parlament mit solchen Mätzchen zu behelligen. Das ist wirklich unerträglich.
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Ich hätte es sehr gut gefunden, wenn ich etwas von den Rednern zu dem ganz vorzüglichen Antrag - so sehe ich das -, den die Kollegen aus der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion vorgelegt haben, gehört hätte. Ich kann ihn Wort für Wort unterstreichen und unterstützen. Das ist die Darlegung unserer gemeinsamen Politik, der Koalition und der Bundesregierung.
In diesem Sinne handeln wir. Das gilt in besonderem Maße für den Bundesaußenminister, dem ich ausdrücklich für seine Arbeit in diesem Zusammenhang danken will, und selbstverständlich auch für mich.
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- Führen Sie keine Gespensterschau auf! Sie wird auch nicht besser, wenn der Abgeordnete von den Grünen mit seiner Statur erscheint; deswegen wird es nicht überzeugender, auch dann nicht, wenn Sie diese Zwischenrufe machen.
Die Bundesregierung läßt sich von überhaupt niemandem in Europa oder anderswo in ihrer Unterstützungsbereitschaft für die Vereinten Nationen übertreffen. Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist doch für Sie ganz einfach zu erfragen. Sprechen Sie doch einmal mit den UN-Generalsekretären aus der bisherigen Amtszeit dieser Bundesregierung. Sie werden von Pérez de Cuéllar und Boutrous Ghali hören, daß die Deutschen, wo immer die Generalsekretäre Wünsche vorgetragen haben, die in einem erfüllbaren Rahmen waren, die Vereinten Nationen unterstützt haben.
Wir haben das bei wichtigen Konferenzen getan, aber auch in vielen Details. Wir haben es auch in einem Bereich getan, in dem ich mich schwertue. Wenn ich die Personalstruktur der Vereinten Nation und unseren Anteil an den Kosten betrachte, den wir dort tragen, dann waren wir doch zurückhaltend. Es gibt keine Spur von einer imperialen deutschen Politik. Lassen Sie also solche Gespenstergeschichten.
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Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Ich brauche auf die Charta der Vereinten Nationen nicht weiter einzugehen. Wir sind der Meinung, daß gerade an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in einer Welt, die nicht friedlicher geworden ist, die Arbeit der Vereinten Nationen wichtig, entscheidend und förderungswürdig ist, daß wir sie, wo immer wir es können, unterstützen. Wir wissen aber auch - das wurde in der Debatte bereits gesagt -, daß man die Vereinten Nationen für alles verantwortlich macht,
auch in kleinen Teilen der deutschen Öffentlichkeit, obwohl die Vereinten Nationen Dinge nicht positiv erledigen können, wenn ihnen Mittel und Möglichkeiten nicht gegeben sind.
Angesichts der schwierigen internationalen Situation, die wir haben - denken Sie an den Nahen Osten, denken Sie an bestimmte Entwicklungen in Asien, denken Sie bei uns in Europa an Jugoslawien -, kann ich doch nicht sagen, der UNO-Generalsekretär müsse solche Probleme über Nacht lösen, wenn nahezu alle unmittelbar vor Ort Verantwortlichen nicht den notwendigen Willen aufbringen, zu vernünftigen Lösungen zu kommen.
Gerade das Beispiel Jugoslawien zeigt, daß man leider den Faktor Zeit einrechnen muß, der für die betroffenen Menschen unendliche Schwierigkeiten mit sich bringt.
Ich will auch noch ein Wort zum Thema der Finanzen sagen. Meine Damen und Herren, ich habe dieses Thema bei jeder Gelegenheit angesprochen. Auf der letzten G-7-Konferenz in Halifax in Kanada im Sommer habe ich die amerikanischen Kollegen und andere sehr direkt darauf angesprochen.
Ich will hier ausdrücklich den Präsidenten der Vereinigten Staaten in Schutz nehmen. Er hat wirklich das Menschenmögliche getan. Wenn sein Parlament - es ist ein frei gewähltes Parlament - ihm bisher die Mittel verweigert hat, ist das bedauerlich. Wir können zwar unsere Möglichkeiten wahrnehmen, auch dem Parlament dort etwas zu sagen, aber ich lehne es ab, den amerikanischen Präsidenten anzugreifen.
Ich weiß, daß er sehr stark empfindet, wie schlecht und schwierig die Position der Amerikaner ist, wenn man die Vereinten Nationen in New York im eigenen Land hat und selber seinen Finanzverpflichtungen nicht nachkommt.
Wenn Ende Oktober/Anfang November 1995 von 185 Mitgliedern der Vereinten Nationen - Klaus Kinkel hat ja die Zahlen genannt - erst 67 ihren Beitrag gezahlt haben, dann kann ich nur sagen: Ich empfinde das als skandalös, und ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren.
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Ich spreche jetzt von dem normalen Organisationsbeitrag; ich rede nicht von den Sonderbeiträgen, die im Zusammenhang mit bestimmten Aktivitäten in der Welt erhoben werden.
Wenn wir, die Deutschen, 120 Millionen Dollar zahlen - und wir zahlen sie -, dann ist das völlig berechtigt. Ich halte diesen Betrag im übrigen auch für angemessen. Die Rechnung, die hier eben aufgemacht wurde, halte ich für ziemlich abwegig; denn wenn Sie eine solche Rechnung aufmachen, kommen Sie bei vielen kleineren Ländern zu ganz anderen Beträgen.
Ich habe auch volles Verständnis, daß unter den 185 Mitgliedern der Vereinten Nationen Länder sind, die, weil sie zu den ganz armen Ländern gehören, selbst ein paar Millionen Dollar - so sind zum Teil die
Beträge - nicht bezahlen können. Aber ich bleibe bei meiner These, daß es ein Skandal ist, daß die große Mehrheit der Nichtzahlenden solche Beträge sehr wohl zahlen kann.
Wie wollen wir eigentlich in Deutschland bei denen, die hier Steuern zahlen, Sympathie für eine Institution erwecken, wenn wir klaglos darüber hinweggehen, daß nicht bezahlt wird? Deswegen habe ich das hier noch einmal deutlich gesagt.
Wir haben im übrigen in bezug auf das Geld nie eine Verbindung zur Frage des ständigen Sitzes im Weltsicherheitsrat geknüpft; dazu haben Sie erstaunliche Dinge hier vorgetragen.
Zunächst erstaunt mich schon, daß ein Redner der SPD dieses Thema so aufzieht. Wenn ich mich nicht täusche - ein bißchen kenne ich doch Ihre Parteigeschichte -, haben Sie dazu sogar einen Parteitagsbeschluß. Ist das so?
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Jetzt bin ich einmal bereit - auch Klaus Kinkel, die Bundesregierung und die Koalition -, einen SPD-Parteitagsbeschluß zu realisieren, und jetzt sind Sie auch dagegen.
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Ich kann nur sagen: Wenn das kein Parteitagsbeschluß ist, ist es jedenfalls ein Beschluß Ihrer hochrangigen Gremien. Nach meiner Erinnerung hat die SPD früher als alle anderen das Thema des Sitzes im Weltsicherheitsrat angesprochen. Ich bin auch überhaupt nicht dagegen, daß Sie das ansprechen, ich bin nur dagegen, wie Sie das hier darstellen.
Zunächst einmal will ich hier feststellen: Die Bundesregierung hat in dieser Frage nie gedrängt. Es gibt Dutzende von öffentlichen Erklärungen von mir, in Deutschland wie auch international - Klaus Kinkel hat genau das gleiche gesagt -, wo ich immer darauf hingewiesen habe: Dies ist eine Frage, die wir mit großer Delikatesse behandeln, weil wir wissen, wie die Lage in Europa ist, nämlich daß zwei enge Freunde von uns in der Europäischen Union als ständige Mitglieder bei den Vereinten Nationen sind: Großbritannien und Frankreich. Der Prozeß in Paris und London war psychologisch sehr schwierig. Sie können das auf Grund von Indiskretionen von Mitarbeitern in den Tageszeitungen nachlesen. Nach dem, was von 1990 bis 1995 geschehen ist, habe ich Verständnis, daß es angesichts des bisherigen Vorrechts für Großbritannien und Frankreich nicht ganz leicht ist zu sagen: Wir wollen, daß auch die Deutschen und die Japaner dabei sind. Sie sagen es trotzdem. Alle Mitglieder des Weltsicherheitsrats haben in der Zwischenzeit erklärt, sie wollen den Beitritt der Deutschen.
Auch die Gruppe der 77 ist angesprochen worden. Das erstaunt mich noch mehr. Länder aus der Gruppe der 77 waren die allerersten, die mir gegenüber ganz offiziell bei jeder Gelegenheit erklärt haben, daß die Deutschen und auch die Japaner - in dieser Reihenfolge - Mitglied werden sollen.
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Natürlich habe ich niemals etwas anderes gesagt, als daß es nicht denkbar ist - jedenfalls nicht für mich -, den heutigen Weltsicherheitsrat zu nehmen und ihm einfach zwei weitere Mitglieder hinzuzufügen. Vielmehr ist nach 50 Jahren eine Umgestaltung zwingend erforderlich. Natürlich gibt es aus der Gruppe der 77 eine Menge Vorschläge - das wissen Sie auch -, etwa von Brasilien, Indonesien, Indien und Nigeria. Es gibt einen erheblichen Streit innerhalb der Gruppe der 77, wer Lateinamerika vertreten soll oder ob die demokratische Struktur eines bestimmten Landes in Afrika jetzt so ist, daß dieses Land das Vertrauen der anderen genießen sollte. Das gleiche wird von Ländern in Asien gesagt.
Wir haben das Thema nicht aufgebracht. Aber Sie können doch nicht erwarten, daß eine Bundesregierung - die immerhin den Amtseid geleistet hat, die Interessen des Landes zu vertreten -, wenn die anderen uns fragen: Seid ihr bereit, Verantwortung zu übernehmen?, nicht entgegnet: Ja, wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.
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Ich verstehe gar nicht, daß Sie dieses Thema überhaupt so hochspielen.
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Es müßte so sein, daß Sie bei aller Kritik - heute gibt es noch einen Punkt, bei dem Sie aus vollem Herzen Ihre Kritik abladen können; ich komme gleich darauf zu sprechen - sagen: Ungeachtet dieser Sache die Bundesregierung macht die UN-Politik sehr gut. Denn das wird weltweit so gesehen:
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Für Ihre These gibt es in keinem Land der Welt auch nur einen Anhaltspunkt.
Mein vorletzter Punkt. Sie können meine Entscheidung kritisieren, daß ich nicht nach New York gegangen bin. Das ist selbstverständlich. Ich habe meine Entscheidung getroffen und habe sie zu vertreten. Ihre Kritik haben Sie zu vertreten. Wenn ich nun höre, das werde weltweit kritisiert, möchte ich wissen, wer in der Welt das denn kritisiert. Ich kann niemanden entdecken. Wenn Sie jetzt sagen, es
werde in deutschen Zeitungen kritisiert: Was wird nicht alles kritisiert? Lesen Sie nicht, was die Zeitungen über die SPD schreiben? Sie müssen doch damit leben.
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Gestern haben Sie einen neuen Fraktionsvorsitzenden gewählt, mit respektablem Ergebnis, wie ich finde. Trotzdem werden Sie kritisiert. Das gehört zur Demokratie. So etwas regt mich gar nicht auf.
Meine Position ist und bleibt: Ich habe zu einem sehr frühen Zeitpunkt auch gegenüber den Verantwortlichen in den Vereinten Nationen zu der geplanten Festveranstaltung erhebliche Anmerkungen gemacht. Kritik kann man es nicht nennen, weil noch nichts feststand. Ich bleibe bei meiner These: Es macht keinen überzeugenden Eindruck auf die Bürger der Welt, wenn in einer solchen Weise Grußadressen abgegeben werden. Nach meiner Überzeugung war das nicht der richtige Weg.
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Die Bundesregierung hat sich zu Recht beteiligt. Von uns ging kein Affront aus. Meine Entscheidung ist die, die ich getroffen habe.
Sie haben gefragt, wann ich dort hinginge. Das wird in sehr absehbarer Zeit der Fall sein, und zwar wegen des für mich sehr wichtigen Themas, inwieweit wir im Blick auf die weltweit stagnierenden Entwicklungen bei der globalen Herausforderung im Umweltschutz neue Schritte einleiten. Ich bin darüber mit einer Reihe von Kollegen in Afrika wie auch in Lateinamerika im Gespräch. Das scheint mir der richtige Zeitpunkt zu sein, um einen speziellen Beitrag des Bundeskanzlers und der Bundesregierung in einer solchen Debatte zu bringen.
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Letzter Punkt. Ich verstehe nun wirklich, daß es Ihnen angesichts der internationalen Position der Bundesrepublik Deutschland zum Ende des Jahres 1995 und auch angesichts des Regierungschefs - er gehört ja irgendwie schon dazu - schwerfällt zu sagen: Die sind gut. - Daß Sie das nicht sagen, weiß ich. Aber die meisten in der Welt sagen es eben.
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- Gemessen an Ihnen bin ich das ganz gewiß nicht.
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Zu Ihrer Selbstgefälligkeit fehlt mir jede Voraussetzung.
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Herr Abgeordneter Fischer, vielleicht noch ein Rat an Sie: Mit meiner eben gemachten Bemerkung bin ich in Ihrer Fraktion mehrheitsfähig.
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Wenn die jeweilige Opposition, was sich ja ändert, denn die Regierung von heute ist die Opposition von morgen - ({14})
- Die Tatsache, daß Sie schon bei demokratischen Selbstverständlichkeiten klatschen, zeigt nur, daß Sie ziemlich weit aus der Spur gelaufen sind.
Die Regierung von heute kann - das ist der Grundsatz der Demokratie - die Opposition von morgen sein und auch umgekehrt. Ich wünsche der Bundesrepublik Deutschland - das sage ich jetzt so, wie ich es empfinde -, daß zu allen Zeiten die jeweilige Bundesregierung international das Ansehen genießen möge, das die jetzige Bundesregierung genießt, und zwar auf Grund der Leistungen nicht der Regierung allein, sondern der Deutschen, weil wir verläßliche, zuverlässige, vertrauenswürdige Partner geworden sind, weil wir keine imperiale Politik, wie hier wieder angedeutet wurde, im Sinn haben, weil wir versucht haben, am Ende dieses Jahrhunderts, in dem in deutschem Namen soviel Schreckliches über Deutschland, Europa und die Welt gebracht wurde, aus der Geschichte zu lernen.
Deswegen bleiben wir bei unserer Politik der Unterstützung der Vereinten Nationen. Wir tun das mit Augenmaß, aber nicht, indem wir uns das Recht versagen lassen, Kritik zu üben, wo wir Kritik für notwendig halten.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Günter Verheugen.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tatsache, daß der Bundeskanzler in diese Debatte eingegriffen hat, kann nur so gewertet werden, daß Ihnen, Herr
Bundeskanzler, sehr wohl bewußt ist, daß Sie einen schweren Fehler gemacht haben.
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Sie haben hier den Versuch einer Schadensbegrenzung gemacht, der Ihnen leider nur teilweise gelungen ist.
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Gerade weil in diesem Hause über die Jahre hinweg in der Frage der Politik gegenüber den Vereinten Nationen eine große Gemeinsamkeit bestanden hat - wenn Sie sich die Reden genau angehört haben, haben Sie festgestellt, daß dies auch heute sichtbar geworden ist -, gerade weil wir alle darin übereinstimmen, daß unsere Außenpolitik in die internationalen Strukturen eingebunden sein muß, wäre es wichtig gewesen, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Prioritäten richtig setzen und 50 Jahre Vereinte Nationen doch für wichtiger halten als 50 Jahre CSU.
({2})
Ich will Ihnen nur ein paar kleine Zitate aus den letzten Tagen vortragen. Die uns wahrlich nicht nahestehende „Bonner Rundschau" - ein Leib- und Magenblatt Ihrer eigenen Leute - schreibt:
Daß Helmut Kohl die Reise schlicht als überflüssig ansah und dies auch noch damit begründete, daß ihm die für alle festgelegte Redezeit zu kurz sei, muß schlicht als Instinktlosigkeit gewertet werden.
({3})
Dann sagt die „Bonner Rundschau":
Auf die eine oder andere Weise wird Bonn für den überflüssigen Affront früher oder später die Quittung erhalten.
Zu Herrn Kinkel wird gesagt, daß seine Bemühungen vom eigenen Bundeskanzler völlig ad absurdum geführt wurden.
Die „Stuttgarter Zeitung" schreibt:
Nichts gegen Kinkel, aber Kohls Verhalten wirkt überheblich, großmächtig.
Die „Süddeutsche Zeitung" berichtet von einem übernächtigten und übermächtigten Klaus Kinkel, der für die Arroganz seines Chefs büßen muß. Es lohnt sich, einmal zu lesen, was Herrn Kinkel in New York widerfahren ist.
({4})
Die „Frankfurter Rundschau":
Seinem Land aber hat der Kanzler durch Sitzenbleiben in Bonn keinen Dienst erwiesen.
({5})
Erneut die „Süddeutsche Zeitung":
Kohl sagt, er wolle nicht nur eine „fünfminütige
Rede" bei der UN halten. Das ist die klassische
Arroganz des Kanzlers und Besserwisserei gegenüber Chirac, Major, Murayama etc.
({6})
Das ist eine so eindeutige und übereinstimmende Auffassung der deutschen Presse, daß Sie nicht daran vorbeikommen.
Selbst die „Bild"-Zeitung schreibt ja - ({7})
Nein, das ist ja etwas ganz anderes. Die „Bild"-Zeitung schreibt, daß Sie Herrn Kinkel entlassen wollen. Das hat man mir falsch dazugelegt; es tut mir leid.
({8})
Aber wenn ich es schon dabeihabe, kann ich es ja zitieren. Da werden Sie im Zusammenhang mit Spekulationen über die Entlassung von Herrn Kinkel wörtlich zitiert, Herr Bundeskanzler, von Ihrem Lieblingskolumnisten Graf Nayhauß. Jedenfalls behauptet er immer, er sei das. Ich weiß, er war einmal in Ungnade gefallen, aber inzwischen darf er wieder.
Da steht:
Nachdem er - Kinkel schon den Parteivorsitz verlor, nun auch noch das Außenministerium abgeben? Wer soll ihm denn das beibringen?
Dann schreibt Graf Nayhauß:
Wer sonst, wenn nicht der Kanzler?
Na, wir sind gespannt. Wir werden es ja erleben.
(
Das ist also Ihr Beitrag zur UN-Debatte!)
Ich sagte, ich hatte die „Bild"-Zeitung zufällig mit dabei. Aber Sie haben für internationale Debatten ja intellektuelles Niveau verlangt. Ich dachte, wenn Sie intellektuelles Niveau verlangen, ist die ,,Bild"-Zeitung vielleicht doch das Richtige.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen zur Sache machen. Was den Sicherheitsrat angeht, Herr Bundeskanzler, haben Sie vollkommen recht. Ich bin der erste gewesen, der als deutscher Außenpolitiker die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat für richtig erklärt hat.
({0})
Da gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen uns, weil wir wollen, daß unser Land in diese internationalen Strukturen eingebunden wird und seiner Verantwortung gemäß handelt. Die Frage ist: Wie betreibt man das? Die Frage ist auch: Wie groß sind die Schwierigkeiten, und wie geht man mit denen um?
Ich muß Ihnen noch eines sagen: Es ist hier mit Recht auf die regionalen Probleme hingewiesen worden - Lateinamerika, Asien, Afrika -, und es wird lange dauern, ehe sie sich einigen können. Es ist ebenfalls mit Recht auf das völlig ungelöste Problem des Vetorechts hingewiesen worden.
Wenn Sie sich mit Ihren Partnern unterhalten - das tun Sie ja -, dann wissen Sie doch, daß diese nicht daran denken, ihren eigenen Status in den Vereinten Nationen zu schmälern. So eindeutig ist es noch nicht, daß neue ständige Mitglieder ein Vetorecht bekommen. Das ist alles noch völlig unklar. Die amerikanische Regierung hat unlängst auch wieder öffentlich erklärt, daß ihre Position in dieser Frage nicht festgelegt ist - im Gegensatz zu dem, was uns hier erzählt wurde. Die Position ist nicht festgelegt.
({1})
- Das ist doch nicht mein Problem. Ich bin doch nicht dazu da, die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu puschen. Dafür ist Herr Kinkel da. Das macht er ja. Ich weise nur auf die Schwierigkeiten hin und darauf, daß es realistisch ist anzunehmen, daß diese Sache nicht so schnell zustande kommt und daß es deshalb kein prioritäres Ziel der deutschen Außenpolitik ist und daß es keinen Sinn macht, die ganze diplomatische Maschinerie der Bundesrepublik Deutschland jahrelang mit der Frage zu beschäftigen, wie man in den Sicherheitsrat kommt.
({2})
Wir werden nicht allein hineinkommen. Wir wollen es auch nicht allein. Wir wollen es auch nicht mit Japan allein, sondern es kann nur im Kontext einer regionalen Reform des Sicherheitsrats geschehen, und es sollte auch im Kontext einer inhaltlichen Reform geschehen. Hier fehlen allerdings die deutschen Beiträge auch noch.
({3})
Die Finanzen sind ein uraltes Thema. Darüber haben wir hier x-mal diskutiert. Es ist wunderbar, daß die Bundesrepublik Deutschland zahlt. Es reicht aber nicht aus, andere anzuklagen, daß sie nicht zahlen, und darauf zu verweisen, daß man selber zahle. Man müßte sich vielleicht einmal überlegen, was man machen kann, um die Zahlungsmoral in den Vereinten Nationen zu erhöhen. Da wäre ein deutscher Beitrag durchaus angemessen, denn Deutschland als das Land, das seine Beiträge leistet, hat die moralische Legitimation, hier einen Vorschlag zu machen. Der Vorschlag könnte z. B. lauten, daß die Mitwirkungsrechte in den Vereinten Nationen suspendiert sind, solange jemand seine Beiträge nicht bezahlt hat. Das wäre etwas, was über Lippenbekenntnisse hinaus dazu führen könnte, daß die extreme Finanzenge der Vereinten Nationen überwunden wird. Daß sie überwunden werden muß, darin stimmen wir vollkommen überein, denn wir alle wissen, daß ohne starke,
leistungsfähige und handlungsfähige Vereinte Nationen das, was wir alle wollen, eine vorbeugende Bekämpfung der Konflikte in der Welt, nicht möglich sein wird.
Danke schön.
({4})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Armin Laschet.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte wurde durch den letzten Beitrag des Kollegen Verheugen von den Inhalten weggeführt, die wir mit den Anträgen einzubringen versucht haben. Herr Verheugen, ich begreife Ihre Schärfe gar nicht. Sie lesen seitenlang Artikel der Morgenpresse vor, als seien Sie ein Nachrichtensprecher, der die Presseschau vorliest. Was ist Ihre politische Botschaft? 90 % unseres Antrags hat die SPD übernommen und mitgetragen. Warum sagen Sie dies hier nicht, anstatt sich mit solchen kleinkarierten Dingen aufzuhalten?
({0})
Lieber Herr Verheugen, die UNO lebt davon, wie man sie kritisiert und in welcher Art man über sie redet. Sie haben sich nicht nur heute, sondern auch bei anderen Gelegenheiten durch eine besonders scharfe und besonders unsensible Sprache ausgezeichnet. Sie haben in Ihrer letzten Rede, als es um Somalia ging und wir über die UNO gesprochen haben, vor einem „afrikanischen Vietnam" gewarnt.
({1})
Sie haben in Fernsehinterviews gesagt, das sei der größte Flop der Weltgeschichte. Mit solchen Sprüchen, Herr Verheugen, dienen sie nicht der UNO und machen Sie nicht erkennbar, daß die Mitgliedstaaten und nicht die UNO selbst die Schuldigen sind. Sie nähren damit alle Vorurteile der UNO-Kritiker. Das sollten Sie unterlassen.
({2})
Unser Ziel ist es, am weltweiten Bewußtsein und an einer Bekämpfung der Gefahren unserer Zeit mitzuwirken. Es war gerade der deutsche Bundeskanzler - auch das könnten Sie bei einer solchen Gelegenheit einmal erwähnen -, der sich in Rio für die Ziele der Konferenz eingesetzt hat. In dieser Woche wurde die Studie von BUND und Misereor vorgestellt, in der Überlegungen über ein zukunftsfähiges Deutschland angestellt werden. Es ist gerade der UNO zu verdanken, daß solche Dinge auch bei uns eine Öffentlichkeit finden. Die Rio-Konferenz war dabei ein ganz wesentlicher Bestandteil.
Deshalb brauchen wir die UNO. Der Bundeskanzler hat bei der Klimaschutzkonferenz in Berlin diesen UNO-Prozeß noch einmal vorangebracht. Herr Fischer ist jetzt nicht da. Er ist sicher ein Leser der „taz". Sie hat damals kritisch gefragt: „Darf man Helmut Kohl loben?" Der Beitrag endete dann damit: Solange der Prozeß des Klimaschutzes Aussicht auf Erfolg hat, darf man Helmut Kohl loben. Auch Ihnen stände es heute gut an, den Bundeskanzler für die Dinge zu loben, die er in der UNO vorangebracht hat, und sich nicht kleinkariert über seinen Terminkalender zu ergehen.
({3})
- Herr Fischer steht ganz hinten und möchte eine Frage stellen, Herr Präsident, Herr Brecht ebenso.
Herr Fischer, ich habe Sie nicht gesehen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer?
Ja.
Bitte, Herr Fischer.
Herr Abgeordneter, nachdem Sie sich so darüber freuen, daß die „taz" die Frage „Darf man Helmut Kohl loben?" gestellt hat und die „taz" dies mit Ja beantwortet hat, und Sie dies gewissermaßen als eine autoritative Äußerung nehmen: Wären Sie auch bereit, die in der Regel häufigen Nein-Antworten der „taz" ebenfalls zustimmend von Ihrer Seite zu unterstützen?
({0})
Wenn ich in den Reihen rechts von der Grünen-Fraktion sitze, habe ich mich manchmal über Ihre Originalität gewundert und mich daran gefreut. Diese Frage war jetzt nicht ganz so originell wie Ihre sonstigen Zwischenrufe.
({0})
Ich lese die „taz", es gibt dort auch manche interessanten Bemerkungen.
({1})
Aber es geht hier darum, ob in diesem Parlament von seiten der Opposition nur billig kritisiert wird und ob Sie in den substantiellen Fragen der UNO, in denen dieser Bundeskanzler etwas vorangebracht hat, weiterhin einäugig bleiben und selbst der „taz" nicht glauben, die dies ab und an schon bestätigt hat.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Brecht?
Ja.
Herr Brecht, Sie haben das Wort, bitte.
Herr Kollege Laschet, Sie klagen hier ein, daß die Opposition doch die Arbeit der Bundesregierung etwas würdigen soll. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir eine Feierstunde des Deutschen Bundestages haben wollten, die am Widerstand Ihrer Fraktion gescheitert ist. Deswegen frage ich Sie, ob nicht bei einer solchen Debatte natürlich auch einmal über solche Dinge gesprochen werden muß, die bei der deutschen UN-Politik verbesserungswürdig sind, ob das das 0,7-%-Ziel ist, das die nordischen Staaten bereits erreichen, ob es die Frage der Koordination zwischen den einzelnen Ressorts ist oder ob es die Frage der Reformvorstellungen des ECOSOC ist. Wir diskutieren doch diese Fragen. Auch Sie kennen die Defizite dabei genau. Ich fände es intellektuell redlich, wenn Sie dies ebenfalls erwähnten.
Herr Kollege Brecht, ich habe gar nichts gegen die Kritik. Aber intellektuell redlich wäre es gewesen, wenn Sie in Ihrem allerersten Beitrag für die SPD-Fraktion über diese Fragen gesprochen hätten. Aber Ihr Hauptproblem ist der Terminkalender des Bundeskanzlers, und es sind eben nicht diese Fragen, die wir in den Ausschüssen hoffentlich gemeinsam erörtern werden. Vielleicht kehren Sie denn zur Sachpolitik zurück, anstatt über solche Dinge hier so großartig zu diskutieren.
({0})
Im übrigen haben wir, Herr Kollege Brecht, keine Feierstunde verhindert. Unsere Position war vielmehr, daß eine Debatte im Plenum angemessen ist, um ein solches Jubiläum zu begehen, und daß man nicht den Bundestag mit Feierstunden oder mit ausländischen Referenten, die vor dem Plenum sprechen, in eine Zuhörergalerie verwandeln soll. Die Ideen über die UNO auszutragen, das muß unser Ziel sein. Es darf nicht das Ziel sein, hier ständig Gäste zu empfangen.
Herr Kollege Laschet, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Ja.
Bitte, Herr Schily.
Herr Kollege, manchmal erfährt man im Bundestag auch etwas Neues. Ich habe jetzt von Ihnen gehört, daß die Bundesregierung die Konferenz in Rio zustande gebracht hat. Das ist für mich eine Neuigkeit; das nehme ich zur Kenntnis.
Auf diesem Hintergrund will ich Sie fragen: Mit der Erfüllung welcher Versprechen, die der Bundeskanzler in Rio de Janeiro abgegeben hat, ist in der Zwischenzeit auch nur ansatzweise begonnen worden?
Sie wissen genau, daß es eine umfangreiche Politik dieser Bundesregierung gibt, die darin besteht, national das umzusetzen, was in Rio erreicht worden ist. Sie wissen auch, daß es in Rio darauf ankam, diese Ziele erst einmal ins Bewußtsein der Weltöffentlichkeit zu tragen.
({0})
Lieber Herr Schily, es war doch keine Selbstverständlichkeit, daß auf den G-7-Gipfeln über diese Fragen geredet wurde. Das ist gelungen, und das ist wesentlich dem deutschen Beitrag zu verdanken.
({1})
Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der als Ko-Vorsitzender einer vom UNO-Generalsekretär einberufenen unabhängigen Arbeitsgruppe über die Zukunft der Vereinten Nationen nachgedacht hat, hat formuliert:
In der internationalen Politik hört man auf uns Deutsche, sei es, daß wir schweigen oder daß wir reden.
Herr Schily, das mag uns gefallen oder auch nicht. Wir sollten über die Visionen und Perspektiven für die Reform der Vereinten Nationen reden. Das sollten wir hier im Plenum tun, und das sollten wir in den Ausschüssen tun. Wir sollten mit unseren Kollegen im amerikanischen Kongreß reden und sie ermuntern, mit uns gemeinsam an der Reform und an der Stärkung der Vereinten Nationen mitzuarbeiten. Ferner sollten wir Überzeugungsarbeit in unsere Öffentlichkeit hinein leisten, damit nicht der Virus des nationalstaatlichen Denkens und der Virus des Rückzugs aus der internationalen Verantwortung vielleicht auch einmal unsere öffentliche Diskussion erreichen - davor sind wir nicht gefeit - und damit wir nicht, ähnlich wie es in Amerika geschieht, einen Rückfall erleiden,
({2})
Das können wir aber nur schaffen, wenn wir nicht das parteipolitische Hickhack betreiben, das wir heute morgen erlebt haben, sondern wenn wir die Gemeinsamkeiten in die Öffentlichkeit hineinbringen. Dazu möchte ich uns heute morgen noch einmal aufrufen. Im Ausschuß geht das sicher dann einvernehmlicher als hier im Plenum.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile dem Abgeordneten Gert Weisskirchen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Laschet, es wäre alles viel einfacher, wenn es nicht nur schöne Reden gäbe, die in Rio oder anderswo gehalten werden, sondern wenn man, wenn es darauf ankommt, die Politik in den Nationalstaaten so veränderte, daß man wenigstens schrittweise die Ziele,
Gert Weisskirchen ({0})
auf die man sich international verständigt hat, erreichen könnte. Das ist der zentrale Unterschied.
({1})
Ich möchte auf drei Trendverschiebungen aufmerksam machen, die mit der gesamten Debatte zusammenhängen und die es nach meiner Meinung um so dringlicher und notwendiger machen, daß die UNO gestärkt wird.
Das erste ist, daß 1950 - das muß man erinnern -, in jenem Zeitraum vor 45 Jahren also, nach einer langen Periode des Wachstums - über ein Jahrhundert lang - fast ein Drittel aller Menschen in entwickelten Ländern gelebt hat. Seit diesem Zeitpunkt ist der Anteil der Menschen, der in entwickelten Ländern lebt, um fast die Hälfte abgesunken: hier reiche Regionen auf der Erde, dort arme Regionen auf der Erde; hier reiche Regionen, deren Wohlstand immer noch wächst, wenn auch langsamer, dort arme Regionen, die in soziales Elend abzustürzen drohen.
Willy Brandt - er wurde heute schon einige Male erwähnt - hat das 1973 vor der Generalversammlung folgendermaßen ausgedrückt:
Not ist Konflikt. Wo Hunger herrscht, ist auf die Dauer kein Friede. Wo bittere Armut herrscht, ist kein Recht. Wo die Existenz in ihren einfachsten Bedürfnissen täglich bedroht bleibt, ist es nicht erlaubt, von Sicherheit zu reden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die nordischen Staaten es schaffen können, das Ziel zu erreichen, auf das wir uns gemeinsam international verständigt haben, nämlich 0,7 % des Bruttosozialprodukts in die Entwicklungshilfe zu geben, lieber Herr Kollege Finanzminister, dann kommt es darauf an, daß wir selbst diesem Schritt nachfolgen, gegenüber der Armut in der Welt, gegenüber denen, die Elend leiden. Der Bundeskanzler, der vorhin hier geredet hat, hat das ja zitiert. Wo aber bleibt denn unser Beitrag, um die Lücke, die wir füllen müssen, endlich wenigstens etwas kleiner zu machen?
({2})
Herr Kollege Laschet, darauf kommt es an: nicht nur großspurige Reden zu halten, sondern dem auch Taten folgen zu lassen.
({3})
Es ist richtig, was vom Kollegen Irmer gesagt worden ist: Sorge um das tägliche Brot ist das, was die überwiegende Mehrheit der Menschen auf dieser Erde in der Tat bedrückt.
Massenwanderung von den armen in die reichen Regionen ist die eine Antwort. Übrigens, wenn wir glauben, wir könnten unsere Grenzen deswegen einfach zumachen: Das wird uns nicht gelingen. Die Minderheiten tauchen doch schon längst auch bei uns in den großen Städten auf. Gehen Sie doch einmal in die USA. Schauen Sie sich doch die großen Städte an,. Das, was dort stattfindet, ist eine Migration aus Angst, aus Hunger, aus Not.
Vor dieser Migration werden wir uns durch überhaupt nichts, durch keine nationalen Instrumente schützen können. Vielmehr können wir nur versuchen, das ungeheure Gefälle, das es gerade wegen dieser sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit gibt, zu mildern. Das ist der entscheidende Punkt. Die UNO muß schon allein aus diesem Grunde gestärkt werden, damit der Bewußtseinsstand, daß wir in einer gemeinsamen Welt leben, von uns allen erreicht wird und damit wir dann endlich auch handeln, lieber Kollege Laschet.
({4})
- Lieber Kollege Ruck, ich bin sehr damit einverstanden, daß in Ihrem Antrag auch Vernünftiges steht. Wie Sie auch selber wissen, Kollege Laschet: Wir haben wesentliche Teile Ihres Antrags auch in unserem Antrag formuliert. In zwei zentralen Punkten gibt es aber deutliche Differenzen, die ich hier noch ansprechen will.
Der erste Punkt ist, daß Sie es nicht akzeptiert haben, daß die UNO Schritt für Schritt zu der wirklichen Macht auf dieser Erde ausgebaut werden soll, was dazu führen kann und soll, daß sie wirklich über die Machtmittel verfügen kann, um in entscheidenden Punkten auf dieser Erde ordnend eingreifen zu können. Das ist der zentrale Punkt, wo wir uns unterschiedlich verhalten.
Sie glauben, daß NATO, WEU und andere Instrumente dem vorgezogen und in einen bestimmten Zusammenhang gebracht werden könnten. Wir aber wollen, daß das Machtmonopol, das innerhalb des Staates demokratisch kontrolliert und auch zentralisiert werden soll - das ist der große Fortschritt, den wir in der Zivilisation in langen gesellschaftlichen Kämpfen durchgesetzt haben -, an die UNO delegiert wird. Das ist unser Ziel. Deswegen haben wir das sehr präzise so formuliert. Dem aber sind Sie nicht gefolgt. Das bedaure ich.
({5})
- Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage melden. Ich möchte noch einen zweiten Punkt ansprechen.
({6})
- Bitte schön.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Kollegen Lippelt. Ich habe die Wortmeldung nicht gesehen; ich bitte um Nachsicht. - Bitte schön.
Inhaltlich stimme ich mit allem, was Sie sagen, überein. Ich habe allerdings ein Verständnisproblem. Ich lese hier: Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und F.D.P. Gibt es diesen Antrag nicht mehr? Ist er zurückgezogen worden?
({0})
- Aha. Vielen Dank. - Der Kollege hat meine Frage schon beantwortet.
({1})
Ich möchte noch auf einen zweiten Punkt aufmerksam machen; das zeigt sich schon in den großen Debatten darüber, wie auf die unterschiedliche Gemengelage auf der Erde reagiert werden soll. Samuel P. Huntington hat dazu in seinem Aufsatz „The clash of civilisations?" gesagt, es komme darauf an, eine neue Trennlinie zwischen den großen kulturellen Regionen auf dieser Erde zu schaffen. Ich kann nur sagen: Wer solchen Gedanken folgt, der geht in die Falle, die er aufstellt, der folgt nämlich der Überlegung, daß die wirklichen Trennlinien die Kulturen auf dieser Erde sind, die miteinander im Streite liegen. Wer so denkt, bereitet intellektuell Kriege vor, die in der Realität tatsächlich eintreten könnten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muß Samuel P. Huntington auffordern, anders zu denken. Es geht nicht darum, daß die Zivilisationen aufeinanderprallen. Es muß darum gehen, den Dialog der Zivilisationen voranzutreiben; denn nur das ist eine Chance, aus den Kämpfen, die uns bevorstehen könnten, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Ich möchte noch einen weiteren Trend nennen, der sich in der UNO widerspiegelt und dort reflektiert wird. Die UNO wurde nach einem Krieg gegründet, dessen Aggressoren ausgezogen waren, die Souveränität anderer Staaten zu zerstören. Die Vereinten Nationen richteten daher ihr Hauptaugenmerk darauf, die Staatsbildung von Nationen zu unterstützen und zu fördern, so daß kein Mitgliedstaat der VN mehr eine Bedrohung seiner Unabhängigkeit oder gar einen kriegerischen Eingriff von außen in die staatliche Integrität erleiden muß.
Wir erleben aber durch die Globalisierung der Ökonomie, daß der Begriff und das Konzept des Nationalstaates selbst prekär geworden sind. Aber nicht nur das: Wir erleben auch, daß die internen Konflikte in diesen Staaten - ethnisch, religiös usf. - nicht mehr beherrscht werden können, wenn die Kohäsionskräfte in diesen Staaten so schwach werden, daß sie auseinanderfallen. In Jugoslawien oder anderswo kann man das nachvollziehen.
Es kommt darauf an, daß wir künftig nicht mehr nur die Integrität, die Souveränität von Nationalstaaten als das wichtigste Augenmerk unserer Politik betrachten. Es kommt vielmehr darauf an, daß die Lebensbedingungen von Menschen in den Mittelpunkt der Politik gerückt werden.
Ich möchte am Schluß Nelson Mandela zitieren - da es der Bundeskanzler leider nicht hat hören können, muß es hier gesagt werden; er kann es dann ja anderswo nachlesen -, der gesagt hat: Wir müssen einen neuen Führungsanspruch und eine neue Führungsfähigkeit für eine neue Zeit durchsetzen und installieren. Das ist das Entscheidende, worauf es heute ankommt.
In der UNO kristallisiert sich der Versuch heraus, auf die Konflikte dieser Erde mit anderen Mitteln als Gewalt zu antworten. Es kommt darauf an, die zivilen Kräfte unserer Gesellschaften so zusammenzuführen, daß am Ende eine globale zivile Gesellschaft herauskommen kann. In Peking haben wir schon erlebt, daß die Frauen und die NGOs, die Nichtregierungsorganisationen, die Vorboten dieser neuen, globalen zivilen Gesellschaft sind. Darauf kommt es an. Da es ein neues Bündnis geben wird, müssen wir zwischen den zivilen Gesellschaften in den Nationalstaaten und gemeinsam mit der UNO dafür sorgen, daß sich der Friede schließlich durchsetzt.
({0})
Ich erteile dem Abgeordneten Andreas Krautscheid das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte in der kurzen noch verbleibenden Redezeit auf drei Punkte eingehen. Zunächst ein freundlich gemeinter Beitrag zur Erleichterung der Binnenorientierung bei den SPD-Kollegen. Sie haben heute morgen mehrmals beanstandet, wir sollten nicht so häufig und so deutlich über einen Sitz im Sicherheitsrat sprechen. Das sei schon fast unanständig. Nur zur Erinnerung: Ich habe hier den Beschluß des SPD-Parteitages von 1993 in Wiesbaden - Zitat -:
In diesem Zusammenhang befürwortet die SPD einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat für die Bundesrepublik Deutschland.
Das stelle ich Ihnen gerne zur Verfügung. Vielleicht sehen Sie dort einmal hinein, Herr Verheugen.
({0})
- Sie können sich nicht daran erinnern, was Sie selbst beschlossen haben. Ich kann das bei dem Durcheinander bei Ihnen sehr gut verstehen. Vielleicht sehen Sie gelegentlich einmal in Ihre eigenen Parteitagsbeschlüsse.
({1})
Zum zweiten. Herr Weisskirchen hat gerade sehr impulsiv und sehr kräftig vorgetragen, man müsse den Ankündigungen Taten folgen lassen, man dürfe die UNO nicht im Stich lassen, wenn es an das Agieren gehe. Damit bin ich völlig einverstanden, d'accord. Zum Detail komme ich gleich. Nur, Herr Weisskirchen, ich erinnere mich daran, wer in diesem Hause riskiert hat, die UNO im Stich zu lassen,
als es wirklich einmal zur Sache ging, als es darum ging, ob wir zur Verfügung stehen. Da war doch in dieser Hälfte des Hauses Ebbe. Das ist noch gar nicht so lange her.
({2})
Man kann also nicht auf der einen Seite hohe Ansprüche an die Vereinten Nationen stellen und auf der anderen Seite, wenn wir etwa durch einen deutschen Beitrag gefordert sind, kneifen. Ich denke, durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist klar, wo unsere Position liegen kann. Die wollen wir ausfüllen. Jedenfalls ist meine Fraktion bereit dazu.
Ich möchte aber auch eines sagen. Wir sind uns sicherlich einig, daß eine verstärkte Arbeit im Bereich der Prävention von Krisen liegen muß. Nicht umsonst spricht die UN-Charta davon, die Menschen vor der Geißel des Krieges bewahren zu wollen. Das ist ein präventiver Ansatz. Nur eines möchte ich sagen - und das richtet sich an uns alle -: Wir beanstanden, daß die Instrumente fehlen. Vielfach sind die Instrumente zwar vorhanden, aber wir nutzen sie nicht oft genug. Das richtet sich an uns alle.
Ich erinnere an eines: Die humanitäre Katastrophe in Ruanda und Burundi mit Millionen von Flüchtlingen, mit großem Elend war keine wirkliche Überraschung. Wir hätten es besser wissen können.
Ich erinnere an ein zweites. Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Jugoslawien, Tadeusz Mazowiecki, hat 18 Berichte verfaßt, in denen er immer wieder vor der sich ständig ausweitenden Katastrophe gewarnt hat. Auch hier hätten wir vieles eher und besser wissen können. Wir müssen also in Zukunft in unserer Politik die Berichte und Instrumente der Vereinten Nationen ernster nehmen. Dies richtet sich an uns alle.
Ich möchte einen dritten Punkt ansprechen, der sich auf den Menschenrechtsbereich bezieht. Wir haben im Moment sehr harte Einflüsse aus dem Bereich der Finanzmisere der UN, die wir alle beklagen und die wir beenden wollen. Wir merken: Auch hier gib' es massive Einschränkungen. Es ist aus meiner Sicht schlicht nicht hinnehmbar, daß zur Zeit keine Sonderbeobachter des Menschenrechtszentrums in Genf zu Inspektionen ins Ausland reisen können, weil in New York der Reiseetat gesperrt worden ist. Das kann nicht richtig sein.
({3})
Ich fordere die Bundesregierung auf, mit dafür zu sorgen, daß diese Gelder entsperrt werden. Insgesamt sind wir im Menschenrechtsbereich sehr froh, daß sich seit 1993, seit der Konferenz in Wien, mit dem Hohen Kommissar für Menschenrechte einiges verbessert hat. Aber auch hier gilt das, was heute morgen mehrfach gesagt worden ist: Die hohen Erwartungen, die an die UN gerichtet werden - wir alle kennen das Schlagwort vom Weltpolizisten -, werden
auf Dauer jedenfalls in diesem Ausmaß nicht zu erfüllen sein. Wir sollten hier keine höheren Forderungen an die UN richten, als wir selber zu erfüllen bereit wären.
({4})
Vergessen wir eines nicht: daß die Defizite der Vereinten Nationen sehr oft in unseren eigenen Unzulänglichkeiten wurzeln. Diese wollen wir gemeinsam beseitigen. Deswegen wünsche ich mir, daß diese kleine Abweichung im SPD-Antrag zukünftig vielleicht auch noch aufgearbeitet werden wird, wenn Sie von der SPD in Ihrer eigenen Fraktion eine Mehrheit dafür bekommen. Ich meine, wir sollten gerade in diesem Bereich der UN-Politik versuchen, die Unzulänglichkeiten, die es hier bei uns noch gibt, gemeinsam zu beseitigen, und in Deutschland die UN mit einer möglichst breiten Mehrheit unterstützen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Rudolf Bindig.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Ohne Zweifel sind die Vereinten Nationen das Forum der globalen Politik. Wir stellen fest, daß sich die Politikbereiche weiter ausdifferenzieren und daß wir für sie handlungsfähige Träger brauchen. Da ist einmal die Weltwirtschafts- und Sozialpolitik, also die Weltentwicklungspolitik. Daneben gibt es die Weltrechtspolitik, die Menschenrechte und die Normsetzung im UN-System, und schließlich die Weltinnenpolitik, das, was wir als Blauhelm-Fragen diskutieren.
Ich finde, die heutige Debatte hat auch wieder gezeigt, daß in bezug auf die Wahrnehmungsfähigkeit der Bundesregierung genau das gilt, was auch im UN-System stattfindet, daß nämlich dem einen Sektor eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird - 25 Minuten der Regierungserklärung hat der Außenminister für die Rolle der Blauhelme verwandt -, daß aber für die anderen Bereiche, für die Frage, wie die Weltwirtschafts- und Sozialpolitik, wie die Entwicklungspolitik zu gestalten sind, nur am Rande etwas bemerkt worden ist und daß auch die fundamentalen Themen der Weiterentwicklung des Weltmenschenrechtsinstrumentariums nur nachrangig behandelt worden sind. In bezug auf die nationale Politik behandeln wir ja nicht nur oder hauptsächlich innenpolitische Fragen, sondern wir sagen da: Wir wollen auch Rechtspolitik und Sozialpolitik zusammen diskutieren. In bezug auf Fragen der UN ist die Gewichtung unproportional; bestimmte Fragen werden einseitig vorgezogen. Das muß sich ändern.
({0})
Ich habe ebenfalls erwartet, daß uns nicht nur die Zustände beschrieben würden, die ja evident sind, die globalen Umweltprobleme, das Weltbevölkerungswachstum, die große Armut in vielen Ländern. Vielmehr habe ich erwartet, daß uns die BundesreRudolf Bindig
gierung in bezug auf die Vereinten Nationen jetzt sagen würde, wo sie ganz speziell die Akzente ihrer UN-Politik setzen will, und daß man uns nicht nur die Welt erklären würde. Wir hätten es gern gesehen, wenn Sie uns in Ihrer Regierungserklärung Ihre Politik erklärt hätten, nämlich wo genau Sie einen Akzent setzen wollen.
({1})
Was wollen Sie tun im Bereich der Weiterentwicklung der Instrumente der Entwicklungspolitik? Wer soll der Träger eines „sustainable development", auch in bezug auf die Umweltprobleme, werden? Wer soll das Thema „good governments" behandeln? Kann das weiterhin und in der bisherigen Form die UNDP machen? Welche Rolle soll die Weltbank in diesem Geschehen haben? Insbesondere: Soll die IDA, die Finanzierungseinrichtung, die sich um die ärmsten Entwicklungsländer bemüht, neu gestärkt werden? Wie sieht es mit einem Schuldenerlaß aus, den es bisher im System der weltweit tätigen Entwicklungsinstitutionen nicht gegeben hat? Welchen Akzent will da die Bundesregierung setzen, und ist sie bereit, einen bestimmten Impuls zu geben, daß es zu einer solchen Entschuldung kommt?
Die nordischen Staaten haben vorgeschlagen, die Finanzierungsmechanismen zu verändern und einen Weltentwicklungsrat zu gründen. Ich hatte erwartet, daß uns die Bundesregierung sagen würde, ob sie es für sinnvoll hält, einen Weltentwicklungsrat zu gründen, und welchen Impuls sie geben will, damit er eingerichtet wird.
Zu alldem ist nichts gesagt worden. Darüber, die Probleme der Welt in allgemeiner Form zu beschreiben, müßten wir eigentlich hinaus sein. Die Analyse der Weltprobleme ist x-mal in Reden und Festreden gemacht worden. Die Vertreter dieser Bundesregierung müßten uns sagen, was sie konkret im UN-System verändern wollen. Dazu haben Sie nichts geliefert; für mich war das keine Regierungserklärung,
({2})
das war eine Weltbeschreibung. Es war nichts, in dem politisch dargelegt worden wäre, was aus Deutschland heraus geschehen soll.
Ich komme zu der Frage des weltweiten Katastrophenschutzes. Es gibt Überlegungen, ob es sinnvoll ist, zur Bekämpfung von Naturkatastrophen, Umweltgefährdungen und Seuchen ein neues Instrument zu schaffen. Wir wissen, daß der UNHCR, der Weltflüchtlingskommissar, einiges tut. Welcher Akzent kann da gesetzt werden? Vorhin ist voller Selbstgefälligkeit vom Kanzler gesagt worden: Wir lassen uns von niemandem überbieten. Ich wollte ihm eine Zwischenfrage stellen. Natürlich werden wir gerade in diesen Sonderorganisationen von vielen Ländern überboten.
({3})
Der Hohe Flüchtlingskommissar bittet uns immer wieder, wir mögen endlich aus dem Mittelfeld heraustreten - wir liegen bei der Beitragsleistung allenfalls im Mittelfeld - und mehr geben. Das gilt auch für andere Organisationen, die für Spezialgebiete eingerichtet worden sind.
Ganz besonders am Herzen muß uns die Weiterentwicklung des internationalen Instrumentariums zur Durchsetzung der Menschenrechte liegen. Zum einen geht es um die Ausarbeitung eines Statuts für einen ständigen internationalen Strafgerichtshof. Ein solches Instrument wäre erforderlich, um die schweren Menschenrechtsverletzungen, die es auf der Welt gibt, institutionell behandeln zu können.
Zum anderen geht es um die Ausarbeitung eines Kodexes der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit. Diese Projekte sind im UN-System seit langem in der Diskussion. Sie sind teilweise bereits in erster oder zweiter Lesung abgewickelt. Es geht jetzt darum, neue Impulse zu setzen, damit sie auch wirklich in Kraft treten können. Ich hätte erwartet, daß Sie hier sagen, welchen neuen Impuls Sie setzen wollen.
({4})
Mit wie vielen Leuten und mit welchen Ideen wollen Sie dort tätig werden, damit dieser wichtige Bereich weiterentwickelt wird? Auch dazu haben wir von Ihnen nichts gehört.
Die schwache Finanzausstattung der Vereinten Nationen ist bereits vielfältig beklagt worden. Ich. möchte noch einmal gezielt auf die schwache Finanzausstattung der Menschenrechtsinstitutionen hinweisen. In Reden wird diesem Bereich allgemein ein Schwerpunkt beigemessen. Aber nur 1,4 % der Ausgaben der Vereinten Nationen werden für die Einhaltung der Menschenrechte und für humanitäre Aufgaben ausgegeben, für Blauhelm-Einsätze übrigens 69,6 %. Das sollte uns ganz klarmachen, daß sich im UN-System noch vieles auf einem Standard befindet, auf dem die Umweltpolitik vor zehn Jahren gewesen ist.
({5})
Man beschränkt sich darauf, die Probleme erst dann, wenn sie eingetreten sind, also hinterher, zu reparieren. Bei den Umweltproblemen hat man das eingesehen und versucht jetzt, Vorsorge zu treffen. Aber im Bereich der Menschenrechte wird immer noch fast nichts oder werden nur Minimalbeträge für die Vorbeugung ausgegeben. Aber wenn der Konflikt hinterher da ist, ist man bereit, Hunderte, ja, Tausende von Millionen auszugeben. Dieses Problem herauszuarbeiten und dann deutlich zu machen, welche neuen Akzente wir setzen wollen, um das zu verändern, wäre notwendig gewesen.
Es ist erforderlich, die Menschenrechtsinstitutionen mit mehr Mitteln auszustatten.
Ich habe noch nie gehört, daß eine Mission militärisch gescheitert ist, weil kein Geld da war, einen Offizier irgendwo hinzufliegen. Aber stellen Sie sich vor: Da wird wochenlang, jahrelang darum geran5378
gelt, einen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu bekommen, der sich um Maßnahmen gegen Menschenrechtsverletzungen, Folter und Rassismus oder um einzelne Länder kümmern soll, in denen Menschen gefoltert werden oder verschwinden. Dann wird diese Institution eingesetzt, aber finanziell so knapp gehalten, daß der Sonderberichterstatter noch nicht einmal in das Land fahren kann, in dem er die Menschenrechtsverletzungen eigentlich untersuchen sollte.
Die Mittel für diesen Bereich müssen nicht nur um das Zehnfache oder das Hundertfache, sie müssen teilweise um das Tausendfache vermehrt werden. Nichts davon hat uns die Bundesregierung gesagt. Ich glaube doch, daß man eine ganze Reihe von Akzenten pointierter setzen könnte, wo auch Deutschland markanter in die UN-Politik eingreifen kann. Ich habe hier einige von diesen Beispielen genannt. Sie sind uns konkrete Aussagen in dieser Regierungserklärung schuldig geblieben.
Danke schön.
({6})
Wir sind damit am Ende dieser Aussprache. Ich bitte die Redner, es nicht als eine Kritik zu verstehen, wenn ich am Ende einer Aussprache über 50 Jahre Vereinte Nationen an den Generalsekretär Dag Hammarskjöld erinnern möchte, der im Dienste der Vereinten Nationen sein Leben gelassen hat und der für viele Menschen ein Symbol für die Vereinten Nationen und ihren Friedenswillen geworden war.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/ 2744, 13/2632, 13/2739 und 13/2751 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 13/2590 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Rentenreformgesetz 1992 haben wir die Rentenversicherung auf sichere Füße gestellt und gegen die demographische Herausforderung wetterfest gemacht. Unsere Rentenversicherung ist bis weit in das nächste Jahrtausend hinein abgesichert und tragfähig. Das bestätigten jüngst wieder Prognos-Gutachten und Sachverständigenrat. Wir müssen aber auch in der Zukunft dafür sorgen, daß neu auftauchende Probleme rasch in den Griff zu bekommen sind.
Deshalb gilt es, die Aufgabenabgrenzung zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit zu verbessern, eine Auszehrung der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten zu verhindern, die Lohn- und Beitragsbezogenheit der Rentenversicherung weiter zu stärken und mögliche Entlastungspotentiale zur Verbesserung der Beitragsperspektive zu nutzen. Diesen Zielen dient der Änderungsentwurf der Bundesregierung zum Sechsten Sozialgesetzbuch.
Schwerpunkte des Gesetzentwurfs sind zwei Änderungen des Rentenrechts, die Entwicklungen vorbeugen sollen, die die Rentenversicherung in der Zukunft finanziell belasten könnten. Zum einen soll die Friedensgrenze zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischer Versorgung gefestigt werden. Die Koalitionspartner haben das in ihrer Koalitionsvereinbarung beschlossen. Das setzen wir jetzt um.
Die jüngste Ausdehnung der berufsständischen Versorgung auf neue Berufsgruppen, z. B. auf die Bauingenieure, und die erweiterte Einbeziehung von Personengruppen in die berufsständische Versorgung, die als abhängig Beschäftigte traditionell der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten angehören, haben die Abgrenzung zwischen den beiden Systemen grundsätzlich in Frage gestellt. Diese Entwicklung gefährdet auf lange Sicht die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung.
Wenn wir dieser Entwicklung keinen Einhalt gebieten, besteht die Gefahr, daß sich durch eine Ausdehnung der so ausgestalteten berufsständischen Versorgung ein Erosionsprozeß zu Lasten der gesetzlichen Rentenversicherung ergibt. Das heißt: gewaltige Einnahmeverluste.
Deshalb sieht unser Gesetzentwurf vor, daß das Recht der Befreiung von der Versicherungspflicht im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Zugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk neu geregelt wird. Die langjährige Abgrenzung zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischer Versorgung wird beibehalten und gefestigt. Gleichzeitig wird aber verhindert, daß sich diejenigen Berufsgruppen, denen eine berufsständische Sicherung künftig vorteilhafter erscheint, zu Lasten der verbleibenden Mitglieder aus der Solidargemeinschaft verabschieden können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist allerdings auch dem Anliegen der Berufsgruppe der Ingenieure so weit entgegengekommen worden, wie dies bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Interessen der
gesetzlichen Rentenversicherung noch vertretbar war. Denn alle bis zum 31. Dezember 1995 beantragten und spätestens ab diesem Zeitpunkt wirksam gewordenen Befreiungen von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung bleiben voll wirksam, und zwar auch dann, wenn die Voraussetzungen für das Befreiungsrecht nach neuem Recht nicht mehr erfüllt werden. Ein weitergehender Vertrauensschutz läßt sich dagegen weder rechtlich begründen, noch wäre er mit den berechtigten Interessen der gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt zu vereinbaren.
Zum anderen sieht der Gesetzentwurf kurzfristig notwendige Änderungen im Bereich der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor. Bis zur Verwirklichung der grundsätzlichen Neuordnung der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wird klargestellt, daß leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsatzfähige Versicherte weiterhin nicht erwerbs- oder berufsunfähig sind, wenn sie noch in einer zumutbaren Beschäftigung tätig sein können.
Mit dieser Festschreibung wird der für diesen Personenkreis bestehende Status quo aufrechterhalten. Sie bewirkt, daß Mehraufwendungen von ca. 5 Milliarden DM vermieden werden, die eine Änderung der Rechtsprechung hätten nach sich ziehen können.
({0})
Außerdem sollen Hinzuverdienstgrenzen für die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführt werden, um die Lohnersatzfunktion dieser Renten dort wieder herzustellen, wo sie heute durch unbegrenzte Hinzuverdienstmöglichkeiten im Ergebnis aufgehoben ist.
Mit diesen beiden Änderungen des Sechsten Sozialgesetzbuchs wird unser Rentensystem gefestigt und modernisiert. Das ist Umbau des Sozialstaates, wie ihn die Bundesregierung versteht: nicht Tabula rasa, sondern gezielte kleine Maßnahmen; nicht Sense, sondern Sensibilität.
Ich bedanke mich.
({1})
Ich erteile der Abgeordneten Ulrike Mascher das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Angesichts der breiten öffentlichen Debatte über die demographisch bedingten Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung - einer abnehmenden Zahl von Beitragszahlern steht eine steigende Zahl von Rentenempfängern gegenüber - ist der Versuch der Bundesregierung, einer weiteren Erosion der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Bildung neuer berufsständischer Versorgungswerke gesetzlich entgegenzuwirken, zu begrüßen.
Immer neue Berufsgruppen, Wirtschaftsprüfer, Bauingenieure streben solche eigenen Versorgungswerke an. Um eine möglichst breite Finanzierungsbasis zu erreichen, sollen auch abhängig Beschäftigte, die bisher an der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung beteiligt waren, von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden und Zugang zu den jeweiligen berufsständischen Versorgungswerken erhalten.
Wenn ich die Zahlen des Arbeitsministeriums lese, mögliche Mindereinnahmen zwischen 1 Milliarde DM und 10 Milliarden DM jährlich bei der Berufsgruppe der Bauingenieure bzw. bei allen Ingenieuren mit der daraus folgenden Notwendigkeit der Beitragssatzsteigerung um 0,2 % bzw. 0,7 %, dann wird deutlich, daß es sich bei Schaffung von immer neuen berufsständischen Versorgungswerken und bei einer weiten Öffnung für freiwillige Mitgliedschaften bei gleichzeitiger Befreiung von der gesetzlichen Versicherungspflicht in der Tat um eine drohende Erosion in der Solidargemeinschaft der Rentenversicherten handelt.
Ich finde es allerdings bedauerlich, daß die aus Sicht der SPD notwendige gesetzliche Regelung zur Festschreibung der Abgrenzung zwischen berufsständischer Versorgung und gesetzlicher Rentenversicherung erst jetzt von der Bundesregierung vorgelegt wird. Denn die bereits gebildeten Versorgungswerke in Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein berufen sich nun auf einen Bestandsschutz, beklagen eine Ungleichbehandlung und eine Benachteiligung.
Ich will den Ausschußberatungen nicht vorgreifen, aber angesichts einer sich verstärkenden Tendenz zur Neugründung eigener Versorgungswerke hält die SPD die Festschreibung der bisher praktizierten Abgrenzung zwischen berufsständischer Versorgung und gesetzlicher Rentenversicherung für erforderlich.
Angesichts der ständigen Zunahme von Frühverrentungen, auch auf Grund der Entscheidungen des Bundessozialgerichts von 1969 und 1976, will die Bundesregierung in dem heute vorgelegten Änderungspaket auch eine Regelung zur Befestigung des Status quo bei den Renten wegen verminderter Erwerbstätigkeit erreichen. Für immer mehr Versicherte, die gesundheitsbedingt nur noch halbtags arbeiten können, gilt schon heute, daß sie als berufsunfähig bzw. erwerbsunfähig eingestuft werden, wenn ihnen das Arbeitsamt innerhalb eines Jahres keinen konkreten Teilzeitarbeitsplatz anbieten kann.
Angesichts der Arbeitsmarktlage führt diese sogenannte konkrete Betrachtungsweise fast zwangsweise zur Frühverrentung. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch für Personen ab, die zwar noch vollzeitig arbeiten können, aus Gesundheitsgründen aber nicht mehr in ihrem alten Beruf. Einer Entwicklung, der auch diese Menschen wegen der minimalen Vermittlungschancen, beim Arbeitsamt vorzeitig zu verrenten, ausgesetzt sind, will die Bundesregierung mit der heute vorgelegten Regelung erstmal eine Schranke entgegensetzen, bevor eine grundsätzliche Reform des Erwerbsunfähigkeits-
und Berufsunfähigkeitsrechtes ansteht.
Die SPD sieht auch, daß hier eine Verlagerung der Probleme des Arbeitsmarktes, eine Verlagerung auch der Kosten von Arbeitslosigkeit auf die Rentenversicherung stattfindet. Aber gerade wenn wir diese Verschiebung von Lasten und Risiken erkennen - das findet sich auch in der Begründung des Gesetzes seitens der Bundesregierung -, dann halte ich die bloße Festigung des Status quo für eine sehr kurzatmige Politik, die nicht an den Ursachen, dem Fehlen von ca. 5 Millionen Arbeitsplätzen in der Bundesrepublik, ansetzt. Wir werden in den Ausschußberatungen dieses Problem sorgfältig prüfen. Wir sind noch offen, welche Entscheidung wir - auch im Interesse der betroffenen Menschen, die keinen Arbeitsplatz mehr finden und dann als Dauerarbeitslose in einer schwierigen Situation sind - treffen. Das ist eine schwierige Gratwanderung zwischen der Finanzsituation der Rentenversicherung und den Interessen der Betroffenen.
Auf einen dritten Punkt, der sich im dem Paket von Gesetzesänderungen befindet, möchte ich noch hinweisen, weil er unter dem Titel „Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch" nicht unbedingt zu vermuten ist. Es geht um eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes, die die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern betrifft.
Hier sollen die Möglichkeiten der hundertprozentigen Förderung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die bis zum 31. Dezember 1995 befristet waren, um ein Jahr verlängert werden. Ebenfalls um ein Jahr verlängert wird die gesonderte Berechnung der Arbeitslosenquote für die neuen Bundesländer als Voraussetzung für die Förderung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Wir begrüßen diese Verlängerung von Sonderregelungen für die neuen Bundesländer, auch wenn dabei wieder deutlich wird, daß all die hochgestimmten Reden zum 5. Jahrestag der deutschen Einheit dem Alltag, der Realität z. B. auf dem Arbeitsmarkt nicht standhalten.
Außerdem machen diese neuen Flicken beim Arbeitsförderungsgesetz deutlich, daß der Weg, den die SPD beschritten hat, nämlich ein neues Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorzulegen, der richtige Weg ist. Ich hoffe, daß wir wenigstens im neuen Jahr hier auch über die Vorschläge der Bundesregierung zu einer Reform des Arbeitsförderungsgesetzes beraten können.
Danke.
({0})
Ich erteile der Abgeordneten Andrea Fischer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Novellierung, über die wir heute reden, ist eine Reaktion auf Veränderungen in der Rechtsprechung, auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik der berufsständischen Versorgungswerke. Ich halte eine Antwort auf diese neuen Entwicklungen für notwendig, bin aber bei einigen der vorgeschlagenen Regelungen sehr im Zweifel, ob der Weg, der hier gegangen wird, der richtige ist.
Ich fange mit dem Einfachen an, nämlich mit dem Teil, dem wir zustimmen können. Die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten haben - das stellt der Gesetzentwurf völlig richtig fest - eine Lohnersatzfunktion und nicht die Funktion, den sozialen Ansehensverlust zu kompensieren, der bei einem Berufswechsel entsteht. Das heißt, wenn ein Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrentner Einkommen erzielt, dann ist die Rente nicht mehr in der ursprünglichen Höhe notwendig.
Deswegen halten wir die Anrechnung von zusätzlichem Einkommen auf die Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten nur für recht und billig gegenüber der Versichertengemeinschaft; denn sonst würden das die Beitragszahler - in unseren Augen völlig zu recht - als ungerecht betrachten. Wir werden in den Ausschußberatungen zu klären haben, ob die abgestufte BU-Rente flexibel genug ist, aber im Grundsatz sind wir damit einverstanden.
Mehr Schwierigkeiten habe ich mit den Dämmen, die mit den beiden anderen Regelungen errichtet werden sollen. Der erste Damm richtet sich gegen die Verlagerung des Arbeitsmarktrisikos auf die Rentenversicherungen. Meine Frage: Warum ein Schnellschuß? Wir wissen doch alle, daß die Reform der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten längst überfällig ist.
Zweitens. Wenn man das Tor zur Rentenversicherung so abdichtet, wie Sie das machen wollen, dann nehmen Sie billigend in Kauf, daß andere Tore unter größeren Druck geraten. Im Klartext: Das werden die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe sein. Denn das Problem, das dahintersteht und zu diesem Regelungsbedarf führt, ist doch die Tatsache, daß durch die Umstrukturierung der Betriebe in den vergangenen Jahren - lean production, Kostendämpfung usw. - immer weniger Arbeitsplätze für ältere erwerbsgeminderte Rentner zur Verfügung stehen. Die Folgen sehen Sie. Deswegen schlagen Sie die EU-Reform vor. Ich frage Sie aber: Ist der Verweis auf Arbeitslosen- und Sozialhilfe die richtige Lösung?
({0})
Sie wollen einen weiteren Damm bauen, der die Flucht der Gutverdienenden aus der gesetzlichen Rentenversicherung stoppen soll. Herr Professor Ruland vom VDR hat diese Tendenz ganz richtig als die Flucht der Rosinen aus dem Kuchen bezeichnet. Trotzdem bleibt die Frage, wie man das verhindern kann.
Ich bin der Auffassung, Sie sollten hier mit Zwang reagieren und einfach sagen: Ihr sollt darin bleiben, alles andere finden wir unsolidarisch. - Das finde ich in der Tat auch, aber man muß sich doch die Frage stellen: Warum wollen die Menschen aus der gesetzlichen Rentenversicherung heraus? Warum finden sie die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr atAndrea Fischer ({1})
traktiv? Gerade da ergibt sich ein Problem, wenn Sie deren Angebot einschränken. Wenn wir die Erwerbs- und Berufsunfähigkeits-Rentenleistungen kürzen - und genau bei diesen Renten liegt ja ein besonderer Vorteil der gesetzlichen Rentenversicherung im Wettbewerb der verschiedenen Versorgungsträger -, kommen wir in Schwierigkeiten.
Schließlich, finde ich, gehört an uns alle die Frage gerichtet: Mit welchem Recht, mit welcher politischen Legitimation wollen wir Abgeordnete die Leute dazu zwingen, in der gesetzlichen Rentenversicherung zu bleiben, wenn wir sie für uns selber nicht gut genug finden?
({2})
Ich gebe das
Wort der Abgeordneten Dr. Gisela Babel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem zweiten SGB-VI-Änderungsgesetz wird ein Damm zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und den berufsständischen Versorgungswerken errichtet. Warum ist das Gesetz notwendig?
Berufsständische Versorgungswerke sind Alterssicherungen für Angehörige bestimmter Berufsgruppen: Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten und andere. Sie beruhen auf dem Kapitaldeckungsverfahren. Die Kapitalerträge garantieren die Stabilität auch in der Zukunft. Diese Sicherungssysteme weisen wenig Umverteilungselemente auf, z. B. keine Kindererziehungszeiten. Ihre Mitglieder beziehen ihre Rente im Durchschnitt erst im Alter von 65 Jahren, im Gegensatz zu 59 Jahren in der gesetzlichen Rentenversicherung.
({0})
Dies alles führt dazu, daß in berufsständischen Versorgungswerken eine Mark Beitrag einen deutlich höheren Rentenertrag abwirft.
Berufsständische Versorgungswerke sind also von daher attraktiv. Das begründet den deutlichen Trend, daß immer neue Berufsgruppen aus der gesetzlichen Rentenversicherung fliehen und eigenständige Versorgungswerke gründen wollen; letztes Beispiel: die Bauingenieure in Bayern. - Da sind wir übrigens doch der Meinung, daß wir die mit dem Gesetz jetzt wieder einfangen, Frau Mascher. Ein Versorgungswerk, das am 1. Januar 1995 in Kenntnis dieses Gesetzes errichtet wurde, verdient meiner Ansicht nach keinen Bestandsschutz in dieser Weise.
Dieses alles führt also zum Aderlaß der gesetzlichen Rentenversicherung und ruft den Gesetzgeber auf den Plan.
Wir als F.D.P. haben uns immer zu einem gegliederten Alterssicherungssystem bekannt und haben die berufsständischen Versorgungswerke als ein krisenunanfälliges und sehr erhaltenswertes Alterssicherungsmodell aufgefaßt und verteidigt.
({1})
Das Gesetz, das die künftige Errichtung von berufsständischen Versorgungswerken erschwert, sichert auf alle Fälle auch für die Zukunft bestehende Versorgungswerke. Auf unser Betreiben hin sichert das Gesetz auch, daß überall dort, wo auf Grund der landespolitischen Konstellationen noch keine Versorgungswerke der klassischen Berufsgruppen errichtet werden konnten, dies weiterhin möglich bleibt.
Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen: 40 Jahre SPD-Herrschaft in Hessen hat verhindert, daß dort die Rechtsanwälte ein eigenes Versorgungswerk gründen konnten. Erst in der kurzen Zeit der CDU-F.D.P.-Regierung kam es zu einer landespolitischen Änderung, die ein solches berufsständisches Versorgungswerk ermöglicht hat.
Das heißt, diese politischen Grundvoraussetzungen sollen auch für die Zukunft die Chancen offenhalten, daß in den klassischen Bereichen berufsständische Versorgungswerke gegründet werden können.
({2})
Ausgeschlossen werden sollen aber Neugründungen, deren Angehörige keine Pflichtmitglieder in einer berufsständischen Kammer sind oder deren Pflichtmitgliedschaft erst am bzw. nach dem 1. Januar 1995 begründet worden ist. - Dadurch sind die Bayern mit draußen, wenn ich das so sagen darf.
Über einen geeigneten Bestandsschutz schon länger bestehender freiwilliger Mitgliedschaften - das ist der Sonderfall in Niedersachsen und in Hamburg, wo die Architekten eine freiwillige Mitgliedschaft hatten - wird im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch zu reden sein.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die jetzt gefundene Regelung den Bestandsschutz der berufsständischen Versorgungswerke für die Zukunft sichert und auch einen kleinen Beitrag für den Erhalt der Vielfalt unserer Alterssicherungssysteme darstellt.
({3})
Das Gesetz enthält zwei weitere die gesetzliche Rentenversicherung betreffende Punkte: die Begrenzung des Hinzuverdienstes bei Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten und den Ausschluß eines Anspruchs bei Erwerbsunfähigkeitsrente, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt nicht wegen der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit, sondern wegen der fehlenden Arbeitsplätze mißlingt.
Noch eine kurze Bemerkung zu Frau Fischer: Es ist richtig, daß wir dann die Lasten in die Arbeitslosenversicherung verlagern; aber dahin gehören sie auch. Es ist nicht sinnvoll, daß wir die Systeme sozusagen in Querverbindung die Lasten tragen lassen. Vielmehr hat die Arbeitslosenversicherung als Hauptverantwortlicher für das Risiko Arbeitslosigkeit geradezustehen.
Wir glauben, daß beide Regelungen, die die Ressourcen der Rentenversicherungen schonen und Barrieren gegen eine ausufernde und belastende Rechtsprechung errichten sollen, richtig sind. Sie finden die Unterstützung der F.D.P.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile der Abgeordneten Petra Bläss das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der gesetzlichen Rentenversicherung und anderer Gesetze legen Sie ein Sammelsurium an Regelungen vor, das in seiner Hauptsubstanz an Symptomen schwerwiegender Probleme laboriert, und dies zum größten Teil zu Lasten der Betroffenen.
Das Bestreben der berufsständischen Versorgungsträger, immer weitere Personengruppen, die bisher in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert waren, in berufsständische Versorgungswerke aufzunehmen, ist eigentlich ein logischer Schritt der Politik der Bundesregierung. Permanent wird die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung in Frage gestellt, aber Herr Blüm beschwört nur deren Stabilität. Administrativ wollen Sie jetzt festlegen, daß es keine Ausweitung der berufsständischen Versorgung geben darf. Das ist angesichts der sich sonst verabschiedenden überwiegend besserverdienenden Beitragszahlerinnen und -zahler im Interesse der Solidargemeinschaft zu begrüßen.
Aber das eigentliche Problem, das dahintersteckt, wird nicht ins Visier genommen. Sie denken nicht darüber nach, wie angesichts der anhaltenden Veränderungen in der Arbeitswelt und der demographischen Entwicklung die Rentenversicherung tatsächlich weiterentwickelt und die Rentenkassen anders gefüllt werden könnten. Ich nenne nur die Stichworte: allgemeine Versicherungspflicht für alle und für jede Arbeitsstunde oder die Koppelung der Arbeitgeberanteile der Sozialbeiträge nicht an die Lohnsumme, sondern an den Ertrag der Unternehmen.
Die Finanzprobleme der Rentenkassen lassen Sie die rigiden Sparschritte nun von den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern auf die Rentnerinnen und Rentner ausdehnen. Zwei solche Schritte finden sich in diesem Gesetzentwurf, und die Medien überraschen fast täglich mit weiteren.
Wenn Sie vielen leistungsgeminderten Älteren die sogenannte Arbeitsmarktrente versagen wollen, offenbaren Sie das gesamte Dilemma, in dem die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik steht. Leistungsgeminderte, aber noch arbeitsfähige und arbeitswillige Frauen und Männer würden weder Rente noch andere Sozialleistungen brauchen, wenn spezielle Beschäftigungsprogramme und -möglichkeiten geschaffen würden. Sie aber sind in dieser Hinsicht
nicht nur untätig, sondern nehmen den Betroffenen noch das kleine Stück relativer sozialer Sicherheit, die die Frühberentung gegenüber der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe bietet.
Wenn Sie als zweiten Vorschlag die Zuverdienstgrenzen bei Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten denen von vorgezogenen Altersrenten anpassen wollen, stehen dahinter nur Einsparungen bei der Rentenzahlung. Wir befürchten vor allem für Menschen mit Behinderungen Einkommenseinbußen.
Für Beschäftigungen in geschützten Einrichtungen wollen Sie regeln, daß bei Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze die BU- in eine EU-Rente umgewandelt, also um ein Drittel gekürzt wird. Unangesprochen bleibt das Schicksal von Blinden und Querschnittsgelähmten, die grundsätzlich Berufs- und erwerbsunfähig sind, auch wenn sie voll berufstätig sein können.
Mit welcher Ignoranz der konkreten Situation Herr Blüm bereits die nächsten Schritte ankündigt, ist schon erstaunlich. Sie wollen Berentungen vor dem Regelalter 65, also mit 60 bzw. 63 Jahren, bereits heute mit den prozentualen Abschlägen belegen und nennen das auch noch „neue Vorruhestandsregelung". In Wahrheit wollen Sie schon heute das durchziehen, was mit der Rentenreform 1992 ab dem Jahre 2001 vorgesehen ist. Ältere Menschen sollen dreimal bestraft werden. Erstens gibt es für sie keine Chance, beruflich tätig zu sein. Damit können sie - zweitens - ihr Rentenkonto nicht weiter füllen. Bei der erzwungenen vorzeitigen Berentung werden - drittens - Abzüge vorgenommen, die lebenslang gelten.
Lassen Sie mich noch zu zwei Punkten kommen, die scheinbar nebenher geregelt werden.
Das ist leider nicht möglich, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. Sie müssen zum Schluß kommen.
Dann erinnere ich nur daran, daß Sie für Sonderversorgte in der DDR Übergangsrenten, Invalidenrenten und die erweiterte befristete Versorgung als rentenrechtliche Zeiten bewerten wollen. Hier stellt sich die Frage, warum Sie das nicht im Rahmen einer grundlegenden Korrektur des Renten-Überleitungsgesetzes tun.
Zum zweiten legen Sie per Gesetz fest -
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen. Ich kann Ihnen das nicht weiter gestatten. Ich bitte um Nachsicht.
Zumindest das Abschmelzen der Auffüllbeträge möchte ich noch erwähnen.
({0})
Petra Blass
Es ist interessant, daß Sie hier eine andere Mitteilungsform - statt Bescheid nur die Mitteilung des Postrentendienstes - suchen. Aber Sie können gewiß sein, daß sich die Betroffenen trotzdem zur Wehr setzen werden.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Birgit Schnieber-Jastram.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! In meiner Heimatstadt Hamburg würde man angesichts des wirklich nicht vielsagenden Titels SGB-
VI-Änderungsgesetz nicht nur sagen: Isch ja man bannig drög, sondern man würde sich auch die Frage stellen: Wovon schnackt de denn dor eigentlich?
Hinter der Bezeichnung SGB VI, die sicher keine Kommunikationsexperten erfunden haben, verbirgt sich in Wirklichkeit ein Thema, das in der Tat alle Mitbürger betrifft. Es geht um die Altersversorgung, und es geht auch ein bißchen um die Zukunft des Sozialstaates.
({0})
Ich will hier gern die wichtigsten Punkte dieses Änderungsantrags hervorheben, und zwar erstens die Friedensgrenze. Die sogenannte Friedensgrenze zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufsständischen Versorgungswerken ist in der Tat ein aktuelles Problem. Darauf ist hier schon mehrfach hingewiesen worden. Ich möchte das an dem Beispiel Bayerns kurz verdeutlichen. Dort können die Versicherten bei gleichen Beiträgen mit einer doppelt so hohen Altersrente rechnen. Das gibt allen Anlaß, auch über die Systeme nachzudenken, Frau Fischer.
Ich muß in der Tat fragen: Was will ich denn? Da ist unser Bekenntnis ganz eindeutig: Wir wollen dieses Rentensystem, so wie wir es haben, erhalten. Wir wollen keine Grundrente. Wenn Ihnen bessere Wege dazu einfallen, dann sagen Sie es hier laut und deutlich.
Ich möchte kurz die zahlenmäßigen Auswirkungen darstellen. In die staatlichen Rentenkassen würden rund 15 Milliarden DM weniger pro Jahr fließen, wenn wir dieses Gesetz, das Dämme errichtet - das gebe ich zu -, nicht machten. Der Rentenbeitrag müßte für die verbleibenden Einzahler um 1,6 % steigen. Auch Sie wissen, daß wir uns das nicht erlauben können.
Ich möchte auf einen zweiten Aspekt hinweisen. Im Rahmen der Diskussion über die Frühverrentung sind auch die vorgesehenen Änderungen im Bereich der Renten wegen geminderter Erwerbsfähigkeit notwendig und ein erster Schritt. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts erhalten leistungsgeminderte, aber noch einsatzfähige ungelernte und angelernte Versicherte keine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Wenn jedoch, was zu befürchten ist, das Bundessozialgericht für
diesen Personenkreis den konkreten Nachweis einer Stelle verlangen sollte, würde dies für eine Vielzahl von Versicherten zu entsprechenden Rentenansprüchen führen.
Die Folgen sind klar: Unter dem Druck der Arbeitsmarktlage würden noch mehr ältere erwerbsgeminderte Arbeitnehmer in die Frührente ausweichen. Das Risiko der Arbeitslosigkeit würde noch mehr auf die Rentenversicherung übertragen. Die Rentenversicherung würde mit Mehrkosten von 5 Milliarden DM belastet. Sie können selbst die Frage beantworten, ob wir uns das erlauben können oder nicht.
Es gibt also drei wichtige Gründe, warum eine Gesetzesänderung dringend erforderlich ist, die festschreibt, daß für vollschichtig einsatzfähige Versicherte kein konkreter Nachweis einer Stelle nötig ist.
Außerdem sieht der Gesetzentwurf die Einführung einer Hinzuverdienstgrenze für die Renten wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe der Geringfügigkeitsgrenze vor. Dies ist ein völlig unstrittiger Punkt. Auf ihn ist mehrfach eingegangen worden; ich will das nicht wiederholen.
Neben dieser notwendigen und unaufschiebbaren Neuordnung des Rentenrechts möchte ich auf eine weitere Änderung beim Abrechnungsverfahren für das Konkursausfallgeld hinweisen, die wir in den Gesetzentwurf einbringen werden. Damit die Abrechnung der diesbezüglichen Verwaltungskosten künftig zielgenau erfolgt und Über- oder Unterzahlungen vermieden werden, sollen die Berufsgenossenschaften ab dem Jahre 1995 statt einer Pauschale die tatsächlichen Verwaltungskosten an die Bundesanstalt erstatten.
Das sind die wesentlichen Neuregelungen zu diesem Thema. Ich hoffe, daß dieses Änderungsgesetz auch jene eines Besseren belehrt, die die Sicherheit der Renten immer und immer wieder öffentlich in Frage stellen und damit auch zu einer, wie ich finde, unverantwortlichen Verunsicherung der Menschen beitragen.
In Hamburg würde man in Kenntnis dieser Dinge zum Schluß sagen: Dascha'n Ding. Hier handelt es sich in der Tat um eine gute Leistung und eine saubere Arbeit dieser Bundesregierung. Herzlichen Dank dafür.
({1})
Wir sind damit am Ende der Debatte, und ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2590 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b und Zusatzpunkt 3 auf:
3. a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich wegen Mißachtung des Artikels 34 Abs. 2 des EuratomVertrags ({0})
- Drucksache 13/2270 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willibald Jacob, Rolf Köhne, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS
EURATOM-Vertrag im Zusammenhang mit
den geplanten Atomtests im Mururoa-Atoll
- Drucksache 13/2200 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuß
ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Dr. Jürgen Meyer ({3}), Michael Müller ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vertragsverletzung des EURATOM-Vertrags durch Frankreich
- Drucksache 13/2749 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Andreas Schockenhoff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit wissenschaftlichen Gutachten zu aktuellen politischen Fragen ist es so eine Sache. Wissenschaft, die sich eigentlich den objektiven Erkenntnisfortschritt auf die Fahnen geschrieben hat, wird häufig als Hilfsmotor eines politischen Vehikels mißbraucht: „Sag mir, welches Ergebnis du haben willst, dann sage ich dir, welches Institut du dazu brauchst. " So kann man die Vergabe des Gutachtens durch Greenpeace an das Freiburger Öko-Institut treffend beschreiben. An diesem Gutachten hat mich rein gar nichts überrascht, am wenigsten das Ergebnis. Warum sollte dieses Gutachten besser sein als das über die angebliche Giftfracht der „Brent Spar", das sich gerade dieser Tage als reine Luftblase ohne jegliche Substanz erwiesen hat?
Die Lage ist doch einfach: Es ist Greenpeace trotz all derer, die mit ihnen im Boot saßen oder im Begleitboot in der Südsee dümpelten, nicht gelungen, die Atomwaffentests auf Mururoa politisch zu verhindern.
({0})
In Frankreich ist auch nicht der Sturm der Entrüstung ausgebrochen, wie das die Greenpeace-Strategen erhofft hatten. Und nun wird versucht, das Recht heranzuziehen, auch wenn Verstöße gegen das Recht für die Philosophie von Greenpeace sonst nicht unbedingt etwas Fremdes sind.
({1})
PDS, Grüne und im letzten Moment auch die SPD haben jetzt das Gutachten des Öko-Instituts zum Anlaß genommen,
({2})
die Bundesregierung aufzufordern, wegen eines angeblichen Verstoßes der Franzosen gegen Art. 34 des Euratom-Vertrages den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Angesichts der öffentlichen Stimmungsmache ist es ja nicht uninteressant, im Geleitzug von Greenpeace mitzufahren; und wenn die Enkel von Ulbricht und Honecker gegen die französische Rüstung polemisieren, dann handeln sie in bester Kontinuität ihrer politischen Vorväter.
Auch die Haltung der Grünen kommt nicht unerwartet. Dort ist man zwar inzwischen vom Pazifismus zum Pazifismus light übergegangen - Herrn Fischer sei es gedankt -, aber an der Ablehnung der nuklearen Abschreckung werden weiterhin keine Abstriche gemacht.
Bemerkenswert am Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist jedoch die Begründung. Die gleichen, die die überseeischen Gebiete der ehemaligen europäischen Kolonialnationen bei den verschiedensten Gelegenheiten als Relikte des Imperialismus geißeln, nutzen gerade diese Gebiete - im speziellen Fall die zu Großbritannien gehörenden Pitcairn-Inseln -, um damit die Auswirkungen auf das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union zu dokumentieren. Scheinheiliger geht es kaum.
Die SPD ist mit Frau Wieczorek-Zeul wieder einmal auf dem falschen Dampfer. Ich sage Ihnen: Sie wird auch hier wieder Schiffbruch erleiden.
({3})
Die EU-Kommission und ihr Präsident haben gestern in einer sehr eindeutigen Weise zu dem Vorwurf Stellung genommen, die französischen Kernwaffenversuche verstießen gegen Art. 34 des Euratom-Vertrages. Alle Mitglieder der Kommission - das sind nicht alles Christdemokraten oder Liberale; Frau Wulf-Mathies ist Mitglied Ihrer Partei, meine Damen und Herren von der SPD -, alle Kommissare sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die Versuche nicht gegen den Euratom-Vertrag verstoßen. Selbst wenn
entgegen allen Erwartungen radioaktiv verseuchtes Wasser aus den Testräumen in die Lagune austreten sollte, was wir alle nicht hoffen, würden die geltenden Grenzwerte nicht überschritten.
({4})
Dies wurde von den Experten des Kernforschungszentrums Karlsruhe bestätigt. Die nach den ersten beiden Kernwaffenversuchen gemessene Radioaktivität liegt bei einem Fünfhundertstel des zulässigen Werts.
Gestatten Sie eine Frage?
Gern.
Herr Volmer.
Herr Kollege, Sie verteidigen diese Atomtests mit einer solchen Vehemenz, daß ich Sie gerne fragen würde, ob Sie persönlich diese Tests gut finden.
Ich habe mit keinem Wort diese Atomtests verteidigt, sondern ich habe zu der Begründung Ihrer Anträge Stellung genommen, die sehr lächerlich erscheinen.
({0})
- Ich komme dazu, Frau Kollegin.
({1})
Die Kommission hat aber auch - das wird in den hysterischen Reaktionen unterschlagen - von der französischen Regierung zusätzliche Informationen über mögliche geologische Risiken für die Atolle gefordert. Auch soll eine Langzeitstudie über die radioaktive Belastung vorgenommen werden.
Völlig unakzeptabel war die Reaktion der selbsternannten Retter der Menschheit, die sich den Namen Greenpeace gegeben haben und mit professionellen Mitteln den deutschen Spendenmarkt abgrasen. Nachdem die Entscheidung der Kommission gegen die Position von Greenpeace gefallen war, bezeichnete ein Sprecher der Organisation die 20 Kommissare als „Schoßhunde des französischen Präsidenten Chirac". Greenpeace hat in Grönland die Existenzgrundlage mehrerer Eskimodörfer zerstört und sich hinterher entschuldigt. Greenpeace hat sich nach einer wahrheitswidrigen Kampagne bei Shell entschuldigt. Und Greenpeace muß sich nach dieser unglaublichen Entgleisung bei den Mitgliedern der
EU-Kommission und beim französischen Präsidenten entschuldigen.
({2})
Wer so unverantwortlich daherredet, kann nicht mehr erwarten, daß er als seriöser Gesprächspartner ernst genommen wird.
Was mich an dieser ganzen Debatte um die französischen Kernwaffenversuche im Südpazifik am meisten entsetzt hat, war die fehlende Rücksicht mancher Kampagnenreiterinnen und Kampagnenreiter auf das gute und wichtige deutschfranzösische Verhältnis. Da wird frei nach dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" mit erhobenem Zeigefinger ein Zeug dahergeredet, daß es einem nur grausen kann. Ich finde, diese moralische Überheblichkeit steht uns nicht zu. Diese Überheblichkeit ist Ausdruck eines völligen Un- und Mißverständnisses gegenüber unserem Partner Frankreich. Die letzten sechs französischen Kernwaffenversuche auf Mururoa sind für uns nun wirklich nicht die entscheidende Zukunftsfrage.
Natürlich kann man zu diesen Tests unterschiedliche Meinungen haben. Ich bin nicht der Meinung, daß sie hätten stattfinden sollen. Natürlich sind wir uns in diesem Haus einig, daß es zu einer massiven Reduzierung der Nuklearwaffen kommen muß. Natürlich wollen wir alle - übrigens auch Präsident Chirac - das Teststopp-Abkommen. Natürlich wünschen wir uns alle eine Welt, auf der ewiger Friede herrscht. Aber wir wollen auch das gute, wenn auch nicht immer widerspruchsfreie deutsch-französische Verhältnis erhalten und ausbauen, im Interesse unserer beiden Länder und im Interesse Europas. Wir wollen offene Fragen, die im deutsch-französischen Verhältnis bestehen, zum Teil auch militärische Fragen, mit den Franzosen klären. Wir sind Politiker und keine Advokaten.
Meine Fraktion wird den Anträgen von PDS, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darum nicht zustimmen.
Weil der französische Präsident heute hier in Bonn beim Bundeskanzler zu Gast ist, darf ich für die CDU/CSU-Fraktion sagen: Herr Chirac, Sie sind uns als unser Freund und wichtigster Partner herzlich willkommen.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Professor Jürgen Meyer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schockenhoff hat eben ein unverhülltes PläDr. Jürgen Meyer ({0})
doyer für die französischen Atombombentests gehalten.
({1})
Das klärt die Debattenlage ebenso wie die Polemik gegen Greenpeace, die ich für ebenso dürftig wie unerträglich gehalten habe.
({2})
Vor fünf Wochen, am 20. September dieses Jahres, hat das Europäische Parlament in namentlicher Abstimmung mit deutlicher Mehrheit und mit den Stimmen der französischen Sozialisten den Beginn der französischen Atombombentests verurteilt. Es hat eindringlich an Präsident Chirac appelliert, auf weitere Tests zu verzichten. Das Europaparlament hat festgestellt, daß die Kernwaffenversuche als besonders gefährliche Versuche im Sinne von Art. 34 des Euratom-Vertrages anzusehen sind. Die Abgeordneten haben deshalb die Kommission aufgefordert, innerhalb kürzester Frist eine mit Gründen versehene Stellungnahme zur Nichteinhaltung des EuratomVertrages durch die französische Regierung abzugeben und den Europäischen Gerichtshof anzurufen, falls sich Frankreich nicht an diese Stellungnahme hält. Herr Kollege Schockenhoff, Ihre Polemik richtete sich also auch gegen das Europäische Parlament.
({3})
Wir Sozialdemokraten sind enttäuscht und empört, daß der Präsident der Europäischen Kommission gestern auf dürftigster Informationsgrundlage - da hätten Sie etwas zur Qualität von Gutachten sagen können - dieser Aufforderung des Parlaments eine Absage erteilt hat. Der Druck einzelner Mitgliedstaaten wiegt anscheinend mehr als der Beschluß des Parlaments.
Dennoch gilt: Die Haltung des Europäischen Parlaments zu den Atombombentests ist klar und eindeutig. Das gilt leider nicht in gleichem Maße für die des Deutschen Bundestages, wie wir eben noch einmal hören konnten.
({4})
Dies ist heute bereits der vierte Versuch, die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. zu einem eindeutigen Beschluß statt mehrdeutiger Beteuerungen zu veranlassen.
Unmittelbar nach der Ankündigung der Atombombentests durch Präsident Chirac am 13. Juni hat die SPD-Fraktion in der Europa-Debatte am 22. Juni einen Entschließungsantrag vorgelegt, der sich ebenso gegen die chinesischen wie gegen die französischen Atombombentests richtete. Der Antrag wurde mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Ein ähnliches Schicksal hatte ein SPD-Antrag, der Anfang September im Europa-Ausschuß mit 19 zu 17 Stimmen abgelehnt worden ist.
({5})
Und am 29. September haben CDU/CSU und F.D.P. unseren Antrag „Keine Atomwaffentests durch China und Frankreich" nicht zur Sachabstimmung kommen lassen, sondern nach einer Geschäftsordnungsdebatte an die Ausschüsse überwiesen, obwohl der zweite französische Atombombentest unmittelbar bevorstand.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, sehen Sie denn nicht, daß Sie durch derartige Prozeduren das Parlament und dadurch auch sich selbst mit Ihren Beteuerungen gegen Atombombentests letztlich entmündigen? Erkennen Sie nicht, daß Ihre verbale Ablehnung der Tests mit jedem neuen Versuch immer unglaubwürdiger wird? Wie können Sie noch auf einen Erfolg der diplomatischen Bemühungen der Bundesregierung hoffen, obwohl der dritte Nukleartest unmittelbar bevorsteht? Das sollten Sie der Bevölkerung einmal klarzumachen versuchen.
Das Argument, Art. 34 des Euratom-Vertrages beziehe sich nur auf Versuche im Rahmen der zivilen Nutzung der Atomenergie, ist nicht nur juristisch unhaltbar, sondern widerspricht auch dem gesunden Menschenverstand. Die Norm dient ausdrücklich dem Schutz der Gesundheit von Menschen. Wenn die Kommission unbestreitbar aber schon bei zivilen Atomtests einzuschalten ist, um wieviel mehr muß das dann bei militärischen Versuchen gelten, deren Ziel die potentielle Vernichtung menschlichen Lebens durch Atombomben ist?
({6})
Frankreich selbst hat sich noch 1959 um die Genehmigung der Europäischen Kommission für die Durchführung von Tests in der Sahara bemüht und damit die Zuständigkeit der Kommission anerkannt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nach allem, was wir bisher wissen, handelt es sich trotz der gestrigen Mitteilung des Kommissionspräsidenten bei den Atombombentests um besonders gefährliche Versuche im Sinne des Euratom-Vertrages. Das Vulkangestein des Mururoa-Atolls ist durch die bisherigen Versuche in hohem Maße instabil geworden. Jeder neue Versuch ist mit einer größeren Gefahr radioaktiver Emissionen verbunden. Es kann auch kaum zweifelhaft sein, daß die Tests das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union berühren; denn mögliche Auswirkungen auf die unter der Hoheit Großbritanniens stehenden PitcairnInseln liegen auf der Hand.
Viele Fragen sind noch ungeklärt: Welches ist die aktuelle Konzentration von Radioaktivität unter dem Mururoa-Atoll? Wie groß ist die Gefahr der Freisetzung durch neue Tests? Welche neuen Strukturbeschädigungen des Atolls drohen bei weiteren Tests?
Dr. Jürgen Meyer ({7})
Wie sind die regionalen Gesundheitsbelastungen durch vergangene und künftige Versuche einzuschätzen? Die Überprüfung französischer Berechnungen durch Karlsruher Wissenschaftler, auf die sich eben der Kollege von der CDU/CSU-Fraktion anscheinend berufen hat, kann ja wohl nicht das letzte Wort sein.
({8})
- Richtig, aber sie sollten dann eigene Untersuchungen anstellen dürfen
({9})
und nicht französische Untersuchungen lediglich nachprüfen können.
({10})
Wie unsicher Frankreich selbst hinsichtlich der besonderen Gefährlichkeit der Versuche ist, ist dadurch belegt, daß die Informationspflichten gegenüber der Kommission trotz ausdrücklicher Zusicherung der französischen Regierung bisher nicht erfüllt worden sind. Französische Behörden haben den von der Kommission entsandten Kontrolleuren den Zugang zum Testgebiet verwehrt. Die Kontrolleure konnten deshalb ihre durch Art. 35 garantierten Rechte nicht ausüben. Das allein ist bereits eine nicht hinnehmbare Verletzung des Euratom-Vertrages.
({11})
Sie kann auch nicht durch die vor wenigen Tagen nachgereichten schriftlichen Informationen geheilt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie überzeugend sind eigentlich alle Forderungen, die Rechte des Europäischen Parlaments im Rahmen der Revisionskonferenz zu stärken, wenn wir jetzt nicht einmal bereit sind, das Parlament bei der Durchsetzung der vertraglich längst garantierten Rechte gegenüber der Kommission zu unterstützen?
({12})
Wir erwarten deshalb von der Bundesregierung, daß sie entsprechend der eingangs genannten Entschließung des Europäischen Parlaments auf die Kommission einwirkt. Das ist der politische Kern des heutigen Antrags meiner Fraktion. Die Bundesregierung sollte endlich klar und unmißverständlich auftreten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir machen uns keine Illusionen hinsichtlich der Chancen, die französische Regierung durch Einschaltung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg zu einem Einlenken zu veranlassen.
({13})
Zwar kann im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens eine einstweilige Anordnung ergehen; diese würde aber wegen der einzuhaltenden Fristen mit Sicherheit nicht mehr in diesem Jahr zu erwarten sein,
({14})
Um so wichtiger ist es, daß sich die Bundesregierung endlich klar äußert
({15})
und der Einsicht folgt, daß es ein Gebot der deutschfranzösischen Freundschaft ist, einander klar und ohne diplomatische Winkelzüge die Wahrheit zu sagen.
({16})
Das sollte dieses Parlament als oberster Souverän endlich einfordern und durchsetzen.
({17})
Was die rechtsstaatlichen Instrumente angeht, setzen wir unsere größte Hoffnung auf das bereits am 7. August, also vor fast drei Monaten, eingeleitete Beschwerdeverfahren zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dort klagen 19 französische Staatsangehörige aus Polynesien mit Unterstützung der SPD gegen die französische Regierung, weil sie sich in ihren Menschenrechten auf Leben und Gesundheit gefährdet fühlen. Dieses Verfahren ist weit fortgeschritten. Die Europäische Kommission für Menschenrechte wird am 27. November darüber entscheiden, ob Frankreich entsprechend dem von den Beschwerdeführern gestellten Antrag durch eine einstweilige Maßnahme dazu aufgefordert wird, nicht durch weitere Versuche vollendete Tatsachen zu schaffen, sondern die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abzuwarten.
So wichtig uns die Verletzung der heute diskutierten Rechte des Europäischen Parlaments und der Kommission auch ist, sollten wir uns doch alle vor allem aufgefordert fühlen, die unmittelbar von den Atombombentests betroffenen Menschen in ihrem verzweifelten Kampf zu unterstützen. Es geht im bereits anhängigen Straßburger Verfahren um diese Rechte, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert sind. Der Schutz dieser Menschenrechte sollte uns allen mindestens so wichtig sein wie die Vertragsverletzung, die Gegenstand der heutigen Debatte ist.
Das ist die Überzeugung der SPD. Wir hoffen dafür auf die Zustimmung auch der anderen Fraktionen dieses Parlaments.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Christian Sterzing.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im heutigen Blätterwald wird die Entscheidung der Europäischen Kommission zu den französischen Atomtests wie ein Freispruch entweder gefeiert oder kritisiert. Es stellt sich die Frage, ob wir heute die Akten schließen können und ob die Anträge auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens damit erledigt sind. Wir müssen hier ganz klar sagen: Das hat sich keineswegs erledigt. Durch das Votum der Europäischen Kommission ist die Bundesregierung nämlich in keiner Weise gebunden. Der Weg zum EuGH in Luxemburg steht weiterhin offen.
Es geht um zweierlei: Es geht zum einen um die juristische Beurteilung der französischen Atomtests im Südpazifik, und es geht zum anderen um die politischen Folgen der deutschen Untätigkeit.
Zur juristischen Beurteilung: Es ist ja traurige Zwischenbilanz der Auseinandersetzung um die französische Atomtestserie, daß Frankreich immer wieder an grundlegende Rechtsvorschriften aus den Europaverträgen erinnert werden mußte und erst nach monatelangem Zögern und Sträuben scheibchenweise das zugestand, was für Europarechtler außer Frage steht, nämlich daß der Euratom-Vertrag grundsätzlich auch auf die Atomversuche im Südpazifik Anwendung findet.
Jedes Argument war recht, um sich der internationalen Verantwortung zu entziehen und sich internationalen Rechtsnormen nicht unterwerfen zu müssen. Nur unter dem öffentlichen Druck der AntiatomtestKampagne ist es dazu gekommen, daß sich bei der französischen Regierung, bei der Kommission und der deutschen Regierung zumindest teilweise die Einsicht in europa- und völkerrechtliche Normen durchgesetzt hat. Wer mit Atombomben zündelt, der gefährdet Menschen und Umwelt auch über nationale Grenzen hinweg
({0})
und muß sich deshalb auch internationalen Rechtsnormen unterwerfen. Hier endet nationale Souveränität. Das ist auch Grundlage des Euratom-Vertrages.
Das juristische Schlupfloch, das die Europäische Kommission jetzt gefunden zu haben glaubt, ist die Frage der besonderen Gefährlichkeit dieser Atomtests. Sie wird schlichtweg hinwegdefiniert. Beurteilungsgrundlage - darauf wurde schon verwiesen - sind im wesentlichen Informationen der französischen Regierung. Wir Juristen nennen so etwas ein Parteigutachten. Keine rechtsstaatliche Instanz würde ein solches Parteigutachten als ausreichende Beurteilungsgrundlage anerkennen. Auch der Hinweis auf die Expertenkommission verfängt keineswegs; sie durfte zwar nach langem Zögern und Sträuben der Franzosen endlich in die Region reisen, durfte aber nicht das untersuchen, was sie untersuchen sollte. Es waren nicht alle Einrichtungen zugänglich. Zum Fangataufa-Atoll durfte die Kommission überhaupt nicht reisen.
All das, was uns die Europäische Kommission in den letzten Monaten geboten hat, läßt den Verdacht
aufkommen, daß wir Zeugen eines abgekarteten Spiels geworden sind: Zunächst läßt eine unschlüssige Kommission mutig die Muskeln spielen, indem sie Informationen anfordert, diese immer wieder anmahnt, aber offensichtlich doch nur mit dem Ziel, Argumentationshilfen für einen Freispruch zu erhalten. Dieses Schauspiel der letzten Monate war zu plump, um uns in dieser Frage von der Unabhängigkeit der Europäischen Kommission zu überzeugen.
Es kommt noch etwas hinzu: Indem die Kommission dieses juristische Schlupfloch „besondere Gefährlichkeit" nutzt, begibt sie sich auf dünnes Eis. Sie hat nämlich gar nicht den Ermessensspielraum zur Beurteilung dieses Kriteriums. Die „besondere Gefährlichkeit" dieser Atomversuche wird im Euratom-Vertrag festgesetzt. Es ist also nicht eine von der Kommission zu prüfende Voraussetzung für eine Stellungnahme oder Zustimmung. Der Euratom-Vertrag geht vielmehr a priori von der besonderen Gefährlichkeit der Atomtests aus und knüpft daran - wegen der zu treffenden „zusätzlichen Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz" - die Notwendigkeit der Stellungnahme oder gar der Zustimmung der Kommission. - Die Kommission hat damit also nicht nur fehlerhaft geprüft. Sie hat etwas geprüft, was sie gar nicht prüfen durfte. Sie hat schlichtweg ihre Kompetenzen überschritten.
Diese „Hüterin der europäischen Verträge", wie sie sich gerne nennt und genannt wird, hat im übrigen auch über weitere Verstöße hinweggesehen - darauf wurde bereits hingewiesen -: Natürlich ist die Kommission vor Durchführung der Versuche zu informieren. Dies ist nicht geschehen. Natürlich ist die Kommission in die Lage zu versetzen, die Überwachungseinrichtungen selber zu überprüfen. Auch dies ist nicht geschehen.
Kommen wir aber zur politischen Beurteilung des Verhaltens. Es geht um mehr als nur um die Rechtmäßigkeit dieser Atomtests im Südpazifik. Es geht um die europapolitische und auch um die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit dieser Regierung. Wir müssen nämlich fragen, wie es um die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union und auch des Mitgliedstaates Deutschland bestellt ist, wenn es einem Mitgliedsland möglich ist, die Bestimmungen eines der Grundlagenverträge der Europäischen Union zu mißachten. Wie ist es um die Glaubwürdigkeit einer gemeinsamen europäischen Politik bestellt, wenn Kommission, Ministerrat und Mitgliedstaaten die zur Verfügung stehenden Mittel zur Unterbindung solcher Rechtsverstöße nicht nutzen? Wie ist es um die Glaubwürdigkeit einer Europäischen Union bestellt, die in Europa jeden Schornstein strengeren Sicherheitsbestimmungen unterwirft als das Zünden von Atombomben im Südpazifik?
Die Europäische Union und auch die Mitgliedstaaten können eine am Umwelt- und Gesundheitsschutz orientierte europäische Politik kaum glaubhaft vertreten, wenn trotz aller wissenschaftlicher Hinweise auf die Risiken dieser Atomtests im Südpazifik deren Gefährlichkeit allein nach politischen Glaubensgrundsätzen beurteilt wird. Es fragt sich auch, welchen Wert französische Beteuerungen und BekenntChristian Sterzing
nisse zu den europäischen Verträgen haben. Und welchen Wert haben die deutschen Bekenntnisse dazu, wenn unter Hinweis auf das freundschaftliche Verhältnis zu einem Mitgliedsland solche Rechtsverstöße nicht verfolgt werden? Käme denn die Bundesregierung zu einer anderen rechtlichen Beurteilung dieser Atomtests, wenn z. B. Portugal diese Versuche durchführen würde? Mit dieser kurzsichtigen und an politischer Opportunität orientierten Argumentation untergräbt die Bundesregierung die Glaubwürdigkeit einer europäischen Integrationspolitik und nährt damit auch das Mißtrauen vieler Menschen in den europäischen Integrationsprozeß.
Aber auch abrüstungspolitisch sollte sich die Bundesregierung über die Gefahren ihrer Untätigkeit klar werden. Da versprach doch im Frühsommer die Europäische Union in New York bei den Verhandlungen über den Nichtverbreitungsvertrag noch ernsthafte Abrüstungsbemühungen und auch Zurückhaltung bei Atomversuchen. Aber sind denn diese atomaren Tests in der Südsee für die atomare Abrüstung notwendig? - Wer testet, will weiterentwikkeln. Jeder Test ist ein Beweis für die Absicht nuklearer Aufrüstung, nuklearer Weiterentwicklung. Insofern wird Europa eine glaubhafte Abrüstungspolitik in Zukunft nur dann betreiben können, wenn es wirklich alles unternimmt, um das Mitgliedsland Frankreich von der Durchführung dieser Tests abzuhalten.
({1})
Natürlich müssen wir auch befürchten, daß dieses schlechte Beispiel Schule macht. Denn welchen Grund sollten atomare Schwellenländer haben, die Weiterentwicklung von atomaren Potentialen zu stoppen, wenn eine Atommacht selber ungestraft ihre Arsenale weiterentwickelt und modernisiert?
Nicht nur Frankreich mit seiner Atomtestserie, sondern auch die Bundesregierung mit ihrer Untätigkeit in dieser Frage gefährden alle abrüstungspolitischen Bemühungen. Der Schaden, den wir damit langfristig in Kauf nehmen müssen, überschreitet gewiß die kurzfristigen Vorteile eines ungetrübten deutschfranzösischen Verhältnisses. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, endlich auch durch den Gang nach Luxemburg auf der Einhaltung des EuratomVertrages zu bestehen und entsprechende Schritte einzuleiten. Noch kann ein Teil des ökologischen und des politischen Schadens abgewendet werden.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Olaf Feldmann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wiederaufnahme der Atomwaffentests durch Frankreich ist ein schwerer politischer Fehler. - Herr Meyer, in der Beurteilung unterscheiden wir uns nicht. - Frankreich hat das schon schmerzlich zu spüren bekommen. Die Verurteilung der Nuklearversuche ist weltweit und einhellig. Frankreich hat weder die Stellungnahme noch die Zustimmung der EU-Kommission vor der Testserie eingeholt. Auch dies war ein politischer Fehler. 1960/61 hat Frankreich seine Versuche bei der EG-Kommission sogar notifiziert. Warum diesmal nicht?
Die EU-Kommission sieht sich als „Hüterin der europäischen Verträge" und ist damit auch für die Einhaltung des Euratom-Vertrages zuständig. Die Kommission hat festgestellt, daß keine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung besteht. Sie sieht daher keine Grundlage für ein rechtliches Vorgehen gegen Frankreich. Ich bedauere, daß sich die Kommission dabei ausschließlich auf französische Daten stützt. Besser wäre es natürlich gewesen, sie hätte eigene Daten erheben oder zumindest die französische Datenerhebung kontrollieren können. Trotz all dieser Mängel lehnt die F.D.P. es ab, die Bundesregierung aufzufordern, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einzuleiten oder gar eine einstweilige Verfügung zu beantragen.
({0})
- Sie, Herr Meyer, haben doch gesagt, es sei viel zu spät. Wir halten es auch politisch für falsch. Denn der dadurch entstehende politische Schaden verbietet ein solches Vorgehen. Sie machen es sich als Opposition hier zu leicht.
Wir wollen mit dem deutsch-französischen Verhältnis behutsam umgehen. Wir wollen uns aber auch nicht hinter der deutsch-französischen Freundschaft verschanzen. Wir sind durchaus bereit, uns kritisch zur Sache zu äußern. Frankreich muß diese Kritik ertragen können. Der Bundestag und die Bundesregierung haben sich wiederholt kritisch zu den französischen Atomtests geäußert. Wir lehnen Atomwaffentests kategorisch ab.
({1})
Chiracs nationaler Alleingang verstößt gegen den Geist der europäischen Partnerschaft, und er schädigt auch das Bemühen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas. - Darin stimme ich einigen Vorrednern durchaus zu. - Während sich die Mehrheit in Europa um die Fortentwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bemüht, scheint Frankreich in Richtung auf eine Renationalisierung der Sicherheitspolitik abzudriften. Das ist bedauerlich. Das französische Vorgehen insgesamt ist ein falsches Signal für Maastricht II.
Die französischen Atomtests gefährden auch die weltweiten Bemühungen, die nukleare Proliferation zu begrenzen. Das ohnehin begrenzte Vertrauen der Nichtnuklearmächte in die Abrüstungsbereitschaft der Nuklearmächte wird nachhaltig geschädigt. Da stimme ich dem Vorredner zu. Es geht doch nicht an, daß die Mehrheit der Staaten aufgefordert wird, auf Atomwaffen zu verzichten, während gleichzeitig einige ihre Nuklearwaffen perfektionieren. Heutzutage darf es nicht um die Perfektionierung von Atomwaffen gehen, vielmehr ist Verschrottung dieser Waffen das Gebot der Stunde.
Wir begrüßen, daß der französische Präsident angekündigt hat, die bisher vorgesehene Zahl der Atomwaffentests zu reduzieren. Besser wäre es, er würde auf alle Tests sofort verzichten.
({2})
Mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich vor dem Europäischen Gerichtshof werden wir nichts erreichen. Ich glaube, das ist auch Ihnen klar. Wir lehnen daher die Anträge von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS und auch den heute von der SPD nachgeschobenen Antrag ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Rolf Köhne.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß die F.D.P. langsam in die Opposition wechselt.
({0})
- Ja.
Ich möchte dem Kollegen Schockenhoff einiges sagen. - Wo ist er denn überhaupt geblieben? Kommen Sie einmal wieder her! - Ihre Argumente waren allzu
dürftig. Was haben Sie gesagt? - Das Öko-Institut liefert ein Gefälligkeitsgutachten; die PDS, das sind die Enkel Honeckers, wobei Sie die Nichten vergessen haben; Greenpeace, das sind die selbsternannten Retter der Menschheit. Dann haben Sie sich auch noch eine Verdrehung der Geschichte geleistet. Also: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Das war Begründung für deutsche Kanonenpolitik. Den Antragstellern geht es aber um das genaue Gegenteil, um Frieden.
({1})
Es gibt durchaus Gründe, Frankreich Vertragsverletzung vorzuwerfen und den Europäischen Gerichtshof anzurufen.
Meßwerte zur aktuellen Strahlenbelastung liegen nicht vor. Es hat aber Messungen gegeben; ihre Ergebnisse hätten stutzig machen müssen. Wenn nach der Zündung der Sprengsätze in 1 000 m Tiefe überhaupt eine Erhöhung der Dosis gemessen wird, dann spricht das dafür, daß es Wege gibt, durch die die Radioaktivität schnell nach oben kommt. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die Europaabgeordnete der CDU, Frau Quisthoudt-Rowohl: Laut einer Pressemeldung räumte sie selbst ein, daß langfristige Auswirkungen nicht abzusehen seien.
Der Entscheidung der Bundesregierung, von ihrem Klagerecht nicht Gebrauch zu machen, haben keine wissenschaftlichen Betrachtungen zugrunde gelegen. Vielmehr müssen politische Gründe angenommen werden. Es drängt sich der Verdacht auf, daß es
militärpolitische Gründe sind. Ganz gleich, ob diese Tests weiter stattfinden oder ob sie gestoppt werden: Solange britische und französische Atomwaffen existieren, wird mit ihnen in Europa Politik gemacht.
Die Perspektive einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, gekoppelt mit den Interessen Kerneuropas, ist die Hinwendung deutscher Außenpolitik zu diesen atomaren Angriffs- und Drohpotentialen. Eine solche Sicherheitspolitik ist nicht europäisch; sie ist imperialistisch. Ihr muß entschieden Widerstand entgegengesetzt werden. Ich will, daß diese und zukünftige Bundesregierungen den Atomwaffensperrvertrag einhalten. Dieser untersagt der Bundesrepublik auch eine mittelbare Verfügung über Atomwaffen.
Ich danke.
({2})
Für die Bundesregierung erteile ich Staatsminister Dr. Werner Hoyer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hält nichts von Atomwaffentests, ganz gleich, wer sie durchführt und wo sie stattfinden.
({0})
Dies ist bekannt, es soll aber noch einmal unterstrichen werden. Daß wir hier nicht mit Frankreich übereinstimmen, haben Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel am 6. September vor dem Deutschen Bundestag klar angesprochen.
({1})
Da gibt es übrigens, Herr Kollege Meyer, keine „diplomatischen Winkelzüge", sondern Klarheit unter Freunden.
({2})
Beide haben wiederholt klargemacht, daß durch unterschiedliche Auffassungen in dieser wichtigen Frage das partnerschaftliche und freundschaftliche Verhältnis zu Frankreich nicht gestört werden darf und nicht gestört wird.
Die vorliegenden Anträge bedürfen einer sorgfältigen rechtlichen und europapolitischen Prüfung. Wir werden hierüber in den Ausschüssen zu beraten haben. Unser besonderes Verhältnis zu Frankreich muß als wichtiger Faktor in die politische Bewertung eingehen.
Lassen Sie mich als Ergebnis der Prüfung der Kommission zu den rechtlichen Aspekten folgendes festhalten: Erstens. Kapitel III des Euratom-Vertrages, das den Gesundheitsschutz der Bevölkerung
und der Arbeitskräfte gegen Gefahren ionisierender Strahlungen abdeckt, ist prinzipiell räumlich und sachlich auf Atomwaffenversuche anwendbar. Eine Zustimmung der Kommission nach Art. 34 Abs. 2 Euratom-Vertrag ist in Fällen besonders gefährlicher Versuche erforderlich, wenn die Möglichkeit besteht, daß sich die Auswirkungen der Versuche auf die Hoheitsgebiete anderer Mitgliedstaaten erstrecken. Die im Vertrag niedergelegte etwaige Zustimmung der Kommission bezieht sich auf die „zusätzlichen Vorkehrungen für den Gesundheitsschutz". Es ist keine Zustimmung zu den Versuchen selbst vorgesehen.
Zweitens. Zu der in den Anträgen geforderten Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich durch Deutschland möchte ich folgendes sagen: Es obliegt in erster Linie der Kommission als Hüterin der Verträge, über die Einhaltung der Verpflichtungen der Verträge zu wachen.
({3})
Die Bundesregierung respektiert und bekräftigt - gerade auch angesichts der aktuellen Diskussion im Vorfeld der Regierungskonferenz - die eigenständige, unabhängige Position der Kommission im Rahmen der Römischen Verträge. Die Kommission hat im Rahmen dieser Verantwortung Frankreich zur Übermittlung von Unterlagen und Informationen veranlaßt. Frankreich hat diesem Ersuchen Folge geleistet.
Die Kommission hat sich am 23. Oktober mit dieser Frage befaßt. Präsident Santer hat gestern das Europäische Parlament vom Ergebnis wie folgt unterrichtet: a) Die Grundnormen für den Gesundheitsschutz gemäß Art. 30 f Euratom-Vertrag seien eingehalten. b) Die Einrichtungen zur Kontrolle der Radioaktivität würden für wirksam gehalten, d. h. Art. 35 des Vertrages sei erfüllt. c) Die nach Art. 36 übermittelten Informationen über den Grad der Radioaktivität seien ausreichend. d) Die Kommission habe auf der Basis der übermittelten Daten die Feststellung getroffen, daß die Bestimmungen des Art. 34 Euratom-Vertrag in diesem Fall nicht anzuwenden seien. Die Kommission ist daher zu dem Ergebnis gekommen, daß Frankreich nicht gegen den Euratom-Vertrag verstoßen hat.
({4})
Drittens. Gemäß Art. 142 Euratom-Vertrag kann nach Befassung der Kommission auch jeder Mitgliedstaat den Gerichtshof anrufen, wenn er der Meinung ist, daß ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus dem Vertrag verstoßen hat. Die Bundesregierung ist jedoch der Auffassung, daß die Kommission die gemäß Euratom-Vertrag möglichen und erforderlichen Schritte unternommen hat und weiter unternimmt. Daher sieht sie keine Veranlassung, ihrerseits rechtliche Schritte zu unternehmen. Sie will nicht Politik durch gerichtliche Auseinandersetzung ersetzen und wird deshalb den konstruktiven Dialog mit unseren französischen Freunden auch zu einer Frage fortsetzen, in der unsere Meinungen nicht übereinstimmen.
({5})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend klarstellen: Vordringliches Ziel der Bundesregierung ist und bleibt die Unterzeichnung und Umsetzung des umfassenden Teststoppvertrages durch alle Staaten. Es ist ein beachtlicher Erfolg der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und nicht zuletzt der konstruktiven und beharrlichen Bemühungen der deutschen Außenpolitik, daß dem Abschluß dieses Abkommens inzwischen nichts mehr im Wege zu stehen scheint.
({6})
Ich freue mich, daß sich auch Frankreich ohne Wenn und Aber zu diesem Ziel bekennt. Ich finde es auch gut, daß sich die Volksrepublik China den Entwicklungen hin zu einer nuklearwaffentestfreien Welt nicht länger in den Weg stellen will. Um den Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens bis zum Herbst 1996 tatsächlich zu erreichen, wird es aber noch ganz intensiver Arbeit und Überzeugungskraft aller beteiligten Staaten bedürfen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2270 und 13/2200 sowie 13/2749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12a und 12 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung
- Drucksache 13/196 - ({0})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 13/1251 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Bosbach Margot von Renesse
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Margot von Renesse, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Harmann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung
- Drucksache 13/2500 Zum Gesetzentwurf des Bundesrates liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor.
Vizepräsident Hans Klein
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung, der vom Deutschen Bundestag am 17. Februar 1995 in erster Lesung behandelt und dem Rechtsausschuß zur federführenden Beratung sowie dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen wurde. Beide Ausschüsse haben nach ihren Beratungen den vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates mit Mehrheit abgelehnt.
In den Beratungen der Ausschüsse ist kein neues erhebliches Argument dafür vorgebracht worden, daß der jetzige Rechtszustand nicht länger tragbar sei und daher zwingend geändert werden müsse. Die Koalitionsfraktionen lehnen den Gesetzentwurf des Bundesrates nach wie vor ab, weil sie mit der Bundesministerin der Justiz die Auffassung vertreten, daß für eine Änderung des § 1361b BGB ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht zwingend geboten ist.
In diesem Zusammenhang sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß diese Auffassung von der überwiegenden Zahl der Bundesländer geteilt wird. Mit Ausnahme der Bundesländer Hessen und Niedersachsen verneinen alle anderen Justizministerien der Länder einen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß die vorliegenden Gesetzentwürfe sicherlich mit guten Absichten eingebracht wurden.
Mit § 1361 b wollen wir dazu beitragen, die persönlichen Spannungen zwischen den Ehegatten abzubauen und diejenigen, die von ihrem Ehepartner in der eigenen Wohnung körperlich mißhandelt, bedroht oder auf andere Art und Weise schwerwiegend beeinträchtigt werden, vor weiteren Übergriffen zu schützen. Namentlich Frauen und Kinder brauchen diesen Schutz, weil gerade sie es sind, die unter Gewalt in der Familie und in der häuslichen Umgebung besonders leiden.
Bei seiner Begründung geht der Bundesrat jedoch offensichtlich von einer Rechtslage und einer Rechtsprechung aus, wie sie tatsächlich nicht besteht. Wer Frau und Kind körperlich und seelisch mißhandelt, muß schon heute, nach geltendem Recht, die Wohnung verlassen. Auch mögliche Zuflucht in einem Frauenhaus ist für die Justiz kein Grund, von einer Zuweisung der Ehewohnung an die mißhandelte Ehefrau abzusehen. Hierauf hat die Bundesministerin der Justiz bereits bei der ersten Beratung ausdrücklich und zu Recht hingewiesen.
Die - im übrigen von mir wegen ihres Engagements und Sachverstandes geschätzte - Kollegin von Renesse
({0})
- Ehre, wem Ehre gebührt - hat bei der ersten Beratung in diesem Zusammenhang ausgeführt:
... die Frauenhausbewegung hat ... ein grelles Licht auf die geschundenen Gesichter von Frauen und Kindern gerichtet, von Frauen, die mit Veilchen, mit Schrammen, mitunter noch im Nachthemd, die Kinder heulend an der Seite, zur Nachbarin, zur Freundin oder zur Mutter eilen, fliehen, flüchten, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann ... Das Opfer muß gehen, und der Gewalttäter bleibt.
Sehr geehrte Kollegin, ich stimme Ihnen ausdrücklich darin zu, daß es bei dem von Ihnen vorgetragenen Sachverhalt eine Schande wäre, wenn die Opfer gehen müßten, die Gewalttäter bleiben könnten und wenn dies dem Willen des Gesetzgebers entspräche. Das ist jedoch nicht der Fall. Ich bedauere es, daß öffentlich der Eindruck erweckt wird, als wenn die körperliche Mißhandlung der Ehefrau oder gar der sexuelle Mißbrauch von Kindern kein Grund wäre, den Täter aus der Wohnung zu verweisen.
Bei dieser Argumentation wird die Auslegung der hier in Rede stehenden Vorschrift durch die Literatur und die Rechtsprechung übersehen, die bereits heute nicht erst bei einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben, sondern schon bei schweren Störungen des familiären Zusammenlebens § 1361 b BGB anwenden. Das ist auch richtig so, weil es dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Schon die geltende Rechtslage schützt den Ehegatten durch Zuweisung der Ehewohnung an ihn vor unzumutbaren Übergriffen in seine persönliche, körperliche und seelische Integrität. Eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben ist nicht zwingende Voraussetzung für die Zuweisung der Ehewohnung.
Der jetzige Gesetzestext verwendet den Begriff der schweren Härte. Zur schweren Härte zählt - das dürfte unstreitig sein - auch oder schon ein schwerwiegendes, die Gesundheit oder die Ehre stark beeinträchtigendes Fehlverhalten, namentlich auch die Verletzung eines geordneten und störungsfreien Zusammenlebens mit Kindern.
In diesem Zusammenhang verweise ich auch auf eine Entscheidung des OLG Bamberg, nach der die Anforderungen an den Begriff der schweren Härte bei zunehmender Dauer der Trennung abnehmen würden. Auch sind die Anforderungen an die schwere Härte dann geringer, wenn ein Ehegatte zunächst freiwillig ausgezogen ist, eine andere Wohnung unterhält und die Mitbewohnung der Ehewohnung nicht mit dem Ziel der Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft begehrt.
Nicht nur die einschlägige juristische Literatur, sondern auch die gerichtliche Praxis - das geht aus den Stellungnahmen der Länder hervor -, widerlegt den erhobenen Vorwurf, der drohenden Wohnungsnot des brutalen Ehemannes werde eine größere BeWolfgang Bosbach
deutung beigemessen als dem Wohl der mißhandelten Frauen und Kinder. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Wir sollten uns davor hüten, ihn öffentlich zu wiederholen, zumal dies gerade nicht im Interesse der betroffenen Frauen und Kinder sein kann.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute nicht nur in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf des Bundesrates, sondern auch in erster Lesung den Gesetzentwurf der SPD über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung. Der Bundesrat wollte den jetzigen Begriff der schweren Härte" durch die Formulierung „Schutz des Ehegatten oder aus Gründen des Kindeswohls oder aus sonstigen schwerwiegenden Gründen auch unter Berücksichtigung der Belange des anderen Ehegatten" ersetzen, während nunmehr die SPD-Fraktion den Begriff der „schweren Härte" durch den der „unbilligen Härte" ersetzen möchte, der der Formulierung des § 3 der Hausratsverordnung entnommen ist.
Daß die Verwendung dieses Begriffes aus dieser Vorschrift in § 1361 b BGB notwendig und sinnvoll ist, kann bezweifelt werden; denn die beiden Vorschriften haben einen unterschiedlichen Regelungsgehalt. Die Hausratsverordnung soll denjenigen Fall regeln, in dem sich die Ehegatten anläßlich der Scheidung nicht darüber einigen können, wer von ihnen die Ehewohnung zukünftig bewohnen und wer die Wohnungseinrichtung und den sonstigen Hausrat erhalten soll.
Die andere Vorschrift soll nur eine vorläufige Wohnungszuweisung regeln, wobei der Gesetzgeber von der Hoffnung ausgeht - zumindest damals von der Hoffnung ausging -, durch die Einführung dieses Paragraphen ließen sich die persönlichen Spannungen zwischen den Eheleuten abbauen und eine mögliche Versöhnung erreichen.
Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD-Fraktion ist zu fragen, ob es tatsächlich einen erheblichen Wertungsunterschied zwischen den Begriffen „unbillige Härte" und „schwere Härte" gibt. Zweifel sind angebracht; beispielhaft erwähne ich hier die Kommentierung von Diederichsen im Palandt, wo er sinngemäß ausgeführt hat, er vermöge einen rechtserheblichen Unterschied zwischen den beiden Begriffen „unbillige Härte" und „schwere Härte" nicht zu erkennen.
Im Hinblick auf die ebenfalls angestrebte Neufassung des § 620c ZPO darf ich abschließend darauf hinweisen, daß beide Gesetzentwürfe das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegen jede nach mündlicher Verhandlung ergangene Entscheidung über den Antrag auf Wohnungszuweisung eröffnet.
Der Gesetzgeber sollte sich jedoch, ohne rechtsstaatliche Grundsätze aufzugeben, darum bemühen, streitige Zivilverfahren zu straffen und zu beschleunigen. Die beabsichtigte Neufassung der Vorschrift läuft diesen Bestrebungen zuwider.
Zu Recht weist die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf hin, daß die hier in Rede stehende
Entscheidung nur einen vorläufigen Charakter hat, so daß es hinnehmbar erscheint, daß nur die vorläufige Zuweisung beschwerdefähig gestellt wird.
Ich stimme aber ausdrücklich zu, daß die ablehnende Entscheidung für den Antragsteller genauso belastend sein kann wie die stattgebende Entscheidung für denjenigen Ehegatten, der weichen muß, so daß wir diesen Punkt im Zuge der parlamentarischen Beratung über den Antrag der SPD noch einmal in aller Ruhe diskutieren sollten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Frau Kollegin von Renesse, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Beschluß des Rechtsausschusses ist klar, daß der Entwurf des Bundesrates von Ihnen abgelehnt werden wird. Es fällt Ihnen leicht, dafür gute Argumente zu finden; denn technisch ausgereift ist dieser Entwurf nicht. Er enthält einige technische Mängel, das ist vollkommen klar.
Nur, wir sind es gewohnt, daß in den Rechtsausschuß Rohmaterial kommt. Selten kommt es vor, daß ein Gesetzentwurf den Ausschuß so verläßt, wie er hereingekommen ist. Es wäre angesichts des Gewichtes dieses Antrages schon ein wenig Mühe wert gewesen, sich mit dem Antrag inhaltlich auseinanderzusetzen und ihn dort zu verbessern, wo er verbesserungsbedürftig ist.
Das haben Sie nicht getan, weil sie von vornherein davon ausgehen, daß es nicht nötig ist. In dem Bericht des Rechtsausschusses steht das zu lesen, was auch die Bundesregierung dazu sagt: Nach der forensischen Erfahrung sei ein Bedürfnis für eine Erleichterung der Zuweisung der Ehewohnung nicht gegeben.
Meine Damen und Herren, wenn man die Richter fragt, die nicht in der Ehewohnung, deren Zuweisung bei Ihnen beantragt wird, leben, dann wird man verständlicherweise zu hören bekommen, daß sie sehr zufrieden sind, daß es gegen gewisse Entscheidungen keine Rechtsmittel gibt und daß alles so geht, wie es geht.
Aber fragen Sie - das habe ich bereits bei der ersten Lesung gesagt - die betroffenen Frauen! Neuerdings kann ich auch sagen: Fragen Sie die Rechtsanwälte, die den Parteien in aller Regel etwas näherstehen als die Richter! Jüngst auf dem Treffen der Anwaltschaft ist die Erleichterung der Zuweisung der Ehewohnung von der Anwaltschaft als ein Wunsch an den Gesetzgeber beschlossen worden.
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Daß man dann immer noch sagen kann, das Interesse sei sozusagen unbeachtlich, da seien vielleicht ein paar hysterische Frauen, die ein Rausschmeißrecht gegen Ehemänner haben wollten - ich überMargot von Renesse
treibe ein wenig, das gebe ich zu -, läßt sich doch wohl unter diesen Umständen bestreiten; denn die Anwälte vertreten sowohl Frauen als auch Männer. Ich nehme an, sie tun das sauber quotiert fifty-fifty.
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Ich gehe davon aus, daß wir uns mit dieser Materie befassen müssen. Wenn Sie erlauben, will ich Ihnen dazu zwei Fälle aus der jüngsten Vergangenheit aus der Praxis meiner Kollegen am Familiengericht in Bochum darstellen. Dort gibt es einen Mann, der einfach nicht begreifen kann - was nicht selten vorkommt -, daß sich seine Frau endgültig von ihm trennen will. Er weigert sich einfach, zur Kenntnis zu nehmen, daß sie eine Trennungsabsicht hat und die Trennung durchführen will.
Das macht er sehr konkret. Er bedient sich nicht nur einfach aus dem Eisschrank, der in der Regel aus Sicherheitsgründen nicht abschließbar ist, sondern er setzt sich auch zu den Mahlzeiten an den Tisch, die sie für sich und die Kinder bereitet hat. Dabei hat sie vom Anwalt gehört, sie soll nicht kochen und nicht waschen. Trennung ist Trennung, muß Trennung sein.
In der Wohnung türmt sich die schmutzige Wäsche, und es bleibt ihr, damit sie überhaupt leben kann, nichts anderes übrig, als für ihn Service zu leisten, wohl wissend, daß sie das angesichts der Mathematik der Trennungsfristen nicht darf, und im übrigen auch zutiefst angewidert durch dieses Verhalten.
Die Kinder sind dabei. Sicher, sie brauchen noch keine Psychotherapie, aber sie machen sich die Spannungen ihrer Eltern zum Vorwurf gegen sich selbst. Das ist sehr häufig bei Kindern unter zehn Jahren zu beobachten.
Vielleicht kommen noch Drohungen oder Andeutungen von Selbstmord und dergleichen dazu.
Das alles spielt für den Richter der zweiten Instanz keine Rolle; für den Richter der ersten Instanz vielleicht. Wissen Sie, wie man sich als Richter hilft - das zum Thema Straffung der Verfahren; ich habe das selber gemacht, viele Kollegen handeln so -: Man macht eine Zuweisung innerhalb der Ehewohnung und weiß ganz genau, entweder zieht einer aus, oder der Topf kocht über. Dann kommt es zu den Szenen, die im Ergebnis den Zuweisungsantrag rechtfertigen. Das ist ein Zweistufenverfahren und ist in aller Regel nicht billiger als ein korrektes Rechtsmittel.
Sie haben gegen den Entwurf des Bundesrates eingewandt, daß neue unbestimmte Rechtsbegriffe geschaffen würden. Ich teile diese Sorge. Darum haben wir einen Begriff aus § 3 der Hausratsverordnung genommen, der sozusagen schon 50 Jahre über den Schleifstein der juristischen Auslegungsmathematik gegangen ist. Niemand muß sich darüber im unklaren sein, was damit gemeint ist, auch wenn es sich um einen wertausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff handelt.
Lassen Sie mich noch einen zweiten Fall bringen. Er handelt von einer Frau, die tabletten- und alkoholabhängig ist. Nach langem Martyrium der ganzen Familie entschließt sich der Mann um seiner Kinder und seiner selbst willen, sich von seiner Frau zu trennen. Morgens geht sie mit glasigen Augen durch die Wohnung. Die Kinder haben Angst, was sie als nächstes tut. Manche Polstermöbel riechen irreversibel nach Erbrochenem - obgleich sie sich bemüht; nach außen hin ist ihre Contenance durchaus unauffällig.
Glauben Sie, daß ein OLG in so einem Fall einen Zuweisungsbeschluß rechtfertigen würde? Aber hier wird eine Ehewohnung zur psychischen Folterkammer. Es ist unausweichlich, was dort geschieht. Sie können dort nicht die Tür hinter sich zumachen und haben damit nichts mehr zu tun, insbesondere die Kinder nicht.
Dieses Instrument sollte daher schärfer werden. Denn wir alle wollen, daß Familie ein Ort ist, wo Menschen starten können, wo Menschen nicht gedrückt werden und in Depressionen geraten. Die Familie sollte diesem Bild in der Öffentlichkeit und im privaten Leben der Menschen entsprechen.
Lassen Sie mich noch einen Hinweis zu unserem Entwurf machen: Sie haben mit Recht gesagt, daß die Verhältnismäßigkeit und die Zuweisungsbegründetheit eher bejaht wird, wenn ein Problem über längere Zeit andauert. Aber es fehlt oft an der Substantiierung.
Deswegen hat der Bundesrat in seinem Entwurf zu Recht vorgesehen, hier nicht etwa eine Beweislastumkehr, aber Beweiserleichterungen zu schaffen. Denn in der Regel wird über solche Vorfälle nicht Buch geführt. Man registriert sie, und man nimmt sie über eine lange Zeit hin, aber man weiß nicht mehr, wenn der Richter danach fragt, wie oft das passiert ist: am 26. Oktober, am 27. März, wobei er auch noch das Zeugnis der Kinder verlangt.
Ich denke, daß die Beweiserleichterung in diesem Zusammenhang durchaus eine Rolle spielt, wenn wir Familie als das nehmen, was sie ist: ein Alltagsgeschehen, das ebenso wunderbar wie auch bedrohlich, schmerzhaft und für alle, die es miterleben, nicht gerade von großer Attraktivität und nicht sehr einladend sein kann.
Ein Allerletztes will ich noch sagen, was Sie eigentlich dazu veranlassen müßte, den Entwurf, den die SPD eingebracht hat, sehr ernst zu nehmen - das betrifft die letzte Vorschrift, die wir vorschlagen; davon haben Sie nicht gesprochen -: Die Gerichte haben große Schwierigkeiten, in den Fällen, wo wir es mit rein ausländischen Ehen zu tun haben, das Instrument der Hausratsverordnung ebenso wie den § 1361b BGB, um den es hier geht, anwendbar zu machen.
Gucken Sie sich einmal an, welche Krücken die Rechtsprechung benutzt, wenn sie helfen möchte! Schauen Sie sich in der Rechtsprechung auch einmal an, welche Gerichte einfach sagen: Es ist Angelegenheit des Gesetzgebers und nicht der Gerichte, hier rechtschöpferisch tätig zu sein. Ihnen müßte es wie uns vor diesem Hintergrund ein Anliegen sein, daß
diejenigen, die ohne deutsche Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur vorübergehend wohnen, in ihren familiären Bezügen ebenso geschützt werden, wie das bei deutschen Staatsangehörigen der Fall ist. Hier wäre eine Klarstellung im Internationalen Privatrecht dringend geboten.
Ich hoffe - Sie haben es ja auch angedeutet -, daß wir über den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion sehr sorgfältig, eingehend und nicht nach dem Hoppiahopp-Verfahren verhandeln werden. Ich denke, wir werden gemeinsam ein gutes Ergebnis finden.
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Das Wort hat der Kollege Volker Beck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungskoalition wird den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates über eine erleichterte Zuweisung der Ehewohnung ablehnen. Für alle betroffenen Frauen, für alle Frauenorganisationen, die sich um Gewaltopfer kümmern, ist das ein Schlag ins Gesicht. Dabei wäre die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf ein kleiner, aber dennoch sehr wichtiger Schritt, der grassierenden Gewalt in Partnerschaften zu begegnen. Die Neuregelung könnte Signalwirkung entfalten und deutlich machen: Der Staat schaut bei Gewalttätigkeit gegen Frauen und Kinder in der Familie nicht untätig weg und wartet nicht, bis die Gewalt so eskaliert, daß sie vor den Strafrichter kommt.
Wir alle wissen über das Ausmaß der alltäglichen Gewalt in vielen Beziehungen Bescheid, einer Gewalt, der insbesondere Frauen ausgesetzt sind. Uns allen sollte mittlerweile bewußt sein, daß Frauenhäuser notgedrungen immer häufiger zu Frauenwohnheimen werden. Die Frauenhäuser sind überfüllt mit Frauen, die die Spannung zu Hause nicht mehr aushalten, die Mißhandlungen in der Beziehung oder in der Ehe entkommen wollen, die in der Flucht aus der mit ihrem Ehemann oder Partner gemeinsam genutzten Wohnung den einzigen Ausweg sehen. Es ist ein Skandal, daß häufig das Opfer an Stelle des Täters die Wohnung verlassen muß. Nicht alle von Gewalt bedrohten Frauen können den Weg ins Frauenhaus finden. Viele sehen sich gezwungen, mit dem gewalttätigen Partner in der gemeinsamen Wohnung auszuharren und auf das Scheidungsurteil zu warten.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nehmen mit Ihrer Verweigerungsstrategie in Kauf, daß sich an diesem Zustand nichts ändert. Sie sagen, es gebe keinen Handlungsbedarf. Diese Haltung finde ich schlicht ignorant.
Sie haben bei der Richterschaft nachgefragt, und diese - so war zu hören - sei mit der bisherigen Regelung zufrieden und gelange in der Regel zu zutreffenden Ergebnissen. Die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser, die mit der Gewaltproblematik Tag für Tag befaßt sind, sehen das ganz anders. Das kann ich Ihnen versichern.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halten an dem vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates fest und halten ihn für ein geeignetes Instrument, den beschriebenen Mißständen zu Leibe zu rücken. Der Entwurf bietet die Gelegenheit zu einer ausdrücklichen gesetzgeberischen Wertentscheidung, die unserer Ansicht nach lauten sollte: Wir halten den Schutz von Frauen und Kindern für einen höheren Wert als das Ziel der Aufrechterhaltung einer zerrütteten Beziehung.
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Zugleich könnte ein Beitrag zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung geleistet werden. Durch eine Beweiserleichterung sollte es den schutzsuchenden Ehegatten erleichtert werden, ihre Ansprüche durchzusetzen, statt vor Mißhandlungen zu weichen.
Hervorzuheben ist auch das Anliegen, nichteheliche Lebensgemeinschaften in den Regelungsbereich einzubeziehen. Möglicherweise hätte man hierfür einen systematisch besser geeigneten Ort finden können, um diesem Anliegen gerecht zu werden. Aber die Regierungskoalition hat auch nicht die geringste Anstrengung unternommen, sich an der Suche nach einer konstruktiven Lösung dieses Problems zu beteiligen. Ihre ideologischen Scheuklappen in der Ehepolitik verhindern eine sachliche Diskussion.
Für überfällig halten wir auch die Ausweitung der Beschwerdemöglichkeit. Gegenwärtig kann lediglich die Entscheidung über die Zuweisung der Ehewohnung mit der Beschwerde angegriffen werden, nicht aber die Ablehnung eines auf Zuweisung gerichteten Antrags. Das ist eine Ungleichgewichtung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Hier mit Rechtspflegeentlastung zu argumentieren ist zynisch. Mit genau dem gleichen Argument könnten Sie schließlich jedes beliebige Rechtsmittel in diesem Bereich abschaffen.
Meine Damen und Herren, wir hoffen, daß die Beratung des SPD-Entwurfs mit mehr Engagement für die betroffenen Frauen und unter Einbeziehung deren Sichtweise geführt wird, als das bei der Beratung des Entwurfs des Bundesrates jetzt der Fall war. Wir werden auch diesen Entwurf, der viele unserer Forderungen aufgreift, unterstützen.
Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, daß die weitergehende Zielsetzung des Bundesrates noch zum Tragen kommt. Hierzu werden wir einen Änderungsantrag vorlegen, Frau von Renesse. Vielleicht können wir uns darauf verständigen.
Vielen Dank.
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Herr Kollege Heinz Lanfermann, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Frau Kollegin von Renesse, wird die SPD dem Bundesratsentwurf nicht zustimmen können, weil Sie selbst die technischen Mängel schon eingestanden haben.
Ich möchte zur Beweiserleichterung folgendes sagen. Es ist schon interessant, wie man dann, wenn es einem gerade paßt und wenn es sich für die Betroffenen gut anhört, schnell dabei ist, in unserem doch sehr ausgewogenen System von Beweislast etwas zu ändern. Es gibt ja nicht nur die Beweislast, sondern es gibt auch die Beweiswürdigung. Es ist selbstverständlich, daß die Richter in solchen Alltagssituationen, in Dauersituationen ihre Erkenntnisse nicht nur dann gewinnen, wenn z. B. eine betroffene Ehefrau mit einer genauen, möglichst beglaubigten Liste von Daten und Vorfällen kommt.
Wir sollten doch Wert darauf legen, daß die Praxis etwas von der Sache versteht. Das hätte ich von Ihnen, Frau von Renesse, am meisten erwartet, da Sie ja wie ich das Vergnügen hatten, als Richter tätig gewesen zu sein, bevor wir hier Abgeordnete wurden. Wir haben also gar keinen, Anlaß zu der Vermutung, dort werde in der Regel nicht richtig gearbeitet. Das hatte ich von Ihnen so gar nicht erwartet.
Offensichtlich wird aber schon der Begriff der Darlegungslast verkannt. Herr Kollege Beck, wenn jemand einen Gesetzentwurf vorlegt, dann obliegt es ihm schon, auch die entsprechenden Daten und Fakten zu liefern, damit man diesem Gesetzentwurf eine Notwendigkeit zuspricht und ihm zustimmen kann.
Das Problem besteht darin, daß wir aus den Ländern den Wunsch vorliegen haben, ein Gesetz zu ändern, daß aber die Länder, die sehen, was in der Praxis, bei den Gerichten läuft, zu der Erkenntnis kommen, daß gar keine Änderung notwendig ist, weil die bisherige Gesetzesformulierung zu genau dem richtigen Ergebnis führt, wenn die Gerichte richtig damit umgehen. Wenn wir hier Gesetze machen, müssen wir natürlich immer voraussetzen, daß diese in der Praxis richtig umgesetzt werden.
Ich weiß, daß Juristen und insbesondere Richter immer dazu neigen, irgendwelche Fälle zu erzählen, möglichst eigene; aber es ist schwierig, wenn man mit Einzelfällen kommt, bei denen selektiv bestimmte Punkte herausgestellt werden, und man gleich sagt: Deswegen hat das Gericht in diesem Fall falsch geurteilt. Dann sagt man vielleicht auch noch: Das geschah auf Grund der Gesetzeslage, deswegen müssen wir das Gesetz ändern. Ich glaube, so einfach kann man es sich nicht machen.
Wenn es bei der bestehenden Gesetzesnorm tatsächlich Lücken geben sollte, müßte man dem nachgehen, damit man sichere Fakten hat. Diese haben Sie nicht geliefert. Aber ein jeder, der hier eine Gesetzesänderung verlangt, hat diese Darlegungslast. Es geht nicht an, eine Behauptung in die Welt zu setzen, keine Fakten zu bringen, aber die anderen, die einer Gesetzesänderung nicht zustimmen, sozusagen vorführen zu wollen. Das ist ein bißchen im Kreis gedacht, Herr Kollege Beck. Es entspricht den Grundzügen Ihrer Politik, daß Sie zunächst einmal etwas behaupten, aber keine Fakten vorbringen können. Anschließend sagen Sie: Wir kümmern uns um die Betroffenen, die anderen sind die Bösen und Hartherzigen, die diesen Problemen nicht nachgehen.
Sie müssen bedenken, daß es sich um schwierige Entscheidungen handelt.
Herr Kollege Lanfermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Däubler-Gmelin?
Ich möchte nur noch folgenden Satz sagen: Alles das, was Sie in einem Gerichtsverfahren für den einen tun, tun Sie gleichzeitig gegen den anderen. Die Entscheidungen gehen ja immer zugunsten des einen und zu Lasten des anderen. Das müssen Sie in der Abwägung berücksichtigen.
Entschuldigung, Frau Kollegin.
Herr Kollege Lanfermann, mir ist folgendes nicht ganz klar. Die Einzelheiten mögen schwierig sein. Ich glaube, es ist auch klar, daß wir uns gemeinsam um Gerechtigkeit bemühen. Was haben Sie gegen den Grundsatz „Wer schlägt, muß gehen, und das Opfer bleibt" und dessen Verwirklichung?
Ihre Frage unterstellt mir etwas, was so nicht richtig ist. Natürlich habe ich nichts gegen den Grundsatz, und ich habe gerade dargelegt, daß aus den Erfahrungsberichten der Praxis das Gesetz, das dies so sieht, von den Gerichten, die das genauso sehen, in den entsprechenden Fällen genauso angewandt wird.
Es ist doch selbstverständlich, und es muß doch nicht immer gleich an den Beginn jeder Rede gesetzt werden, daß wir alle bemüht sind, die Opfer von Gewalt zu schützen - das gilt natürlich insbesondere auch für die Kinder, die dadurch betroffen sind -, und daß wir selbstverständlich dafür sind, daß der Rechtszustand in dieser Republik so ist, daß Leute, die sich so verhalten, wie Sie das geschildert haben, natürlich aus einer Wohnung ausgewiesen werden, daß wir dieses Gefahrenpotential dann zugunsten der Opfer verringern. Da sind wir uns vollkommen einig.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Aber gerne.
Das Problem, das ich mit Ihrer Antwort habe, liegt nicht im Grundsätzlichen, Herr Kollege Lanfermann, sondern einfach in der Tatsache, daß die Frauenhäuser mit geschlagenen Frauen und ihren Kindern voll sind und eine Menge von Männern in Ehewohnungen sitzen, weil die Gerichte mit dieser Problematik nicht zu Rande kommen. Sind Sie nicht deswegen doch der MeiDr. Herta Däubler-Gmelin
nung, daß die Argumentation mit dem Nachweis der Notwendigkeit vielleicht von Ihnen überdacht werden sollte?
Daß Sie mit meiner Antwort im Grundsätzlichen kein Problem haben, ist schon ein Fortschritt. Aber ich fürchte, daß Sie mir einfach nicht geglaubt haben, obwohl ich etwas Richtiges gesagt habe.
({0})
Aber ich will noch mal genau darauf eingehen. Sie vermischen jetzt zwei Probleme. Wenn es zuwenig Plätze in Frauenhäusern gibt, was wegen der Zahl der Opfer bedauerlich genug wäre,
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dann bitte ich Sie herzlich, an die Landesregierungen, die Ihnen zum größten Teil sehr nahe stehen, und an die Kommunen heranzutreten, daß mehr Plätze eingerichtet werden.
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Aber das hat nichts damit zu tun, wie man in einem Einzelfall eine richtige Entscheidung trifft, was mit der Belegung einer Wohnung geschieht. Das sind doch zwei völlig verschiedene Dinge. Das können Sie nicht einfach vermischen und sagen, es bestünde, weil in der Politik vielleicht hier und da falsch oder schlecht gehandelt wird, an einer anderen Stelle Gesetzgebungsbedarf, damit man da entlastet wird. Das ist das Problem der Verwechslung tatsächlicher Politik, die in Ordnung sein muß, mit Gesetzgebungsverfahren, die natürlich das tun müssen, was richtig ist.
Ich wiederhole noch einmal: Sie glauben offensichtlich den eigenen Landesregierungen nicht. Sie glauben offensichtlich den Richtern nicht, die aus ihrer täglichen Arbeit, aus ihrer Praxis - nicht, weil es ihnen gefällt oder weil sie zufrieden sind - berichtet haben, daß sie das bestehende Gesetz in den Fällen, die Sie meinen, genauso auslegen, wie Sie es wollen. Man fragt sich wirklich, wo da noch der Bedarf ist.
Gleichwohl werden wir selbstverständlich Ihren Antrag, der heute in den Ausschuß überwiesen wird, mit aller Gründlichkeit und mit allem Ernst beraten.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann, was Sie eben gesagt haben, hat sich genau nicht an der Realität orientiert, und das kann man auch nicht wegwischen, indem man auf die Landesjustizminister oder auf die Gerichte verweist. Was Sie eben hier geleistet haben, zeugte von einer unerträglichen Ignoranz und Arroganz gegenüber der Situation von Frauen in den Frauenhäusern.
({0})
Es muß klar festgestellt werden, daß die heute zur Diskussion stehenden Gesetzentwürfe zur Zuweisung der Ehewohnung ganz unzweifelhaft eine Verbesserung der geltenden Rechtslage darstellen. Aber sie sind aus unserer Sicht unzureichend, und deswegen haben wir einen Änderungsantrag eingereicht.
Die Zuweisung der Ehewohnung ist notwendig, wenn es zu Gewalttaten in der Ehe gekommen ist. Gewalt von Männern gegen Frauen, gerade in Beziehungen, ist keine Ausnahme. Das wissen wir, und täglich und überall findet sie statt. Frauen sind gezwungen, in Frauenhäusern Schutz zu suchen. Wenn Frauen dann zurück in die Wohnung wollen, in die Umgebung also, die ihnen und ihren Kindern vertraut ist, können sie bei Gericht auch nach geltendem Recht schon einen Antrag auf Zuweisung der Ehewohnung stellen. Sie müssen dann, habe ich mir sagen lassen, ein medizinisches Gutachten vorlegen, das praktisch beweist, daß sie dieser Gewalt ausgesetzt gewesen sind.
Eine Frauenhausmitarbeiterin in Frankfurt/Oder hat zu mir gesagt, die Frau sollte den Kopf schon unter dem Arm tragen, damit die Härtefallklausel anerkannt wird. Das muß anders werden. Es kann nicht angehen, daß die Frauen die Beweislast tragen und damit rechnen müssen, daß ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt wird und daß es so ist, wie es ist, daß eben statt der Täter die Opfer sich rechtfertigen müssen.
Diese Gesetzeslage und die Praxis - das müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen - begünstigt gewalttätige Männer. Sie bleiben in der gemeinsamen Wohnung, während die Frauen mit ihren Kindern in die überfüllten Frauenhäuser flüchten müssen. Der Wohnungsmarkt und häufig auch die schwierige finanzielle Situation machen es Frauen oft unmöglich, sich eine eigenständige Existenz aufzubauen.
In den Gesetzentwürfen des Bundesrates und auch der SPD ist davon die Rede, daß die Belange des anderen Ehegatten berücksichtigt werden müssen. Ich denke, das darf keine Rolle spielen. Ich möchte es ganz deutlich sagen: Dem Täter kann eine auf Grund der Wohnungszuweisung an die Ehefrau eventuell notwendig werdende Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft eher zugemutet werden als der mißhandelten Frau der Notaufenthalt in einem Frauenhaus. Das heißt, die Mißhandler müssen aus der Wohnung ausgewiesen werden können, damit Frauen und Kindern ihr gewohntes Umfeld erhalten bleibt, wenn sie es wollen. Das Recht auf Nutzung der Wohnung darf nicht erschwert werden, z. B. durch Auflauern vor der Wohnung oder in der näheren Umgebung oder durch die Androhung von Gewalt und ähnlichem. Das heißt, es muß möglich sein, eine Bannmeile zu verhängen. In diesem ZusammenChristina Schenk
hang sind noch weitere Maßnahmen notwendig, auf die ich hier nicht eingehen kann. Ich denke, wir sollten uns in dieser Hinsicht durchaus an der Ban-andgo-Order in Kalifornien orientieren, die dafür sehr weit reichende Maßnahmen vorsieht. Gewalttätigen Ehemännern wird dort bei Androhung einer hohen Geldstrafe die Kontaktaufnahme verboten, und sie müssen die gemeinsame Wohnung verlassen.
Ich komme zum Ende. Gewalt gegen Frauen muß öffentlich geächtet und auch eindeutig sanktioniert werden. Die Gesetzgebung muß ein eindeutiges Signal an die Polizei, die Staatsanwälte und die Richter geben. Es müssen gesetzliche Regelungen gefunden werden - das ist unsere Aufgabe -, die den Schutz von Frauen gerade in der hier diskutierten Situation gewährleisten können.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort der Bundesministerin der Justiz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Uns beschäftigt ein gemeinsames Ziel. Es gibt zwei Entwürfe und, wenn ich die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses hinzunehme, eigentlich drei Meinungen. Alles, was über handwerkliche und technische Mängel des Bundesratsentwurfes gesagt werden muß, ist meiner Meinung nach von den Vorrednern schon ausgeführt worden. Deshalb sind die Regierung und die Koalitionsfraktionen der Auffassung, diesen Gesetzentwurf, so wie es der Rechtsausschuß empfiehlt, abzulehnen.
Die SPD hat einen neuen Entwurf vorgelegt. Die Vorredner haben deutlich gemacht, daß der Wille, sich mit diesem Gesetzentwurf sehr ernsthaft und sehr intensiv auseinanderzusetzen, eindeutig vorhanden ist. Das heißt nicht, daß man dann einfach zur Tagesordnung übergeht und bekannte Argumente, die zu einem anderen Entwurf vorgetragen worden sind, nur wiederholt.
Aber wir können die Augen auch nicht davor verschließen, daß auch die Praxis ein Votum abgibt. Wenn wir die Praxis und damit gerade auch die Richter nicht befragen würden, würde man uns zu Recht Unterlassen vorwerfen. Da haben wir - auch das ist in der Debatte heute schon gesagt worden - größte Zurückhaltung gegenüber Änderungen des geltenden Rechtes zu hören bekommen. Das können wir nicht einfach beiseite wischen. Aber damit ist für mich noch nicht das Ende der Diskussion erreicht, und damit gebe ich mich nicht zufrieden.
Deshalb habe ich den Vorschlag aufgegriffen, den der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Bundestages gemacht hat, durch Prüfen von seiten des Justizministeriums noch mehr Klarheit über die notwendigen Rechtstatsachen zu bekommen. Das ist für jede vernünftige und seriöse Gesetzgebung richtig und notwendig. Wenn wir dies nicht täten, würde uns die Opposition zu Recht kritisieren.
Deshalb tun wir uns überhaupt nicht schwer damit, die Beschlußempfehlung dieses Ausschusses aufzugreifen. Ich habe schon entsprechende Gespräche, auch mit meiner Kollegin Frau Nolte, geführt. Wir werden in Kürze einen Auftrag vergeben, um zu noch klareren Erkenntnissen und zu noch konkreteren Angaben zu kommen, was die Rechtstatsachen für dieses Gesetzgebungsvorhaben angeht. Dann werden wir uns - dies kann ich berechtigt in Aussicht stellen - in großer Ruhe und sehr sachlich mit den gemachten Vorschlägen beschäftigen.
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen. Der SPD-Antrag greift einen Vorschlag aus dem Bundesratsentwurf nicht auf, nämlich diese Regelung auf nichteheliche Lebensgemeinschaften auszudehnen. Ich glaube, dies geschieht aus sehr guten Gründen. Bei der Entscheidung der Zuweisung der Wohnung ist es ein wesentlicher Unterschied, ob es sich um eine Familie, also ein Ehepaar, eventuell auch mit Kindern, handelt oder ob zwei Menschen zusammenleben, die nicht verheiratet sind. Deshalb muß man diesen Unterschied, der gerade bei der Zuweisung der Wohnung besteht - die Zuweisung bei Nichtverheirateten bedeutet nämlich Trennung, Auseinandergehen, und danach gibt es nichts mehr -, sehr wohl bei diesen Beratungen berücksichtigen.
Es ist nicht richtig, wenn Sie, Herr Beck, sagen, dadurch, daß dieser Vorschlag gar nicht ernsthaft aufgenommen werde, werde deutlich, daß man nicht sehe, daß es eventuell in bestimmten Bereichen Notwendigkeiten gibt, Nachteile, die nichteheliche Lebensgemeinschaften betreffen, zu beseitigen. Man sollte sich dann aber wirklich die richtigen Gelegenheiten aussuchen und nicht hier versuchen, das an ein solches Gesetzgebungsverfahren anzuhängen.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin von Renesse?
Ja.
Wollen Sie, Frau Ministerin, mir erlauben, zur Klarstellung darauf hinzuweisen, daß die Nichtaufnahme der nichtehelichen Lebensgemeinschaft in diese Regelung nicht so sehr, wenn auch ein wenig, auf systematischen Bedenken beruht, die Sie gerade vorgetragen haben, sondern einfach auf dem praktischen Hintergrund, daß der § 1361 b eine vorläufige Regelung für Ehegatten darstellt und seine Übertragung auf Nichtverheiratete zwangsläufig eine endgültige mit sich führen müßte, wofür er nicht gemacht ist?
Ich kann das nur bestätigen, Frau von Renesse. Auch ich hatte gerade eben gesagt, daß das Getrenntleben bei Nichtverheirateten gleichbedeutend mit dem endgültigen Auseinandergehen ist. Von daher haben wir hier wirklich eine unterschiedliche Situation.
Deshalb ist es wichtig, daß wir uns mit den wesentlichen Punkten des Anliegens und des gemeinsamen Ziels, das wir verfolgen, beschäftigen. Ich hoffe, daß uns das auf der Grundlage von weiteren Erkenntnissen gemeinsam in der gebotenen Sachlichkeit möglich sein wird.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung auf Drucksache 13/196.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/2738 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zum Gesetzentwurf des Bundesrates. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/ 1251, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 13/196 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/2500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist nicht der Fall. Darm ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches ({0})
- Drucksache 13/2203 Überweisungsvorschlag :
Rechtsausschuß ({1})
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Senator der Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, Professor Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, das Wort.
Senator Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche als Mann zu Ihnen, um Schutz vor einem Delikt einzufordern, bei dem 80 % der Täter männlich und die Opfer meist Frauen sind. Sexueller Mißbrauch
unter perfider Ausnutzung therapeutischer Macht - darum geht es - ist leider kein Einzelfall, sondern kommt jährlich viele Hunderte Male vor. Sexueller Mißbrauch in der Therapie ist eine subtile Form schleichender Vergewaltigung, bei der sich die Gewalt als Hilfe tarnt und der Vergewaltiger als Arzt oder Therapeut. Das ist mehr als therapeutisches Versagen. Das ist ein heimtückischer Überfall, der schwer verletzt, anstatt zu heilen.
({3})
Die Folgen sind massive Traumatisierungen, die zu unheilbaren Depressionen, emotionaler Erstarrung, psychosomatischen Schmerzzuständen, Drogen- und Alkoholabhängigkeit oder Suizidgefahren führen können.
Natürlich ist all das, wenn es in der Therapie erfolgt, standeswidrig. Es kann auch zivilrechtliche Schmerzensgeldforderungen auslösen. Strafrechtlich fällt es unter Beleidigung und häufig auch unter Körperverletzung. Solche Folgen aber treffen nicht den wirklichen Unrechtsgehalt, der durch die sexuelle Ausnutzung einer besonderen Abhängigkeit geprägt ist. Die allgemeinen Straftatbestände sind nur eine kriminalpolitische Krücke, kein wirksamer Schutzschild.
Der kriminalpolitische Handlungsbedarf ist so gut wie unbestritten. Die auf Anregung Hamburgs entstandene Initiative des Bundesrates will einen Schutz in allen Behandlungsverhältnissen, die der Erkennung, Heilung und Linderung körperlicher oder seelischer Leiden dienen. Die Bundesregierung will zaghafter vorgehen. Sie will den Schutz nur in einem Teilbereich von therapeutischen Behandlungsverhältnissen gewähren.
Sicherlich ist sexueller Mißbrauch im Bereich der Psychotherapie und Psychiatrie eine besonders schwere und verwerfliche Form. Für diesen Bereich liegen auch Forschungsergebnisse vor, die eine schreckliche Sprache sprechen. Wenn es für andere Bereiche noch keine zuverlässigen Daten gibt, so liegt es daran, daß noch keine angemessene Forschung durchgeführt worden ist. Das aber heißt nicht, daß es dort keine gravierenden Mißbrauchsrisiken gibt und aktuell kein Handlungsbedarf besteht.
Im Gegenteil: Körperliche und seelische Leiden sind eng miteinander verzahnt; Psychosomatiker wissen dies. Nur körperliche oder nur seelische Leiden gibt es fast nie. Jedes starke Leiden kann zu einer Abhängigkeit von Arzt oder Heilpraktiker führen. Eine seelische Erkrankung mit körperlichen Symptomen kann auch dann die Grundlage für sexuellen Mißbrauch bieten, wenn der Therapeut nur das körperliche Symptom kurieren soll. Wer zusätzlich die Spannbreite zwischen Allgemeinmedizin, Psychotherapie und Verhaltenstherapie, von den Außenseiterbehandlungsmethoden bis hin zur Scharlatanerie, einkalkuliert, der muß, so meine ich, einen weiten Schutzbedarf erkennen.
Gerade bei den unkonventionellen Behandlungsmethoden können die Patienten besonders schwer
Senator Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem ({4})
erkennen, wo die Zone des Therapeutischen endet und die der sexuellen Perfidie beginnt.
Natürlich ist das Anliegen der Bundesregierung legitim, für eine hinreichend bestimmte Umschreibung des Tatbestandes zu sorgen. Möglicherweise kann man da noch etwas nachbessern. Dafür aber ist es nicht notwendig, den Tatbestand auf Übergriffe bei der Behandlung seelischer Leiden zu beschränken. Andere und weitere Mißbrauchsfälle werden ganz bestimmt schon sehr schnell ruchbar werden. Man denke nur an die Behandlungsmethoden des Scientology-Imperiums.
Soll nicht schon bald eine weitere Novellierung notwendig werden - dabei unterstelle ich, daß die eng gefaßte Novellierung auf jeden Fall verabschiedet wird -, muß das Gesetz von vornherein das gesamte Mißbrauchspotential umfassen. Es geht um ein Signal, das allen potentiellen Opfern Mut macht und das laut genug ist, um in alle sozialen Räume der Heilbehandlung zu dringen, in denen das besondere Vertrauen, die Überlegenheit ausgenutzt wird, in denen die Hoffnung auf Heilung zu sexuellem Mißbrauch pervertiert wird.
Auch und gerade wir Männer schulden den Opfern wirkungsvollen Schutz. Seien Sie, Männer und Frauen, mit den Tätern im Verborgenen bitte nicht zimperlich. Unterstützen Sie die Initiative des Bundesrates!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Horst Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich Ihnen meine Stimme in der gegenwärtigen Verfassung nicht so lange zumuten möchte und ich auch nicht weiß, wie lange sie noch hält, will ich mich auf einige wenige Anmerkungen beschränken. Zuweilen ist der Zwang zur Kürze auch ganz nützlich.
Wenn man mit einem Gesetzentwurf zu tun hat, ist die erste Frage, ob es denn notwendig sei, neue Vorschriften zu schaffen. Auf Neuhochdeutsch heißt es: Besteht ein Handlungsbedarf? Wir lesen von Zeit zu Zeit in der Boulevardpresse, entsprechend aufbereitet für den Voyeurismus in der Gesellschaft, von Fällen, in denen meist Frauen von Ärzten sexuell belästigt worden sind, sogar vergewaltigt worden sind. Es handelt sich um Patientinnen, die diese Ärzte aufgesucht haben. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Behandlungen handelt es sich natürlich um Einzelfälle, die sich auch summieren können.
Nun braucht man sich nicht auf die Boulevardpresse zu verlassen. Es gibt seriösere Zahlen. Es gibt auch eine Untersuchung des Instituts für Psychotraumatologie, die vom Bundesrat zitiert wird. Es ist dort von schätzungsweise 600 Fällen im Jahr die Rede. Das ist eine Schätzung. Es können natürlich weniger, es können auch mehr sein. Ich halte es
nicht für ausgeschlossen, daß sogar die Gefahr besteht, daß es eine Zunahme dieser Fälle gibt. Wir wissen, daß bei psychischen Störungen und Belastungen immer häufiger ärztliche Hilfe, die Hilfe von Psychotherapeuten in Anspruch genommen wird. Hier steigt also die Zahl der Behandlungen. Wir wissen auch, daß häufig bei Personen Hilfe gesucht wird, die eher den Scharlatanen zuzurechnen sind als den Ärzten. Wir glauben zu wissen - ich will das sehr vorsichtig formulieren -, daß die Hemmschwellen für sexuelle Übergriffe allgemein wohl niedriger geworden sind.
Von der Zahl kann man nicht als von einer Bagatelle reden, und man kann es natürlich erst recht nicht von der Schwere des Delikts und von den schlimmen Folgen für die betroffenen Opfer, meist Frauen. Ich will nicht das wiederholen, was der hamburgische Justizsenator eben ausgeführt hat.
In einem Teil der Fälle greifen andere Strafvorschriften. Wird Gewalt angewendet oder wird mit Drohungen gearbeitet - das ist zuweilen auch der Fall -, dann ist der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt. Es spricht einiges dafür, daß dieser Tatbestand demnächst ergänzt wird um eine weitere Variante, das Ausnutzen einer hilflosen Lage. Liegt eine Widerstandsunfähigkeit vor - zuweilen wird mit dem Hilfsmittel der Narkotisierung gearbeitet -, dann greift § 179 StGB.
Aber es bleiben ganz ohne Zweifel Fälle, in denen keine anderen Strafvorschriften erfüllt sind. Für diese Fälle brauchen wir in der Tat - darüber besteht im Grundsatz Übereinstimmung zwischen Bundestag und Bundesrat - eine ergänzende Strafvorschrift. Dafür spricht im übrigen auch, daß wir für andere Abhängigkeitsverhältnisse Strafnormen haben, die diejenigen, die sich in diesem Abhängigkeitsverhältnis in untergeordneter Stellung befinden, besonders schützen. Wir haben im § 174 StGB den sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen geregelt. Ich nenne nur das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülerinnen, Ausbildern und Lehrlingen. Wir haben im § 174 a eine Schutzvorschrift gegen den sexuellen Mißbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten und Kranken in Anstalten. Und wir haben in § 174b eine Schutzvorschrift gegen den sexuellen Mißbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung.
Es liegt nun durchaus nahe, die Erfahrungen, die wir mit diesen Vorschriften gesammelt haben, insbesondere mit der Begriffsbestimmung, mit der auch in diesen Vorschriften gearbeitet wird, hier zu verwenden. Mir scheint überlegenswert zu sein, auch in der neu zu schaffenden Vorschrift den Begriff des Mißbrauchs einzuführen, der in allen anderen Vorschriften enthalten ist.
Es ist schon die Rede davon gewesen, daß die Bundesregierung dazu neigt, den Kreis der erfaßten Behandlungsverhältnisse etwas enger zu fassen als der Bundesrat. Dort sind alle Behandlungsverhältnisse erfaßt, die sich auf das Erkennen, die Heilung oder die Linderung körperlicher oder seelischer Leiden erstrecken.
Nun will ich gerne einräumen, daß zuweilen die Behandlung körperlicher oder seelischer Leiden nicht streng voneinander getrennt werden kann. Ob wir auf der anderen Seite, um ein Beispiel zu wählen, eine Strafvorschrift brauchen, wenn eine Patientin dem stahlblauen Blick ihres Zahnarztes nicht widerstehen kann, das ist zumindest fraglich und sollte in den Beratungen im Rechtsausschuß näher behandelt und thematisiert werden.
Wir stehen - dies als Abschlußbemerkung - vor einer Neuregelung der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung, also vor einer Neuregelung in den §§ 177 und 178 StGB. Eigentlich wäre es sehr schön, wenn wir in diesem Zusammenhang auch eine neue Vorschrift für den sexuellen Mißbrauch im Rahmen von Therapieverhältnissen mit erledigen könnten. Ob das zeitlich noch möglich ist, vermag ich nicht sicher zu beurteilen, aber der innere Zusammenhang ist sicherlich gegeben. Wir könnten dann diese beiden Themenkreise gemeinsam abschließen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Frau Kollegin Erika Simm, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf des Bundesrates, der uns heute in erster Lesung beschäftigt, greift ein Thema auf, das in Deutschland eigentlich erst in jüngerer Zeit nennenswerte Beachtung gefunden hat. Bis vor kurzem gehörte der sexuelle Mißbrauch in der Therapie, jedenfalls bei uns - in den USA diskutiert man darüber schon länger -, zu den sogenannten Tabuthemen.
Daß dies so war, hat viele Gründe. Der wohl wichtigste liegt darin, daß bis in die jüngste Vergangenheit weder in der Öffentlichkeit noch in der Fachwelt ein ernsthaftes Problembewußtsein für dieses Thema vorhanden war. Es herrschte die Vorstellung von der Patientin vor, die entweder den Therapeuten verführt oder sich ihm in naiver, schwärmerischer Hingabe sozusagen anbietet. Es wurde dabei übersehen, daß allein der Therapeut die Verantwortung für die Grenzverletzungen in der Therapie trägt und Patientinnen in keinem Fall für sexuelle Übergriffe des Therapeuten mitverantwortlich zu machen sind.
Sexuelle Beziehungen gehören zu keiner Art von Behandlung. Nicht von ungefähr stellen denn auch eine Reihe von Berufsverbänden der Psychotherapeuten und der Psychologen in einem gemeinsamen Positionspapier sehr deutlich fest:
Jede Aufnahme einer sexuellen Beziehung im Rahmen einer Psychotherapie ist ein gravierender Kunstfehler mit nicht absehbaren, oft katastrophalen Konsequenzen für die Behandelten.
Ein weiterer Grund für die Tabuisierung dieses Problems war und ist immer noch die Sprachlosigkeit auf beiden Seiten der Beteiligten, zum einen wegen des aus naheliegenden Gründen nicht vorhandenen Interesses der Therapeuten, ihre Praktiken öffentlich zu machen, und zum anderen wegen des Verdrängungs- und Verleugnungsprozesses bei den betroffenen Frauen, die schweigen und ihre schmerzhaften Enttäuschungen und beschämenden Erfahrungen für sich behalten. Erst in den letzten Jahren ist der sexuelle Mißbrauch in der Therapie durch Einzelfallberichte stärker in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Inzwischen haben sich auch die meisten Berufsverbände dieses Themas angenommen.
Mit der seit August 1995 vorliegenden Studie des Freiburger Instituts für Psychotraumatologie
({0})
- sie ist hier schon angesprochen worden - liegt jetzt auch für unseren Bereich erstmals ein umfassender Forschungsbericht vor, der für die weitere Diskussion, denke ich, sehr hilfreich sein kann. Diese Studie beweist, daß wir es, zumindest für den Bereich der Psychotherapie, nicht nur mit einigen wenigen spektakulären Einzelfällen zu tun haben. Unter Einbeziehung aller Therapieformen geht die Studie auf Grund einer vorsichtigen Schätzung von mindestens 600 Betroffenen pro Jahr aus; es sind vorwiegend Frauen, die Opfer sexueller Übergriffe in einer Therapie werden.
Was bedeutet das für die Frauen? Sie, die in einer Therapie Hilfe suchen, überantworten sich in einer seelischen Notlage einem Psychotherapeuten, also einem professionellen Helfer. Sie begeben sich damit in ein besonderes Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis, das notwendig ist, damit psychotherapeutische Behandlung überhaupt stattfinden kann. Die Ausnutzung dieses Vertrauensverhältnisses zur Aufnahme sexueller Kontakte hat für die Patientinnen schwerwiegende Folgen in Form gravierender Persönlichkeitsstörungen wie Ängsten, depressiven Verstimmungen bis hin zu Selbstmordabsichten, Schuld- und Schamgefühlen und der massiven Erschütterung ihres Selbstwertgefühles. Die Gefahr, in den Alkoholismus abzugleiten, nenne ich da noch zuletzt.
Angesichts dieser erheblichen Störungen bei den Opfern stellt die Freiburger Studie fest, daß sexuelle Beziehungen in Psychotherapie und Psychiatrie eine tiefgreifende traumatische Erfahrung darstellen. Alle verquasten Phantasien von einer „Liebestherapie", die den Patientinnen durch „gesunden Gebrauch der Sexualität" angeblich zur „vollen Liebesfähigkeit" verhelfen soll, sind damit ad absurdum geführt. Es geht schlicht und einfach um die sexuelle Ausbeutung des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Therapeut und Patientin.
Die Frage, ob wir eine neue Strafbestimmung brauchen, die den sexuellen Mißbrauch in Therapieverhältnissen zum Gegenstand hat, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode begonnen zu diskutieren. Durch die geltenden Regelungen werden jedenfalls nicht alle Sachverhalte abgedeckt, um die es hier geht. Die §§ 177 und 178 StGB, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, setzen Gewaltanwendung
oder Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben voraus, deren es beim sexuellen Mißbrauch in Therapieverhältnissen auf Grund des zwischen Therapeuten und Patientin bestehenden besonderen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnisses gerade typischerweise nicht bedarf, um das Opfer zur Aufnahme oder zur Duldung sexueller Handlungen zu veranlassen.
Die Voraussetzungen des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB, sexueller Mißbrauch Widerstandsunfähiger, der in diesem Zusammenhang auch immer genannt wird, werden in aller Regel gleichfalls nicht erfüllt sein, weil das Krankheitsbild der Patientinnen, um die es hier geht, in der Regel den hier genannten Tatbestandsmerkmalen nicht entspricht.
Der § 174 StGB, sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen, schließt nur den Mißbrauch von Personen unter 16 bzw. 18 Jahren ein. § 174a StGB, der sich u. a. auf den sexuellen Mißbrauch von Kranken in Anstalten bezieht, erfaßt nichtambulante Behandlungsverhältnisse.
Somit besteht eine Strafbarkeitslücke für ambulante Therapieverhältnisse und für erwachsene Opfer. Mehrheitlich wird heute das Bedürfnis nach einer altersunabhängigen Strafnorm, zumindest für den Bereich der Psychotherapie, bejaht.
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates, über den wir heute reden, der die Schaffung einer neuen, selbständigen Strafnorm, eines § 174 c StGB, vorsieht, ist insofern verdienstvoll, als er den Anstoß gibt, alsbald zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen. Allerdings - jedenfalls ist das meine Einschätzung - wirft dieser Vorschlag auch eine Reihe von Problemen auf, die wir im weiteren Verfahren intensiv werden diskutieren müssen.
Das beginnt mit der Fassung des Tatbestandes - dies ist schon angesprochen worden -, wonach der sexuelle Mißbrauch in jedem Behandlungsverhältnis, das der Erkennung, Heilung oder Linderung körperlicher oder seelischer Leiden dient, unter Strafe gestellt wird. Darunter fallen auch alle organmedizinischen Behandlungen, ohne Bewertung der Intensität des mit ihnen verbundenen Vertrauensverhältnisses. Ich denke, wir müssen jedenfalls darüber reden, ob es sachgerecht ist, diese Regelung so zu fassen. Denn gerade die Ausbeutung des Vertrauensverhältnisses durch den Therapeuten macht in diesem Zusammenhang den eigentlichen Strafbedarf aus. Wir müssen deswegen prüfen, ob wir auf die tatbestandliche Anknüpfung an das Vorliegen eines besonderen Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnisses verzichten können. Es gibt ja auch die Tendenz - so habe ich die Stellungnahme der Bundesregierung verstanden -, nur psychotherapeutische Behandlungsverhältnisse zu erfassen.
Ich meine, wir müssen darüber reden - das sagt auch die Studie -, wie lange der strafrechtliche Schutz in bezug auf die Behandlungsdauer gelten soll. Es ist vorgeschlagen: ein Jahr darüber hinaus, allerdings mit einer Beschränkung für die Behandlungsverhältnisse.
Wir werden auch noch über - anknüpfend an das, was wir in der letzten Legislaturperiode diskutiert
haben - die Verjährung bei einem solchen neu zu schaffenden Tatbestand diskutieren müssen. Gerade das besondere Abhängigkeits- und Vertrauensverhältnis zwischen Therapeuten und Patientinnen bzw. Patienten begründet meiner Meinung nach Überlegungen, ob nicht auch in diesen Fällen eine erhebliche Hemmschwelle besteht, alsbald nach der Tat Anzeige zu erstatten, und ob dadurch nicht Veranlassung gegeben ist, im Gesetz ein Ruhen der Verjährung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt, der sicher nicht einfach zu definieren sein wird, vorzusehen.
Ich könnte mir auch vorstellen, daß wir diesen Komplex gemeinsam mit der nun offenbar möglichen Unterstrafestellung der Vergewaltigung in der Ehe diskutieren. Ich wünsche mir allerdings, daß das nicht zu einer Verzögerung der neuen Strafbestimmung zur Vergewaltigung führt. Wenn das der Fall sein sollte, weil wir bei der jetzt zu behandelnden Materie einen sehr hohen Beratungsbedarf haben bzw. die Meinungen so weit auseinandergehen, daß wir nicht alsbald zu einer gemeinsamen Regelung kommen können, plädiere ich dafür, daß wir beide Komplexe getrennt beraten.
Ich bedanke mich.
({1})
Herr Kollege Volker Beck, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesratsentwurf, den wir heute beraten, nimmt sich einer Problematik an, vor der der Gesetzgeber die Augen bislang verschlossen hat. Die Initiative geht auf eine Diskussion in Bundestag und Bundesrat aus der letzten Wahlperiode zurück. Anlaß war damals die Rechtsangleichung im Jugendsexualstrafrecht.
Im Gegensatz zu dem überflüssigen § 182 StGB geht es hier um eine massive Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechtes. Das Anliegen des vorliegenden Entwurfes verdient unsere volle Unterstützung. Diejenigen, die sich mit der Bitte um Hilfe in bestimmte Abhängigkeitsverhältnisse begeben haben, müssen auch strafrechtlich vor der Ausnutzung dieser Verhältnisse zu sexuellen Handlungen geschützt werden.
Opfer des sexuellen Mißbrauchs in therapeutischen Beratungsverhältnissen sind in allererster Linie Frauen, deren männliche Therapeuten die besondere Situation des Therapieverhältnisses zur Vornahme sexueller Kontakte ausnutzen.
In den letzten Jahren gab es aber auch Hinweise auf Übergriffe auf Männer in der Therapie. Auch aus dem seelsorgerischen Bereich werden vermehrt Übergriffe bekannt. Dabei fehlt es zudem oftmals am nötigen Unrechtsbewußtsein, so z. B. bei denjenigen Dienstherren, die aus Scheu vor der Öffentlichkeit die Taten lieber zudecken und verschleiern, als sie anzuzeigen. So werden die Opfer ein zweites Mal viktimisiert.
Volker Beck ({0})
Die besondere Verwerflichkeit sexueller Kontakte während therapeutischer Verhältnisse und seelsorgerischer Gespräche liegt in der krassen Ausnutzung des Vertrauens, welches die Rat-. und Hilfesuchenden, die Patientinnen und Patienten, denjenigen entgegenbringen, die professionelle Hilfe anbieten. Die Hilflosigkeit und psychische Abhängigkeit der Menschen, die ihre persönlichen Probleme als Gläubige, Patientinnen und Patienten offenbaren, wird aus eigennützigen Motiven mißbraucht.
Die tiefgreifenden seelischen Schäden, die den Betroffenen durch diese Art von Übergriffen erwachsen, hat das Institut für Psychotraumatologie in seinem Bericht eindringlich verdeutlicht, der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellt wurde. Die Tatsache, daß es sich hierbei keineswegs um Einzelfälle handelt, muß heutzutage als wissenschaftlich gesichert gelten. Das Institut geht von einer Minimalschätzung von 600 Fällen pro Jahr aus. Andere Untersuchungen weisen noch weitaus höhere Fallzahlen auf. Angesichts dieser Zustände kann gesetzgeberischer Handlungsbedarf nicht in Abrede gestellt werden.
Die geltenden Strafnormen sind nicht in der Lage, auf die besondere Verwerflichkeit dieser Taten angemessen zu reagieren. Hier besteht vielmehr eine echte Strafbarkeitslücke. Wegen Vergewaltigung können die Täter in der Regel nicht bestraft werden, weil es an der entsprechenden Gewaltanwendung fehlt. Eine Körperverletzung scheidet in der Regel deswegen aus, weil der erforderliche Kausalitätsnachweis nicht erbracht werden kann. Eine Strafbarkeit nach § 174 Abs. 2 StGB setzt eine stationäre Therapie voraus; die ambulanten Therapieverhältnisse scheiden somit aus. § 179, der den sexuellen Mißbrauch von Widerstandsunfähigen regelt, greift ebenfalls nicht, und zwar auf Grund der Gesetzeslage und nicht allein wegen der restriktiven Rechtsprechung zu dieser Vorschrift.
Wir werden in den anstehenden Beratungen genau zu überlegen haben, welche Abhängigkeitsverhältnisse wir erfassen wollen. Die Lösung, die der Bundesrat gewählt hat, ist nur zum Teil überzeugend. Allerdings wird eine Beschränkung allein auf den psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich, wie sie der Bundesjustizministerin und der Regierungskoalition vorzuschweben scheint, der Sachlage nicht gerecht. Es geht ebenfalls nicht an, daß der seelsorgerische Bereich ausgeklammert bleibt. Hier darf es keine Tabuzonen geben.
Zuzustimmen ist dem vorliegenden Entwurf, wenn er den Täterkreis nicht auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt. Es muß entscheidend auf die vom Täter ausgeübte Funktion ankommen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich hoffe, die Beratungen zu dem vorliegenden Gesetzentwurf werden einen konstruktiven Verlauf nehmen. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Jetzt ist Handeln angesagt.
({1})
Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur Schließung einer - dies ist zu Recht so gesagt worden - Strafbarkeitslücke im Sexualstrafrecht. Die vorgeschlagene neue Strafnorm des § 174 c des Strafgesetzbuches, sexueller Mißbrauch in der Therapie, ist eine Spezialnorm zur Pönalisierung des Mißbrauchs von Behandlungsverhältnissen.
Der Kollege Eylmann hat hier schon sehr umfassend dargestellt, wo der Reformbedarf liegt. Er hat auch dargestellt, daß wir gerade in der Diskussion um eine umfassende Neuregelung, ja Reform des Sexualstrafrechts sind, in der sicherlich auch einige Überschneidungspunkte gegeben sind. Auch ich fände es sehr gut, wenn wir das vielleicht im Zusammenhang diskutieren könnten. Es wäre schön, wenn man dies einheitlich zum Abschluß bringen könnte. Es besteht ja nicht nur bei dieser Norm - das hat die Debatte schon ergeben -, sondern auch insgesamt - bis auf die eine oder andere hochinteressante und noch strittige Frage - eine große Einigkeit in diesem Hause, auf diesem Gebiete jetzt etwas Neues zu schaffen.
Die spannende und auch sehr schwierige Diskussion, inwieweit der Begriff der hilflosen Lage - bei dem wir noch einen Wettbewerb haben, wie man dies in dem neuen Vorschlag der Koalition am besten ausdrücken kann - dieses Feld mit umfaßt, können wir uns natürlich ersparen, wenn wir hier eine Spezialnorm schaffen und - auch das ist für mich ein interessanter Gesichtspunkt - die besonderen Verhältnisse der Therapie berücksichtigen.
Die Notwendigkeit einer Regelung ist unbestritten. Das ergibt sich aus den vorliegenden Fallzahlen. Es gibt Hunderte von Fällen, und es gibt offensichtlich auch eine enorme Dunkelziffer. Wir wissen z. B. von den behandelnden Psychologen, daß sehr viele Opfer keine Anzeige erstatten. Dies ist auch verständlich und nachvollziehbar.
Es gibt einen Punkt - Frau Simm hat das angesprochen -, bei dem wir in der Tat eine etwas andere Auffassung haben, als sie im Entwurf des Bundesrats vertreten wird, und sicherlich auch eine ganz andere Auffassung, als sie Herr Beck für die Fraktion der Grünen hier dargestellt hat. Der Eifer, mit Strafrecht alle möglichen Lebensbereiche doppelt und dreifach zu überziehen, scheint ungebrochen zu sein. Ich denke, die Diskussion führt hier nicht weiter, wenn wir jetzt alle möglichen Lebensverhältnisse - Sie haben die Seelsorger angesprochen; man könnte fast schon denken, daß die Rechtsanwälte bei Ihnen als nächste an die Reihe kommen - mit hineinnehmen.
({0})
- Ich sehe schon zustimmendes Nicken. Das hätte ich gar nicht sagen sollen. Ich bringe Sie nur auf bestimmte Gedanken, Frau Kollegin Simm.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Ist Ihnen bekannt, daß das von allen Seiten zustimmend zitierte Gutachten des Instituts für Psychotraumatologie genau das fordert, was ich in meiner Rede ausgeführt habe, nämlich die beiden Fallgruppen - therapeutische Verhältnisse und seelsorgerische Beratung - in die neue Regelung des § 174c StGB einzubeziehen?
Welche Gründe haben Sie, daß Sie nur bei einem Teil der Verhältnisse, bei denen es zum Mißbrauch kommt, eine Strafwürdigkeit sehen und diese bei den Seelsorgern prinzipiell verneinen?
Herr Kollege Beck, es gibt schon einige Vorschriften - der Kollege Eylmann hat sie schon aufgezählt -, bei denen wir besondere Verhältnisse - Vertrauensverhältnisse und Abhängigkeitsverhältnisse - herausgegriffen haben. Sie können sich aber noch viele Fallgruppen vorstellen, die anders als die, die hier zu Recht geschildert worden sind, aussehen. Sie selber haben aufgeführt, warum es gerade bei den Therapeuten diese spezielle Lücke gibt, jedenfalls nach der herrschenden Rechtslage.
Die Frage, ob diese Lücke gegeben ist, sehe ich anders als Sie. Ihre Schlußfolgerung ist die Ihre, ich sehe das anders. Ich bin aber gern bereit - das können wir hier nicht in extenso fortführen -, über diesen Bereich noch einmal gesondert zu diskutieren. Ich sehe bei der seelsorgerischen Beratung aber nicht den Bedarf, wie er für diesen Bereich hier unstreitig gesehen wird.
Meine Damen und Herren, wir wollen uns - das wurde vorhin bereits angesprochen - in der Tat nach den Daten, die uns vorliegen, auf den Bereich der Therapeuten beschränken. Das spezifische Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund, das System, das wir in den §§ 174a und 174b haben, an dieser Stelle zu ergänzen. Ich denke, das ist einsichtig, weil die Schutzmechanismen entfallen, weil es Teil dieser Therapie ist, daß sich der Patient völlig in die Hände - das ist fast bildlich gesprochen - des Therapeuten begibt. Deshalb stehen wir diesem Vorschlag grundsätzlich sehr aufgeschlossen gegenüber. Ich denke, die Beratungen im Rechtsausschuß werden zeigen, daß wir zu einer guten Übereinstimmung kommen.
Im übrigen hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Funke im Bundesrat bereits angekündigt, daß auch das Bundesministerium der Justiz in Kürze einen Formulierungsvorschlag vorlegen wird, so daß wir im Rechtsausschuß umfassend eine gute Beratung darüber führen können.
Vielen Dank.
({0})
Frau Kollegin Christina Schenk, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sexuelle Übergriffe in der Therapie sind keine Einzelfälle. Meist sind Frauen die Opfer. Für sie ist das Risiko, Opfer sexueller Übergriffe eines Therapeuten oder Arztes zu werden - das gilt auch für andere Berufsgruppen, Herr Beck, da gebe ich Ihnen recht -, wie auch bei anderen sexuellen Gewaltdelikten erheblich höher als für Männer.
Auf Grund der Psychodynamik einer therapeutischen Beziehung sind zudem oft Frauen betroffen, die bereits als Kind sexuelle Gewalt erfahren haben. Die Folgen sexueller Übergriffe in der Therapie sind immens; psychische Störungen und psychosomatische Erkrankungen sind sehr häufig.
Heutzutage gibt es so gut wie keine Möglichkeit, die Täter zu belangen. Das ist bereits in aller Ausführlichkeit dargestellt worden. Die Bestimmungen im jetzt geltenden Strafgesetzbuch erfassen die hier diskutierten Fälle in der Regel nicht. Es gibt ganz eindeutig eine Lücke. Ich meine, es ist daher notwendig, einen zusätzlichen Straftatbestand einzuführen, wie es der Gesetzentwurf des Bundesrates vorsieht.
Allerdings meine ich, es ist ebenso notwendig, eine der Spezifik des Tatbestandes angemessene Verjährungsfrist vorzusehen. Für die Betroffenen ist es oft unmöglich, unmittelbar nach der Tat rechtliche Schritte zu unternehmen. Der Berufsverband Deutscher Psychologen fordert eine Frist von 15 Jahren. Der Vorschlag des Bundesrates würde hingegen nach § 78 StGB nur eine Verjährungsfrist von 5 Jahren mit sich bringen. Das muß noch verändert werden.
Vielfach handelt es sich bei den Mißhandelnden um Wiederholungstäter. Patientinnen müssen daher, meine ich, ermutigt werden, rechtlich gegen die Tater vorzugehen. Sie müssen auch die Chance dazu erhalten. Eine angemessene Verjährungsfrist ist daher von sehr großer Bedeutung.
Ich meine, es gibt überhaupt keinen Grund, den Straftatbestand des sexuellen Übergriffs in der Therapie auf die Behandlung psychischer Störungen zu beschränken, wie das die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme angedeutet hat.
Auch bei der Behandlung körperlicher Leiden wird eine spezifische Beziehung zwischen Therapeuten und Patientinnen aufgebaut, entsteht zwangsläufig ein Vertrauensverhältnis, wird Kompetenz an einen anderen abgegeben. Sexuelle Übergriffe sind daher auch bei der Behandlung körperlicher Leiden nicht selten.
Ich denke, daß es sogar sinnvoll wäre, noch einen Schritt weiterzugehen. Ich meine, daß die Altersgrenze bei sexuellem Mißbrauch von Schutzbefohlenen in § 174 StGB aufgehoben werden sollte. Die Studentin und die Auszubildende über 18 Jahre stehen genauso in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Professor bzw. Ausbilder wie diejenigen unter 18 Jahren. Ich meine, die Zeit ist überfällig, das sexuChristina Schenk
elle Selbstbestimmungsrecht gerade in hierarchisch strukturierten Beziehungen - auf die Hierarchie in der Beziehung kommt es an, Herr Lanfermann - unabhängig von Altersgrenzen und, wie ich meine, auch unabhängig vom Tätigkeitsfeld zu gewährleisten.
Wir sollten im Rechtsausschuß eine Anhörung durchführen, die diese aufgeworfenen Fragen in aller Ausführlichkeit erörtert.
Danke schön.
({0})
Frau Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist durch spektakuläre Einzelfälle im Jahr 1991 auf das Problem der sexuellen Übergriffe in Behandlungsverhältnissen aufmerksam geworden. Über diese Einzelfälle hinaus gab es damals praktisch keine Erkenntnisse, ob therapeutische oder auch medizinische Behandlungen in größerem Umfang zu sexuellen Handlungen ausgenutzt werden.
Aus diesem Grund wurde von seiten der Bundesregierung schon im Mai 1992 eine Sachverständigenanhörung zu sexuellen Übergriffen in der Therapie durchgeführt. Sie ergab deutliche Hinweise, daß solche Übergriffe bei der Psychotherapie in einem bestimmten Umfang auftreten.
Um aber Mißverständnissen vorzubeugen: Die allermeisten Therapien und Behandlungen verlaufen nach anerkannten wissenschaftlichen Prinzipien und Regeln. Es geht hier um eine Minderheit inkompetenter und verantwortungsloser Therapeuten, die ihren beruflich bedingten Einfluß in verwerflicher Weise ausnutzen.
Zur Konkretisierung eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfes hat die Bundesregierung im Herbst 1993 eine Untersuchung zu Ausmaß, Folgen und Hintergründen sexueller Übergriffe in der Therapie in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sind hier schon mehrmals erwähnt worden. Wir müssen von geschätzten mindestens 600 sexuellen Übergriffen pro Jahr in Behandlungsverhältnissen ausgehen.
Diese 600 Fälle, in denen regelmäßig keine Gewalt angewendet wird, lassen sich strafrechtlich nur schwer ahnden, weil der Nachweis der erforderlichen Widerstandsunfähigkeit nach geltendem Recht nur schwer zu führen ist. Wer aber ein auf Hilfe, auf Heilung oder Linderung von seelischen Störungen gerichtetes Vertrauensverhältnis ausnutzt, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen, verursacht schwerste Schäden bei den Patientinnen und Patienten und ist deshalb in höchstem Maße strafwürdig.
Zu diesem Ergebnis gelangt auch die vom Bundesjustizministerium im März dieses Jahres ergänzend durchgeführte Sachverständigenanhörung, die sich
für die Einführung einer neuen Strafvorschrift zur Ahndung von sexuellem Mißbrauch in Therapieverhältnissen ausgesprochen hat.
Das Bundesministerium der Justiz hat auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse einen Gesetzesvorschlag erarbeitet, der jetzt bei passender Gelegenheit so schnell wie möglich im Parlament eingebracht werden soll.
Dieser Vorschlag greift das grundsätzliche Anliegen des Bundesratsentwurfes auf, hat aber - wie auch hier schon in einigen Reden anklang - andere Vorstellungen vor allem über die Reichweite eines neuen Straftatbestandes.
So halte ich auf der Grundlage der derzeit vorliegenden Erkenntnisse eine Ausdehnung des Schutzes generell auf Behandlungsverhältnisse für nicht geboten. Auch die Begründung des vorliegenden Entwurfes trägt hierfür nichts vor. Zwar bestehen sicher auch in diesen Behandlungsverhältnissen Vertrauensbeziehungen, doch werden sie selten diese Intensität erreichen, wie sie für eine therapeutische Behandlung prägend ist.
Behandlungsverhältnisse außerhalb des Therapiebereichs führen nicht zu einer vergleichbar weitgehenden Einschränkung der freien Selbstbestimmung der behandelten Person.
Aus diesem Grunde läßt sich eine grundsätzliche Gleichbehandlung aller Behandlungsverhältnisse kaum rechtfertigen. Ich glaube, daß es gute Gründe gibt, in diesem engeren Umfang einer Strafbestimmung näherzutreten. Ich denke, daß wir diese Strafbarkeitslücke in unserem Strafgesetzbuch möglichst schließen sollten.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/2203 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es weitergehende Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5a und 5 b sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
5. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 13/2707 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Vizepräsident Hans Klein
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Steindor, Marieluise Beck ({1}), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Übereinkommen über die biologische Vielfalt und Notwendigkeit internationaler Regelungen zum Umgang mit Gen- und Biotechnologie
- Drucksache 13/2667 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß far Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.
Verbesserungen des Naturschutzes in Deutschland
- Drucksache 13/2743 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Zum Bericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich keinerlei Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Dr. Norbert Rieder das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es sehr gut, daß wir heute über den eigentlichen oder zentralen Bereich des Umweltschutzes diskutieren: über die biologische Vielfalt. Das ist übrigens ein Begriff, für den man genausogut „Bewahrung der Schöpfung" nehmen könnte. Denn letztlich kann Bewahrung der Schöpfung nur bedeuten, daß man das Leben in seiner ganzen Vielfalt erhalten möchte.
Damit sind die einzelnen Felder des Umweltschutzes, über die wir in diesem Hause schon sehr ausführlich diskutiert haben, diesem großen Ziel untergeordnet. Denn wozu diskutieren wir über die Klimaproblematik, über die Verbesserung der Wasserqualität, über die Probleme der Waljagd usw. - alles Themen der letzten Zeit -, wenn nicht genau das Ziel der Bewahrung der Schöpfung dahinterstecken würde? Vielleicht ist das übrigens auch der Grund, warum die Konvention über die biologische Vielfalt seit Rio schon von derart vielen Staaten unterzeichnet worden ist, wie ich es mir persönlich vor wenigen Jahren noch nicht hätte vorstellen können.
Aber - das zeigt der Bericht der Bundesregierung in aller Deutlichkeit - wenn man das Ziel, die biologische Vielfalt zu erhalten, erreichen will, müssen die notwendigen Handlungen in einer Vielzahl von Politikfeldern erfolgen. Deshalb ist es sicherlich richtig gewesen, daß wir in der Vergangenheit - das werden
wir auch in Zukunft so tun - die einzelnen Politikfelder viel ausführlicher diskutiert haben als das eigentliche Ziel.
Wenn ich mir die einzelnen Politikfelder ansehe, dann stelle ich fest: Wir haben in den vergangenen Jahren ganz beachtliche Erfolge erzielt. So kann niemand mehr die Fortschritte etwa im Gewässerschutz oder bei der Luftreinhaltung, in der Zurückdrängung von toxischen und ökotoxikologisch wirkenden Stoffen oder auch in der Erfassung und Sanierung von Altlasten in den Böden abstreiten. Wir haben diese Erfolge in ganz beachtlichem Maße.
Niemand wird aber auch übersehen können, daß wir trotz aller Erfolge im einzelnen in vielen Bereichen noch einen weiten Weg vor uns haben. Eines der Handlungsfelder, in denen wir ohne Zweifel noch viel leisten müssen, ist der klassische Naturschutz. Zwar sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele neue Schutzgebiete entstanden, zwar werden diese Gebiete von immer mehr Menschen angenommen, die dadurch zeigen, welches Interesse sie am Naturschutz haben, zwar haben Bund und Länder beachtliche Geldmittel in Ankauf und Entwicklung dieser Gebiete investiert; dennoch muß man zugeben, daß die angestrebte Vernetzung der einzelnen Biotope bisher nur ansatzweise erfolgt ist. Wir werden deshalb mit Nachdruck darauf dringen müssen, daß die Bundesregierung alle ihre Möglichkeiten ausschöpft, zusammen mit den Ländern den integrierenden Naturschutz weiterzutreiben.
Wir, die CDU/CSU, sind aber auch der Ansicht, daß das Parlament die Bundesregierung darin bestärken muß, daß sie die Roten Listen der bedrohten Tiere und Pflanzen auch in Zukunft als Leitfaden benutzt, um bedrohten Arten nicht nur die restlichen Lebensräume zu sichern, sondern auch zur Wiederausbreitung dieser Arten beizutragen.
Und: Trotz aller noch erkennbaren Mängel ist es doch erfreulich, daß in den letzten Jahren immer mehr Artenschutzprogramme des Bundes und der Länder Erfolg gehabt haben und Arten, die noch vor wenigen Jahren als gefährdet angesehen werden mußten, heute durchaus wieder in wachsenden Populationen vorhanden sind, einige davon sogar in solchen Zahlen, daß es regional gar zu Problemen kommt.
Ich sage ganz offen, daß ich viel lieber mit Jägern und Anglern darüber diskutiere, ob es nicht vielleicht wieder notwendig wäre, Kormorane oder Fischreiher zu bejagen, die nun Gott sei Dank wieder in beachtlichen Zahlen vorhanden sind, als daß ich darüber diskutiere, wie es noch vor 20 Jahren der Fall gewesen ist, daß wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie das endgültige Aussterben dieser Arten verhindert werden kann. Ich wünsche mir, daß wir solche Diskussionen, wie wir sie jetzt über Kormorane oder Reiher führen, in Zukunft bei noch viel mehr Arten werden führen dürfen.
Meine Damen und Herren, der Bericht der Bundesregierung über die biologische Vielfalt gibt mir Hoffnung, und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal weil er in aller Deutlichkeit das bereits Geleistete gegen
das noch zu Leistende abwägt; Hoffnung aber auch, weil wir Deutschen, wenn wir unsere Hausaufgaben richtig machen, unsere Vorbildfunktion, die wir als nicht ganz arme Industrienation ohne Zweifel haben, noch besser erfüllen können als in der Vergangenheit.
Wir dürfen dabei aber nicht in den Fehler verfallen, in den wir Deutsche leider Gottes zu oft verfallen, nämlich daß wir sofort alles haben wollen und deshalb übersehen, daß man auch beim schnellen Laufen nur einen Schritt nach dem anderen tun kann.
In diesem Sinne bringen wir als Koalitionsparteien in die Beratungen des Bundestages einen Antrag ein, in dem zwar nicht alles Wünschenswerte enthalten ist und auch nicht alles, was in Zukunft noch notwendig sein wird, bei dessen Aufarbeitung wir aber in den nächsten Jahren ganz schön ins Schnaufen kommen werden. Ich würde mich freuen, wenn wir dabei eine breite Unterstützung finden würden, denn je schneller wir das, was wir in diesem Antrag fordern, abgearbeitet haben, desto eher können wir weitere Schritte unternehmen.
Herzlichen Dank.
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Frau Kollegin Ulrike Mehl, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich auf einer schönen Südseeinsel lebte und Ihren Bericht zur biologischen Vielfalt läse, würde ich spontan sagen: Donnerwetter, die nehmen den Naturschutz im eigenen Land richtig ernst! Allerdings habe ich den Eindruck, daß die Dimension der Konvention noch nicht in vollem Umfang begriffen worden ist, denn in dieser Konvention geht es um sehr viel mehr als um den reinen Naturschutz. Sie behandelt eine themenübergreifende Materie. Ich habe darüber schon zweimal gesprochen. Deshalb werde ich mich heute auf den Bericht, um den es geht, konzentrieren.
Bei näherem Hinsehen fällt auf, daß ca. 90 % des Berichts lediglich eine Darstellung dessen sind, was wir schon vor der Konvention hatten. Der Teil, der sich mit der direkten Umsetzung der Konvention beschäftigt, ist dagegen verschwindend klein.
Sie stellen im Bericht eingangs sehr richtig fest, daß der Verlust und die Beeinträchtigung von Arten und deren Lebensräumen zu einer nicht reparablen Beeinträchtigung der Natur führe und damit auch die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährde. Im nächsten Satz steht, daß mit dem Übereinkommen zur biologischen Vielfalt nun eine Trendwende eingeleitet werden soll. Davon kann ich allerdings auf den dann folgenden 44 Seiten nur recht wenig finden.
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In dem Bericht kann man eine Menge über Instrumentarien und gesetzliche Vorgaben lesen, so daß man meinen müßte, der Schutz der biologischen Vielfalt sei in Ordnung, als sei alles in Butter. Tatsache ist jedoch, daß weder im Lebensraumschutz, dem In-situ-Schutz, noch im Bereich des Ex-situ-Schutzes, also außerhalb von Lebensräumen, Fortschritte erreicht wurden, ganz zu schweigen von den Konsequenzen, die sich aus der Verpflichtung zur nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt, der notwendigen Regelung von Zugangs- und Patentrechten oder der gerechten Gewinnaufteilung aus der Nutzung der biologischen Vielfalt ergeben.
Außerdem würde das Kapitel Sicherheit beim Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen bereits eine eigene Debatte erfordern. Ich beschränke mich also heute auf den Bereich Lebensraumschutz, als Querschnittsaufgabe.
Naturschutz wird seit einigen Jahren Schritt für Schritt ins Abseits gedrängt. Bei steigenden verbalen und auf Papier gedruckten Beteuerungen dieser Bundesregierung, wie wichtig doch Naturerhaltung sei, läßt diese Bundesregierung an anderer Stelle keinen Zweifel daran, daß Naturschutz als lästiger Bremsklotz angesehen wird und beseitigt werden muß.
Die Tatsache, daß die Bundesregierung in Gestalt des BMU in 29 internationalen Organisationen oder Abkommen in Sachen Umwelt und Naturschutz vertreten bzw. beteiligt ist - davon betreffen allein 18 Natur- und Artenschutz -, hat nichts daran geändert, daß die Bundesressorts, die mit ihren Maßnahmen und ihrem Geld am stärksten in den Naturhaushalt eingreifen, von der Existenz dieser Abkommen offenbar nichts wissen; jedenfalls verhalten sie sich so.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Auf Seite 28 des Berichts widmen Sie sich der Landwirtschaft. Einmal abgesehen davon, daß die Landwirtschaft für den Naturschutz ein zentrales Thema ist und deshalb mehr als zweieinhalb Spalten Zuwendung angemessen gewesen wären, tun Sie im Abschnitt „Fortentwicklung" so, als hätten Sie alles im Griff. Tatsache ist aber doch, daß gerade hier seit Jahren ein Machtkampf stattfindet, der bisher zugunsten der Landwirtschaft ausgegangen ist. Oder warum geht die Ankündigung der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes nun in das neunte Jahr?
Sie stellen völlig zu Recht fest, daß die flächendekkende Verminderung der stofflichen Einträge herbeigeführt werden muß, und wollen bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln ansetzen. Aber wie sieht es denn in der Realität aus? Ihre Düngeverordnung wurde letzte Sitzungswoche in einer Sachverständigenanhörung von Agrarwissenschaftlerr in der Luft zerrissen. Hier hätten Sie doch wirklich die Möglichkeit gehabt, etwas für Natur-, Boden- und Grundwasserschutz zu tun. Aber genau das Gegenteil geschieht.
Es geht noch weiter: Obwohl die Landwirtschaft ca. 60 % des EU-Haushalts in Anspruch nimmt, sollen nun auch noch die kärglichen Geldmittel des Naturschutzes für die trotzdem entstandenen ökonomiUlrike Mehl
schen Engpässe herhalten. Das kann doch wohl nicht im Ernst so gemeint sein. Wenn die Landwirtschaftspolitik nicht in der Lage ist, ihrer Klientel, nämlich den Landwirten, die Rahmenbedingungen zu setzen, die wir auch von anderen Wirtschaftsbereichen erwarten, nämlich nachhaltiges umweltfreundliches Wirtschaften zu erreichen, kann doch wohl keiner ernsthaft den Naturschutz als Retter einer maroden Landwirtschaft heranziehen.
Eben darum haben Sie meine volle Unterstützung in der Feststellung in Ihrem Bericht, daß die Landwirtschaftspolitik sich selbst ökologisch ausrichten muß, statt nach anderen Geldtöpfen zu schielen. Wir werden Sie sicher unterstützen, wenn Sie das ernsthaft weiterverfolgen, und Sie haben sogar die Unterstützung des Sachverständigenrats für Umweltfragen in seinem neuen Sondergutachten, in dem er sich nach allem, was ich gehört habe, äußerst kritisch, aber auch konstruktiv mit dem Thema Landwirtschaft auseinandersetzt. Ich fordere Sie auf, Frau Merkel: Nutzen Sie diese Unterstützung des Sachverständigenrates!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Mehl, könnten Sie uns Beispiele nennen, bei denen die Landwirtschaft das Ziel der Nachhaltigkeit nicht erreicht hat?
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Das ist schwierig. Man könnte jetzt eine lange Debatte darüber führen. Ich verweise Sie schlicht und ergreifend auf ein Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen von 1985. In diesem Gutachten ist klar festgestellt worden, daß die Landwirtschaft der Hauptverursacher für Artenrückgang und Rückgang von Lebensräumen ist.
Ich betone hier ausdrücklich, weil das immer in die falschen Töpfe geworfen wird: Hier sitzen nicht die Landwirte selbst auf der Anklagebank, sondern hier sitzt die Agrarpolitik auf der Anklagebank.
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Wenn die Geldsummen, die im EU-Topf vorhanden sind, eingesetzt würden, um eine umweltverträgliche Landwirtschaft zu erreichen - Grundwasserschutz, Bodenschutz, Biotopschutz -, dann wären wir ein ganzes Stück weiter. Nicht umsonst gibt es biologische Landwirtschaft. Damit setzen sich, nebenbei bemerkt, im Moment jede Menge Verbände in vielen öffentlichen Veranstaltungen auseinander.
Sind Sie auch bereit, eine weitere Zusatzfrage zu beantworten?
Ich wollte hier zwar keine Agrardebatte führen, aber gern.
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Wenn zwischen Landwirtschaft, die Sie angesprochen haben, und Umwelt eine Verbindung besteht, was auch ich so sehe, dann wird wohl auch diese Zwischenfrage noch am rechten Platz sein.
Sie haben keine neueren Zahlen als von 1985. Wissen Sie, da Sie den Einsatz von Düngemitteln und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln erwähnen, in welcher dramatischen Art und Weise ein Rückgang des Einsatzes dieser chemischen Stoffe erfolgt ist?
Ja, es ist richtig, daß der Düngemittel- und Pflanzenschutzmitteleinsatz zurückgegangen ist, aus welchen Gründen auch immer; darüber ließe sich lange diskutieren. Trotzdem muß noch darüber geredet werden, wie denn die Lebensräume zu erhalten sind und wie dort keine weiteren Beeinträchtigungen geschehen. Was Sie ansprechen, geht in erster Linie in Richtung Bodenschutz und Grundwasserschutz. Aber wie erhalten Sie die Lebensräume bei dieser Art der Bewirtschaftung, und wie berücksichtigen Sie, daß insgesamt - darüber gibt es neuere Zahlen - die biologische Landwirtschaft z. B. in bezug auf den Klimaschutz sehr viel umweltfreundlicher ist als die herkömmliche Landwirtschaft? Wenn sich die Landwirtschaft selbst nicht ständig dagegen wehren würde, diese Sachverhalte als wahr anzunehmen, dann würden wir auch gemeinsame Wege finden, genau das abzustellen. Da müssen wir aber, glaube ich, noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten. Vielleicht ist das heute ein Beitrag dazu.
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Zweites Beispiel: Verkehr. Sie haben in dem Bericht sehr richtig festgestellt, daß vom Verkehr besondere Gefährdungen durch Lärm- und Schadstoffemissionen ausgehen. Dann behaupten Sie aber, daß die Bundesregierung ihre Verkehrswegeplanung u. a. an folgenden Prinzipien ausrichtet: „Vorrang für den Verkehrsweg mit den jeweils geringsten Auswirkungen auf die biologische Vielfalt", „Vorrang für die umweltverträglicheren Verkehrsträger Eisenbahn und Schiffahrt" . Am Schluß heißt es: „Naturnahe Flußsysteme dürfen nicht zerstört werden." Wenn ich das jetzt im Sinne des Naturschutzes und des Schutzes der biologischen Vielfalt auslege, dann müßten Sie den ganzen Bundesverkehrswegeplan einstampfen. Daß darin die Bahn Vorrang vor der Straße hat, käme der Behauptung gleich, die Bundesrepublik läge im Zentrum Asiens. Das Beispiel der A 20 im Bereich der Peenemündung ist wohl keines einer umweltverträglichen Autobahnplanung. Das gleiche gilt für die milliardenschweren Ausbauvorhaben für Fließgewässer.
Vielleicht sollten Sie Herrn Wissmann, Ihrem Kollegen, die Konvention und Ihren Bericht dazu einmal
als Bettlektüre empfehlen, damit er wenigstens weiß, daß es so etwas gibt.
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Drittes Beispiel: Siedlung. Wunschdenken und tatsächliches Handeln klaffen auch hier meilenweit auseinander. Sie fordern bei der Ausweisung von Wohn-, Gewerbe- und Industrieflächen weitgehende Berücksichtigung des Naturschutzes. Sie waren es aber doch selbst, die mit der Änderung des § 8a des Bundesnaturschutzgesetzes diese Berücksichtigung ausgehebelt bzw. abgeschwächt haben. Daß diese Anti-Naturschutz-Entscheidung nicht in dem Maße durchgeschlagen ist, wie Sie das dachten, haben Sie dem maßvollen Umgang der Länder mit diesem Thema zu verdanken.
Besonders hübsch finde ich, daß Sie die Landschaftsplanung endlich als das richtige Instrument für die ökologischen Belange in der Bauleitplanung erkannt haben. Das halte ich schon einmal für einen Fortschritt. Vielleicht können Sie uns aber noch verraten, wie Sie sicherstellen wollen, daß dieses Instrument auch flächendeckend und in hoher Qualität tatsächlich vorhanden ist.
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- Dazu gibt es ein Gesetz, das hier nicht rüberkommt.
Auch wenn für Siedlungsplanung in erster Linie Länder und Kommunen zuständig sind, so hat doch die Bundesregierung die Möglichkeit, über die Raumordnungspolitik die richtigen ökologischen Ansätze vorzugeben. Statt die Raumordnungsplanung im Zusammenspiel mit der Landschaftsplanung als wirklich koordinierendes Instrument unterschiedlicher Interessen zu nutzen, gibt es auch hier nur hohle Worte ohne Konsequenzen.
Nun zum Schutz in Schutzgebieten. Daß Sie zu einem zentralen Gesetzesinstrument im Naturschutz, nämlich dem Bundesnaturschutzgesetz, in einem bescheidenen Satz festhalten, daß Sie die entstandenen Defizite des vorhandenen Gesetzes durch eine umfassende Novellierung abändern wollen, finde ich wirklich witzig. Das Mindeste, was man hätte erwarten können, wäre, daß Sie wenigstens das Jahr oder das Jahrhundert angeben, in dem das stattfinden soll.
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Daß aber die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. in ihrem Antrag fordern, daß die Bundesregierung auf die Länder dahin gehend einwirken möge, daß sie die Gebiete zur Umsetzung der Flora-FaunaHabitat-Richtlinie der EU zu melden haben, finde ich wirklich ein starkes Stück. Die Bundesregierung ist der internationale Vertragspartner, und sie war verpflichtet, diese EU-Richtlinie bis Juni 1994 in nationales Recht umzusetzen. Genau das hat sie nicht getan. Es steht auch nicht in Sicht, wann und wie sie es tun wird.
In demselben Antrag wird nach dem Einleitungssatz „Die Bundesregierung wird gebeten" - man ist ja höflich - festgehalten, sie möge doch einen Gesetzentwurf zur Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes vorlegen. Das klingt so, als würden die Regierungsfraktionen selbst nicht mehr daran glauben, daß so etwas kommt.
Wenn ich mir einmal den Stellenwert des Naturschutzes bei der Bundesregierung ansehe, dann kommt mir der Gedanke, daß es vielleicht besser ist, wenn das Bundesnaturschutzgesetz unter dieser Bundesregierung nicht mehr geändert wird, weil nämlich zu befürchten ist, daß das vorhandene defizitäre Gesetz dann am Ende noch schlechter ist als vorher.
Meine Damen und Herren, bevor Sie mir vorhalten - es kam eben schon das Stichwort -, für all dies seien doch die Länder zuständig, sage ich Ihnen: Kehren Sie doch bitte erst einmal vor der Tür, für die Sie zuständig sind!
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Schlagen Sie in der Landwirtschaftspolitik, in der Verkehrspolitik, in der Raumordnungs- und Baupolitik, in der Wirtschaftspolitik und in allen anderen Bereichen, die das betrifft, sichtbare Pflöcke für den Naturschutz ein! Damit haben Sie sicherlich genug zu tun. Danach können wir darüber reden, wo andere zu kritisieren sind.
Schönen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Marina Steindor.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die nationale Implementierung der Biodiversity Convention muß geführt werden. Wir meinen aber, daß heute im Parlament darüber gesprochen werden muß, was auf der Vertragsstaatenkonferenz in Jakarta im November das Hauptthema sein wird: das Biosafety Protocol, ein Protokoll zur biologischen Sicherheit.
Dieses Protokoll ist seit Jahren umstritten. Fehlende Regelungen der Gentechnologie in den Entwicklungsländern führen zu Freisetzungstourismus. Freisetzungen gentechnisch veränderter Nutzpflanzen durch transnationale Konzerne nehmen dort seit Jahren dramatisch zu, ohne jede Sicherheitsregelung. Die bestehenden Regelungslücken sind eine Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt weltweit.
Mit der „grünen Revolution" erfolgte die Modernisierung der Landwirtschaft des Südens nach westlichem Vorbild. Damit begannen auch in den Ländern des Südens, den Zentren genetischer Vielfalt, Generosion, Bodenerosion und Pestizidbelastung, die wir auch hier beklagen. Lokal angepaßte Anbausysteme
wurden dabei zerstört und traditionelle Landsorten verdrängt. Die Entwicklungsländer sind von dieser Erfahrung geprägt.
Wenn bei uns aus Akzeptanzgründen behauptet wird, man wolle dem Hunger in den Entwicklungsländern mit genmanipulierten Pflanzen begegnen, wird das dort nicht begeistert aufgenommen. Projekte mit insektizidresistenten Reispflanzen des International Rice Research Institute auf den Philippinen beispielsweise sind im Lande selbst umstritten. Das Center for Alternative Development Initiatives setzt sich für ökologische Landwirtschaft unter Verzicht auf Gentechnologie ein.
Meine Damen und Herren, die Entwicklungsländer haben überhaupt kein Verständnis dafür, wenn europäische Länder, die selbst ein Rechtssystem mit Minimal- und Maximalstandards haben, dies der Völkergemeinschaft verweigern wollen. Ohne weitreichende Mindeststandards wird es unausweichlich zu einer Erosion der bestehenden Regulierungen kommen, zu einem Wettbewerb um die niedrigsten Standards.
Die Bundesregierung, Australien und die USA befördern diesen Prozeß der Gesetzeserosion, weil sie weiter deregulieren wollen. Mit dem von ihnen propagierten Ziel der Standortsicherung kommen sie dort nicht weiter. Denn sie machen erst mit dieser Politik den transnationalen Konzernen weltweit den Weg frei.
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Es ist skandalös, welche Märchen über die angebliche Risikofreiheit der Gentechnologie den Entwicklungsländern in den Konferenzen aufgetischt worden sind. Der Verweis der Bundesregierung auf freiwillige Leitlinien und Transferregelungen ist ökologisch verantwortungslos.
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Weder die US-amerikanischen Bestimmungen noch die UNEP-Richtlinien noch das jetzt deregulierte bundesdeutsche Gentechnikgesetz hätte die umweltschädigende Wirkung des genmanipulierten Bakteriums Klebsiella planticola erfaßt. Dieses angeblich harmlose Bakterium, das in den 80er Jahren in Deutschland manipuliert worden ist, sollte Alkohol aus Pflanzenresten herstellen. Die Fermentationsreste, Abfall - Sicherheitsstufe I, sollten danach als Dünger ausgebracht werden.
Nach der geplanten Freisetzung in den Vereinigten Staaten wären die Ackerböden auf Jahre unbrauchbar geworden. Nur eine außerhalb des Genehmigungsverfahrens in den USA zufällig durchgeführte Risikostudie hat die katastrophalen Folgen dieses Bakteriums ans Licht gebracht: Das Bakterium beeinträchtigte alle Bodenlebewesen, die den Bodenstickstoff für das Pflanzenwachstum erst verfügbar machen.
In einer renommierten Fachzeitschrift wurde eine Studie veröffentlicht, in der 85 Berichte über Freisetzungsexperimente mit gentechnisch veränderten Nutzpflanzen auf ihre Prüfkriterien hin untersucht worden sind. Hauptsächlich standen dabei agronomische Dinge im Vordergrund. Keine einzige Studie beschäftigte sich mit der Fähigkeit zur Auswilderung der Pflanzen. Keine Studie beschäftigte sich mit dem Gentransfer, obwohl in der unmittelbaren Nachbarschaft Kreuzungspartner vorhanden waren. Die Studien werden nach dem Motto erstellt: Wenn man nicht hinschaut, dann findet man auch nichts.
Nicht zuletzt auf Grund der Interventionen der Non-Governmental Organizations haben die Vertragsstaaten in Madrid festgeschrieben, daß von gentechnisch veränderten Organismen ein Risiko für Mensch und Umwelt ausgeht, daß es enorme Wissens- und Erfahrungslücken gibt und daß die Risiken geographisch und klimatisch variieren.
Die sogenannten Sicherheitsstämme finden in den Tropen ganz andere Lebensbedingungen vor. Transgene Pflanzen haben dort mehr Kreuzungspartner als in unserer ausgeräumten Kulturlandschaft. Freisetzungen sind grundsätzlich unkontrollierbar.
Die Bundesregierung spricht von drohender Bürokratisierung und davon, daß die Länder selbst eine Risikoabschätzung vornehmen sollten. Mit dem Verweis auf ihre nationalen Souveränitätsrechte der eindeutigen Forderung der Entwicklungsländer nach einem Biosafety Protocol zu widersprechen ist blanke Bevormundung.
Die Bundesregierung betreibt unter dem Deckmantel von Selbstbestimmung die Fremdbestimmung der Entwicklungsländer.
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Greenpeace spricht hier von genetischem Neoimperialismus.
Wir haben einen Antrag ausgearbeitet, in dem wir ein hohes Sicherheitsniveau, eine sozioökonomische Bewertung, Haftungsregelungen und ein Freisetzungsmoratorium bis zum Inkrafttreten des Biosafety Protocol fordern.
Meine Damen und Herren, Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark unterstützen ein Biosafety Protocol. Innerhalb der Europäischen Union kann man sich deshalb auch immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. Spanien ist der Auffassung, daß das Biosafety Protocol von dem Großteil der internationalen Völkergemeinschaft gefordert wird, der die meisten biologischen Ressourcen unseres Planeten hat, und daß es den Industrieländern nicht ansteht, hier nein zu sagen.
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Für uns ist ein völkerrechtlich verbindliches Protokoll zur biologischen Sicherheit unabdingbar. Die biologische Sicherheit muß international auf höchstem Niveau festgeschrieben werden, um die Umwelt und die Menschen vor den Risiken der Gentechnologie zu schützen. Der Verzicht auf Gentechnologie muß in der internationalen Völkergemeinschaft legitim und politisch möglich bleiben.
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Die Entwicklungsländer dürfen nicht zum genetischen Testgelände werden. Die Welt braucht ein Biosafety Protocol.
Wir fordern die Bundesregierung auf, Frau Merkel, diesen Prozeß endlich zu unterstützen.
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Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte zum Bericht der Bundesregierung sollte sich nicht auf das beschränken, was in Jakarta auf uns zukommt - dazu werde ich noch etwas sagen -, sondern zu einer Diskussion über Naturschutz in Deutschland führen. Darüber hinaus geht es vor allen Dingen darum, in der Bundesrepublik - da sind wir uns, so meine ich, einig - den Naturschutz weiter zu verbessern.
Wir sollten uns dabei vor Augen halten, daß die Artenvielfalt in Deutschland trotz vieler Anstrengungen noch immer nicht dauerhaft gesichert ist. Wenn man sich die „Roten Listen" anschaut, muß man feststellen, daß etwa die Hälfte aller Wirbeltierarten in ihrem Fortbestand gefährdet sind. Bei den Farn- und Blütenpflanzen werden etwa ein Drittel als gefährdet angesehen. Dies resultiert vor allen Dingen aus der Zerstörung, Zersplitterung und Verkleinerung oder aber Entwertung der Lebensräume wildlebender Tiere und Pflanzen. Dadurch wird ein solcher Artenrückgang ausgelöst.
Die natürlichen und naturnahen Flächen in der Bundesrepublik - im Bericht steht es; wir haben es im Antrag noch einmal aufgenommen - werden nur unzureichend geschützt. Nur 2 % der Fläche des Bundesgebietes sind als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Auch hier sind die Schutzziele bedroht. Die Schutzgebiete sind oft zu klein. Es gibt zu viele Ausnahmeregelungen, und vor allen Dingen läßt der Vollzug der Schutzverordnungen zu wünschen übrig.
Es geht an der Sache vorbei, wenn die Länder - das möchte ich ganz klar sagen - immer noch die ausstehende Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes für diese Defizite im Naturschutz verantwortlich machen.
Die Bundesregierung hat im Naturschutzbereich nur eine Rahmengesetzgebungskompetenz. Die Länder sind im wesentlichen für den Vollzug, die Finanzierung und eigene Landesgesetze des Naturschutzes zuständig. Es ist Aufgabe des Ländervollzugs, Naturschutzgebiete groß genug zu gestalten, sie sinnvoll zu vernetzen und vor allem auch wirksam zu schützen. In den Ländern müssen die Nutzungskonflikte ausgestanden werden und nicht hier. Dort kommt es auch auf die Standfestigkeit der Umweltminister an. Die Landesplanung ist in der Verantwortung, um der Zersiedelung und Zerstückelung unserer Landschaften Einhalt zu gebieten.
Eklatant deutlich - das möchte ich auch ganz klar sagen, und auch da habe ich eine unterschiedliche Auffassung zur Rednerin der SPD - wird das Versagen der Länder bei der Umsetzung der Flora-FaunaHabitat-Richtlinie der EG. Es soll ein europäisches Biotopverbundsystem „Natura 2000" geschaffen werden. Was die Länder, die für den Vollzug verantwortlich sind, tun, ist, daß sie entweder gar keine oder nur die bereits bestehenden Schutzgebiete anmelden. So wird Naturschutz nicht fortentwickelt, sondern blockiert.
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Die SPD sollte einmal mit dem Bundesrat, wo sie ja die Mehrheit hat, reden. Wir wissen ja alle, wie gut die Zusammenarbeit zwischen der Bundestagsfraktion und den SPD-Ländern ist.
Natürlich ist auch die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes nötig. Das haben wir nie abgestritten, aber man muß die Verantwortlichkeiten klar zuweisen. Die F.D.P. fordert die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes und unterstützt dieses Vorhaben. Die FFH-Richtlinie muß bundesgesetzlich umgesetzt werden, und wir werden dies auch tun.
Die F.D.P. hält es auch für wichtig, die Möglichkeiten des Vertragsnaturschutzes mit der Landwirtschaft zu verbessern; denn damit können die natur- und landschaftspflegerischen Leistungen der Land-und Forstwirte entlohnt werden. Dazu muß sich die Bundesregierung in der EU einsetzen, daß die bestehenden Agrarumweltprogramme der Länder zur Förderung einer umweltverträglichen Landwirtschaft fortentwickelt und dauerhaft von der EU kofinanziert werden.
Im November dieses Jahres findet in Jarkata die zweite Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkommens über die biologische Vielfalt statt. Deutschland war maßgeblich am Zustandekommen dieses Übereinkommens beteiligt. Wir müssen jetzt dieses Übereinkommen wirksam und zielstrebig in Deutschland umsetzen. Dies gilt für den Bund in seinem Verantwortungsbereich, wo sich viele Teile schon in der Umsetzung befinden, aber das gilt vor allem auch für die Länder.
Nur in internationaler Zusammenarbeit - auch das sollte man nicht ganz vergessen, insbesondere sehe ich hier Europa - ist effektiver Naturschutz möglich. Deshalb müssen wir unsere Aktivitäten auch im internationalen Bereich verstärkt fortsetzen.
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Gerade auch den Entwicklungsländern müssen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt verstärkt Hilfen gewährt werden. So sollten vor allem solche Projekte gefördert werden, die gezielt der Erhaltung der biologischen Vielfalt dienen. Dazu zählt z. B. die Schaffung von Biosphärenreservaten oder von Schutzgebieten im Rahmen des Übereinkommens über Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung.
Wir haben als Koalition einen Antrag vorgelegt, in dem wir aufzeigen, wie der Naturschutz verbessert werden kann. Wir sollten uns, finde ich, als UmweltBirgit Homburger
politiker gemeinsam für diesen oft unpopulären Bereich der Umweltpolitik stark machen und für eine weitere Verbesserung des Naturschutzes bei uns, aber auch weltweit kämpfen.
Danke.
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Ich erteile dem Abgeordneten Wolfgang Bierstedt das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Verehrte weitere Anwesende! Man könnte beim Lesen des Berichtes der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich meinen, in diesem Land würde eine aktive Umweltpolitik betrieben. Zumindest versucht der Bericht verzweifelt, diesen Eindruck zu erwecken, wiewohl wir eigentlich alle wissen: Diese Annahme ist in großem Umfange unangebracht.
Wortreich wird in der Regel das Abholzen des Regenwaldes in Brasilien beklagt oder gar eine sogenannte Überbevölkerung in den Ländern des Südens dafür verantwortlich gemacht, daß die Naturnutzung auf diesem Planeten ein mehr als bedrohliches Ausmaß erreicht hat. Dabei ist es nicht nur das Ausmaß des Naturverbrauches, sondern die Art und Weise der Naturnutzung - oder besser: der Naturvernichtung -, die die biologische Vielfalt und damit auf Dauer den Bestand des Ökosystems Erde gefährdet.
Dieses Modell der Naturvernichtung stammt aus den nördlichen Industrieländern und wird von ihnen in den Süden exportiert. Wer hat denn den hohen Artenverlust in den Ländern des Südens im starken Maß mit zu verantworten, wenn nicht die Industrieländer und ihre Konzerne, die mit der „Grünen Revolution" den zweifelhaften Segen einer industrialisierten Landwirtschaft dorthin brachten? Die damalige Einführung von empfindlichen Hochertragssorten wurde mit großen Schäden an der Umwelt und einem enormen Verlust der genetischen Vielfalt erkauft. Noch 1945 bauten indische Bäuerinnen und Bauern ca. 30 000 verschiedene Reissorten an; heute sind es in vielen Gebieten Indiens weniger als 20 Sorten, die kultiviert werden.
Daran schließt sich doch gleich die Frage an, weshalb denn nun auf einmal das Interesse an biologischer Vielfalt gewachsen sein soll. Es liegt der Verdacht nahe, daß es weniger um die tatsächliche Erhaltung bzw. Förderung der biologischen Vielfalt geht als um den Zugang zu genetischen Ressourcen. Denn der übergroße Teil der genetischen Ressourcen befindet sich, wie wir wissen, in den Ländern des Südens.
Von daher hat das Übereinkommen zur biologischen Vielfalt von vornherein einen sehr zwiespältigen Charakter, sichert es den Konzernen des Nordens doch den Zugriff auf die genetischen Ressourcen des Südens. Daß die Bundesregierung darüber hinaus nicht bereit ist, ein notwendiges, greifendes „Biosafety " -Protokoll zu unterzeichnen, zeigt, wie sehr ihr an denjenigen Passagen des Übereinkommens gelegen ist, aus denen die Länder des Südens einen Vorteil ziehen könnten. Schauen Sie sich doch im Bericht der Bundesregierung den Abschnitt über „wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern" an, dessen Überschrift eigentlich fast schon länger als der Text ist. Sie wissen dann, woran der Bundesregierung jedenfalls nicht gelegen ist: an einer für den Süden gerechten Nutzung der biologischen Vielfalt.
Aus meiner Sicht völlig zu Recht greift der Antrag der Grünen die Praxis von Unternehmen an, Freisetzungen in Ländern durchzuführen, die über keinerlei rechtliches Reglement für solche Experimente verfügen. Diese Unternehmen fliehen vor der Öffentlichkeit und der berechtigten Kritik an Freisetzungen, deren Folgen keineswegs vorhersehbar sind. Wenn die Bundesregierung einerseits vollmundig auf die eigenen Sicherheitsvorschriften verweist, andererseits jedoch nicht einmal für verbindliche Mindeststandards auf der internationalen Ebene eintritt, entlarvt sie ihre Sonntagsreden über den verantwortlichen Umgang mit genetisch manipulierten Organismen. Dem Antrag der Grünen werde jedenfalls ich die Zustimmung geben.
Geradezu dreist ist der kleine Absatz im Bericht, der sich mit Patenten auf sogenannte genetische Ressourcen befaßt. Seit Jahren bemüht sich die Bundesregierung in Brüssel um eine Patentierungsrichtlinie, die nun gerade nicht zum Ziel hat, den gleichberechtigten Zugang zu genetischen Ressourcen zu ermöglichen. Deutsche Forscherinnen und Forscher werden doch öffentlich aufgefordert, sich am Goldrausch der Patente auf Gene zu beteiligen. Vor wenigen Wochen erst meldeten sich Umweltschützer aus Sri Lanka, die darüber berichteten, daß westliche Wissenschaftler die dortige Natur ausplündern. Sri Lanka ist dabei kein Einzelfall; Ähnliches wird aus zahlreichen Ländern der sogenannten Dritten Welt gemeldet. Das Patent auf den Neem-Baum in Indien hat ja auch mittlerweile traurige Berühmtheit erlangt. Es ist eine moderne Form des Kolonialismus, daß sich Wissenschaft und Industrie Pflanzen, Tiere und sogar Menschen des Südens patentieren lassen.
Außer warmen Worten bietet der Bericht der Bundesregierung nichts, was dem Ziel der Erhaltung der biologischen Vielfalt entscheidend dienen würde. Ernsthafte Konsequenzen werden aus dem diagnostizierten Rückgang der Arten überhaupt nicht gezogen. Diese Konsequenzen müßten heißen: Abkehr von einer naturvernichtenden Wirtschaftsweise im Norden, Reform der Landwirtschaft hin zu einer ökologischen Anbauweise, Einschränkung des Autoverkehrs und eine andere Siedlungspolitik. Kosmetische Veränderungen wie das Ausweisen von Naturschutzflächen, während nebenan weiter verfahren wird wie bisher, oder der Aufbau von Genbanken für eine später biotechnologische Nutzung der Gensequenzen werden dem Ziel nicht gerecht werden.
Danke schön.
({0})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Simon Wittmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt ist eine gute Grundlage, um gerade dieses Thema sehr intensiv zu debattieren. Ich freue mich auch, daß die Diskussion eigentlich bisher relativ sachlich gelaufen ist; denn ich glaube, daß wir dieses Thema sachlich angehen müssen,
({0})
auch wenn, liebe Frau Mehl, Ihre Aussage, daß ein Machtkampf zwischen dem Naturschutz und der Landwirtschaft zugunsten der Landwirtschaft ausgefallen ist, mit Sicherheit nicht stimmt.
({1})
Die Landwirtschaft ist nicht Hauptverursacher des Artenschwunds. Sie hat sicher auf Grund der - zum Teil natürlich erzwungenen - Produktionsweise einen Beitrag dazu geleistet. Ich meine aber, daß inzwischen eine ganze Menge passiert ist, was den Weg in eine andere Richtung weist.
Ich möchte deshalb in meinem ersten Punkt auch auf dieses Problem eingehen. Angesichts der Tatsache, daß 55 % der Gesamtfläche der Bundesrepublik Deutschland landwirtschaftlich genutzt wird, heißt das: Wer Lebensräume schaffen will, wer Artenvielfalt garantieren will, der muß das mit der Landwirtschaft tun. Die Landwirtschaft ist also Ausgangsbasis für eine erfolgreiche Weiterentwicklung von Natur- und Biotopschutz.
Die Landwirtschaft hat an sich ein ureigenstes Interesse am Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Vieles von dem, was der Naturschutz heute für schützenswert hält, ist durch jahrhundertelange bäuerliche Landschaftspflege entstanden.
({2})
Die Landwirtschaft verfügt über das beste Know-how zur Pflege der Natur und ist daher in besonderer Weise in alle Bemühungen einzuschließen. Wir brauchen daher in erster Linie - und deshalb habe ich mich über den Ton Ihres Beitrages, Frau Mehl, gefreut - eine Versöhnung zwischen Landwirtschaft und Naturschutz,
({3}) nicht die Betonung der Gegensätze.
({4})
In unserer freien Gesellschaft hat die Garantie des Eigentums eine entscheidende verfassungs- und gesellschaftspolitische Bedeutung. Daher muß die Weiterentwicklung des Naturschutzes den Schutz des Eigentums der Bauern in den Vordergrund stellen oder
zumindest wesentlich mit berücksichtigen. Dies muß vor allem in folgenden Bereichen sichergestellt sein:
Bei einer Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes - sie wird in dieser Legislaturperiode kommen; da bin ich mir sehr sicher - müssen bundeseinheitlich gestaffelte Ausgleichszahlungen eingeführt werden, wenn die Landwirtschaft im Interesse des Naturschutzes bei der Bewirtschaftung von Flächen eingeschränkt wird. Alles andere würde als schleichende Enteignung empfunden und würde dies auch bedeuten. Dies würde auf Dauer weniger Naturschutz bringen, weil die Menschen weniger bereit wären, sich für den Naturschutz zu engagieren.
Wir müssen den Vertragsnaturschutz im Bundesrecht verankern, um noch mehr Landwirte und Grundstücksbesitzer für ein naturverträgliches Handeln zu gewinnen. Das Beispiel Bayerns hat gezeigt, daß zur Erhaltung von Lebensräumen und Arten die Honorierung freiwilliger Leistungen ein äußerst effektives Instrument ist und zu einer vorbildlichen Kooperation zwischen Landwirtschaft und Naturschutz dort führt, wo dies schon entsprechend angewandt wird.
({5})
Zur Schaffung einer Vertrauensbasis müssen wir aber sicherstellen, daß die Landwirte die ursprüngliche Nutzung auch dann wieder aufnehmen dürfen, wenn sich während der extensiven Bewirtschaftung Biotope gebildet haben. Es gibt sicher Ausnahmemöglichkeiten in besonders gelagerten Fällen; aber das muß der Grundsatz sein, um dieses Vertrauen aufzubauen.
Bei aller notwendigen Vereinheitlichung des Bundesrechts muß auch darauf hingewiesen werden, daß die Verantwortung zum Schutz der Arten und ihrer Lebensräume verfassungsrechtlich vor allem eine Verpflichtung der Bundesländer ist. Das Beispiel Bayern zeigt deutlich, daß bereits mit dem heutigen Naturschutzrecht entscheidende Fortschritte auf dem Wege zu einem Biotopverbundsystem möglich sind. Es gibt 17 bayerische Naturparke, in denen in Größenordnungen von Landkreisen und darüber hinaus mehr als 50 % der Fläche in den jeweiligen Gebieten unter Naturparkrecht gestellt wurde. Damit wird in weiten Bereichen bereits heute die Entwicklung eines Biotopverbundsystems unterstützt und vorangetrieben.
Weil immer gesagt wurde, es werde nichts getan - ich habe jetzt bloß die Zahlen von Bayern vorliegen; wir könnten das aber auch bundesweit ausrechnen -: Allein in den letzten fünf Jahren wurden in Bayern knapp 100 Naturschutzgebiete neu ausgewiesen. Damit hat sich die Zahl dieser Gebiete in Bayern auf über 500 erhöht.
Bayern hat das Europäische Naturschutzjahr dazu genutzt, die Erweiterung des Nationalparks Bayerischer Wald, den Sie hoffentlich alle kennen, in Angriff zu nehmen. Damit besteht die einmalige Chance, ein in Mitteleuropa in Ursprünglichkeit und Größe einzigartiges geschlossenes Waldgebiet weitgehend unberührt und nachhaltig zu sichern. Zusammen mit dem angrenzenden tschechischen NationalSimon Wittmann ({6})
park Sumava kann damit eine europaweit vorbildliche Region länderübergreifenden Natur- und Umweltschutz aufbauen.
({7})
Bayern hat auch - um das als Anregung für SPD-regierte Länder zu nennen - eine flächendeckende Biotopkartierung. Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um wirklich Arten-, Biotop- und Lebensraumschutz zu gewährleisten.
Wir stehen in den nächsten Monaten sicher auch vor Zielkonflikten. Sie wissen, zum jetzigen Zeitpunkt wird die Privilegierung erneuerbarer Energien und der Windkraft debattiert. Das ist natürlich ein großes Problem, weil wir einerseits eigentlich eine emissionsfreie Energie fördern wollen, andererseits aber nicht Landschaft zupflastern und Vögel beeinträchtigen wollen. Wir müssen einen Mittelweg finden und die Interessen der typischen Umweltbereiche, also die Zielkonflikte, gegeneinander abwägen, um zu sinnvollen Regelungen zu kommen. Das gilt sicher auch noch für andere Bereiche.
Ich glaube, wir brauchen in Zukunft eine Politik des Augenmaßes, die die betroffenen Menschen für konkrete Maßnahmen gewinnt und damit ein positives Klima für mehr Arten- und Naturschutz überall in Deutschland schafft. Wenn wir das gemeinsam erreichen, dann werden wir sicher auch erfolgreich aus dieser Diskussion herausgehen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Christoph Matschie.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, bevor ich zu einzelnen Fragen des vorliegenden Berichts komme, daran erinnern, warum dieses Übereinkommen über biologische Vielfalt zustande gekommen ist. Der Hintergrund war: Die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, daß die immer weitere Zerstörung der biologischen Vielfalt nicht nur eine Beeinträchtigung von Lebensräumen darstellt, sondern am Ende auch eine Bedrohung für die Existenz der Menschheit bedeutet.
Dieses Übereinkommen sollte - so wurde es gesagt - eine Trendwende einleiten. Trendwende bedeutet in diesem Zusammenhang, daß wir uns auf den Weg machen müssen, neue Entwicklungsmodelle zu finden, um den bisher vorhandenen Trend wirklich zu wenden. Da beginnt die Schwierigkeit, die wir uns zunächst einmal eingestehen müßten. Dieser neue Entwicklungsweg ist noch nicht greifbar.
In Deutschland stehen ein Viertel aller Tierarten und ein Drittel aller Pflanzenarten auf der Roten Liste. Die Ursachen, die der Bericht dafür nennt, sind Zerstörung, Zersplitterung, Verkleinerung und Entwertung von Lebensräumen als Folge des Wirtschaftswachstums der letzten 50 Jahre.
Bei allen Bemühungen um den Schutz der Natur - ich will das hier überhaupt nicht kleinreden - geht genau dieser Prozeß der Zerstörung weiter. Ich bringe ein Beispiel, ohne das im einzelnen zu bewerten. In Thüringen, dem sogenannten „grünen Herz Deutschlands", werden nach den Planungen der Bundesregierung in den nächsten Jahren einige hundert Kilometer Autobahn neugebaut. Es wird also Landschaft zerschnitten; Lebensräume werden verkleinert und zerstört.
Ich will hier nicht das Für und Wider diskutieren. Aber offensichtlich zwingt uns unsere Wirtschafts- und Lebensweise, weiterhin Naturräume zu zerstören. Da hat es überhaupt keinen Zweck, die Verantwortung zwischen Bund und Ländern hin und her zu schieben, wie das hier getan wurde. Vielmehr müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie diese Verantwortung wahrgenommen werden kann. Im Moment sind wir in einer Situation - ich will es einmal ganz überspitzt sagen - ({0})
- Ich will die Länder nicht aus der Verantwortung entlassen. Es macht aber überhaupt keinen Sinn, die Verantwortung hin und her zu schieben. Wir reden heute über den Bericht der Bundesregierung und vor allem darüber, was die Bundesregierung tun kann, um da eine bessere Entwicklung zu erreichen.
Ich will überspitzt deutlich machen, in welcher Situation wir eigentlich sind. Ich sage es einmal so: Früher fuhr die Planierraupe mit viel Krach und viel Qualm durch die Landschaft. Heute ist die Planierraupe lärmgemindert, hat Kat, ist 10 cm schmaler, und der Raupenfahrer hat bei seiner Fahrt durch die Landschaft Gewissensbisse.
Das bedeutet aber: Die Raupe fährt nach wie vor. Wir kurieren Symptome. Es ist notwendig, sich mit Symptomen auseinanderzusetzen. Aber wir müssen etwas grundlegender nachdenken, auch über unser Entwicklungsmodell; denn das hat auch international Bedeutung. Im Moment - machen wir uns doch nichts vor - fördern wir in den Ländern des Südens eine nachholende Entwicklung, die auch viele Fehler, die hier in der Vergangenheit gemacht worden sind, nachholt und so zur weiteren Zerstörung beiträgt.
Ich möchte zu einzelnen Fragen der internationalen Zusammenarbeit etwas sagen. Es gibt zwei Entwicklungen, die mir Sorge bereiten. Meine erste Sorge ist, daß es in diesen Umweltverhandlungen - wie wir das schon bei anderen Umweltverhandlungen erlebt haben - zu einem neuen Nord-Süd-Konflikt kommt, weil die Interessen der Industriestaaten mit denen der Entwicklungsländer kollidieren. Meine zweite Sorge ist, daß zunehmend Aspekte der Nutzung der biologischen Ressourcen und weniger Schutzaspekte in den Vordergrund der Verhandlungen rücken. Zu beiden Problemen nimmt übrigens der Bericht überhaupt nicht Stellung.
Streit gibt es auch in der Frage der Finanzierung der Maßnahmen. Das kann auch gar nicht anders sein. Die Konvention sieht eigentlich vor, daß die Industriestaaten zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stellen, und zwar zur vollen Deckung der Mehrkosten, die den Entwicklungsländern aus der Umsetzung der Konvention entstehen. Nun sind in dem dafür vorgesehenen Fonds, der Globalen Umweltfacilität, Mittel in Höhe von 700 Millionen US-Dollar für drei Jahre, nämlich für 1995 bis 1997, bereitgestellt worden. Selbst der GEF-Chef El Ashry hat auf der ersten Vertragsstaatenkonferenz deutlich gemacht, daß die vorhandenen Mittel keineswegs ausreichen können, um die Umsetzung der Konvention zu finanzieren.
Ich möchte einmal eine Vergleichszahl bringen: Das Umweltprogramm der UNO hat eine Summe von etwa 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt, die für die Umsetzung der Konvention in den Entwicklungsländern nötig wären. Wir haben aber lediglich einen Beschluß über 700 Millionen Dollar.
Ich glaube, wir sollten uns immer deutlich machen, wie klein die Schritte eigentlich nur sein können, die wir hier gehen, und sollten uns nicht vormachen, daß wir mit diesen kleinen Schritten schon Entscheidendes vollbracht hätten. Das Argument der knappen Kassen ist da natürlich immer schnell zur Hand. Aber man muß auf der anderen Seite auch sehen, in welcher Form die Industriestaaten bisher von der biologischen Vielfalt der Entwicklungsländer profitieren. Ich nenne nur ein Beispiel: Keimplasma aus der Dritten Welt ist mit über 2 Milliarden US-Dollar jährlich an den Erlösen der US-amerikanischen Weizen-, Reis-und Maisproduzenten beteiligt. Wir haben also durch die biologischen Ressourcen der Entwicklungsländer auch enorme finanzielle Vorteile, sind aber auf der anderen Seite nicht bereit, finanziell mehr für die Situation in den Entwicklungsländern zu tun.
Der Bericht spricht auch von den Konsequenzen, die die Bundesregierung aus den Anforderungen der Konvention für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit gezogen hat, und nennt als Schwerpunkt Umweltschutz und Integration des Schutzes der biologischen Vielfalt in alle relevanten Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit. Das klingt zunächst alles sehr schön. Aber bisher hat keine grundlegende Bestandsaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit unter diesem Gesichtspunkt stattgefunden, durch die man wirklich zu einer neuen Bewertung und zu neuen Richtlinien hätte kommen können. Beispiele machen das deutlich.
Ich greife wieder nur einen Sachverhalt heraus: Unter Beteiligung Deutschlands soll in Tansania das Wasserkraftwerk Kihansi gebaut werden. Die Umweltverträglichkeitsprüfung für dieses Wasserkraftwerk war so mangelhaft, daß die Norweger - nicht etwa die deutsche Seite - auf der Durchführung einer neuen Untersuchung bestanden. Inzwischen wurde am Projekt weitergestrickt. Die neue Studie konnte deshalb am Ende nur zu dem Schluß kommen, daß das Projekt so weit fortgeschritten ist, daß auf der Umweltstudie basierende Verbesserungen dieses Projekts gar nicht mehr möglich sind.
Dann muß man sich noch deutlich machen, wo das Ganze stattfindet, nämlich drei Kilometer von einem Nationalpark entfernt, einem der wenigen verbliebenen intakten Regenwaldreserven Ostafrikas, in einer Schlucht, von der Umweltexperten sagen, daß dies ein Lebensraum mit vielen endemischen Arten ist, die nur in dieser Gegend vorkommen und die durch den Bau dieses Wasserkraftwerkes gravierend beeinträchtigt werden. Weder in der Planung des Projekts noch in der Prüfung der Umweltverträglichkeit wurden die Naturschutzbehörden Tansanias überhaupt nur konsultiert.
Solange das zur Praxis deutscher Entwicklungszusammenarbeit zählt, muß ich sagen, sind die Worte in diesem Bericht doch Süßholzgeraspel, dem man keine besondere Bedeutung beimessen kann.
({1})
Auch zum Schutz der indigenen Bevölkerung hat die Bundesregierung bisher wichtige konkrete Schritte verweigert. Ich denke nur daran, daß die Bundesregierung eine Ratifizierung der ILO-Konvention 169, die sich mit dem Schutz der indigenen Bevölkerung befaßt, die gerade für den Schutz und Erhalt solcher Lebensräume wie Regenwälder wichtig sind, nicht vollziehen will.
Einige andere Dinge kann ich nur kurz anreißen, z. B. den Technologietransfer. Dazu finden sich in dem Bericht nur Allgemeinplätze. Neue Ideen von seiten der Nichtregierungsorganisationen wie z. B. die Einrichtung nationaler Umweltfonds werden in diesem Bericht weder aufgegriffen noch diskutiert. Überhaupt stellt der Ausschluß der Nichtregierungsorganisationen auf der ersten Vertragsstaatenkonferenz von den beiden wichtigsten Arbeitsgruppen eigentlich einen Rückschritt in der Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen dar. Die Bundesregierung selbst hat immer wieder betont, wie wichtig diese Zusammenarbeit ist. Aber der Bericht greift diese Dinge nicht auf.
Alles in allem muß ich sagen: Der internationale Teil des vorliegenden Berichts ist äußerst dürftig. Wenn man sich noch den diesbezüglichen Abschnitt anschaut, der im Koalitionsantrag zu den internationalen Entwicklungen Stellung nimmt, dann fällt mir nur eines ein: Mit Einfalt wird die biologische Vielfalt nicht zu retten sein.
({2})
Für die Bundesregierung erteile ich der Bundesministerin Angela Merkel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der Rio-Konferenz im Juni 1992 wurden zwei wichtige Übereinkommen gezeichnet, zum einen die Klimakonvention, zum anderen das Übereinkommen über die biologische Vielfalt. Manchmal habe ich den Eindruck, das zweite
Übereinkommen steht im Vergleich mit der Klimakonvention auch bei unserer nationalen Diskussion ein wenig im Schatten. Aber ich denke, diese zweite Konvention ist genauso wichtig wie die Klimakonvention. Deshalb finde ich es gut, daß wir heute in sachlicher Atmosphäre darüber debattieren.
Beide Konventionen bauen auf dem Grundsatz der nachhaltigen Nutzung auf. Nachhaltige Nutzung - das wissen wir inzwischen alle - ist nicht etwa ein Schlagwort, sondern ein ganz weitreichendes politisches Programm, ein Programm, das uns im Norden der Weltkugel genauso angeht wie die Staaten im Süden. Dieses Programm bedarf einer sehr detaillierten Umsetzung.
({0})
Nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen ist im Grunde ganz einfach: Es bedeutet die Erhaltung unserer biologischen Vielfalt. Diese Erhaltung ist ein Riesenproblem, von dessen Lösung wir bislang weit entfernt sind. Die Erhaltung kann man auf unser Wirtschaften und unser Verhalten herunterdeklinieren: Wir müssen emissions- und abfallarm wirtschaften und weniger Rohstoffe und Energie verbrauchen. Nur das gibt letztendlich der Natur die Chance zum Überleben und zur Fortentwicklung.
Die dauerhafte Leistungsfähigkeit des gesamten natürlichen Systems wird eben durch die Vielfalt von Pflanzen und Tieren ausgedrückt. Die kann man ganz genau nachzählen. Jede ausgestorbene Art ist das Ende eines irreversiblen Prozesses. Dieser wiederum bedeutet die Vernichtung von Lebensqualität und von wirtschaftlichen Chancen für unsere Kinder und Enkel. Das bedarf einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, denn es wird an vielen Stellen verdrängt.
Die Gefährdung unserer biologischen Vielfalt ist besorgniserregend. Wir müssen uns - das wird oft außer acht gelassen und hat auch heute in dieser Debatte nicht die notwendige Rolle gespielt - einen Blick auf die Bevölkerungsentwicklung gönnen. Der „World Bank Development Report" von 1992 sagt, daß wir im Jahre 2030 neun Milliarden Menschen auf dieser Erde haben werden, im Jahre 2050 zehn bis 12,5 Milliarden Menschen.
({1})
Das müssen wir uns einmal vor Augen führen. Diese Menschen brauchen Land und Energie. Hubert Markl hat auf einer Tagung zum Thema „Welt im Wandel„ drastisch die ökologischen Grenzen für diese Menschen aufgezeigt. Diese Menschen wollen sich ernähren, sie brauchen Tiere und Pflanzen, von denen sie sich ernähren können. Das hat ein gigantisches Landnahmeprogramm zur Folge.
Markt kommt zu dem Schluß - das halte ich für unsere Debatte für grundsätzlich wichtig -: Nicht Armut und Askese sind die Lösungen dieses Problems, sondern vernunftgeleitete Lebenskunst und Verhaltensgeschicklichkeit. Das ist eine Aufforderung an die Menschen, die heute leben, diese Probleme zu
lösen und sie nicht allein zu beklagen, um alles in Armut und Askese versinken zu lassen.
({2})
Wir sollten in diesem Kontext die besondere Bedeutung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt sehen. Das Übereinkommen geht von einem gesamtökologischen Ansatz der biologischen Vielfalt aus und verlangt von uns Leitbilder einer Entwicklung. Das reicht weit über den klassischen Naturschutz hinaus, der sich vielleicht in dem Washingtoner Artenschutzübereinkommen ausgedrückt hat, wo es um Aspekte des internationalen Handels mit gefährdeten Pflanzen- und Tierarten geht.
Jetzt geht es aber darum, biologische Vielfalt als Eigenwert zu sehen - als Eigenwert im Spannungsverhältnis zu dem in dieser Vielfalt lebenden Menschen. Dieses Spannungsverhältnis schlägt sich auch in all unseren Diskussionen nieder, die wir zu führen haben.
Natürlich, Frau Mehl, haben Sie mit den von Ihnen genannten Beispielen recht. Kein Mensch bestreitet, daß es Spannungsverhältnisse zwischen der Landwirtschaft, so wie sie sich historisch entwickelt hat, und der Erhaltung der biologischen Vielfalt gibt. Natürlich gibt es Spannungsverhältnisse zwischen dem Lebensraum, den die Menschen brauchen, z. B. dem Verkehr, und der Erhaltung der biologischen Vielfalt. Natürlich gibt es Spannungen, wenn es um die Frage geht: Wie weit darf der Mensch in die Natur eingreifen, und wie weit wollen wir Schutzgebiete ausweisen?
Ich glaube, wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir alles, was bis jetzt gemacht wurde, sozusagen niederreden. Ich glaube, daß es bei der Landwirtschaftspolitik in den letzten 15 Jahren erhebliche Änderungen gegeben hat.
({3})
Das heißt aber nicht, daß ich zufrieden wäre. Ich denke z. B., die Richtlinie 2078/92 ist ein erster, allerdings viel zu kleiner Ansatz in der Politik der Europäischen Union, um Landwirtschaftsmittel auch für den Naturschutz verfügbar zu machen.
Ich unterstütze die Idee der Italiener, die die Präsidentschaft übernehmen werden, sehr, die sagen: Laßt uns einmal eine gemeinsame Sitzung von europäischen Landwirtschafts- und Umweltministern abhalten, und laßt uns mit dem Landwirtschaftskommissar darüber reden, wie man im Sinne der Landwirte die Mittel, die heute in der europäischen Agrarpolitik sozusagen als Subventionen - und nicht einmal auf Wunsch der Landwirte - ausgegeben werden, besser einsetzen kann. Dies könnte viel besser sein.
Frau Mehl, es ist auch nicht richtig, daß es in der Verkehrspolitik nicht viele Änderungen gegeben hätte. In diesem Jahr, 1995, investiert der Bund im Bereich von Schiene und Wasserstraßen 9,9 plus 1,5 Milliarden DM. Er gibt für Investitionen im StraBundesministerin Dr. Angela Merkel
ßenbau 8,6 Milliarden DM aus. Das war früher anders, das war früher umgekehrt.
({4})
- Ich habe nicht gesagt, daß das Naturschutz ist. Aber wir sagen, daß das umweltfreundlichere Verkehrswege sind. Das wollen Sie doch wohl nicht bestreiten! - Jedenfalls habe ich dann wohl wieder alles falsch gehört.
({5})
Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß Sie den Vorwurf machen, die ökologisch sinnvolleren Verkehrswege, nämlich Schiene und Wasserstraße, würden von dieser Bundesregierung nicht genügend gefördert. Hier gibt es eine Trendwende. Wir können zwar darüber diskutieren, ob die Mittel dafür ausreichen, aber das ist eine Trendwende; das war früher anders.
({6})
Liebe Frau Mehl, auch Sie wissen, daß wir uns in den Haushaltsberatungen zu aller Freude eindeutig dafür eingesetzt haben, daß die finanziellen Mittel für das Bundesprogramm für die Großschutzprojekte mit 40 Millionen DM wieder auf den ursprünglichen Bedarf zurückgeführt werden. Ich bedanke mich bei allen, die sich dafür eingesetzt haben. Dies ist ein Zeichen dafür, daß diese Bundesregierung den Naturschutz ernst nimmt und da, wo sie etwas tun kann, auch handelt.
({7})
- Wir können auch schon die Horrorszenarien für die nächsten 15 Jahre an die Wand malen. Aber, liebe Leute, das ist doch heute nicht einmal mehr die Politik der Umweltschutzverbände. Man muß doch den Menschen Mut machen, die vorhandenen Ansätze aufnehmen und sagen: Daraus machen wir mehr für den Naturschutz. Man darf doch nicht heute schon das negative Szenarium von morgen malen.
({8})
Ich schließe mich dem an, was Herr Rieder gesagt hat:
({9})
Über 170 Staaten haben die Konvention über die biologische Vielfalt unterzeichnet; von über 120 Staaten ist sie ratifizert worden. Das ist ein guter Schritt.
Wir haben in der Nachkriegszeit auch in der Bundesrepublik einen wirtschaftlichen Aufschwung gehabt, der erhebliche Schädigungen in der Natur hinterlassen hat. Ich glaube, es geht heute nicht um Schuldzuweisungen, es geht auch nicht um die ganz
einfachen und ganz preiswerten Patentrezepte. Aber was wir heute vorfinden - das ist schon gesagt worden -, ist eine Zerstörung, Zersplitterung, Verkleinerung und Entwertung von Lebensräumen.
Das hat Auswirkungen; hier sind die Roten Listen genannt worden. Manchmal, wenn ich auf einem Fischereitag oder beim Bauernverband bin, wird mir ein bißchen vorgeworfen, ich wäre sozusagen ein Fetischist von Roten Listen, und wir würden uns freuen, wenn wir wieder eine neue herausgeben können. Das muß wirklich bestritten werden. Jeder, der Naturschutz ernst meint, kann sich nicht über eine Rote Liste freuen. Ich will das hier noch einmal ausdrücklich sagen.
Aber die Befunde sind, wie sie sind. Es ist so, daß der Laubfrosch zurückgedrängt wird, die Fledermaus ebenso und daß das Auerhuhn fast ausgestorben ist - um nur ein paar Beispiele zu nennen, die jedem bekannt sind. Es gibt Hunderte und Tausende anderer.
({10})
Die Wirklichkeit in unserem Land ist so, daß jeden Tag ein Rückgang an Arten zu beobachten ist. Das ist traurig, und das muß von uns gestoppt werden. Deshalb glaube ich, die Erhaltung der Vielfalt der Arten ist ein richtiges und wichtiges Umweltziel, dem wir uns verschreiben sollten.
Wir haben jedoch Fortschritte gemacht. Ich nenne nur das Beispiel des Rheins. Das Programm Lachs 2000 im Rhein ist keine Utopie, sondern hat eine reale Grundlage.
({11})
Die Konzentration von Quecksilber und Kadmium hat um 90 % abgenommen, die biologisch abbaubaren Stoffe sind um 60 % zurückgegangen, und der Sauerstoffgehalt hat sich um 50 % erhöht.
({12})
Was unser Problem ist, sage ich auch ganz deutlich. Wir haben es zwar geschafft, den Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln, aber wir haben es nicht geschafft, den Flächenverbrauch vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln. Das wird eine der ganz wichtigen Aufgaben der nächsten Jahre sein.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Steindor?
Frau Ministerin, ich höre Ihnen schon einige Minuten sehr aufmerksam zu.
({0})
Ich möchte mich für meine Ungeduld entschuldigen, wenn ich schon jetzt nach dem frage, was mich bei der Vertragsstaatenkonferenz am meisten interessiert; denn ich weiß nicht, ob Sie auf diesen Punkt noch eingehen werden. Wie werden Sie sich bei den Konsensgesprächen, die dort stattfinden, verhalten, wenn es um die Einsetzung eines Intergovernmental Panel zur Erarbeitung eines Biosafety Protocol mit Mindeststandards geht?
Darf ich auf die Antwort jetzt verzichten, wenn ich Ihnen verspreche, daß ich gleich darauf zu sprechen komme, oder soll ich diesen Punkt vorziehen? Ich müßte dann meine Rede auseinanderreißen. Vertrauen Sie mir?
Ich mache jetzt ein Experiment. Ich vertraue Ihnen, dann werde ich sehen, was dabei herauskommt.
({0})
Vertrauen war schon das Motto der Kirchentage in der DDR. Das hat sich über die deutsche Einheit gerettet.
Ich wollte kurz noch etwas zum nationalen Aspekt sagen. Der Bericht, über den wir heute diskutieren, ist ein nationaler Bericht. Die FFH-Richtlinie wird in der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes umgesetzt. Ich bin optimistisch wie andere auch - ich hoffe, ich erhalte viel Unterstützung aus dem Parlament -, daß die Novellierung stattfindet. Aber was hindert die Länder daran, schon heute FFH-Gebiete auszuweisen? Das können die mit oder ohne Richtlinienumsetzung.
({0})
- Liebe Fau Mehl, der Bundesrepublik Deutschland entgehen zur Zeit Life-Mittel aus den europäischen Fonds, weil sich kein Bundesland entschließen kann, solche Gebiete auszuweisen. Ich halte das für außerordentlich bedauerlich. Denn dafür gibt es überhaupt keine Notwendigkeit.
Wir werden gesamtstaatlich repräsentative Schutzgebiete weiter ausbauen. Wir werden das Nationalparkprogramm weiter umsetzen. Wir werden uns für eine nachhaltige und vor allen Dingen auch mit dem Naturschutz verträgliche Landwirtschaft einsetzen - aber mit den Bauern und nicht gegen die Bauern. Das will ich hier ganz deutlich sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir werden bei der zweiten Vertragsstaatenkonferenz über unseren nationalen Bericht diskutieren. Sie haben insofern recht, als die Debatte weit über den normalen Naturschutz hinausgeht. Deshalb werden wir einen besonderen deutschen Beitrag zum Informationstransfer
leisten. Wir werden anstreben, daß internationale Übereinkommen, z. B. das Washingtoner Artenschutzübereinkommen, das den speziellen Aspekt des internationalen Handels mit gefährdeten Tier- und Pflanzenarten regelt, mit den umfassenden Verpflichtungen dieses Übereinkommens zum Erhalt der biologischen Vielfalt koordiniert werden. Das ist ganz wichtig. Wir werden uns darüber hinaus für ein völkerrechtlich verbindliches Protokoll zur biologischen Sicherheit einsetzen, das sich auf den grenzüberschreitenden Transfer veränderter Organismen beziehen wird.
Jetzt will ich hier ganz deutlich sagen: Die Angstkampagne gegen die Gentechnik und die Gentechnologie teile ich nicht.
({2})
Sie haben das wieder in einer kämpferischen Sprache vorgebracht - wir haben heute im allgemeinen sachlich debattiert -, die mir die Angst verdeutlicht hat. Sie haben an einer Stelle auch gesagt, eigentlich wollten Sie mit der gesamten Gentechnologie gar nichts zu tun haben. Das schönste wäre, wir würden sie vergessen. Ich sage Ihnen: Das wollen wir nicht. Vielmehr wollen wir einen verantwortungsvollen Umgang mit dieser Technologie.
({3})
So wie andere Techniken und Technologien hat auch diese ihre Gefährdungen. Ich bin da überhaupt nicht blind und fortschrittsgläubig, sondern ich glaube, sie hat ihre Gefährdungen wie auch ihre Chancen. Diese Chancen werden im Bereich der Medizin schon heute deutlich sichtbar. Sie werden in anderen Bereichen deutlicher sichtbar werden.
Deshalb geht es um die Frage: Wie schaffen wir es weltweit, daß verantwortlich mit diesem neuen Wissen und mit diesem neuen Können umgegangen wird? Da sagt Art. 19 ({4}) des Übereinkommens über die biologische Vielfalt, daß die Vertragsstaaten prüfen sollen, ob die Notwendigkeit eines solchen Protokolls zur biologischen Sicherheit besteht, also eines verbindlichen Zusatzübereinkommens, das Verfahren im Bereich der sicheren Weitergabe, der Handhabung und der Verwendung von durch Biotechnologie veränderten Organismen regelt.
Wir haben in der Europäischen Union beschlossen - das ist auch die Haltung der Bundesregierung -, daß ein völkerrechtlich verbindliches Protokoll zur biologischen Sicherheit zweckmäßig ist, sofern es sich auf den grenzüberschreitenden Transfer derjenigen Technologien beschränkt, die auf veränderte biologische Organismen ausgerichtet sind. Das heißt, wir wollen nicht - und das unterscheidet uns wahrscheinlich - jeden vorstellbaren Umgang mit diesen Organismen sozusagen erfassen und kontrollieren.
Ich sage Ihnen auch: Dies wird nicht vollziehbar sein, sondern es geht hier wirklich um die faire Information beim grenzüberschreitenden Verkehr. Da sage ich Ihnen - das geht auch etwas in die Richtung von Herrn Matschie -: Dies ist wichtig und auch ein Signal dafür, daß wir nicht andere Länder bedingungslos ausbeuten und von ihrem Reichtum profiBundesministerin Dr. Angela Merkel
tieren wollen, sondern daß für uns der Schutz genauso wie die Nutzung als zwei Teile einer nachhaltigen Entwicklung im Zentrum stehen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Steindor?
Wenn sie immer noch nicht zufrieden ist und das Experiment noch nicht abgeschlossen ist, dann würde ich das zulassen.
Wie verhalten Sie sich gegenüber den Wünschen der Staaten der G 77, die Haftungsfrage zu regeln, eine sozioökonomische Bewertung der Technologie vorzunehmen, eventuell Ausgleichszahlungen für Schäden einzustellen und einen Mindeststandard für die Gentechnologie analog den europäischen Richtlinien festzuschreiben, die über Ihr Modell, nur den Transfer zu regeln, hinausgehen? Mit welcher Begründung wollen Sie der Mehrheit der Vertragsstaaten der Diversity Convention diesen Wunsch abschlagen?
Wir haben uns in der Europäischen Union als Verhandlungslinie über ein Protokoll für den grenzüberschreitenden Transfer geeinigt. Wir werden das in Djakarta sicher noch nicht vollenden. Die Richtlinien, die wir im europäischen Maßstab haben - natürlich kann man prüfen, ob sie zu restriktiv sind -, weisen im Grundsatz einen hohen Standard auf. Ich habe nichts dagegen, sondern ich unterstütze es sogar, daß in anderen Ländern ähnliche Standards gelten und daß man über solche Standards auch international diskutieren kann. Das sage ich ganz ausdrücklich. Das darf aber nicht dem Ziel dienen - da liegt der Unterschied zwischen uns beiden -, dies alles nach Möglichkeit zur Unmöglichkeit zu verdammen. Ich glaube, das geht nicht, denn dann gibt es nur Hintertreibungstatbestände und Umgehungstatbestände. Genau das darf nicht sein!
Natürlich könnte es im internationalen Maßstab Haftungsgrundsätze für entstandene Schäden geben. Das ist ein Prinzip, über das wir als marktwirtschaftliches Instrument in der Umweltpolitik diskutieren. Es gibt keinen Grund, dies in den Technologien nicht anzuwenden. Die Tatsache, daß wir solche Haftungsregelungen nicht haben, statt dessen aber viel zu restriktive ordnungsrechtliche Maßnahmen, liegt weniger in dieser Bundesregierung begründet, sondern liegt daran, daß sich heute keiner mit der Frage auseinandersetzt, welche Schäden vorhanden und kalkulierbar sind. Dazu dient beispielsweise die Technikfolgenabschätzung. Genau das kann und muß man tun. Ich werde mich nicht dagegen wehren, daß man so etwas tut. Aber von vornherein alle potentiellen Schäden in einen Topf zu werfen ist aus meiner Sicht eine Forderung der G-77-Staaten, die man kritisch betrachten muß. Da bin ich nicht ganz so offen, wie Sie das vielleicht von mir erwarten. Ist damit die Frage beantwortet? - Dann kann ich fortfahren.
Ich will in Djakarta erreichen, daß die Globale Umweltfazilität als endgültiger Finanzierungsmechanismus endlich im Abkommen etabliert wird. Das ist dringend notwendig. Genauso notwendig ist es, daß die zweite Konvention über die biologische Vielfalt endlich ein Ständiges Sekretariat bekommt, das wir für die Klimakonvention immerhin schon geschaffen haben.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich zum Schluß bei all denen herzlich bedanken, die an der Vorbereitung dieser Debatte mitgemacht haben: bei meiner Fraktion, bei der F.D.P.-Fraktion und insbesondere bei der „Jungen Gruppe", die einen wesentlichen Impuls zu dem Antrag, den wir heute vorlegen konnten, gegeben hat.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 13/2707, 13/2667 und 13/2743 zu überweisen, und zwar federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie an den Ausschuß für Gesundheit.
Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 13/2743 soll außerdem an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau überwiesen werden.
Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/2750 federführend an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu überweisen.
Sind Sie auch damit einverstanden? - Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 6: Fragestunde ({0})
- Drucksache 13/2708 Ich beginne mit den Dringlichen Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Schulz auf:
Wie reagiert die Bundesregierung auf die in dem Berichterstatter-Gespräch zum Einzelplan 60 am 24. Oktober 1995 bekanntgewordene weitere Steigerung der haushaltswirksamen Steuerausfälle für das Jahr 1995 um 4,2 Milliarden DM auf 14 Milliarden DM und für das Jahr 1996 um 1,6 Milliarden DM auf 13 Milliarden DM, wobei sich diese Steigerungen jeweils im Verhältnis zu den in der Vorwoche bekanntgegebenen, geschätzten Steuerausfällen ergeben, mit Blick auf den Haushaltsvollzug 1995 und den Haushaltsplanentwurf 1996?
Herr Kollege Schulz, bei den weiteren Steuerausfällen, wie Sie es nennen, handelt es sich um bereits länger bekannte Größenordnungen.
Für den Haushalt 1995: 1,5 Milliarden DM sind Steuermindereinnahmen, die bereits in der Steuerschätzung im Mai dieses Jahres veröffentlicht wurden. Rund 2,6 Milliarden DM werden in 1995 nicht mehr vereinnahmt, da die ursprünglich für dieses Jahr vorgesehene Fristverkürzung der Mineralölsteuer 1996 umfassend neu geregelt wird.
Im übrigen hat die Bundesregierung durch den Bundesfinanzminister bereits reagiert und in diesem Jahr eine Haushaltssperre nach § 41 BHO angeordnet,
({0})
wie mittlerweile auch einige Länder.
Für den Haushalt 1996: Der Bundesfinanzminister ist im Augenblick im Haushaltsausschuß und informiert dort die Kollegen im Rahmen der Abschlußberatungen des Haushaltsentwurfs 1996. Hier wird er entsprechende Deckungsvorschläge unterbreiten, die die Einhaltung der bisherigen Eckwerte des 1996er Haushalts, also Kreditobergrenze von 60 Milliarden DM und Ausgabenrückgang gegenüber dem Vorjahr, sicherstellen.
Herr Schulz, Ihre erste Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie sind doch eine langjährige Parlamentarierin, seit 1976 im Deutschen Bundestag, und können auf die lange Ara der Regierung Kohl zurückblicken. Sagen Sie mir bitte: Wann gab es jemals einen Haushaltsentwurf, der sich zwischen erster Lesung und Abschlußberatung in einer solch dramatischen Art und Weise defizitär entwikkelt hat? Er weist jetzt ein Defizit von etwa 20 Milharden DM auf. Nennen Sie mir einen Haushalt, der sich in der Geschichte der Regierung Kohl ähnlich entwickelt hat!
Dies kann ich Ihnen nicht sagen.
({0}) Ich glaube, es ist erstmalig.
({1})
Danke schön. - Meine zweite Zusatzfrage: Wenn Sie diese Steuermindereinnahmen bereits im voraus gesehen haben, dann wissen Sie sicherlich auch die Ursachen und Gründe, warum es zu diesen Steuermindereinnahmen gekommen ist. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Feststellung der Steuerschätzer, die davon ausgehen, daß nur ein Drittel auf konjunkturelle Einflüsse zurückzuführen ist und mindestens zwei Drittel dieser Steuermindereinnahmen auf durch die Politik verursachte Tatbestände zurückzuführen sind?
Dieser Meinung schließe ich mich nicht an, sondern ich möchte anmerken, daß die steuerlichen Sonderfaktoren hier zu berücksichtigen sind: hohe Erstattungen bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer in bezug auf das Rezessionsjahr 1993. Diese führen ebenso zu Steuerausfällen wie die verstärkte Inanspruchnahme der steuerlichen Fördermaßnahmen in Ostdeutschland.
Im übrigen können die Schätzabweichungen nicht dem Bundesministerium der Finanzen angelastet werden. Die künftigen Steuereinnahmen werden durch Experten geschätzt. Sie wissen, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt die entsprechende Kommission diese Fragen erörtert. Hier sind u. a. die Forschungsinstitute, die Bundesbank, der Bundesminister für Wirtschaft und - das scheint mir wichtig zu sein - die Länder vertreten.
({0})
Eine Zusatzfrage, Frau Wolf.
Frau Staatssekretärin Karwatzki, können Sie bestätigen, daß die Bundesrepublik Deutschland bei der Erfüllung der Maastricht-Kriterien von 3 % beim Staatsdefizit und von 60 % beim Schuldenstand in den nächsten beiden Jahren ihre bisherige Musterschülerrolle zu verlieren droht?
Das glaube ich nicht.
({0})
- Das weiß ich, soweit ich das heute sagen kann, Herr Kollege Fischer.
({1})
Nächste Zusatzfrage, Frau Matthäus-Maier.
Wie erklären Sie sich, Frau Staatssekretärin, daß in der letzten Sitzungswoche eine eigenständige Aktuelle Stunde, wie von der SPD gefordert, mit der Begründung abgelehnt wurde, es sei alles in Ordnung und alles paletti, und zwei Tage später der Bundesfinanzminister an einem Samstag auf einmal eine Haushaltssperre für 1995 verkündet, weil offensichtlich nicht alles in Ordnung ist? Wie erklären Sie sich, daß Sie für das Jahr 1996 mittlerweile ein Haushaltsloch von
19 Milliarden DM haben? Wollen Sie die Haushaltsberatungen schlicht und einfach so fortsetzen, als sei nichts geschehen, auch wenn Sie zwischen Vormittag und Nachmittag anscheinend 19 Milliarden DM verloren haben, und wollen Sie dem Parlament zumuten, weiterzuberaten, als sei nichts geschehen?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, ob alles paletti war, das weiß ich nicht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß das hier so vorgetragen worden ist.
({0})
- Ich auch.
Ich möchte Ihnen zu den Löchern im Haushalt '95 etwas sagen -- ich habe eben schon versucht, das auszuführen -: Steuerausfälle von rund 10 Milliarden DM können durch deutliche Entlastungen auf der Ausgaben- und Verbesserungen auf der Einnahmenseite ausgeglichen werden. Im einzelnen sind dies: geringere Zinsaufwendungen von ca. 3 Milliarden DM, Minderbedarf bei der Treuhandnachfolge in Höhe von etwa 4 Milliarden DM, geringerer Zuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit und Verwaltungsmehreinnahmen im Bereich von Liegenschaften und Gewährleistungen. Außerdem wirkt die Haushaltssperre nach § 41 BHO stabilisierend. Ich kann daher eigentlich von keiner signifikanten Überschreitung der Nettokreditaufnahme 1995 von 49 Milliarden DM ausgehen. So weit zu 1995.
Sie haben mich aber sofort auch zu 1996 gefragt: Die Zusatzbelastungen 1996 in Höhe von gut 19 Milliarden DM resultieren zum einen aus Steuerausfällen von rund 13 Milliarden DM, davon 11,4 Milliarden DM auf Grund der Steuerschätzung und 1,6 Milliarden DM aus dem Kompromiß über das Jahressteuergesetz. Zum anderen fallen höhere Arbeitsmarktabgaben von ca. 6,5 Milliarden DM an.
Diese Belastungen können unseres Erachtens vor allem durch eine Fortsetzung der ohnehin intensiven Privatisierungsbemühungen eingefangen werden. Hier sind etwa 9 Milliarden DM zu erzielen.
({1})
- Ja. - Ich nenne z. B. den Verkauf der Postbank, der Wohnungsbaugesellschaften. Ferner wird der Haushalt 1996, wie ich eben schon ausführte, durch die Fristverkürzung bei der Mineralölsteuer um 2,6 Milliarden DM und, was meines Erachtens außerordentlich wichtig ist, durch geringere Zinsaufwendungen in Höhe von ca. 2,2 Milliarden DM entlastet.
Die nächste Zusatzfrage hat Kollege Kuhlwein.
Frau Staatssekretärin, Sie sprachen davon, Sie wollten 9 Milliarden DM zusätzliche Einnahmen des Bundes durch Privatisierung im Jahr 1996 erzielen. Können Sie uns denn einmal sagen, um welche Objekte im Bundeseigentum es sich
dabei handelt und wie dies - alle neune in einem Jahr - so umgesetzt werden soll, daß die für den Bund erforderlichen höchstmöglichen Einnahmen erzielt werden?
Herr Kollege Kuhlwein, ich habe das gerade ausgeführt. Ich gehe davon aus, daß Sie - vielleicht länger als ich - eben noch im Haushaltsausschuß gewesen sind und daß der Minister das dort noch einmal dargelegt hat.
({0})
- Doch, das hat er ganz bestimmt.
({1})
- Ich habe Ihnen im Rahmen meiner Möglichkeiten die Auskünfte gegeben.
({2})
Die nächste Zusatzfrage hat der Kollege Dr. Wolf.
Frau Kollegin Staatssekretärin, wenn Sie sagen, daß diese Ausfälle seit längerem bekannt seien, und wenn ich daran erinnern darf, daß das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schon vor der Sommerpause ähnliche Ausfälle vorhergesagt hat, wie erklären Sie sich dann, daß diese Bekanntgabe erst so spät erfolgte? Könnte es sein, daß hier nach dem Hauruck-Verfahren vorgegangen werden soll, um neue, massive Sozialkürzungen durchzudrücken?
Wir arbeiten nicht nach dem Hauruck-Verfahren. Vielmehr informieren wir ordnungsgemäß die dafür zuständigen Gremien.
Die nächste Zusatzfrage hat Frau Beck.
Frau Staatssekretärin, Sie haben bei dem Haushalt für die Bundesanstalt für Arbeit unter „Bundeszuschuß" für 1996 eine Null eingesetzt, und zwar zu einem Zeitpunkt, als in den Beratungen in dem zuständigen Fachausschuß bereits klar war, daß die im Frühjahr zugrunde gelegten Erwerbslosenzahlen nicht mehr stimmten, sondern sich zum Schlechteren entwickelt hatten.
({0})
Entspricht das, wenn Sie zu dieser Zeit bereits wußten, daß die zugrunde gelegten Daten sich verändert hatten und ein Zuschuß notwendig sein würde, noch der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit?
Ja. Die Fakten waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt.
({0})
Außerdem könnten Sie in Absprache mit dem zuständigen Ressortminister hier Auskünfte erhalten. Ich kann Ihnen nur wahrheitsgemäß sagen, daß die Dinge, die ich Ihnen vorgetragen habe, so sind und nicht schon zu irgendeinem Zeitpunkt für uns voraussehbar waren.
({1})
Die nächste Frage hat Frau Heyne.
Frau Staatssekretärin, ich komme gerade aus der Haushaltsausschußsitzung, in der der Minister uns Mitglieder des Haushaltsausschusses unterrichten wollte. Es hat sich abgespielt, daß der Sprecher einer anderen Oppositionsfraktion nach der Vorlage fragte, die der Minister gemacht hatte. Man sagte ihm: Das ist doch die Nr. 1302. Er hat sie nicht gefunden, weil es - entschuldigen Sie den unparlamentarischen Ausdruck - ein Wisch wie dieser war.
({0})
Mit diesem kleinen Zettel sollen gegenüber dem
Haushaltsausschuß 20 Milliarden DM belegt werden.
({1})
Wir haben seit Mitte August bis jetzt intensiv und lange - teilweise bis tief in die Nacht - gearbeitet. Wir haben viele Kilogramm Papier bewegt, diskutiert und bearbeitet. Dabei haben wir über etwa 700 Millionen DM Einsparungen entschieden, die zum größten Teil von Ihrer Fraktion vorgeschlagen worden waren. Jetzt soll über ein Loch von 20 Milliarden DM auf der Basis von diesem kleinen Zettel entschieden werden.
Ich frage Sie, Frau Staatssekretärin: Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es notwendig ist, die gegenwärtig laufenden Haushaltsberatungen im Ausschuß zu unterbrechen, daß es notwendig ist, daß das Finanzministerium eine belastbare, aussagekräftige Unterlage zur Verfügung stellt, so daß wir mit Glück diesen Haushalt im Dezember weiter beraten können?
({2})
Frau Kollegin Heyne,
ich kenne Vorlagen, bei denen man 13 Seiten erhält, auf denen nichts steht.
({0}).
Wir haben Ihnen eine Seite geliefert.
({1})
- Entschuldigung, ich unterhalte mich gerade mit der Kollegin Heyne, wenn es recht ist.
Frau Kollegin Heyne, ich bin der Meinung, daß die Zahlen, die auf diesem „Wisch" - wie Sie meinen - stehen, nachprüfbar sind, und insofern finde ich sie gut. Ich teile im übrigen nicht Ihre Meinung, daß die Haushaltsberatungen unterbrochen werden müßten.
Die nächste Wortmeldung hat der Kollege Küster.
Frau Staatssekretärin, können Sie bestätigen, daß der Bundesminister der Finanzen versucht, seinen Haushalt durch Rückführung des Mitteltransfers in den Osten um 22 Milliarden DM zu sanieren, und ist geplant, diese Tendenz in den nächsten Haushaltsberatungen fortzusetzen?
Herr Kollege, die Zahl, die Sie genannt haben, stimmt nicht.
({0})
Es trifft zu, daß für dieses Jahr schon im Vorfeld im Finanzplan prognostiziert war, daß die Unterstützung hier zurückgefahren wird. Insofern kann ich das, was Sie sagen, nicht bestätigen.
Im Finanzplan sind ebenfalls die zukünftigen Vorgaben festgelegt.
Das Wort zur nächsten Frage hat der Kollege Wagner.
Frau Staatssekretärin, wenn man sehr viel privatisieren will - Sie haben gerade einen Betrag von 9 Milliarden DM genannt -, gibt es auch Betroffene. Eine Privatisierung geht nicht von heute auf morgen; das sehen Sie z. B. an der Lufthansa.
Ich frage Sie: Hat die Regierung mit den Betroffenen, mit Mitgesellschaftern gesprochen? Die Frankfurter Siedlungsgesellschaft z. B. gehört dem Bund zu 70 %; mit 30 % sind die Stadt Frankfurt und das Land Hessen beteiligt. Ist mit ihnen darüber gesprochen worden, ob sie bereit sind, bei einer Privatisierung mitzumachen? Ist mit den Eisenbahnern gesprochen worden? Die Eisenbahnerwohnungen gehören interessanterweise auch dazu, obwohl noch vor vier Wochen behauptet worden ist, ein Verkauf sei gar nicht beabsichtigt.
Es ist auch die Frage zu stellen, ob Sie die Verkürzung der Fristen zur Abgabe der Mineralölsteuer tatsächlich als eine längerfristige Entlastung des Haushalts ansehen. Das kann doch nur ein einmaliges Ereignis sein, das zudem natürlich den Schwankungen am Mineralölsteuermarkt unterworfen ist. Eine Verkürzung der Fristen kann vielleicht einmal zur Entlastung führen. Ob sie tatsächlich eintritt, wissen Sie nicht. Das wird man am Ende des Jahres feststellen können.
Meine konkrete Frage lautet also: Ist mit den Betroffenen gesprochen worden? Das ist schließlich eine Sache, die nicht von heute auf morgen gemacht werden kann.
Herr Kollege Wagner, privatisieren kann man nicht von heute auf morgen. Sie dürfen aber sicher sein, daß wir gerade in bezug auf die Wohnungsbaugenossenschaften mit den Betroffenen reden. Es ist selbstverständlich auch unser Ziel, daß den Mietern Angebote gemacht werden - so wird immer verfahren -, Eigentum zu erwerben. Ich kann Ihnen aber heute noch nicht sagen, auf welche Art vorgegangen wird.
Zum Verfahren der Mineralölsteuerabgabe: Natürlich kann das nur eine einmalige Angelegenheit sein. Das ist selbstverständlich. Man braucht nicht darum herumzureden.
Herr Steenblock, Sie haben das Wort zu einer weiteren Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade davon gesprochen, daß sich die Nettokreditaufnahme trotz der immer deutlicher werdenden Katastrophe bei den Einnahmen dieser Republik nicht ändern wird. Ich frage Sie deshalb: Wie beurteilen Sie den Bericht im „Handelsblatt" vom 23. Oktober, demzufolge das BMF bezüglich des Anteils der Nettokreditaufnahme am Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr von einer Erhöhung von 2,5 % auf 2,9 % ausgeht und für 1996 sogar eine Erhöhung von 2 % auf 2,5 % erwartet?
Was das „Handelsblatt" vom 23. Oktober geschrieben hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich kann Ihnen nur sagen, daß es unser Ziel ist, die Nettokreditaufnahme so, wie sie prognostiziert ist, beizubehalten.
Das Wort zur nächsten Frage erteile ich dem Abgeordneten Schmidt.
Frau Staatssekretärin, meine Frage bezieht sich auf das größte Investivprojekt, das der
Bund in diesem Jahr eingeht, das aber kurioserweise nicht im Haushalt enthalten ist, sondern im Haushaltsgesetz, und zwar in § 28 Abs. 2. Es handelt sich um die ICE-Neubautrasse München-IngolstadtNürnberg.
Hier steht, daß sich der Bund verpflichtet, dieses Projekt nach Fertigstellung und Vorfinanzierung durch private Investoren über einen Zeitraum von 25 Jahren in 25 Jahresraten à 622 Millionen DM zurückzukaufen. Das macht per saldo 15,6 Milliarden DM. Wenn man diese Verpflichtung, die der Bund nach Ihrer Vorlage eingehen soll, zu den Verpflichtungsermächtigungen addiert, die im Haushalt für die Bundesfernstraßen ausgewiesen sind - das sind, abweichend von den schriftlich fixierten Haushaltszahlen, inzwischen 6 Milliarden DM -
Herr Kollege, ich muß Sie unterbrechen.
Ich habe Zweifel, ob Ihre Frage in einem Sachzusammenhang steht. Die Frage, die wir hier behandeln, bezieht sich auf den Steuerausfall und die Folgerungen, die sich aus dem Steuerausfall ergeben. Sie können darunter nicht jedes einzelne Haushaltsdetail fassen. Ich muß Sie bitten, zu der Frage eine Zusatzfrage zu stellen.
Ich komme sofort zu der Zusatzfrage. Wenn man beide Beträge zusammennimmt, nämlich 22 Milliarden DM, frage ich: Wie gedenken Sie in der Gesamtschuldenbilanz dieser Bundesregierung, die mit den Haushaltslöchern, die wir heute hier verhandeln, korrespondiert, diese zusätzlichen neuen Verbindlichkeiten in Höhe von 22 Milliarden DM in den Unterlagen auszuweisen, die vom Parlament letztlich beschlossen werden sollen?
Frau Staatssekretärin, ich zweifle an dem Sachzusammenhang und stelle Ihnen anheim, ob Sie die Frage beantworten wollen.
Herr Präsident, ich bedanke mich. Ich möchte nicht antworten.
Dann stellt die Kollegin Höll eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin, auf den beiden Zetteln - Wisch, wie Frau Heyne gerade zutreffend sagte -, die wir soeben im Haushaltsausschuß erhalten haben, spielt die Zuweisung von Mitteln an die Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr in einem Nachtrag eine besondere Rolle. Inwieweit können Sie mir sagen, daß im Haushaltsausschuß tatsächlich seriöse Beratungen über den Haushalt 1995 erfolgt sind bzw. über den Haushalt 1996 erfolgen können, wenn Sie diese Zuweisungen als Spielball betrachten und bekannt ist, daß zehn Minuten vor Abschluß der Bereinigungssitzung diese Zuweisung
für 1995 um 3 Milliarden DM gekürzt wurde, aber, wie sich jetzt herausstellt, 4,3 Milliarden DM für 1995 benötigt werden? Wie können Sie angesichts dieser Erfahrungen sagen, daß wir tatsächlich über reale Zahlen im Haushalt 1996 diskutieren?
Herr Präsident, darf ich diese Frage an meinen Kollegen weitergeben?
Bitte schön, sie ist ja an die Bundesregierung gerichtet.
Frau Kollegin, es ist unstrittig, daß die Gelder, die scheinbar zu einem Minus führen, 1995 nicht gebraucht werden. Es ist mit der Selbstverwaltung und dem Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit abgestimmt. Wir brauchen diese Mittel in diesem Umfang, wie Sie sie genannt haben, nicht.
Auf Grund der neuen Schätzungen, die mit der Steuerschätzung nichts zu tun haben - es gibt einen eigenen Schätzerkreis für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, einschließlich der Arbeitsmarktdaten - werden wir die Beträge, die Sie genannt haben, in diesem Umfang für 1996 brauchen. Die Gesamtentwicklung des Jahres 1996 können weder Sie noch ich heute voraussagen. Das hat es immer gegeben, sonst hätten wir im Haushalt 1995 auch nicht mehr eingestellt, als wir gebraucht haben. Möglicherweise brauchen wir 1996 auch etwas weniger, vielleicht etwas mehr. So ist nun einmal die Lage, wenn man schätzen muß.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Bierstedt.
Frau Staatssekretärin, ich habe zugegebenermaßen eine etwas polemische Frage. Ihre Aussagen, die Sie getätigt haben, waren allerdings auch etwas polemisch. Sie verweisen gerne auf die Erfahrungen der ehemaligen DDR. Ich möchte auch einmal auf eine Erfahrung aus der ehemaligen DDR verweisen.
({0})
Bei uns gab es ein Sprichwort: Der Plan ist die Ergänzung des Zufalls durch den Irrtum. Wäre es Ihnen unter Umständen hilfreich, wenn Sie ganz einfach zugeben, daß sich die Bundesregierung geirrt hat, und darum bitten, die Haushaltsberatungen zu unterbrechen und sie im Dezember fortzuführen?
Herr Kollege, Sie haben sehr wahrscheinlich nicht mich persönlich gemeint, als Sie sagten, daß ich gerne auf die Erfahrungen der DDR verwiese. Dann hätten Sie sich vertan.
Zu der Frage, ob die Haushaltsberatungen unterbrochen werden sollten, habe ich Ihnen eben schon
einmal gesagt: Nein. Wir operieren mit Zahlen, die verantwortungsvoll sind. Deswegen bin ich dafür, daß die Haushaltsberatungen zu Ende geführt werden.
Kollege Kröning.
Frau Staatssekretärin, meine Frage bezieht sich auf die Antwort, die Sie eingangs gegeben haben, als Sie von den Korrekturen der Steuerschätzung sprachen. Sie haben dabei eine Anspielung gemacht, daß dafür Ihr Haus nicht verantwortlich sei. Ich frage Sie deshalb: Ist das Bundesfinanzministerium im Arbeitskreis ,,Gesamtwirtschaftliche Vorausschätzungen" gleichberechtigt vertreten? Hat Ihr Vertreter in diesem Arbeitskreis den Konjunkturprognosen für die beiden Steuerschätzungen dieses Jahres zugestimmt? Wenn nein, welche abweichende Einschätzung hat er dort vertreten?
Das letztere kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich habe auch nicht gesagt, daß wir nicht zuständig sind, vielmehr habe ich gesagt, daß wir im Verbund mit anderen verantwortlich sind.
({0})
- Ich habe Ihnen gerade zu Beginn gesagt: Das kann ich nicht sagen. Entschuldigung, Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die die Erfahrenen sind, wissen ja auch nicht, was ihr Mitarbeiter namens Meier, Müller oder Schulze gesagt hat.
({1})
Ich bin gerne bereit, diesem Einzelfall nachzugehen. Aber ich möchte sagen: So können wir doch nicht miteinander umgehen.
({2})
- Ich bin nicht arm, lieber Kollege Fischer, überhaupt nicht.
Frau Kollegin Scheel.
Vorab eine Bemerkung: Diese Panne - so kann man es ja nur bezeichnen - der Steuerschätzer ist die direkte Folge einer verworrenen Finanzpolitik. Das war in den letzten Wochen in verschiedenen Zeitungen nachzulesen.
Wenn ich auf dem Zettel mit der Überschrift „Wesentliche Veränderungen Haushalt 1996", den Sie jetzt vorgelegt haben, sehe, daß bei den Entlastungen im Bereich der Privatisierung 9 Milliarden DM angegeben werden, und wenn ich berücksichtige, daß vom Herrn Bundesfinanzminister gesagt wurde, daß man die Privatisierung der Postbank mit einem Betrag zwischen 3 und 6 Milliarden DM veranschlagt
habe, muß ich doch feststellen, daß hier eine gigantische Spanne liegt, nämlich eine von 3 Milliarden DM. Wenn Sie in anderen Bereichen auch mit solchen Spannen operieren, wie können Sie dann sagen, daß die neue Berechnung aussagekräftig sein soll?
Frau Kollegin, wir leben in einer Wettbewerbsgesellschaft, und da versuchen wir natürlich in unserem Interesse, das meiste herauszuholen. Darum muß man mit solchen Differenzen rechnen. Man muß schauen, daß man auf dem Markt das Beste herausholen kann.
({0})
- Dann werden wir neu darüber reden, Herr Kollege Kuhlwein.
({1})
Herr Kollege Mosdorf.
Frau Staatssekretärin, wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die Sie jetzt mit der Steuerschätzung machen, den merkwürdigen Tatbestand, daß die Bundesbank Aufschätzungen bei der Berechnung des Bruttosozialprodukts im Frühjahr dieses Jahres vorgenommen hat, die dazu geführt haben, daß man bis in den Herbst hinein an der 3-Prozent-Prognose festgehalten hat, obwohl wichtige führende Wirtschaftsforschungsinstitute schon früher vorausgesagt haben, daß wir in diesem Jahr wahrscheinlich nicht über 2,25 % Bruttosozialproduktwachstum hinauskommen werden?
({0})
Sie haben ja eine Frage dahin gehend gestellt, wie ich es bewerte, daß die Bundesbank eine solche Schätzung abgegeben hat.
({0})
Dazu kann ich nur sagen: Die Bundesbank ist ein autonomes Gremium. Welche Schätzungen sie abgibt, muß die Bank verantworten.
Frau Kollegin Altmann.
Ich möchte gern auf die Antwort zurückkommen, die Sie meiner Kollegin Scheel gegeben haben, und zwar sprachen Sie vom Wettbewerb. Ich würde Sie gern einmal etwas polemisch fragen - das als Vorbemerkung -, ob man nicht eine solche Kalkulation, wenn man das betriebswirtschaftlich sehen würde, doch als unseriös bezeichnen müßte. Das nur einmal vorweg.
Ich möchte von Ihnen ganz konkret wissen: Wie wollen Sie eigentlich die Kriterien für die Währungsunion einhalten, die ja Obergrenzen für die Verschuldung vorsehen, und das bei diesen 3 Milliarden DM, die ja letztendlich im Raum stehen? Das bedeutet ja nichts anderes, als daß sie fehlen könnten. Sie sind doch jetzt schon haarscharf an der Obergrenze angekommen. Wie wollen Sie diese Kriterien angesichts dieses Spielraumes einhalten?
Irmgard Karwatzki, Pari. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen: Entschuldigung, meinen Sie die Kriterien von Maastricht? - Ja. Ich bin sehr zuversichtlich, daß wir diese Kriterien einhalten werden.
({0})
Herr Kollege Berninger.
Frau Staatssekretärin, offensichtlich wollen Sie die Einnahmeausfälle im Haushalt 1996 dadurch kompensieren, daß Sie das Tafelsilber oder das, was davon übriggeblieben ist, bereits in diesen Haushalt einstellen. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Wie wollen Sie für den Haushalt 1997 eine seriöse Haushaltspolitik sicherstellen, wenn das Tafelsilber einmal weg ist?
Daran schließt sich die Frage an: Wäre es nicht ein wesentlich seriöserer Umgang mit den Einnahmeausfällen, wenn man, statt einen solchen Wisch, den meine Kollegin Heyne schon angesprochen hat, zu verteilen, einschneidende Maßnahmen des Haushalts im Haushaltsausschuß - und bei Bedarf in den einzelnen Fachausschüssen - beraten würde, d. h. jetzt nicht voreilig Dinge verkauft, die später fehlen werden und was einem später leid tun wird?
({0})
Herr Kollege, ich habe in unserem Haus - und darüber hinaus auch sonst in der öffentlichen Verwaltung - noch kein Tafelsilber gesehen. Wohl ist es so, daß wir alle über den sogenannten schlanken Staat reden. Deshalb müssen wir uns von einigen Dingen trennen, sprich: privatisieren. So verfahren wir hier.
Frau Kollegin SkarpelisSperk.
Frau Staatssekretärin, Sie haben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Mosdorf darauf hingewiesen, daß die Deutsche Bundesbank - das ist unstreitig - eine autonome Institution ist. Sind Sie dennoch bereit, im Zentralbankrat, in dem die Bundesregierung ja vertreten ist, darauf hinzuwirken, daß die Deutsche Bundesbank Einflußnahmen auf das Statistische Bundesamt unterläßt, die darauf zielen, daß Grundlagen statistischer Daten verändert werden? Die Frage bezog sich ja
darauf, daß ein Datum höher geschätzt wurde, als dies dem tatsächlichen Dateneingang entsprochen hat.
Ist die Bundesregierung also bereit, darauf hinzuwirken, daß die Zahlen der deutschen Öffentlichkeit ungeschminkt dargeboten werden? Wird sie im Zentralbankrat darauf hinwirken, daß dies zukünftig so erfolgt?
Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob das, was Sie hier ausgeführt haben, so zutrifft. Ich sage Ihnen zu, ich prüfe das und werde Sie dann in Kenntnis setzen.
Werden zur Dringlichkeitsfrage 1 weitere Zusatzfragen gestellt? - Dies ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Dringlichkeitsfrage 2, die ebenfalls der Kollege Werner Schulz gestellt hat, auf:
Plant die Bundesregierung angesichts dieser Haushaltsentwicklung zusätzliche Eingriffe in Leistungsgesetze, und, wenn nein, wie sollen die Deckungslücken geschlossen werden?
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, ich bitte Sie um Ihre Antwort.
Herr Kollege Schulz, ein Haushaltssicherungsgesetz ist nach Auffassung der Bundesregierung nicht nötig. Den Steuerausfällen im 95er Haushalt von rund 10 Milliarden DM stehen deutliche Entlastungen auf Ausgaben- und Einnahmenseite gegenüber, die zusammen mit der Haushaltssperre zu keiner signifikanten Erhöhung der Nettokreditaufnahme von 49,8 Milliarden DM führen.
Die Zusatzbelastungen 1996 von gut 19 Milliarden DM werden, wie ich eben schon einmal ausführte, in voller Höhe durch zusätzliche Privatisierungserlöse, durch die Fristverkürzung im Zusammenhang mit der Mineralölsteuer und durch absehbare Minderausgaben im Bereich der Zinslasten, des Erblastentilgungsfonds sowie weiterer Schätzansätze ausgeglichen.
Eine erste Zusatzfrage, Herr Kollege Schulz.
Frau Staatssekretärin, liegen der Privatisierung der Postbank AG andere Überlegungen zugrunde, als möglichst schnell möglichst hohe Erlöse zu erzielen? Meinen Sie, daß auf Grund der entstandenen Haushaltslage die Verhandlungsposition des Bundes dabei besonders günstig ist?
Es gibt sehr viele Bewerber, so daß sich Ihre implizierte Schlußfolgerung nicht bewahrheiten wird.
Welche Erfahrungen haben Sie denn bisher mit der Privatisierung von Banken gemacht?
Soweit zufriedenstellende.
({0})
Frau Kollegin MatthäusMaier.
Frau Staatssekretärin, in § 32 der Bundeshaushaltsordnung wird beschrieben, wie ein Ergänzungshaushalt aussehen muß, der dann nötig ist, wenn sich die Daten so enorm verändern wie im vorliegenden Fall. Er muß nämlich so aussehen wie ein normaler Haushaltsentwurf. Sind Sie nicht der Ansicht, daß dieser Waschzettel, den Frau Heyne eben hochgehalten hat, dieser Anforderung nicht entspricht? Auf ihm werden 19 Milliarden DM in sieben Einzelpositionen - völlig unspezifiziert - zusammengefaßt. Unter anderem steht da: Sonstige Entlastungen 3 Milliarden DM.
({0})
- Ja, ca. 3 Milliarden DM. - Man stelle sich vor, einer von uns hätte in seiner Rede den Kürzungsvorschlag gemacht: Sonstige Kürzungen ca. 3 Milliarden DM. Sie wären aus dem Fenster gesprungen.
Empfinden Sie einen solchen Waschzettel dann nicht als Zumutung? Müßten wir die Haushaltsberatung nicht gemeinsam unterbrechen - so unsere Meinung -, damit Sie die Gelegenheit haben, einen ordentlichen Ergänzungshaushalt vorzulegen?
({1})
Ich darf zwischendurch wieder einmal auf unsere Geschäftsordnung verweisen, die vorsieht, daß in der Fragestunde Fragen gestellt und keine längeren Debattenbeiträge geleistet werden.
({0})
- Was Sie gut finden oder nicht gut finden, ist eine andere Frage. Wichtig ist, was in der Geschäftsordnung steht.
Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, natürlich werden wir entsprechend den Vorgaben der Bundeshaushaltsordnung die Gremien rechtzeitig informieren. Ich bin im Gegensatz zu
Ihnen nicht der Meinung, daß es in diesem Fall - das haben Sie nicht gesagt - eines Nachtragshaushaltes bedarf.
({0})
- Richtig: Ergänzungshaushalt, Entschuldigung.
Wir haben diese Frage mit den zuständigen Berichterstattern erörtert. Ich bin der Meinung - wie ich schon einige Male ausführte -, daß wir mit dem Zahlenmaterial, das wir den entsprechenden Gremien vorgelegt haben, die Haushaltsberatungen miteinander fortsetzen können.
Herr Kollege Kuhlwein.
Frau Staatssekretärin, trifft es zu, daß die SPD-Fraktion im Haushaltsausschuß bereits vor vierzehn Tagen nach einer Vorlage zum Stopfen der Löcher in den Haushalten 1995 und 1996 durch den Bundesfinanzminister gefragt hat?
Trifft es zu, daß heute nachmittag in der Sitzung des Haushaltsausschusses diese beiden Blätter - das eine betrifft 1995, das andere 1996 -, die sehr pauschale Zahlen enthalten - Milliardenbeträge -, vorgelegt wurden?
Können Sie sich vorstellen, daß der Haushalt morgen in der Bereinigungssitzung für 1996 an Hand solcher Zahlen seriös und solide, wie es nach dem Haushaltsgesetz erforderlich ist, beraten werden kann?
({0})
Das letzte möchte ich mit Ja beantworten.
Zu Ihrer ersten Frage, ob Sie bereits vor vierzehn Tagen nach dieser Vorlage gefragt haben, möchte ich sagen: Da Sie mir die Frage stellen, gehe ich davon aus, daß das so ist. Ich weiß es nicht mehr.
({0})
- Das können Sie aber nicht sagen, Herr Küster.
({1})
Herr Kollege Wolf, Sie können sich ruhig noch hinsetzen. Ich habe noch eine riesige Liste mit Fragen, die vorab beantwortet werden müssen.
Kollege Wagner.
Frau Staatssekretärin, ich gehe davon aus, daß die Zahlen, die Sie hier vorgelegt haben - wenn auch nur in pauschaler Form -, eine seriöse Grundlage haben. Nennen Sie bitte ein paar Einzelheiten der von Ihnen geplanten Einschnitte in das soziale Netz und der Reduzierungen, die vorgenommen werden!
Herr Kollege Wagner, ich bin gerne bereit, im Haushaltsausschuß mit Ihnen darüber zu diskutieren. Hier ist meine Fragestellung eine andere.
Vielleicht, wenn der Kollege Günther - ({0})
- Entschuldigung, dann kann ich es nicht weitergeben.
({1})
Entschuldigung, darf ich die Frage noch einmal hören?
Es ist so, daß die Zahlen, die uns vorgelegt worden sind, in ihrer pauschalen Form sicherlich eine seriöse Grundlage haben. Es muß ja nachgerechnet werden, wenn man etwas einsparen oder entlasten will. Nennen Sie doch ein paar Einzelheiten der von Ihnen geplanten Schnitte in das soziale Netz, die aus diesen Zahlen hervorgehen!
Die Zahlen, soweit sie sich auf die Bundesanstalt für Arbeit beziehen, beinhalten nicht, daß zusätzlich Einschnitte bei der Bundesanstalt für Arbeit vorgenommen werden.
({0})
- Herr Kuhlwein, ich beziehe mich auf den Stand, der mir heute bekannt ist. Was in fünf Monaten sein wird, wissen Sie nicht, weiß auch ich nicht.
({1})
Weitere Einsparungen - das wissen Sie - wollen wir durch Maßnahmen im Bereich der Sozialhilfe und im Bereich der Arbeitslosenhilfe vornehmen. Das sind die bekannten Pläne. Weitere Einsparungen sind nicht vorgesehen.
({2})
Herr Kollege Küster, nehmen Sie doch bitte noch einmal Platz. Ich habe eine ziemlich lange Liste durchzugehen, bevor Sie dran sind.
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Barbara Höll.
Frau Staatssekretärin, der Haushaltsentwurf der Regierung, der uns im September vorgelegt wurde, ist ja sicher das Ergebnis intensiver Beratungen und der Abstimmung mit den MiniDr. Barbara Höll
sterien. Wie ist es möglich, daß Sie jetzt auf einmal ein Einsparpotential in Höhe von fast 20 Milliarden DM sehen? Hat Ihr Ministerium nicht richtig gearbeitet? Haben Sie riesige Luftbuchungen extra im Haushalt gehabt? Oder haben Sie uns bewußt verschwiegen, wo Sie im nächsten Jahr noch zusätzliche Einnahmequellen sehen?
Frau Kollegin Höll, ich kann das ja noch ein paarmal singen, vielleicht auch aufnehmen lassen: Es sind keine Luftbuchungen darin. Ich habe erklärt, wie es zu den Steuerausfällen gekommen ist. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.
({0})
Kollege Hans Büttner.
({0})
- Wollen Sie sich auch melden, Herr Kollege Fischer?
({1})
Frau Staatssekretärin, trifft angesichts der gegenwärtigen prekären Haushaltslage die Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber zu - die er am 20. Oktober 1995 anläßlich einer Festveranstaltung des „Kurier" -Druckhauses in Ingolstadt gemacht hat -, daß er zusammen mit den Standortländern der Luft- und Raumfahrtindustrie erreicht habe, daß der Bund durch positive Beschaffungsentscheidungen der Industrie die erforderliche Planungssicherheit gegeben habe, daß bis zum Jahre 2009 von der Bundesregierung 4,3 Milliarden DM für die Entwicklung des Nachfolgers der Transall - Future Large Aircraft - bereitgestellt werden, bis zum Jahre 2001 der Hubschrauber Tiger, bis zum Jahre 2002 der Kampfhubschrauber NH 90 bereitstehen sollen, und daß die Bundesregierung außerdem daran festhalte, daß bis zum Jahre 2010 140 Jagdflugzeuge vom Typ Eurofighter bestellt werden? Sind solche Zusagen in der Finanzplanung des Bundes bereits enthalten?
Herr Kollege, der Bundesverteidigungsminister hat in der von Ihnen zitierten Sitzung mit den Ministerpräsidenten der Länder über die Materialbeschaffungsplanung der Bundeswehr berichtet und in diesem Zusammenhang zu den Projekten Stellung genommen, die Sie gerade aufgelistet haben. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß für keine einzige dieser aufgelisteten Maßnahmen Beschaffungsentscheidungen vorliegen, zumal im übrigen - was in dieser Sitzung ebenfalls ausdrücklich angemerkt wurde - für eine Reihe dieser Fragen, beispielsweise für den Eurofighter das Parlament einen ausdrücklichen Entscheidungsvorbehalt zu Protokoll gegeben hat, von dem auch nach Abschluß der Entwicklung dann Beschaffungsentscheidungen abhängig sind.
Danke. Herr Kollege Metzger.
Frau Staatssekretärin Karwatzki, als Haushälter möchte ich noch einmal auf eines hinweisen, nämlich daß die Tischvorlagen von heute nachmittag zur Deckung unseriös sind.
({0})
Können Sie beispielsweise bestätigen, daß der Bundesfinanzminister auf Grund einer Rechnung, die er vor einer Stunde dem Haushaltsausschuß bezüglich des Abschlusses 1995 offeriert hat, davon ausgeht, daß er mit der Haushaltssperre im Haushaltsjahr 1995 nicht weniger als 6 Milliarden DM einsparen muß, damit die Rechnung stimmt? Stimmen Sie weiter zu, daß die Verkürzung der Mineralölsteuer von 2,6 Milliarden DM in dieser Aufstellung überhaupt nicht als Belastung für den Haushalt 1995 berücksichtigt ist? Deshalb kann von Seriosität in diesem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede sein, weil danach 8 Milliarden DM im Haushalt 1995 zu ersetzen wären.
({1})
Herr Kollege Metzger, ich habe eben schon einmal ausgeführt, daß es ursprünglich so war, daß man die Fristverkürzung bei der Mineralölsteuer 1995 berücksichtigen wollte, das aber aus aktuellem Anlaß nicht getan hat und sie für das nächste Jahr berücksichtigen wird.
Was die Zahlen hinsichtlich der Haushaltsrechnung, die Sie genannt haben, angeht, so habe ich das nicht verstanden. Ich kenne die Zahlen auch nicht, weil ich nicht mehr da war.
Bitte.
Aus Verständnisgründen: Die Auflistung des Ministeriums beinhaltet 12 Milliarden DM Einsparungen und 4 Milliarden DM Belastungen. Das sind 8 Milliarden DM im Saldo. Dann steht dort der schlichte Satz - die Steuerausfälle 1995 betragen 14 Milliarden DM -: Der Restbetrag wird voraussichtlich durch die Haushaltssperre gedeckt.
Deshalb meine Frage: Glauben Sie wirklich, daß der Finanzminister über die Haushaltssperre, die am 13. Oktober verfügt wurde, 6 Milliarden DM im Haushalt 1995 einspart, vor allem wenn man berücksichtigt, daß die Mineralölsteuer, die Sie in Ihrer Antwort angesprochen haben, dieses Jahr als Einnahme wegfällt, weil die Buchung auf das nächste Jahr verlagert wurde? Man müßte die 2,6 Milliarden DM also
zu den 6 Milliarden DM rechnen. Nach meiner Rechnung fehlen im Haushalt 1995 8,6 Milliarden DM.
Zu der Mineralölsteuer habe ich bereits etwas gesagt. Ich antworte deshalb auf Ihre zweite Frage.
Herr Kollege Metzger, Sie wissen genauso wie ich, daß das Dezemberfieber diesmal etwas eher ausgebrochen ist. Ich hoffe zuversichtlich, daß wir die Zahlen, die wir durch die Haushaltssperre erreichen wollen, auch erreichen werden.
Herr Kollege Kampeter, bitte.
Angesichts der Haushaltsentwicklung richtet sich meine Frage an die Bundesregierung darauf, daß in diesen Tagen unzählig viele gute Ratschläge gegeben wurden. Ein Vorschlag war, die Nettokreditaufnahme in erheblichem Maße zu erweitern. Meine Frage an die Bundesregierung: Wie bewerten Sie die Realisierung des Vorschlages, die Nettokreditaufnahme erheblich zu erweitern, gesamtwirtschaftlich? Welche Auswirkungen würden für den Wirtschaftsstandort Deutschland aus dem Befolgen solcher Ratschläge erwachsen?
Herr Kollege Kampeter, ich hatte eingangs bereits ausgeführt - Sie konnten nicht dabeisein, weil Sie im Haushaltsausschuß waren -, daß die Bundesregierung auf gar keinen Fall die Nettokreditaufnahme ausweiten wird; denn die Folgerungen, die Sie mit Ihrer Frage angesprochen haben, kann sich jeder selbst ausrechnen.
Frau Kollegin Heyne.
Frau Staatssekretärin, Sie sind langjähriges Mitglied im Haushaltsausschuß gewesen, und Sie sind Mitglied dieses Hauses. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß man die Gefahr sehen muß, daß es im Haushaltsausschuß eine gewisse Betriebsblindheit gibt, nachdem man so viel Arbeit in diesen Haushalt gesteckt hat, und daß es Aufgabe des Parlaments wäre, zu sagen: Stop, so kann es nicht weitergehen, ihr müßt eine Pause einlegen? Stimmen Sie mit mir überein, daß es deswegen sinnvoll wäre, die parlamentarischen Möglichkeiten zu nutzen und das Thema hier in einer Aktuellen Stunde zu besprechen, um dem Haushaltsausschuß klarzumachen, wie es weitergehen kann?
({0})
Frau Kollegin Heyne, verständlicherweise bin ich nicht Ihrer Meinung.
Frau Kollegin Scheel.
Frau Staatssekretärin, wie Sie wissen, haben wir öfter einmal recht. Der Kollege Oswald Metzger hat am 12. Oktober eine Haushaltssperre beantragt. Theo Waigel hat sie weit von sich gewiesen; die Begründung ist im Protokoll nachzulesen. Am 14. Oktober hat Theo Waigel die Haushaltssperre verkündet.
Jetzt haben wir die Situation, daß immer mehr Milliardenlöcher auftauchen. Herr Metzger hat bereits einige Punkte angesprochen. Ich kann daher nur noch ergänzend sagen: Die Milliarde, die der Landwirtschaft als Verlustausgleich versprochen wurde, ist in der aktuellen Berechnung nicht vorhanden. Sind Sie nicht mit uns der Meinung, daß der Finanzminister, weil die Opposition heute, am 25. Oktober, die Aussetzung der Verhandlungen im Haushaltsausschuß beantragt, spätestens am 27. Oktober, also wieder zwei Tage später, die Aussetzung verkünden sollte?
Ich würde keiner Fraktion das Recht absprechen, recht zu haben. Ich spreche es also auch Ihnen nicht ab.
Ich prüfe gleich nach, ob der Verlustausgleich für die Landwirtschaft berücksichtigt worden ist. Unabhängig davon - ich habe das bereits zehnmal gesagt - bin ich nicht der Meinung, daß wir die Haushaltsberatungen unterbrechen sollten. Wir sollten vielmehr gemeinsam versuchen, den bestmöglichen Weg zu gehen, um das Ziel gemeinsam zu erreichen.
Kollege Dr. Wolf.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie sich, daß zwar die Bundesregierung erhebliche Kürzungen u. a. im sozialen Bereich - wenn auch unspezifiziert - vornehmen wird, daß aber zusätzliche Mittel und Gelder für neue, zusätzliche Rüstungs- und Weltraumprojekte spätestens ab 1996 in den Haushalt eingestellt werden müssen, und könnte es unter diesen Bedingungen nicht sein, daß diese Art von Haushaltsplanung von dem Kollegen Waigel nach dem Prinzip erfolgt, das der bayerische Schriftsteller Bertolt Brecht genannt hat: „Ja, mach nur einen Plan", und dann gefolgert hat: „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug; niemals merkt er eben allen Lug und Trug"?
Herr Abgeordneter, wenn Sie gestatten: Der Verteidigungshaushalt wird nur um Personalverstärkungsmittel aufgestockt. Sonst gibt es in diesem Haushalt keine weiteren Aufstockungen in der Summe.
({0})
Kollege Dr. Uwe Küster.
Frau Staatssekretärin Karwatzki, es gibt bei einem Ihrer Koalitionspartner - ich will den Namen nennen: F.D.P. - die Vorstellung, daß ein Haushaltsstrukturgesetz nötig ist. Wie ist nun die Entscheidung in der Koalition, Haushaltsplan oder Haushaltsstrukturgesetz?
Ich kann Ihnen sagen, daß die Bundesregierung gegen ein Haushaltsstrukturgesetz ist. Wenn ich die Überlegungen innerhalb der F.D.P. richtig gesehen habe, ist das dort ein einzelner Rufer. Insofern kann man nicht sagen: „die F.D.P. " oder „der Koalitionspartner" .
({0})
- Herr Fischer, ich glaube, Sie sind da genausogut informiert wie ich.
({1})
- So möchte ich das nicht sehen, Herr Kollege Fischer. Der Name ist bekannt: Graf Lambsdorff.
Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Staatssekretärin, welche Folgen ergeben sich aus Ihrer chaotischen Haushaltspolitik für Länder und Kommunen?
Wir haben eine sehr Mare, strukturierte Haushaltspolitik.
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Sie ist nicht chaotisch.
Wenn Sie mich im einzelnen fragen, welche Auswirkungen das auf Länder und Gemeinden hat, will ich Ihnen darauf gern eine Antwort geben, aber so im allgemeinen nicht.
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- Nein.
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Herr Kollege Albert Schmidt.
Frau Staatssekretärin, die Ausarbeitung des Bundesfinanzministeriums, die heute mit der Drucksachennummer 1302 im Haushaltsausschuß vorgelegt wurde, jener ominöse Wisch, enthält als
letzte Position unter „Sonstiges": Einsparungen von ca. 3 Milliarden DM. Können Sie mir auch nur andeutungsweise zu verstehen geben, was sich hinter diesen Einsparungen unter „Sonstiges" in der Größenordnung von 3 Milliarden DM verbirgt? Was habe ich mir darunter vorzustellen?
Herr Kollege, ich möchte Ihnen, da wir das noch miteinander erörtern, zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, was sich dahinter im einzelnen verbirgt. Das ist eine Fülle aus verschiedenen Haushaltsansätzen.
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Frau Kollegin Lemke.
Frau Staatssekretärin, sind Sie angesichts der desolaten Haushaltslage nicht mit mir der Meinung, daß es sinnvoll wäre, Projekte, die an sich schon umstritten sind - nicht bloß in ökologischer Hinsicht, sondern auch in finanzpolitischer und ökonomischer Hinsicht -, z. B. die Saale-Staustufe, aus den Haushaltsplanungen herauszunehmen, was konkret für das Haushaltsjahr 1996 6 Millionen DM und für das darauffolgende Jahr 213 Millionen DM nach Ihren bisherigen Planungen bedeuten würde, um eine Haushaltsentlastung zu schaffen?
Entschuldigung, ich habe das Projekt nicht verstanden.
Das ist der Einzelplan 12, die Saale-Staustufe in SachsenAnhalt.
Im einzelnen kann ich dazu nicht Stellung nehmen. Zum Prinzipiellen möchte ich sagen, daß gerade solche Dinge innerhalb der parlamentarischen Beratungen berücksichtigt und auch dort entschieden werden.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen, die noch Fragen stellen wollen, vorsorglich auf etwas hinweisen: erstens auf das, was ich vorhin mit Blick auf die Geschäftsordnung gesagt habe. Zweitens muß sich die Zusatzfrage auf die Ursprungsfrage beziehen. Ihre Frage, Frau Kollegin, hatte mit der Ursprungsfrage, die beantwortet worden ist, überhaupt nichts mehr zu tun. Ich bitte also, darauf Rücksicht zu nehmen, daß sich die Zusatzfragen auf die jeweilige Frage bzw. die Antwort darauf beziehen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Köhne.
Frau Staatssekretärin, mir ist noch nicht ganz klar: Warum haben Sie die Einsparmöglichkeiten von 20 Milliarden DM, die Sie jetzt
vorgelegt haben, nicht bereits im September oder Oktober in die Haushaltsberatungen eingebracht?
Weil die Steuerschätzzahlen erst später vorlagen.
Kollege Kubatschka.
Frau Kollegin, die vorgelegten Zahlen belegen Mindereinnahmen in Milliardenhöhe. Waren diese vorher nicht bekannt, oder wurde von Ihrem Haus oberflächlich gearbeitet? - Ich will ganz vorsichtig sein.
Wir haben sehr gute Mitarbeiter, die nicht oberflächlich arbeiten, sondern die im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Beste für uns alle auf den Weg geben.
({0})
Werden weitere Zusatzfragen zu der Dringlichkeitsfrage 2 gewünscht? - Herr Steenblock.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie auf die Position „Sonstiges" ansprechen. Dabei geht es immerhin um 3 Milliarden DM. Das sind nicht Peanuts, das ist keine Summe, die im Haushalt zu vernachlässigen wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Ihrem Hause keine Überlegungen dazu angestellt worden sind, was diese 3 Milliarden DM beinhalten sollen. Es kann nicht der Wahrheit entsprechen, wenn Sie sagen, Sie hätten überhaupt keine Informationen darüber, was sich hinter diesen 3 Milliarden DM tatsächlich verbirgt. Deshalb frage ich Sie: Sind damit eventuell Einzelhaushalte gemeint, wie z. B. der Verkehrshaushalt, der dabei Relevanz hat, sind dabei globale Haushaltskürzungen gemeint?
Herr Kollege, Ihre Frage hat nichts mit der Dringlichkeitsfrage 2 oder der Antwort darauf zu tun.
({0})
- Hier steht:
Plant die Bundesregierung ... Eingriffe in Leistungsgesetze . . .?
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Dann präzisiere ich: Sind mit den 3 Milliarden DM
Sonstiges auch Einschnitte in Leistungsgesetze gemeint, oder ist das auf jeden Fall ausgeschlossen?
Herr Kollege, das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Wir werden von Fall zu Fall entscheiden. Insofern vermag ich heute Ihre Frage nicht zu bejahen.
Frau Kollegin Altmann.
Frau Staatssekretärin, die F.D.P. hat Einschnitte in Leistungsgesetze vorgeschlagen. Wie stehen Sie dazu, daß statt dessen alle anderen Haushalte noch einmal durchforstet werden sollten, z. B. auch, um sich von Großprojekten zu verabschieden, die gerade in den nächsten Haushalten Belastungen bedeuten? Auch die Preissteigerungen kommen noch zum Tragen. Ich denke z. B. an den Transrapid. Gibt es konkrete Überlegungen, hier mit Kürzungen anzusetzen?
Ich habe gerade dem vorherigen Frager gesagt, daß die Sache im Einzelfall, wenn sie erforderlich ist, entschieden wird.
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- Die Bundesregierung.
Gibt es weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz auf. Die Fragen 1 und 2, die der Kollege Dr. Sperling gestellt hat, sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Zur Geschäftsordnung, Kollege Werner Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fülle der Fragen und auch die Brisanz der Fragen der letzten Stunde haben deutlich gemacht, daß der Bundeshaushaltsentwurf 1996 eine einzigartige Frage ist oder zumindest in Frage steht. Die Staatssekretärin Karwatzki hat uns hier deutlich unter Beweis stellen können, daß sie es noch nie erlebt hat, daß in der kurzen Zeit zwischen der ersten Beratung und der Schlußberatung eines Haushalts ein Defizit von 20 Milliarden DM entstanden ist.
Ich beantrage deswegen im Namen meiner Fraktion gemäß § 106 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine akzessorische Aktuelle Stunde, eine Aktuelle Stunde, die sich aus dieser Fragestunde heraus ergibt, um die Haltung der Bundesregierung zur Auswirkung des Milliardendefizits auf den anstehenden Bundeshaushalt zu diskutieren. Es ist doch eine unglaubliche Tatsache, daß neben der Nettokreditaufnahme von 60 Milliarden DM, die
Werner Schulz ({0})
bereits jetzt eingeplant ist, ein zusätzliches Defizit von über 20 Milliarden DM aufgetreten ist, obwohl die Bundesregierung hier beteuert, daß die eine oder andere Erwägung, das eine oder andere Risiko bereits im Vorfeld bekanntgewesen sei und man dies gesehen habe.
Wir sind der Meinung, daß der Bundesfinanzminister hier im Plenum darüber Rechenschaft ablegen sollte.
({1})
Der finanzpolitische Offenbarungseid sollte hier stattfinden und nicht hinter den verschlossenen Türen des Haushaltsausschusses, wo man sich angewöhnt hat, die eine oder andere Korrektur und Kosmetik in der laufenden Haushaltsberatung unterzubringen, wo es mittlerweile Usus geworden ist, daß die Bundesregierung einen schlecht vorbereiteten Haushaltsentwurf einbringt, der dort regelmäßig zur Makulatur gemacht wird und dann in einer qualifizierten Form als Haushalt für- das nächste Jahr diesen Ausschuß verläßt. Ich glaube, von dieser Praxis müssen wir abweichen.
Wir müssen hier wohl eher die Frage klären, ob nicht eine Ergänzungsvorlage zum Haushaltsentwurf 1996 erforderlich geworden ist; denn es ist doch atemberaubend, wie seit der deutschen Einheit Millionen- und Milliardenbeträge durch die Luft gewirbelt werden, so daß es allen Zuschauern und Zuhörern regelrecht schwindelig wird, wie der Zahlen-Rastelli Waigel nicht nur die Nullen in der Schwebe hält, sondern selbst einige Nullnummern produziert.
Wir möchten unmittelbar hier und heute, von dieser Stelle aus, im Rahmen einer Aktuellen Stunde Auskunft vom Bundesfinanzminister haben. Es ist vom Parlamentarischen Geschäftsführer der CSU zugesichert worden, daß der Bundesfinanzminister zur Verfügung steht und daß er sofort hier erscheinen wird. Ich denke, daß wir in diesem Sinne eine Aktuelle Stunde durchführen sollten.
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Ebenfalls zur Geschäftsordnung Dr. Peter Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine derart peinliche Vorstellung, wie Sie sie hier gegeben haben, Frau Staatssekretärin Karwatzki, habe ich in langer Parlamentszeit nicht erlebt.
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Das liegt auch an dem sehr peinlichen Vorgang, für den Sie persönlich sicherlich nicht die Verantwortung tragen.
Es ist ein unglaubliches Verhalten der Bundesregierung, mit einem solchen Wisch eine Haushaltsplanberatung, die seit Monaten durchgeführt wird,
im Grunde ad absurdum zu führen und zu sagen: Wir unterhalten uns an Hand dieses dämlichen Zettels über Kürzungsvorschläge in der Größenordnung von fast 20 Milliarden DM. Das ist unzumutbar.
({1})
Ich habe noch nie, auch in meiner langjährigen Arbeit im Haushaltsausschuß nicht, eine schlampigere Haushaltsvorbereitung erlebt als in diesem Jahr. Der Bundesfinanzminister hat auf allen Ebenen und in voller Linie versagt. Das werden wir hier in dieser Aktuellen Stunde, die ich unterstütze, mit vorführen. Wir erwarten, daß der Bundesfinanzminister dann schon etwas Konkreteres zu dem sagt, wie er sich das vorstellt, als Sie, Frau Karwatzki, es hier vermutlich sagen konnten.
Ich sage Ihnen hier: Die SPD-Bundestagsfraktion wird nicht bereit sein, auf Grund eines solchen Zettels Haushaltsplanberatungen für das Jahr 1996 durchzuführen.
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Wenn Sie das dann ohne uns machen wollen, tragen Sie auch ganz allein die Verantwortung dafür.
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Wir werden den Menschen in Deutschland klarmachen, daß das solide Finanzpolitik - in Anführungszeichen - ist. Sie werden dafür dann die Folgen zu tragen haben.
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Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS unterstützt eindeutig das Anliegen der Aktuellen Stunde und die notwendige Klärung, wie sich die Bundesregierung dazu verhält, auf dieser Grundlage den Haushalt für 1996 weiter beraten zu wollen. Wir meinen, nach den jetzt vorliegenden Dingen ist es notwendig, auch über den Haushalt 1995 noch ausführlich zu diskutieren, um dann auf dieser Grundlage realistisch und sachkundig über den Haushalt 1996 sprechen zu können.
Wir meinen, dies nicht zu leisten, indem man nur noch morgen in der Bereinigungssitzung im Haushaltsausschuß etwas entscheiden will. Denn das heißt auch, daß man letztendlich allen Fachministerien und den Kolleginnen Parlamentarierinnen und Kollegen Parlamentariern, die bisher schon über den Entwurf beraten haben, nicht mehr die Möglichkeit gibt, sich mit den neu aufgekommenen Zahlen, mit denen wir jetzt konfrontiert werden, auseinanderzusetzen und sie sach- und fachkundig in die entsprechenden Einzelhaushalte tatsächlich einzuarbeiten. Wir denken, daß das alles andere als solide Haushaltspolitik ist.
Ich bin persönlich baß erstaunt darüber, wie nun auch Peanuts in die offizielle Politik scheinbar Einzug halten sollen, wenn unter „Sonstiges" z. B. 3 Milliarden DM fallen.
Aus diesem Grunde unterstützt die PDS die Beantragung der Aktuellen Stunde. Wir werden auch den Abbruch der Haushaltsberatungen zum momentanen Zeitpunkt unterstützen und denken, daß es so nicht möglich ist.
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Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? - Das ist nicht der Fall.
Die Geschäftsordnung sieht eigentlich vor, daß solche, sich aus der Fragestunde entwickelnden Aktuellen Stunden am Schluß der Fragestunde beantragt werden. Da man sich aber jederzeit zur Geschäftsordnung melden kann und der Kollege Schulz und die anderen Kollegen das jetzt getan haben, teile ich mit, daß wir die verbleibende Zeit für die Fragestunde feststellen, damit ich sagen kann, wann die Aktuelle Stunde beginnen wird. Ich werde das, sobald die nächsten Fragen aufgerufen sind, tun.
In Fortsetzung der Fragestunde rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf.
Die von dem Kollegen Klaus Dieter Reichardt eingereichten Fragen 3 und 4 mögen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich habe nach meiner Uhr noch 60 Minuten für die Fragestunde. Das heißt, daß die Aktuelle Stunde kurz vor 18 Uhr beginnen wird.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Zur Beantwortung der Fragen steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 5 des Abgeordneten Büttner:
Wo liegt nach Ansicht der Bundesregierung das deutsche Interesse, aufgrund dessen die zuständigen Arbeitsverwaltungen einer indischen Firma aus Nagpur nachträglich eine Arbeitserlaubnis für ca. 40 indische Arbeiter erteilt haben, obwohl diese Firma die indischen Arbeiter zunächst unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte mit einem Ausbildungsvisum einreisen lassen und die Arbeiter an ihrem deutschen Einsatzort ohne deutsches Geld straflagerähnlich kaserniert und erst nach Einschaltung der Öffentlichkeit die allergrößten Mißstände beseitigt worden sind, eine menschenwürdige Unterbringung aber bis heute nicht gewährleistet ist?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Danke, Herr Präsident. - Herr Kollege Büttner, für die Anerkennung eines deutschen Interesses an der Beschäftigung 40 indischer Arbeitnehmer waren folgende Umstände maßgebend:
Die 40 indischen Arbeitnehmer haben für ihren indischen Arbeitgeber die von diesem von der Firma Schubert & Salzer gekaufte Gießereianlage in Ingolstadt abgebaut, in ca. 150 Container verpackt und dabei das erforderliche Know-how gewonnen, um die Anlage in Indien fachgerecht wieder aufbauen zu können.
Ohne den Einsatz der indischen Arbeitnehmer bei der Demontage und die dabei erworbenen Kenntnisse wäre eine Wiedererrichtung der Gießereianlage in Indien durch die Arbeitnehmer des indischen Unternehmens nicht möglich gewesen. Ich kann Ihnen ergänzend sagen, daß in meinem Wahlkreis einmal eine Walzstahlanlage abgebaut wurde, bei der auch die Genehmigung für chinesische Arbeitnehmer gegeben wurde, damit sie das ebenso lernen, um diese Walzstahlanlage in China wieder aufbauen zu können.
Der Einsatz deutscher Kräfte, gerade auch im Hinblick auf einen Wiederaufbau in Indien, hätte für die indische Firma zu nicht tragbaren Kosten geführt. In der Konsequenz wäre der Verkauf der Anlage gescheitert, aber die Anlage hätte verschrottet werden müssen. Ich gehe davon aus, daß Sie als Ingolstädter der Auffassung sind, daß man sie hätte retten können. Dies ist nicht der Fall. Sie wäre verschrottet worden. Durch den Erhalt der Gießereianlagen konnten - auch entwicklungspolitisch begrüßenswert - Arbeitsplätze in Indien geschaffen werden. Die Firma Schubert & Salzer hat nach Schließung und Verkauf des Werks in Ingolstadt ca. 200 neue Arbeitsplätze in Erla - das ist eine besonders strukturschwache Region im Erzgebirge - zusätzlich geschaffen.
Zusammenfassend läßt sich deshalb feststellen, daß durch den an die Beschäftigung der indischen Arbeitnehmer geknüpften Verkauf der Gießerei nach Indien sowohl dort entwicklungspolitisch erwünschte Effekte erzielt worden sind als auch in einem neuen Bundesland zusätzliche Arbeitsplätze im industriellen Bereich geschaffen werden konnten. Die Bundesregierung hält es deshalb für richtig, daß die Bundesanstalt für Arbeit die Arbeitserlaubnisse für die indischen Arbeitnehmer erteilt hat, nachdem die indische Firma zugesichert hat, für die Beschäftigung der indischen Arbeitnehmer diejenigen Arbeitsbedingungen zugrunde zu legen, die für vergleichbare deutsche Arbeitnehmer Anwendung finden.
Nach dem Bericht des Landesarbeitsamtes Südbayern wurde mit den indischen Arbeitnehmern ein befristeter Arbeitsvertrag für die Zeit vom 25. Juli bis 22. Oktober 1995 abgeschlossen, der eine Vergütung im Zeitlohn nach der deutschen Lohngruppe II des einschlägigen deutschen Tarifvertrages zum Stundensatz von 15,06 DM vorsah. Zusätzlich zu den Vergütungen wurden den Arbeitnehmern Unterkunft und Verpflegung gewährt. Die Unterkünfte der indischen Arbeitnehmer wurden vom Gewerbeaufsichtsamt geprüft. Alle festgestellten Mängel wurden nach der Auskunft, die wir bekommen haben, beseitigt.
Zusatzfrage, Herr Kollege Büttner.
Erste Zusatzfrage. Herr Staatssekretär, hält die Bundesregierung die Erteilung der Ausnahmegenehmigungen in diesem Fall auch dann für gerechtfertigt, wenn den Behörden nach mir vorliegenden Unterlagen bekannt war, daß lediglich 17 Arbeitnehmer direkt von der indischen Käuferfirma stammten, die weiteren über 20 Arbeiter aber von einem Subunternehmer dieser indischen Firma kamen, die selbst nur einen befristeten Arbeitsvertrag mit der ausdrücklichen Klausel hatten, daß sich ihr Vertrag auf den Einsatz in Deutschland beschränkt und eine Weiterbeschäftigung für die Käuferfirma in Indien ausgeschlossen ist, und damit auch keine Begründung dafür vorliegt, diese Arbeiter würden das für den Wiederaufbau der Anlage in Indien nötige Knowhow benötigen?
Kollege Büttner, man kann dieser Sachlage selbstverständlich nachgehen. Wir gehen von 40 indischen Arbeitnehmern aus, die in Indien die Anlage wieder aufbauen. Wenn Sie mir Ihre Unterlagen freundlicherweise zur Verfügung stellen, werde ich selbstverständlich bei der Bundesanstalt für Arbeit prüfen, ob Ihre Angaben richtig sind.
Zweite Zusatzfrage.
Bitte.
Haben sich das Bundesarbeitsministerium, andere Ministerien oder Dienststellen des Bundes oder der Länder eingeschaltet, damit für die 40 mit falschen Arbeitserlaubnissen eingereisten indischen Arbeiter erst nachträglich eine Ausnahmegenehmigung durch das Landesarbeitsamt Südbayern erteilt wurde, obwohl die vorliegenden Arbeitsverträge dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht nicht entsprochen haben und erst am 5. Oktober, mehr als zwei Monate nach Einreise und Arbeitsaufnahme, formal angepaßt worden sind?
Ja, Sie sagen es. Nachdem interveniert wurde - ich weiß nicht, von welcher Seite; ich vermute, auch von Ihnen persönlich -, ist nachträglich eine ordnungsgemäße Installierung von Verträgen vorgenommen worden. Das bezieht sich auch darauf, daß man von indischer Seite vorab davon ausgegangen ist, daß man hier etwas lernen kann und Ausbildungs- oder Bildungsverträge vorliegen. Da dies nicht der Fall war, ist alles korrigiert worden, und das wissen auch Sie.
Kollege Hasenfratz.
Herr Staatssekretär, wie begründet die Bundesregierung den Sachverhalt,
daß die Arbeitsverwaltung bis zum 15. September 1995 nicht überprüft hat, ob die seit Mitte August in dem Betrieb in Ingolstadt tätigen 40 indischen Arbeitnehmer im Besitz einer rechtsgültigen Arbeitserlaubnis sind, und erst auf Grund massiver Intervention des Abgeordneten Büttner tätig geworden ist?
Kollege Hasenfratz, es mag möglich sein, daß die Arbeitsverwaltung von vornherein nicht gründlich genug geprüft hat. Ich will dies aber nicht sagen, sondern werde es prüfen und kann Ihnen die Antwort dann geben. Es muß festgestellt werden, ob man diese Prüfung, die normalerweise vor der Erteilung der Arbeitserlaubnis hätte vorgenommen werden müssen, wirklich zu spät vorgenommen hat.
Weitere Zusatzfragen dazu? - Werden nicht gestellt. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Die Fragen wird die Parlamentarische Staatssekretärin Michaela Geiger beantworten.
Ich rufe die Frage 6, gestellt von der Kollegin Steffi Lemke, auf:
Wurde seitens der Bundesregierung eine Genehmigung zur Einlagerung hochexplosiver Munition in die Bunker des ehemaligen Militärflugplatzes in Allstedt ({0}) nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz erteilt?
Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Herr Präsident! Frau Kollegin, die Bundesregierung hat keine Genehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz zur Lagerung von Munition in Bunkern des ehemaligen Militärflugplatzes in Allstedt erteilt.
Die Genehmigungen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz beziehen sich ausschließlich auf die Herstellung sowie auf den Erwerb, die Überlassung und den Transport von Kriegswaffen. Das Kriegswaffenkontrollgesetz sieht kein Antrags- und Genehmigungsverfahren bezüglich der Lagerung von Munition vor. Die Erlaubnis zur Einlagerung von Munition an einem den Sicherheitserfordernissen entsprechenden Lagerort wird nach dem Sprengstoffgesetz und dem Bundes-Immissionsschutzgesetz durch den jeweiligen Regierungspräsidenten bzw. die zuständige Kreisverwaltung erteilt.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Kann ich Ihre Aussage so interpretieren, daß die Aussage der Landesregierung von Sachsen-Anhalt in der
Drucksache 2/1293 vom August 1995 falsch ist? Ich zitiere:
In die Bunker des ehemaligen Militärflugplatzes Allstedt wurde Munition, die für Kriegswaffen bestimmt ist, eingelagert. Für die o. g. Munition sind die Bestimmungen des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen ... maßgebend.
Frau Abgeordnete, ich kann hier natürlich nur für die Bundesregierung sprechen. Die Zuständigkeit für Fragen der Lagerung der Munition liegt nicht bei der Bundesregierung, wie ich schon ausgeführt habe, sondern bei der jeweiligen Landesregierung. Das Kriegswaffenkontrollgesetz macht Aussagen zum Nachweis des Bestandes der Munition. Es hat nichts mit der sicherheitsgerechten Lagerung von Munition zu tun. Insofern kann ich Ihnen in dieser Frage leider nicht weiterhelfen.
Wollen Sie eine zweite Zusatzfrage stellen?
Ja, bitte. - Können Sie mir des weiteren bestätigen, daß die Aussagen in der "Volksstimme" vom 25. Juli dieses Jahres ebenfalls falsch sind? Ich zitiere:
Denn die im Auftrag des Bundes arbeitende Depyfag hatte zusätzlich an höherer Stelle eine Genehmigung beantragt - beim Bundesinnenministerium.... Das Innenministerium hatte bereits am 21. April gestattet, unter anderem 100 Millionen Gewehrpatronen" einzulagern .. .
Ich kann Ihnen natürlich hier keine Berichte von Zeitungen bestätigen, weil ich gar nichts überprüfen kann. Wenn es aber um eine Lagerungsgenehmigung als Voraussetzung für die Erwerbs- und Transportgenehmigung geht: Eine Erwerbs- und Transportgenehmigung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz setzt keinen Nachweis der Lagerung voraus.
Insgesamt kann ich Ihnen nur das sagen, wofür die Bundesregierung zuständig ist. In diesem Fall sind nicht wir, sondern die Landesregierung, der Regierungspräsident, die Kreisbehörden zuständig. Sie müßten also diese Fragen dort stellen.
Werden dazu weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall. Danke, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, für die Beantwortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf. Parlamentarische Staatssekretärin Gertrud Dempwolf wird die Frage 7 beantworten, die der Kollege Klaus Hagemann gestellt hat:
Warum hat die Bundesregierung in die Kommission zur Erarbeitung des 10. Jugendberichts, der die Lage der Kinder in unserem Lande untersuchen soll, keine Gutachter aus dem Kreise des Deutschen Bundesjugendringes oder der Jugendverbände berufen, die bekanntlich im Bereich der Kinderarbeit besondere praktische Erfahrungen haben?
Ich darf vorab sagen: Die Frage 8 von der Kollegin Gabriele Iwersen soll schriftlich beantwortet und die Antwort als Anlage abgedruckt werden.
Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.
Herr Kollege Hagemann, Ihre Frage beantworte ich wie folgt: Es ist gesetzlich festgelegt, daß der Kommission für den Jugendbericht bis zu sieben Sachverständige angehören. Die Bundesregierung hat nach einer Vielzahl von Vorschlägen sieben Sachverständige ausgewählt. Die von Ihnen präferierte Gruppe ist leider diesmal nicht dabei. Es ist aber möglich, daß die Kommission in Form von Gutachten weitere Aufträge zu Spezialthemen an andere Sachverständige vergibt.
Zusatzfrage? - Nein. Werden aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen Zusatzfragen gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Danke, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, für die Beantwortung der Frage.
Die Fragen, die im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit von dem Kollegen Dietmar Thieser gestellt wurden - die Fragen 9 und 10 -, sollen bitte schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Das gleiche gilt für die beiden Fragen des Kollegen Wolfgang Spanier im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - das sind die Fragen 11 und 12 - sowie für die Fragen 13 und 14, beide gestellt vom Kollegen Thomas Krüger, im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Einige Fragen sind als Dringlichkeitsfragen vorgezogen worden. Die anderen Fragen sollen schriftlich beantwortet werden. Es handelt sich dabei um die Fragen 15 und 16 der Kollegin Christine Lucyga, die Frage 17 des Kollegen Jürgen Augustinowitz, die Fragen 18 und 19 des Kollegen Gernot Erler, die Frage 20 der Kollegin Dr. Antje Vollmer und die Fragen 21 und 22 des Kollegen Michael Wonneberger. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert zur Verfügung.
Die beiden ersten Fragen in diesem Bereich, die Fragen 23 und 24, die vom Kollegen Manfred Kolbe gestellt wurden, sollen schriftlich beantwortet werden, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Vizepräsident Hans Klein
Bezüglich der Fragen 25 und 26 wird verfahren, wie es die Geschäftsordnung vorsieht.
Die Fragen 27 und 28 des Kollegen Norbert Gansel sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Ihre Aufgabe ist damit erfüllt. Ich bedanke mich.
({0})
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Die Frage 29, die vom Kollegen Jürgen Augustinowitz gestellt worden ist, sowie die Fragen 30 und 31 des Kollegen Benno Zierer sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 32 der Kollegin Annette Faße auf:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 27, ABS Hamburg-Harburg-Hamburg-Rothenburgsort, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Faße, das in der Frage genannte Projekt ist im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes für den Zeitraum von 1995 bis 1997 enthalten. Dieser Ausbauplan ist gemeinsam mit der Deutschen Bahn AG aufgestellt und mit den Ländern abgestimmt worden. Im Juni 1995 ist er auch dem Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages als Grundlage für die Schienenwegeausbauplanung übersandt worden.
Die Bundesregierung steht nach wie vor zu diesem Dreijahresplan. Seine Umsetzung ist im wesentlichen sichergestellt.
({0})
Für einzelne Vorhaben können sich zeitliche Strekkungen ergeben.
({1})
Die Finanzierung erfolgt durch Haushaltsmittel und durch Erlöse aus dem Verkauf nicht bahnnotwendiger Immobilien sowie eventuell aus Verkaufserlösen und Einsparungen im Bereich Bahn-Telekom. Zudem versprechen wir uns auch durch die Optimierung der Projekte eine Einsparung, so daß der Bedarf nicht die vorgesehene Höhe erreicht.
Mehrjährige größere Eisenbahnvorhaben, insbesondere die Strecke Köln-Rhein/Main und die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit 8.1 und 8.2 sowie die Maßnahme im zentralen Bereich von Berlin, sind durch Verpflichtungsermächtigungen in den Haushalten abgedeckt. Das ist die Antwort auf den ersten Teil Ihrer Frage.
Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, der sich über diesen Dreijahresplan hinausgehend in den Bereich der mittelfristigen Finanzplanung hinein erstreckt, so wird die Bundesregierung Ende 1996, Anfang 1997 entsprechend dem Schienenwegeausbaugesetz - dort ist es so vorgesehen - einen Fünfjahresplan vorlegen und damit die Investitionsplanungen für die Schiene fortschreiben.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, ich habe große Bedenken bei Ihren Vorschlägen, wie Sie die Lücken, die offensichtlich vorhanden sind, zu schließen gedenken. Ich möchte Sie einmal ganz deutlich fragen, wann Sie den Dreijahresplan so überarbeiten, daß Sie es den Abgeordneten der Koalition nicht mehr ermöglichen, daß sie in ihren Wahlkreisen auftauchen, um darzustellen, wann genau welche Strecke erstellt wird.
Sehr geehrte Frau Faße, wir sehen keine Veranlassung, den Dreijahresplan nicht mehr als gültig anzusehen. Er ist die weitere Grundlage für den Schienenwegeausbau. Ich habe Ihnen das in der Antwort gesagt. Es werden sich für einzelne Projekte zeitliche Streckungen ergeben, so daß wir den Dreijahresplan zwar vielleicht nicht in 36 Monaten, aber in 40 Monaten realisieren können. Die Finanzsituation - ich habe Ihnen die Elemente geschildert - ist doch so, daß es keine Veranlassung gibt, diesen Dreijahresplan beiseite zu legen, so daß die Abgeordneten, die in den Wahlkreisen mit diesen Terminen und mit diesem Dreijahresplan arbeiten, durchaus auf der richtigen Strecke sind.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Ich nehme das Wort Strecke noch einmal auf. Ich frage noch einmal, ob die Maßnahme, die in meiner Frage benannt ist, zu denen gehört, die gestreckt werden sollen.
Nach den Zahlen, die Sie im Dreijahresplan für Ihre Strecke finden, stehen insgesamt 949 Millionen DM zur Verfügung. Für den Zeitraum vor 1995 sind bereits 722 Millionen DM ausgegeben worden. Im Zeitraum bis 1997 werden 154 Millionen DM ausgegeben. Nach dem Ende des Dreijahresplanes stehen weitere 73 Millionen DM an. Allein angesichts dieser Aufzählung der Zahlenblöcke kann davon ausgegangen werden, daß es keine wesentlichen Veränderungen geben wird.
Frau Kollegin Elke Ferner.
Sie haben gerade gesagt, 154 Millionen DM werden in dem Zeitraum von 1995 bis 1997 ausgegeben. Sie haben weiterhin gesagt, welche Maßnahmen nicht disponibel sind. Ich frage Sie: Gibt es darüber hinaus noch andere Maßnahmen, die nicht disponibel sind, z. B. Maßnahmen, bei denen Verträge mit anderen Staaten bestehen, bzw. Maßnahmen, die die Bundesregierung selbst für die transeuropäischen Netze angemeldet hat?
Sofern diese Maßnahmen im Dreijahresplan Schiene enthalten sind, werden sie in der vorgesehenen Weise realisiert worden.
Kollege Dr. Uwe Küster.
Herr Staatssekretär Nitsch, uns verbindet eine gemeinsame Erfahrung, an die ich gerne anknüpfen möchte. Wir haben Dreijahrespläne gehabt. Heißt das, daß wir auf dem Weg zu Fünfjahresplänen sind? Damit haben wir doch gute Erfahrungen. Aus den Fünfjahresplänen wurden dann langfristig immer Zehnjahrespläne.
({0})
Sehr geehrter Herr Küster, wir haben gewiß gemeinsame Erfahrungen. Ich möchte aber sagen: Nicht ich habe den Dreijahresplan oder den Fünfjahresplan erfunden, vielmehr ist er Bestandteil der Vorschriften aus dem Schienenwegeausbaugesetz. Dort steht, daß wir zunächst einen Dreijahresplan vorzulegen haben. Ihn haben wir vorgelegt und setzen ihn um. Nach Ablauf des Dreijahresplanes haben wir einen Fünfjahresplan vorzulegen. So steht es im Gesetz. Wenn es dann nicht gemacht werden sollte, müßte dazu das Gesetz geändert werden.
Herr Kollege Dr. Dionys Jobst.
Herr Staatssekretär, wenn wir davon ausgehen, daß der Dreijahresplan ein Bedarfsplan ist: Können Sie mir bestätigen, daß der Bahn AG für die erforderlichen Investitionen 1996 und dann auch im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung die erforderlichen Investitionsmittel zur Verfügung stehen, und können Sie bestätigen, daß man sich seitens der Bundesregierung bemüht,
({0})
das Investitionsniveau dem Wert anzunähern, der in der alten mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen war?
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Sehr geehrter Herr Dr. Jobst,
es verhält sich in der Tat so, daß die DB AG im Bereich der Investitionen erhebliche Anstrengungen machen muß,
({0})
um die in den Haushalten vorgesehenen Investitionen so zu realisieren, daß die Mittel planmäßig abfließen. Für 1994 hat es noch Probleme gegeben. In bezug auf 1995 denke ich, daß die DB AG in den Bereich hineinkommt, den wir für die nächsten Jahre bereitstellen werden. Ich bin der Meinung, daß das das Optimum ist, was die DB AG in diesem komplizierten Bereich der Investitionsdurchführung realisieren kann. Insofern entsprechen die Investitionen für den Schienenwegeausbau den Zielen und Möglichkeiten sowohl des Dreijahresplanes als auch den Kapazitäten, die die DB AG in ihren Vorbereitungen vorhält.
Frau Kollegin Renate Blank.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen in Ihrer Antwort vom Finanzplan. Meine Frage: Welche Verkaufserlöse und Einsparungen in den Bereichen Bahn-Telekom und Bahnstrom könnten Ihrer Auffassung nach erzielt werden?
Ich habe davon gesprochen, daß wir außer den Haushaltsmitteln auch Mittel aus Erlösen und Investitionsreduzierungen vorgesehen haben. Wir gehen davon aus, daß entsprechend den Vorstellungen bei der Immobilienverwertung in den nächsten Jahren insgesamt 3 Milliarden DM abgerufen werden können und daß bereits im Jahre 1996 zwischen 600 und 800 Millionen DM für die Investitionen bereitgestellt werden könnten.
Eine ähnliche Entwicklung - wobei die Zahlen in ähnlicher Größenordnung liegen könnten, sofern die Gelder gebraucht werden - werden wir aus dem Bereich der gegründeten DB-Kom erwarten, so daß wir dort aus dem Verkauf von Anteilen und auch - das sagte ich bereits - wegen der dann nicht mehr notwendigen Bereitstellung von Investitionsmitteln für Informationssysteme aus dem Bundeshaushalt Einsparungen erwarten. Wir sind sicher, daß wir aus diesem Komplex, der in jedem Jahr neu konkretisiert werden muß, insgesamt auf eine Größenordnung von 9 Milliarden DM bei den Investitionen kommen. Das entspricht genau jenem Betrag, den ich gerade in der Antwort auf die Frage von Herrn Dr. Jobst genannt habe.
Kollege Claus-Peter Grotz.
Herr Staatssekretär, nachdem im Zusammenhang mit den transeuropäischen Netzen in einer vorherigen Frage der nicht disponible Bedarf angesprochen wurde, möchte ich nun nach einem anderen nicht disponiblen Bedarf
Klaus-Peter Grotz
fragen: Wann geht das letzte Verkehrsprojekt Deutsche Einheit in Bau?
Johannes Nitsch, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr: Von den 17 Verkehrsprojekten Deutsche Einheit sind einige schon fertiggestellt; ein weiteres - die Verbindung MagdeburgBerlin - wird am 17. Dezember fertiggestellt werden. Die Vorbereitungsarbeiten für die VDE-Projekte 8.1 und 8.2 laufen auf Hochtouren. Im Frühjahr 1996 werden mit dem Projekt 8.1 und etwas später mit dem Projekt 8.2 die letzten Verkehrsprojekte Deutsche Einheit begonnen.
Ich stelle wieder einmal fest, daß die Zusatzfrage mit der Frage nichts mehr zu tun hatte. Die Frage bezieht sich auf ein ganz bestimmtes Projekt.
Zusatzfrage, Kollege Steenblock.
Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrer Antwort gesagt, es könne sein, daß die Mittel für einzelne Projekte, auch für das hier in Rede stehende Projekt, gestreckt werden. Kann es sein, daß dieses Projekt oder eines der folgenden Projekte nicht nur gestreckt wird, sondern aus dem Schienenverkehrsplan herausgenommen wird, es also bei diesem Dreijahresplan zurückgestellt und später wieder aufgegriffen wird? Können Sie ausschließen, daß dieses oder eines der folgenden Projekte - Sie haben sich ja im Grunde auf alle Projekte des Dreijahresplans bezogen - nicht nur gestreckt, sondern zurückgestellt wird?
Herr Steenblock, ich kann Ihnen im Moment nicht hundertprozentig versichern, daß kein einziges Projekt davon betroffen wird. Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Alle Vorhaben, die im Dreijahresplan für den Schienenwegeausbau enthalten sind, werden entsprechend den vorgesehenen Mittelansätzen realisiert. Die Zeit bis zur Fertigstellung könnte sich aber eventuell um einiges verlängern. Ob einkleines Vorhaben dabei ist, bei dem wir am Ende nicht mehr in dem vorgesehenen Zeitraum beginnen, sondern das wir in den Fünfjahresplan übernehmen, muß unserer gemeinsamen weiteren Arbeit vorbehalten bleiben.
Herr Kollege Friedrich.
Herr Staatssekretär, sehen Sie nicht auch die Möglichkeit, die jetzige konjunkturelle Lage zur Optimierung dieses ganz konkreten Projektes und der folgenden Projekte auszunutzen, d. h. durch verbesserte Ausschreibungsbedingungen bessere Einheitspreise zu erzielen, und durch das Zulassen größeren Wettbewerbs mit europäischen Partnern eine Umsetzung des kompletten Planes in entsprechender realistischer Zeitachse sicherzustellen?
Herr Abgeordneter Friedrich, das ist eine sehr aktuelle Frage. Wir stellen tatsächlich fest, daß die Vergaben im Moment unter den dafür vorgesehenen Planwerten liegen. Wir sind sehr zuversichtlich, daß diese Preisentwicklung anhält und auch dies zu einer Entlastung des Investitionsbereichs des Bundeshaushalts beiträgt.
Frau Kollegin Ganseforth.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, Sie könnten nicht ausschließen, daß einzelne Projekte verschoben oder kleinere eventuell ganz wegfallen werden; Sie könnten das noch nicht sagen. Sie sagten aber, wir sollten das gemeinsam - wiederum wurde die Gemeinsamkeit angesprochen - entscheiden. Wann können Sie dazu präzise oder präzisere Angaben machen?
Frau Abgeordnete, ich habe gesagt, daß wir bereits Ende nächsten Jahres, also in einem Jahr, mit der Aufstellung des Fünfjahresplanes beginnen werden. In dem Bereich, in dem sich der Dreijahresplan und der Fünfjahresplan decken, werden sich durch Konkretisierungen solche Veränderungen eventuell in kleinem Umfang ergeben.
Herr Kollege, wenn Sie sich die Fragen anschauen, können Sie feststellen, daß sie alle präzise auf jeweils ein Projekt bezogen sind. Es macht also keinen Sinn, sich zunächst auf das konkrete Projekt zu beziehen, um dann zu fragen: Wie ist das im allgemeinen?
({0})
Nein, ich habe ganz konkret geantwortet. Ich habe sogar Zahlen genannt.
Verzeihung, ich habe Einwirkungsmöglichkeiten auf das Haus und auf die Fragen.
Frau Kollegin Ganseforth, Sie haben selber ein paar sehr konkrete Fragen gestellt.
Ich bitte Sie alle, bei der Frage, zu der Sie eine Zusatzfrage stellen wollen, zu bleiben und keine allgemeinen Betrachtungen daran zu knüpfen.
Bitte, Herr Kollege.
Ich möchte mich konkret auf das Projekt Nr. 27 beziehen und die Frage stellen, ob Sie bei dem Projekt Nr. 27 - und natürlich auch bei folgenden - nicht den Eindruck haben, daß die im Sommer dieses Jahres vorgelegte Rechnung des Bundesrechnungshofs - die Personalkosten der Deutschen Bahn AG sind vom Bund zu übernehmen - weit höher ausfällt und direkten Einfluß auf die bisDr. Winfried Wolf
her geplanten investiven Ausgaben bei der Deutschen Bahn AG haben muß.
Verzeihung, die Frage lautet: Welche Priorität hat dieses Projekt? - und nicht anders. Auch wenn Sie das Projekt mit seiner Nummer anführen, dann aber doch eine allgemeine Frage stellen, ist das nicht korrekt. Wir haben eine Geschäftsordnung. Die Fragestunde läuft nach dieser Geschäftsordnung ab.
Dann wird aber auf die geänderte mittelfristige Finanzplanung Bezug genommen.
Das gilt für dieses Projekt.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 33 auf, die ebenfalls die Kollegin Annette Faße gestellt hat:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 32, ABS Pinneberg-Elmshorn, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Die Frage Nr. 33 bezieht sich auf das Projekt Nr. 32 des Dreijahresplanes für den Ausbau des Schienenwegenetzes, auf den Ausbau der Strecke Pinneberg-Elmshorn. Sehr geehrte Frau Faße, auch zu dieser Frage muß ich Ihnen sagen, daß der Dreijahresplan hinsichtlich der Wertstellung noch gültig ist. Dabei geht es um die Gesamtsumme von 383 Millionen DM: vor 1995 kein Mitteleinsatz, im Zeitraum 1995 bis 1997 sind es 23 Millionen DM, und nach 1997 werden es 360 Millionen DM sein.
Die Fortschreibung für 1998 und 1999 - wie Sie das im zweiten Teil Ihrer Frage wissen wollen - wird im Fünfjahresplan dargestellt werden. Dabei geht es um die Aufteilung der 360 Millionen DM auf die Jahre 1998 und 1999 und vielleicht die folgenden Jahre.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Halten Sie es bei Ihren vielen Wenn und Aber nicht für erforderlich, diesen Dreijahresplan zu unterbrechen und zu sagen: Wir legen schon nach einem Jahr den Fünfjahresplan auf? Dann hätten wir für diesen konkreten Fall sehr konkrete Aussagen.
Johannes Nitsch, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr: Frau Faße, ich werde im Protokoll nachzählen, wie viele Wenn und Aber ich
benutzt habe. Mir fällt das jedenfalls nicht auf. Ich habe ganz konkret zu Ihrer Frage gesagt, wie die Mitteleinstellung in den einzelnen Jahren ist und wie wir über den Zeitraum des Dreijahresplanes hinaus verfahren werden.
Zweite Zusatzfrage.
Können Sie mir heute zusagen, daß dieses Projekt überhaupt noch im Dreijahresplan begonnen wird?
Es sind in diesem Zeitraum 23 Millionen DM vorgesehen. Wahrscheinlich ist das nur der Vorbereitungsteil; 23 Millionen DM dürften keinen Bauteil umfassen.
({0}) - Ja, Planungsteil.
Weitere Zusatzfragen zu der Frage nach diesem Projekt werden nicht gestellt.
Dann rufe ich die Frage 34 auf, gestellt von der Kollegin Monika Ganseforth:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 55, Knoten Hannover, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Frau Abgeordnete Ganseforth, Ihre Frage bezieht sich auf das Projekt Nr. 55 des Dreijahresplanes Schiene und betrifft den Knoten Hannover. Dieses Projekt umfaßt insgesamt 125 Millionen DM. Vor 1995 sind keinerlei Leistungen erbracht worden. Im Dreijahresplan sind 37 Millionen DM eingestellt, und im Zeitraum nach dem Dreijahresplan, also ab 1998, werden 98 Millionen DM eingesetzt werden. Im übrigen gilt das, was ich zum Dreijahresplan und zum Fünfjahresplan gesagt habe, auch für diese Frage.
Frau Kollegin Ganseforth, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist auszuschließen, daß während der Expo 2000 in Hannover sich noch eine Baustelle in diesem Knoten befindet, daß also das ganze Projekt noch nicht zu Ende geführt worden ist?
Frau Ganseforth, wenn Sie die Expo ansprechen, dann haben Sie auch schon den vordringlichen Bedarf für das Projekt genannt. Bei dem Umfang der insgesamt zur Verfügung zu
stellenden Mittel, 125 Millionen DM, sehe ich keinerlei Gefahr, daß dort noch eine Baustelle sein wird. Vielmehr wird das Projekt vor dem Jahre 2000 realisiert werden.
Keine weitere Zusatzfrage; aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen auch nicht.
Dann rufe ich die Frage 35 auf, die ebenfalls die Kollegin Monika Ganseforth gestellt hat:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 4, VDE 4 ABS/NBS Hannover-Berlin, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Frau Ganseforth, in dieser Frage geht es um das Projekt Nr. 4 der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit - Hannover-Berlin. Das ist ein Projekt mit einem sehr großen Wertumfang, insgesamt fast 5,3 Milliarden DM. Für dieses Verkehrsprojekt sind entsprechend der Prioritätensetzung der Bundesregierung bereits vor 1995 1,956 Milliarden DM abgearbeitet und realisiert, und es sind im Dreijahresplan - also 1995, 1996, 1997 - 2,333 Milliarden DM vorgesehen. Für die Zeit nach dem Dreijahresplan - also ab 1998 - bleibt bei diesem großen Vorhaben ein relativ „kleiner" Rest von 996 Millionen DM. Ansonsten gilt für die Einordnung das, was ich zum Dreijahresplan und zum Fünfjahresplan gesagt hatte, auch für dieses Vorhaben. Aber Sie können aus den bereits realisierten Leistungen ersehen, für wie wichtig und vordringlich wir die Abarbeitung halten.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Danke schön. Sie haben mir eben eigentlich den Sachstand von vor einem halben Jahr genannt, also was vorgesehen war. Wird diese Planung auch zeitgerecht umgesetzt?
Es bleibt auf jeden Fall bei dieser Planung. Ich kann Ihnen im Moment noch nicht genau den Mittelabfluß für dieses Jahr sagen, aber ich gehe davon aus, daß er in der eingestellten Höhe erfolgen wird.
Zweite Zusatzfrage.
Ich habe noch eine ganz konkrete Zusatzfrage zu dem Projekt. Am 28. September 1995 hat die Deutsche Bahn AG der Stadt Lehrte mitgeteilt, daß bei einem Kreuzungsvorhaben im Rahmen dieses Projekts in Arbke, also in der Stadt Lehrte, 862 000 DM nicht als kreuzungsbedingt in die Vereinbarungen aufgenommen werden
sollen. Kann es sein, daß es in den Rahmen der Investitionsstreckung, von der Sie gesprochen haben, oder der Erweiterung der Investitionsspielräume fällt, daß diese hohe Summe nicht in die Kreuzungsbaumaßnahmen übernommen werden soll?
Die Kreuzungsproblematik ist rechtlich sehr kompliziert. Wir müßten uns dazu das Eisenbahnkreuzungsgesetz ansehen. Ich bin jetzt nicht in der Lage, genau auseinanderzunehmen, ob es mit dem Streit, den wir in dieser Frage haben, zusammenhängt oder ob das eine auf das Projekt konkret bezogene Frage ist. Ich verspreche Ihnen, daß ich zu dieser Kreuzung bei Lehrte Ihnen eine schriftliche Antwort gebe.
Frau Kollegin Ferner.
Im Dreijahresplan Schiene stehen bei dem Projekt für die Jahre 1995 bis 1997 2,333 Milliarden DM zur Verfügung. Ich frage Sie: Wird die Bundesregierung in den genannten Jahren in der Summe diesen Betrag zur Verfügung stellen können, wird es weniger oder mehr?
Auch für diese Summe gilt natürlich das, was ich hinsichtlich der Investitionsreduzierung im Bereich der Informationstechnik gesagt habe, eventuell wird das auch für den Bereich der Energieversorgung zutreffen. Wenn sich dort Reduzierungen einstellen lassen, wird die Summe sicherlich nicht ausgeschöpft werden müssen. Es gilt auch das, was in der Zusatzfrage hinsichtlich der Optimierung der Kostenreduzierung angesprochen wurde.
Wenn diese Elemente hier zur Wirkung kommen, könnte es sein, daß diese Mittel nicht ausgeschöpft werden. Aber vom Grundsatz her gilt das, was ich gesagt habe: Sie werden bereitgestellt.
Kollege Weis.
Herr Staatssekretär Nitsch, Sie wissen, daß ich durch meinen Wahlkreis an diesem Projekt genauso wie an dem Fortgang der Arbeiten dort besonders interessiert bin. Ich erfahre nun aus dem Bereich der Deutschen Bahn AG, daß der ICE zwischen Hannover und Berlin nicht, wie ursprünglich geplant, 1997, sondern erst 1998 fahren soll bzw. wird. Können Sie das bestätigen, oder schließen Sie das aus?
Herr Abgeordneter Weis, zu Inbetriebnahmeterminen kann ich im Moment keine verbindliche Auskunft geben. Ich werde Ihnen das schriftlich geben.
Ich habe mich bei der Vielzahl der Fragen insbesondere auf die haushaltstechnischen Probleme konzentriert. Ich werde Ihre Frage, ob sich die InbetriebParl. Staatssekretär Johannes Nitsch
nahme der Strecke auf nach 1997 verschiebt, gerne beantworten.
Weitere Zusatzfragen liegen aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen zu dieser Frage nicht vor.
Ich rufe die Frage 36, die der Kollege Berthold Wittich gestellt hat, auf:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 28, ABS Fulda-Frankfurt, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Sehr geehrter Abgeordneter Wittich, Sie haben Ihre Frage zum Projekt Nr. 28 des Dreijahresplans, Ausbaustrecke Fulda-Frankfurt, gestellt. Die Situation dort ist so, daß für die Gesamtmaßnahme 796 Millionen DM vorgesehen sind. Davon sind bereits im Zeitraum vor 1995 468 Millionen DM investiert worden; wir haben vor, im Zeitraum des Dreijahresplans weitere 82 Millionen DM zu investieren und im Zeitraum danach 242 Millionen DM.
Sie wissen, daß wir auf der Strecke Frankfurt-Erfurt-Dresden am 28. Mai eine wesentliche Inbetriebnahme hatten, die die Gesamtfahrzeit auf der Strecke zwischen Frankfurt und Dresden um über 60 Minuten verkürzt hat.
Herr Kollege Wittich, bevor ich Ihnen das Wort zur ersten Zusatzfrage gebe, möchte ich gern für die Kolleginnen und Kollegen, die außerhalb des Saales sind, die Mitteilung machen, daß wir mit der Aktuellen Stunde in ungefähr 14 Minuten beginnen werden.
Herr Wittich, bitte Ihre erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es zutreffend, daß Sie mit Ihrer Aussage nicht ausschließen, daß die Umsetzung dieser Maßnahme eine zeitliche Streckung erfahren kann?
Herr Abgeordneter Wittich, Ihre Frage bringt mich dazu, die Zahlen noch einmal anzusehen: Der Löwenanteil ist bereits realisiert. Im Dreijahresplan haben wir einen relativ kleinen Anteil und danach wieder einen wesentlich größeren Anteil.
Nun könnte es sein, daß man auf Grund von Bauablaufoptimierung etwas in den anderen Zeitraum hinübernimmt, aber nur, wenn das Sinn macht und Kosten spart. Ansonsten werden wir die Investitionen so, wie sie im Dreijahresplan festgelegt sind, einsetzen.
Herr Kollege Wittich, Sie haben eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist es richtig - damit hebe ich auf das ab, was Sie eben ausgeführt haben -, daß vom Haltepunkt Fulda aus der Verkehr über die traditionelle Strecke Hünfeld-Bad Hersfeld durch die Berliner Kurve an Bebra vorbei nach Thüringen geführt werden soll?
Wir fahren bereits auf dieser Strecke. Die Berliner Kurve ist am 28. Mai in Betrieb genommen worden.
Weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 37 auf, gestellt von der Kollegin Elke Ferner:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 38, ABS Bad Harzburg-Stapelburg, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Sehr geehrte Frau Ferner, Sie haben Ihre Frage zum Projekt Nr. 38 des Dreijahresplans gestellt, Bad Harzburg-Stapelburg. Für diese Strecke sind insgesamt 53 Millionen DM vorgesehen. Davon sind vor 1995 4 Millionen DM realisiert - sicherlich in der Vorbereitung -, und 49 Millionen DM werden im Zeitraum des Dreijahresplans realisiert werden. Danach gibt es dieses Vorhaben im neuen Plan nicht mehr. Es wird abgearbeitet.
({0})
Keine Nachfrage. Dann darf ich fragen, ob aus dem Kollegenkreis eine Nachfrage gestellt wird. - Auch dies ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 38 auf, ebenfalls gestellt von der Kollegin Elke Ferner:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 26, ABS D/F Gr.-Saarbrücken-Ludwigshafen, Kehl-Appenweier, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Frau Abgeordnete Ferner, die Frage 38 bezieht sich auf das Projekt Nr. 26 des Dreijahresplans: Saarbrücken-Ludwigshafen, KehlAppenweier. Für dieses Vorhaben sind insgesamt 905 Millionen DM vorgesehen. Davon wurden in
Pari. Staatssekretär Johannes Nitsch
dem Zeitraum vor 1995 19 Millionen DM eingesetzt, im Dreijahresplan sind 185 Millionen DM an Investitionen für das Verbauen vorgesehen, im Zeitraum danach, also ab 1998, 701 Millionen DM.
Ansonsten gilt im Zusammenhang damit, wie wir die Mittel zusammenbekommen, das, was ich zum Dreijahresplan als Antwort auf die erste Frage von Frau Faße sagte.
Frau Kollegin, Zusatzfrage?
Sehr geehrter Herr Kollege Nitsch, Sie haben gerade gesagt, es werden 185 Millionen DM für die Jahre 1993 bis 1997 verbaut werden. Mir liegen Zahlen vor, die auch der saarländische Verkehrsminister von dem Vorstandsvorsitzenden der Bahn, Heinz Dürr, genannt bekommen hat und die im übrigen auch ein anderer Kollege schon schriftlich vorliegen hat. Ich frage Sie jetzt ganz konkret, ob die Zahlen, auf die Jahre gesehen, stimmen oder nicht: Für 1996 sind 12 Millionen DM und für 1997 sind 50 Millionen DM vorgesehen. - Die anderen Zahlen lasse ich weg; denn es geht jetzt um den Dreijahresplan.
Vielleicht könnten Sie noch die Zusatzinformation geben, wieviel im laufenden Haushaltsjahr 1995 dafür schon verbaut worden ist.
Frau Ferner, ich weiß, daß es bei der DB AG von uns abweichende Vorstellungen gibt. Ich denke aber, daß wir in diesem Bereich, wo wir Mittel aus dem Haushalt des Bundes zur Verfügung stellen, unsere Vorstellungen mit der DB AG ausstreiten müssen.
Der Dreijahresplan Schiene ist mit den Ländern abgestimmt und liegt dem Verkehrsausschuß vor. Er hat Priorität. Wenn ich mir die Zahlen genau anschaue, erscheint es mir möglich -- der Baubeginn ist sehr wahrscheinlich erst im Jahre 1997, und der größere Brocken steht ab 1998 an -, durch eine Optimierung des Bauablaufs den Betrag im Jahre 1998 anzuheben. Aber das ist eine Spekulation. Dazu müßte ich Ihnen den genauen Bauablaufplan, sofern er da ist, geben. Zur Zeit haben wir ihn nicht.
Es gilt, daß für den Dreijahresplan dieser Wert bereitgestellt wird. Ob er umgesetzt wird, ob er in den optimalen Bauablauf hineinpaßt, das werden wir unter Kontrolle halten.
Zweite Zusatzfrage.
Meines Wissens werden konkrete Beträge nicht mit einem Ausbauplan oder mit einem Dreijahresplan Schiene, sondern mit dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt. Ich frage Sie jetzt nochmals: Ist sichergestellt, daß für die Jahre 1995 bis 1997 der genannte Betrag von 185 Millionen DM für die Strecke Saarbrücken-Mannheim und den anderen Zweig zur Verfügung gestellt wird, und wie verteilt sich das auf die beiden Aste der Strecke?
Ich kann Ihnen nicht sagen, daß es genau 185 Millionen DM sein werden. Ich habe in meiner Antwort gesagt, daß wir in bestimmten Bereichen strecken werden, wie es von der Realisierung des Ablaufs der DB AG her vernünftig erscheint. Wir werden in jedem Jahr einen Betrag von 9 Milliarden DM zur Verfügung haben.
Herr Kollege Hans Georg Wagner, bitte.
Herr Staatssekretär, am Montag gab es eine Veranstaltung der Industrie- und Handelskammer des Saarlandes in Saarbrücken, wo der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Herr Dürr, und als einer der Hauptreferenten sein französisches Pendant anwesend waren. Dort hat Herr Dürr gesagt, alles, was der Bundeskanzler in La Rochelle zu dieser Strecke gesagt habe, sei unwichtig. Was der Verkehrsminister dazu sage, sei völlig unwichtig. Der wichtigste Mann sei nicht dabeigewesen, nämlich der Finanzminister. Deshalb komme der Ausbau als Höchstgeschwindigkeitsstrecke nicht mehr in Frage. Man könne auch mit einem Neigezug von Mannheim nach Saarbrücken fahren und sich dann der Mühe unterziehen, in den TGV nach Paris umzusteigen. Geben Sie mir zu, daß das Projekt kaputt ist, wenn die Realisierung so vorgenommen würde, wie Herr Dürr das vorgeschlagen hat, oder halten Sie es mehr mit dem Herrn Bundeskanzler - wie ich es tue -, daß man das Saarland mit dieser Strecke ausstatten sollte?
Herr Wagner, zunächst zum finanziellen Teil Ihrer Frage. Die Zahlen, die ich hier vortrage, sind mit dem Finanzminister abgestimmt und werden von ihm voll mitgetragen. Wenn Herr Dürr ganz andere Vorstellungen hat, die er vielleicht mit den Regionen dort abstimmt, dann wäre das ein Punkt, der von der technischen Seite her in unseren Dreijahresplan hineinkommt. Wir sind für die Betriebsführung nicht zuständig, sondern für den Bedarfsplan und seine Einordnung in die finanziellen Möglichkeiten des Bundes. Wenn Herr Dürr betriebsmäßig etwas anderes machen will, hat er entsprechende Vorlagen einzureichen.
Bitte, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, zu dieser Strecke gibt es die Vereinbarung von La Rochelle, die mit der Französischen Republik getroffen wurde. Diese Strecke gehört zum transeuropäischen Netz. Wenn Sie nun sagen, es geht uns alle nichts an, wie das ausgebaut wird, kann ich dann daraus schließen, daß Sie unter Hochgeschwindigkeitsstrecken im Rahmen des transeuropäischen Netzes verstehen, daß man abwechselnd ein Stück TGV, ein Stück Pendolino, ein Stück IC fährt?
Ich sagte schon, daß für den Betriebszustand dieser Strecke die DB AG zuständig ist und nicht wir. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die DB AG ein Stückchen diese Variante oder ein Stückchen jene Variante nimmt, sondern ein für sie hinsichtlich des Betriebes vernünftiges System bereitstellt. Wir haben gemäß dem Bedarfsplan im Dreijahresplan Schiene die Mittel eingestellt.
Werden zu dieser Frage noch Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Die Frage 39 von der Kollegin Renate Rennebach, Frage 40 von Wolfgang Behrendt, Frage 41 von Gabriele Iwersen, Frage 42 von Ingrid Holzhüter, Frage 43 von Walter Schöler, Frage 44 von Herbert Meißner, Frage 45 von Doris Odendahl, Frage 46 von Rolf Schwanitz und Frage 47 von Gerhard Neumann ({0}) mögen bitte alle schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe jetzt die Frage 48 auf, die der Kollege Günter Oesinghaus gestellt hat:
Welche Priorität hat das im Dreijahresplan für den Ausbau des Schienenwegenetzes des Bundes enthaltene Projekt Nr. 13, NBS Köln-Rhein/Main, heute für die Bundesregierung, und welcher Mittelanteil - bezogen auf die jeweiligen Gesamtkosten des Projekts - wird pro Jahr von 1996 bis 1999 unter den Bedingungen der geänderten mittelfristigen Finanzplanung dafür bereitgestellt?
Ich bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, um Beantwortung.
Die Frage 48 bezieht sich auf das Projekt Nr. 13 des Dreijahresplans Schiene, Neubaustrecke Köln-Rhein/Main. Das Vorhaben hat einen Gesamtumfang von 8,525 Milliarden DM. Vor 1995 wurden 231 Millionen DM aufgewendet. Im Zeitraum bis 1997 werden 3,5 Milliarden DM aufgewendet werden und im Zeitraum des Fünfjahresplanes 4,790 Milliarden DM.
Ich hatte bereits in meiner Eingangsantwort gesagt, daß für dieses große Vorhaben sowohl die Mittel, die jetzt für den Dreijahresplan bereitstehen, als auch die Verpflichtungsermächtigungen für die darüber hinausgehenden Jahre vom Finanzminister bereits genehmigt worden sind.
Herr Kollege Oesinghaus.
Herr Staatssekretär, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, daß die ursprüngliche Planung von Ihnen zügig umgesetzt wird? Oder könnte es, wie Sie schon in Ihrer Eingangsantwort gesagt haben, nicht durchaus sein, daß auf Grund veränderter Haushaltsbedingungen Unwägbarkeiten bzw. Streckungen erfolgen könnten?
Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie diese Frage zu dem Vorhaben stellen. Ich glaube, zu zeitlichen Streckungen wird es bei diesem Vorhaben nicht kommen. Es ist ein sehr wichtiges Vorhaben, das einen hohen wirtschaftlichen Effekt, eine hohe Effizienz aufweist, so daß wir die Baudurchführung mit aller Energie vorantreiben werden. Hier dürfte die zeitliche Streckung nicht gelten. Es gelten aber die anderen Punkte, die ich genannt habe oder die teilweise durch Zusatzfragen erfragt wurden: die Optimierung und Investitionsabsenkung durch Ausgliederung der Informationssysteme und der Stromversorgungssysteme. Das gilt auch für diese Strecke. Ich hoffe, daß wir am Ende die 8,3 Milliarden DM nicht benötigen werden.
Bitte, Herr Oesinghaus.
Herr Staatssekretär, ist es denn richtig, daß auch im Jahre 1995 Bauleistungen in Höhe von 2 Milliarden DM erfolgen könnten, und, wenn das so ist, warum sind die Ausschreibungen noch nicht raus?
Von Bauleistungen in Höhe von 2 Milliarden DM in 1995 ist mir nichts bekannt. Ich weiß, daß wir in diesem Jahr entsprechend der Kabinettsentscheidung vom 5. Juli Grundstückserwerb durchführen und noch Ausschreibungen machen werden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Fragestunde.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat zur Antwort der Bundesregierung auf die Dringlichen Fragen 1 und 2 eine Aktuelle Stunde verlangt. Diesem Begehren haben sich die Fraktion der SPD und die Gruppe der PDS angeschlossen. Es entspricht Nr. 1 b der Richtlinien für die Aktuelle Stunde, daß die Aussprache unmittelbar nach Schluß der Fragestunde stattfinden muß.
Ich rufe daher jetzt die Aktuelle Stunde zu dem Thema auf:
Haltung der Bundesregierung zur Auswirkung des Milliardendefizits auf den anstehenden Bundeshaushalt
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Oswald Metzger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute eine ungewöhnliche Situation. Der Bundesfinanzminister hat heute nachmittag den Haushaltsausschuß auf zwei Blatt Papier über die größte Veränderung eines Bundeshaushalts in dieser Koalitionsregierung zwischen erster Lesung und abschließender Beratung im Haushaltsausschuß informiert.
({0})
Herr Kollege Metzger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Aber selbstverständlich.
({0})
Die Aufgeregtheit der Haushälter der Koalitionsfraktionen erkennt man am Obmann Adolf Roth, der die Geschäftsordnung nicht kennt.
({1})
Hier sitzt ein Bundesfinanzminister, der am 12. Oktober in diesem Parlament
({2})
auf entsprechende Nachfragen nicht einmal in der Lage war, zu erklären, daß er eine Haushaltssperre plant, die er zwei Tage später dann verfügt hat.
({3})
Sie können das Protokoll nachlesen. Das ist ein Unding.
Der gleiche Finanzminister, der sich in der ersten Lesung des Parlaments in der ersten Septemberwoche hier hingestellt und sich den Weihrauch des internationalen Musterschülers verpaßt hat, der bestritten hat, daß die Bundesanstalt für Arbeit 1996 zusätzliche Mittel braucht, der bestritten hat, daß die Arbeitslosenhilfeaufwendungen nicht ausreichen, der gleiche Finanzminister kommt heute in den Haushaltsausschuß
({4})
und bringt mit Billigung Ihrer Seite Mehrausgaben von 6,6 Milliarden DM ein, die zu dem dazukommen, was die Steuerschätzung an Mindereinnahmen für 1996 vorsieht.
({5})
- Die Lautstärke der Koalitionsfraktionen zeugt von der gleichen Aufgeregtheit, wie sie beispielsweise beim Berichterstattergespräch zum Einzelplan 08 am Montag nachmittag bestand, als der zuständige Abteilungsleiter Ihres Hauses erklären mußte, daß die Koalition auf den Anruf des Staatssekretärs Overhaus am Wochenende, man brauche zur Deckung des Haushalts mehr Geld, mir nichts, dir nichts den Titelansatz für die Erlöse aus Vermögensveräußerungen um 100 Millionen DM erhöht - zur kompletten Überraschung der versammelten Bank des Finanzministeriums in dieser Sitzung. In diesem Schweinsgalopp wird bei Ihnen im Haus zur Zeit Politik gemacht.
Die F.D.P. hängt sich am Wochenende aus dem Fenster, verlangt ein Haushaltsstrukturgesetz und knickt zwei Tage später in die Koalitionsdisziplin ein, aus lauter Angst, die Koalitionskrise würde aufbrechen, wenn sie ihren eigenen Worten - Kollegin Albowitz, Kollege Weng; Sie sind anwesend; Graf Lambsdorff ist derzeit für die Fraktion offensichtlich nicht satisfaktionsfähig, sonst hätten Sie ihn nicht im Regen stehen lassen können - Taten folgen ließe.
Tatsache ist: Wir haben eine Situation, in der der Bundesfinanzminister und diese Regierung dem Parlament eine Ergänzungsvorlage zuleiten müßten. Jetzt ist die Stunde des Bundestags, den Haushalt in die Hand zu nehmen und die Last nicht mehr auf die Schultern des Haushaltsausschusses zu legen. Nach Auffassung unserer Fraktion ist eine Beratung heute und morgen in der Bereinigungssitzung nicht möglich.
({6})
Mit einer solchen Vorlage solche gigantischen Änderungen durchsetzen zu wollen ist schlicht unmöglich.
({7})
Jeden, der für sich selber praktisch einen Rest an Seriosität beansprucht,
({8})
frage ich wirklich, was beispielsweise das Papier des BMF zum Haushalt 1995 heute soll.
({9})
Die Auflösung dessen, was hier steht - insgesamt 12 Milliarden DM Einnahmeverbesserungen und 4 Milliarden DM Einnahmeverschlechterungen -, macht im Saldo 8 Milliarden DM für 1995 aus. Der Finanzminister sagt, er komme 1995 ohne Nettoneuverschuldung aus. Glaubt er allen Ernstes, den Differenzbetrag von 6 Milliarden DM zum Steuerausfall von 14 Milliarden DM 1995 - die Steuerschätzung im März war Basis des beschlossenen und gültigen Haushalts 1995 - mit der Haushaltssperre zu erwirtschaften?
Dazu kommt noch, daß Sie die Bilanzverkürzung um 2,6 Milliarden DM auf Grund der Änderungen bei der Mineralölsteuer auch nicht verrechnet haben. Nach unserer Rechnung gibt es im Haushalt 1995 im Augenblick ein ungedecktes Loch von 8,6 Milliarden DM. Was das in bezug auf eine „nicht signifikante" Erhöhung der Verschuldung 1995 heißt, können Sie sich selber ausrechnen.
Dieser Finanzminister steht heute mit heruntergelassenen Hosen vor dem Parlament.
({10})
- Der Beweis des Gegenteils ist ganz erstaunlich. - Unsere Aufforderung an die Regierung und die Koalition ist, eine seriöse Haushaltsberatung zuzulassen und das Ganze nicht im Schweinsgalopp durch den Haushaltsausschuß zu jagen, der hinter verschlossenen Türen tagt, eine korrekte Ergänzungsvorlage vorzulegen, die Haushaltsberatungen vorläufig auszusetzen und dann in drei bis vier Wochen den Haushalt 1996 in einem geordneten Verfahren abzuschließen.
Vielen Dank.
({11})
Herr Kollege Metzger, gestatten Sie mir zwei kleine Bemerkungen. Die erste ist, daß ich im Anschluß an eine diesmal anderthalbstündige Fragestunde aus Versehen eine Zwischenfrage in der Aktuellen Stunde zulassen wollte. Das ist mein Fehler und nicht der Fehler des Kollegen Roth gewesen.
Die zweite ist, wenn Sie das erlauben, der kleine kollegiale Rat, bei der Wahl von Sprachbildern doch solche zu nehmen, die nicht leicht widerlegt werden können.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Adolf Roth.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich danke für die Nachsicht wegen der Zwischenfrage. Ich glaube, die Heiterkeit im Protokoll kann nicht verdecken, daß die elende dürftige Strategie, die hinter dieser mutwillig angezettelten Veranstaltung steht, in sich zusammengebrochen ist, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat.
({0})
Lieber Kollege Metzger, ein bißchen mehr Reputation hätten Sie sich, auch für die weitere Arbeit im Ausschuß, bewahren können.
({1})
Derjenige, der diese Debatte anzettelt und Behauptungen zu dem, was vorhin beraten wurde, aufstellt,
ohne überhaupt selbst dabeigewesen zu sein, weil er
die Sache mutwillig schwänzen wollte, hat schlechte Karten.
({2})
Weniger schlechte Karten hatte Finanzminister Theo Waigel.
({3})
Er war da. Er stand nicht mit leeren Händen da, sondern hatte ein klares haushaltspolitisches Konzept vorzuweisen. Er war sich seiner Sache sicher. Es gibt keinen besseren Beweis dafür, daß hier eine in sich geschlossene und auch souveräne Präsentation stattgefunden hat, als die ausgebliebenen Fragen der Grünen und der SPD in dieser Sitzung des Haushaltsausschusses. Das hätten Sie sich wirklich einmal gönnen sollen.
({4})
Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt 1996 steht. Wir haben von Anfang an gesagt, es bleibt bei den beschlossenen Eckwerten. Wir haben unerwartete Einnahmeausfälle. Das war für uns überraschend. Aber das ist doch kein Anlaß für eine Katastrophenstimmung. Die Steuerzahler in Deutschland sind froh, daß wir Stabilität haben, sie sind froh, daß am heutigen Tage verkündet wurde, daß die Preissteigerung im Monat Oktober gegenüber dem Vorjahr 1,6 % beträgt, sie sind froh darüber, daß es keine inflationär aufgeblähten Steuereinnahmen gibt, und sie sind froh darüber, daß eine Bundesregierung im Amt ist, die im nächsten Jahr nicht mehr, sondern weniger ausgeben wird, die nicht mehr Schulden machen wird, sondern allenfalls die Schulden, die beschlossen worden sind. Von daher haben Sie eine ausgesprochen schlechte Situation erwischt.
({5})
Herr Kollege Metzger, alle Positionen, die sich auf der Einnahmenseite verändert haben - das hätten Sie mitbekommen können -, werden auf der Einnahmenseite sauber ausgeglichen. Es wird keine Mehrausgaben geben. Auf der Ausgabenseite wird das, was durch die schleppende Entwicklung am Arbeitsmarkt auf uns zukommt, voll durch Einsparungen im Bundeshaushalt 1996 beim Verwaltungsaufwand, beim Personal und in allen übrigen Feldern ausgeglichen. Wir haben durch die verbesserte Zinssituation am Markt auch echte Konsolidierungseffekte im Bundeshaushalt.
Ich sage Ihnen: Ihre Strategie ist gescheitert.
({6})
Sie wollten einen großen Tanz veranstalten, und herausgekommen ist eine klägliche Pirouette. Sie haben sich im Kreise gedreht mit Ihren abgedroschenen Beschwörungsformeln. Das ist aber kein Ersatz für eine solide Haushaltspolitik.
({7})
Adolf Roth ({8})
Deshalb kommen Sie hier ans Pult und präsentieren Sie bitte die Alternative der Opposition!
({9})
Denn das ist Ihre Pflicht.
Wir haben im Haushaltsausschuß in den letzten Wochen saubere Arbeit geleistet.
({10})
Morgen abend wird der Haushalt mit unserer klaren Mehrheit verabschiedet. Es wird ein solider Haushalt sein.
({11})
Es wird keine Steuererhöhungen geben.
({12})
Die Preise bleiben stabil. Die Konjunktur, die sich in einem durchaus stabilen Zustand weiter positiv entwickelt, wird durch diese Politik gefestigt.
Die Finanzmärkte haben heute in Frankfurt klar reagiert: Der Rentenmarkt ist stabil. Auf dem Parkett, in der Börse, hat man gesagt: Waigel hat die Dinge im Griff. Das ist für uns sehr viel wichtiger, als wenn Sie hier Zeter und Mordio schreien, ohne daß Sie irgendeine Alternative zu bieten hätten.
Herzlichen Dank.
({13})
Als nächste die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir bei diesen Haushaltsberatungen geboten bekommen, ist ein Trauerspiel.
({0})
Binnen weniger Tage fehlen für 1995 fast 10 Milliarden DM, für 1996 fast 20 Milliarden DM.
({1})
Sie, Herr Waigel, setzen eine Politik fort, die wir aus den letzten Jahren kennen. Fast immer waren Ihre Zahlen falsch. Wenn wir Sie darauf aufmerksam gemacht haben, dann haben Sie gesagt, Sie hätten sich geirrt. Ich sage Ihnen: Ein Minister, der so oft mit seinen Zahlen danebenliegt, kann entweder nicht rechnen oder täuscht die Öffentlichkeit. Ich fürchte, bei Ihnen ist beides der Fall.
({2})
Wir hatten im September Haushaltsberatungen. Wir haben Sie auf die schlechtere Konjunkturlage, auf die Risiken hingewiesen. Sie haben alles mit der Behauptung zurückgewiesen, Sie hätten alles im Griff, es sei alles in Ordnung.
({3})
Wir hatten vorige Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde. Dort haben Sie nichts darüber gesagt, was Sie vorhaben. Obwohl wir Ihnen gesagt haben: Sie kriegen den Haushalt nicht in den Griff, tun Sie was zum Sparen, haben Sie gesagt: alles paletti! Zwei Tage später, natürlich am Wochenende, damit wir das hier nicht diskutieren konnten, haben Sie dann gesagt: Haushaltssperre. Dann kamen die fast 20 Milliarden DM, die im kommenden Haushalt fehlen.
Ich sage Ihnen: Es gibt dafür ein geordnetes Verfahren. Man kann Prognosen nicht immer auf eine, zwei oder auch drei Milliarden DM genau machen.
({4})
Nur: Wenn Sie im ganzen Jahr unsere milliardenschweren Einsparvorschläge mit der Behauptung ablehnen, Ihnen fehle kein Geld, und Ihnen dann am Ende des Jahres 10 Milliarden DM da und 20 Milliarden DM dort fehlen, dann ist das unseriös, meine Damen und Herren.
({5})
Sie haben nach § 32 der Bundeshaushaltsordnung eine Möglichkeit. Dort ist vorgesehen, daß man bei solchen Änderungen einen sogenannten Ergänzungshaushalt vorlegt.
({6})
- Was Sie heute vorgelegt haben, das ist doch kein Ergänzungshaushalt.
({7})
Das ist doch ein Waschzettel, meine Damen und Herren.
({8})
Da stehen in sieben Positionen mal eben 19 Milliarden DM, z. B. Privatisierungen: 9 Milliarden DM.
Wissen Sie, was da als letzte Position steht - das ist
doch das Tollste -: Sonstiges: ca. 3 Milliarden DM. Da wundere ich mich, daß Sie nicht darunter schreiben: vom Weihnachtsmann noch 2 Milliarden DM und vom Osterhasen auch noch 3 Milliarden DM. Das ist doch das Niveau.
({9})
Ganz abgesehen davon, daß Sie mit den Privatisierungen nur eine Einmalwirkung erzielen. Ihre Probleme für die Folgejahre ab 1997 sind überhaupt nicht gelöst. Obwohl es sich um strukturelle Probleme handelt, haben Sie doch offensichtlich vor, zigtausende Wohnungen von kleinen Postlern und Eisenbahnern zu privatisieren.
({10})
Kommen Sie hierhin und sagen Sie, was Sie hier zu Lasten der Meinen Leute machen wollen.
({11})
Unsere Forderungen sind klar: erstens Aussetzung der Beratungen des Haushaltsausschusses,
({12})
zweitens Vorlage eines Ergänzungshaushaltes
({13})
mit detaillierten Aufschlüsselungen, an welcher Stelle Sie sparen wollen und was Sie mit welchen Privatisierungen erreichen wollen, und drittens Verschiebung der Bereinigungssitzung, bis Sie diesen Ergänzungshaushalt vorgelegt haben. Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, daß Sie mit diesen Pi-mal-Daumen-Rechnungen morgen eine Bereinigungssitzung durchführen wollen.
({14})
Auf eine Aussetzung und Verschiebung der Beratung, bis ein Ergänzungshaushalt vorliegt, haben sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament ein Recht.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie als Parlamentarier noch ein bißchen auf sich und Ihre parlamentarische Tätigkeit hielten, dann würden Sie das endlich mit uns gemeinsam beschließen.
({15})
Als nächster spricht der Kollege Jürgen Koppelin.
({0})
Darauf werde ich dem Kollegen Fischer gleich antworten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aktuelle Stunden müssen in einer parlamentarischen Debatte sicher hin und wieder stattfinden. Diese Aktuelle Stunde aber ist so überflüssig wie nur irgend etwas.
({0})
Ich habe für diese Aktuelle Stunde überhaupt kein Verständnis.
Im übrigen zeigt das, daß Sie selbst in Schwierigkeiten sind; denn Sie von den Oppositionsparteien schicken heute Redner nach vorne, die an der Haushaltsberatung heute überhaupt nicht teilgenommen haben. Das ist doch auch für die Haushälter das Ärgerliche. Das muß man hier einmal sagen.
({1})
Während Sie, Herr Kollege Metzger, eine Fragestunde abgehalten haben - das ist Ihr gutes Recht -, haben wir im Haushaltsausschuß unsere Arbeit geleistet. Wir haben mit dem Minister gesprochen; er ist da gewesen.
Ich will ausdrücklich anerkennen, daß die Sozialdemokraten in dieser Zeit im Haushaltsausschuß waren und ebenfalls mit dem Minister diskutiert haben. Wir kommen vielleicht in der Endbewertung zu anderen Ergebnissen. Ich fand es aber fair, daß die Sozialdemokraten an dem Gespräch mit dem Minister teilgenommen haben.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hingegen haben durch Abwesenheit geglänzt. Ich danke ausdrücklich der Kollegin Hermenau, die als einzige im Haushaltsausschuß vertreten war.
({2})
Ansonsten haben Sie doch durch Abwesenheit geglänzt. Der Kollege Metzger hätte in der Fragestunde gar nicht solche Fragen gestellt, wenn er an der heutigen Sitzung teilgenommen hätte. Das ist doch das Problem.
({3})
Sicher, die Schätzungen bezüglich der Steuern haben sich so nicht bestätigt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, was mich aber bei dem Thema Steuerschätzung wundert, ist folgendes: Es ist nicht der Bund allein, der diese Steuerschätzung vornimmt. Auch die Länder und die Institute sind daran beteiligt. Sprechen wir doch einmal über die Länder, die natürlich dasselbe Problem haben. Haben sich die Länder genauso geirrt wie der Bund?
Ich finde, Sie führen hier eine Diskussion, die unehrlich ist und in Polemik abgleitet, wie wir dies jetzt auch sehen.
({4})
Wir haben Einnahmeausfälle zu verzeichnen; das steht außer Frage. Wir müssen in unseren Haushaltsberatungen dafür sorgen, daß diese Ausfälle gedeckt werden.
({5})
Es ist aber völlig falsch, davon zu sprechen, wie es in der Fragestunde geschehen ist, daß hier das Tafelsilber verscherbelt wird. Davon kann überhaupt nicht die Rede sein.
Ich sage für die F.D.P.: Bei knappen öffentlichen Kassen kommt es endlich dazu, daß wir ordnungspolitisch die Maßnahmen ergreifen, die wir schon lange durchsetzen wollten, z. B. die Privatisierung von Wohnungen.
({6})
Der Kollege Metzger weiß ganz genau, daß ich gemeinsam mit dem Kollegen Pützhofen in den Beratungen zum Bauhaushalt verlangt habe, an die Privatisierung heranzugehen. Wir haben auch entsprechende Vermerke anfertigen lassen.
Es kann auch nicht davon die Rede sein - das muß ich jetzt der Kollegin Heyne sagen, die dies in der Fragestunde geäußert hat -, daß die Haushälter betriebsblind sind. Nein, betriebsblind sind diejenigen, die Millionen-Anträge gestellt haben, die den Haushalt aufstocken, die noch mehr ausgeben wollen, obwohl sie die Situation des Haushaltes kennen. Sie sind betriebsblind, kein anderer.
({7})
Für die Freien Demokraten kann ich sagen - Herr Kollege Fischer, jetzt komme ich zu Ihnen und Herrn Lambsdorff -: Von uns wird nicht die Forderung nach einem Haushaltsbegleitgesetz gestellt werden. Natürlich hat Graf Lambsdorff in vielen Punkten dieser Frage recht. Auf der anderen Seite aber hören wir, daß die Sozialdemokraten dies im Bundesrat nicht mitmachen werden. Was soll das also?
({8})
- Es ist doch so. Frau Kollegin Matthäus-Maier, dann sagen Sie doch, daß Sie das mitmachen wollen.
Die Eckdaten für den Haushalt werden jedenfalls in der vorgegebenen Form eingehalten.
({9})
- Da Sie gerade einen Zuruf machen, möchte ich Ihnen, Frau Kollegin Matthäus-Maier, sagen: Sie haben gerade gesagt, wir würden die Bereinigungssitzung morgen wohl nicht hinkriegen. Ich lade Sie ein, zu dieser Sitzung zu kommen, nehmen Sie an der Diskussion teil. Sie werden aber wieder nicht erscheinen. Das ist doch das Problem. Hier stellen Sie sich hin, aber morgen werden Sie nicht erscheinen.
Ich kann nur sagen: Die Zielsetzung in der Haushaltsberatung wird für uns Freie Demokraten in erster Linie sein, daß es keine weitere Neuverschuldung gibt. Das wird das Hauptziel unserer Arbeit sein. Lassen Sie uns lieber an die Arbeit gehen, anstatt hier im Parlament solche Aktuelle Stunden durchzuführen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({10})
Als nächste Frau Höll.
({0})
- Herr Struck, das Wort hat Frau Höll.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation, in der wir sind, ist die bittere Realität, vor der die PDS schon vor Jahren gewarnt hat.
({0})
Doch, ganz genau! Wir waren nicht die einzigen, die gewarnt haben, aber wir haben gewarnt. Der Bundeshaushalt ist ein finanzpolitischer Torso. Sie haben Steuerausfälle und Mehrausgaben in Milliardenhöhe. Es ist jetzt allerdings die Situation eingetreten, daß Sie ihre chaotische Haushaltspolitik nicht weiter verdecken können.
Bei den Steuerausfällen tun Sie so, als ob das überraschend kommt. Das ist natürlich auch Blödsinn. Wer aufmerksam z. B. die Berichte von Wirtschaftsinstituten gelesen hat, wußte ganz genau, daß das so eintreten wird. Von den Steuerausfällen in Höhe von rund 55 Milliarden DM sind nur zwischen 7 und 8 Milliarden DM konjunkturell erklärbar. Die restlichen Milliarden sind Ergebnis Ihrer Finanzpolitik.
Wie reagiert Herr Waigel darauf? - Mit einem Waschzettel, auf dem er uns schnell Deckungsvorschläge anbietet, die den Realitätsgehalt von Fieberphantasien haben. Sie wollen wieder nur Löcher stopfen. Einmalige Mehreinnahmen, die man eigentlich 1995 bräuchte, wie bei der Mineralölsteuer, schiebt man nun auf 1996, ohne uns zu sagen, wie das 1995 eingeplante Geld neu abgedeckt werden soll. Die Deckungsvorschläge sind nicht solide begründet, denn ich möchte wissen, woher Herr Waigel weiß, daß im nächsten Jahr die Zinsen sinken werden. Diese Aussagen beruhen nur auf Vermutungen, Annahmen. Es sind haushaltstechnische Kunstgriffe. Es ist unseriös und eine absolute Mißachtung des Parlamentes, das nicht einmal 24 Stunden vor der Bereinigungssitzung auf den Tisch zu legen.
Was dabei jedoch das Allerschlimmste ist, ist nicht Ihre Unverfrorenheit in diesem Punkt, sondern daß
Herr Waigel und die Bundesregierung offensichtlich so weitermachen wollen wie bisher. Es werden wieder nur Löcher gestopft. Die strukturellen Defizite im Bundeshaushalt werden überhaupt nicht betrachtet. Herr Waigel hat vorhin im Finanzausschuß gesagt, daß arbeitsmarktpolitische Leistungen kein Tabu sein dürfen. Herr Waigel, Transrapid, Autobahn, Verteidigungshaushalt sollten kein Tabu sein. Wozu müssen wir jetzt neue Minen entwickeln? Wozu muß sich die Bundesrepublik ein Luxusprojekt wie den Transrapid leisten?
({1})
Wenn Sie sich die Steuern ansehen, wissen Sie ganz genau, daß es natürlich möglich wäre, völlig neue Steuerquellen zu erschließen. Nur: Sie sind nicht gewillt. Im Gegenteil, selbst bei Ihren Annahmen für das nächste Jahr bleiben Sie unter dem, was notwendig ist. Inzwischen haben Sie eingesehen, daß die Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr Geld benötigt, aber Sie bleiben wieder unter dem Ansatz, der von der Bundesanstalt vorgegeben ist.
Solange Sie nicht in eine aktive Arbeitsmarktpolitk einsteigen, solange Sie nicht bereit sind, tatsächlich zur Schaffung von Arbeit z. B. den zweiten Arbeitsmarkt endlich in einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor umzuwandeln, solange werden Sie weiter nur zuschustern müssen und eine reine Flickschusterei betreiben. Das, was Sie versuchen, ist, dem durch einen absoluten Sozialabbau auszuweichen.
Herr Blüm als Minister für Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau, wie er sich doch besser nennen sollte, hat die katastrophale Finanzsituation von heute gleich im vorauseilenden Gehorsam sekundiert durch neue Vorschläge des Sozialabbaus. Der Bund versucht so, sich seiner grundgesetzlichen Sozialstaatsverpflichtung zu entziehen. Das ist wirklich ein schleichender Verfassungsbruch.
Wie sieht es denn mit den Auswirkungen auf die Länderhaushalte aus? Bereits drei Länder - Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg - haben Haushaltssperren einführen müssen, haben sie sofort ausgesprochen. 24 Milliarden DM müssen 1995/96 verkraftet werden. Ein Teil dessen wird in die Kommunen durchgereicht. Kommunale Selbstverwaltung ist bald nicht mehr das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht, weil sie eine blanke Illusion in dieser Bundesrepublik ist. Sie haben sie dazu verkommen lassen. Das ist die Realität.
({2})
Wir verlangen, daß das, was die SPD gesagt hat, was ich nicht wiederholen möchte, nämlich der Abbruch der Haushaltsberatungen, realisiert wird. Auf dieser Grundlage kann es sich das Parlament dieser Bundesrepublik nicht leisten, sich als Spielball der schrecklich chaotischen Finanzpolitik des Bundesfinanzministers mißbrauchen zu lassen.
Aus diesem Grund unterstützen wir die drei Forderungen, die Frau Matthäus-Maier gestellt hat, und hoffen, daß Sie wenigstens noch so viel Anstand besitzen, daß Sie sich nicht auf irgendwelche Anwesenheiten im Haushaltsausschuß hinausreden. Ich muß dazu sagen: Alle, die hier im Plenum waren, haben nämlich mit der Parlamentarischen Staatssekretärin diskutiert, nicht mit Herrn Minister Waigel.
({3})
Ich muß sagen: Wir haben ja wohl auch Parlamentarische Staatssekretäre,
Ihre Redezeit ist zu Ende.
- damit wir auch ihr Fachwissen hier zur Verfügung haben. Ich würde mir sehr wünschen,
Frau Höll, die Redezeit ist zu Ende.
- daß Sie auch hier den Mut aufbringen - ({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Theodor Waigel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist das gute Recht der Opposition, eine Aktuelle Stunde zu verlangen. Aber es ist in höchstem Grade unfair, zu einem Zeitpunkt meine Anwesenheit im Haushaltsausschuß zu verlangen, obwohl man sehr gut weiß, daß gleichzeitig eine Sitzung des Finanzplanungsrates stattfindet, und hier auch noch eine solche Show zu veranstalten.
({0})
Sie wollten ganz bewußt keine substantielle Aufklärung im Haushaltsausschuß; darum sind Sie auch gar nicht hingegangen. Vielmehr wollten Sie hier bewußt Ihre Unwissenheit nutzen, um sich aufzublähen und diese Show abzuziehen. Das ist der ganze Hintergrund dieser Debatte.
({1})
Es ist auch - lassen Sie mich das einmal sagen - eine bewußte Desavouierung des Finanzplanungsrates, in dem die Mehrheit der Finanzminister, auch der SPD-Finanzminister, sitzt
({2})
und erwartet hätte, daß man mit ihnen über die haushaltspolitischen, finanzpolitischen und steuerpolitischen Fragen der Schätzung diskutiert und daraus die entsprechenden Schlußfolgerungen zieht.
Kollege Struck, ich habe mitbekommen, wie Sie das vorhin begründet haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Diese Haushaltsberatung ist ganz normal und korrekt. Es ist ein billiges Manöver, das Sie hier vorführen, um von den Schwierigkeiten in Ihrer eigenen Fraktion und ihrer eigenen Partei abzulenken. Das ist doch der einzige Grund.
({3})
Haben Sie sich vielleicht im letzten Jahr aufgeplustert, als wir bis zur Bundestagswahl für die alten Bundesländer ein Wachstum von 0,9 % vorausgesagt haben
({4})
und wenige Monate später insgesamt ein reales Wachstum von 2,9 % herausgekommen ist? Da war Schweigen im Walde; dazu haben Sie nichts gesagt. Diesen Vorwurf brauchen wir uns nicht machen zu lassen.
({5})
Herr Metzger, normalerweise sind Sie unter den Grünen jemand, dessen Äußerungen man ernst nehmen sollte. Aber heute waren Sie gerade mit Ihren Bemerkungen das personifizierte Beispiel für eine „leere Hose", wie man in Bayern zu sagen pflegt.
({6})
Was nun Frau Kollegin Matthäus-Maier anbelangt: Wenn Sie sich nur einmal in einem Ausschuß näher erkundigt hätten, dann hätten Sie auch mitbekommen, was unter „Sonstiges" z. B. steht: Gewährleistungen, Altersübergangsgeld, Kriegsopfer, Erziehungsgeld; Schätzansätze, die Sie dann sehr leicht unter einem Sammelansatz hätten subsumieren können.
({7})
- Darauf komme ich gleich.
Übrigens, 1981 und 1982 - ich nehme an, Sie haben schon damals diesem Hohen Hause angehört - hat die SPD selbst eine Ergänzungsvorlage mit dem Argument abgelehnt, der Haushaltsausschuß sei das richtige Gremium, auch über Veränderungen zu beraten und zu entscheiden. Wir tun genau das, was Sie 1981 und 1982 gesagt haben.
({8})
Noch ein Wort zu Ihnen, Kollege Struck: Was Sie vorhin gegenüber der Frau Kollegin Karwatzki betrieben haben, das war unfair. Das hätte ich eigentlich von Ihnen nicht erwartet.
({9})
Es ist auch nicht in Ordnung, im Haushaltsausschuß die Anwesenheit aller Mitglieder der Koalitionsfraktionen zu verlangen - das ist notwendig -, hierherzugehen und dann die Frau Kollegin mit Fragen zu konfrontieren, die dort gerade diskutiert wurden und über die sie gar nicht Bescheid wissen konnte. Das paßt gut zu der Unfairneß, die Sie, Herr Kollege Struck, neulich bewiesen haben, als Sie auf Grund einer Äußerung von mir im Finanzausschuß mit der billigen Polemik kamen, man müsse mich abmahnen und dann entlassen.
({10})
Ihre eigenen Kollegen waren dabei und haben jeder Äußerung von mir expressis verbis zugestimmt, auch hier noch. Hier zeigt sich doch wieder einmal deutlich, daß Sie überhaupt nicht wissen, was stattfindet und was vorgeht.
({11})
Es gibt keinen neuen Sachverhalt. Wir werden die Dinge im Haushaltsverfahren einbringen. Wir haben uns an die Steuerschätzungen gehalten, sowohl im Mai als auch jetzt. Wir passen sie rechtzeitig an. Es wird in 1995 keine signifikante Überschreitung der Nettokreditaufnahme geben.
Wir sind auch in der Lage, die Zusatzbelastungen für 1996 so auszugleichen, daß wir bei dem Ziel einer Nettokreditaufnahme von 60 Milliarden DM bleiben. Das ist eine gewaltige Leistung. Das Haushaltsvolumen geht gegenüber dem Haushaltsansatz des Vorjahres zurück. Dies ist ein positives Signal für die Märkte. Wir nehmen den Rat der Forschungsinstitute - deren Ausführungen ich sonst zu schätzen weiß -, die Nettokreditaufnahme zu erhöhen, nicht an. Denn gerade im Zeichen einer gutgehenden Konjunktur - das ist auch weiter der Fall - muß man die Konsolidierung voranbringen, um das richtige Zeichen für die Märkte, für die Zinsen zu setzen.
({12})
Wir werden noch stärker privatisieren als bisher. Das ist notwendig, das ist richtig. Das machen auch SPD-regierte Länder, das machen alle Länder in Europa,
({13})
und zwar aus Gründen des Haushalts, aber auch aus Gründen der Struktur, um damit eine stärkere Effizienz, eine höhere Produktivität zu erreichen.
Wir werden die Eckwerte einhalten. Das Entlastungskonzept sichert die Einhaltung der bisherigen
Eckwerte. Die Ausgaben bleiben rückläufig, die Kreditobergrenze von 60 Milliarden DM wird nicht überschritten. Anstatt zu boykottieren, anstatt die Einsparungen, die in den Gesetzesvorschlägen enthalten sind, zu torpedieren, sollten sie endlich einen konstruktiven Beitrag leisten,
({14})
um Bund, Länder und Kommunen im nächsten Jahr und in den folgenden Jahren zu entlasten. Sie setzen auf Boykott; nur wird Ihnen das die Öffentlichkeit nicht zugestehen.
({15})
Die Öffentlichkeit erwartet von Ihnen ein faires, ein sinnvolles, ein konstruktives Opponieren. Dazu bleiben Sie jeden Beitrag schuldig. Ihr Versagen hier ist so schlimm wie das Versagen Ihrer Partei in den letzten Monaten.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe nach dieser Rede den Eindruck, daß der Minister nicht nur mit seinem Haushalt, sondern auch mit seinen Nerven am Ende ist.
({0})
Herr Minister, Sie sind dem obersten Grundsatz aller Haushälter verpflichtet, der lautet: Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit.
({1})
Das Tempo, mit dem Sie sich mit Ihren Vorlagen der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nähern, ist das Tempo einer Schnecke.
({2})
Seit August weist die SPD-Fraktion darauf hin, daß dieser Haushaltsentwurf der Bundesregierung ein Risiko in zweistelliger Milliardenhöhe birgt.
({3})
Wir haben Sie darauf hingewiesen, daß die Steuereinnahmen wegbrechen, daß der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit ein Risiko von mindestens 5 Milliarden DM enthält. Sie haben das in der ersten Lesung des Haushaltes Anfang September alles bestritten, haben alles schöngeredet. Sie werden dem Erfordernis der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit nicht gerecht. Sie versagen als Finanzminister.
({4})
Meine Damen und Herren, dieser erbärmliche Wisch, den ich hier in Händen halte, ist keine seriöse Ergänzungsvorlage.
({5})
Dieser erbärmliche Wisch ist keine Grundlage für die Fortsetzung einer seriösen Beratung im Haushaltsausschuß.
({6})
Dieser erbärmliche Wisch
({7})
enthält Vorschläge voller Rechtsprobleme.
Dieser erbärmliche Wisch enthält Vorschläge, die finanzpolitisch dicke Fragezeichen haben.
Dieser erbärmliche Wisch
({8})
ist voller sozialpolitischen Sprengstoffs. Der Minister hat im Haushaltsausschuß wörtlich gesagt: „Die Begrenzung arbeitsmarktpolitischer Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit kann kein Tabu sein." Dies ist die Kriegserklärung an die Menschen, die ohne Arbeit sind und hoffen, im nächsten Jahr wenigstens in Fortbildungs-, Umschulungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hineinzukommen.
({9})
Sie lassen diese Millionen Menschen unter den Löchern leiden, die die Vermögenden dieser Gesellschaft durch Steuerabschreibungsmodelle im Osten Ihnen in den Haushalt gerissen haben.
({10})
Dieser erbärmliche Wisch enthält auch hochgradigen wohnungspolitischen Sprengstoff. Im Hauruckverfahren mehr als 44 000 Wohnungen - d. h. mehr Wohnungen, als die größte Stadt in meinem Wahlkreis, Trier, überhaupt aufweist - auf einen Schlag verhökern zu wollen ist eine Bedrohung. Das müssen die Menschen so empfinden: die Postler, die EisenKarl Diller
bahner und die anderen Zehntausende Menschen, die in diesen Wohnungen leben. Sie müssen es als Bedrohung empfinden, daß sie demnächst die Opfer von Luxussanierungen sein werden. Das ist wohnungspolitischer Sprengstoff ersten Ranges.
({11})
Meine Damen und Herren, dieser Minister spielt mit dieser Vorlage Monopoly auf dem Rücken der Meinen Mieter.
({12})
Diese Politik werden wir ablehnen. Deswegen fordern wir Sie auf, uns eine seriöse Ergänzungsvorlage, vom Kabinett beraten, vorzulegen. Sonst werden wir nicht weiterberaten.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß der Kollege Diller so redet, wie er redet, ist ganz klar. Er hat die Situation der SPD-Fraktion gewissermaßen bis in den Gesichtsausdruck hinein verinnerlicht und glaubt, das auf den Haushalt übertragen zu können.
({0})
Ich glaube, wenn Sie sich mit den Haushalten der vorangegangenen Jahre befassen, werden Sie feststellen, daß wir jedes Jahr einen Haushalt vorgelegt haben, der am Ende des Jahres besser abgeschlossen hat, als prognostiziert worden war - jedes Jahr, solange wir an der Regierung sind.
({1})
Das haben Sie nicht geschafft, noch nicht einmal hinsichtlich der Aufstellung der Haushalte. Sie haben in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition den Haushalt - bis auf ein einziges Mal - nicht rechtzeitig vorgelegt.
Das Drehbuch ist interessant. Es lautet: Die Grünen geben den Startschuß, und die SPD läuft los. So haben Sie es in diesem Fall gemacht.
({2})
Sie sagen „Wir wollen eine Aktuelle Stunde", und zwar zu Zahlen, die Ihnen längst vorliegen. Dann fangen Sie an, darauf einzusteigen, möchten jetzt haushaltsmäßig filibustern, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten die Zahlen nicht mehr im Griff.
({3})
Das gibt gewissermaßen einen grünen Zahlensalat. Gerade eine Partei, die eher für Notgeld und was weiß ich für welche Programme steht, muß uns das vorwerfen!
Das, was wir heute vorlegen, was der Kollege Diller als „erbärmlichen Wisch" bezeichnet hat - in den hinteren Reihen hätte man auch „Wicht" verstehen können; er hat vielleicht in die Richtung geguckt -,
({4})
ist gewissermaßen der Abschluß des Haushalts, wie wir ihn morgen abend vorlegen werden.
Sie können davon ausgehen, daß wir Ihnen nicht noch einmal die Zahlen vor der Debatte zur Verfügung stellen werden.
({5})
Wir werden an der Stelle landen, an der wir versprochen haben zu landen. Es steht fest, daß wir bei einer Nettokreditaufnahme von 60 Milliarden DM landen. Das steht fest. Es steht fest, daß wir die erforderlichen Mittel für den Arbeitsmarkt ausgeben. Das steht fest. Ich sage Ihnen, Herr Kollege Diller: Zu keiner Zeit wurde so viel Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wie in diesem Jahr,
({6})
und der gleiche Betrag wird im nächsten Jahr wieder zur Verfügung gestellt. Sie können davon ausgehen, daß wir uns an die Grenzen, die wir uns selber gesetzt haben, halten werden. Das ist natürlich für Sie schockierend.
({7})
Es treten nun völlig veränderte Umstände bei der Steuerschätzung ein, die den Bund übrigens nicht mit 20 Milliarden DM, sondern eigentlich mit 11,6 Milliarden DM betreffen, davon 1,6 Milliarden DM vom Vermittlungsausschuß mit der SPD-Mehrheit dort abgetrotzt. Es kommen also Mindereinnahmen von 13 Milliarden DM zusammen, und wir bringen den Haushalt trotzdem hin. Das macht dann natürlich sauer. Da fängt man natürlich an, sich aufzuregen und sich zu ärgern, und wundert sich dann, wenn einem die eigenen Leute nicht mehr folgen.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Das grundsätzliche Problem, das Sie als Partei im Moment haben, ist, daß Sie, wenn die Situation da ist, daß entschieden werden muß, nicht entscheiden, sondern sagen: Wir wollen erst einmal vertagen. Wir dagegen machen das genau umgekehrt:
({8})
Wir sagen dann, wenn die Situation da ist, daß entschieden werden muß: Jetzt wird entschieden. Und wir werden morgen entscheiden.
({9})
Gehen wir doch einmal vom letzten Jahr, von 1994, aus. Da hat der Haushalt mit 20 Milliarden DM besser abgeschlossen als in diesem Jahr. In diesem Jahr hätten wir eine Situation, die um 10 Milliarden DM besser gewesen wäre als vorhergesehen, wenn nicht der Steuerausfall dazugekommen wäre.
({10})
Aber obwohl der Steuerausfall da ist, werden wir punktgenau landen. Herr Fischer, ich verstehe, daß das jemanden, der grünen Zahlensalat gewohnt ist, verzweifeln läßt.
Es ist ja nicht normal, daß der Bund einen Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit gibt, die sich eigentlich selbst finanzieren soll. Wir werden im nächsten Jahr den notwendigen Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit bereitstellen. Das stand nicht im Haushalt; das machen wir trotzdem. Damit können wir Arbeitsmarktmaßnahmen finanzieren und werden somit unserer Verantwortung gerecht.
Wenn Sie die Frage stellen, was denn haushaltsmäßige und sozialpolitische Verantwortung sei, muß man doch auf die Grundprinzipien hinweisen. Stabiles Geld ist das Wichtigste.
({11})
- Ich kann mir vorstellen, daß Sie das bedrückt, Kollege Struck. Das ist fast wie eine Fraktionssitzung bei Ihnen, nicht? - Das Wichtigste ist also, daß wir stabiles Geld haben, daß die Zinsen niedrig sind und sinken - das freut die Meinen Leute viel mehr als die Show, die Sie hier veranstalten.
({12})
Genau dies bewirkt die von uns initiierte Haushaltspolitik.
Wenn Sie glauben, Sie könnten die notwendigen Entscheidungen, die unter dem Strich bedeuten, daß die Investitionsquote nicht abgesenkt wird - was für den Arbeitsmarkt ja auch wichtig ist -, dadurch verzögern, daß Sie Showanträge stellen, haben Sie sich getäuscht.
({13})
Das Thema FuU und ABM habe ich bereits angesprochen.
Die Frage wäre doch: Was schlagen Sie denn in dieser Situation außer Vertagen noch vor? Sie haben eine Fülle von Anträgen vorgelegt; wenn man die darin enthaltenen Summen addiert, kommt ein gewaltiger Betrag heraus. Aber was schlagen Sie vor?
({14})
Sollen wir jetzt noch ein Vierteljahr warten und dann Entscheidungen treffen, so wie das einzelne Bundesländer, z. B. Hessen oder andere Länder, in denen Sie Verantwortung tragen, gemacht haben?
Herr Austermann, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich sage: Wir entscheiden, wenn entschieden werden muß. Und wir treffen die Entscheidungen so, daß sie für die Konjunktur, für den Arbeitsmarkt und für den Gesamthaushalt richtig sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Kristin Heyne.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stelle fest, daß sowohl dem Minister als auch der CDU bei dieser Misere wirklich nur noch die Polemik bleibt.
({0})
Sie haben gegenüber Herrn Metzger nur noch das Argument finden können, er sei nicht im Ausschuß gewesen.
({1})
Ich denke, das ist eigentlich mehr ein Ausdruck Ihrer Arroganz. Es hat sich erwiesen, daß wir eine völlig neue Lage haben - eine Lage, die der Ausschuß selbst nicht mehr bewältigen kann.
({2})
Das hat der Ausschuß nicht bemerkt. Er hat nicht den Zeitpunkt gefunden, zu dem es wirklich notwendig war, das Plenum wieder einzubeziehen. Es hat leider keine Mehrheit im Haushaltsausschuß gegeben, hier in die Fragestunde zu gehen; die SPD hat sich da „Hälfte-Hälfte" verhalten. Ich glaube, daß da wirklich eine gewisse Betriebsblindheit vorliegt.
({3})
Wir haben - das will ich gerne bestätigen - sehr sorgfältig beraten. Es hat viele Kilogramm Papier gegeben, die wir bearbeitet haben. Es ist viele Stunden hin und her gesprochen worden. Dabei haben wir - im wesentlichen die Union - etwa 700 Millionen DM eingespart. Jetzt haben wir die Situation, daß 20 Milliarden DM zusätzlich aufzubringen sind. Für 20 Milliarden DM reichen Ihnen eine Stunde Fragen an Herrn Waigel und dieses Zettelchen. Das kann doch wohl keine Solidität sein, damit können Sie niemals zufrieden sein!
({4})
Wer in die Sitzung gekommen ist und den kleinen Zettel gesehen hat, der konnte wissen: Hier läuft heute nichts mehr ab. Ich kann meinem Kollegen Oswald Metzger nur bestätigen: Du hast absolut nichts verpaßt. Ich habe mir die Rede von Herrn Waigel angehört.
Die substantiellen Äußerungen, die wir gehört haben, waren z. B.: Die Privatisierung der Postbank kann zwischen 3 und 6 Milliarden DM erbringen. - Na ja, so eine kleine Lücke von 3 Milliarden DM machen wir mit links. Für 700 Millionen aber brauchen wir zwei Monate Beratung.
Die Solidität Ihrer Planung sehen wir z. B. darin, daß Ihnen jetzt, im Oktober, einfällt: Die Bundesanstalt für Arbeit braucht doch etwas Geld. - Na ja, nochmal eben 6 Milliarden; hauen wir auch drauf, ist nicht so schlimm, konnten wir im September überhaupt noch nicht wissen.
Dann gibt es da den wunderbaren Posten: 3 Milliarden „Sonstiges". Dazu haben wir eine glasklare Antwort bekommen: Das werden wir zu gegebener Zeit entscheiden - wir, die Regierung. Das Parlament hat damit nichts zu tun. Wir - und niemand anders - entscheiden das.
({5})
- Moment, da waren Sie leider nicht da. Da ist hier etwas Spannendes gelaufen, da hat sich die Regierung hier zu unseren Fragen geäußert. Da wollten wir gern wissen: Was sind 3 Milliarden „Sonstiges"?
({6})
Da hieß es schlicht und einfach: Das werden wir entscheiden, wenn es an der Zeit ist.
({7})
- Ich habe die Ausführungen gehört, sie waren äußerst vage.
Ich finde, es ist eine ungeheure Dreistigkeit von Ihnen, Herr Waigel, daß Sie es noch einmal wagen, sich vor den Ausschuß zu stellen und wiederum von einer 10-Milliarden-Lücke im Haushalt 1995 zu sprechen. Sie wissen genau, daß die zwischen März und Mai dieses Jahres erfolgte Korrektur darin nicht enthalten ist, daß die Lücke in Wirklichkeit bei 14 Milliarden DM liegt. Sie haben uns da nur ein paar Pauschalzahlen vorgelegt. Selbst wenn wir die akzeptieren, bleibt immer noch eine Lücke von 8 Milliarden. Wo Sie die noch herholen wollen, haben Sie verschwiegen.
({8})
- Es wäre sehr schön, wenn wir dazu noch ein paar Erläuterungen bekämen.
Es hat sicher auch viele im Haushaltsausschuß verwundert - und wir haben dafür einige Anerkennung bekommen - daß sich unsere Fraktion bemüht, einen konsolidierten Haushalt zu verabschieden. Wir haben durchaus Einsparvorschläge gemacht.
({9})
Schuldenpolitik ist ja keine abstrakte Frage von Finanzen, die sich nur in den Köpfen abspielt. Schuldenpolitik beinhaltet die Frage, was wir unseren Kindern klauen, was die später für uns zu zahlen haben. Das ist eine sehr konkrete und wichtige Frage.
Wir sind bereit mitzudenken. Es gibt sehr wichtige Themen, über die leider auch die SPD nicht genügend spricht - und Sie schon gar nicht. Sie haben en passant in ihrem Haushalt weitere 22 Milliarden DM Schulden gemacht, und zwar über Ihr Hobby Privatfinanzierung. Die 15,6 Milliarden DM für den ICE haben Sie nur ins Haushaltsgesetz „gehängt".
({10})
Auch das möchte ich noch einmal in Ruhe mit Ihnen besprechen. Ich will Ihnen klarmachen, was es für meine Kinder bedeutet, wenn sie für Ihre Straßen zahler müssen, die Sie jetzt geplant haben, die wir aber nie brauchen werden.
({11})
Ich komme zum Schluß: Ich nehme Sie und uns als Haushälter bei der Ehre. Wir brauchen einen Ergänzungshaushalt, wir können dann in Ruhe nochmal beraten. Wenn wir gut sind, schaffen wir es im Dezember, den Haushalt tatsächlich solide zu beschließen.
({12})
Als nächste spricht die Kollegin Elke Ferner.
Liebe Kollegen und liebe Kolleginnen von der Koalition! Das Parlamentsverständnis, das hier zum Teil vorherrscht - Kollege Austermann hat eben gesagt, wir werden Ihnen die Informationen nicht geben -, ist dieses Parlamentes wirklich nicht würdig. Es wundert mich überhaupt nicht, wenn Sie bei einem solchen Parlamentsverständnis auch im Haushaltsausschuß die Karten erst spät auf den Tisch legen und dann in aller Eile einen Haushalt durchpeitschen wollen, der überhaupt nicht verabschiedungsfähig ist.
({0})
- Werter Kollege, lassen Sie mich doch einmal ausreden, wir werden schon noch dazu kommen.
Bei Ihnen herrscht ein totales Finanzchaos. Dieses Finanzchaos bewirkt Erklärungschaos, und hinzu kommt das Forderungschaos. Da werden z. B. im Verkehrsausschuß von der Koalition zum Haushalt Anträge ohne Deckungsvorschläge gestellt. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich in den letzten fünf Jahren in irgendeiner Haushaltsberatung einen Antrag von der Koalition gesehen habe, zu dem es einen Deckungsvorschlag gab. So weit sind Sie in Ihrer Finanzplanung schon heruntergekommen.
({1})
Sie kürzen die dringend notwendigen Schieneninvestitionen. Das macht der Finanzminister; der Verkehrsminister hat in dieser Frage nichts mehr zu melden. Gleichzeitig erzählen die Kollegen: Alles ist wichtig. Die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit sind indisponibel - so haben wir eben gehört -, die Transeuropäischen Netze sind indisponibel, Köln/RheinMain ist indisponibel, die Expo ist ganz wichtig. Da frage ich mich, was soll das alles? Trotz einer Kürzung von 2,3 Milliarden DM allein im Schienenbereich wollen Sie das alles realisieren.
({2})
- Natürlich, gucken Sie sich Ihre Zahlen doch einmal an! Sie kennen noch nicht einmal Ihren eigenen Haushaltsentwurf.
({3})
Dann gibt es eine Vereinbarung zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Da rennt der Kanzler durch die Gegend und sagt: Das ist alles ganz furchtbar wichtig. Dann stellt sich am Montag der Bahnchef in Saarbrücken hin und sagt: Ätsch, das alles kommt überhaupt nicht; wir verstehen nämlich Transeuropäische Netze im Hochgeschwindigkeitsbereich folgendermaßen: Wir fahren mit dem TGV von Paris nach Saarbrücken, steigen in den Pendolino um, dann fahren wir bis Mannheim und steigen anschließend wieder in den ICE. - Eine solche Verkehrspolitik ist bescheuert, muß ich einmal sagen.
({4})
Das verärgert auch die Leute vor Ort, weil Sie nämlich hier etwas anderes sagen, als Sie vor Ort tun.
Jetzt wollen Sie die Mindereinnahmen im Schienenbereich mit einem ganz grandiosen Haushaltstrick ausgleichen: Sie übertragen die Grundstücke des Bundeseisenbahnvermögens an eine Gesellschaft - mit der Bahn, mit einem privaten Investor, einem Bankenkonsortium -, die dann jährlich das, was das Bundeseisenbahnvermögen braucht, abführen soll. Jetzt frage ich Sie einmal: Was bedeutet es denn, wenn die in einem Jahr das Geld über Grundstücksveräußerungen nicht hereinbekommen? Die werden auf den Kreditmarkt gehen müssen, um das Geld für den Bundeshaushalt herbeizuschaffen. Das ist ein neuer Schattenhaushalt.
({5})
Das hat mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit überhaupt nichts zu tun. Das ist im besten Fall ein Programm, um der Deutschen Bank zu helfen, ihre Verluste mit den Schneider-Peanuts etwas auszugleichen.
Es gibt noch andere Investitionsschwerpunkte bei diesem Haushalt. Ich nenne einmal den Transrapid. Sie haben hier Löcher über Löcher, die Sie überhaupt nicht mehr überblicken. Dann wollen Sie einen Transrapid bauen mit 5,6 Milliarden DM allein für den Fahrweg.
({6})
Sie machen ein Bedarfsgesetz, in dem steht: Wir werden irgendwann einmal mit irgendeinem Betreiber irgendeine Finanzierungsvereinbarung schließen. Ich frage mich, wo wir hier sind: Sie stellen hier ungedeckte Wechsel auf die Zukunft aus. Das hat mit vernünftiger Haushalts- und Finanzpolitik überhaupt nichts mehr zu tun.
({7})
Im übrigen sind Sie auch dafür verantwortlich, daß knapp 60 % dieser Mittel aus dem Verkehrshaushalt aufgebracht werden sollen. Über 40 % sollen über Kürzungen im Hochschulbau, beim Wohnungsbau und bei anderen Investitionsmaßnahmen aufgebracht werden.
Ich glaube, die meisten Kolleginnen und Kollegen in der Koalition wissen nicht, was in den nächsten Jahren auf sie zukommt. Sie werden dann wieder durch die Wahlkreise laufen und verkünden: Es wird bei der Hochschule etwas gemacht, es gibt ein neues Wohnungsbauprogramm, es kommt die Ortsumgehung von XY, wir wollen auch eine schöne Schienenverbindung. Sie versprechen alles, aber Sie tun überhaupt nichts.
({8})
Das hat auch etwas mit Ehrlichkeit zu tun.
Frau Ferner, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Damit befördert man Politikverdrossenheit.
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Als nächster spricht der Kollege Dankward Buwitt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, diese Aktuelle Stunde könnte man eher mit „allgemeine Meckerstunde" überschreiben: Die gesamte Fragestunde wird wiederholt, es werden noch einmal alle Verkehrsprojekte hochgezogen - Fragen, die gerade in der Fragestunde behandelt worden sind -, hier wird ein Horrorszenario aufgebaut.
Meine Damen und Herren, die Abweichung der Steuerschätzung betrug 1991 plus 14 Milliarden DM, 1993 minus 11 Milliarden DM und 1995 zur Haushaltsberatung plus 13 Milliarden DM. Diese Abweichungen liegen also gar nicht so weit aus der Norm, die wir zur Zeit zu verzeichnen haben. Sie malen hier eine hoffnungslose Situation aus.
Wir freuen uns alle, daß wir die Transferleistungen in die neuen Bundesländern haben. Wahrheit ist: Wenn wir diese nicht hätten, könnten wir zum jetzigen Zeitpunkt die Schulden abbauen, die Sie in den 70er Jahren gemacht haben.
({0})
Meine Damen und Herren, aus der Steuerschätzung ist ein niedriger Einnahmenbetrag herausgekommen; das ist sicher keine besonders schöne Situation. Ich weiß nicht, was Sie erwarten. Ich denke aber, daß der Bürger von uns erwartet, daß wir die Ärmel hochkrempeln, die Situation meistern und hier zur Stabilität beitragen. Wenn wir geringere Einnahmen zu verzeichnen haben, müssen wir dafür sorgen, daß Einnahmen hinzukommen und daß Ausgaben reduziert werden, um den Haushalt auszugleichen.
Ich meine, die niedrigen Zahlen bei der Steuerschätzung haben zwei Seiten: Wir haben eine geringe Abflachung der Konjunktur. Warum haben wir die? Weil wir eine stabile D-Mark haben, um die uns alle Leute in der Welt beneiden.
({1})
Hier wird gesagt: Ob die Zinsen im nächsten Jahr wirklich soviel niedriger sind, weiß man nicht. Die Einnahmen bei der Zinsabschlagsteuer rühren daher, daß wir niedrige Zinsen haben und daß wir Sparerfreibeträge für diejenigen, die niedrige Kapitalerträge haben, eingeführt haben. Wenn auf der einen Seite die Zinsabschlagsteuer geringer ausfällt, dann fallen auf der anderen Seite die Zinsaufwendungen des Staates natürlich dementsprechend niedriger aus. Hier ist von verwerflich" die Rede gewesen. Dabei ist das doch ein ganz klarer Sachverhalt, der überhaupt nicht in Frage zu stellen ist.
Natürlich schlagen jetzt die Sonderabschreibungen für Ausrüstung, Anlagen und Wohnungsbau durch. Wenn Frau Höll von der PDS allerdings sagt: „Wir haben immer gewarnt", dann müßten Sie das gegenüber den Leuten zum Ausdruck bringen, die dadurch neue Arbeitsplätze und neue Wohnungen bekommen haben. Das ist genau das, was wir gewollt haben. Das ist das größte Investitionsprogramm, das wir für die neuen Bundesländer überhaupt in Gang bringen konnten.
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Deshalb, denke ich, sollte man mit diesen Dingen etwas vorsichtiger umgehen.
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Wer glaubt, Frau Höll, daß die Gesundung der Wirtschaft durch den zweiten Arbeitsmarkt und durch Programme erfolgen kann, dem ist zu sagen: Das ist ein großer Irrtum. Beschäftigungsprogramme bringen zwar Linderung für die Arbeitslosen; aber die Wirtschaft ist nur durch Arbeitsplätze aufzubauen, die im ersten Arbeitsmarkt entstehen.
Deshalb sage ich Ihnen eines: Wir werden die Mätzchen, die Sie bereits am 12. Oktober hier begonnen haben, nicht mitmachen. Damals wollten Sie angeblich über den IWF reden und haben über Steuerschätzungen gesprochen, die überhaupt noch nicht vorgelegen haben. Diese Mätzchen machen wir nicht mit! Wir machen vielmehr unsere Arbeit, weil wir das Ganze in Verantwortung gegenüber den Bürgern zu sehen haben.
Recht herzlichen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Hans Georg Wagner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum ersten: Ich weise eine Aussage des Bundesfinanzministers in aller Schärfe zurück. Herr Finanzminister, eine Sitzung des Deutschen Bundestages ist keine Schauveranstaltung. Der Weg zu dem Ausdruck „Quasselbude" ist sehr schnell gegangen.
({0})
Das möchte ich Ihnen, weil ich Sie anders einschätze, wirklich ersparen.
Zum zweiten: Wenn hier vorgetragen wird, daß der Kollege Metzger nicht an einer bestimmten Sitzung des Haushaltsausschusses teilgenommen hat,
({1})
dann muß ich Ihnen sagen, daß nach der Rede von Herrn Waigel der Kollege Kuhlwein und ich sowie die Kollegen Kampeter und Jacoby von der CDU im Plenarsaal anwesend waren. Herr Kollege Kampeter hat an Frau Karwatzki eine Frage gestellt; das ist im Protokoll nachzulesen. Man kann also den Kollegen Metzger oder andere nicht dafür bestrafen wollen.
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Ich frage mich die ganze Zeit, warum Kollege Dr. Weng sich eigentlich nicht meldet. Er hat doch die größten Sorgen schriftlich geäußert. Er soll einmal sagen: Das ist das große Risiko, ich kann den Haushalt überhaupt nicht mitberaten. - Er traut sich nicht oder hat jetzt Angst bekommen. Ich weiß nicht,
warum. Graf Lambsdorff muß wohl in der Toilette eingesperrt sein, daß er hier öffentlich nicht auftreten kann und seine Forderung nach einem Haushaltssicherungsgesetz vorträgt.
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Es wäre doch normal, hier im Deutschen Bundestag zu sagen, warum er ein Haushaltssicherungsgesetz haben will.
Ich sage Ihnen noch etwas, meine Damen und Herren: Ich möchte in Ihrer Haut nicht stecken. Seit Monaten verkünden Sie der Öffentlichkeit in Ihren Wahlkreisen: ein grundsolider Haushalt. Wenn Sie dann hierher kommen, merken Sie, daß eine Milliarde nach der anderen fehlt.
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Heute morgen kam der Finanzminister zu den Koalitionsarbeitsgruppen - das habe ich dpa entnommen - und sagte, heute mittag lege er ganz konkrete Vorschläge für die Haushaltskonsolidierung vor.
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- Darauf komme ich gleich zurück. Das ist ein gutes Stichwort. Heben Sie sich das auf.
Von diesen Versprechungen ist der Waigel-Wisch übrig geblieben. Das einzige, was morgen bereinigt werden müßte, ist dieser Wisch; denn der Haushalt ist nicht zu bereinigen.
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Wenn ich mir ansehe, was überall gemacht werden soll, muß ich feststellen: Wie können Sie es eigentlich mit sich selbst verantworten, zwei Monate vor Weihnachten Tausenden von Menschen - Eisenbahnern, Postbeamten und anderen Menschen - zuzumuten, Angst um ihre Wohnungen zu haben, nur weil Sie Luxussanierungen vornehmen lassen wollen? Das ist der Punkt.
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Vor zwei Monaten haben Sie hier gesagt: Gar nichts ist daran. Es werden keine Wohnungen verkauft. - Zwei Monate später, zwei Monate vor Weihnachten, sagen Sie das genaue Gegenteil.
Zur Privatisierung: Ich frage Sie: Wie wollen Sie denn die Privatisierung in der Kürze der Zeit hinbekommen, wenn das im Haushalt 1996 wirksam werden soll? Da muß doch irgend etwas gewesen sein. Sagen Sie doch, Herr Waigel, mit wem konkret Sie gesprochen haben.
({8})
- Herr Koppelin, mit Ihnen habe ich es ja gar nicht, sondern mit Herrn Waigel. Von ihm hätte ich gerne gewußt, mit wem er gesprochen hat, ob er mit dem Eigentümer der Wohnungsbaugesellschaft in Frankfurt geredet und ihm gesagt hat, wir würden eine Privatisierung vornehmen. Mit wem haben Sie überhaupt gesprochen? Ich gehe davon aus: Das ist ein Schnellschuß, der genauso unseriös finanziert ist wie der ganze Haushalt selber.
({9})
Wie unseriös das Ganze ist, sieht man auch daran, daß heute, am 25. Oktober 1995, wahrscheinlich morgens um halb acht oder um halb neun, dem Finanzminister einfällt: Dort sind noch Einnahmeverbesserungen möglich. Plötzlich fällt ihm das ein. Warum nicht bei Einbringung des Haushaltes? Vor 14 Tagen war das alles noch bestens in Ordnung. Zwei Tage später hieß es: Haushaltssperre über den ganzen Haushalt hinweg. Ich bin sicher, Sie sparen sogar ein. Das gibt er sogar zu.
({10})
- Jetzt noch etwas zu dem Stichwort „Saarland". Eine Sekunde Zeit nehme ich mir noch dafür.
Das Saarland hat im Jahre 1985 von der F.D.P. und der CDU einen Haushalt mit 7,8 Milliarden DM Schulden übernommen. Durch die Zinsentwicklung sind diese Schulden bis zum Jahre 1994 auf 14,5 Milliarden DM aufgelaufen. Das sind Altschulden der CDU im Landtag des Saarlandes. Gott sei Dank ist die F.D.P. dort nicht mehr vertreten.
({11})
Das ist die Wahrheit. Sie können sie gerne viel ausgebreiteter hören. Dazu fehlt mir jetzt die Zeit. Ich sage nur: Es ist eigentlich unzumutbar, von uns zu verlangen, eine seriöse Beratung des Haushaltes zu führen angesichts der Tatsache, die heute hier publik geworden ist.
Noch eines sage ich Ihnen, Herr Finanzminister: Es ist ja nicht so, Herr Kollege Roth, daß das Sache der Koalition wäre. Auf diesem Waigel-Wisch steht ganz schamhaft „BMF", weil er sich nicht getraut hat, „Bundesminister der Finanzen" darüber zu schreiben.
({12})
- Sie müssen eine Ergänzungsvorlage als Kabinettsbeschluß zu Ihrem Haushaltsentwurf machen.
({13})
- Das weiß ich nicht; das kann ich nicht beurteilen. Damais war ich noch nicht in diesem Haus. Sie haben dies jedenfalls bisher nicht gemacht. Wenn die Koalition diesen Wisch übernimmt, übernimmt sie auch die Unseriosität dieses Haushalts.
({14})
Als nächster spricht der Kollege Hans Michelbach.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Fakt ist: Der Arbeitskreis Steuerschätzung mußte seine Prognose korrigieren. Schätzabweichungen, meine Damen und Herren, hat es aber schon immer gegeben. Darauf hat, wie Sie wissen, der Finanzminister gar keinen Einfluß. Hieran sind vielmehr wir alle, auch die Länder, beteiligt. Es hat sich deutlich bewiesen: Der Finanzminister hat die Hosen an,
({0})
er hat die Nerven im Zaum, er hat den Verstand.
Sie versuchen heute, Polemik zu machen, wieder einen Popanz gegen die finanzpolitischen Herausforderungen aufzuziehen, anstatt die Verantwortung zu übernehmen. Sie leben doch in dauerhaftem Selbstwiderspruch!
({1}) Hier kommt der alte Klassenkampf.
({2})
- Hören Sie mir genau zu! - Was ist denn mit den Wohnungen? Hier wird eine Wohnungsprivatisierung schlechtgemacht. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wer hat denn eigentlich den Wohnungsverkauf der Neuen Heimat für 1 DM zu verantworten?
({3})
Daran sollten Sie sich einmal erinnern.
({4})
Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie hier betreiben, ist ein Doppelspiel: auf der einen Seite im Ausschuß, auf der anderen Seite hier in der Fragestunde.
({5})
Das ist eine schlechte Opposition, und Sie nimmt überhaupt keiner mehr ernst. Das muß man Ihnen deutlich sagen.
({6})
Meine Damen und Herren, Sie haben sich schon öfter geirrt. Zu dem Marschzettel, den Sie hochhalten, muß ich Ihnen deutlich sagen: Das ist eine Obersicht von Belastungen und Entlastungen
({7})
- anscheinend sind Sie so nervös, daß Sie gar nicht
zuhören können -, die Sie im Haushaltsausschuß zur
Kenntnis nehmen sollten. Rückschläge bei der Steuerschätzung und Mindereinnahmen muß man sachlich analysieren, anstatt bösartig zu kritisieren. Ursache ist - davon sollten Sie auch einmal reden - die geringe Inflationsrate, ein Anstieg der Verbraucherpreise um lediglich 1,8 %. Das ist doch ein Vorteil für die Verbraucher, für unsere Bürger. Was würden Sie eigentlich sagen, wenn dem nicht so wäre? Was würden Sie sagen, wenn wir höhere Zinsen hätten? Warum reden Sie nicht über die günstigen Zinsen? Warum reden Sie nicht von der stabilen D-Mark? Das sollten Sie auch mal tun!
Sie sollten bei dieser Ursachenerkennung auch über die hohe Inanspruchnahme der Förderung im Osten reden. Die Investitionsangebote in den neuen Bundesländern werden verstärkt genutzt. Das ist positiv. Es ist einfach unmöglich, daß Sie dies hier verteufeln und in den neuen Bundesländern genau das Gegenteil verkünden. Wir sollten gemeinsam froh sein, daß die Einheit vorankommt, daß die Abschreibungssätze genutzt werden. Das ist die Wahrheit!
({8})
Meine Damen und Herren, klar ist, daß wir in dieser Situation natürlich auch neue Handlungserfordernisse haben. Die steuerlichen Einnahmeminderungen werden sicher weitere Anstrengungen erforderlich machen und die Finanzkonsolidierung nicht in Frage stellen.
Meine Damen und Herren, statt Scheingefechte auf Nebenkriegsschauplätzen zu führen, sollten Sie von der Opposition bei der Lösung der vor uns liegenden schwierigen Aufgaben lieber Verantwortung zeigen und keine Blockadepolitik betreiben. Haushaltsblockade ist unverantwortlich.
({9})
Es geht um die Konsolidierung unserer Staatsfinanzen, es geht um eine neue Wirtschaftsdynamik, es geht um mehr Arbeitsplätze. Da sollten Sie Verantwortung übernehmen und nicht herumpolemisieren.
Wer die Wiedervereinigung nicht in einen Zusammenhang mit diesen finanzpolitischen Herausforderungen stellt, der lügt einfach. Deswegen sollte man diesen Zusammenhang deutlich machen.
({10})
Wir müssen erkennen, daß ein symmetrisches Konzept unseres Finanzministers für Stabilität und Entwicklung vorhanden ist und daß es dazu von Ihnen keine Alternative gegeben hat, auch heute nicht. Wo ist die Alternative?
({11})
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen neuen Kraftakt, damit die Neuverschuldung wegen der erwarteten Mindereinnahmen nicht weiter steigt.
Ich rufe Sie dazu auf, daran mitzuwirken. Ich kann Ihnen nur eins sagen: Denken Sie immer an Ihren Herrn Wehner, wenn Sie sich hier in Ankündigungen ergehen, denken Sie an die Ankündigung des Auszugs. Ich kann Ihnen nur sagen: Wer auszieht, der muß auch wieder einziehen.
({12})
Als nächster Redner erhält der Abgeordnete Friedrich Merz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die CDU/CSU-Fraktion ist dies heute ein Tag großer Freude.
({0})
- Sie lachen, bevor Sie überhaupt wissen, was ich sagen will. - Unser Kollege Hans-Peter Repnik hat heute das Große Bundesverdienstkreuz bekommen, und dazu gratulieren wir ihm sehr herzlich.
({1})
So einfach kann man Ihnen eine Freude machen.
Lassen Sie uns einen Augenblick den Versuch unternehmen, die Frage zu stellen: Was für einen Eindruck muß eigentlich ein Zuschauer auf der Tribüne und ein Zuhörer am Radio oder Fernsehen von der heutigen Debatte haben? Ich war heute nachmittag während der Fragestunde im Plenum. Da sitzen im Plenum SPD-Abgeordnete und Kollegen der Grünen aus dem Haushaltsausschuß und machen hier einen großen Budenzauber.
({2})
Zum selben Zeitpunkt informiert der Bundesfinanzminister im Ausschuß genau über die Fragen, die Sie nach dem Motto „Sei klug, und stell dich dumm" stellen.
({3})
Herr Merz, ich unterbreche Sie, weil im Parlament kein „Budenzauber" stattfindet.
({0})
Ich nehme das mit dem Ausdruck des Bedauerns, Frau Präsidentin, zurück.
Ich knüpfe trotzdem an die Darstellung in der Fragestunde an, die hier stattgefunden hat. Da hat die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki auf die Fragen, die von Ihnen gestellt worden sind, geantwortet, und das ist ihr gutes Recht.
({0})
- Ich sage doch gar nichts. Ich sage, das ist ihr gutes Recht, und wenn Sie wollen, auch ihre Pflicht. - Aber die Art und Weise, wie Sie das gemacht haben, die Art der Fragen, die Sie gestellt haben, die völlig aus dem Sachzusammenhang gerissen waren, und die Art und Weise, wie Sie die Staatssekretärin behandelt haben, ist einfach unanständig gewesen, meine Damen und Herren.
({1})
Fällt Ihnen in der ganzen Debatte eigentlich nicht auf, daß Sie nicht ein einziges Mal die Frage gestellt haben, warum dem Staat niedrigere Steuereinnahmen zur Verfügung stehen? Fällt Ihnen eigentlich gar nicht auf, daß Sie nur über die Höhe der Steuereinnahmen und über die Höhe der Ausgaben gesprochen haben? Nein, in diesen Zusammenhängen denken Sie überhaupt nicht mehr. Aber es gibt einen Zusammenhang.
Meine Damen und Herren, Sie holen hier ständig einen Zettel hervor, offensichtlich einen Zettel, der kopiert und hier verteilt worden ist, den Sie im Ausschuß selber gar nicht bekommen haben, weil Sie gar nicht da waren. Dazu will ich Ihnen sagen: Auf einen solchen Zettel kann man eine Menge schreiben. Die Zehn Gebote haben auch nicht mehr Platz, als auf so einem Zettel ist, beansprucht.
({2})
- Daß Sie darüber lachen, ist mir völlig klar. Herr Catenhusen, Sie haben sie wahrscheinlich noch nicht einmal gelesen.
Wenn Sie das nicht beeindruckt, dann folgendes: Die ganze amerikanische Verfassung hat auf nur einer Seite Platz gefunden. Man kann auf einer Seite eine ganze Menge unterbringen.
({3})
Lassen Sie mich eine Schlußbemerkung machen. Ihre Aufregung wird Sie noch einholen, das sage ich Ihnen.
({4})
Sie haben am Dienstag nachmittag in Ihrer Fraktion jemanden wiederbelebt, der uns und Ihnen noch viel Freude machen wird.
({5})
Aber hier werden Ministerpräsidenten von Ihnen regierter Bundesländer auftauchen und große Reden halten. Wenn allerdings das Land Niedersachsen und das Land Saarland, Herr Wagner, selbständige Staaten wären, wären diese Staaten weit davon entfernt, die Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages zu erfüllen, sie wären weit davon entfernt, sich für eine Wirtschafts- und Währungsunion zu qualifizieren. Das ist der wahre Hintergrund. Sie haben in diesen von Ihnen regierten Ländern eine Verschuldung erreicht, die weit über das Maß dessen hinausreicht, was Sie der Bundesregierung ständig vorwerfen.
Deswegen können wir, glaube ich, in aller Ruhe sagen: Nehmen Sie die Beratungen im Haushaltsausschuß auch im Sinne derer, die im Finanzausschuß für die Einnahmenseite zuständig sind, wieder auf, setzen Sie sie fort! Wir sollten am Freitag vom Haushaltsausschuß ein vernünftiges Konzept erhalten, das wir in der ersten Novemberwoche als Bundeshaushalt für das Jahr 1996 verabschieden können. Wir werden es tun.
Vielen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, 26. Oktober 1995, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.