Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Ich wünsche einen guten Morgen.
Ich komme zunächst zu dem, was vereinbart ist. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. Sind Sie mit der Erweiterung einverstanden? Da ich keinen Widerspruch höre, gehe ich davon aus, daß wir es so beschließen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen
- Drucksache 13/34 Hierzu ist keine Aussprache vorgesehen. Wir kommen unmittelbar zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. auf Drucksache 13/34. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 13/35 ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Petra Bläss, Manfred Müller, weiterer Abgeordneter und der PDS
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 13/33 ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
- Drucksache 13/36 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({0})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auch hier ist keine Aussprache vorgesehen. Wir kommen damit gleich zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Antrag der Abgeordneten der PDS auf Drucksache 13/33. Wer stimmt für den Antrag der PDS? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und bei Zustimmung der PDS abgelehnt.
Wir stimmen jetzt ab über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. zur Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 13/35. Wer stimmt für diesen interfraktionellen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag bei Gegenstimmen der PDS angenommen.
Es wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 13/36 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu überweisen. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir setzen jetzt die Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers fort:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers ({1})
Ich erinnere noch einmal daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache sieben Stunden beschlossen haben.
Wir kommen zunächst zu den Bereichen Wirtschaft, Arbeit, Ökologie und Landwirtschaft.
Zur Umweltpolitik liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Wir beginnen mit der Aussprache. Das Wort hat der Ministerpräsident von Niedersachsen, Gerhard Schröder.
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte mich gern mit den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Regierung auseinan158
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({3})
dergesetzt. Indessen: Weder in der gestrigen Regierungserklärung noch in der dieser Regierungserklärung zugrundeliegenden Koalitionsvereinbarung war etwas zu lesen, was der Debatte würdig gewesen wäre.
({4})
Vielleicht sagt der Bundeswirtschaftsminister ja im Anschluß an das, was ich vortragen möchte, was er zur wirtschaftspolitischen Diskussion und zum Handeln beitragen will.
({5})
Zunächst, meine Damen und Herren, fällt eines auf. Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirtschaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruch für andere Häuser benutzt wird.
({6})
Man kann deutlich machen, daß nach Auffassung derer, die diese Entscheidungen getroffen haben, Wirtschaft mit Zukunft offenbar nichts oder nur sehr wenig zu tun hat. Wie anders ist es zu erklären, daß man ein Zukunftsministerium macht, einen Kollegen, der gewiß seine Chance haben muß, damit beauftragt, aber daß die wichtigen Fragen, die die Zukunft der Gesellschaft betreffen, im Wirtschaftsministerium nicht oder an ihm vorbei behandelt werden sollen?
({7})
Ich halte das für fatal. Anstatt dem Wirtschaftsministerium und dem Wirtschaftsminister ein Feld operativer Politik zu geben - sei es z. B. dadurch, daß man dieses Haus mit den Forschungsfragen zusammenbringt, sei es dadurch, daß man harte Infrastruktur sowie Verkehr und Wirtschaft zusammenlegt -, anstatt das zu tun, was vernünftig gewesen wäre, wird dieses Haus der inhaltlichen Kompetenzen mehr und mehr entkleidet. Was das für Wirkungen im internationalen und im nationalen Bereich haben muß, liegt auf der Hand - jedenfalls keine guten.
Aber zu dieser Art, mit dem Wirtschaftsministerium umzugehen, paßt auch das Gerangel um die personelle Besetzung. Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtierenden Wirtschaftsminister umgegangen worden ist.
({8})
Das kann einem wirklich leid tun; denn niemand in der Koalition - in der CDU/CSU nicht und über lange Zeiten auch in der F.D.P. nicht - wollte diesen Wirtschaftsminister. Das war häufig genug zu lesen.
Als man dann auf niemand anderen mehr gestoßen ist, ist man auf eine höchst interessante personelle Lösung verfallen: Man hat den Wirtschaftsminister hingesetzt, hat dann einen Staatssekretär aus dem Bundeskanzleramt dazugesetzt, alles nach dem Motto: Der BDI sagt, was gemacht wird, Herr Ludewig
sagt, warum es gemacht wird, und Herr Rexrodt sagt es der Presse.
({9})
Diesem merkwürdigen Verfahren entspricht auch das, was wir bisher - es kann ja noch etwas kommen; wir freuen uns dann darauf - an inhaltlichen Fragestellungen gehört haben. Zunächst kein Wort über die Frage: Wie soll die Industriegesellschaft in Zukunft organisiert werden?
Es gibt - man kann das nachvollziehen - zwei grundsätzliche Möglichkeiten, Industriegesellschaften zu führen. Sie sind im übrigen nur im Konsens zu führen und zu organisieren. Auf der einen Seite gibt es Länder, die einen Konsens im sozialen Verzicht der breiten Massen haben. Auf der anderen Seite gibt es das, was bei uns immer selbstverständlich war, nämlich einen Konsens in der sozialen Teilhabe.
Wichtig wäre nun gewesen, zu hören, ob dieses Zukunftsmodell, Konsens in der sozialen Teilhabe, nach Ihrem Willen für die nächsten vier Jahre gelten soll und was das im einzelnen bedeutet oder ob Sie den Liberalen folgen wollen und mehr und mehr den Konsens in der sozialen Teilhabe der breiten Massen abbauen wollen und ihn durch einen aufgedrückten Konsens im sozialen Verzicht ersetzen wollen.
Wer sich die gestrige Rede, die der Bundeswirtschaftsminister vor dem Außenhandelsverband gehalten hat, anschaut, der findet eine einzige substantielle Aussage, nämlich die: Die Löhne müssen herunter. Meine Damen und Herren, dies sagt der Mann in einer Situation, in der wir seit Jahren Reallohnverzichte der arbeitenden Menschen zu beklagen haben, in der der Lebensstandard dieser Menschen, um die Sie sich ja angeblich kümmern wollen, kontinuierlich gesunken ist, was erhebliche soziale Probleme bei gleichzeitig steigenden Mieten und anderen Abgaben mit sich brachte.
Aber mehr noch: Es ist nun einmal so, daß Massenkaufkraft nicht nur eine soziale Größe ist, nein, sie ist auch eine ökonomische.
({10})
Ohne daß ich wieder in einen Verdacht von Einseitigkeit geraten will: Es bleibt dabei, Autos kaufen keine Autos. Deshalb ist es vernünftig, wenn man auch darüber nachdenkt, was denn die Massenkaufkraft für die Stabilisierung der Binnenkonjunktur bedeutet. Daß die Binnenkonjunktur immer noch entgegen allen Reden über Aufschwung in Schwierigkeiten ist, das zu bestreiten wagt niemand mehr. Wer sich anschaut, was z. B. gerade in Amerika an wirtschaftlichen Verwerfungen vorhanden ist oder bevorsteht, der muß ja doch wohl Bedenken haben, wenn der Aufschwung, den wir Gott sei Dank in wichtigen Bereichen haben, allzu sehr oder nur exportgestützt ist und auf dem Binnenmarkt immer noch relativ wenig los ist. Deswegen will ich vom Bundeswirtschaftsminister gern hören, was er denn tun will, um die Binnenkonjunktur zu stabilisieren
({11})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({12})
- wahrscheinlich -, was er denn tun will, um in wichtigen industriellen Bereichen das, was es an Arbeitsmöglichkeiten gibt, zu erhalten und auszubauen.
({13})
Es ist ja wahr - darauf ist hingewiesen worden, auch in der gestrigen Debatte -, daß wir Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben, und zwar mehr, als zugegeben worden ist, und daß das natürlich mit der Tatsache zu tun hat, daß die herkömmliche industrielle Produktion mehr und mehr jetzt nicht mehr in Länder der Dritten Welt oder nach Asien ausgelagert wird, sondern direkt vor die eigene Haustür, nach Polen und Tschechien, Industriegesellschaften mit einer ungeheueren, wichtigen und richtigen Tradition, die uns Probleme macht. Die Antwort darauf, die ich in verschiedenen Zeitungsinterviews vom Bundeswirtschaftsminister gelesen habe, ist: Löhne herunter, weil sonst die Produktion ausgelagert wird. Ich frage: Was soll man davon halten? Glauben Sie, Herr Rexrodt, wirklich, Sie könnten die Auslagerung dieser Produktion dadurch verhindern, daß die Deutschen auf das Lohnniveau von Polen oder Tschechien zurückfallen? Glauben Sie das ernsthaft?
({14})
Meine Damen und Herren, ich möchte wissen, was Sie tun wollen, um z. B. in den Branchen, in denen eine Auslagerung möglich und wahrscheinlich ist, wenigstens zu erreichen, daß die Produktion mit hohem Wertschöpfungsanteil - da liegt unsere Chance - in der Bundesrepublik verbleibt, während wir hinzunehmen haben werden, daß die herkömmliche industrielle Produktion in der Tat auch dorthin geht, nicht zuletzt deshalb, weil nur so kaufkräftige Märkte aufgebaut werden können, die uns neue Exportchancen eröffnen oder aber erhalten.
({15})
Im übrigen: Wer über Zuwanderung redet, der muß wissen, daß er, wenn er die Arbeit nicht zu den Menschen bringt, damit rechnen muß, daß die Menschen zu uns kommen.
({16})
Ich wüßte ganz gern von der Bundesregierung, was sie denn tun will, um diesen Prozeß im Dialog mit den Branchen sinnvoll zu steuern, ihn jedenfalls nicht willkürlich ablaufen zu lassen.
Zweite Frage: Es gibt eine Debatte über die Energiepolitik. Niemand wird bestreiten, daß die Frage, wie wir unsere Energieproduktion organisieren, eine der zentralen Fragen deutscher Wirtschaftspolitik ist. Ich habe gestern nun gehört, was man will. Man hat gesagt, es soll weiter so gehen. Anders ausgedrückt: Wir halten an dem angeblich bewährten Drittelmix in der Energiepolitik fest, also auch an der Kernenergie. Ich halte dieses Festhalten nicht nur für energiepolitisch problematisch, sondern für ökonomisch gefährlich.
({17})
Ich will mit der Erlaubnis der Frau Präsidentin aus einer Meldung von gestern zitieren:
Gefahr schwerer Störfälle in 20 osteuropäischen Atomkraftwerken.
Auch 8 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine besteht in mindestens 20 älteren Kernkraftwerken in Osteuropa weiterhin die Gefahr schwerer Störfälle bis hin zur Kernschmelze.
Meine Damen und Herren, der das sagt, ist nicht ein Kernenergiegegner aus Gorleben und anderswo, sondern ist Herr Birkhofer, der Geschäftsführer der Gesellschaft für Reaktorsicherheit, wahrlich jemand, den man nicht in die Ecke ideologischer Verbohrtheit stellen kann. Was sagt er eigentlich damit? Er sagt: Was immer im eigenen Land an Sicherheit geleistet worden ist und nicht passieren mag - mehr kann man ja nicht, als darauf hoffen -, dort wird in den nächsten zehn Jahren bis hin zu dem, was wir in Tschernobyl hatten, etwas passieren. So seine Voraussage, seine Prognose.
Wenn das aber so ist, nutzen Sicherheitsstandards in Deutschland überhaupt nichts. Wenn das so ist, wird das Akzeptanzproblem dieser Form der Energieproduktion nicht geringer, meine Damen und Herren, sondern massiv größer.
({18})
Wenn das Akzeptanzproblem massiv größer wird, ist das nicht nur ein gesellschaftspolitisches, nein, auch ein ökonomisches Datum. Ein ökonomisches Datum deshalb, weil in dem Moment, wo die Menschen mit einer erneuten Katastrophe von der Größenordnung von Tschernobyl konfrontiert werden, alles Reden über Bewährtes oder Nichtbewährtes nicht einmal mehr nutzt. Die Menschen werden den Ausstieg erzwingen, und das in einem Tempo, das dann, wenn wir nicht Vorsorge treffen, zu ökonomischen Verwerfungen führt, von denen bisher gar keiner eine Ahnung hat.
({19}) Das ist das Problem.
Daraus ist die alleinige Schlußfolgerung zu ziehen, daß wir jetzt mit dem Umbau des Energieversorgungssystems beginnen müssen, jetzt, wo wir noch Zeit haben, weil wir nicht wissen, wie lange wir noch Zeit haben werden.
({20})
Ausstieg, Umbau des Energieversorgungssystems, ist also nicht nur eine Forderung, die man in die Gefilde der Ideologie verweisen könnte oder dürfte, nein, ist eine Forderung von hoher ökonomischer Vernunft.
Wenn man daran geht, muß man dabei allerdings wissen - das sage ich durchaus selbstkritisch, was die Beschlüsse der eigenen Partei, auch die eigenen Beschlüsse, angeht , daß man beim Umbau dieses Energieversorgungssystems mutmaßlich mehr Zeit braucht, als viele bereit sind sich zu geben. Das ist wahr. Aber die Tatsache, daß man für den Umbau
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({21})
eines Energieversorgungssystems mehr Zeit braucht, darf nicht dazu führen, daß man es gar nicht erst anpackt.
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Es ist wohl wahr: Wer heraus will, muß auch sagen, in welche Energiezukunft er hinein will. Aber, meine Damen und Herren, das ist ja hundertmal gesagt und aufgeschrieben worden. Die Partner in der Industrie, in den Naturschutzverbänden und in anderen Bereichen stehen gewiß kritisch, aber durchaus bereit, die breite gesellschaftliche Debatte über einen neuen Energiekonsens zu führen.
Nur, meine Damen und Herren, was soll das für ein Konsens mit denen sein, die eine andere Energiezukunft wollen, wenn Sie am Anfang solcher Gespräche schlicht erklären: Es bleibt alles beim alten?
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Dann brauchen wir ja nicht zu reden. Entweder es wird über ein neues Energieversorgungssystem geredet, oder Gespräche sind völlig überflüssig.
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Sie werden sich zu entscheiden haben, ob Sie - und das lehrt die Erfahrung der vergangenen Gespräche - z. B. beim Energiesparen mehr anbieten wollen als jene substanzlosen Sätze, die Sie, Herr Rexrodt, bei den letzten Gesprächen auf den Tisch gelegt haben.
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Mehr anbieten wollen heißt dann auch, meine Damen und Herren, daß man das finanzieren wollen muß. Das kostet Geld. Sie müssen deutlich sagen, an welchen Stellen in Ihrem Haushalt Sie was für die Zukunftsaufgabe Energiesparen ausgeben wollen. Bislang habe ich leider kein Wort dazu gehört außer allgemeinen Appellen an die beteiligte Industrie und an die Verbraucher, die weiter sind, als die Bundesregierung ist. So kann es nicht gehen. Energiesparen wird die Schlüsselressource künftiger Energieproduktion sein.
Ein Zweites. Wir wollen wissen, was mit regenerierbaren Energien ist, also mit Sonnenenergie und sonnenabgeleiteten Energieträgern.
({26})
- Natürlich in Niedersachsen. Wo anders, wenn es um Wind geht?
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- In Bayern hinter den Bergen ist es mit der Windenergie schwierig. Das weiß ich sehr wohl. Auf den Bergen mag es gehen.
Ich wollte also sagen: Wir wollen wissen, was Sie für die Förderung regenerierbarer Energieträger ausgeben wollen, und wir wollen dann tatsächlich eine
solide Finanzierung deutscher Steinkohle und Braunkohle auf den Tisch gelegt haben.
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Bislang haben Sie, was diese Frage angeht, deren Lösung langfristig geplant werden muß, keinerlei Angaben von einigem Wert gemacht. Das halte ich für außerordentlich bedauerlich.
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Was die Energiefrage angeht, ist die Entsorgung vollständig ungelöst. Da werden zu Demonstrationsoder was weiß ich zu welchen Zwecken noch völlig überflüssigerweise Behälter mit abgebrannten Brennelementen quer durch die Republik transportiert,
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die Akzeptanz von Energiepolitik weiter reduziert, die Möglichkeit rationalen Umgangs mit der Entsorgungsfrage gegen Null gebracht. Niemand weiß oder kann rational ergründen, welcher Sinn und Zweck dahintersteht. Auch die meisten Energieversorger wissen es nicht. Gleichwohl werden Länderregierungen gegenüber, die auf Gefahren bei der Lagerung und beim Transport hinweisen, Weisungen erteilt, die sie dann beachten müssen. Das ist eine Art und Weise des Umgangs in dieser entscheidenden Frage, die schlicht nicht mehr nachvollziehbar ist
({31})
und die natürlich jeden Konsens, den es geben könnte, von Anfang an belastet.
Was auf diesem Gebiet gegenwärtig versäumt wird, stinkt im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Was an Vertrauen von Menschen in die Funktionstüchtigkeit unserer Industriegesellschaft und der politischen Institutionen zerschlagen wird, ist - machen Sie sich da nichts vor! - ebenso gewaltig. Deswegen fordere ich Sie auf, mit dieser unsinnigen Art, in einem der wichtigsten wirtschaftlichen Bereiche umzugehen, endlich aufzuhören und zu einer Linie der Vernunft zurückzufinden.
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Eine Linie der Vernunft ist übrigens auch gefragt, was andere Beteiligte angeht. Ich sage hier genauso deutlich: Es ist in einer zivilisierten Gesellschaft unmöglich, wenn Manager von Industriebetrieben auf Riesenplakaten persönlich abgebildet und gleichsam an die Wand gestellt werden, wie das mit Herrn Kuhnt vom RWE geschehen ist. Ich hoffe, daß die Leute von Greenpeace begreifen, daß man eine in dieser Art personalisierte Auseinandersetzung bei uns nicht führen darf,
({33})
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({34})
weil sich davon Idioten zu Handlungen aufgerufen fühlen könnten, die wir dann alle zu beklagen haben. Das darf nicht sein.
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Das schadet einem rationalen Dialog ebenso wie die Betonkopfhaltung auf der rechten Seite dieses Hauses.
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Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Die Probleme sind lösbar, aber nicht so, wie das gegenwärtig ins Auge gefaßt wird.
Ich habe einen dritten Punkt. Mein Kollege Herr Lafontaine und auch Herr Fischer haben gestern darauf hingewiesen, daß wir der Debatte um die Ökologisierung des Steuersystems nicht ausweichen dürfen. Ich habe Verständnis für all diejenigen, die sagen, man könne diese Debatte ebensowenig übers Knie brechen. Das ist wahr. Aber wenn wir sie nicht jetzt beginnen - in der Wirtschaft ist sie längst im Gange , dann können wir z. B. nicht festlegen, was wir aber müssen, welche Branchen, welche Sektoren in welchen Regionen, was ihre Wettbewerbsfähigkeit angeht, von der Veränderung des Steuersystems negativ tangiert werden könnten. Das müssen wir aber wissen.
In der Tat ist es so, daß die Besteuerung der Ressourcen und damit auch der Energie z. B. für die Grundstoffindustrien in Deutschland und damit für die Arbeitsplätze in diesem Bereich Folgen haben wird. Aber deshalb der Debatte auszuweichen, wie Sie es tun, ist natürlich das Verkehrteste, was man machen kann. Anstatt eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie und in welchen Zeiträumen man diesen Wettbewerbsverzerrungen - und das geht - entgegentreten kann, die durch die Ökologisierung des Steuersystems entstehen, machen Sie gar nichts auf diesem Sektor.
({37})
Ich prophezeie, meine Damen und Herren: Wenn wir uns dieser Zukunftsaufgabe nicht gewachsen zeigen, dann werden wir nicht nur ein hinterwäldlerisches Steuerrecht behalten oder bekommen; nein, wir werden auch auf dem Arbeitsmarkt viele Chancen, die wir uns erwerben könnten, verpassen. Die Ökologisierung des Steuersystems - natürlich in Schritten - hat eine Steuerungswirkung in die Wirtschaft hinein und schafft in den Bereichen, in denen die Deutschen Gott sei Dank Weltmarktführer sind, nämlich auf dem Sektor der Umweltprodukte, neue Wettbewerbs- und damit neue Arbeitsmöglichkeiten. Wir sollten sie nutzen.
Wenn schon von Zukunft die Rede ist, dann ist das eines der Zukunftsthemen, dem wir uns stellen müssen und zu dem jetzt endlich auch von Ihrer Seite substantielle Beiträge kommen müssen; wohlgemerkt vor dem Hintergrund, daß es dabei auch und immer um Wettbewerbsfähigkeit im europäischen, im internationalen Maßstab geht. Aber den Kopf in den Sand zu stecken, so wie Sie es tun, ergibt keine Politik und schon gar keine gute Zukunft.
({38})
Ich will noch einen Punkt nennen, der mich - das mag man mir verzeihen - besonders interessiert. Ich habe gestern sehr interessiert zugehört, als die Debatte um das Fünfliterauto - die große umweltpolitische Forderung der Union bzw. des Bundeskanzlers - hier lief. Ich will in aller Bescheidenheit daran erinnern, daß es ein mittelständisches Unternehmen in der Nähe von Wolfsburg gibt, das dieses Auto längst produziert.
({39})
- Natürlich haben die einen guten Aufsichtsrat. Einer steht hier. Das ist ja ganz klar.
({40})
Meine Damen und Herren, ich frage mich gelegentlich, ob diejenigen, die jetzt die Forderung nach einem Fünfliterauto formulieren, nicht erkennen können bzw. nicht wollen, daß es das längst gibt. Sie haben allerdings eine fatale Sache gemacht. Es handelt sich um einen Einspritzdiesel. Sie aber haben die Dieselmotoren gegenüber den Benzinmotoren steuerlich benachteiligt.
({41})
Mit dieser Hypothek indessen müßten Sie leben. Die müßten Sie erst einmal abtragen, dann nehmen Sie zur Kenntnis, daß es ein Fünfliterauto gibt, und dann versuchen wir miteinander und mit der beteiligten Industrie, ein Schrittehen weiterzugehen, denn bei einem Fünfliterverbrauch darf es nicht bleiben. Es soll schon zu einem Dreiliterauto kommen, meine Damen und Herren, und das ist auch möglich.
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Im übrigen: Was auch dort die Forderung angeht, die Binnenkonjunktur zu stabilisieren, so könnten Sie eine Menge nachlegen. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich bin gern bereit, Ihnen die Studie von Roland Berger zu überreichen, in der festgestellt wird, daß die bereits häufig diskutierte Abwrackprämie in Deutschland - auf ein Jahr befristet; ab 1. Januar nächsten Jahres eingesetzt - in der Tat zu einer gewaltigen Stabilisierung der Binnenkonjunktur führen und damit Arbeitsplätze in den betroffenen Unternehmen sichern würde.
({43})
- Das hat nichts mit Subventionen zu tun.
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- Auch Sie können das einmal lesen. Ich will es Ihnen gerne geben.
Diese Art von Förderung der Binnenkonjunktur würde sich über die Einnahmen des Staates aus der Mehrwertsteuer von selbst finanzieren. Die Leute, die das untersucht haben, sind intellektuell und politisch
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({45})
viel weiter als Sie, und das ist das Problem dieser Regierung.
({46})
In all den Bereichen, die substantiell und hinsichtlich der mittleren und ferneren Zukunft mit Wirtschaft zu tun haben, war Fehlanzeige. Sie haben das Wirtschaftsministerium demontiert und den Wirtschaftsminister gleich mit. Die Frage ist doch: Wer soll Ihren Parteien auf diesem Gebiet eigentlich noch irgend etwas abnehmen, wer soll Sie noch ernst nehmen? Ich denke, niemand. Sie wissen das auch ganz genau, jedenfalls der größte Teil von Ihnen. Sonst wären die Widerstände hinsichtlich der Berufung von Herrn Rexrodt nicht erklärbar.
Wie Sie aber in einer immer noch bestehenden Krisensituation mit einem so demontierten Wirtschaftsministerium und einem so demontierten Wirtschaftsminister zurechtkommen wollen, wie Sie den Menschen draußen erklären wollen, daß Sie vor diesem Hintergrund für Wirtschaft und Arbeit einstehen, bleibt nicht nur mir schleierhaft.
({47})
Dies ist die vorletzte Bemerkung, die ich machen möchte: Ich habe gestern aufmerksam zugehört und war erstaunt darüber, in welcher Weise hier die arbeitszeitverkürzenden Entscheidungen großer und mittlerer Unternehmen in unserem Land diffamiert worden sind.
({48})
Meine Damen und Herren, unser Problem ist doch, daß die deutsche Industrie in allen Bereichen um jeden Preis ihre Produktivität steigern muß. Dies, nämlich Produktivität steigern und Produktivitätssprünge um 20 und mehr Prozent, heißt aber, daß wir bei dem jetzt prognostizierten Wachstum von 3 % nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze haben werden. Mit der von Ihnen angekündigten Initiative werden Sie das Fehlen dieser Arbeitsplätze niemals ausgleichen können. Folglich dürfen Sie nicht wieder einmal kreative Arbeitszeitmodelle diffamieren. Sie müssen sie unterstützen.
({49})
Was hindert Sie eigentlich, ja zu einer Initiative z. B. von Volkswagen zu sagen, die so aussieht: Wir haben einige tausend Auszubildende, aber eigentlich keinen Bedarf an Arbeitskräften? Die logische und übliche Folge wäre, diese Auszubildenden nicht zu übernehmen. Damit würden sie schon am Anfang ihres Arbeitslebens mit Arbeitslosigkeit konfrontiert werden. Wenn dies so geschieht, braucht man sich nicht über die dann entstehende politische Destabilisierung zu wundern.
({50})
Was haben wir also gemacht? Wir können auf Grund einer betriebswirtschaftlichen Notwendigkeit keinen Vollarbeitsplatz anbieten. Aber wir bieten einen 20Stunden-Vertrag an, so daß sie langsam in ein Vollarbeitsverhältnis hineinwachsen. Parallel dazu scheiden die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schrittweise aus. Sie nennen das Stafette. Dies ist ein hochinteressantes Modell, das ich gern von Norbert Blüm unterstützt hätte.
({51})
Seine Ankündigungen weisen aber genau in die andere Richtung.
(
Das ist überhaupt nicht wahr!)
So sagte er gestern, daß diejenigen, die über 55 Jahre alt sind, dies selbst bezahlen sollen. Die Großunternehmen könnten es sich leisten, diesen Menschen durch Zusatzleistungen einen auskömmlichen Unterhalt zu verschaffen. Die kleinen Unternehmen könnten dies nicht. Das sei ungerecht.
Ungerecht ist dies. Aber der Schluß, der daraus gezogen wird, ist natürlich falsch. Was wird die Folge dieses Verfahrens sein? Die Folge wird sein, daß die großen Industriebetriebe nicht mehr nach der 55Jahre-Regelung verfahren. Die weitere Folge wird sein, daß die jüngeren Menschen arbeitslos und die älteren Menschen länger beschäftigt werden.
({0})
Dies kann in einer Krisensituation keine vernünftige Arbeitsmarktpolitik sein. Dies gibt im übrigen auch ökonomisch keinen Sinn.
({1})
Dies gibt ökonomisch deshalb keinen Sinn, weil die Menschen, die beschäftigt werden wollen, die Kreativsten und Beweglichsten sind. Dies ergibt sich nun einmal so auf Grund des Alters. Diese lassen Sie durch eine Politik außen vor, die ich wirklich nicht mehr nachvollziehen kann.
Meine letzte Bemerkung: Es ist viel über einen schlanken Staat gesprochen worden. Ich habe - bitte entschuldigen Sie - deshalb gelächelt, weil dies der Bundeskanzler gesagt hat. Ich saß seitlich von ihm und habe mir vorgestellt, daß dies der Repräsentant des schlanken Staates ist.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der PDS -
Sie sind sehr geistreich heute morgen!)
Ich hatte einige Schwierigkeiten, Herr Bundeskanzler.
Aber jenseits dessen besteht über das Ziel durchaus Einigkeit.
({0})
- Nicht mehr, das ist wahr. - Nur müssen wir uns
vielleicht dann auch darauf einigen, wie wir das denn
machen wollen. Da wüßte ich gern ein Wort des
Ministerpräsident Gerhard Schröder ({1}) Bundesinnenministers zu der, Frage, wie das Beamtenrecht in Zukunft aussehen soll.
({2})
Er ist wahrscheinlich in Hessen und versucht da wohl - aussichtslos, glaube ich - noch ein paar Stimmen zu sammeln.
Ich wüßte aber gern ein Wort dazu: Sollen die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums weiterhin jede Reformmöglichkeit behindern, oder wollen wir das miteinander ändern? Ich kenne einige Grundgesetzkommentare, die wahre Elogen auf die Segnungen des Berufsbeamtentums geschrieben haben, Herr Scholz, wahre Elogen. Sind Sie denn nun bereit, mitzumachen und zu sagen: Da müssen wir heran; was da an Sicherungen eingebaut worden ist, ist inflexibel und ökonomisch unvernünftig?
({3})
Dazu würde ich gern etwas hören, aber konkret, meine Damen und Herren.
Zweitens. Ich glaube, solange wir - wir übrigens
auch -, unter welchem Druck auch immer, beim Schreiben und Machen von Gesetzen nicht überlegen, welche personellen Folgen das in den Ländern und Gemeinden hat, wird es auch nicht besser.
Drittens. Mein Eindruck ist, daß die ganze Debatte über die angebliche Notwendigkeit, Beteiligungsverfahren der betroffenen Bürgerinnen und Bürger möglichst wieder kaputtzumachen, in die falsche Richtung geht. Die Anstrengungen in der Bildungspolitik haben es nun einmal mit sich gebracht, daß die Menschen im Lande nicht mehr alles mit sich machen lassen, was ihre Obrigkeit so gern hätte. Also ist Einsicht und Einsicht ist die Folge von Beteiligung - das Prinzip. Nicht Anordnen, sondern Kooperation führt dazu, daß Entscheidungen schneller getroffen werden, führt dazu, daß sie ökonomisch vernünftiger umgesetzt werden und daß ein Stückchen Zukunftsfähigkeit gewonnen werden kann.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Mein Eindruck ist, daß aus guten Gründen in der Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers über Wirtschaft wenig zu lesen und zu hören war, aus guten Gründen deshalb, weil Sie in der Substanz nichts mehr anzubieten haben und personell nun im wahrsten Sinne des Wortes ausgedörrt sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit
({4})
Als nächster spricht Herr Kollege Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn jemand wie Herr Ministerpräsident Schröder vom Fünfliterauto spricht, dann denken alle Leute an den Hubraum. Denn es gibt selten Politiker, bei denen Worte und
Taten so weit auseinandergehen wie bei Ihnen, Herr Schröder.
({0})
Ich bin sicher, daß Sie mit einer großen Luxuslimousine hierhergekommen sind, um hier Ihre Antrittsrede als einer der Führer der Opposition zu halten. Sie wollen ja im Grunde den Problemen in Ihrem Land davonlaufen, geben vor, die Probleme der Bundesrepublik lösen zu können, obwohl Sie die Probleme Niedersachsens nicht lösen können. Das ist die Tatsache.
({1})
Auch ich war auf die Argumente und die besseren Rezepte des Herrn Schröder sehr gespannt. Ich habe keine gehört. Ich werde aber gern die Rede noch einmal nachlesen und versuchen, dann welche zu finden. Denn es kann ja passieren, daß man beim Zuhören hier das eine oder andere nicht so hört, weil es eben solche Krakeeler wie Sie gibt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe mir vorher noch einmal angesehen, was in Niedersachsen vor der Wahl alles versprochen worden ist. Es ist versprochen worden, daß Hochschulen ausgebaut werden. Herr Schröder kürzt den Hochschuletat, er kürzt die Wohnungsbauförderung, er kürzt beim Krankenhausbau, er kürzt beim Kindergartenbau, und er gibt kein Geld mehr für neue Projekte.
Ich war im Wahlkampf in Niedersachsen, um mich da ein bißchen umzuschauen. Dort hat man auch der Polizei gesagt: Spart Sprit! Fahrt nicht mehr soviel in der Gegend herum! - Am liebsten würde man anordnen, daß die Polizei gebrauchtes Benzin verwendet, wenn sie sich überhaupt noch sehen läßt.
({3})
Und deswegen auch das Fünfliterauto.
Ich kann nach dem Motto „Wärst du doch in Düsseldorf geblieben" nur sagen, Herr Schröder - so würde es in Niedersachsen vielleicht heißen -: Wären Sie doch in Oldendorf oder Ochsendorf oder wo immer geblieben! Hier in Bonn jedenfalls werden Sie nicht gebraucht.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben uns bei den Koalitionsverhandlungen sehr eingehend mit den Problemen unserer Wirtschaft befaßt.
({5})
Wir wissen auch, daß wir für die Zukunft wieder den Weg einschlagen müssen, der nach dem Regierungswechsel 1982 ungeheuer erfolgreich gewesen ist, nämlich den Weg der dauerhaften Rückführung der Staatsquote und der Verbreiterung des privaten Korridors unter Zurückdrängung des öffentlichen Korridors. Wir wissen alle, daß wir die einmaligen Heraus164
forderungen unserer Wiedervereinigung vorübergehend durch mehr Staat in den Griff bekommen haben. Aber wir müssen jetzt wieder einen anderen Weg gehen.
Zehn Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen heute unmittelbar von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ab, d. h. ein Großteil unseres Lebensstandards wird vom Erfolg der deutschen Wirtschaft auf den internationalen Märkten bestimmt. Der Kampf wird zunehmend härter. Andere werden immer besser. Sie haben Länder vor unserer Haustür genannt, Herr Ministerpräsident: Tschechien, Ungarn, Polen. Aber auch die südostasiatischen Länder machen uns zunehmend Konkurrenz nicht nur auf den Weltmärkten, sondern infolge der offenen Grenzen auch auf unseren Märkten.
Unsere Exporterfolge sind Erfolge eines engen Ineinandergreifens von Erziehung, Ausbildung, Qualifikation, Innovation, von Staat, von Familie, von Unternehmen und auch der Schule. Alle diese Dinge müssen natürlich in der Bundesregierung gebündelt werden. Das muß nicht alles unter das Dach eines Ministers kommen, wie Sie es gefordert haben.
Ich bin der Meinung, daß wir die Standortdebatte, die von der CDU/CSU angestoßen worden ist, weiterführen müssen. Es ist eine fortlaufende Notwendigkeit. Diese Standortdebatte darf sich nicht nur auf spezifische wirtschaftspolitische Fragen konzentrieren. Weniger Staat in der Wirtschaft, aber natürlich ein starker Staat z. B. bei der inneren und äußeren Sicherheit, eine familienfreundliche Gesellschaft - all dies sind ungeheuer wichtige Elemente des Zukunftsstandortes Deutschland. Sicher müssen Kreativität und Veränderungsbereitschaft gefördert werden, und das kostet auch manchmal Arbeitsplätze, rettet aber natürlich ganze Branchen.
Ich habe auch mit großem Interesse die Debatte bei Daimler Benz mit verfolgt und habe jetzt gelesen, daß man mit 40 000 Mitarbeitern weniger fast die gleiche Produktionsleistung wie in der Vergangenheit erbringen kann. Die Frage ist, was mit den anderen Menschen geschieht, wo sie Arbeit und Brot finden. Deswegen müssen wir auch die Dienstleistungen bei uns im Land stärker ausbauen. Wir haben hier gegenüber vergleichbaren Industrieländern ein Defizit.
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Wir sind uns auch durchaus darüber im klaren, daß der tiefgreifende Strukturwandel durch den begonnenen Aufschwung keineswegs bewältigt ist. Ich bin mit Ihnen einer Meinung, daß es falsch wäre, die Hände jetzt in den Schoß zu legen. Wir müssen auch die Subventionen und Hilfen des Staates weiter auf den Prüfstand stellen.
So bin ich der Meinung, daß in den neuen Bundesländern inzwischen ein Wildwuchs von Förderungen entstanden ist, der überprüft und da, wo es möglich ist, zurückgeführt werden muß. Auch hier hat es - das ist ganz selbstverständlich - eine unterschiedliche Entwicklung in den verschiedenen Teilen der neuen Länder gegeben.
Wir müssen den konjunkturellen Aufschwung nutzen, um, wie gesagt, den Strukturwandel zügig voranzutreiben, sonst laufen wir Gefahr, daß bei der nächsten Konjunkturschwäche eine noch tiefere Rezession kommt.
Wichtige Voraussetzung zur Stärkung der Aufschwungkräfte ist die konsequente Fortsetzung der soliden Finanzpolitik, so wie sie Theo Waigel in den letzten Jahren gestaltet hat. Eine erfolgreiche Ausgabenbegrenzungspolitik und eine stabile D-Mark sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können.
({7})
Ich finde, es ist ein ungeheuer positives Signal
- auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland -, daß es in diesem Jahr gelingt, die vorgesehene Neuverschuldung um 10 Milliarden DM zu unterschreiten. Die geringere Inanspruchnahme durch den Bund entlastet die Finanzmärkte und stärkt das internationale Vertrauen in die D-Mark.
Wir brauchen aber selbstverständlich mehr Mut, Kreativität und Veränderungsbereitschaft für die Zukunft. Ich weiß, daß zu allen Zeiten neue gesellschaftliche und technische Entwicklungen auf Widerstand gestoßen sind. Ich habe mir erzählen lassen, daß es nicht nur Widerstand gegen den Transrapid gibt, sondern daß es schon bei der ersten Autobahn von Nürnberg nach Fürth Widerstände gegeben hat.
({8})
- Eisenbahn. Entschuldigung, da habe ich mich versprochen, Herr Struck.
({9})
- Nehmen Sie mir bitte ab, daß ich es gewußt habe. Ich entschuldige mich ausdrücklich bei Ihnen für den Versprecher.
({10})
Neue Entwicklungen müssen mutig angepackt werden. Die Angst ist zu allen Zeiten ein schlechter Ratgeber gewesen.
({11})
Das gilt auch, Herr Ministerpräsident - deswegen bin ich sehr dankbar, daß Sie das angesprochen haben -, für die Energiepolitik. Wenn wir den Menschen vor den sichersten Kernkraftwerken der Welt - und die stehen in der Bundesrepublik Deutschland - angst machen, dann sind wir, was die Akzeptanz moderner Technologien anbelangt, schlecht beraten.
({12})
Ich bin der Meinung, daß wir auch unsere Mitbürger nicht im unklaren lassen dürfen, daß neue Technologien neue Risiken bedeuten. Ich bin der festen Oberzeugung, daß es eine ungeheuer wichtige Aufgabe ist, Risiken zu minimieren und beherrschbar zu machen. Chancen und Risiken müssen aber immer nüchtern und emotionsfrei gegeneinander abgewogen werden. So bedeutet z. B. die Gentechnologie zum einen
insbesondere beim Kampf gegen Krebs oder gegen Aids Hoffnung, sie eröffnet zum anderen neue Möglichkeiten der umweltschonenden Landbewirtschaftung und hilft beim Kampf gegen Hunger in der Dritten Welt.
Sollen alle diese Entwicklungen außerhalb Deutschlands stattfinden? Wir sind der Meinung, daß wir uns daran beteiligen müssen. Deshalb wollen wir, daß die Anstrengungen, in Deutschland neue Beschäftigungschancen zu erschließen, in Zukunft noch verstärkt werden.
({13})
Es wird niemals möglich sein, null Risiko und 1 000 % Gewinnchance unter einen Hut zu bringen. Das gibt es nicht. Das gibt es höchstens im Märchen.
Der Energieverbrauch der Industriestaaten und insbesondere der Wachstumsregionen Asiens, die ungeheuer viel Energie zusätzlich verbrauchen werden, kann nicht ohne Kernenergie gedeckt werden, außer - das ist nach bisherigen Erkenntnissen die einzige Alternative - durch eine ungeheure Erhöhung der Kohleverstromung. Im übertragenen Sinn würde das bedeuten, daß die Welt an Kohlendioxid erstickt.
({14})
Deutschland verfügt über die beste Sicherheitstechnik und über eine weltweit führende Hochtechnologie bei der Kerntechnik. Wir haben die sichersten Kernkraftwerke der Welt. Wir wollen unsere Sicherheitsphilosophie und unsere Sicherheitstechnologie auf die unsicheren Kernkraftwerke um uns herum übertragen können.
({15})
Das können wir nicht, wenn wir aussteigen, wenn wir die Kenntnisse und das Know-how deutscher Ingenieure verkommen lassen. Das können wir doch nur erhalten, indem wir uns auch in Zukunft am Kernkraftbau beteiligen, ganz abgesehen davon, daß es dadurch neue und gute Arbeitsplätze auch in unserem eigenen Land gibt.
({16})
- Vor allen Dingen auch in Bayern. Ich nehme diesen Zwischenruf gern auf. Wir sind stolz auf unsere hochtechnologischen Arbeitsplätze. Viele andere Bundesländer schauen deswegen zu Recht mit Neid auf Bayern.
({17})
Ein Satz muß mir noch erlaubt sein: Die Damen und Herren in der Mitte sind zum großen Teil neu im Deutschen Bundestag. Sie sind auch neu in der deutschen Politik. Ich darf darauf hinweisen, daß diese Entwicklung in Bayern nicht zuletzt dadurch eingetreten ist, daß Bayern zu allen Zeiten, bis auf eine
kleine Unterbrechung, eine wirklich gute und vernünftige politische Führung gehabt hat
({18})
und daß wir auch gern bereit sind - das ist Aufgabe der CSU-Landesgruppe hier in Bonn -, etwas zur wirtschaftspolitischen Weiterbildung beizutragen.
Es wird wohl niemand bestreiten, daß es auch - damit komme ich zu Bayern - im Bereich der Luft- und Raumfahrt und in der Wehrtechnik um Tausende von Hochtechnologiearbeitsplätzen geht. Wir werden auch in Bayern um jeden Arbeitsplatz kämpfen. Aus bayerischer Sicht besonders erfreulich ist die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung, daß zur Wahrung einer führenden Forschungsposition Deutschlands das Projekt Forschungsreaktor in München-Garching ausdrücklich festgeschrieben worden ist.
Fortschrittsangst ist immer ein schlechter Ratgeber. Die erste entscheidende Zukunftsfrage lautet doch: Bekommen deutsche Wissenschaftler, Ingenieure und Facharbeiter in Deutschland Brot und Arbeit? Die zweite entscheidende Frage ist: Wollen wir Güter und Dienstleistungen oder wollen wir Arbeitsplätze aus Deutschland exportieren? Ich bin der Meinung, wir müssen dabei bleiben, Güter und Dienstleistungen zu exportieren. Das bedeutet, daß wir Deutschen unsere Einstellung auch zu Wissenschaft und Forschung und zur Elitebildung bei den Wissenschaftlern verändern müssen. Wir müssen heute auf unsere Erfinder und Elitewissenschaftler mindestens genauso stolz sein wie auf international gute deutsche Tennisspieler, Fußballprofis oder Autorennfahrer.
({19})
Früher hieß es: Wer wagt, gewinnt. Wer heute noch wagt, muß in unserem Land gegen eine Hydra von Gesetzen und Verordnungen kämpfen.
({20})
Falls er dennoch gewinnt, ist er ein geächteter Besserverdiener, eine Melkkuh der Nation. Wenn in Deutschland Genehmigungsverfahren für Produktionsanlagen spürbar länger dauern als manche Produktlaufzeiten, dann verlieren wir den Standortwettlauf.
Sie haben vorhin dazwischengerufen: „Wer hat die denn gemacht?" Alle zusammen haben wir sie in diesem Bundestag gemacht.
({21})
Die Verschärfungen und die ganzen Umständlichkeiten in den Planungs- und Genehmigungsverfahren sind in allererster Linie auf diese Seite dieses Hauses zurückzuführen.
({22})
Ich möchte Ihnen einmal ein Beispiel nennen. Ich weiß, daß in Amerika vieles anders ist. Ich weiß auch, daß man sich in einem dicht besiedelten Land bei Genehmigungsverfahren schwerer tut als in einem dünn besiedelten Land. Aber wir müssen letztendlich konkurrieren. Als Beispiel nenne ich das neue BMW166
Werk in Spartanburg im US-Bundesstaat South Carolina, wo jetzt - ich glaube, vor zwei Monaten - das erste Auto vom Band gerollt ist. Genau zwei Jahre hat es von der Idee des Baus des Werkes bis zur Tatsache, daß das erste fertige Auto verkauft werden kann, gedauert.
({23})
Das ist natürlich eine bemerkenswert kurze Zeit. Es ist aber auch etwas anderes bemerkenswert, und das war früher nicht so. Für die 570 Stellen, die dort geschaffen worden sind, haben sich sage und schreibe fast 60 000 Leute beworben.
({24})
- Entschuldigung, was soll denn dieser Zwischenruf „Das hätten Sie gern"? Das zeigt doch, daß Sie nichts dazugelernt haben. Laufen Sie doch weiter mit der Melone herum wie in der Frühzeit,
({25})
als Ihre Partei noch als Arbeiterpartei gegründet worden war. Sie haben anscheinend die alten Parolen verinnerlicht. Sie müssen doch die neue Wettbewerbssituation in der Welt sehen. Andere Länder sind heute angesichts moderner Technik, neuer Produkte usw. in einem ungeheuren Maß bereit, Herausforderungen anzunehmen. Andere Menschen möchten da arbeiten. Wir möchten, daß auch deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft am Produktionsprozeß teilnehmen. Deswegen machen wir uns Sorgen.
({26})
Herr Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?
Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Frage klüger ist als sein Zwischenruf. Deswegen möchte ich sie nicht zulassen.
({0})
Wir möchten natürlich Wildwüchse, die in der Vergangenheit entstanden sind, wieder einfangen. Deswegen möchten wir, daß beispielsweise im Baurecht, bei den Sicherheitsvorschriften und bei den umweltrechtlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren eine Straffung und Beschleunigung in die Tat umgesetzt werden. Genau das haben wir in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben.
Rasche Genehmigungsverfahren sind im allgemeinen praktizierter Umweltschutz. Jede Investition in eine neue, moderne Industrieanlage, jede Neueinrichtung einer Heizungsanlage entlastet die Umwelt, weil neue, moderne Techniken auch energiesparender und umweltverträglicher sind.
({1})
Zu dieser umweltgerechten Zukunftsorientierung
gehört auch die von der Koalition vereinbarte stärkere
Förderung der nachwachsenden Rohstoffe im Energie- und Rohstoffbereich.
({2})
Selbstverständlich: Was auf diesem Gebiet möglich und wirtschaftlich einigermaßen vernünftig ist, wird von uns gefördert. Nur hat es keinen Wert, den Leuten Märchen zu erzählen und unrealistische Bilder an die Wand zu malen.
({3})
Wir möchten eine Zukunftsperspektive für die Ökologie, vor allen Dingen bei den bäuerlichen Familienbetrieben.
({4})
Ich muß mich entschuldigen, es tut mir leid, daß ab und an meine Stimme wegbleibt. Ich habe mich immer noch mit den Folgen einer schlimmen Erkältung herumzuplagen.
({5})
Aber wenn Sie mir zuhören, bringe ich meine Rede über die Runden.
Neue Freiräume für unternehmerische Initiativen lassen sich nur schaffen, wenn öffentliche Dienstleistungen dort, wo es möglich ist, wieder in private Hand zurückgeführt werden. Dem Vorbild des Bundes müssen auch die Länder und Kommunen folgen. Wenn rechtliche Vorgaben des Bundes im Weg stehen, dann werden wir uns in dieser Legislaturperiode auf den Weg machen, sie zu beseitigen.
Die Kommune der Zukunft ist ein moderner Dienstleister. Auch die steigenden kommunalen Gebühren belasten den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ohne Unternehmer keine Arbeitsplätze! Deswegen haben für die Koalition die Förderung von Existenzgründung, die Eigenkapitalhilfe und die Verbesserung der Meisterförderung ganz zentrale Bedeutung.
({6})
Noch einmal zu Ihnen, Herr Schröder: Ihr Beitrag zur Wirtschaftsförderung, der mir am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben ist, bestand, wenn ich mich richtig erinnere, doch darin, daß Sie eine hohe, steuergeldverschlingende Prämie für Autos, eine Art Abwrackprämie gefordert haben. Wenn ich das richtig sehe, käme das aber weniger Wolfsburg zugute - dafür, daß Sie für Ihr Bundesland kämpfen, hätte ich ein gewisses Verständnis -, sondern vor allen Dingen den japanischen Autoherstellern, die dann uneingeschränkt liefern könnten.
({7})
- Ich bin darauf sehr gespannt.
Ich glaube, viel entscheidender als die Durchführung solcher Subventionsmaßnahmen ist, daß wir künftig mehr Freiräume, mehr Beweglichkeit schaffen, so wie das z. B. auch der VW-Konzern in Wolfsburg im Wege von Betriebsvereinbarungen getan hat. Ich habe dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Im
Gegenteil, ich bin der Meinung, daß die Tarifpartner stärker gefordert sind, alle gesetzlichen Möglichkeiten, die sich jetzt ergeben, zu nutzen. Es liegt im Interesse von Arbeitnehmern und Unternehmern gleichermaßen, daß unsere Volkswirtschaft beweglich bleibt.
Ich sehe einen gewissen Widerspruch darin, daß unsere Mitbürger dort, wo sie Konsumenten, Nachfrager sind, heute immer paßgenauere und individuellere Serviceleistungen verlangen. Das beginnt z. B. bei der Urlaubsreise. Man möchte nicht mehr den Urlaub von der Stange, man will ihn sich individuell zusammenstellen. Auch bei Möbeln will man keine großen Standardprogramme mehr kaufen, sondern stellt sich sein Wohnzimmer individuell zusammen.
({8})
Das zeigt sich natürlich auch bei der Ausstattung des eigenen Pkw. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Menschen müssen auch dort, wo ihre Arbeitsleistung nachgefragt wird, bereit sein, individuell und flexibel zu reagieren.
({9})
In Deutschland ist schon jetzt genügend Arbeit vorhanden. Wenn ich dem Bericht des „Spiegel" in seiner jüngsten Ausgabe Glauben schenke, kommen jährlich 80 000 Bauarbeiter aus England, Maurer aus Irland, Putzer aus Portugal nach Deutschland. 80 000 Asylbewerber erhielten in diesem Jahr eine Arbeitserlaubnis. Rund 135 000 Erntehelfer aus Osteuropa stechen deutschen Spargel, pflücken Heidelbeeren und Äpfel. 500 000 Schwarzarbeiter, so schätzt die IG Bau, tummeln sich auf deutschen Baustellen. Allein in Berlin, so schätzt das Landesarbeitsamt, sind 20 000 Schwarzarbeiter tätig: russische Eisenbieger, kroatische Kindermädchen und bulgarische Tellerwäscher. Soweit der „Spiegel".
Was heißt das für uns? Wir müssen wieder mehr legale Arbeit für unsere deutschen Mitbürger schaff en,
({10})
durch steuerliche Anreize auch Dienstleistungsarbeitsplätze im privaten Bereich aus der Illegalität herausführen und gleichzeitig neue Rentenbeitragszahler gewinnen.
Die SPD wird auch bei der Frage der Teilzeitarbeit Farbe bekennen müssen. Eine Vielzahl rechtlicher Hemmnisse muß noch abgebaut werden. Wir werden dazu auch Ihre Zustimmung brauchen. Struktur wandeln und gestalten, nicht verhindern: Das ist die Aufgabe der Zukunft. Wir appellieren dabei an Selbstverantwortung und Mut.
Wir brauchen junge Menschen, die fragen „Wo ist meine Chance?" nicht „Wie hoch ist später meine Rente? " Es ist interessant, daß die Berufsberater heute schon nach der späteren Rentenzahlung gefragt werden. Ich finde diese Einstellung unmöglich.
Unser Sozialstaat bleibt nur finanzierbar, wenn wir den begonnenen Umbau konsequent fortsetzen. Die Koalition wird dabei insbesondere den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterentwickeln, mehr preiswerten Wohnraum schaffen, die Arbeitsförderung überprüfen und konsolidieren und vor allen Dingen die Gesundheitsreform fortsetzen.
Es gibt allerdings einen weiteren wichtigen Standortfaktor: Das ist das Vertrauen der Investoren in die politische Stabilität, vor allen Dingen auch in die Glaubwürdigkeit und die Kalkulierbarkeit der politisch Verantwortlichen. Was SPD und GRÜNE in Sachsen-Anhalt veranstalten, fördert dieses Vertrauen nicht.
({11})
- Wenn Sie es nicht mehr hören können, dann leisten Sie einen Beitrag dazu, daß dieser Spuk wieder beendet wird.
({12})
Der Rücktritt des Wirtschaftsministers Gramke ist nicht von uns bestellt worden, er kam trotzdem punktgenau für diese Debatte.
({13})
Ich möchte auch dem interessierten Publikum nicht vorenthalten, denn das wäre direkt sträflich - ({14})
- Jetzt hören Sie doch einmal an, was der Herr Gramke Ihnen gesagt hat.
({15})
- Ich bin sehr gespannt, was Ihnen der Herr Schucht vielleicht in einem Vierteljahr oder in einem halben Jahr sagt. Das warten wir erst einmal ab.
({16})
Der Herr Schucht muß seine Erfahrung mit den Kommunisten erst noch machen, der Herr Gramke hat sie schon gemacht; deswegen zitiere ich Ihnen Herrn Gramke.
({17})
- Hören Sie, das ist doch Ihr Parteifreund, nicht meiner. Jetzt hören Sie Herrn Gramke ein wenig zu. Ich weiß ja nicht, ob er das auf dem SPD-Parteitag sagen darf.
Er sagt wörtlich über die PDS:
Sie sieht immer noch die Oktoberrevolution als das größte und wichtigste Ereignis an. Sie will starke Eingriffe des Staates, sie will den Begriff Eigentum anders sehen. Ich sehe sie also außerhalb unseres demokratischen Parteienspektrums.
Deswegen müssen Sie Ihre Komplizenschaft beenden.
({18})
Lassen Sie mich noch ein letztes Kapitel streifen, das meiner Ansicht nach für den Standort Deutschland wichtiger ist als andere, vorgenannte Faktoren. Das ist die Bekämpfung der organisierten Kriminalität.
Wenn Drogengelder bei uns gewaschen werden, wenn viele Milliarden DM allein deswegen investiert werden, nicht um damit am Markt Gewinn zu erwirtschaften, sondern um aus unsauberem Geld sauberes Geld zu machen, dann behindert das den Wettbewerb und kostet viele legale Arbeitsplätze. Wir müssen die Drogenmafia bekämpfen. Wir müssen diese großangelegten Diebstahlserien, insbesondere im Autobereich, beenden. Dazu brauchen wir in Zukunft noch bessere und härtere Zugriffsmöglichkeiten des Staates als in der Vergangenheit.
Wenn ich heute auf der Fahrt hierher in einer Boulevard-Zeitung lese, daß ein ganzer Bus voller junger Taschendiebe extra für den Bonner Weihnachtsmarkt hergeschafft wird und niemand etwas zur Unterbindung unternimmt, dann frage ich mich schon: Was denkt der Normalverbraucher bei uns im Land über Recht, Ordnung und Sicherheit?
({19})
Deswegen kämpfen wir dafür, daß die Polizei eine stärkere Motivation und Rückendeckung bekommt, als sie diese heute in vielen Bereichen der Bevölkerung hat. Die Polizei braucht insbesondere bessere gesetzliche Möglichkeiten zur effektiven Verbrechensbekämpfung.
Der Mißbrauch unseres Asylrechts hat über Jahre gewaltige Steuermittel in Milliardenhöhe gebunden,. die wir an anderer Stelle besser hätten einsetzen können. Ein Teil der Probleme auf dem Arbeitsmarkt hängt ebenfalls mit dem ungezügelten Mißbrauch unseres Asylrechts zusammen. Dafür, daß dieser ungezügelte Mißbrauch so lange möglich war, tragen Sie die Verantwortung.
({20})
Die großen und wichtigen Entscheidungen zur Sicherung des Standortes Deutschland mußten in den vergangenen Jahren oft gegen den erbitterten Widerstand der SPD im Bundestag und der SPD-Mehrheit im Bundesrat durchgesetzt werden. Da wir jetzt am Beginn einer neuen Legislaturperiode stehen, appelliere ich an die SPD als die größte von drei sich gegenseitig befehdenden Oppositionsparteien: Unterstützen Sie unsere Politik für die Arbeitnehmer und für die Arbeitsuchenden in Deutschland! Mit Blokkade- und mit Obstruktionspolitik ist niemandem geholfen. Sie tragen als Opposition ebenfalls Verantwortung für die Zukunft des Standortes Deutschland.
({21})
Die Koalitionsvereinbarungen von CDU und CSU sowie der F.D.P. und die Regierungserklärung von Herrn Bundeskanzler Kohl haben gute Wege in die Zukunft aufgezeigt, Deutschland für das nächste Jahrtausend stark zu machen. Wir laden Sie herzlich zum Mitmachen ein.
({22})
Als nächste spricht die Kollegin Frau Margareta Wolf-Mayer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Rexrodt! „Fit für das 21. Jahrhundert", so lautete Ihre Arbeitsüberschrift für die Koalitionsvereinbarung. Diesmal also nicht Freizeitpark, sondern kollektives Fitneßcenter. Aber wie auch immer: Ihre Trainingsanleitung für das 21. Jahrhundert führt höchstens zu Meniskus- und Bandscheibenschäden.
Herr Rexrodt, was in diesem deprimierenden Besinnungsaufsatz für Ihr Ressort festgehalten wurde, ist so perspektivlos wie die Situation Ihrer Partei. Wenn Herrn Glos heute morgen die Rolle zugefallen sein sollte, den Himmel für Sie aufzureißen, so kann ich, glaube ich, ohne Übertreibung behaupten: Dies ist ihm nicht gelungen.
({0})
Die Koalitionsvereinbarung zu Ihrem Ressort ist nichts anderes als der dritte Aufguß einer schrecklich dünnen Suppe. Sie haben Privatisierung und Deregulierung zu den Kernpunkten Ihres Wirkens erklärt. Das ist wirklich furchtbar neu, Herr Rexrodt! Wirklich eine echte Sensation! Unglaublich, diese Innovationskraft! Was waren Ihre geschätzten Vorgänger doch alles für Leistungsverweigerer, Herr Rexrodt, die Ihnen diese gewaltige unbearbeitete Deregulierungs-
und Privatisierungsaufgabe als Erblast hinterlassen haben! Ich frage mich: Wer hat in den letzten zwölf Jahren dieses Land regiert?
Herr Rexrodt, Sie erinnern mich an die Waschmittelfirma, die jedes halbe Jahr einen neuen Weißmacher in einer Weise anpreist, daß man sich fragt, welchen Dreck sie einem vorher verkauft haben.
({1})
Aber bitte, man kann ja auch ernsthaft darüber reden. Privatisierung und Deregulierung können in der Tat dynamisierende Elemente in einer zukunftsorientierten, der Umwelt verantwortlichen Wirtschaftspolitik sein. Bei Ihnen wird daraus - es war noch nie so leicht, Prophetin zu sein, Herr Rexrodt - kleinkarierte Klientelpolitik mit dem traurigen Ergebnis, daß nicht der Wirtschaftsstandort Deutschland gesichert wird, sondern ein Eldorado für Abzocker und Absahner.
Man muß sich doch in einer Zeit der rasanten Globalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten zumindest einmal der Frage stellen - Antworten sind schwer genug -, welche Art von Deregulierung nicht zu einem weiteren Verlust an Einfluß für die Wirtschaftspolitik, sei es auf der europäischen oder der nationalen
Ebene, führt. Ich muß sagen, ich hätte von Ihnen gerne etwas dazugelernt.
Ich höre immer, Herr Waigel, „F.D.P. - Partei der Leistungsträger", und Herr Rexrodt ist Minister. Einen Partner mit peinlich dünner Personaldecke haben Sie da, Herr Bundeskanzler. Altlastenentsorgung durch Koalitionsarithmetik, ein Ministerium als Gorlebener Salzstock gewissermaßen. Diese ganze Veranstaltung hat etwas von der letzten Party auf der Titanic, Herr Kohl.
Wie kommen Sie, Herr Rexrodt, eigentlich mit der massiven, um nicht zu sagen: vernichtenden Kritik zurecht, die seitens der Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU verlautbart wurde und die ich im übrigen teile? IG Metall-Chef Zwickel spricht Ihnen schlicht die Grundlagenkompetenz für Ihr Amt ab und hält Sie für das größte Standortrisiko in diesem Land.
({2})
Der einzige, der Ihre Berufung - ich betone: verhalten - begrüßt, ist der scheidende BDI-Vorsitzende Necker.
An diesem Punkt, dem zurückhaltenden Zuspruch aus dem Unternehmerlager, frage ich mich, wieso Sie, Herr Kohl, keinen Wirtschaftsminister präsentieren, der - nur als Beispiel - 20 Jahre in der oberen Etage international operierender Konzerne Erfahrung und Kompetenz angesammelt hat, so daß wir uns hier als Opposition und ich als neue, junge Abgeordnete uns hinsetzen und sagen könnten: Ja, hoppla, jetzt wird es spannend, jetzt wird es interessant, jetzt passiert etwas, an dem wir uns abarbeiten können. Das ist nicht der Fall.
({3})
In Deutschland fehlen 5 Millionen Arbeitsplätze, Herr Wirtschaftsminister. Das ist nur eine einzige Zahl, aber eine, die eine verheerende Bilanz darstellt. Ihre konkreten Antworten auf dieses den Menschen unter den Nägeln brennende Problem lautet einerseits: Expo 2000 und andererseits: Ausweitung des Dienstmädchenprivilegs. Ansonsten wirklich nur Nebelschwaden.
Vielleicht erinnert sich ja noch die eine oder der andere an das Wahlprogramm der F.D.P. zum 13. Deutschen Bundestag. Von der Notwendigkeit einer ökologischen Steuerreform kann man dort etwas lesen. Ich habe noch die Worte des Parteivorsitzenden Kinkel im Fernsehen im Ohr, über dem Abgrund turnend nach der bayerischen Landtagswahl, als er dem staunenden Wahlvolk mitteilte, die F.D.P. sei der ökologische Motor dieser Bundesregierung und man sei gewillt, sich entlang einer ökologischen Offensive zu profilieren. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, der Motor hat einen ganz erheblichen Kolbenfresser.
F-Ierr Rexrodt, dabei sollten Sie wissen, daß Ihre Politik bisher die falschen Anreize gegeben hat. Das Ergebnis Ihrer Arbeit liegt auf dem Tisch: weniger Arbeitsplätze, eine Entwicklung, die sich auch durch
Ihren freudig entgegengenommenen Konjunkturaufschwung nicht maßgeblich bremsen läßt, wie es Ihnen auch die Sachverständigen bestätigen. Das zweite Ergebnis ist eine massive Umweltbelastung.
Herr Wirtschaftsminister, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, erklärte im Juli 1993 in Kopenhagen - ich bitte Sie, jetzt zuzuhören, da ich glaube, daß diese Äußerung von Herrn Delors Ihren Diskurs mit dem BDI und den Unternehmerverbänden tatsächlich erleichtern könnte -:
Die Besteuerung von natürlichen Ressourcen erlaubt eine Senkung der übermäßigen Belastung des Produktionsfaktors Arbeit, wodurch die internationale Konkurrenzfähigkeit der europäischen Wirtschaft erhöht wird.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, verfolgen doch seit 12 Jahren genau die gegenteilige Strategie. Sie behandeln den Produktionsfaktor Arbeit wie eine Milchkuh, die überproportional belastet wird. Signal: Die Arbeitgeber sehen, daß die Arbeitskosten ständig steigen, und werten dies als Signal für weitere Rationalisierungen. Die Beschäftigten sehen, daß sich der Anteil der Nettoarbeitseinkommen konstant verringert, was zu Lohnforderungen führt und damit die Arbeitskosten weiter erhöht. Insgesamt, Herr Minister, treibt dies den Teufelskreis wachsender Arbeitslosigkeit und andauernder Umweltzerstörung immer weiter voran.
Ihre Politik hat ständig als negativer Anreiz gewirkt und so - das sollten Sie als promovierter VWLer wissen - Innovationen und Verbrauch in eine sozial nicht verträgliche Richtung getrieben. Das Ergebnis sind weniger Arbeitsplätze, mehr Umweltbelastung und Spaltung der Gesellschaft. Dieser Trend wurde auch von den Kirchen beschrieben. Die Weichen müssen neu gestellt werden; dieser Trend muß dringend gestoppt werden.
Als erstes, meine Damen und Herren, ist es sinnvoll und notwendig, die Abgaben auf den Faktor Arbeit einzufrieren und eine Politik zu verfolgen, die die Energiepreise mindestens so stark wie die Inflation wachsen läßt. Mittelfristig ist die Abgabenbelastung umzukehren. Die gesetzlichen Abgaben auf den Arbeitseinsatz müssen sinken. Steuerliche Anreize für unproduktive Kapitaleinsätze müssen wegfallen, die Steuern auf den Einsatz natürlichen Ressourcen erheblich steigen, um die geringen Beiträge der Arbeit zum Steueraufkommen teilweise zu kompensieren.
Das sind Konzepte, die heute von weiten Teilen der Industrie diskutiert werden, auch vom BDI. Man hat den Eindruck, an Herrn Rexrodt kommen diese Debatten überhaupt nicht heran.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf zwei Dinge aus der gestrigen Regierungserklärung von Herrn Kohl hinweisen. Herr Dr. Kohl, Sie haben gestern gesagt, Sie wollten Ihren ganzen Ehrgeiz darauf verwenden, daß Deutschland das erste Land ist, in dem das Fünfliterauto Standard ist. Super! Ich sage Ihnen aber
- ich komme aus Rüsselsheim, wo die Firma Opel ansässig ist -:
({4})
Die Konzepte für ein fertigungsfähiges Dreiliterauto liegen bereits seit einem Jahr in der Schublade der Firma Opel. Es wird nur nicht produziert, weil Sie es versäumt haben, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen. - Vielleicht auch Audi, vielleicht auch VW. Das macht es aber nicht einfacher. - Beeilen Sie sich, meine Damen und Herren. Sie werden sonst einen weiteren Markt verschlafen.
({5})
Eine andere Geschichte fand ich gestern in der Rede von Helmut Kohl sehr bemerkenswert.
Kommen Sie bitte zum Ende, Frau Wolf-Mayer.
Ich komme zum Ende.
Seit 1989 sagen Wirtschaftsvertreter in Ostdeutschland, daß es dort nicht an potentiellen Existenzgründern fehlt, sondern an Risikokapital. Sie haben gestern signalisiert, daß Sie das Problem erkannt haben. Wir freuen uns darauf, was Sie daraus machen, und hoffen, daß Sie das Problem wirklich ernst nehmen.
Danke schön.
({0})
Als nächster spricht der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung geht in die 13. Legislaturperiode mit einem klaren Konzept zur Wirtschaftspolitik.
({0})
Das ist der Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren. Was soll denn das über weite Strecken polemische und inhaltslose Getöse der Opposition?
({1})
Herr Schröder, Sie setzen sich hier in Szene, aber ohne Gegenentwurf.
({2})
Sie reden über den Ausstieg aus der Kernenergie, über die CO2-Steuer, über die Abwrackprämie, über das Fünfliterauto und über die Teilzeitarbeit, die wir ohnehin fördern.
Man kann über einiges davon reden. Ist das aber der Gegenentwurf zu unserer Wirtschaftspolitik?
({3})
Es ist nichts. Es ist nicht einmal der Ansatz eines Konzeptes, von dem man sagen könnte: Das ist es.
({4})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zunächst einmal sagen: Dieses Land ist trotz aller Schwierigkeiten im einzelnen eines der leistungsfähigsten der Erde.
({5})
Wir haben eine gesunde Unternehmensstruktur und eine vorbildliche Wirtschaftsverfassung. Wir verfügen über fortschrittliche Technologien. Wir sind eine der führenden Exportnationen.
({6})
In der letzten Legislaturperiode sind wir mit einer der tiefsten Rezessionen fertiggeworden. Die Wirtschaft wächst, und auch die Wende am Arbeitsmarkt ist geschafft. Wir haben zusätzlich den Aufschwung Ost in Gang gebracht.
({7})
- Nun kommen Sie und verweisen auf den Arbeitsmarkt und tun dabei so, als wollten wir die Probleme dort, die zu hohe Arbeitslosigkeit, unter den Tisch wischen.
Wir wollen eine leistungsfähige Wirtschaft, die genügend Arbeit bietet, und zwar gleichermaßen für Selbständige und für Unselbständige, für Hockqualifizierte und weniger Qualifizierte, für Frauen und Männer, gleichermaßen in Ost und West. Ich weiß sehr wohl, daß es leicht ist, ein solches Ziel zu beschreiben, daß der Weg dorthin aber voller Hindernisse ist und es eines Konzeptes bedarf, um mit diesem Problem fertig zu werden.
Über die Ursachen für die Arbeitslosigkeit haben wir hier lange diskutiert. Wir haben uns immer wieder damit auseinandergesetzt, und ich glaube, daß unsere Meinungen nicht weit voneinander entfernt liegen. Unser Konzept, diese Arbeitslosigkeit zurückzudrängen, sie zu beseitigen - das ist das Ziel aller Wirtschaftspolitik -, ist gerade vor wenigen Tagen in seiner Grundrichtung vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bestätigt worden, meine Damen und Herren.
({8})
Wir setzen auf weniger Bürokratie und einen schlanken Staat. Haben Sie von der Opposition dem etwas entgegenzusetzen?
({9})
Sagen Sie das doch einmal! Von Herrn Schröder habe ich das nicht gehört.
Wir setzen auf eine Dynamik bei Forschung und Innovation. Gibt es dazu eine Alternative?
Wir wollen die Kostenbelastung durch weniger Steuern und den Umbau des Sozialsystems
({10})
senken. Sie verkünden ähnliches; konkret haben Sie allerdings oft das Gegenteil vor.
Wir wollen einen flexibleren Arbeitsmarkt, der den Erfordernissen der Betriebe und der Arbeitnehmer gleichermaßen gerecht wird. Sie verkünden ähnliches; hier gibt es auch schon Vorschläge der Gewerkschaften.
Wir wollen öffentliche Aufgaben dort, wo dies zu einer besseren Leistungserbringung führt, in private Hände überführen. Wollen Sie sich dem entgegenstellen?
Wir wollen neue Beschäftigungsfelder im Umweltschutz, in der Telekommunikation erschließen. Ist das nicht auch Ihr Programm, meine Damen und Herren?
Wir setzen auf mittelständische Existenzen in Ost und West. Im Osten haben wir fast 500 000 neue mittelständische Existenzen entstehen lassen. Wollen Sie das leugnen?
({11})
Was hätten Sie unter den Rahmenbedingungen und mit den Fördermitteln, die von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt worden sind, anders gemacht?
({12})
- Das ist ein sehr sinnvoller und geistreicher Zwischenruf: alles! Das, was Ihr Konzept ausmacht, ist: nichts, null!
({13})
Kein alternativer Gegenvorschlag! Nichts, was Esprit hätte und ein bißchen Nachdenken verraten würde.
({14})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jens?
Nein, Frau Präsidentin, ich möchte mein Konzept gerne zu Ende vortragen.
Meine Damen und Herren, wir helfen unserer Wirtschaft, auf den boomenden Märkten in Asien und in Lateinamerika präsent zu sein. Was ist dem entgegenzuhalten?
({0})
Nichts außer aufgesetzter Pose und eitlem Blendwerk.
({1})
Als Zeugen für unser angebliches Versagen berufen sich die einen oder anderen auf selbsternannte Mittelstandspäpste aus dem poujadistischen Lager. Es ist eine Schande, daß sich gerade Sozialdemokraten die
Tiraden derartiger Außenseiter zu eigen machen, meine Damen und Herren.
({2})
Herr Schröder, Sie werden, wie ich meine - das sage ich mit großer Ruhe -, der erste sein, der sich hier selbst demontiert.
({3})
Sie haben noch nie einen Betrieb von innen gesehen. Sie haben noch nie Ergebnisverantwortung getragen.
({4})
Sie lassen es zu, daß mittelständische Traditionsbetriebe vor die Hunde gehen, während gleichzeitig Arbeitsplätze in Lemwerder in fragwürdiger Weise subventioniert werden,
({5})
mit Subventionen, die ihrerseits Arbeitsplätze in Hamburg zugrunde richten.
Ein Ministerpräsident, der mit Stahlsubventionen jongliert, der merkwürdige Gedanken zur Förderung der Autoindustrie entwickelt, der verblüffende Vorstellungen zum Rüstungsexport entwickelt
({6})
und den man nach seiner Rolle bei der Auseinandersetzung zwischen Volkswagen und Opel fragen muß, ein Tagespolitiker, ein solcher Mann kommt hierher und will uns sagen, wie wir Wirtschaftspolitik machen!
({7})
Herr Minister, es gibt eine weitere Zwischenfrage.
Nein, Frau Präsidentin, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu.
Lassen Sie mich zum Herrn Ministerpräsidenten Schröder zurückkommen: Ein Ministerpräsident, in dessen Bundesland die Staatsausgaben überdurchschnittlich gewachsen sind, in dem der Wirtschaftsförderungsfonds, das Landesdarlehensprogramm und ein Technologieprogramm zu Lasten des Mittelstands heruntergefahren werden, ein Mann, der für einen Haushalt verantwortlich ist, in dem die Investitionen unterrepräsentiert sind, ein Mann, der für ein Bundesland steht, das im Bundesrat gegen das Planungsvereinfachungsgesetz gestimmt hat,
({0})
das die Gentechnik erschwert und das Standortsicherungsgesetz abgelehnt hat, ein solcher Mann will uns hier sagen, wo es langzugehen hat!
({1})
Nicht einmal als Vorsitzender des Vermittlungsausschusses haben Sie sich durchgesetzt, Herr Schröder.
Bringen Sie Ihr Bundesland in Ordnung, Herr Ministerpräsident! Inszenieren Sie sich in der Provinz! Sie haben kein Konzept, Sie haben keine Prinzipien, Sie haben keine Visionen.
({2})
Was kommt von der SPD zusätzlich zur Wirtschaftspolitik, abgesehen von dem in sich nicht schlüssigen Vorwurf von der Umverteilung von unten nach oben, festgemacht am Solidaritätszuschlag? Es gibt zunächst einmal den gebetsmühlenartigen Vorwurf, wir wollten den Sozialstaat demontieren.
({3})
Es ist müßig, darauf einzugehen.
({4})
Den großen Wurf sehen Sie dann in Ihrem Vorschlag eines Beschäftigungspaketes zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften, Staat und Bundesbank.
({5})
Meine Damen und Herren, abgesehen von dem gefährlichen Versuch der Vereinnahmung der Bundesbank tun Sie so, als ob es den Dialog und die Absprache zwischen den großen gesellschaftlichen Gruppen bei uns nicht gäbe. Die hat es gegeben, die wird es geben, und die werden gerade intensiviert. Wir haben diese Gespräche geführt und werden das weiter tun.
Ihr eigentlicher Traum dahinter ist aber der große Gesellschaftsentwurf. Das ist die Industriepolitik, bei der im gesellschaftlichen Konsens festgelegt werden soll, was entwickelt, was weniger entwickelt, was gefördert und nicht gefördert und was ausgetrocknet werden soll.
In diesem großen Gesellschaftsentwurf unterscheiden wir uns. Auch wir führen den intensiven Dialog,
({6})
z. B. zu Fragen der Informationsgesellschaft oder zur Telekommunikation, zur Energiepolitik und zum Verkehr. Aber diese Absprache, dieser Dialog erfolgen vor dem Hintergrund, daß wir den Ausleseprozeß, den Suchprozeß des Marktes, prinzipiell nicht außer Kraft setzen wollen.
({7})
Letztlich muß der Markt darüber befinden, was in unserer Wirtschaft Bestand haben soll oder nicht. Ausnahmen sind immer möglich, aber eben Ausnahmen und nicht Ideologie und nicht der Traum von der Machbarkeit einer idealen Gesellschaft.
Lassen Sie mich auf einen dritten, „bedeutenden Vorschlag" Ihrerseits eingehen. Sie kommen immer wieder mit der Kaufkrafttheorie des Lohnes. Aber Sie vergessen in Ihrer Argumentation, daß es auch einen Kosteneffekt der Löhne gibt und daß dieser Kosteneffekt sehr viel größer ist als der Einkommenseffekt. Das darf man nicht vergessen.
({8})
Heinz Mundorf hat nicht zu Unrecht gesagt, daß Sie mit dieser Kaufkrafttheorie einen Nobelpreis für eine Münchhausentheorie verdient hätten.
({9})
Meine Damen und Herren, ich greife auf, was Sie, Herr Schröder, sagen. Als ob ich mich hinstellte und sagte: „Die Löhne müssen herunter"; als ob ich ein Tor wäre;
({10})
als ob wir nicht hohe Löhne bräuchten, um den Absatz von Gütern und Dienstleistungen zu sichern,
({11})
um den Wohlstand in unserem Land zu erhalten. Das ist doch selbstverständlich. Nur müssen wir in gewissen Zeiten in einer wirtschaftlichen Entwicklung und bei strukturellen Verwerfungen, wie wir sie haben, eine richtige Balance zwischen dem Kosteneffekt und dem Nachfrageeffekt finden. Wenn unsere Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren - das bestreitet doch niemand -, dann müssen wir auch
- ich betone: auch - darauf achten, daß unsere Unternehmen von Kosten entlastet werden. Löhne und Gehälter sind nun einmal Kosten, und deshalb müssen vernünftige Abschlüsse getätigt werden,
({12})
nicht mehr und nicht weniger. Alles andere ist inhaltslose Polemik, ist Zuspitzung dessen, was unserer Wirtschaftspolitik auch im theoretischen Fundament zugrunde liegt.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen unser Konzept erläutern, weil Sie ja Schwierigkeiten haben, es zu verstehen - vielleicht wollen Sie es auch gar nicht verstehen -, und um Ihnen ein bißchen Ermunterung zu geben, damit Sie einen Gegenentwurf machen können und nicht an einigen Stichworten herummäkeln müssen.
Wir machen eine Politik, die auf eine Verbesserung der Rahmenbedingungen setzt, die Freiräume für unternehmerisches Handeln sucht und nicht Gängelung.
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- Ich komme darauf zu sprechen, Frau Fuchs; sofort.
- Wir sind überzeugt, daß Freiräume notwendig sind, um die Ressourcen zu erwirtschaften, die wir brauchen, u. a. um eine überzeugende Sozialpolitik zu machen.
({14})
- Sofort, Frau Kollegin.
Visionen müssen Bestandteil unseres gesellschaftlichen Denk- und Suchprozesses sein; ihre Umsetzung unterliegt aber nicht staatlicher Anordnung, sondern
pluralistischer Diskussion. Demokratie und Marktwirtschaft sind die überlegenen Prinzipien; das sind unsere Prinzipien.
({15})
Und nun konkret: Wir wollen wettbewerbsfähige Betriebe. Wenn es sie gibt, dann brauchen wir uns um Arbeitsplätze keine Gedanken zu machen, dann wird Arbeit ausreichend nachgefragt. Deshalb konzentrieren wir uns im Ansatz unserer Wirtschaftspolitik auf Rahmenbedingungen, die darauf zielen,
({16})
dieses Land auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten. Vieles haben wir in der letzten Legislaturperiode in Gang gebracht. Daran knüpfen wir an.
In den Koalitionsvereinbarungen geht es um die Rückführung öffentlicher Aufgaben und den Abbau steuerlicher Belastungen, letzteres auch und gerade, um die Wirtschaft zu entlasten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und um Arbeitsplätze zu erhalten.
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Unser Ziel ist es, die Staatsquote auf 46 % im Jahr 2000 herunterzubringen. Es geht hier ganz konkret
- das ist bereits vom Kollegen Waigel und anderen gesagt worden - um die Freistellung des Existenzminimums von der Steuerpflicht und die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform, um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die Rückführung der Gewerbeertragsteuer und den Abbau des Solidarzuschlages so bald wie möglich.
Die Kommunen sollen ihre Finanzhoheit behalten; sie sollen in bezug darauf nicht beeinträchtigt werden.
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- Dies wird zu regeln sein. Darüber haben wir zu sprechen. Beispielsweise über die Lohn- und Einkommensteuer. Das sind Möglichkeiten und Ansatzpunkte. Keiner kann erwarten, daß wir dies heute im Detail vorlegen; das wollen wir mit Ihnen diskutieren, mit den Verantwortlichen aus den Gemeinden. Das werden wir voranbringen, weil es sinnvoll ist, weil es notwendig ist, um Arbeitsplätze in unserer Wirtschaft zu schaffen.
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- Machen Sie doch einen Entwurf! ({20})
- Von Ihnen einmal einen konstruktiven Beitrag und nicht lautes Gegröle zu hören, das wäre sehr hilfreich für das gesamte Parlament.
({21})
Es sind aber nicht allein die hohen Steuern, die im wahrsten Sinne auf Kosten von Produktion und Beschäftigung gehen. Nach wie vor verteuern unnötige Gesetze und Regeln die Produktion. Der Mittelstand ist besonders betroffen, und deshalb gilt es, ihn
zu entlasten: in Industrie, in Handwerk, in Handel, Gewerbe, in den freien Berufen. Der Mittelstand ist Beschäftigungsträger Nummer eins in Deutschland. In ihm arbeiten zwei Drittel der Beschäftigten. Er bildet 80 % unserer jungen Menschen aus. Mittelstandspolitische Vorhaben durchziehen alle wirtschaftspolitischen Abschnitte der Koalitionsvereinbarung, meine Damen und Herren.
({22})
Wir setzen auf der einen Seite auf die bewährten Instrumente der Mittelstandsförderung, auf Eigenkapitalhilfe und die ERP-Kreditprogramme, auf die Unterstützung von Forschung und Entwicklung - das sind konkrete Programme, mit denen dreistellige Millionensummen zur Verfügung gestellt werden - und fügen dem eine Initiative für zusätzliche Existenzgründungen und für mehr Selbständigkeit hinzu.
({23})
Wir setzen dabei auf die Gleichwertigkeit von beruflicher Ausbildung und akademischer Ausbildung, und wir gießen das in Zahlen, meine Damen und Herren.
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Es ist doch nicht einzusehen, daß die Ausbildung zum Mediziner auf staatliche Kosten erfolgt und die Ausbildung zum selbständigen Orthopädiemeister nur unter erheblichem privaten Verzicht möglich ist. Das soll anders werden!
({25})
Wenn wir das in der Vergangenheit nicht so gestaltet haben, dann zeigt das doch, daß wir lernfähig sind.
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- Ich wiederhole: Das zeigt, daß wir die Probleme des Mittelstandes aufgenommen haben.
Eine Bundesregierung - auch eine solche, die Sie gestellt haben - muß und wird immer in der Lage sein, ihre eigenen Programme zu ergänzen, ihre eigenen Programme neu einzustellen. Das ist das Selbstverständlichste der Welt. Wenn wir das eine unterlassen haben, was notwendig war, und etwas hinzufügen, dann ist das Ausdruck einer vernünftigen und realen Wirtschaftspolitik.
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Wir wollen fertigwerden mit den Hauptproblemen der mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundesländern, mit dem Mangel an Eigenkapital. Dazu wird ganz konkret ein Förderprogramm eingeführt. Wir wollen zusätzliches Eigenkapital in die neuen Bundesländer lenken durch zusätzliche Anreize, die wir dafür geben, für Menschen in Ost und in West. Die Vorbereitungen dafür sind bereits angelaufen. Wir wollen die Mittelstandsförderung auch transparenter machen, überschaubarer für den einzelnen Unternehmer. Ein Mittelstandsbeauftragter in meinem Ministerium soll diese Arbeiten koordinieren.
Die Menschen in den neuen Ländern haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Die Bundesregierung wird sie dabei weiter unterstützen, und zwar ganz konkret: mit der modifizierten Verlängerung von Investitionszulagen und Sonderabschreibungen, mit dem weiteren Verzicht auf die Erhebung von Gewerbekapital- und Vermögensteuer, mit der Fortführung des Eigenkapitalhilfeprogramms und mit zusätzlichen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation und dem zügigen Aufbau der Infrastruktur. Von der Opposition habe ich nie ein alternatives Konzept gehört.
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Meine Damen und Herren, Sie mäkeln herum an der Arbeit der Treuhand, es werde zuwenig saniert und zuviel und zu schnell privatisiert. Wenn wir nicht saniert hätten, meine Damen und Herren, dann hätten wir am 4. Oktober 1990 bereits 95 Prozent der Industriebetriebe zumachen müssen. Wir haben dreistellige Milliardensummen in die Sanierung der ostdeutschen Industrie gesteckt. Und es ist in einer Rekordzeit und mit einem riesigen Erfolg gelungen, die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft abzuschließen.
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Dabei hat es sicherlich Entscheidungen gegeben, über die man diskutieren kann. Aber wenn man die Arbeit der Treuhand insgesamt sieht, dann ist es eine erfolgreiche, eine noch nie dagewesene Arbeit ohne Modell, für die wir in der ganzen Welt bewundert werden, wohin man auch kommt, meine Damen und Herren.
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Die Strategie in den neuen Ländern hat sich bewährt. 9 % Wachstum in diesem Jahr, 9 % Wachstum im nächsten Jahr, Rekordinvestitionen von 180 Milliarden DM, und die Pro-Kopf-Investitionen liegen in den neuen Ländern über den Pro-KopfInvestitionen in den alten Ländern. Das alles spricht für die Arbeit, die dort geleistet worden ist, und es spricht gegen die Miesmachertour, die die meisten von Ihnen mit Blick auf die Politik in den neuen Bundesländern betreiben.
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Ich füge hinzu: Erfolg kann nur unter Bedingungen erzielt werden, die politisch stabil und demokratisch sind. Ich greife das auf, was Kollege Glos gesagt hat. Der Rücktritt von Herrn Gramke zeigt, daß der Schmusekurs mit der PDS, den u. a. Sie, Herr Schröder, betreiben, in ein Desaster - nicht nur für die SPD - führt.
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Neue Beschäftigungsfelder gibt es dann, wenn wir uns neuen Technologien zuwenden: in der Telekommunikation, in der Bio- und Gentechnologie, in der Luft- und Raumfahrttechnik, im Umweltschutz. Morgen wird im Bundesrat über eine Gentechnikverordnung entschieden. Die Bundesregierung fordert Sie auf, meine Damen und Herren: Zeigen Sie einmal, wie Sie zu Technik und zu neuen Technologien stehen! Morgen haben Sie dazu Gelegenheit.
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Wir brauchen mehr Technikakzeptanz. Dies muß im übrigen Thema und Inhalt eines sinnvollen technologiepolitischen Dialogs zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Gewerkschaft und Staat sein. Diesen Dialog, den wir im übrigen u. a. über die Petersberger Gespräche seit vielen Jahren führen, werden wir intensivieren.
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Es ist ein Dialog, bei dem man zuhört, bei dem man lernt, in dem wir aber die Verantwortlichkeiten nicht verschieben werden.
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Aber lernen und abstimmen und die Verantwortlichkeit im eigenen Bereich tragen, das wollen wir. Das ist unsere Vorstellung von Technologiepolitik und technologiepolitischem Dialog.
Meine Damen und Herren, auch im Umweltschutz entstehen neue Wachstums- und Beschäftigungsfelder. Zunächst aber geht es darum, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren. Wir wissen alle, Umweltschutz gibt es nicht zum Nulltarif. Damit wir im Umweltschutz vorankommen und die Kosten nicht ausufern, setzen wir in der Umweltpolitik auf marktwirtschaftliche Instrumente und auf weniger Verordnungen und Vorschriften. Wir wollen die Steuerung über den Preis, und wir setzen mehr als bisher auf freiwillige Vereinbarungen zwischen dem Staat und der Wirtschaft. Dies ist gelungen, dies ist eingeleitet, und dies werden wir fortsetzen.
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- Das ist in vielen Bereichen gelungen: beim Kreislaufwirtschaftsgesetz, im Automobilbereich bei den Batterien, bei der Verbringung von gefährlichen Abfallstoffen ins Ausland und anderem mehr. Machen Sie sich sachkundig! Pflegen Sie nicht Ihre Vorurteile! Setzen Sie darauf, daß Menschen selbstverantwortlich Vereinbarungen herbeiführen können und daß dabei mehr herausspringt, als ständig ein neues Gesetz, eine neue Verordnung zu beschließen, was Ihrem Gesellschaftsmodell entspricht!
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Der Beschäftigungsstandort Deutschland ist auf eine sichere, kostengünstige und umweltfreundliche Energieversorgung angewiesen. Deshalb brauchen wir - hier geht es wieder um konkrete Wirtschaftspolitik - mehr Wettbewerb in der Energiewirtschaft, bei Strom und bei Gas. Diesen immer noch kartellierten Bereich wollen wir im Dialog auch mit den Kommunen und der Europäischen Kommission angehen. Wir brauchen in der Energiewirtschaft verläßliche Bedingungen für Investitionen. Deshalb brauchen wir endlich den energiepolitischen Konsens in und für Deutschland.
Herr Ministerpräsident Schröder, die niedersächsische Landesregierung redet gebetsmühlenhaft vom notwendigen energiepolitischen Konsens. Ich sage ganz klar: Die Bundesregierung ist zu diesem energiepolitischen Konsens bereit. Aber zu einem Konsens, Herr Ministerpräsident, gehören immer zwei oder mehrere Parteien, die aufeinander zugehen, die komBundesminister Dr. Günter Rexrodt
promißbereit sind. Energiepolitischen Konsens und Kompromiß kann es u. a. nur dann geben, wenn eine verantwortliche Lösung für die Entsorgung der bestehenden Kernkraftwerke gefunden wird.
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Ihre Umweltministerin, Herr Schröder, leitet das Wasser auf die Mühlen der militanten Umweltaktivisten. Sie läuft Gefahr, mit ihrer Kompromißlosigkeit zur Entsorgung die Totengräberin eines energiepolitischen Konsenses zu werden.
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Die GRÜNEN und Ihre Landesregierung in Niedersachsen wollen über den Hebel der Entsorgung den Bund und die Energiewirtschaft zwingen, auf die sichere und kostengünstige Kernenergie zu verzichten. Herr Ministerpräsident, wir waren uns in den Konsensgesprächen bereits so weit näher gekommen, daß eine befristete Duldung der Kernenergie von Ihrer Seite - wir meinten: zuwenig; aber immerhin - angeboten wurde. Können Sie mir erklären, wie Sie sich eine Einigung ohne eine gesicherte Entsorgung vorstellen? Wie soll es zu einem Energiekonsens kommen, wenn wir keine Entsorgung sichergestellt haben? Sie entziehen sich Ihrer Verantwortung,
({40})
indem Sie Ihrer Umweltministerin freien Lauf lassen, indem Sie sich nicht dem Widerstand der Umweltgruppen in Gorleben entgegenstellen,
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sondern - im Gegenteil - noch eine Ermunterung für diese Gruppen aussprechen. Sie gefährden die Sicherheit unserer Bürger,
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indem Sie eine geregelte und wissenschaftlich abgesicherte Entsorgung seit Jahren blockieren.
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Schon in wenigen Jahren, meine Damen und Herren, wird die Zeit gekommen sein, in der wir die Versäumnisse der Vergangenheit in der Energiepolitik bereuen werden. Ich darf daran erinnern, daß auch Niedersachsen zu rund 40 % von der Kernenergie abhängig ist. Wir dürfen uns in der Energieversorgung nicht allein von den fossilen Energien abhängig machen.
Die zusätzlichen CO2-Belastungen durch den Ausbau von Öl-, Gas- oder Kohlekraftwerken wären für die Umwelt nicht tragbar. Wir wollen auf regenerative Energien setzen, und wir sehen auch in der Energieeinsparung ein riesiges, zu großen Teilen noch unerschlossenes Potential.
Aber, meine Damen und Herren, wer meint, daß wir die Energieprobleme in Deutschland ohne einen sinnvollen Energie-Mix aus allen wichtigen Energieträgern - einschließlich Energieeinsparung; einschließlich regenerativer Energien; Kohle und Öl, aber auch
der Kernkraft - ohne Kernkraft lösen können, der liegt falsch, der ist schief gewickelt.
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Meine Damen und Herren, wir müssen auch in Zukunft in Deutschland in der Lage sein, auf der jeweils sichersten Technologie Kernkraftwerke zu bauen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Endlagerstandort Gorleben und den Transport eines Castor-Behälters haben Symbolwert. Ich hoffe sehr, daß dadurch die Energiekonsensgespräche nicht gestört werden. Wir wollen sie wieder aufnehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als letzten konkreten Punkt - vieles wäre noch hinzuzufügen - darauf hinweisen, daß wir unsere Exportwirtschaft mit konkreten Hilfestellungen flankieren: mit dem Hermes-Instrumentarium, mit den Außenhandelskammern und mit den Beratungsprogrammen.
Wir gehen als Bundesregierung - viele Parlamentarier sind auch dabei - hinaus in andere Länder. Wir verhandeln hart, und wir klopfen auch an. Niemand kann uns schelten, wir hätten zuwenig getan. Wir waren in China, in Indien, in Thailand, in Taiwan, in Mexiko, in Saudi-Arabien und in vielen anderen Staaten.
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Wir haben Milliarden-Aufträge für unsere Unternehmen hereingeholt: der Bundeskanzler, der Finanzminister und der Wirtschaftsminister, mit großen Delegationen von Unternehmern,
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die über alle Maßen angetan waren von dem, was diese Bundesregierung tut, um im Export die Türen aufzustoßen.
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Wir sind Exportweltmeister, meine Damen und Herren, und viele in diesem Hause und anderswo haben dazu beigetragen.
Ich sage zusammenfassend: Unsere marktwirtschaftliche Politik ist ohne jede Alternative. Unser Konzept hat sich als richtig erwiesen. Die Beschäftigungswende in Ostdeutschland und in Westdeutschland ist eingeleitet. Von einem alternativen Konzept Ihrerseits habe ich nichts gehört, nur ein Herumstochern an wenigen Themen, keine Visionen und keine Prinzipien.
Die Wirtschaft in diesem Land ist auf Wachstumskurs. Wir haben den Aufschwung Ost in Gang gebracht. Wir haben die Kompetenz, und Sie reden unsystematisch daher. Dieses Land wird in der Welt um seinen Erfolg in der Wirtschaftspolitik beneidet.
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Es hat zwar Probleme, aber wir werden diese Probleme lösen. Wir werden Deutschland für das 21. Jahrhundert fit machen.
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Als nächste spricht Frau Dr. Christa Luft.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will laut Koalitionsvereinbarung und laut den Aussagen des Bundeskanzlers am Ziel festhalten, Vollbeschäftigung zu erreichen. Dies läßt erwartungsvoll aufhorchen, dies ist sehr bemerkenswert, haben doch bis vor kurzem nicht wenige Politiker Vollbeschäftigung als anachronistisch bezeichnet, sie als Relikt der Planwirtschaft verpönt.
Wir tragen einen solchen Vollbeschäftigungsanspruch selbstverständlich mit. Er entspricht unseren Vorstellungen von einem zivilisierten Gemeinwesen, in dem alle Arbeitswilligen und alle Arbeitsfähigen die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu bestreiten und nicht von Alimenten leben müssen. Erwerbsarbeit ist die entscheidende Grundlage, damit der einzelne an Eigentumsbildung teilhaben kann, also an der Grundlage, auf der das marktwirtschaftliche System beruht.
Wenn Sie nun aber, meine Damen und Herren von der Koalition, ehrlich am Erreichen des Vollbeschäftigungsziels arbeiten wollen, weshalb lehnen Sie dann die Aufnahme eines Rechts auf Arbeit als Staatsziel in die Verfassung ab?
Während der gesamten Amtszeit dieser Koalitionsregierung war die Massenarbeitslosigkeit ein Alltagsproblem, eine Alltagserfahrung. Das Phänomen Massenarbeitslosigkeit können Sie jedenfalls nicht auf die deutsche Einheit und auf das Hinzukommen des maroden Ostens schieben, wie Sie das so gern bezeichnen.
Womit gedenkt denn nun die neue/alte Regierungsmannschaft das deklarierte Vollbeschäftigungsziel anzusteuern? Die einzigen, die in Ihrer Beschäftigungspolitik wirklich ins Kraut schießen sollen, sind die privaten Haushalte, die Sie verstärkt für den regulären Arbeitsmarkt und für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gewinnen wollen. Also stellen Männer ihre eigenen Partnerinnen ein oder umgekehrt. Besserverdienende engagieren Dienstmädchen und nutzen die steuerlichen Abzugsmöglichkeiten. Uns steht nicht der Ausbau einer Dienstleistungsgesellschaft ins Haus, die Herr Glos vorhin gefordert hat, sondern es erscheint der Ausbau einer Dienstbotengesellschaft am Horizont.
({0})
Eine solche Gesellschaft frei von Tarifen, frei von gewerkschaftlicher Interessenvertretung und ohne Einfluß von Personal- oder Betriebsräten würde das Gesicht dieser Republik tatsächlich verändern, aber nicht das, was Sie uns ständig unterschieben.
({1})
Diese Dienstbotengesellschaft wird vorrangig weiblich, jugendlich und ostdeutsch sein. Das sind schöne
Aussichten - ein weiterer Abbau von Sozialstandards, ganz auf die kalte Tour. Woher wollen Sie übrigens all die vielen zahlungsfähigen privaten Haushalte nehmen, die die Menschen einstellen sollen, die durch den entstehenden Kostendruck bei Privatisierung im Gesundheitswesen, bei Privatisierung von kommunalen Dienstleistungsunternehmen freigesetzt werden?
Forschungsergebnisse sollen schneller in verkauf-bare Produkte umgesetzt werden, damit Güter und Leistungen verkauft werden können. Bravo, kann ich nur sagen. Aber haben Sie auch nur einen einzigen Gedanken darauf verwendet, wie viele Patente von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Forschern und Ingenieuren der früheren DDR bis heute ungenutzt brachliegen? Per 3. Oktober 1990 waren 138 000 Erfindungen aus Ostdeutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet. Davon waren zu jenem Zeitpunkt zwei Drittel noch nicht in Produkte umgesetzt, Inzwischen werden monatlich 1 000 Patente gelöscht - künftig sollen es sogar 3 000 in jedem Monat sein -, weil sich die Autoren und Erfinder ihre Aufrechterhaltung finanziell nicht leisten können.
Wer eigentlich kann es verantworten, daß wertvolle Ideen in einem solchen Ausmaß sehenden Auges versickern? Warum tun Sie nicht endlich etwas zur Rettung und Ausschöpfung dieses Kreativitätspotentials? Der Markt allein, Herr Rexrodt, wird es eben nicht richten. Warum haben Sie nicht längst eine Einkaufsoffensive Ost für diesen Bereich initiiert? Zum Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für den Ausbau wertschöpfender Produktionen wäre das gewiß nicht. Gerade Umbruchprozesse, in denen sich Ostdeutschland gegenwärtig befindet, bedürfen eines Geburtshelfers, bedürfen eines Mitwirkens der öffentlichen Hand.
Kein Wort findet sich in Ihrer Koalitionsvereinbarung dazu, wie Sie das arbeitsplatzschaffende Innovationsklima in Deutschland prinzipiell verbessern wollen. Sie sehen zu, wie große Konzerne weiter ihr Kapital in Finanzanlagen stecken und an der New Yorker Börse spekulieren, statt langfristige Innovationsrisiken zu wagen. Ohne das Finanzkapital zu entprivilegieren, wird es einen innovativen Nachfrageschub nicht geben können.
Ein angemessenes Signal für eine wirksame arbeitsmarktpolitische Offensive könnten Sie angesichts dessen, daß auch der Sachverständigenrat für die nächste Zeit keine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt angekündigt hat, setzen, indem Sie sich endlich zum Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors bekennen. Soziale Dienste, Umweltschutz, Jugendarbeit, Stadt- sowie Landschaftsgestaltung und -sanierung könnten dafür Schwerpunkte sein. Das sind Bereiche, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen.
Ein solcher Sektor, gemischt finanziert aus Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit, aus Lohnkostenzuschüssen, Sachkostenzuschüssen und Selbstbeteiligung privater Unternehmen, kann von vornherein mit Merkmalen des ersten Arbeitsmarktes gestaltet werden, also mit tariflicher Entlohnung, ohne zeitliche Limitierung der Arbeitsverhältnisse à la ABM, mit Wettbewerb verschiedener Anbieter, mit individuelDr. Christa Luft
len Initiativen und mit effizienter, unbürokratischer Organisation. Öffentliche Förderung, meine Damen und Herren, und unternehmerisches Engagement können doch verbunden werden, wenn wir alle uns von ideologischen Dogmen trennen.
Die Förderung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern soll fortentwickelt werden, der erfolgreich begonnene wirtschaftliche Aufbau fortgesetzt werden, ist eine These der Regierung. Was geht nun jemandem, der aus dem Osten kommt, durch den Kopf, wenn er solches hört? Es trifft zu: Wir haben inzwischen ein buntes, vielfältiges Warenangebot, wir haben neue Straßen, wir haben schönere Häuserfassaden, wir haben bessere Telefonnetze. Dies alles wird geschätzt, und das möchte auch niemand mehr missen. Aber das allein kann doch nicht für den wirtschaftlichen Aufschwung stehen!
Herr Rexrodt, es nützt auch nichts, wenn Sie für den Osten beeindruckende Zuwachsraten nennen, ohne zu sagen, von welchem Ausgangsniveau das geschehen ist.
({2})
Ich erinnere mich bei solchen Aussagen immer an einen Satz meines Statistikprofessors, der sagte: Im Durchschnitt war der Bach 80 cm tief, und trotzdem ist die Kuh ersoffen.
Wir sind in Ostdeutschland Zeuge der größten Vernichtung von Industrie- und Forschungspotentialen, die es in Friedenszeiten und in so kurzer Zeit je gegeben hat. Meine Damen und Herren, das müssen wir doch festhalten. Ein selbsttragender Aufschwung ist nicht in Sicht. Nach wie vor fließen siebenmal mehr Güter und Leistungen aus den alten Bundesländern in die neuen Länder, als umgekehrt von Ost nach West gehen.
In der Landwirtschaft sind 80 % der Arbeitsplätze abgebaut worden. In Mecklenburg-Vorpommern - um nur ein Beispiel zu sagen blieb von ehemals sechs Arbeitsplätzen auf dem Lande noch ein einziger übrig.
({3})
Besonders die Frauen sind von dieser negativen Entwicklung betroffen.
Sie versündigen sich, meine Damen und Herren, am west- wie am ostdeutschen Steuerzahler, wenn Sie die wahrlich beeindruckenden Finanztransfers nicht endlich in Beschäftigungswirkungen umsetzen.
({4})
Dazu gehört erstens, die Qualifikationspotentiale im Osten für einen selbsttragenden Aufschwung nutzbar zu machen, zweitens, die traditionellen Beziehungen ostdeutscher Unternehmen mit mittelosteuropäischen Ländern wieder in Gang zu bringen. Das Instrument der Hermes-Bürgschaft, das auf den Osten ausgedehnt wurde, war natürlich unverzichtbar; aber es war unverantwortlich, daß nicht neue Instrumente, die für die Bewältigung dieses Umbruchprozesses im Außenhandel notwendig gewesen wären, genutzt worden sind.
Ich erinnere daran, daß private Konsortien sich inzwischen mit einem Clearinghandel beschäftigen, was die Bundesregierung für ihre Ebene von Anfang an abgelehnt hat.
Drittens ist ein Bekenntnis zur industriellen Wiederaufforstung der neuen Länder notwendig. Das ist die entscheidende Grundlage, um auch industriellen Mittelstand zu befördern. Herr Rexrodt, Sie haben hier wiederum beeindruckende Zahlen der entstandenen mittelständischen Firmen genannt, aber Sie dürfen den Bürgerinnen und Bürgern, die diese Debatte verfolgen, doch nicht verschweigen, was das für Firmen sind. Es sind doch im allergeringsten Maße Firmen aus dem industriellen Bereich. Es sind überwiegend Würstchenbuden, Versicherungsmakler, Erotikshops.
({5})
Viertens geht es um die Ingangsetzung neuer Wirtschaftskreisläufe im ländlichen Raum und um die Gewährleistung der Chancengleichheit aller Formen landwirtschaftlicher Produzenten.
Das ganze Deutschland - nicht nur Ostdeutschland - wird ärmer, wenn sein östlicher Teil lediglich als Altlast entsorgt wird, statt als ökonomisches Potential begriffen zu werden. Und das kann selbst ein schlanker Staat leisten, meine ich, dieses ökonomische Potential mit seinen vielen qualifizierten Menschen im Osten zu nutzen und die Weichen zu stellen, damit sie sich an der Zukunftsentwicklung in diesem Lande beteiligen können.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Krüger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer von uns hätte vor fünf Jahren gedacht, daß wir am Ende dieses Jahrhunderts die Chance haben werden, die Zukunft in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit all unseren Nachbarn zu gestalten? Wer hätte noch vor einigen Jahren gedacht, daß wir den Kalten Krieg schnell und endgültig friedlich überwinden werden? Wer hätte es für möglich gehalten, daß im Deutschen Bundestag Debatten über die Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland stattfinden, so, als ob die Teilung schon weit hinter uns läge?
({0})
Dabei bleibt, meine Damen und Herren, bezüglich der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost in der Tat noch viel zu tun. Es ist gut, sich in diesem Zusammenhang gelegentlich zu vergegenwärtigen, wie es vor fünf Jahren im Ostteil Deutschlands aussah und welche Zustände zum Zusammenbruch des alten Systems führten. Meine Vorrednerin erinnert mich an diese Zustände.
({1})
Denken Sie, meine Damen und Herren, an verfallene Häuser, an bröckelnde Häuserfassaden, an menschenunwürdige Wohnungen dahinter! Denken Sie an schlechte und löchrige Straßen! Denken Sie an
völlig unzureichende Telefonnetze, wobei - das haben wir täglich gespürt - die Gespräche ohnehin mitgehört werden konnten!
Denken Sie an die maroden und nicht wettbewerbsfähigen Industriestrukturen! Sozialismus, meine Damen und Herren, heißt Vernichtung von Wirtschaft und Wirtschaftskraft.
({2})
Denken Sie dabei ganz besonders an das praktisch vollständige Vernichten eines Mittelstandes, der, soweit noch vorhanden, mit einem Steuerhöchstsatz - das sage ich allen Kollegen dieses Hauses - von 97 % belastet wurde!
Denken Sie an eine an vielen Stellen zerstörte oder verseuchte oder vergiftete Umwelt!
Denken Sie an die fehlende Freizügigkeit der Menschen, und denken Sie an die permanente staatliche Gängelung allenthalben! Denn wir wurden nicht in Ruhe gelassen.
Denken Sie an die Präsenz des Staates durch die Stasi bis hinein in die intimsten Bereiche!
Denken Sie an die willkürliche Beugung des Rechts durch die Schergen des Staates!
Denken Sie nicht zuletzt an Menschen mit irreparablen Lebensperspektiven! Wir haben an diese Menschen zu denken.
Es war und bleibt eine Aufgabe für Ost- und Westdeutsche, gemeinsam die Folgen der 40jährigen SED-Diktatur zu überwinden. Wir sollten dabei allerdings nicht zu schnell vergessen, wer für diesen Unrechtsstaat verantwortlich war und welche Errungenschaft Demokratie und Freiheit für die Menschen im Osten tatsächlich bedeuten.
({3})
Meine Damen und Herren, denken Sie auch daran, wohin real existierender Sozialismus führt!
Vieles ist in den letzten fünf Jahren seit dem Mauerfall erreicht worden. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle all diejenigen hervorzuheben, die mit ihrem Engagement und ihrer Tatkraft dazu beigetragen haben, daß sich die Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern entscheidend verbessern konnten.
Die Veränderung beginnt immer und begann auch vor fünf Jahren nicht mit Opposition. Sie begann bereits damals mit dem Anpacken der Probleme. Die Veränderung begann damit, daß viele, die vor der Wende der Politik aus guten Gründen fernstanden, bereit waren, auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene Verantwortung zu übernehmen und am Aufbau mitzuwirken. Dafür möchte ich allen Beteiligten auch von dieser Stelle ganz herzlich danken:
({4})
all denen, die damals die Ärmel hochgekrempelt haben, um den Wiederaufbau zu beginnen; all denen, die unternehmerische Initiative und Risikobereitschaft gezeigt und Arbeitsplätze im Osten geschaffen haben; all denen, die bereit waren, uneigennützige Hilfe zu leisten; und nicht zuletzt all denen, die durch Solidarbeiträge, auch durch Sozialversicherungsbeiträge, einen Finanztransfer von West nach Ost geleistet haben, der in der Geschichte - zumindest Deutschlands - einmalig ist.
({5})
Die Vollendung der Einheit ist eine Aufgabe, die die CDU/CSU, die Koalition und die von ihr getragene Regierung voll annehmen. „Aufbau Ost vor Ausbau West" - hinter diesem Schlagwort verbirgt sich doch die Erkenntnis, daß wir in den alten und den neuen Bundesländern fundamental unterschiedliche Lebensbedingungen hatten und trotz der bisherigen Aufbauleistung zum Teil noch haben.
Die neuen Länder sind heute - auch dank der Anstrengung der Bundesregierung - die wirtschaftlich dynamischste Region Europas, die Wachstumsregion Europas. Die Einkommen der Beschäftigten und insbesondere der Rentner sind beträchtlich gestiegen. Der Arbeitsplatzabbau ist gestoppt, und die Beschäftigung beginnt wieder zuzunehmen. Doch von einer Angleichung der Lebensverhältnisse kann noch lange nicht die Rede sein. Dies müssen wir bei allem, was wir tun, klarmachen.
Viele schwierige Aufgaben liegen vor uns. Hierbei ist es gut, die Sensibilität und die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen zu nutzen, um die Lage in den neuen Bundesländern bei allen politischen Entscheidungen angemessen berücksichtigen zu können.
Gleichzeitig geht es darum, den notwendigen Prozeß der schrittweisen Anpassung der Lebensbedingungen nicht einseitig zu vollziehen. Vielmehr sind Erkenntnisse und Erfahrungen der Menschen und des Aufbauprozesses im Osten in die Gestaltung unseres gemeinsamen Vaterlandes einzubeziehen.
Dies haben wir in der vergangenen Legislaturperiode bereits mit Entscheidungen dieses Hauses wie dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz oder dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz erfolgreich praktiziert.
({6})
Bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben z. B. im Abwasserbereich sind die neuen Bundesländer mittlerweile Spitzenreiter.
({7})
Im Vergleich zu westlichen Bundesländern vorbildlich sind auch die Bildungssysteme, die von den CDU-geführten Landesregierungen in Mecklenburg-Vorpommern, in Thüringen, in Sachsen-Anhalt und auch in Sachsen eingebracht wurden, etwa hinsichtlich der Schuldauer, der Begabtenförderung und auch der Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft.
({8})
Meine Damen und Herren, es gibt - ich sprach gerade mit einem Kollegen darüber - hervorragende Erfahrungen bei der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Investitionsprojekte werden in den neuen Bundesländern fast täglich mit einer GenehmiDr.-Ing. Paul Krüger
gungspraxis beschleunigt realisiert, von der sich, mit Verlaub gesagt, die alten Bundesländer - das sage ich besonders in Richtung der Länderbank - eine große Scheibe abschneiden können.
({9})
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben in der Koalitionsvereinbarung der Entwicklung in den neuen Ländern einen großen Raum gewidmet. Viele der dort genannten Schwerpunkte beziehen sich darauf, die Lebensverhältnisse der Menschen in den neuen Bundesländern nachhaltig zu verbessern und die deutsche Einheit zu vollenden. Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, daß eine gute und umweltverträgliche Wirtschaftspolitik die beste Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik ist.
({10})
Notwendige Bedingung dafür ist der weitere Ausbau einer wirtschaftsfreundlichen Infrastruktur. Wir benötigen darüber hinaus die Entwicklung und Markteinführung innovativer Produkte und Dienstleistungen - von Innovationen, wie wir sie heute nennen. Wir brauchen noch mehr unternehmerische Initiativen, und wir brauchen mehr staatliche und vor allem privatwirtschaftliche Investitionen in den neuen Bundesländern.
Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, daß die Investitionen in den letzten Jahren eine Erfolgsstory waren. Ich darf auch daran erinnern, daß wir allein im staatlichen Bereich 350 Milliarden DM für Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt haben und daß wir im privaten Sektor 500 Milliarden DM für Investitionen in den neuen Bundesländern mobilisieren konnten. Ich meine, das ist eine beispiellose Bilanz. Schlagworte hierbei sind: Infrastruktur, Innovation, Initiative und Investition - wir nennen das manchmal spaßeshalber die vier I -, die ganz wichtig für die Entwicklung im wirtschaftlichen Sektor sind.
Hier ist wirklich viel erreicht worden. Ich spreche auch von dem Neu- und Ausbau von 7 000 km Straßen und 3 000 km Schienen, umfangreichen Ausbaumaßnahmen im Bereich der Häfen und der Flugplätze. Man könnte diese Erfolgsstory beliebig fortsetzen.
Ich sage mit allem Nachdruck: Diese Entwicklung in den neuen Bundesländern gilt es weiterhin erfolgreich fortzusetzen. Deshalb begrüße ich es, daß die Koalitionsvereinbarung auf breitem Raum festhält, was wir in den nächsten vier Jahren fortführen und weiter verstärken wollen.
({11})
Die Vollendung der Verkehrsprojekte deutsche Einheit bleibt eine erstrangige Aufgabe. Ich nenne hier beispielhaft die für die Erschließung des Nordens ganz entscheidende Küstenautobahn A 20. Ich nenne außerdem die von der Basis gegen die Pläne einer rot-grünen Landesregierung durchgesetzte SüdharzAutobahn.
({12})
Ich nenne natürlich auch den Transrapid, dessen Bau
nicht nur modernste umweltfreundliche Technik in
die neuen Bundesländer bringt, sondern auch Tausende von Arbeitsplätzen im produzierenden Bereich entstehen lassen wird.
({13})
Die Mittelstandsförderung als wichtigste Komponente des Wirtschaftsaufbaus in den neuen Bundesländern wird fortgesetzt. Wichtigster Schwerpunkt dabei bleibt die Verbesserung der Eigenkapitalsituation der Unternehmen in den neuen Ländern, z. B. als notwendige Voraussetzung für Innovationen.
Ich darf Sie daran erinnern, daß wir dieses Problem wirklich ganz ernst nehmen müssen. Wir hatten in den neuen Bundesländern nicht die Voraussetzung der Vermögensbildung, und wir haben immer noch nicht die Einkommensbasen, wie sie in den alten Ländern vorhanden sind. Das Eigenkapitalhilfeprogramm in den neuen Bundesländern wird deshalb zunächst bis 1998 fortgeführt. Ich halte die Verbesserung des Risikokapitalmarktes auch durch Schaffung staatlicher Ausfallbürgschaften in den neuen Bundesländern für besonders wichtig.
Im Zuge der Deregulierungsoffensive sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren weiterhin vereinfacht und beschleunigt werden. Zudem sollen Initiativen für mehr Existenzgründungen forciert werden. Auch hier haben wir noch Defizite.
Gerade im Osten kommen wir nicht umhin, auf neue Produkte und Technologien zu setzen. Deshalb werden wir die kontinuierliche Förderung der Industrieforschung in den neuen Bundesländern verstärkt fortsetzen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, von dieser Stelle aus den Appell an die Industrie der alten Bundesländer zu richten wie ich es schon häufig getan habe -, die Möglichkeiten, die Potenzen, die bei den Forschern in den neuen Bundesländern, in den Entwicklungsabteilungen von ForschungsGmbHs und vielen anderen Forschungsinstituten liegen, stärker in Kooperation zu nutzen, d. h. auch zu ihrem eigenen Vorteil.
All diese Maßnahmen, die ich hier nannte, zur Förderung der Infrastruktur, zur Förderung der Innovation, zur Ankurbelung privater Initiativen und zur Verstärkung privater Investitionen haben letztlich mehr Arbeitsplätze zur Folge. Dies gilt insbesondere für das produzierende Gewerbe und in immer stärkerem Maße auch für den Bereich der Dienstleistungen und des Umweltschutzes.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich wird, auch von Kollegen aus dem Westteil Deutschlands, die Behauptung geäußert, die Menschen in den neuen Bundesländern seien unzufrieden. Ich glaube, daß die Menschen in den neuen Ländern nicht unzufrieden sind. Ich glaube, sie sind eher gelegentlich verunsichert. Wir müssen dafür Verständnis aufbringen.
Sie sind verunsichert bezüglich des möglichen Verlustes ihrer Arbeitsplätze. Sie sind verunsichert bezüglich einer für sie ungewohnten Kriminalität - die es sicher auch früher gab, aber die heute offener berichtet wird. Sie sind auch bezüglich steigender Mieten verunsichert. Die Mieten müssen aber einfach notwendigerweise steigen, will man im Wohnbereich
etwas verändern. Letztlich sind sie bezüglich vieler ungewohnter, sich ständig verändernder Bedingungen verunsichert, mit denen sie fertigwerden müssen.
Ich finde es unerträglich, wenn Politiker bestimmter Parteien diese Menschen weiter verunsichern und ihnen Angst einjagen. Ich halte das für eine schlimme Sache.
({14})
Wenngleich es in einer freiheitlichen Demokratie keine absolute Sicherheit geben kann, ist es doch besonders wichtig, die Unsicherheitspotentiale unter den noch instabilen Bedingungen der neuen Bundesländer weiter abzubauen.
Neben der Stärkung der Wirtschaftskraft, über die ich soeben sprach, gilt es, die bereits laufenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im notwendigen Umfang fortzuführen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind hierbei besonders für ältere Arbeitnehmer anzuwenden. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit, die Bekämpfung der Kriminalität und der Schutz der Bürger bei Achtung ihrer Grund- und Freiheitsrechte sind deshalb insbesondere in den neuen Bundesländern politische Schwerpunktaufgaben.
Die notwendige schrittweise Anpassung der Mieten ist unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung sozialverträglich zu gestalten. Vor allem das Defizit an Wohneigentum ist durch eine Verbesserung der Förderung der Bildung von Wohneigentum, insbesondere durch eine verstärkte Förderung des Eigenheimbaus, abzubauen. Neben der steuerlichen Wohneigentumsförderung und einer verstärkten Bausparförderung soll vor allem mit der geplanten Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative ein ganz wesentlicher Impuls gegeben werden. Dabei sollen insbesondere Familien mit Kindern begünstigt werden, was ich für völlig richtig halte. Ich weiß, daß das die Zustimmung dieses Hauses, insbesondere meiner Fraktion, findet.
Meine Damen und Herren, das Spektrum der besonderen Bedingungen in den neuen Bundesländern und der sich daraus ableitenden Notwendigkeit spezieller Maßnahmen ist enorm umfangreich und reicht von der verstärkten Förderung von Großgeräten der Grundlagenforschung bis hin zur Bundesbeteiligung an Kultureinrichtungen der neuen Bundesländer, wie das in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben ist.
Ich glaube deshalb, daß mit der vorliegenden Koalitionsvereinbarung ganz wesentliche Schwerpunkte für den Aufbau im Ostteil Deutschlands und für die Vollendung der deutschen Einheit gesetzt werden. Auf dieser Basis bleibt die Lösung der vorhandenen Probleme allerdings eine langfristige Aufgabe für uns und für alle Menschen in Deutschland.
Dabei bedarf nicht nur die Annäherung der Menschen in Ost und West, sondern die menschliche Dimension dieser Aufgabe überhaupt unserer besonderen Aufmerksamkeit. Wir haben dabei besonders darauf zu achten, daß die Menschen in Ost und West trotz unterschiedlicher Entwicklungen, trotz unterschiedlicher Qualifikationen, trotz unterschiedlicher Vermögens- und Einkommensverhältnisse, trotz unterschiedlicher Erfahrungen, trotz unterschiedlicher Biographien - kurz gesagt: trotz einer unterschiedlichen Vergangenheit - gleiche Chancen für die Zukunft bekommen. Das, meine Damen und Herren, ist ein ganz dringlicher Appell, den ich an Sie richten möchte.
({15})
Damit ist die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands nicht nur eine historische Aufgabe, sondern sie ist auch eine historische Chance für uns Deutsche.
({16}) Lassen Sie uns diese Chance weiterhin nutzen! Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung soll die politischen Absichten der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. für die nächsten vier Jahre deutlich machen. Die Regierungserklärung soll erläutern, mit welchen Maßnahmen und Initiativen die Bundesregierung unser Land nach der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit wieder vorwärts bringen will.
Deutschland müsse für die Zukunft fit gemacht werden, heißt es dort. Richtig, das muß es wirklich. Wir brauchen einen Aufbruch in die Zukunft, heißt es weiter. Auch richtig. Wer die Regierungserklärung und die ihr zugrundeliegende Koalitionsvereinbarung auf diesen Anspruch hin überprüft, wird feststellen: Hier geht es nicht um Aufbruch, hier geht es um Abgesang.
({0})
Wenn Regierungserklärungen Orientierungen bieten sollen, so ist das, was der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, ein Dokument der Desorientierung, kraftlos, ohne Feuer und ohne Inspiration.
({1})
Wir haben eine inhaltlich ausgebrannte und personell ausgeblutete Regierung vor ihrem letzten Gefecht, geprägt von der Angst, die fast verlorene parlamentarische Mehrheit vollends zu verlieren, erlebt.
({2})
Diese Regierungserklärung, meine Damen und Herren, legt offen: Wir stehen vor einer Phase der politischen Lähmung. Keines der drängenden Probleme wird wirklich in Angriff genommen.
({3})
Von der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, der Sicherung des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb bis zu der Ausrichtung des Sozialstaats auf zukünftige Herausforderungen - nichts wird wirklich begonnen, alles wird hinter wohlfeilen, vagen Formeln versteckt.
Robert Leicht hat recht, wenn er zu dieser Regierung und ihrer Politik jüngst in der „Zeit" feststellt:
Die handelnden Personen verbergen ihre Unschlüssigkeit und Unsicherheit hinter Formelkompromissen, die vieles beschwören, ohne daß es wirklich zum Schwur kommt.
({4})
Für die SPD-Fraktion steht fest: Würde diese Regierung der politischen Lähmung und der inneren Schwäche vier Jahre ihres Amtes walten,
({5})
unserem Land bekäme das nicht gut. Diesem Land würden Belastungsproben abverlangt, die es in sich haben.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht es daher als ihre Pflicht an, alles zu tun, um das unserem Land zu ersparen.
({6})
Der wirtschaftliche Aufstieg unseres Landes und die Bewahrung des sozialen Friedens hängen in entscheidender Weise davon ab, wie und ob es gelingt, das Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen und es schrittweise zu lösen.
Die zentrale Frage lautet: Wie lange wollen und können wir uns die vorherrschende gesellschaftspolitische Praxis des Umgangs mit Massenarbeitslosigkeit eigentlich noch leisten?
({7})
Es hängt von der Ernsthaftigkeit ab, mit der nach Antworten auf die Frage gesucht wird, ob sich ein drohender beschäftigungspolitischer und damit gesellschaftspolitischer GAU verhindern läßt. Die Regierungserklärung wie die Koalitionsvereinbarung stellen unter Beweis, daß die Koalition weder willens noch fähig ist, auf diese Frage ernsthafte Antworten zu finden.
Beim Umgang mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit haben in dieser Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. offenkundig die Anhänger der reinen Lehre das Sagen. Die sagt: Der Preis für die Ware Arbeitskraft muß so weit sinken, daß sich dafür wieder Käufer finden.
Die Kürzungskonzerte im Leistungskatalog des Arbeitsförderungsgesetzes, die diese Regierung seit ihrem Bestehen in jedem Haushaltsjahr veranstaltet, offenbaren die gesellschaftspolitische Haltung, die dahintersteht: Sozial Bedürftige und Arbeitslose sollen finanziell knapper gehalten werden, um dadurch vermeintliche Eigeninitiative und Arbeitsbereitschaft anzuregen.
Daß diese „Brotkorb-höher-hängen-Philosophie" in die gesellschaftspolitische Rumpelkammer gehört, ist die eine Sache. Daß sie an den Beweggründen und Bewußtseinslagen der betroffenen Menschen völlig
vorbeigeht, ist die andere und für die Folgen von Politik viel entscheidendere.
({8})
- Wissen Sie, Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe waren schon einmal intelligenter.
Die Erwartung, daß sich eine arbeitslose Textilfacharbeiterin aus Plauen im Vogtland oder Viersen am Niederrhein
({9})
unter Ihrer Androhung, Herr Louven, sozialer Verelendung motivieren ließe, bei einem Stuttgarter Zahnarzt oder Hamburger Studienrat als Dienstmädchen zu arbeiten, ist schlicht absurd.
({10})
Das Schlimme ist: Bei Ihnen von der CDU/CSU und von der F.D.P. beruht das auf einem Menschenbild, das mit der Freiheit des einzelnen sehr wenig, aber mit der beliebigen Verfügbarkeit seines Schicksals sehr viel zu tun hat.
({11})
Ich frage: Was soll eigentlich der Hinweis in der Koalitionsvereinbarung, man müsse den Bereich des privaten Haushaltes für den Arbeitsmarkt nutzbar machen und dort die Möglichkeit für neue Stellen schaffen? Soll das ein Beitrag zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sein, Herr Blüm? Entsteht etwa ein neuer Beschäftigungsboom, wenn Kinderfrauen, Hausmädchen und Gartenboys für den privaten Haushalt steuerabzugsfähig gemacht werden?
({12})
Das glaubt ja in dieser Regierung noch nicht einmal der Herr Rexrodt, und das will allerdings was heißen.
({13})
Dahinter steht eine ganz bestimmte gesellschaftspolitische Philosophie: Je niedriger die soziale Mindestabsicherung, desto höher die Nachfrage selbst nach mies bezahlter Arbeit. Diese Regierung will Konjunktur für etwas schaffen, was man in der Fachsprache „bad jobs" nennt. Sie will ein Klima, in dem Arbeitnehmer aus Gründen ihrer Existenzsicherung bereit sind, wie es sprichwörtlich heißt, für einen Apfel und ein Ei zu arbeiten. Das geschieht in der nicht unberechtigten Erwartung, daß sich dann weitere finden, denen aus der Not heraus der Apfel reicht und die auf das Ei verzichten.
Einer solchen Politik, meine Damen und Herren, geht es nicht mehr um Menschen, für die Arbeit zentrales Element einer sinnvollen Lebensführung darstellt, sondern ihr geht es um Menschen, die sich gefälligst produktionsgerecht verfügbar zu halten
haben, wenn sie ihr Existenzminimum verdienen wollen.
({14})
Die Frage, ob das nun der Aufbruch dieser Regierung in die Zukunft sein soll, ist ja wohl berechtigt. Es ist in Wahrheit eine Rückkehr in Produktions- und Arbeitsverhältnisse, die wir überwunden haben. Eine Fahrt in diese Vergangenheit macht die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nicht mit.
({15})
Die Regierungserklärung belegt, daß die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. abermals auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik verzichten und sich statt dessen auf das bloße Verwalten von Arbeitslosigkeit beschränken will. Tatsächlich ist sie drauf und dran, in der Wirklichkeit zu testen, welche Zukunft eine Gesellschaft hat, die immer mehr Menschen bestätigt, daß ihre Arbeitsleistung nicht mehr gefragt ist. Das wäre ein Test, der nur in einer sozialen Katastrophe enden kann.
Ist Ihnen von der Regierung wirklich nicht klar, was Arbeit für den einzelnen, für seine Stellung im gesellschaftlichen Gefüge, bedeutet? Ich sage Ihnen: Wer Arbeit hat, gesichert und einträglich, der zeigt, daß er etwas „geworden ist". Er verdient sein Einkommen und kann sich Dinge leisten, die für sein Ansehen in der Familie, bei Nachbarn und Freunden wichtig sind. Einen Job zu haben sichert Kontakte und Gesprächsstoff, gibt Halt.
Das mögen Banalitäten sein; aber es sind Banalitäten nur bis zu jenem Tag, an dem der Job wegbricht. Wer seine Arbeit verliert, der verliert nicht nur einen Teil seiner täglichen Bürde. Er verliert stets auch seine Würde. Ich empfinde es als unerträglich, daß diese Regierung in ihren Reden über Arbeitslosigkeit so tut, als sei das eine Art Zwangsurlaub, Familienpause oder Muße für Nachbarschaftserfahrungen oder andere angenehme Dinge.
({16})
Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. auch nur näherungsweise die Probleme erfaßt hat, die am Arbeitsmarkt in Zukunft auf uns zukommen werden. Das PrognosInstitut faßt die zu erwartende Entwicklung in einem nüchternen Satz zusammen. Dort liest man:
Der Produktivitätsfortschritt bis zum Jahre 2010 reicht aus, die Mehrproduktion ohne zusätzliche Arbeitskräfte zu erstellen.
Wenn das stimmt - und ich zweifle daran nicht -, dann ist dies für jede verantwortungsbewußte Politik ein Alarmsignal; ein Alarmsignal, das zu höchster Aktivität am Arbeitsmarkt veranlassen sollte, aber nicht, wie bei dieser Regierung, zum arbeitsmarktpolitischen Nichtstun.
({17})
Im Problemdreieck von Rationalisierung, unterlassener Beschäftigungspolitik und Rezession verschwinden in Deutschland Tag für Tag bis zu 2 000 Arbeitsplätze, die nur zu einem immer kleineren Teil
durch Expansion in den noch oder wieder wachsenden Wirtschaftssektoren neu entstehen. Wo wird in der praktischen Politik dieser Regierung oder ihrer Ankündigungen, wo wird in ihren Absichtserklärungen für die nächsten Jahre deutlich, daß sie aus dieser Entwicklung ihre Konsequenzen gezogen hat? Ich erkenne nichts. Ich lese nichts.
In den alten Bundesländern liegen die Kosten pro Arbeitslosen bei knapp 40 000 DM. Rechnet man entgangene Steuereinnahmen hinzu, so liegen sie gar noch um einiges darüber. Es macht doch keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Aber es macht Sinn, wenn Sozialdemokraten fordern, diese 40 000 DM nicht für die Zahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, also für Lohnersatzleistungen, auszugeben, sondern mit diesem Geld Arbeitsplätze zu finanzieren, aus Arbeitslosen wieder Beitragszahler zu machen.
({18})
Wir werden dieser Koalition nicht ersparen, darauf eine Antwort zu geben. Wir werden im Bundestag ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorlegen, das mit unserer Forderung Ernst macht: Arbeit schaffen statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
Wer sich den Tort antut, die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, und die Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und F.D.P. im einzelnen nachzulesen und auf ihre Konsequenzen hin zu überprüfen, wird feststellen, daß der Sozialstaat bei dieser Regierung in erster Linie die Funktion eines Störenfriedes oder Belastungsfaktors hat. Für CDU/CSU und F.D.P. besteht die Welt nur aus Kosten und Preisen, und das war es dann auch schon.
Wer fast ausschließlich in ökonomischen Kategorien denkt, wie CDU/CSU und F.D.P. dies tun, dem ist letztlich gleichgültig, wenn sich unsere gesellschaftliche Wertordnung ins ausschließlich Ökonomische verschiebt; denn er mißt den gesellschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg von Menschen vorrangig an ihrem wirtschaftlichen Ergebnis. Das ist es, was nach zwölf Jahren geistig-moralischer Erneuerung übriggeblieben ist. Der Beitrag von Menschen zu unserer Gesellschaft wird in cash gemessen, meine Damen und Herren.
({19})
Unter dieser Regierung sind Dynamik, Flexibilität oder Deregulierung zu fast uneingeschränkt positiv besetzten Begriffen geworden. Da wird nicht einmal die Frage gestellt, zu wessen Nutzen dynamisiert, flexibilisiert oder dereguliert werden soll.
Diese Bundesregierung beklagt vordergründig, daß in weiten Kreisen unserer Gesellschaft Gemeinsinn, Solidarität und Mitmenschlichkeit verkümmert seien. Das ist wohl wahr. Aber daß die Ellenbogen zum entscheidenden Körperteil geworden sind, der das gesellschaftspolitische Fortkommen und die gesellschaftspolitische Teilhabe sichert, ist zu allererst
Ergebnis zwölfjähriger Politik von Konservativen und sogenannten Liberalen.
({20})
- Herr Weng, wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, dann erinnere ich mich immer an den französischen Dichter Molière.
({21})
Dem wird der Satz zugeschrieben: Dem Mensch ist die Sprache gegeben, um seine Gedanken auszudrücken. Wenn er Herrn Weng gekannt hätte, hätte er sich nie zu dieser gewagten Formulierung hinreißen lassen.
({22})
Da wird von Vertretern der Koalition im Gleichklang mit Unternehmern ständig über die Grenze der Belastbarkeit im Hinblick auf Steuern und Beiträge fabuliert, die von den aktiv Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Da ist ja etwas dran. Das kann ja keiner wegleugnen. Aber ich frage: Was ist von einer Regierung zu halten, die die Grenze der Belastbarkeit noch nicht einmal andeutungsweise auch im Hinblick auf jene diskutiert, die auf Grund ihres Lebensschicksals auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind? Gibt es denn dort keine solche Grenze?
Wo sind Absichten dieser Regierung, die endlich den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs in Gang setzen, wieviel Geld wir für unseren Sozialstaat zukünftig ausgeben wollen? Diese Diskussion wird doch gar nicht geführt. Statt dessen wird von CDU/ CSU und F.D.P. von vornherein festgestellt, der Sozialstaat sei zu üppig, es werde zuviel für soziale Zwecke ausgegeben.
({23})
Der Sozialstaat ist in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht die Abteilung für Bedürftige und Zukurzgekommene, in der es Almosen oder Gratifikationen zu verteilen gilt.
({24})
Er mißt den Menschen vielmehr Rechtsansprüche zu, die zu voller und aktiver gesellschaftspolitischer Teilhabe ertüchtigen.
({25})
Die in der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. gängige Forderung - sie findet sich auch in der Koalitionsvereinbarung wieder -, der Sozialstaat müsse auf die eigentlich Bedürftigen beschränkt werden, ist kein Schritt in die Zukunft, meine Damen und Herren, er ist ein Schritt in die Vergangenheit.
({26})
Er ist deshalb ein Schritt in die Vergangenheit, weil es keine Sozialversicherung gibt, in der nur Arme, Alte und Kranke Mitglied sind. Es gibt sie nicht, weil eine Sozialversicherung nicht Leistungen auszahlen kann, ohne daß sie von anderen finanziert werden. Wer dennoch einer Beschränkung auf die eigentlich Bedürftigen das Wort redet, der soll aufhören, über Sozialversicherung zu sprechen. Denn er will in Wahrheit eine Bedürftigenfürsorge. Das wollen Sozialdemokraten nicht.
({27})
Der Sozialstaat bedrohe den Standort Deutschland. Auch das ist eine These dieser Regierung. Sie tut so, als ob wir einen Lohn- oder Lohnnebenkostenwettbewerb mit Billiglohnländern je gewinnen könnten. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen wir vielmehr durch andere Bedingungen sicherstellen: Verläßlichkeit der Rahmenbedingungen für die Produktion, stabile Sozialbeziehungen, Tarifautonomie, innovative Produkte und Produktionsverfahren und günstige Kapitalkosten. Ich möchte wissen, wie wir diese Bedingungen ohne einen funktionierenden Sozialstaat je gewährleisten wollen. Die Wahrheit ist doch eine andere: Ohne einen funktionierenden Sozialstaat ist der Standort Deutschland nicht mehr viel wert.
({28})
Im übrigen: Wer die gesicherte Wettbewerbsfähigkeit für die deutsche Volkswirtschaft in dieser Weise von der Höhe der Lohnnebenkosten abhängig macht und damit indirekt eine Vergleichbarkeit der sozialen Standards zwischen Deutschland und seinen Konkurrenten einfordert, der billigt unseren Konkurrenten einen maßgeblichen Einfluß auf Ausmaß und Umfang unserer sozialstaatlichen Sicherung zu. Das heißt dann in letzter Konsequenz: Sozialdumping in Malaysia oder Taiwan führt zu Sozialdumping in Deutschland.
({29})
- Herr Louven, ich sage nicht, daß diese Regierung das will, jedenfalls nicht in ihrer erkennbaren Mehrheit.
({30})
Aber ich benutze dieses Beispiel zum nachdrücklichen Appell gerade an Sie - Herr Louven, Sie sind nämlich einer der federführenden Verbalakrobaten -,
({31})
aufzuhören mit derart einschlägigen Redereien, die andere in ihrer Koalition dann plötzlich mehrheitsfähig machen, wenn es wieder ans Rasieren geht. Das ist der eigentliche Punkt.
({32})
Die sozial- und gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit der Koalition ist mit den Händen zu greifen - in der Arbeitsmarktpolitik wie bei der Fortentwicklung unserer Systeme der Sicherheit. Sie
ersetzt gesellschaftspolitische Gestaltung weitgehend durch eine Politik platter Kostenminimierung.
Das Urteil nach dieser Regierungserklärung von Herrn Kohl mag hart klingen, aber ich finde, es ist nicht ungerecht: Der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ist bei dieser Koalition in schlechten Händen.
({33})
Das Wort hat nun der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht so gebildet wie mein Vorredner.
({1})
- Molière. Was aber wollte uns der Dichter mit der Rede, die wir gerade gehört haben, sagen?
({2})
Was sollen wir jetzt tun? Ich habe immer den Bleistift gespitzt und auf Vorschläge gewartet. -Ich habe den Bleistift wieder weggelegt. Meine Damen und Herren, Besprecher haben wir genug, Bearbeiter braucht dieser Staat!
({3})
Kommt von den Marktplätzen des Wahlkampfes zurück in die Werkstatt der Problemlösung! Das ist meine Einladung.
In der Tat, in der großen Herausforderung stimmen wir überein: Arbeit für alle schaffen. Das ist die große Herausforderung. Nur, Frau Luft, wenn ich das nebenbei noch sagen darf: Auf die Idee, daß die Massenarbeitslosigkeit der deutschen Einheit anzulasten sei, ist noch niemand gekommen. Wenn sie jemandem anzulasten ist, dann der SED. Deshalb hört sich das, was Sie sagen, merkwürdig an.
({4})
Sie haben das Land austrocknen lassen und reden hier wie ein Spezialist für Bewässerung. Sie sind doch diejenigen, die das Land im ruinierten Zustand hinterlassen haben.
({5})
Es gibt keine Patentrezepte, sondern nur die Anstrengung aller. Wer immer nur nach dem Staat ruft, der versucht eine Lösung, die sich gerade in der DDR als falsch erwiesen hat.
({6})
Ihre Vorschläge beinhalten an Stelle der Planwirtschaft eine ABM-Wirtschaft.
Wir brauchen die Anstrengung aller, die der Unternehmer, der Tarifpartner, des Bundes, der Länder, der
Finanz- und der Wirtschaftspolitik. Herr Schröder ist gerade weg.
({7})
- Ja, ich kritisiere das auch gar nicht.
({8})
Ich frage nur, wie dieser Vorschlag zu verstehen ist: Die Sicherheit von Tschernobyl soll erhöht werden, indem wir in Deutschland aus der Kernenergie aussteigen. Kann mir das mal jemand erklären?
({9})
Den Verkehr in Hamburg sperren, damit die in München besser fahren können - das ist ungefähr das gleiche Niveau. Wieso steigt die Sicherheit der Kernenergie in Tschernobyl, wenn wir in Deutschland aussteigen?
({10})
- Doch, das hat er gesagt. - Teilnahme an der Weiterentwicklung auch der Kerntechnologie zu einem weltweit höheren Sicherheitsstandard, nicht die Augen verschließen, das ist unsere Antwort.
({11})
Aber, meine Damen und Herren, was kann denn die Sozialpolitik beitragen? Sie schultert das allein auch nicht. Auch die Arbeitsmarktpolitik schultert nicht die Arbeitslosigkeit, aber sie muß einen Beitrag leisten. Ich finde, die Sozialpolitik muß sich darauf konzentrieren, Hilfen und Brücken für die Langzeitarbeitslosen zu bauen. Diese haben es am schwersten, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Sie kommen nicht allein und ohne Hilfe in den Arbeitsmarkt zurück. Unser Ziel muß es sein, sie in den ersten Arbeitsmarkt, nicht in einen zweiten Arbeitsmarkt als Ghetto einer therapeutischen Selbstbeschäftigung zu führen.
({12})
Auch der Behinderte, auch der Kranke, auch der Ältere hat einen Anspruch auf einen normalen Dauerarbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt.
({13})
Der zweite Arbeitsmarkt kann nur eine Brücke sein.
Meine Damen und Herren, Sie dürfen es nicht so machen, daß die Festungsmauern des ersten Arbeitsmarktes immer höher gezogen werden; denn dann bleibt derjenige, der draußen ist, dort. Unsere Sorge muß das Herunterlassen der Zugbrücken sein. Wie schaffen wir das praktisch? Nicht mit den großen philosophischen Theorien, die ich gerade gehört habe. Sagen Sie das einmal ganz konkret.
Ein Vorschlag war beispielsweise - das haben wir in der letzten AFG-Novelle durchgeführt -, daß ein Langzeitarbeitsloser während der Zeit, in der er sich
noch qualifizieren, sich noch einarbeiten muß, sein Arbeitslosengeld bis zu zwölf Wochen behalten kann. Das ist eine Brücke.
Oder ein anderes Beispiel: Wir machen jetzt den Vorschlag, daß ein solcher Langzeitarbeitsloser von der Bundesanstalt für Arbeit in den Betrieb verliehen wird. Wenn er sich dort bewährt, kann er dort bleiben, wenn nicht, geht er wieder zurück. Dieser Vorschlag ist im übrigen, bevor Sie gleich wieder pfui schreien, sowohl von den Gewerkschaften wie auch von den Arbeitgebern begrüßt worden. Das sind keine alten Trampelpfade, diese Phraseologie, die ich gerade 20 Minuten lang gehört habe, sondern ganz konkrete Vorschläge.
({14})
Eben hat eine Kollegin von Opel erzählt und damit von meiner Heimatstadt. Als ich noch bei Opel gelernt habe, gab es neben dem Facharbeiterberuf den Anlernberuf für junge Menschen, die die Qualifikationsanforderungen eines Facharbeiterberufes nicht erfüllen. Dann kamen die Hochseilartisten der Bildungspolitiker und haben den Anlernberuf gestrichen. Die haben vergessen, daß auch am Boden noch ein paar Leute arbeiten. Was ist das Ergebnis? Die sind jetzt als Ungelernte arbeitslos.
Deshalb brauchen wir auch Berufsbilder für diejenigen, die den Facharbeiterberuf nicht schaffen. Wir müssen heraus aus den alten, starren Berufsordnungen. Das alles ist ganz konkret.
({15})
Die Diskussion über die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre ist aus meiner Sicht nur eine Stellvertreterdiskussion. In Wirklichkeit geht es darum, daß zwei Kassen, die Arbeitslosenhilfekasse und die Sozialhilfekasse, unverbunden nebeneinander bestehen.
({16})
- Nein, nicht Gott sei Dank; das will ich Ihnen gleich erklären. - Beide Leistungen sind keine Beitragsleistungen. Die einen werden von den Kommunen verwaltet, die anderen von der Arbeitslosenhilfe.
Jeder verwaltet nur seine Kasse; niemand blickt über den Tellerrand der eigenen Zuständigkeit hinaus. So kommt es zu dem völlig unkoordinierten Verhältnis: Arbeitslosenhilfe bekommst du, wenn du einmal beschäftigt warst, wenn es sein muß, für den Rest des Lebens. Wer dieses Glück nicht hatte, bekommt Sozialhilfe. Dort erhält der Familienvater bzw. die Familienmutter viel höhere Leistungen als in der Arbeitslosenhilfe. Dafür ist allerdings die Anrechnung des eigenen Eigentums weitergehender als in der Arbeitslosenhilfe. Warum Sie das dauernd verteidigen, weiß ich nicht. Bist du einmal in der Arbeitslosenhilfe, bekommst du auch Arbeitsmarktmaßnahmen. Hast du das Pech gehabt, nie beschäftigt zu sein, bekommst du auch keine ABM und keine Qualifizierung.
Kann mir einmal jemand die Ratio einer solchen Regelung erklären? Das ist ein Tohuwabohu. Weil es die Kassenwarte immer verhindert haben, haben wir
keine Koordination für diejenigen erreicht, die der Hilfe am meisten bedürfen. Da gehen wir jetzt ran.
({17})
Jetzt komme ich zum Sozialsystem. Ich stimme dem Kollegen Dreßler zu - ich halte hier keine Rede schwarz, weiß -: Sozialversicherung hat nichts mit Fürsorge zu tun. --- Kollege Dreßler, hören Sie zu, wenn ich Ihnen einmal recht gebe. ({18})
Sozialversicherung hat etwas mit Leistung zu tun, nicht mit Bedürfnis.
({19})
- Wer gefährdet denn die Sozialversicherung pausenlos mit Vorschlägen, z. B. eine Grundsicherung einzuführen? Der gefährdet doch den Leistungsbezug unserer Rentenversicherung.
({20})
Mit Ihnen, Herr Dreßler, verteidige ich die Lohnbezogenheit der Rente. Ich finde es gut, daß gerade in dieser Woche durch ein Gutachten von Prognos die Äußerungen aller Katastrophenspezialisten, die den Zusammenbruch unserer Rentenversicherung angekündigt haben, widerlegt wurden.
Unsere Rentenreform, gemeinsam geschafft, hat sich als richtig und notwendig erwiesen. Die Beitragssätze sind sogar niedriger, als wir damals geschätzt haben. Sie hat auch genügend Hebel, um auf Herausforderungen zu antworten.
Aber ein paar Sachen muß ich nun doch erwähnen: Herr Schröder hat heute morgen die Frühverrentungen verteidigt. Meine Damen und Herren, ich habe beim Vorruhestand ja mitgemacht, mitgepusht, auch beim Altersübergangsgeld. Ich stelle mit Betroffenheit fest: Was einmal als Ausnahme gedacht war, schleicht sich jetzt als der normale Weg ein, um Personalprobleme von Großbetrieben zu lösen. Da mache ich nicht mit.
({21})
Erstens mache ich aus Gerechtigkeitsgründen nicht mit. Die Sozialpläne der Großbetriebe werden zu zwei Dritteln von den Sozialkassen bezahlt, also auch von den Arbeitnehmern aus den Kleinbetrieben und Handwerksmeistern, die selber nicht das Geld für die Sozialpläne haben. Das ist aus meiner Sicht eine Ungerechtigkeit.
({22})
Zweitens. Wie wollen Sie, wenn sich die Frühverrentung einschleicht, Rentensicherheit gewähren? Wir brauchen doch eher eine Anhebung als eine Absenkung der Altersgrenze.
Drittens - das hat Herr Schröder heute morgen klassisch bewiesen -: Wir stabilisieren ein Vorurteil: Die Jungen sind die Beweglichen, und die Alten sind die Starren. Er selber hat heute morgen gesagt, die Jungen bräuchten Arbeit, sie seien die Beweglicheren. Die Schlußfolgerung, dann sind die Alten die Starren, stimmt doch mit der Lebenswirklichkeit nicht überein. Ich kenne Alte, die sehr starr sind, und Junge,
die sehr beweglich sind, und ich kenne Alte, die sehr beweglich sind, und Junge, die sehr starr sind.
({23})
-Ja, Frau Fuchs, Sie können das Beispiel vom jungen Dreßler und vom alten Blüm nehmen. Ich frage: Wer von den beiden ist beweglicher?
({24})
Meine Damen und Herren, sicherlich können wir die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen darauf achten, daß die Solidarkassen nicht unter Erosion leiden, daß neue berufsständische Versorgungswerke nicht nach der Risikoselektionsmethode gebildet werden: Die Jungen hauen ab. Das ist nicht meine Vorstellung von Solidarität. Solidarität heißt nicht seitwärts ins Gebüsch abhauen; Solidarität funktioniert nicht nach der Aschenputtelmethode: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Solidarität funktioniert nur, wenn gute und schlechte Risiken, jung und alt eine Solidargemeinschaft bilden, die seit über 100 Jahren unsere soziale Sicherheit garantiert.
({25})
Herr Minister, Ihre angemeldete Redezeit ist zu Ende.
Ich mache noch einige Bemerkungen und komme dann zum Schluß.
({0})
- Ich muß ja im Sinne eines Dialogs antworten.
Wissen Sie, die Sache mit dem Dienstmädchen höre ich heute zum 25. Mal. Herr Dreßler hat ein Beispiel gebracht, in dem eine arbeitslose Textilarbeiterin aus Plauen oder aus Viersen bei einem Zahnarzt in Hamburg - habe ich es richtig nacherzählt? - Dienstmädchen wird. Ich will Ihnen, Herr Dreßler, folgendes sagen: Wenn eine arbeitslose Textilarbeiterin aus Plauen oder aus Viersen durch eine Anstellung im Haushalt wieder Arbeit bekommt, ist mir das lieber, als wenn sie arbeitslos bliebe. Sie müßte deswegen nicht unbedingt nach Hamburg; es müßte nur dafür gesorgt werden, daß auch die Hauswirtschaft ein Teil des Arbeitsmarktes wird.
Sie kommen immer mit dem 19. Jahrhundert. So viele Direktoren gibt es gar nicht, wie wir Arbeitsplätze in Haushalten brauchen. Was wir nicht brauchen, sind Ihre alten, verstaubten Klamotten aus dem 19. Jahrhundert. Wir brauchen auch den Haushalt als Arbeitsmarkt, zumal ja viele Frauen berufstätig geworden sind und sich somit hauswirtschaftliche Leistungen über den Arbeitsmarkt besorgen können. Früher wurde diese Tätigkeit von der Hausfrau erledigt.
({1})
Sie sind im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Es tut mir leid, Herr Dreßler, wir werden diese Debatte noch
in der ganzen kommenden Legislaturperiode führen. Dann will ich einmal, um Ihrer Einleitung gerecht zu werden, sehen, wer von uns beiden ausgebrannter ist. Wenn ich schon nicht Molière zitiere, tröste ich Sie mit Goethe: „Es irrt der Mensch, solang er strebt."
({2})
Ich habe noch eine kurze Bemerkung zur ersten Reihe der Regierungsbank bzw. an die Adresse des Herrn Waigel - er sitzt jetzt auf seinem Abgeordnetenstuhl - in seiner Eigenschaft als Bundesminister zu machen. Dies ist das Parlament. Von Ihrem Platz auf der Regierungsbank aus dürfen Sie nicht dazwischenrufen; von Ihrem Abgeordnetenplatz aus dürfen Sie es gerne.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Blüm, nun hat mir vier Jahre Ihre rheinische Frohnatur gefehlt. Ich bin richtig erleichtert darüber, daß ich Sie hier nun wieder hören darf. Eigentlich müßte diese ganz besonders schwierige Aufgabe, von der ja keine Partei bestreitet, daß sie gelöst werden muß, nämlich die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, in der Regierung zur Chefsache erklärt werden. Nun war dieser Chef gestern dermaßen müde, daß ich mir nicht mehr so sicher bin, ob ich den Betroffenen diese Kompetenzübertragung wirklich wünschen sollte.
Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur den Verlust von Einkommen. In einer Gesellschaft, die den Wert des einzelnen so stark über Erwerbsarbeit definiert, bedeutet Arbeitslosigkeit vor allem auch den Verlust von Teilhabe und von Selbstwertgefühl. Deswegen ist es ja auch so unerträglich, wenn immer wieder die Arbeitslosen, also die Opfer, zum Problem gemacht werden.
({0})
In seiner Regierungserklärung hat der Kanzler die Bürgermeister zitiert, die vermeintlich zu berichten haben, daß die Sozialhilfeempfänger zu einem großen Teil arbeitsunwillig seien. Der Kanzler scheint sein eigenes BSHG nicht zu kennen; denn es gibt längst die Möglichkeit, bei sogenannter Arbeitsverweigerung eine Kürzung der Sozialhilfe vorzunehmen.
Mit diesen Sprüchen wird an dumpfe Stammtischgefühle gerührt, und damit wird den Menschen ein zweites Mal unrecht getan, um deren Chancen sich
Politik und Gesellschaft nicht ausreichend gekümmert haben.
({1})
Oder wollen Sie wirklich im Ernst behaupten, daß bei etwa 6 Millionen Arbeitslosen jeder von Ihnen eine Möglichkeit hätte, einen Job zu finden, weil die gerade so auf der Straße herumliegen?
Diese Stimmungsmache dient der Flankierung einer Politik, die vor allem daran herumgebastelt hat, wie Arbeitslosigkeit billiger gemacht werden kann.
({2})
Dazu mußte das geschundene AFG herhalten. Von Novelle zu Novelle wurde hier die Schere angesetzt und gleichzeitig damit der Schwarze Peter an Länder und Kommunen weitergegeben. Ich habe als Kommunalpolitikerin in den letzten Jahren gut mitverfolgen können, wie dramatisch sich diese Folgen vor Ort ausgewirkt haben. Qualifizierungsmaßnahmen sind dramatisch zusammengestrichen worden, Beschäftigungsträger mußten schließen, Selbsthilfeprojekte stellten ihre Arbeit ein. Die Kommunen versuchten verzweifelt, mit ihren beschränkten Ressourcen die schlimmsten Folgen dieser Politik aufzufangen.
Die Brückenbildung, von der Sie gesprochen haben, Herr Blüm, ist in den Kommunen mit lokaler Arbeitsmarktpolitik gerade versucht worden. Das ist aber nicht möglich bei dieser Kurzatmigkeit. Ihre ständigen Novellierungen von Gesetzen haben der Planung überhaupt keine Möglichkeit gegeben, sich zu entfalten
({3})
Diese Politik ist bei der wachsenden Belastung der kommunalen Haushalte folgerichtig in der Sozialhilfe gelandet. Aber es ist schlichte Denunziation, daß die Empfänger dieser Sozialhilfe zum Problem gemacht wurden, bis diese Menschen mit eingezogenem Kopf schließlich selber glaubten, daß sie schuldhaft zum Empfänger dieser Sozialhilfe geworden seien. Die Mißbrauchsdebatte hat in diesem Zusammenhang offensichtlich die Funktion, einen möglichen Protest über Diffamierung im Vorfeld zu ersticken.
Gleichzeitig gibt der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit in dieser Situation großmütig 4 Milliarden DM an die Bundesregierung zurück, so als sei im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik nichts mehr zu tun. Ich möchte mal hören, wie Sie das den Betroffenen erklären wollen, Herr Minister Blüm.
({4})
Die sogenannten Fünf Weisen haben es der Regierung gerade ins Stammbuch geschrieben - auch Herr Schäuble hat es gestern von diesem Platz aus gesagt -: Die moderne Industriegesellschaft wird nicht mehr allen Erwerbssuchenden einen vollen Arbeitsplatz bieten. Da hilft keine Steigerung des Bruttosozialprodukts, da helfen kein Wachstum und kein Konjunkturaufschwung. Der Sockel der Arbeitslosen bleibt. Wie kann man dann weiterhin gegen die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung einen Kreuzzug führen, wie das die schwarz-gelbe Koalition tut?
Wer möchte bestreiten, daß angesichts dieser Situation die Umverteilung von Arbeit die zentrale Antwort sein muß? Das rasante Tempo von Rationalisierung und Produktivitätssteigerung fordert die Verteilung von Arbeit geradezu heraus. Die Antwort auf Arbeitslosigkeit kann doch wohl nicht sein, daß die Regierung dem Bürgertum wieder das Hauspersonal anbietet. Wir leben doch nicht mehr um die Jahrhundertwende.
({5})
Ich frage Sie, Herr Schäuble - wenn er denn die Möglichkeit hat zuzuhören -:
({6})
Was ist denn Ihre Teilzeitoffensive anderes als ein Arbeitsumverteilungsmodell? Ich frage Sie gleichzeitig: Haben Sie bei dieser Teilzeitoffensive auch an die Männer gedacht, die neben der Zeugung an der meistens dann folgenden Familienarbeit vielleicht auch ihren Anteil leisten sollten?
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Die Teilzeitoffensive wird dann falsch, wenn sie sich nur an Frauen richtet und das gesellschaftliche Bild reproduziert, daß die Frauen die Zuverdienerinnen seien und von ihren Löhnen nicht leben müßten. Die CDU hat offensichtlich noch nicht begriffen, in welch radikalem Umbruch sich diese Gesellschaft befindet: Mann kann nicht einfach Teilzeit propagieren und es den Menschen selbst überlassen, wie sie mit den Teilzeitlöhnen auskommen.
({8})
Es scheint der Koalition nun gedämmert zu haben, daß das soziale Sicherungssystem und seine Strukturen reformiert werden müssen, wenn sich die Arbeitswelt radikal ändert. Wie niedlich, daß Sie dazu einen Prüfauftrag in die Koalitionsvereinbarung geschrieben haben, Herr Blüm.
({9})
Sie meinen Deregulierung und sagen damit: Jeder einzelne soll sich erst mal selber durchschlagen. Das ist keine Antwort auf eine sich rasant wandelnde Arbeitsgesellschaft und erst recht keine moderne Arbeitsmarktpolitik.
({10})
In der Tat ist unsere Welt komplizierter geworden.
({11})
Der gut gebaute leistungsstarke Mann, der 40 Jahre seines Lebens 40 Stunden die Woche arbeitet und Frau und Kind ernährt, ist nur noch eine Fiktion. Aber immer noch orientiert sich unser ganzes sozial- und arbeitsmarktrechtliches Instrumentarium an diesem Mythos. Wir brauchen keine Deregulierung, wir brauchen eine Reregulierung, um diesen veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht zu werden.
({12})
Eine Reregulierung umfaßt die rechtliche Rahmensetzung für Demokratie im Betrieb; dazu gehört die Neugestaltung des Arbeitsverhältnisrechts, das dem gleichberechtigten Geschlechterverhältnis Rechnung trägt; dazu gehört ein modernes Arbeitszeitgesetz, das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zeitliche Optionen eröffnet; und sie bedeutet endlich Regelungen für die sogenannten mindergeschützten Arbeitsverhältnisse.
({13})
Wenn unsere Gesellschaft immer pluraler, die gesicherte Arbeitsbiographie immer brüchiger wird, ist eine Grundsicherung ein unverzichtbares Muß. Wenn Brüche im Arbeitsleben, Teilzeit, Zeiten von Arbeitslosigkeit und Umschulung oder Familienphasen zur Normalität geworden sind, kann die Rente ohne eine Sockelung für alle nicht mehr auskommen.
({14})
Ich stimme mit Ihnen in einem überein, Herr Blüm. Wenn diese Industriegesellschaft vielen Menschen auf Jahre hinaus keinen sicheren lebenslangen Arbeitsplatz mehr bieten kann, müssen Brücken gebaut werden, Brücken zwischen Arbeit und Qualifikation, Brücken zwischen Transferleistungen und deren Nutzbarmachung in gesellschaftlich sinnvoller und notwendiger Arbeit, Brücken zwischen Familienzeiten und Zeiten der bezahlten Beschäftigung, Brükken zwischen Ehrenamt und Bezahlung auch über öffentliche Kassen. Aber ich sage Ihnen noch einmal: An Hand der lokalen Arbeitsmarktpolitik - wir werden dazu noch Debatten haben - werde ich Ihnen beweisen, daß diese Brücken von dieser Bundesregierung bisher nicht gebaut worden sind. Das wird eine Aufgabe in der bevorstehenden Legislaturperiode sein.
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Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist heute viel vom Umbau des Sozialstaates die Rede, einem Begriff, der auf der einen Seite Abwehr und heftige Polemik auslöst und auf der anderen Seite Hoffnungen weckt, Hoffnungen auf eine Entlastung bei den Lohnkosten. Die F.D.P. möchte, daß wir einen Umbau des Sozialstaates in Angriff nehmen.
({0})
- Lassen Sie es mich erklären! - Ähnlich wie in der öffentlichen Verwaltung, ähnlich wie in Teilen der Wirtschaft begegnen wir auch im hochgerüsteten Sozialbereich der Regelungswut, dem Fehleinsatz von Mitteln, dem Mißbrauch, kurz: der mangelnden Effizienz. Das soll sich ändern, das wollen wir verbessern.
({1})
Die Voraussetzungen sind in der Koalition vereinbart. Wir wollen eine Art Durchleuchtungskommission, die soziale Transferleistungen und deren Verzahnung mit den Sozialversicherungen untersucht. In diesem Zusammenhang wird auch das von uns vorgeschlagene Bürgergeldsystem einbezogen, das gerade den Sinn hat, Widersprüche und Durcheinander der staatlichen Hilfeleistungen zu beseitigen.
({2})
Meine Damen und Herren, die größte Aufgabe und geradezu der Schlüssel zum Erfolg in der Sozialpolitik liegt in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
({3})
Wir begreifen die Arbeitsmarktpolitik als eine Flankierung. Wir sehen den Kernbereich, in dem verantwortlich gehandelt werden muß, in der Wirtschaftspolitik. Aber ich widerspreche ganz entschieden all denjenigen, die glauben, sich mit einem bestimmten Bestand an Arbeitslosigkeit abfinden zu können, solange dieser nur finanzierbar ist.
Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine Finanzierungslast. Arbeitslosigkeit trifft den gesamten Lebensbereich.
({4})
Wer arbeitslos wird, wird durch finanzielle Sorgen, den Verlust seines Selbstwertgefühls und seines sozialen Umfelds in mehrfacher Hinsicht aus der Bahn geworfen. Es leidet oft auch die ganze Familie. Damit ist Arbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Problem von großer und politischer Brisanz.
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Es besteht die Gefahr, daß die Empfänglichkeit für extremistische Botschaften von rechts und links wächst - zumindest der Glaube an einfache Rezepte, die angeblich aus der Misere herausführen.
Es gibt, meine Damen und Herren, in unserer hochentwickelten Sozialen Marktwirtschaft vielleicht einen bezahlbaren, niemals aber einen tolerierbaren Bestand an Arbeitslosigkeit.
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Auch bei der Bezahlbarkeit stoßen wir aber an Grenzen. Der Faktor Arbeit kann und darf über die sozialen Sicherungssysteme nicht immer weiter belastet werden. Das Limit ist erreicht.
Aus den genannten finanziellen und gesellschaftlichen Gründen müssen wir unser Handeln in der Sozialpolitik auf Rückkehr des Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfängers in normale Arbeit ausrichten. Ziel der Sozialpolitik darf nicht der langjährige Unterhalt des einzelnen durch den Staat sein. Wo sich das nicht ändern läßt, ist es klar. Aber es läßt sich an vielen Stellen ändern.
Ziel ist es für die Liberalen stets, den Betroffenen eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt zu bauen. Wir wollen keinen staatlich finanzierten zweiten Arbeitsmarkt, in dem dann die schwer Vermittelbaren ghettoisiert und in ABM-Gesellschaften zusammengefaßt werden. Diese Art von Beschäftigungspolitik
halte ich sogar für unsozial. Sie ist das Ergebnis einer Resignation bei den Tarifvertragsparteien und auch beim Staat, die letztlich die Betroffenen in aussichtslose Positionen treibt.
({7})
Auch der 55jährige kann am Arbeitsleben wieder beteiligt werden,
({8})
wenn wir das wollen und die Brücken bauen. Ich halte daher die Idee des Bundesarbeitsministers, schwer vermittelbare und ältere Arbeitnehmer durch die Bundesanstalt für Arbeit an Arbeitgeber befristet auszuleihen, für gut. Hierdurch wird wenigstens der Kontakt zum Arbeitsmarkt hergestellt.
Der Plan macht allerdings auch deutlich, daß wir diese Gruppe arbeitsrechtlich so geschützt haben, daß kein Arbeitgeber sie - nicht einmal versuchsweise - mehr einstellen möchte.
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Eine Entkrustung wäre auch hier geboten, stößt aber auf größten Widerstand. Daher begrüße ich den Vorschlag von Norbert Blüm, der diese selbstgestellte Falle nun umgehen soll.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zu den älteren Arbeitslosen: Die Abwehrhaltung der Arbeitgeber gegenüber älteren Arbeitnehmern ist ja nur die eine Seite. Der durch die Bundesanstalt für Arbeit gesicherte 50jährige oder der 55jährige tut sich auch aus anderen Gründen schwer, etwas Neues anzufangen. Meist ist er durch ein hohes Endgehalt und einen Sozialplan so gut versorgt, daß die Annahme von gering bezahlter Arbeit oder Teilzeitarbeit seine Lage eher verschlechtert. Denken Sie z. B. auch an seine Rentenansprüche.
Dennoch halten wir merkwürdigerweise fest, daß dieser Arbeitslose dem Arbeitsmarkt weiterhin zur Verfügung zu stehen hat, daß er Meldekontrollen unterliegt und daß jegliche Initiative zur weiteren Beschäftigung - etwa im Bereich der Selbständigen - bestraft wird durch Gegenrechnen oder Verminderung erworbener Ansprüche. Das ist im Grunde unsozial.
Ich würde dazu neigen, ältere Arbeitslose von jeder Kontrolle zu befreien und ihnen Zuverdienst oder zumindest selbständige Tätigkeit ohne Einschränkung zu gestatten. Immerhin ist es uns in den Koalitionsvereinbarungen gelungen, den Weg in eine selbständige Tätigkeit dadurch zu ebnen, daß das Übergangsgeld verlängert wird. Eine weitere Brücke sehen wir beim Zuverdienst von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozialhilfeempfängern vor, nämlich die, daß in höherem Maße als bisher zusätzlich etwas verdient werden kann.
({10})
Auch damit können wir Anreize verstärken, im Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen und die Selbständigkei t zurückzugewinnen.
Während die Arbeitsaufnahme älterer Arbeitnehmer durch zu hohe Schutzzäune erschwert wird,
verleiten andere Strukturen jüngere Arbeitslose, sich aus Bequemlichkeit oft keine Arbeit zu suchen. Die lebenslängliche Arbeitslosenhilfe halte ich für einen solchen Webfehler. Hinzu kommt, daß die Arbeitslosenhilfe auch noch jedes Jahr wie die Rente dynamisiert wird, was über Jahre ein durchaus verläßliches Einkommen sichern kann. Jedenfalls sind ein Anreiz zur Arbeitssuche und eine Brücke zur regulären Arbeit in diesem System nicht enthalten.
Ich halte aber nichts von einer Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei starre Jahre, nur um den Bundeshaushalt zu finanzieren.
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Dies ist politisch sicher auch nicht durchsetzbar. Aber aus sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gründen kann es durchaus sinnvoll sein, die Arbeitslosenhilfe in Abhängigkeit von der Dauer der Beschäftigung zu befristen oder die automatische jährliche Erhöhung allmählich abzumindern.
Der Staat kann mit Arbeitsmarktpolitik nur eine Hilfestellung geben. Arbeitsplätze entstehen in Unternehmen. Die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sind gefragt.
({12})
Sie tragen gemeinsam die Verantwortung für beschäftigungswirksame Tarifvereinbarungen, die Arbeitsplätze schaffen und sichern. Diese Aufgabe kann ihnen auch niemand nehmen.
({13})
- Die Gewerkschaften waren wesentlich besser als die SPD.
Der Staat muß aber bereit sein, die Tarifpartner bei ihrer Tarifpolitik zu unterstützen. Ein wertvoller Beitrag hierzu wäre eine Entlastung des Faktors Arbeit durch den Gesetzgeber, Stichwort: versicherungsfremde Leistungen.
({14})
Hier bin ich angesichts des letzten Griffes des Finanzministers in die Rentenkasse beim zweiten SEDUnrechtsbereinigungsgesetz vor einigen Monaten nicht sehr optimistisch. Es wäre schön, wenn es gelänge, wenigstens für die Zukunft die Befrachtung der sozialen Sicherungssysteme mit Fremdleistungen zu vermeiden.
Aber auch hier sehe ich bereits wieder neue Gefahren. Der Bundesarbeitsminister verkündet, daß auch Sozialhilfeempfänger in den Genuß von Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gelangen sollen. Dies darf nicht auf Kosten der Beitragszahler der Bundesanstalt für Arbeit, auf Kosten der Arbeitslosenversicherung gehen.
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Sozialhilfeempfänger haben keine Beiträge an die
Bundesanstalt abgeführt. Sie haben keine Ansprüche
erworben. Für diese Gruppe kann also die Bundesan190
stalt für Arbeit nicht etwa nur deshalb aufkommen, weil sie z. B. Maßnahmen anbietet, die auch Sozialhilfeempfänger brauchen können. Es geht also nur um die Finanzierung, nicht um das Zurverfügungstellen von Dienstleistungen.
Dasselbe gilt für die Umschulung von Beamten. Es gibt dazu eine etwas bedenkliche Entscheidung des Bundessozialgerichts. Auch hier können wir feststellen, daß die Inanspruchnahme der Bundesanstalt für Arbeit ein ordnungspolitischer Sündenfall ist. Hier muß die öffentliche Hand selbst herangezogen werden. Der Staat darf die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht mit Leistungen und Kosten befrachten, für die sie nicht einzustehen hat.
Es gibt kein einfaches Rezept zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Wer ankündigt, er könne über den zweiten Arbeitsmarkt ohne negative Auswirkungen auf den ersten die Anzahl der Arbeitslosen innerhalb von zwei Jahren halbieren - wie dies die SPD in ihrem Wahlkampfprogramm angekündigt hat -, ist letztlich ein Gaukler, weil er die Soziale Marktwirtschaft nicht versteht. Die Verantwortung, Beschäftigung - regulär bezahlte, keine staatliche - zu schaffen und zu sichern, muß von allen deutlich gesehen und wahrgenommen werden.
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Nun zum Thema Bürokratieabbau: Dies liegt den Liberalen besonders am Herzen. Aus dem Arbeitsrecht entstammen besonders schöne Blüten. Denken Sie an Beispiele wie aus dem Kabarett: Regelung der Raum- und Wassertemperatur der Betriebstoilette; Anwaltskanzleien, deren Erwerb darauf beruht, daß sie Betriebe über die Vorschriften aufklären, die für sie einschlägig sind. Damit hat der Gesetzgeber übrigens auf dem Dienstleistungssektor durchaus Arbeitsplätze geschaffen.
Die Regelungswut erfährt zusätzlich eine europäische Dimension. Hier gibt es keineswegs nur soziale Wohltaten, sondern vielmehr auch bürokratische Hochleistungen. Die F.D.P. fordert nachdrücklich, daß sich die Koalition über europäische Vorlagen wesentlich früher politisch abstimmt als bisher.
({17})
Damit wird vermieden, Veränderungen erst im nachhinein bei den mühsamen Verhandlungen in der parlamentarischen Beratung erkämpfen zu müssen.
Aus dem Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik kann ich sagen, daß die Brüsseler Entscheidungsabläufe dringend transparenter gemacht werden müssen. Der Verdruß über die Brüsseler Bürokratie hat bereits zu einer spürbaren Europamüdigkeit geführt. Die Akzeptanz des europäischen Rechts droht hierunter zu leiden.
Meine Damen und Herren, wir haben den Weg der Deregulierung und Entbürokratisierung in der letzten Wahlperiode begonnen, Stichworte: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Neuregelung der Kündigungsfristen, Neufassung des Arbeitszeitrechtes. Hier werden wir sicher weiterarbeiten.
({18})
Noch ein Wort zur Rente: Wir führen eine Diskussion über die Sicherheit der Renten. Hier gibt es zwei Lager. Die einen behaupten, daß angesichts der Prognosen, die unter den denkbar günstigsten Annahmen zustande kommen, kein Handlungsbedarf besteht. Bis zum Jahre 2030 wäre noch ausreichend Zeit, um die Weichen zu stellen. Die anderen sehen die Zukunft so düster, daß sie nun schon glauben, es müsse eine Grundrente kommen, weil die erworbenen Ansprüche in der heute berechneten Höhe dann einfach nicht mehr zu bezahlen sind. Sicher ist für Liberale nur, daß wir keine Grundrente akzeptieren.
Bereits bei der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes sind wir von steigenden Beitragssätzen zur gesetzlichen Rentenversicherung ausgegangen. Aber auch die heute Erwerbstätigen und diejenigen, die heute in das Erwerbsleben eintreten - 35 Jahre sind kein so unüberschaubar langer Zeitraum -, haben schon heute ein Recht darauf zu wissen, wie ihre Alterssicherung einmal aussehen wird. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß auch da Vertrauenstatbestände sind, die es zu schützen gilt, und so erscheint es mir richtig, sich zumindest Vorüberlegungen hier nicht zu verschließen.
Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja. Darf ich noch einen letzten Satz anschließen. Zur Betriebsrente und zu den berufsständischen Versorgungswerken planen wir Verbesserungen, um sie für die Zukunft sicherer zu machen. Wir werden dies dann im einzelnen im Parlament vortragen.
Meine Damen und Herren, in der Werkstatt der Problemlösungen - wie es der Bundesarbeitsminister gerade formuliert hat - sollten wir nicht vollmundige Sprüche klopfen, sondern Werkstücke herstellen, also die Ärmel hochkrempeln.
Ich bedanke mich.
({0})
In der sozialpolitischen Runde haben wir offenbar eine Frauenrunde, und da hat als nächste die Abgeordnete Heidi Knake-Werner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geld allein macht nicht glücklich - so etwa läßt sich der Sozialpolitikteil in der Regierungserklärung auf Sprichwortdeutsch zusammenfassen. Nun weiß ich ja, daß das für viele stimmen mag, vor allem für die, für die genug davon vorhanden ist. Für andere, bei denen es am Nötigsten
fehlt, klingt diese Botschaft allerdings eher zynisch. Sie können diese Menschen nicht damit beeindrukken, daß Sie ihnen vorrechnen, daß ein Drittel des Bruttosozialprodukts für Sozialleistungen ausgegeben wird, wenn diese Leistungen für sie gleichzeitig immer dürftiger ausfallen und wenn diese Leistungen auf immer mehr Menschen verteilt werden müssen.
Die Bundesregierung verschließt die Augen vor der Alltagswirklichkeit und versteckt sich hinter abstrakten volkswirtschaftlichen Größen. Begriffe wie Armut und Obdachlosigkeit kommen weder im Koalitionsvertrag noch in der Regierungserklärung überhaupt vor, und schon gar nicht kann man davon ausgehen, daß Sie sich in Zukunft ernsthaft mit diesen Problemen beschäftigen wollen. Sie werden das an die Kirchen, an die Wohlfahrtsverbände und an die Gewerkschaften weiterverweisen.
Genau deshalb möchte auch ich einen Satz aus der gestern schon bemühten Broschüre der Kirchen zitieren, und zwar einen, der mir wichtig ist. Man kann das ja offensichtlich immer beliebig wenden. Da heißt es z. B.:
Armut darf nicht als Randproblem unserer Gesellschaft mißdeutet und bagatellisiert werden.
Was von Ihnen kommt, geht genau in diese Richtung. Dankenswerterweise haben DGB und Paritätischer Wohlfahrtsverband in ihrem ersten gesamtdeutschen Armutsbericht in diesem Jahr diese Position der Kirchen mit handfesten Zahlen untermauert. Es war schon peinlich, zu verfolgen, wie die damalige Ministerin Rönsch, die selbst jede Armutsberichterstattung verweigerte, über die dort ermittelten Zahlen feilschte.
({0})
Sogar in der regierungseigenen Sozialpolitischen Umschau vom November läßt sich nachlesen, daß in Ostdeutschland 32 % der Familien mit Kindern monatlich über weniger als 3 000 DM verfügen. Ich weiß: Das heißt natürlich nicht hungern, aber das heißt Immobilität, das heißt Verlust von Sozialbeziehungen, die Abwesenheit von Kultur-, Freizeit- und Urlaubserlebnissen. Und auch das ist eine Form von Verarmung, wie wir das verstehen. Die PDS wird jedenfalls an ihrem Konzept für eine soziale Grundsicherung festhalten und es erneut einbringen.
({1})
Das hohe Sozialbudget verhindert Armut nicht, weil es nicht dazu aufgewendet wird, den Sozialstaat sicherer zu machen, sondern dazu, die tiefgreifenden Fehler in der Wirtschafts-, Steuer- und Arbeitsmarktpolitik zu kompensieren, ohne die Ursachen zu bekämpfen.
Es ist Ihnen ja offensichtlich nicht einmal peinlich, in Ihrer Koalitionsvereinbarung zu schreiben, daß in der Zeit von 1983 bis 1992 3 Millionen Arbeitsplätze neu geschaffen wurden. Sie müssen mir nur einmal erklären, wie Sie es trotzdem geschafft haben, in den Einigungsprozeß mit einer Sockelarbeitslosigkeit von knapp zwei Millionen zu gehen. Weil Sie die Ursachen des Problems der Massenarbeitslosigkeit nicht in den Griff bekommen, bekämpfen Sie ihre Auswirkungen,
vor allem aber die davon Betroffenen. Dazu wollen Sie den Staat umbauen.
Wer die letzten zwei Jahre Ihrer Politik verfolgt bzw. erlitten hat, weiß, was das heißt. Es heißt Abbau von Sozialleistungen, weiterer Ausstieg aus dem solidarisch finanzierten sozialen Sicherungssystem. Die Pflegeversicherung war hier nur der Einstieg, und mir ist bis heute noch schleierhaft, warum das so schnell, so unzulänglich und mit Zustimmung der SPD getan werden mußte.
Der Staat soll schlanker werden - auch so eine neumodische Floskel Ihrer Entsorgungssprache. Wenn es dabei um Abbau von Bürokratie ginge, gerne! Der Staat muß nicht alles selber tun, wofür er Verantwortung trägt, aber er muß die Bedingungen dafür, daß es getan wird, bereitstellen und darf sich nicht nach dem Motto „geringstmögliche Fürsorge des Staates zu Lasten privater Vorsorge" aus der Verantwortung stehlen.
Aber Sie bauen nicht Bürokratie ab, sondern Sie schaffen neue in Form von Kommissionen, wie Sie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt haben. Ich kann mir vorstellen, daß diese Art von Spesen sozialpolitisch wesentlich sinnvoller einzusetzen wären.
Auch bei den Renten müssen Sie erst einmal prüfen. Nicht einmal der wahltaktisch geschickt plazierten Bundesratsinitiative, die ja auch von CDU-regierten Ländern unterstützt wurde, mochten Sie sich anschließen. Apropos Wahlkampf: Ich habe fast keine Wahlveranstaltung erlebt, wo nicht quer durch alle Parteien das „Rentenstrafrecht" gegeißelt wurde. Ich bin gespannt, welche Taten darauf folgen.
({2})
Aber Sie wollen der Frühverrentung entgegenwirken. Abgesehen davon, daß dies arbeitsmarktpolitisch völlig unsinnig ist, frage ich Sie, wie Sie es machen wollen, wenn Sie nicht einmal die Gründe für Frühverrentung benennen und wenn vom Arbeitsschutzgesetz hier kein Wort geredet wird, obwohl Sie es in der vergangenen Legislaturperiode vier Jahre lang erfolgreich verhindert haben.
Zum Stichwort „Reform des Arbeitsförderungsgesetzes": Ich habe nicht erwartet, daß Sie sich endlich der Aufgabe annehmen, die frauendiskriminierenden Elemente zu beseitigen. Aber daß Sie wieder nur die Idee haben, Arbeitslosenhilfeempfängerinnen mit Leistungskürzungen zu bedrohen, wenn sie sich nicht auf ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse einlassen, finde ich einfach skandalös. Das gleiche gilt für Sozialhilfeempfängerinnen.
Ich weiß natürlich, daß Sie alle einen Sozialhilfeempfänger kennen oder mindestens einen oder eine kennen, der oder die einen kennt, der Leistungsmißbrauch betreibt. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht, die Millionen zu diffamieren, die tagelang von Schmalz und Aldi-Brot leben, weil es zu mehr nicht reicht.
({3})
Wo beweisen Sie Phantasie und Mut zu neuen Wegen bei den Chancen für besonders benachteiligte Gruppen des Arbeitsmarktes? Was bieten Sie den hunderttausend inzwischen langzeitarbeitslosen Frauen Ostdeutschlands, was den Jugendlichen ohne Zukunft und den Menschen mit Behinderungen? Weder Phantasie noch Mut, aber eine gehörige Portion Unverfrorenheit ist vonnöten für Ihr Programm zur Wiedereingliederung von Schwervermittelbaren. Sie werden den Arbeitgebern zum Ausprobieren angeboten und können bei Nichteignung zurückgegeben oder vielleicht sogar umgetauscht werden. Langzeitarbeitslose zur Spielmasse von Arbeitgeberinteressen zu machen ist menschenverachtend und unmoralisch.
({4})
Im übrigen finde ich, daß diese Merkmale für Ihre gesamte Politik in dem Maße kennzeichnend werden, wie Sie den Sozialabbau durch Muskelspiel in der inneren Sicherheit zu kompensieren suchen.
Danke schön.
({5})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Anke Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte in meinem Beitrag noch einmal auf die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung zurückkommen; denn ich stelle nach diesen Tagen der Debatte fest: Jeder tut so, als ob er Arbeitslosigkeit abbauen wollte; aber wenn man genau hinhört, erkennt man, daß kein Instrument genannt worden ist, wie Herr Rexrodt die von den Sachverständigen als nicht hinnehmbar bezeichnete hohe Arbeitslosigkeit eigentlich bekämpfen will. Kein Wort davon bei ihm!
({0})
Herr Kollege Blüm, ich will Sie insofern an meine Seite nehmen, als ich glaube, es macht keinen Sinn, daß die Sozialpolitiker sich mit dem Arbeitsminister immer darüber zanken müssen, wie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und das Arbeitsförderungsgesetz auszusehen haben, und die Wirtschaftspolitiker sich zurücklehnen und sagen: Das ist sozialer Klimbim, zu teuer! So kann es nicht weitergehen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
Deswegen finde ich es so falsch, wenn Sie immer von ABM-Sozialismus reden. Sie sollten vielmehr auf Ihre Wirtschaftspolitiker zugehen,
({2})
wie ich es getan habe, damit sie endlich begreifen:
Arbeitsmarktpolitik ist ein wirtschaftspolitisches Instrument einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik und nicht sozialer Klimbim, der zu teuer ist.
({3})
Wenn wir uns so verständigen, Frau Babel, dann haben wir auch eine ganze Menge mehr Gemeinsamkeiten in der Frage: Wie nutzen wir die Instrumente?
Allerdings müssen wir erst einmal begreifen: Wir wissen, daß der technologische Schub - auf den komme ich nachher noch einmal zwar neue, aber nicht genügend Arbeitsplätze bietet. Wir wissen auch, daß Arbeitszeitverkürzung auf der Tagesordnung stehen muß, daß auch sie allein aber nicht genügend Arbeitsplätze schafft. Diese Teilzeitarbeitsinitiative, die wir durchaus unterstützen wollen, darf nicht so aussehen, daß die Herren der Schöpfung die Vollzeitarbeitsplätze behalten und die Frauen die nicht sozialversicherungspflichtigen Teilzeitarbeitsplätze bekommen.
({4})
So können wir das alle miteinander nicht wollen. Hier müssen andere Initiativen ergriffen werden.
Sie bringen als neues Instrument die privaten Dienstleistungen; darauf komme ich gleich noch zurück. Aber auch dann, wenn wir alles täten, was Sie gern hätten, bliebe nach dem Gutachten eine nicht hinnehmbare Massenarbeitslosigkeit. Die werden Sie nicht ohne einen vernünftig gesteuerten, öffentlich finanzierten zweiten Arbeitsmarkt abschaffen können. Sie müssen sich den Instrumenten stellen. Wir müssen fragen: Wie finanzieren wir das?
Rudolf Dreßler hat doch völlig recht: Das Teuerste, was wir uns leisten, ist Massenarbeitslosigkeit.
({5})
Es ist besser, mit den 40 000 DM für Arbeit zu sorgen, statt weiterhin Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Ich finde Ihre Anregungen ganz interessant. Ich freue mich darüber: Plötzlich gibt es Lohnkostenzuschüsse. Wenn wir ein paar Jahre zurücksehen, stellen wir fest, daß wir eine ganze Menge dazugelernt haben. Ich bin pragmatisch und dafür offen und sage nur: Es macht nichts, Herr Blüm, wenn Sie das immer als ABM-Sozialismus verteufeln, denn Sie laufen doch in das Messer Ihrer Wirtschaftspolitiker.
({6})
Die Arbeitslosen werden der Sozialversicherung doch vor die Tür gekarrt. Dann müssen wir Sozialpolitiker uns damit auseinandersetzen. Das greift zu kurz.
({7})
Wenn Sie sagen, es dürfe keinen Vorruhestand mehr geben, dann spielen Sie wiederum mögliche ältere Arbeitslose gegen jüngere Arbeitslose aus. So kann das nicht weitergehen. Deswegen sage ich: Die Wirtschaftspolitik ist gefordert; sie muß für Arbeitsplätze sorgen. Wenn es nicht genügend sind, brauAnke Fuchs ({8})
chen wir einen öffentlich finanzierten zweiten Arbeitsmarkt, sonst bleiben wir auf der Massenarbeitslosigkeit sitzen, und das kann keiner von uns wollen.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Bitte sehr.
Verehrte Frau Kollegin Fuchs, ich habe doch nichts gegen ABM. Aber Sie stimmen doch sicherlich mit mir darin überein, daß wir das Arbeitslosenproblem nicht gänzlich über ABM lösen können. Dann hätten wir nämlich eine ABMWirtschaft.
({0})
Genau das ist die Diskriminierung, Herr Kollege Blüm. Sie lassen doch zu, daß Ihnen all die Arbeitslosen vor die Tür gekehrt werden, wenn Sie nicht auf Ihre Wirtschaftspolitiker eingehen und sagen: Nun bastelt doch mit uns zusammen einen vernünftigen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt, damit wir einer nennenswerten Zahl von Leuten Arbeit geben können, statt sie in der Arbeitslosigkeit zu lassen!
({0})
Noch eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
({0})
Frau Kollegin Fuchs, stimmen Sie mir zu, daß sich die Sozialpolitiker nicht zur Reparaturkolonne einer gescheiterten Wirtschaftspolitik degradieren lassen dürfen, wobei ihnen vorgeworfen wird, sie seien auch noch an der Frühverrentung schuld?
({0})
Richtig! Herr Kollege Urbaniak, ich stimme Ihnen zu. Ich will bei diesem einen Punkt bleiben, damit wir in der Sache wissen, worüber wir reden.
Natürlich ist es falsch, daß die Beitragszahler die Vorruheständler bezahlen.
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Das hat sich bei den großen Unternehmen eingebürgert. Das finden wir nicht in Ordnung. Das war der Punkt, bei dem ich sage: Sie müssen auf Ihre Wirtschaftspolitiker zugehen. Ich habe das in meinem Bereich geschafft: Die Wirtschaftspolitiker haben endlich begriffen - wenn es auch immer wieder Rückschläge gibt, das will ich gern zugeben -, daß ein Teil
einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik auch diese Fragen aufgreift.
Die Frage ist doch: Welche Alternative haben wir denn? Wenn wir keinen Vorruhestand mehr wollen: Was machen wir mit den Menschen, denen Sie keinen Arbeitsplatz anbieten können? Was Frau Babel von Ihnen möchte - daß sie mit niedrigen Löhnen, Versicherungen und Pensionen irgendwo unterkriechen -, kann wohl nicht der wahre Jakob sein. Deswegen sage ich: Solange Sie uns nichts Besseres anbieten können, werden wir bei dieser Vorruhestandsregelung bleiben müssen. Aber wir sind offen für andere Antworten.
Nun kommen Sie auf die Idee mit den privaten Dienstleistungen. Da habe ich einen Gedanken, der wird mißbraucht, und ich wollte Herrn Schäuble bitten, das dem Bundeskanzler zu sagen. Ich halte es für geradezu perfide oder absurd - wie immer Sie wollen -, daß Sie diese Arbeitsmarktlücke zu einem großen Teil - mehr ist es nicht, das weiß ich - durch Arbeitsleistungen im privaten Haushalt kompensieren wollen. Sie hätten gern wieder den Kammerherrn, den Gärtner usw. und das soll dann neue Arbeitsplätze geben. Ich bin dagegen.
Ich habe ein anderes Thema im Kopf. Wenn wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wollen, dann taucht die Frage auf: Wie gehen wir mit der Kinderbetreuung um? Wenn wir über die Kinderbetreuung sprechen, stellen sich die Fragen nach Kindergärtenbeiträgen und den Öffnungszeiten von Kindergärten. Dann taucht auch die Frage auf: Was machen wir steuerlich mit diesem Problem? Wenn dabei herauskommt, daß auch private Hilfe im Haushalt steuerlich entlastet wird, dann bin ich in einem solchen Gesamtzusammenhang nicht mehr dagegen. Das sage ich ausdrücklich. Aber das muß ein Gesamtkonzept sein. Es kann nicht behauptet werden, daß ich dafür sei, private Dienstleistungen zu entlasten, um vorzuduseln, wir hätten dadurch eine Chance, viele Arbeitsplätze zu schaffen.
({1})
Aber ich will nicht auf dem Thema Arbeitsmarkt beharren. Ich muß noch einmal auf den Wirtschaftsminister zurückkommen. Er hat gesagt, die Gutachten hätten seine Politik bestätigt. Er hat aber offensichtlich das Gutachten nicht gelesen, denn darin steht, es gebe eine nicht hinnehmbare Massenarbeitslosigkeit. Das hat er einfach weggesteckt. Er hat überhaupt nichts dazu gesagt, wie er eigentlich die Arbeitslosigkeit überwinden will.
Nun hat er den Mittelstand entdeckt. Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben. Als er vom besonderen Beauftragten für Mittelstand geredet hat, da ist Herr Hinsken fast im Quadrat gesprungen. Offensichtlich haben Sie da nicht genau abgestimmt, was diese neue Bundesregierung nun eigentlich will.
Ich bin froh, daß auch Herr Rexrodt den Mittelstand entdeckt hat. Denn er hat ihn in der letzten Legislaturperiode in einer Art und Weise geärgert, die uns, CDU und SPD, Freude gemacht hat. Ich nenne nur die Stichworte Ladenschlußgesetz, Rabattgesetz, Zwangsbeiträge zur IHK. Das alles waren Ärgernisse
Anke Fuchs ({2})
für den Mittelstand. Diesen Vertrauensschwund wird Herr Rexrodt auch mit einem Parlamentarischen Staatssekretär nicht so schnell wieder aus der Welt schaffen. Wir werden kräftig dabei bleiben: Wir Sozialdemokraten haben das richtige Konzept, um kleinen und mittleren Betrieben zu helfen.
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Herr Hinsken, es ist empfohlen worden, CDU oder SPD zu wählen. F.D.P. sollte der Mittelstand nicht mehr wählen. Das war eindeutig. Das war eine wunderschöne Schlachtordnung in diesem Wahlkampf.
Wir haben seit Jahren Mittelstandsförderung betrieben. Ich will nur an die Hilfen erinnern, die Sie immer abgelehnt haben. Ich bin gespannt, wie Herr Rexrodt nun zu Rande kommen will. Sie waren es doch, die die Finanzierung der Meisterkurse abgeschafft haben. Sie haben doch all die Dinge, die wir immer wieder vorgeschlagen haben, für verfehlt gehalten.
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Deswegen freue ich mich auf diese Auseinandersetzung und bin gespannt, wie Herr Hinsken mit diesem Problem weiter umgeht. - Ich habe Sie doch provoziert, Herr Kollege.
Frau Kollegin Fuchs, der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Mittelstand nach jüngsten Umfragen zu über 75 % bei der Wahl am 16. Oktober dieses Jahres diese Regierungsparteien wiederum gewählt hat, weil er weiß, daß er bei ihnen und der Politik, die hier aufgelegt wird, am besten aufgehoben ist?
({0})
Eine ganz kurze Zusatzfrage: In welchen sozialdemokratischen Ländern wurde in Sachen Fortbildung und Weiterbildung zur Meisterprüfung etwas gemacht, wie es z. B. im Lande Bayern der Fall ist?
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Erstens hat jeder seine Wahlanalyse, wie er sie braucht. Auch wir haben eine gute, was den Mittelstand betrifft.
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Zweitens kenne ich viele Mittelstandspolitiker, die uns gewählt haben. Ich will das nur noch einmal wiederholen. Unsere Mittelstandspolitik hat immer auch die Meisterkurse beinhaltet. Wir waren immer für Investitionserleichterungen, weil uns völlig klar war, daß in diesen Bereichen die zukunftssicheren Arbeitsplätze sind. Wir waren immer für überbetriebliche Angebote für Technologieentwicklungen und -hilfen, weil wir wußten, die einzelnen Betriebe können das nicht alles leisten. Also, ich finde unsere Politik durchaus in Ordnung und bleibe dabei:
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Wir sind auf der Seite der kleinen und mittleren Betriebe.
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Ich will in der Wirtschaftspolitik noch einen etwas weiteren Bogen schlagen und komme damit zur Europapolitik sowie zur internationalen Politik im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung. Es geht um die Frage: Welche wirtschaftliche Entwicklung wollen wir eigentlich vorantreiben?
Zunächst bleibe ich bei Europa. Ich bedauere sehr, daß von uns eigentlich keiner weiß, was bei der Präsidentschaft dieser Bundesregierung für Europa herausgekommen ist.
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- Jetzt kommt Herr Blüm mit seinen Betriebsräten! Ich komme gleich darauf zu sprechen. Setz dich hin, Norbert, ich komme gleich darauf zurück!
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Sie haben nicht die wirtschaftlichen Impulse gegeben, die wir brauchen, um mit Delors' Initiative für Wachstum und mehr Beschäftigung zu sorgen. Das haben Sie abgelehnt, weil Sie die Finanzierung so nicht wollten.
Und Sie haben immer noch nicht die Entsenderichtlinie verabschiedet - ein dringendes Problem.
({5})
Um was geht es? Wir wollen, daß Bauarbeiter aus Portugal bei uns arbeiten können, aber bitte zu den Löhnen, die auf deutschen Baustellen gezahlt werden.
({6})
Sie sind mit der Verabschiedung der Entsenderichtlinie in Verzug.
Was Ihren „grandiosen Erfolg" bei der Mitbestimmung der Betriebsräte anbelangt, so weise ich darauf hin: Diese Regelung ist natürlich weit weniger als unsere; sie beinhaltet nur Informationsmöglichkeiten von Betriebsräten. Aber selbst wenn Sie dieses magere Ergebnis befriedigt, dann hoffe ich, daß Sie es umsetzen. In den Koalitionsvereinbarungen steht zu dieser Frage nichts.
({7})
Wir werden sehr darauf achten, daß wenigstens dieses magere Ergebnis auch für unsere Belange umgesetzt werden kann.
({8})
Frau Kollegin, würden Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm erlauben?
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, ist Ihnen bekannt, daß unter unserer Präsidentschaft zum erstenmal energisch Politik für die Entsenderichtlinie gemacht wurde?
({0})
Aber wie denn, wo denn, was denn? Wo ist sie denn? Sie hätten sie doch jetzt durchsetzen können.
({0})
- Heidemarie Wieczorek-Zeul hat mir gesagt, sie sei noch nicht durchgesetzt, Sie hätten sich nicht bemüht,
({1})
sie liege nur auf dem Tisch. Sie muß verabschiedet werden, damit wir endlich weiterkommen.
Ich will noch einmal allen, die es nicht wissen, sagen: Es kann doch nicht sein, daß bei uns Menschen zu ausbeuterischen Bedingungen beschäftigt werden.
({2})
Wenn sie bei uns arbeiten, sollen sie auch zu unseren Bedingungen, zu unseren Löhnen arbeiten können. Wenn wir uns einig sind, dann tun Sie endlich etwas dafür, daß das verabschiedet wird.
({3})
Frau Kollegin, auch der Kollege Urbaniak möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, können Sie mir bestätigen, daß - dies wurde insbesondere bei der Frage des Kollegen Blüm deutlich - das, was bei der Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft als Fortschritt bezeichnet wird, sich lediglich darauf bezieht, geringe Informationsrechte zu schaffen, und die Betriebsräte überhaupt keine Mitbestimmung bekommen, die Kapital- und Wirtschaftsbeziehungen aber so reibungslos laufen, daß eine soziale Flankierung, die bitter notwendig ist, überhaupt nicht dagegengestellt wird?
({0})
Ich stimme Ihnen zu, daß das so ist. Das ist eben auch ein Versagen dieser Regierung, weil sie sozialen Fortschritt in Europa eigentlich nicht will, sondern darauf beharrt, nur ökonomisch zu denken und unsere bewährten Instrumente des sozialen Friedens nicht auf Europa übertragen will. Das ist die Haltung dieser Bundesregierung.
({0})
Ich bleibe noch bei Europa, weil ich es spannend finde, wie diese Bundesregierung mit europäischen Fragen umgeht. Erinnern Sie sich noch an die Vignette von Herrn Wissmann? Sie sollte den ganzen Güterverkehr verändern. Er hat sich da so richtig über den Tisch ziehen lassen. Sie ist viel zu billig, und wir sehen jetzt schon, daß umweltfreundliche Anbieter wie Bahn und Schiff auf dem Markt deswegen nicht billiger fahren können, weil die Mitgliedstaaten die nationalen Kraftfahrzeugsteuern gesenkt haben. Damit wurde das Ganze kompensiert.
Das bringt mich zu der Frage: Was ist eigentlich europäische Verkehrspolitik? Wie gehen wir eigentlich an die Kernfrage der ökologischen Erneuerung durch die Schaffung einer vernünftigen Verkehrsstruktur in Europa heran? Wenn wir einen Verkehrsminister haben, der sich schon in einem solch kleinen Beispiel von seinen Kolleginnen und Kollegen über den Tisch ziehen läßt, dann läßt die europäische Verkehrspolitik nichts Gutes ahnen.
({1})
Das gleiche gilt für das Tarifbindungssystem in der deutschen Binnenschiffahrt. Ich habe mir das erzählen lassen: Es gab die Sorge um eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Also hat man die Bindung schnell aufgehoben. Nun hat aber der Europäische Gerichtshof anders entschieden. Statt die Bindung wieder einzuführen, um unsere Binnenschiffahrt zu schützen, hat man es so gelassen, wie es war. Sehen Sie sich heute die Verkehrsströme an! Sie gehen auch in der Binnenschiffahrt zu Lasten des deutschen Verkehrs. Das ist ein weiteres Argument für den Dilettantismus, mit dem die Europapolitik von dieser Bundesregierung gemacht wird.
({2})
Ich will Ihnen gestehen, was mich an der Regierungserklärung am meisten geärgert hat. Ich weiß gar nicht, ob Ihnen das so aufgefallen ist. Da steht: Diese Bundesregierung will Protektionismus verhindern, auch wenn er mit Umweltstandards und Sozialklauseln begründet wird.
({3})
Dahinter stecken doch die Fragen: Welche wirtschaftliche Entwicklung wollen wir eigentlich? Welches Angebot machen wir an den Welthandel aus unserer bundesrepublikanischen Sicht? Es kann doch nicht wahr sein, daß eine Bundesregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung sagt: Umweltverhütung, Umweltschäden und Sozialstandards nehmen wir hin.
({4})
Wir Sozialdemokraten sagen: Es kann nicht angehen, daß Umweltdumping und Sozialdumping ein natürlicher Wettbewerbsvorteil anderer Länder bleiben. Hier müssen internationale Standards in die WTO eingebracht werden.
({5})
Anke Fuchs ({6})
Das bringt mich zu der Frage Ihrer Zukunftsvision. Man fragt sich ja manchmal: Wo stehen wir eigentlich, wenn wir nationale Wirtschaftspolitik - ich habe versucht, sie ein wenig europäisch anzutippen - weltweit betrachten? Dann kann es doch nicht ange- hen, daß wir freien Welthandel über alles fordern, ohne daß wir uns über die internationale Arbeitsorganisation und die World Trade Organization mit unseren bewährten Kriterien auf den langen Marsch - das weiß ich wohl - begeben und sagen: Sozialdumping darf es nicht geben, und die Umweltkriterien müssen berücksichtigt werden. Das gehört zum freien, richtig verstandenen Welthandel. Da dürfen wir nicht zu kleinkariert sein.
({7})
Da hinein paßt auch die Frage, was Sie unter ökologischer Modernisierung verstehen. Wenn man wie ich zu einem Thema zurückkehrt, das ich als Bundesgeschäftsführerin in der SPD vor vier Jahren mit vorangetrieben habe, dann ist man entsetzt darüber, wie wenig in Ihren Reihen über diese zentrale Frage weiterer wirtschaftlicher Entwicklung nachgedacht wird.
Ich sage: Unsere Zukunftschancen, Herr Minister Rexrodt, liegen nicht in dem, was Sie uns heute vorgelabert haben,
({8})
sondern die Kernfragen werden lauten: Welche ökologische Erneuerung setzen wir durch, und wie schaffen wir es mit einer ökologischen Steuerreform, daß wir wirklich zukunftsorientiert auf den Weltmärkten präsent sein können?
({9})
Frau Kollegin, zum ersten: „Labern" ist nicht die hohe Schule der parlamentarischen Ausdrücke.
({0})
Aber es gibt auch noch den Wunsch zu einer Zwischenfrage.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Bundesregierung dafür eingesetzt hat, daß bei der neuentstehenden Welthandelsorganisation ein international besetzter Ausschuß eingerichtet wird, der sich mit den Fragen von Umwelt und Handel befassen soll und der dafür sorgen soll, daß im Falle von Umweltdumpingmaßnahmen gegebenenfalls Konsequenzen auch im Handelsbereich gezogen werden können? Sind Sie weiterhin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns in allen internationalen Organisationen, namentlich in der OECD, tätig dafür eingesetzt haben,
({0})
daß Sozialstandards und Sozialdumping, soweit dies nun wirklich vorkommt - und darüber können wir nicht hinwegsehen -, in den entsprechenden Organisationen, u. a. der Welthandelsorganisation, der Weltarbeitsorganisation und den Vereinten Nationen, geahndet werden sollen?
({1})
Sehr verehrter Minister Rexrodt, das waren wieder typische große Töne, und das Handeln in den Gremien sieht ganz anders aus.
({0})
Ich erinnere Sie daran, daß Sie die Initiative der Vereinigten Staaten zu Umwelt- und Sozialproblemen - ich glaube, die Konferenz war in Marrakesch - nicht mitgemacht haben.
({1})
Ich erinnere Sie daran, daß Sie nicht bereit sind, zu der Konferenz in Berlin, der Nachfolgekonferenz von Rio, international abgestimmte Papiere einzubringen,
({2})
um in der Frage ökologischer Modernisierung wirklich voranzukommen. Wenn ein F.D.P.-Wirtschaftsminister sagt, er habe einen Beitrag geleistet, um Sozialdumping zu verhindern,
({3})
dann muß ich erst einmal sehen, was dahintersteckt. Das sind wahrscheinlich Peanuts, meine Damen und Herren. Aber das ist nicht der Ansatz, soziale Belange des inneren Friedens konzeptionell als ein Kriterium von freiem Welthandel einzubeziehen. Darum geht es mir bei dieser Frage.
({4})
Zur Ökosteuer. Ein Herr Kinkel stellt sich hin und sagt - das müssen Sie sich auf der Zunge zergehen lassen -: Natürlich werden wir beim Wachstum darauf achten, daß sich die ökologischen Schäden in Grenzen halten. Das war verräterisch, finde ich. Denn das zeigt wieder, daß Sie noch immer nicht begriffen haben, daß weiter so Wurschteln, ohne die ökologischen Belange am Beginn einer Produktion einzubeziehen, nicht funktionieren kann. Deswegen nehme ich Ihnen nicht ab, daß Sie diese Denkansätze, wie Sie es mir jetzt vorzutragen versucht haben, vernünftig in die internationalen Gremien hineingetragen haben.
Es bleibt dabei: Für Sie ist Ökologie eine Behinderung wirtschaftlichen Wachstums. Wir sagen: Ökologie und Wirtschaft müssen miteinander verzahnt werden, weil die wirtschaftliche Entwicklung sonst insgesamt Schaden nimmt.
({5})
Für mich ist das eine Frage der Wirtschaftspolitik, Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß wir uns darüber im klaren sind: Diese Verzahnung von ökologischen, ökonomischen und verkehrspolitischen Problemen muß wieder her. Damit müssen wir bei uns
Anke Fuchs ({6})
anfangen, notfalls auch vorangehen. Dann müssen wir uns in Europa einklinken und diese Verzahnung zu einem Kriterium für den Welthandel machen, weil wir sonst hier kleinkariert sitzen und einem falschen Protektionismus das Wort reden müssen. So kann die größer gewordene Bundesrepublik ökonomisch international nicht agieren.
({7})
Frau Kollegin, der Kollege Schily möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Frau Kollegin Fuchs, wie beurteilen Sie die Kompetenz des Wirtschaftsministers und sein Selbstbewußtsein, wenn er hier selber Zwischenfragen ablehnt, aber als Parlamentarier in der Form der Zwischenfrage ganze Beiträge bringt?
({0})
Herr Kollege Schily, er ist so.
({0})
Wenn wir diese gemeinsamen Anstrengungen unternehmen, dann appelliere ich auch an Sie, daß wir uns bei dem Thema ökologische Steuerreform klar darüber sind, daß dabei eine ganze Menge zu bedenken ist. Das hat Gerhard Schröder heute morgen noch einmal ausgedrückt. Natürlich gibt es soziale Probleme. Natürlich gibt es die Frage des Aufkommens. Natürlich gibt es die Frage: Welche Auswirkungen hat das auf welche Branchen? Aber wir müssen uns auf den Weg machen, das Ganze zu durchdenken, Konzepte vorlegen, und zwar alle miteinander in den verschiedenen Gremien, und unsere Menschen auf diese neuen, schwierigen Fragen vorbereiten.
Die Menschen sind doch schon sehr viel weiter, als Sie das immer darstellen. Ich will das an zwei Beispielen klarmachen, die damit bedingt etwas zu tun haben.
Das eine Thema ist die Frage von Mehrwegsystemen, Müll und Abfall. Ich finde es unglaublich, wie schnell die Bevölkerung bereit war und gelernt hat, Müll und Abfall getrennt aufzubewahren bzw. zu vermeiden. Was hat die Politik dazu beigetragen? Sie hat ein an sich wichtiges öffentliches Thema privat organisieren und finanzieren lassen. Der Unmut der Bevölkerung ist doch groß, meine Damen und Herren. Die Bevölkerung war also weiter als die Instrumente, die Sie haben anbieten können. Deswegen ist der Unmut der Bevölkerung auf diesem Feld besonders groß.
({1})
Oder denken Sie an den Sommersmog. Was hat uns der Sommersmog eigentlich gezeigt? Er hat gezeigt, daß die Bevölkerung bereit ist, mitzugehen, wenn klare Vorgaben, nachvollziehbar für den einzelnen, da sind, auch wenn man von ihr etwas fordert. So wie Sie bei der Wende versäumt haben, die Solidarität der
Menschen durch einen Solidaritätszuschlag einzufordern, so fordern Sie jetzt im gesamten Umweltbereich die Menschen zu wenig auf, auch ihrerseits einen Beitrag zu leisten. Die Menschen warten darauf, daß von ihnen etwas verlangt wird und nicht mit den alten Rezepten weiter in der Zukunft gearbeitet wird.
({2})
Für diese größer gewordene Bundesrepublik kann es in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht mehr, wie Herr Kinkel meint, um Wachstum gehen, dessen ökologische Folgen wir in Grenzen halten wollen, sondern es geht um die Verzahnung von Ökologie und Ökonomie. Wir haben es früher einmal „Arbeit und Umwelt" genannt. Man kann es auch noch ein bißchen einfacher ausdrücken. Aber wenn Sie so weiterwurschteln, wie Sie sich das vorstellen, wird es nicht funktionieren. In diesem Sinne hoffe ich auch - das biete ich an - auf eine Debatte um die Frage, wie wir Konsens erreichen. Wann stellen wir ein Ökosteuer-system vor, bei dem alle sagen: So schlecht ist es doch eigentlich gar nicht? Ich ringe hier um Gesprächsbereitschaft. Ich weiß aus meiner langen politischen Erfahrung, daß man Menschen auch zu neuen Themen mitnehmen muß, vor denen sie zunächst einmal Angst haben. Aber nehmen wir ihnen die Angst und sagen wir: Wir bieten verläßliche, durchgerechnete, sozialverträgliche Konzepte an! Dann werden die Menschen diesen Weg auch mitgehen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme auf Frau Fuchs und Herrn Dreßler noch zurück, aber ich will auf einen Vorgang eingehen, der heute vormittag doch einer stärkeren Erwähnung bedarf.
Die beiden Kirchen haben ein Diskussionspapier vorgelegt. Ich möchte hier nur sagen - auch nach dem teilweisen Ablauf der Debatte heute morgen -: Die Kirchen und die Menschen, die in diesem Papier angesprochen werden, die betroffen sind, sollen nicht den Eindruck haben, daß im Deutschen Bundestag, im Parlament, die Anliegen, die zu Recht in diesem Papier formuliert und vorgetragen worden sind, in einer parteitaktischen Polemik untergehen.
Wir haben dieses Papier als Diskussionsgrundlage bekommen. Es gibt eine Reihe von Anregungen und richtigen Situationsbeschreibungen. Es kann auch nicht bestritten werden, daß es Not und Armut in Deutschland gibt. Deswegen sollten wir zusammen mit den Kirchen - das ist eine Aufgabe der Bundesregierung und aller Fraktionen - darangehen, die Armut zu vermindern, wobei wir uns - und das ist schon ein wichtiger Bestandteil der Koalitionsvereinbarungen - natürlich auch darüber Gedanken machen müssen, ob alles, was unter Armut subsumiert
wird, im eigentlichen Sinne des Wortes auch das ist, was wir miteinander bekämpfen wollen.
({0})
Ich will Sie auf zwei Dinge aufmerksam machen. Die Sozialhilfe z. B. entzieht sich ganz einfach einer pauschalisierenden Beurteilung. Sozialhilfeempfänger, wie es manche Sozialromantiker tun, als Opfer der Gesellschaft und ihrer Schikanen zu sehen, ist genauso falsch wie die Vorstellung derer, die Not und Armut am liebsten aus ihrer Vorstellungswelt verdrängen wollen.
({1})
Beides ist nicht in Ordnung. Aber der Satz: einmal arm, immer arm, stimmt eben auch nicht.
({2})
Wir haben eine Untersuchung aus Bremen, aus der hervorgeht - ich finde, das ist wichtig -, daß 57 % aller Sozialhilfeempfänger nur bis zu einem Jahr - und die mittlere Bezugsdauer liegt dabei bei zwei Monaten - Sozialhilfe empfangen.
Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß diese Sozialhilfeempfänger Leute sind, die die Sozialhilfe als Überbrückung für die Zeit bekommen, in der die reguläre Sozialleistung, z. B. Arbeitslosengeld oder Rente, von den zuständigen Ämtern nicht oder nicht rechtzeitig ausgezahlt worden ist. Deswegen will ich bei allem, was völlig zu Recht über die Reform der Sozialhilfe gesagt worden ist - ich sage ausdrücklich: man muß Sozialhilfe auch verbinden können mit zumutbarer Arbeit -,
({3})
darauf hinweisen, daß die Sozialhilfe, die von der Christlich Demokratischen Union im Jahre 1961 als Ablösung der alten Fürsorgerichtlinien aus dem Jahre 1924 verabschiedet worden ist, besser ist als ihr Ruf. Sie trägt viele Menschen, vor allem auch alleinstehende Frauen, die in Krisen geraten sind, über Lebenskrisen hinweg und hilft ihnen, einen neuen Anfang zu machen.
({4})
Mir wäre es lieb gewesen, wir müßten heute, nachdem wir dieses Papier bekommen haben, wenn es um Arme geht und um Menschen, die in Not sind, nicht wieder eine Debatte über die Pflegeversicherung führen. Sie ist heute fortgesetzt worden - leider auch vom Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, leider auch von der IG Metall. Leider muß ich das auch an die Adresse mancher Parteifreunde sagen. Denn durch die Diskussion erwecken wir den Eindruck, als ob wir die Lösung für eine Gruppe der Hilflosesten in unserer Gesellschaft wieder in Frage stellen wollten, nämlich die 1,8 Millionen Pflegebedürftigen, die keine Lobby hinter sich haben und nicht
über die Droh- und Störpotentiale großer Organisationen verfügen.
({5})
Ich finde es beschämend, daß wir uns in diesem nach wie vor reichen Land - ich betone: nach wie vor reichen Land - eine Diskussion erlauben, die darauf hinausläuft, daß diese Gesellschaft nicht in der Lage sein soll, bei 13 bezahlten Feiertagen, den höchsten Löhnen aller Industrieländer in ganz Europa, auf einen Tageslohn zu verzichten, um den Hilflosesten endlich zu ihrem Recht zu verhelfen.
({6}) Das haben wir gemeinsam gemacht.
Herr Geißler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler?
Bitte schön.
Herr Kollege Geißler, sind Sie bereit, nachdem Sie den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen erwähnt haben, dem Parlament mitzuteilen, an welcher Stelle seines Interviews heute morgen im Deutschlandfunk Herr Rau die Pflegeversicherung in Frage gestellt hat,
({0})
und sind Sie darüber hinaus bereit, dem Deutschen Bundestag zuzugestehen, daß die eigentliche Infragestellung der Pflegeversicherung von Ihren Parteifreunden im Bayerischen Landtag und im Sächsischen Landtag gekommen ist?
({1})
Ich habe diese Kritik gleich vorweggenommen, Herr Dreßler. Es ist mir inzwischen jedoch gleichgültig. Was Herr Rau gemacht hat, ist nichts anderes - lesen Sie das Interview nach -, als aus parteitaktischen Gründen die Schuld einer einzigen politischen Partei, nämlich der Union, in die Schuhe zu schieben.
({0})
Statt dessen sollten wir alle gemeinsam - denn wir
haben es gemeinsam gemacht - dafür eintreten - ({1})
Die Leute lesen es doch in der Zeitung. Was sie lesen, ist nichts anderes, als daß Ministerpräsidenten, IG Metall und andere Leute offenbar drauf und dran sind,
({2})
das, was wir für die Pflegebedürftigen in langer,
langer Zeit erarbeitet haben, wieder in Frage zu
stellen. Man sollte den Mund halten, wenn es um diese Fragen geht, und die Sache realisieren.
({3})
Wollen Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?
Zu diesem Thema haben Sie, Herr Fischer, Gott sei Dank noch nichts gesagt. Ich warte darauf, daß Sie auch noch etwas sagen.
({0})
Herr Geißler, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Dreßler?
Bitte schön.
Herr Geißler, ich nehme an, Sie werden mir zugestehen, daß ich beim Thema Pflegeversicherung sehr sensibel bin, weil ich mich zusammen mit anderen viele Jahre um die Realisierung gekümmert habe. Sind Sie wenigstens bereit, zuzugestehen, daß die Verteidigung von Herrn Rau und der IG Metall gegen das Infragestellen der Pflegeversicherung durch CDU Sachsen und CSU Bayern der eigentliche Konfliktpunkt am heutigen Tage ist und nicht das Infragestellen der Pflegeversicherung durch IG Metall oder Rau? Es geht wirklich - Herr Geißler, ich bitte Sie, das zuzugestehen - um Ihre eigenen Parteifreunde, die das getan haben.
({0})
Ich bin ganz einfach deswegen nicht bereit, Ihnen das zuzugestehen, weil wir in der gesamten Debatte bis zur Verabschiedung der Pflegeversicherung die größten Schwierigkeiten gehabt haben, gerade von der IG Metall und anderen einen Beitrag zu bekommen - in der Tat muß dieser aus der Arbeitswelt erbracht werden -, der die Pflegeversicherung finanzierbar macht. Das wissen Sie ganz genau.
({0})
Wir sind nämlich der Auffassung gewesen, daß es durch die Einführung einer neuen Sozialversicherung - siehe Herr Scharping gestern - nicht zu zusätzlichen Lohnnebenkosten kommen sollte.
({1})
Dazu waren Sie nicht bereit: die einen nicht, weil sie in ihrem Denken verfangen waren, daß es nur um Kapital und Arbeit geht, die anderen wollten das Kapitaldeckungsverfahren einführen und meinten, die Privatversicherung sei die richtige Lösung.
Die Union hat von Anfang an den richtigen Standpunkt vertreten.
({2})
Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir die Sache viel schneller, ohne die Behinderungen, die von Ihnen bezüglich der Finanzierung fabriziert worden sind, machen können.
({3})
Herr Kollege Geißler, sind Sie bereit, auch eine Frage des Kollegen Laumann zu beantworten?
Das wird mir von der Zeit nicht abgezogen?
Nein, nein.
Gut, bitte schön.
Herr Kollege Geißler, können Sie bestätigen, daß die Koalitionsfraktionen im Bundestag die Pflegeversicherung im Kompensationsteil so verabschiedet haben, daß wir die Aufgabe eines Urlaubstages wollten,
({0})
und daß es den Sozialdemokraten später im Vermittlungsausschuß als konsensfähiger erschien, einen kirchlichen Feiertag zu streichen, anstatt am Rande der Tarifautonomie die Frage eines Urlaubstages in Angriff zu nehmen? Haben wir nicht daher diese Diskussion um den christlichen Feiertag?
({1})
Ja, das kann ich ausdrücklich bestätigen. So ist es gewesen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe dieses Thema nur angesprochen - ({0})
- Frau Fuchs, was glauben Sie denn, welchen Eindruck die Leute bekommen, wenn sie das wieder miterleben? Jetzt hören wir einmal auf mit der Geschichte und realisieren so, wie es Norbert Blüm gesagt hat, das, was wir miteinander beschlossen haben, ohne die Sache hinterher immer wieder in Frage zu stellen! Die Leute müssen ja denken: Die haben einen Hau!
({1})
- Ich habe ausdrücklich gesagt, daß ich meine Rede an alle richte. Nehmen Sie es also bitte zur Kenntnis. Ich habe auch Ihren Ministerpräsidenten gemeint.
Frau Fuchs und Herr Dreßler, ich habe weggelegt, was wir alle miteinander in der letzten Stunde erlebt haben. Ich finde, wir müßten, wenn wir über Fragen reden, wie es mit der Sozialpolitik weitergehen, wie der Sozialstaat aussehen soll, einfach mal zur Kenntnis nehmen, daß es eine gemeinsame Aufgabe ist und daß wir über den richtigen Weg streiten. Es kann aber doch wohl nicht wahr sein, daß man der Auffassung
ist, man würde selber besser, indem man andere Leute schlecht macht. Angefangen bei Herrn Scharpings Rede gestern bis - das muß ich leider sagen - zu Ihrem Beitrag heute ist aber genau das gemacht worden.
Ich nehme nur einmal den letzten Teil Ihrer Rede mit der EG und allem Drum und Dran. Ich könnte den Spieß umdrehen: Richtig, natürlich haben wir Armut und große Not auf der Welt. Eine Milliarde Menschen muß pro Tag mit dem Gegenwert eines Dollars auskommen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir dieses Armutsproblem nicht nur mit Entwicklungshilfe, sondern auch mit Außenhandels- und neuer Außenwirtschaftspolitik lösen.
Richtig ist doch aber auch, daß Ursache z. B. für die Migration nicht nur die Armut, sondern auch die immer stärker zunehmende Zahl von Bürgerkriegen ist. Wenn wir die Ursachen für die Migration beseitigen wollen, ist es infolgedessen auch eine Aufgabe, daß wir unseren Beitrag zur Beendigung der Bürgerkriege leisten. Recht haben Sie, wenn Sie an die moralische Verantwortung der EG und Deutschlands in der Außenhandels- und Außenwirtschaftspolitik erinnern. Genauso richtig ist es aber auch, daß es eine moralische, nicht eine nationalstaatliche Frage ist, ob wir bereit sind, mit der Bundeswehr im Rahmen der UNO unseren Beitrag dazu zu leisten, daß Bürgerkriege schneller und eher beendet werden und der Frieden gesichert werden kann.
({2})
Sie sprechen von den Entsenderichtlinien. Zur Wahrheit gehört doch, daß Sie sagen müßten: Daß die Entsenderichtlinien am 6. Dezember auf der Tagesordnung stehen, ist das Ergebnis dieser Bundesregierung, von Norbert Blüm. Wir können die Entsenderichtlinien doch nicht alleine machen, sondern sie müssen von allen verabschiedet werden.
Infolgedessen - wir wollen sie ja; es steht auf der Tagesordnung - können Sie doch nicht dem Norbert Blüm vor dem Fernsehen die Schuld geben,
({3})
sondern Sie müssen den Leuten sagen: Wir wollen es. Aber die anderen müssen eben mitmachen, z. B. auch Ihre sozialistischen Parteifreunde in anderen Ländern.
({4})
Machen Sie das einmal über die Sozialistische Internationale! Erfüllen Sie Ihre Pflichten!
Herr Dreßler, ich habe meinen Augen nicht getraut - und meinen Ohren wollte ich auch nicht trauen -, was Herr Scharping gestern zum Sozialstaat dargestellt hat: Man hat gerade den Eindruck, als stünden wir am Rande des Abgrunds, unmittelbar davor, ins Chaos zu stürzen; der Sozialstaat werde aufgelöst.
Herr Scharping sagte gestern zu Helmut Kohl: Sie haben in den letzten zwölf Jahren den Beweis dafür angetreten, daß Sie z. B. bei der Förderung der Kinder und der Familien, Gleichberechtigung der Frau immer wieder genau das Gegenteil von dem getan haben, was Sie hier verkünden.
Ab 1. Januar 1992 bekommen alle Frauen pro Kind drei Erziehungsjahre anerkannt. Bei einer Wartezeit von fünf Jahren bekommt eine Frau, die zwei Kinder hat, allein auf Grund dieser Tatsache einen eigenständigen Rentenanspruch.
({5})
Nicht Sie, wir haben die Anerkennung von Erziehungsjahren eingeführt.
({6})
Unter Ihrer Regierungsverantwortung gab es das Mutterschaftsgeld treu marxistisch nur für diejenigen, die sich im Produktionsprozeß befanden, nicht für die mithelfende Handwerkerfrau, nicht für die Winzerin, nicht für die Bäuerin.
({7})
Heute gibt es das Erziehungsgeld für alle Mütter. Wir haben das Mehrklassenrecht für Mütter und Frauen beseitigt, das wir von Ihnen geerbt haben.
({8})
Herr Dreßler beklagt, daß der Aufschwung am Arbeitsmarkt vorbeigehe - sozialdemokratische Behauptung! Wollen Sie denn amerikanische und englische Verhältnisse mit „hire and fire" bei uns einführen
({9})
- Entschuldigung! Der Sachverständigenrat hat in seinem jüngsten Jahresgutachten das amerikanische und das deutsche Beschäftigungssystem verglichen. Natürlich stellen die Amerikaner schneller ein, wenn der Aufschwung kommt; aber die feuern auch schneller.
Umgekehrt ist es natürlich genauso: Wir haben eine Sozialordnung, wir haben Arbeitsschutz, Kündigungsschutz, geregelte Arbeitszeiten. Dann geht es eben mit „hire" nicht so schnell wie dort, wo auch gefeuert wird, wenn kein sozialer Schutz vorhanden ist. Sie müssen doch konsequent bleiben in Ihrer Argumentation.
Wir wollen keine englischen Verhältnisse - das ist richtig, die wollen wir wirklich nicht.
({10})
- Nein, die haben wir nicht; auch dies ist die Unwahrheit. - Wir wollen keine englischen Verhältnisse, auch wenn das von dem einen oder anderen mit flexiblem Arbeitsmarkt und niedrigen Löhnen vorgeschlagen wird. Das wollen wir nicht. Wir wissen: England ist zunehmend eine Nation von Gelegenheitsarbeitern geworden, ein Drittel der Erwerbstätigen - 8 Millionen - sind in Teilzeit- und befristeten Arbeitsverhältnissen. Das alles wollen wir nicht.
Herr Kollege Geißler, da gibt es noch ein Zwischenfragebegehren.
Ja.
Vielen Dank. - Habe ich es richtig verstanden, Herr Geißler, daß die DeregulieJörg Tauss
rungsabsichten, die gestern und auch heute mehrmals an diesem Pult vorgetragen worden sind, sich nicht auf Fragen der Arbeitszeit, sich nicht auf Fragen der sozialen Gestaltung, sich nicht auf Fragen des Kündigungsschutzes erstrecken sollen, auf daß man nicht zu diesen von Ihnen beklagten Verhältnissen wie in England kommt?
Entschuldigung, mit keinem Wort ist davon die Rede gewesen. Sie müssen nicht immer alles absichtlich mißverstehen. Natürlich sind wir für Deregulierung; wir sind auch für Einstiegstarife. Aber wir wollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht schutzlos stellen. Das geht nicht gegen die Gewerkschaften und die Betriebsräte, sondern nur mit den Tarifpartnern.
({0})
Das alles ist klar gesagt worden. Deswegen unterscheiden sich die Verhältnisse bei uns von den englischen.
Was wollen wir denn tun? Ich will Ihnen folgendes sagen: Die westdeutsche Arbeitslosenquote ist zwischen 1970 und 1990 in zwei Schüben angestiegen, zuerst in den Jahren 1974 und 1975 - da waren Sie an der Regierung -, sodann in den Jahren 1981 bis 1983. In diesem Zusammenhang reden wir immer von der „Sockelarbeitslosigkeit"; ein nicht sehr humaner Begriff, den wir da immer wieder verwenden. Diese Zahlen zeigen doch, daß dieses Problem für die Polemik so gut wie nichts taugt.
({1})
Vielmehr gibt es in diesem Land Arbeit; es ist eigentlich Geld da, und es sind Arbeitskräfte vorhanden. Trotzdem gibt es Arbeitslosigkeit. Jetzt geht es doch darum, daß wir versuchen müssen, alle drei Komponenten auf einen Nenner zu bringen. Natürlich ist das Wichtigste das hat Norbert Blüm gesagt -, daß wir wettbewerbsfähige Arbeitsplätze haben. Das ist richtig. Aber auf der anderen Seite muß ich doch überlegen, ob ich nicht intelligente Lösungen finde - ob Sie das „zweiten Arbeitsmarkt" oder sonstwie nennen, ist ja im Grunde genommen egal , so daß ich bei einer steigenden Zahl von Arbeitslosen auch diesen Personen die Möglichkeit der Beschäftigung gebe. Im „Übergang zum ersten Arbeitsmarkt" - oder wie Sie es nennen wollen - muß man intelligente Lösungen finden, die das ermöglichen. Das haben wir ja getan. Was wir bei der Neufassung des § 249h AFG gemacht haben, Lohnkostenzuschüsse z. B., ist doch genau das, was Sie selber gerade gesagt haben. Aus Arbeitslosengeld wird Lohnkostenzuschuß; aus Arbeitslosen werden Arbeitnehmer, die Jobs verrichten, die sonst liegenbleiben würden. Das haben wir getan.
({2})
Das z. B. ist eine vernünftige Lösung gewesen, und in dieser Richtung müssen wir weiterarbeiten.
Es handelt sich also, Herr Dreßler, nicht um ein kapitalistisches System, wie Sie es an die Wand malen. Aber wir wollen auch jenes andere System nicht. Ich bin schon aufmerksam geworden bei Ihrer Reaktion
auf die Äußerungen >Herrn Gramkes und bei vielen anderen Dingen.
({3})
Man muß sich schon, Entschuldigung, Gedanken darüber machen, was geistesgeschichtlich dahintersteckt. Wenn Gerhard Schröder erklärt, die PDS sei in manchem der SPD näher als die CDU, und wenn Egon Bahr sagt, daß diejenigen, die den Weg in die SED gegangen seien, wieder zurück zur großen Mutterpartei sollten, dann erinnert mich das an eine Überlegung, die immer wieder vorgebracht wurde, nämlich an den Traum von der Wiedervereinigung der gespaltenen Arbeiterklasse. Das ist auch damals von Ehmke in bezug auf den Eurokommunismus als Chance gesehen worden. Nur, der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin in Deutschland fühlen sich nicht als Angehörige einer gespaltenen Klasse, die durch PDS und SPD wiedervereinigt werden muß, sondern sie sind Bürgerinnen und Bürger in einer freien Gesellschaft. Eines allerdings ist wahr: Wir haben zusammen mit ihnen eine soziale und wirtschaftliche Ordnung geschaffen, die die Sozialisten auf der ganzen Welt, obwohl sie 70 Jahre dazu Zeit gehabt haben, nie haben nachmachen können.
({4})
Ihre Redezeit ist um.
Der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit ist heute nicht mehr der dominierende Konflikt. Wir sind den Weg der Konfliktentschärfung durch Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gegangen; die Kommunisten haben den Weg der Konfliktverschärfung durch den Klassenkampf beschritten. Das Kapital wurde ideologisch wegdefiniert; die Eigentümer wurden eliminiert. Die Kommunisten haben gedacht, sie hätten damit das Problem gelöst. In Wirklichkeit sind sie daran gescheitert. Deswegen ist die DDR zusammen mit dem übrigen kommunistischen System zusammengebrochen. Unsere Lösung, auch in der Zukunft, ist die Soziale, ich füge hinzu - das haben wir in der CDU beschlossen -: die Ökologische Marktwirtschaft. Wir wollen darüber hinaus, daß es auch eine internationale Ökologische, Soziale Marktwirtschaft gibt. Das ist die Konzeption, die sich bewährt hat; es ist die Konzeption der Zukunft.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Rössel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Bundesrepublik Deutschland besitzen 10 % der Bürgerinnen und Bürger über 50 % des vorhandenen Geldvermögens. Andererseits macht gerade das jüngste gemeinsame Wort der Kirchen - darauf ist bereits mehrfach hingewiesen worden auf den großen Umfang von Armut im reichen Deutschland aufmerksam. Etwa 150 000 Obdachlose leben zur Zeit auf der Straße und weitere 800 000 Menschen in Notunterkünften.
Die Bundesregierung will - das zeigt auch die Debatte - ganz offensichtlich an ihrem rigorosen Kurs der Privilegierung der Vermögenden bei gleichzeitiger weiterer Schröpfung sozial- und einkommensschwacher Bürgerinnen und Bürger festhalten. Die Bundesregierung will fortsetzen - ich nenne nur das Stichwort Abschaffung der Gewerbesteuer - eine Politik des finanziellen und damit auch sozialen und kulturellen Ausblutens der Kommunen.
({0})
Ich pflichte hier ausdrücklich den Ausführungen von Kollegin Beck von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei.
Meine Gruppe lehnt diese Politik der Bundesregierung ab, eine Politik, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht, die auch den Fortbestand kommunaler Selbstverwaltung gefährdet. Sie verlangt statt dessen eine in der Tat grundlegende Reform des Finanz- und Steuersystems in der Bundesrepublik, auch um den Sozialstaat zu sichern, indem mehr Steuergerechtigkeit hergestellt wird durch den radikalen Abbau von Steuerprivilegien der Reichen und Besserverdienenden sowie durch entschiedene Steuerentlastungen für Bürgerinnen und Bürger mit niedrigem Einkommen.
Doch die Bundesregierung setzt, wie gesagt, auf das Gegenteil. Sie boxte im 12. Bundestag die Wiedereinführung eines Solidaritätszuschlages durch, wodurch insbesondere Menschen, die ohnehin wenig Geld in der Lohntüte haben, immens belastet werden, anstatt nur die sogenannten Besserverdienenden zur Mitfinanzierung dieses Transfers des Bundes in die neuen Länder heranzuziehen.
Die Bundesregierung will einerseits die Haushaltskonsolidierung fortsetzen, läßt andererseits jedoch zu, ' daß den öffentlichen Kassen durch Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug und sogenannte Schattenwirtschaft jährlich gigantische 130 Milliarden DM durch die Lappen gehen. Das ist wahrlich kein Gütesiegel für den Wirtschafts- und Finanzstandort Deutschland, möchte ich Herrn Rexrodt sagen.
({1})
Die Bundesregierung verschließt weiterhin die Augen davor, daß Spekulationsgewinne aus dem schwunghaft gestiegenen Handel mit sogenannten Finanzderivaten - das sind Optionen, Futures u. ä. - nur äußerst lückenhaft besteuert werden. Aus diesen Spekulationsgewinnen könnte gerade so manches für die Aufrechterhaltung des Sozialstaates genommen werden.
Die Verschuldung der Kommunen nimmt in einem schwindelerregenden Umfang und Tempo zu. Ende 1994 werden die Kreditmarktschulden der Kommunen bereits 170 Milliarden DM, fast 20 Milliarden mehr als zum Jahresende 1993, betragen.
({2})
Um die Öffentlichkeit auf die prekäre Finanzsituation aufmerksam zu machen, haben die Stadtmütter und Stadtväter im thüringischen Gotha dieser Tage die städtischen Uhren anhalten lassen. Das ist mehr als
nur ein Alarmsignal und sollte uns im Bundestag ernsthaft zu Konsequenzen veranlassen.
Für die zunehmende Finanznot der Kommunen trägt auch der Bund neben den Ländern ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung. Mit Steuerrechtsänderungen seit 1982 hat sich der Bund Mehreinnahmen von über 46 Milliarden DM gesichert, Gleichzeitig wurden den Kommunen Einnahmemöglichkeiten in einem Umfang von rund 55 Milliarden DM entzogen.
Nun will die Regierung auch die Gewerbesteuer weiter demontieren und danach ganz abschaffen. Damit würde die von der Bundesregierung viel beschworene kommunale Finanzautonomie wahrscheinlich in der Tat zu einer Farce und das bisher enge Band zwischen Rathäusern und Wirtschaft zerschnitten werden. Die Kommunen blieben wie bisher zur Anbietung öffentlicher Dienstleistungen verpflichtet, während sich die Unternehmen aus deren Mitfinanzierung zurückzögen. Das sollte nicht zugelassen werden.
Nach der Koalitionsvereinbarung sollen die Kommunen für den Wegfall der Gewerbesteuer einen dort nicht näher bestimmten Ausgleich erhalten. Offensichtlich hat die Bundesregierung aber kein realistisches Konzept, wie das passieren soll. Ich erinnere nur an den heutigen Diskussionsbeitrag von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt. Ein Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer kommt doch offensichtlich kaum in Frage, geht es doch um einen Fehlbetrag - ich greife Dr. Schäuble auf - von zumindest 25 Milliarden DM, der zusätzlich zum bisherigen kommunalen Einkommensteueranteil aufgebracht werden müßte und eine Einbeziehung der Kommunen in die Umsatzsteuer würde doch zur Folge haben, daß Bund und Land auf ihren entsprechenden Anteil verzichten. Das scheint mir völlig unrealistisch zu sein. Die Folge dieses Vorschlags wäre wohl eine Anhebung der Mehrwertsteuer. Das muß doch entschieden auf Ablehnung stoßen.
Meine Gruppe verlangt statt dessen eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung, die nicht, wie von der Bundesregierung vorgesehen, ein bloßes Anhängsel einer Unternehmensteuerreform ist, sondern in der Tat kommunale Selbstverwaltung garantieren kann. Die Gewerbesteuer sollte demzufolge als eine bedeutende kommunale Einnahme auch langfristig erhalten bleiben und dort, wo möglich, sogar schrittweise wiederbelebt werden.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist um ein gewaltiges Stück überschritten. Ich bitte um einen Schlußsatz.
Ich komme zum Schluß.
Um die akute Finanznot speziell der Kommunen in Ostdeutschland zu mildern, würde ich vorschlagen, mit dem Haushalt 1995 die bewährte kommunale Finanzpauschale für Ostdeutschland in einem Umfang von rund 5 Milliarden DM wieder aufleben zu
lassen. Wir werden dazu in der Haushaltsdebatte einen Antrag einbringen.
({0})
- Auch über die Finanzierung. Wir legen die Vorschläge vor.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beginnen jetzt mit dem Teil Umwelt. Da bin ich in der paradoxen Situation, über ein sehr wichtiges Thema reden zu müssen, aber dafür von der Regierung keine Vorlage bekommen zu haben. Es gibt dünne Sätze in der Koalitionsvereinbarung, fast überhaupt keine Aussagen in der Regierungserklärung, und dann gibt es noch Frau Merkel. Ich will dabei aber klar sagen: Unsere Kritik an dieser Gesetzgebung richtet sich nicht gegen Frau Merkel. Die Verantwortung trägt der Bundeskanzler.
({0})
Allerdings, das sei hinzugefügt, führt der Start von Frau Merkel dazu, daß wir ihr keine Schonzeit geben können. Sie hätte eine Riesenchance gehabt, wenn sie erklärt hätte: In dem Streit um Gorleben werde ich alle Beteiligten an einen Tisch holen und noch einmal über die Entscheidung nachdenken; das wäre ein Schritt in Richtung auf Zusammenarbeit gewesen.
({1})
Das hat sie nicht getan. Insofern kann sie auch nicht mit Schonzeit rechnen.
Das Wichtigste in der Umweltpolitik ist, daß sie durch die Regierungserklärung offenkundig auf ein Nebengleis gestellt wurde. Jetzt wird sogar nicht einmal mehr verbal das aufrechterhalten, was -
Herr Kollege, darf ich Sie eine Sekunde unterbrechen. - Meine verehrten Kollegen da oben im Gang, wenn sie Ihre Gespräche außerhalb des Plenarsaals führen würden, hätte es Kollege Müller leichter.
Gleichwohl wäre es für den Kollegen Blüm gut, wenn er noch etwas mehr von der Ökologie mitbekommen würde.
({0})
Auch das ist nämlich eine soziale Frage, eine zutiefst soziale Frage.
({1})
Jetzt wird nicht einmal mehr verbal das aufrechterhalten, was zumindest in den letzten vier Jahren von Herrn Töpfer verbal aufrechterhalten wurde, nämlich der Anschein von Umweltpolitik. Das macht es noch schwieriger.
Gestern hat Herr Kinkel in Reaktion auf die Rede von Herrn Fischer sinngemäß gesagt: Herr Fischer, Sie täuschen sich, wenn Sie den Eindruck erwecken, als drehe sich alles nur um das Thema Umwelt. Ich habe den Eindruck, daß Herr Kinkel die Dimension des Themas nicht begriffen hat.
({2})
Denn das Eigentliche, was mit dem Thema Umwelt, besser gesagt: mit dem Thema Ökologie verbunden ist, ist in einer Welt, die immer unsicherer, immer instabiler geworden ist, die Frage: Wie können wir morgen leben? Das ist der Kern der ökologischen Frage. Das ist keine nationale Frage mehr. Das ist eine globale Frage. Insofern sollte man gerade vom Außenminister verlangen, zumindest erhoffen, daß er wenigstens die Dimension des Themas erkannt hat.
({3})
Ich glaube, daß die ökologische Frage zwei zentrale Aspekte jeder modernen Gesellschaft in sich bündelt, nämlich erstens: Was ist Fortschritt?, und zweitens: Wie kann eine Gesellschaft zusammengehalten werden? Es handelt sich also einerseits um die Integration der sozialen, ökologischen und ökonomischen Fragen und andererseits um die Antwort auf die Frage, wie es weitergehen kann. Integration und Fortschritt sind demnach die Kehrseiten der ökologischen Frage.
Vor diesem Hintergrund muß ich feststellen: Eine Regierung, die auf die ökologische Frage keine Antwort gibt, ist auch nicht in der Lage, in der Gesellschaft einen neuen Konsens, eine neue Verständigung zu schaffen. Das ist aber das Entscheidende überhaupt.
({4})
Eine moderne Gesellschaft, die nicht fähig ist, in zentralen Fragen einen neuen Konsens zu finden, kann keine Zukunftsfähigkeit, keine Zukunftsverträglichkeit haben. Ich will dies an einigen Aspekten deutlich machen.
Wir alle müssen uns Sorgen machen, daß wir zunehmend in unserer Gesellschaft in eine Entwicklung geraten, in der wir zwar immer häufiger Mehrheiten für politische und gesellschaftliche Auffassungen über das haben, was wir nicht wollen, aber daß es kaum noch einen Konsens über das gibt, was notwendig ist und getan werden müßte.
({5})
Was ist das eigentlich für eine - Entschuldigung, aber ich will das hier ganz deutlich sagen - perverse Gesellschaft, die auf der einen Seite von der Klimakatastrophe redet, aber auf der anderen Seite nicht einmal in der Lage ist, so relativ einfache Fragen wie eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung durchzusetzen? Was ist das für eine Gesellschaft?
({6})
- Ich spreche uns alle an, übrigens auch Sie, denn von
Ihnen habe ich auch noch nie gehört, wie Sie zu
Michael Müller ({7})
diesem Thema stehen. Geschwindigkeitsbeschränkungen sind nicht allein eine technische Entscheidung, sondern es geht dabei um die Frage, ob unsere Gesellschaft noch zur Rücksichtnahme fähig ist. Das ist die entscheidende Botschaft bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung - neben dem Ziel, damit auch die Umwelt zu entlasten.
({8})
Meine Damen und Herren, ich glaube - und das ist der zweite Punkt -: Die Ökologie ist eine Chance, aus der Krise der Gesellschaften herauszukommen. Umweltschutz ist eben nicht nur Schadstoffkontrolle.
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lippold?
Immer, klar, ich bin doch nicht der Herr Rexrodt.
({0})
- Ja, Gott sei Dank.
Herr Kollege Müller, nachdem Sie gerade das Tempolimit und die Notwendigkeit, daß sich alle bundesdeutschen Bürger daran halten, angesprochen haben: War Ihre Aussage so zu werten, daß dieses eine absolute Absage an den baden-württembergischen Umweltminister war, der, während er von anderen ein Tempolimit forderte, mit 180 km/h über die Autobahn ging?
({0})
Herr Lippold, ich kann Ihre Frage verstehen. Ich muß Ihnen aber sagen: Vor dem Hintergrund unserer globalen Probleme und unserer ökologischen Herausforderungen finde ich sie absolut kleinkariert.
({0})
Ich komme jetzt wieder zu dem entscheidenden Ausgangspunkt, daß Ökologie eine Chance aus der Krise ist:
Erstens. Das Thema Ökologie ist verbunden mit der Leitidee der Dauerhaftigkeit. Jede moderne Gesellschaft kann nur existieren, wenn sie Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit in ihrer Entwicklung erreicht. Die Ökologie ist insofern ein entscheidendes Vorbild für die Zukunftsverträglichkeit jeder Gesellschaft, weil sie nämlich auf Dauerhaftigkeit aufgebaut ist. Das ist das erste Prinzip.
({1})
Zweites Prinzip ist: Ökologie funktioniert nur auf der Basis von Gleichgewicht. Die entscheidenden Zukunftsherausforderungen für jede Gesellschaft sind die wachsenden Ungleichgewichte - beispielsweise die sozialen Ungleichgewichte. Wir können es uns auf Dauer nicht leisten, daß zwei Drittel der Welt
immer mehr abfallen oder daß bei uns in der Gesellschaft immer mehr Menschen arm werden. Dasselbe Prinzip gilt auch für die Ökologie. Wir können es uns nicht erlauben, daß die Zukunft immer mehr durch Ungleichgewichte gefährdet wird. Wir brauchen ein Mindestmaß an Gleichgewicht, und der Schutz der Ökologie ist auch nur mit einem Mindestmaß an Gleichgewicht zu erreichen.
({2})
Insofern ist dies eine kulturelle Herausforderung.
Ich glaube, daß die Hinwendung zu ökologischen Zielen auch kulturell eine Riesenchance ist.
Moderne Gesellschaften sind davon geprägt, wie Ralf Dahrendorf das sagt, daß es eine immer größere Option für den einzelnen gibt, aber einen immer stärkeren Wertverfall für die Gesellschaft insgesamt. Er spricht von dem Verlust an Ligaturen durch die Zunahme von individuellen Optionen.
Dieses Problem, das wir an dem Beispiel der Individualisierung der Gesellschaft erleben, führt dazu, daß wir als Gesellschaft immer weniger handlungsfähig sind, obwohl gerade die Gesellschaft das Allgemeinwohl braucht und dort mehr denn je durchgesetzt werden müßte.
Aus meiner Sicht ist die Ökologie nur machbar, wenn jeder sich erstens verantwortlich fühlt und zweitens jeder zu mehr Solidarität fähig wird. Auch deshalb ist Ökologie ein Prinzip, nach dem Zukunftsprobleme gelöst werden können.
Drittens ist Ökologie immer auch mit Pluralität, mit vielfältigen kreativen Ansätzen verbunden.
Vorhin wurde von Herrn Bundesminister Rexrodt über Marktwirtschaft und Wettbewerb gesprochen. Wer sich die Entwicklung auf dem Abfallmarkt DSD hat das entscheidend zu verantworten -, die Entwicklung auf dem Entsorgungsmarkt oder die Entwicklung im Handel ansieht, kann doch nur sagen, daß diejenigen, die heute auf der Regierungsseite sitzen, die größten Konzentrationsförderer sind. Ihre Politik hat wahrlich nichts mit Wettbewerb zu tun.
({3})
Eine ökologische Politik bedeutet immer Pluralität von Lösungen. Wir werden keine Energieeinsparwirtschaft erreichen, wenn wir nicht mehr Pluralität von Antworten und Lösungswegen ermöglichen. Das einseitige Setzen auf Großkraftwerke wird keine Lösung sein, ganz gleich ob es sich um Kohle-, Atom- oder andere Kraftwerke handelt.
({4})
Dies bedeutet einen anderen Umgang mit Kreativität, mit Pluralität.
Meine Damen und Herren, diese ökologischen Ideen müssen vor allem vor dem Hintergrund der sich dramatisch zuspitzenden globalen ökologischen Probleme und der wachsenden Zwänge aus der Internationalisierung der Ökonomie gesehen werden. Meine Kollegin Fuchs hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß vor dem Hintergrund des Ungleichgewichtes
Michael Müller ({5})
auf den Weltmärkten Sozial- und Umweltdumping dramatisch zunimmt. Dadurch stehen wir im Grundsatz vor zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen uns den Zwängen eines zunehmend ungleichen ungeregelten Weltmarktes an - mit allen Konsequenzen für soziale Leistungen oder für Umweltschutz -, oder wir versuchen, den Weltmarkt und die Volkswirtschaft über ökologisch-soziale Reformen zu gestalten. Es wird keinen dritten Weg geben.
({6})
Dies erfordert vor allem mehr Politik. Dies kann nicht Deregulierung heißen. Das ist völliger Unsinn, denn es geht um die Beseitigung von Fehlregulierungen. Natürlich haben wir heute ein viel zu hohes Maß an Bürokratisierung und Schwerfälligkeit in Staat und Verwaltungen. Aber umgekehrt: Wie soll eine Gesellschaft angesichts dieser Herausforderungen ohne eine Institution existieren, die das Allgemeinwohl formuliert und durchsetzt?
Das Problem ist, daß unsere heutigen Regulierungen im wesentlichen aus Philosophien vergangener Jahrhunderte stammen. Beispielsweise steht unser Umweltrecht in der Tradition des Preußischen Landrechts mit dem Glauben, man könne jederzeit die Kette zwischen Ursache und Wirkung unterbrechen und damit die Probleme lösen.
Was wir brauchen, ist eine moderne, zielorientierte, die Probleme von Anfang an lösende Philosophie der Regulierung. Das bedeutet, daß wir von vornherein beispielsweise zu Kreisläufen in der Chemie kommen müssen oder Energieeinsparungen direkt wieder auf die Investitionsentscheidungen verlagern und diese Ziele nicht erst am Ende dem Staat aufbürden. Dies ist die entscheidende Herausforderung.
({7})
Meine Damen und Herren, dies ist eine Idee, die in vielen Ländern bereits weithin konkretisiert wird. Man hat allerdings den Eindruck, daß sie in der Bundesrepublik von großen Teilen vor allem derjenigen, die politische Verantwortung tragen, noch gar nicht begriffen wurde.
Ich möchte ein Beispiel nennen: Das größte amerikanische Energieunternehmen, die Gas and Electric Pacific, praktiziert eine Investitionspolitik, die lautet: Vor jeder Investitionsentscheidung des Unternehmens wird abgewogen ob das Geld, das ausgegeben werden soll, statt für den Zubau nicht sehr viel sinnvoller für die Energieeinsparung, die Solarenergie oder die Effizienzsteigerung eingesetzt werden sollte.
({8})
Die Folge dieser Denkweise ist, daß dieses Energieunternehmen bis zum Jahr 2010 den prognostizierten Zuwachs weitgehend durch Energieeinsparung abdecken kann. Die Konsequenz innerhalb des Unternehmens war, daß es seine Abteilung für Kraftwerksplanung aufgelöst hat. Das größte Energieunternehmen der USA plant keinen Zubau von Kraftwerken mehr, sondern will die Entwicklung über den Ausbau der Effizienz, über die Erhöhung von Energieeinsparung und durch die Förderung der Solarenergie steuern. Das ist eine völlig andere Philosophie, in den Strukturen der Energieeinsparung, also der Vermeidung von Kraftwerken zu denken als in den alten „Höher-Schneller-Weiter-Vorstellungen".
({9})
Das ist ökologisch und ökonomisch auf jeden Fall der sinnvollere Weg, der auch in der Bundesrepublik möglich ist; man muß es allerdings wollen.
Wenn man es allerdings - so wie dies meist bei Ihnen diskutiert wird - bei der Alternative „Kohle oder Kernenergie" beläßt, wird man natürlich zu keinem Ergebnis und Konsens kommen. Wir kämpfen nämlich an völlig falschen Fronten. Wir müssen statt dessen dafür sorgen, Strukturen zu schaffen, unter denen wir möglichst optimal die Energieeinsparpotentiale, die in der Bundesrepublik bei fast 50 % liegen, mobilisieren und umsetzen können und damit neue Arbeitsplätze schaffen und auch die Märkte der Zukunft öffnen können. Die Märkte der Zukunft werden nicht ineffiziente Großkraftwerke sein, sondern es werden intelligente, angepaßte, effiziente Systeme sein.
({10})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das auch noch an einem zweiten Beispiel deutlich machen. Wir werden die Klimaprobleme, die vielleicht größte Menschheitsherausforderung, nur lösen können, wenn wir uns von den alten Denkkategorien lösen. Alle weltweiten Szenarien, auch die, die auf eine ungeheure Erweiterung der Atomenergiekapazitäten setzen, kommen nicht zu der für das Klima notwendigen Reduktion der Kohlendioxidemissionen, Grund: Sie bleiben ganz einfach in der Logik eines verschwenderischen Energiesystems.
({11})
Die weltweiten Klimaprobleme sind nur zu lösen, wenn wir auch intellektuell begreifen: Wir müssen weg von einer Politik, die immer nur über einen Energiemix diskutiert, bei der es also nur um die Frage geht, welche Energieträger angeboten werden, und hin zu einer Politik, die fragt: Wie kann der Einsatz von Energie unter dem Gesichtspunkt der Restenergie gesehen, also stetig minimiert werden?
({12})
Das ist auch für die Entwicklungspolitik und die Industriepolitik der beste Ansatz. Es gibt nirgendwo ein so günstiges Verhältnis zwischen Kapitaleinsatz und Arbeitsplatzeffekten wie bei Energieeinsparinvestitionen. Nirgendwo sind die Beschäftigungsimpulse so hoch wie hier. Dafür müssen allerdings die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Es wird nicht reichen, alles so zu lassen wie bisher und nur ein bißchen mehr von Energieeinsparung zu reden. Wir stehen in den nächsten Jahren vor großen Herausforderungen. Wir werden vor dem Hintergrund, vor allem der globalen Gefahren konstruktiv mitarbeiten. Aber wir werden klar sagen, was wir wollen.
Michael Müller ({13})
Vielen Dank.
({14})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen zunächst eine Information geben. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich darauf geeinigt, daß wir diesen gesamten Themenbereich, der die Landwirtschaft einschließt, zu Ende debattieren. Das bedeutet, daß wir zu der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schätzungsweise gegen 14.15 Uhr, 14.20 Uhr kommen werden. Ich sage das auch für die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte im Moment nur an den Lautsprechern in ihren Büros folgen können.
Ich erteile als nächster der Kollegin Michaele Hustedt das Wort.
({0})
- Verzeihung. Man darf sich auch einmal irren. Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Art. 20a des Grundgesetzes ist am Ende der vergangenen Legislaturperiode der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel aufgenommen worden - ein großer Fortschritt, der überparteilich erzielt wurde - ({0})
- Meine Damen und Herren, niemand wird bestreiten, daß Grundgesetzänderungen nur überparteilich und selbstverständlich niemals gegen die CDU/CSU durchgeführt werden können. Trotz Bedenken ist uns das gelungen, und ich halte das für einen ganz wichtigen Schritt.
Meine Damen und Herren, dieses Staatsziel muß jetzt durch Gesetze, Verordnungen sowie politisches und gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden.
Ich kann für die Bundesregierung sagen: Wir werden das Prinzip der umweltgerechten und nachhaltigen Entwicklung Schritt für Schritt und mit den Menschen, Frau Fuchs, so, wie wir es gefordert haben, zum Maßstab unseres Handelns machen.
Die vergangenen Tage allerdings haben mir gezeigt: Umweltpolitik darf dem Streit nicht aus dem Wege gehen, aber Umweltpolitik wird aus meiner Sicht nur dann erfolgreich sein, wenn sie nicht Konfrontation um jeden Preis sucht.
Lieber Herr Müller, Sie haben hier scheinheiligerweise so getan, als hätten Sie mir eine Chance geben wollen. Sie haben noch vor meiner Ernennung zum Bundesminister bereits erklärt, daß dies ein falscher
Schritt war. Seien Sie ehrlich, Sie wollten mir keine Chance geben. Ich werde sie mir selber geben. Tun Sie nicht so, als hätten Sie es bei einer anderen Entscheidung in der Frage des Castor-Transports getan.
({1})
Meine Damen und Herren, Umwelt und Technik, Naturschutz und Nutzung der Ressourcen, Umwelt und Wettbewerb - dies alles sind für mich verschiedene Seiten je einer Medaille und sich nicht ausschließende Bereiche. Umweltpolitik zeigt doch mehr als andere Bereiche der Politik, daß nationale Anstrengungen allein nicht weiterhelfen.
Die globale Verantwortung muß Ausgangspunkt unseres politischen Denkens und Handelns sein, und die Bundesregierung hat dies durch die Konferenzen von Rio und des GATT - ich möchte diese nur als Beispiel nennen - in beispielhafter Weise gezeigt. Insbesondere Klaus Töpfer als mein Vorgänger war hier Motor einer internationalen Entwicklung.
({2})
Frau Fuchs, ich wundere mich schon, wenn Sie und Herr Müller hier immer wieder sagen, daß wir die Menschen gemeinsam zu neuen Wegen bringen müssen, auf der anderen Seite Sie aber nichts weiter zu tun haben, als Fortschritte auf einem richtigen Weg zu diskreditieren und in Abrede zu stellen, obwohl Sie nicht einmal daran mitgearbeitet haben. Das finde ich abenteuerlich. Ich kann nur sagen, daß das auch von einer gewissen Arroganz zeugt; denn die letzte Konferenz zum Artenschutz in Fort Lauderdale hat uns wieder einmal gezeigt, was wir immer wieder erleben: Nicht wir sind diejenigen, die alles besser wissen, sondern wir müssen mit den anderen Völkern gemeinsam Wege zum Nutzen unserer Umwelt gehen und ihnen nicht etwas vorbestimmen, so wie sich das bei Ihnen heute angehört hat.
({3})
Was heißt, Verantwortung für unsere Umwelt wahrnehmen? Richtig ist, wenn es als erstes heißt: sparsamer Verbrauch der Ressourcen.
({4})
- Lassen Sie mich erst einmal ausreden, Herr Fischer.
Die Bundesregierung bekennt sich dazu auch im Koalitionspapier: Wärmeschutzvorschriften, die Entwicklung eines Fünfliterautos, konkret einer Autoflotte, die im Durchschnitt aller neuen Autos fünf Liter verbraucht. Auch das ist heute wieder in abenteuerlicher Weise falsch interpretiert worden. Es geht um neue technische Effizienz, um neue und bessere Wirkungsgrade in allen technischen Bereichen. Das ist Sparsamkeit in bezug auf Ressourcen, und dieser Aufgabe werden wir uns stellen.
Wer aber den Menschen weismachen will, allein durch Sparen sei es möglich, eine ökologisch sinnvolle Politik zu betreiben, der lügt. Ich meine, es ist ganz
unabweisbar und wichtig, daß wir zu Energiekonsensgesprächen kommen und uns nicht gegenseitig bezichtigen und beschuldigen.
An dieser Stelle lassen Sie mich nach den Erlebnissen der letzten Tage folgendes bemerken.
Frau Bundesministerin, darf ich Sie für eine Minute unterbrechen.
Wenn es die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon für richtig halten, hier in Maskerade zu erscheinen, was in diesem Haus nicht üblich ist - Sie können sich ja bei dem Kollegen Fischer erkundigen, ob er es zum stellvertretenden hessischen Ministerpräsidenten mit Hilfe solcher Kinkerlitzchen oder mit anderen Mitteln gebracht hat -,
({0})
wenn Sie sich also schon so verkleiden und das für gut oder interessant oder was auch immer halten, dann müssen Sie sehen, daß die Rückseite auf irgendeine Weise ins Fernsehen kommt, aber nicht dadurch, daß Sie dem Redner den falschen Körperteil zukehren. Sonst ist nicht klar, womit Sie zuhören.
({1})
Bitte fahren Sie fort.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich fortfahren.
Wenn es um den Energiekonsens und die Gespräche dazu geht, bitte ich auch hier um eine redliche Argumentation. Sie als Sozialdemokraten haben zu einem bestimmten Zeitpunkt den Energiekonsens aufgekündigt. Sie drücken sich heute vor den Fragen der Entsorgung bei den Kernkraftwerken. Sie argumentieren unredlich, wenn Sie die kerntechnischen Risiken in der Bundesrepublik Deutschland in den Mittelpunkt stellen. Warum eigentlich fordern Sie und die GRÜNEN die Demonstranten in Gorleben nicht auf, einmal mit uns gemeinsam etwas dafür zu tun, daß die Kernkraftwerke in Rußland und Mitteleuropa sicherer werden? Dort liegen die Gefahren.
({0})
Ich bitte Sie, da Initiativen zu ergreifen. Dann diskutieren wir über die eigentlichen Dinge.
Zweitens. Bei den Energiekonsensgesprächen, die wir hoffentlich wieder aufnehmen werden,
({1})
bitte ich Sie auch darum, daß Sie mit den Menschen nicht nur über die Risiken von Kernkraftwerken, die natürlich verantwortungsvoll diskutiert werden müssen, sondern auch über den CO2-Ausstoß bei der Energiegewinnung aus Kohle sprechen, da auch hier sehr wohl Gefahren liegen.
({2})
Frau Fuchs hat uns geziehen, wir würden die CO2Belastung nicht senken wollen, was der Realität überhaupt nicht entspricht. Tun Sie nicht so, als bestünden Gefahren nur in einer Richtung.
Frau Bundesministerin, es gibt hier, soweit ich es erkennen kann, vier Zwischenfragebegehren.
Herr Präsident, die Vertreterinnen und Vertreter der Oppositionsfraktionen haben sich in den vergangenen Tagen häufig beschwert, sie hätten bisher keine Beiträge von mir gehört. Sie sollen hierzu heute die Chance bekommen. Dann haben wir noch vier Jahre Zeit, miteinander zu diskutieren.
({0})
Meine Damen und Herren, das Ordnungsrecht wird auch weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Umweltpolitik sein. Die, die das Umweltrecht mit dem Preußischen Landrecht verbinden, haben noch Chancen, auch auf anderem Weg voranzukommen. Aber Ordnungsrecht wird wichtig sein. Das Bodenschutzgesetz muß erarbeitet werden; das Naturschutzrecht muß fortentwickelt werden.
Aber: Ich glaube, wir sind uns einig, daß die eigentliche Weiterentwicklung darin bestehen muß, daß wir die Soziale Marktwirtschaft um eine ökologische Komponente erweitern.
(
Sehr gut!)
Diesen Weg sind die CDU/CSU und die Koalition in der vergangenen Legislaturperiode Schritt für Schritt gegangen. Nur so - das ist meine tiefe Überzeugung; ich bin in der Planwirtschaft aufgewachsen - werden wir den eigentlichen Umbau unserer Gesellschaft gestalten und schaffen. Er wird zu Deregulierungen führen, das ist richtig. Aber er wird vor allen Dingen auch zu mehr Eigenverantwortung und Selbstkontrolle führen. So wie wir im sozialen Bereich gute Erfahrungen damit gemacht haben, werden wir es auch im ökologischen Bereich tun. Das heißt: Wir werden Umweltaspekte verstärkt in das Steuerrecht einbringen; wir werden erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten haben; wir werden Subventionen abbauen, die heute dem Umweltschutz entgegenstehen; wir werden mehr private Initiativen haben, so wie das schon heute bei 40 Kläranlagen an der Elbe realisiert wird.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode - deshalb, Herr Müller, verstehe ich die Bemerkung zum Preußischen Landrecht überhaupt nicht (
Der weiß doch gar nicht, was das ist!)
mit der Verpackungsverordnung und dem Kreislaufwirtschaftsgesetz wesentliche Schritte in Richtung einer vollkommen neuen Entwicklung in der Umweltpolitik getan.
({0})
Sie wissen es, aber Sie sagen es nicht - und das macht uns die Sache so schwer, wenn wir mit den Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland diskutieren. Ich fordere Sie auf, im Sinne Ihrer Verantwortung diese Dinge so zu benennen, wie sie sind.
({1})
Eigenverantwortung in der Ökologischen und Sozialen Marktwirtschaft wird auch ermöglichen, daß Selbstverpflichtungen der Wirtschaft bei gleichen Anforderungen in der Sache - das unterstreiche ich - Vorrang haben. Wir werden diesen Weg weitergehen - in den Bereichen Altautos, Elektronikschrott, Batterien -, wenn es um die Verordnungen im Zusammenhang mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz geht.
({2})
Meine Damen und Herren, es geht auch um ein modernes Verständnis von Naturschutz. In diesen Tagen beginnt die erste Konferenz der Vertragsstaaten der in Rio gezeichneten Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt. Neben dem Erhalt und Schutz der Artenvielfalt sind hier zum erstenmal auch die nachhaltige Nutzung eben dieser Artenvielfalt und die gerechte Verteilung der daraus gewonnenen Erträge zur Diskussion gestellt worden.
Ich denke, wenn wir auf diesem Wege eines modernen Naturschutzverständnisses vorangehen, muß es auch möglich sein, das Naturschutzrecht bei uns im Lande zu verbessern. Dann werden wir auch die Möglichkeit eröffnen, für Landwirtschaft und Naturschutz Wege zu finden, die der gesamten Ökologie helfen.
({3})
Meine Damen und Herren, eine ökologische Komponente in der Marktwirtschaft - Ökologische und Soziale Marktwirtschaft - bedeutet nicht nur eine Verbesserung des Lebensstandorts Bundesrepublik Deutschland, sondern eben auch eine Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Wir haben es in der Bundesrepublik Deutschland in Bereichen der Umwelttechnik schon heute zu einem Weltmarktanteil von 21 % gebracht.
({4})
Aber niemand darf denken, daß wir uns hier auf dem Erreichten ausruhen können und dürfen. Japan und die USA haben gemeinsam zu einer Umwelttechnologieoffensive aufgerufen, um bis zum Jahr 2000 Deutschlands Spitzenstellung in der Welt zu brechen. Wir dürfen nicht nachlassen, unseren Spitzenplatz zu behaupten, um langfristige und dauerhafte Arbeitsplätze im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in unserem Lande zu haben.
Wir haben in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren vielleicht die besten Projekte gehabt,
in denen die Ökologische und Soziale Marktwirtschaft unter Beweis gestellt wird.
({5})
Ich freue mich ganz besonders darüber, weil es hier gelungen ist, die gesamte Bundesrepublik moderner zu machen, und das in einem Gebiet, in dem verheerende Schäden an der Umwelt angerichtet wurden. Ich glaube, diesen Weg müssen wir in ganz Deutschland konsequent weiter beschreiten. Dann wird nämlich die deutsche Einheit nicht nur eine Last sein, wie man es manchmal heute hört, sondern sie wird etwas sein, was uns allen in Ost und West Fortschritt bringt und was uns gemeinsam voranbringt.
({6})
Umweltpolitik wird auch in den nächsten Jahren im Widerstreit mit kurzfristigen Interessen einer vermeintlich schnelleren Entwicklung liegen. Deshalb werden die vereinten Anstrengungen aller Politiker benötigt, die sich dem Umweltschutz verpflichtet fühlen. Ich lade Sie ein, kritische, aber konstruktive und kreative Umweltpolitik zum selbstverständlichen Bestandteil unseres Handelns zu machen. Ich freue mich meinerseits auf die zukünftige Zusammenarbeit. Ich denke, Sie werden die Freude langsam mit mir teilen.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Abgeordnete Michaele Hustedt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Frau Merkel komme ich später. Ich möchte mit Herrn Bundeskanzler Kohl anfangen.
({0})
Wie seltsam bescheiden sind Sie auf einmal in Ihren umweltpolitischen Äußerungen in der Regierungserklärung geworden. Früher hörte sich das völlig anders an. Ich zitiere aus Ihrer Rede auf dem Erdgipfel in Rio:
Deutschland hat als erstes großes Industrieland für das Jahr 2005 das Ziel einer Reduzierung der CO2-Emissionen um 25 bis 30 Prozent beschlossen. Wir sehen dies als Signal für ein gemeinsames Vorgehen aller Industriestaaten. Ich lade zur ersten Folgekonferenz der Klimaschutzkonvention nach Deutschland ein.
Ich frage Sie: Wo ist der nationale Maßnahmenkatalog zur Durchsetzung dieses Zieles?
({1})
Wo war Ihr Handeln in Genf? Was haben Sie mit der EU-Präsidentschaft durchgesetzt?
Von den starken Worten, mit denen Sie die Welt nach Berlin eingeladen haben, ist nichts, aber auch gar nichts übriggeblieben.
({2})
Mit der Koalitionsvereinbarung und der Regierungserklärung verabschiedet sich die Bundesregierung nun endgültig von der Aufgabe, den Treibhauseffekt zu begrenzen. Es fehlt das Reduktionsziel. Es fehlen konkrete Initiativen für die Klimakonferenz in Berlin. Es fehlt das Ziel, Energie zu reduzieren. Es fehlt die Entschlossenheit, die Sonnenenergie zu fördern. Und Herr Rexrodt blockiert gegen die Beschlüsse seiner eigenen Partei die ökologische Steuerreform.
({3})
Das ist überhaupt kein Zufall, sondern hat Methode. Inzwischen ist deswegen der anfängliche internationale Enthusiasmus über die Vorreiterrolle durch Ernüchterung abgelöst. Die Angeberei ohne Konsequenzen demontiert die Dynamik des internationalen Klimaschutzprozesses aufs schwerste. Nebenbei wird damit noch eine neue Facette in das negative Bild von den Deutschen eingefügt. Wenn die Klimakonferenz in Berlin keinen Erfolg zeitigt, tragen Sie mit Schuld, Herr Bundeskanzler.
({4})
Ich möchte daran erinnern: Beim Klimaschutz geht es mindestens um den Erhalt der zivilen Gesellschaft. Wir haben nur diesen einen Planeten. Wir - das sage ich auch als Mutter einer kleinen Tochter - haben diese Erde von unseren Kindern nur geborgt. Wir werden uns dafür einsetzen, daß sich dieser Bundestag damit auseinandersetzt. Wir werden uns dafür einsetzen, daß Deutschland den Entschließungsantrag der Inselstaaten unterschreibt und sich damit auch vor den Augen der Welt verbindlich auf das Ziel der Reduktion der Treibhausgase festlegt.
({5})
Auch ich weiß: In den Regierungsfraktionen gibt es Mitglieder, die den Klimaschutz sehr ernst nehmen. Doch sie sind in der Minderheit. Ich appelliere an Ihr Gewissen, fraktionsübergreifenden Anträgen z. B. zur Förderung der Sonnenenergie zuzustimmen. Für Deutschlands Rolle in der Welt ist nicht zuallererst der UN-Weltsicherheitsrat entscheidend, sondern der Nachfolgeprozeß von Rio, u. a. die Berliner Konferenz zum Klimaschutz. Nicht Militär ist entscheidend, sondern die ökologische Innovation.
({6})
Im Umweltschutz bedeutet Stillstand Rückschritt: Der Wald stirbt weiter, das Ozonloch wird größer, die Allergien nehmen weiter zu. Deshalb ist das, was die Bundesregierung betreibt, eine ökologische Gegenreformation.
({7})
Frau Merkel, Sie wollen das Naturschutzgesetz schon seit acht Jahren novellieren, tun es aber nicht.
({8})
- Eine gute Frage! In der Abfallpolitik ziehen Sie sich auf den Vorwand der Selbstverpflichtung der Wirtschaft zurück, anstatt die Produktverantwortung konsequent durchzusetzen. Im Verkehrsbereich fällt Ihnen nur die Senkung des durchschnittlichen Benzinverbrauchs ein. Gleichzeitig planen Sie das größte Straßenbauprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland!
({9})
Sie setzen nur auf Risikotechnologien wie Gentechnologie und Atomkraft. Und Ihr Hauptpunkt auf der Tagesordnung Umweltpolitik in den Koalitionsvereinbarungen ist die Deregulierung der Genehmigungsverfahren. Auch wir sind nicht dafür, daß Bürokraten die Akten unnötig lange hin- und herschieben. Aber Deregulierung bedeutet bei Ihnen bisher lediglich den Abbau von Beteiligungsrechten von Bürgerinnen und Bürgern. Das machen wir nicht mit.
({10})
Meine Damen und Herren, an dem Credo der Bundesregierung für die Atomenergie sind die Energiekonsensgespräche gescheitert. Töpfer ist als Musterknabe der Atomlobby aufgetreten und damit weit über das Ziel eines Musterschülers der gesamten Energieindustrie hinausgeschossen. Auch die Bretter, die man vor dem Kopf hat, können eben die Welt bedeuten.
({11})
Frau Merkel, Herr Kohl, nun ist es wieder soweit: Sie müssen Ihre Pro-Atompolitik mit Gewalt gegen die Bürger und Bürgerinnen durchsetzen. Vorläufig konnten Sie noch durch die Gerichte gestoppt werden. Aber ich warne Sie: Wer Wind sät, wird auch wieder Widerstand ernten.
({12})
Die Mehrheit der Bevölkerung fühlt sich auch vor den deutschen AKWs nicht sicher, und die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen die Atomkraft. Ein Konsens ohne Atomausstieg ist deshalb kein Konsens.
({13})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind die drittstärkste Kraft. Ohne uns gibt es keinen Konsens, der belastbar und tragfähig ist. Das sage ich auch ganz deutlich in Richtung der SPD und von Herrn Schröder:
({14})
Ein Konsens ohne Atomausstieg und ohne Einstieg in eine Energiewende ist mit uns, mit den Umweltverbänden und sicherlich auch mit den Gewerkschaften nicht zu haben.
({15})
Wenn Sie - wie Sie das in Ihren Koalitionsvereinbarungen aufgeschrieben und hier auch einmal
benannt haben - wirklich Konsensgespräche wollen, fordere ich Sie auf, als ersten Schritt sofort die Bundesweisung für die Einlagerung von Atommüll in das Zwischenlager von Gorleben zurückzuziehen.
({16})
Das ist eine überflüssige politische Provokation. Die Lager in Philippsburg sind nicht voll. Sie wollen das ungelöste Problem der Endlagerung radioaktiver Abfälle durch die Hintertür lösen. Ich fordere alle Mitglieder der die Bundesregierung tragenden Fraktionen auf, dem gemeinsamen Antrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuzustimmen. Geben Sie Ihre Blockadepolitik in der Energiepolitik endlich auf!
({17})
Frau Merkel, jetzt komme ich zu Ihnen.
({18})
Sie werden in Ihrem neuen Amt sehr viele Daten und Fakten auf den Tisch bekommen, die schnelles und entscheidendes Handeln dringend anraten.
Wir brauchen eine Abfallpolitik, die endlich die Vermeidung zur Priorität macht und die mit einer anderen Produktpolitik an den Ursachen ansetzt. Wir brauchen eine Wende in der Energiepolitik, die den Atomausstieg mit einer Effizienzrevolution und der Förderung der Sonnen- und Windenergie verknüpft. Wir brauchen eine Wende in der Verkehrspolitik, die auf Busse und Bahnen und die Veränderung der Siedlungsstrukturen setzt und eine Mobilität ohne Auto ermöglicht. Wir brauchen eine ökologische Steuerreform, auch im nationalen Alleingang, damit finanzielle Anreize zur Vermeidung von Umweltschäden entstehen.
({19})
Frau Merkel, als Ministerin aus Ostdeutschland erwarten wir von Ihnen zumindest, daß Sie sich dafür einsetzen, daß die fünf neuen Bundesländer nicht die Müllkippe dieser Nation werden.
({20})
Es kann einfach nicht angehen, daß wir in West- und Ostdeutschland zweierlei Umweltstandards und zweierlei Bergrecht haben.
({21})
Auch wenn die DDR ein Umweltsünder ohnegleichen war, deutsche Einheit verwirklichen heißt auch: gleiches Recht auf eine intakte Umwelt. Aufbau Ost heißt vor allem: die Chancen nutzen, um eine ökonomische Entwicklung auf der Basis umweltverträglicher Strukturen zum Erfolgskonzept zu machen und Ostdeutschland als Vorbild für die Ökonomie der Zukunft zu entwickeln.
Wenn Sie Ihr Amt wirklich ernstnehmen sollten, Frau Merkel, können Sie nicht mehr die Lieblingsministerin des Herrn Kohl bleiben.
({22})
Sie müßten sich mit Herrn Wissmann, Herrn Rexrodt und letztlich auch mit Herrn Kohl öffentlich anlegen. Die Alternative ist, daß Sie sich endgültig zur pflegeleichten Alibiministerin machen lassen.
Wenn Sie nicht aufpassen, Frau Merkel, wird es Ihnen dabei wie Herrn Töpfer ergehen: vom anerkannten Minister zum Ankündigungsminister. Statt im Rhein zu schwimmen, badet er jetzt im SchürmannBau.
({23})
Hoffentlich, Frau Merkel, gehen Sie nicht unter. Ihnen und uns steht beim Umweltschutz das Wasser bis zum Hals. Frau Merkel, ich wünsche Ihnen Rückgrat. Sie werden es bitter brauchen.
({24})
Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wundere mich schon darüber, was heute morgen hier und da über die Koalitionsvereinbarung im Umweltbereich gesagt wurde, auch von Ihnen, Frau Fuchs. Sie sagten, darin stehe: Wir nehmen Umweltschäden in Kauf. Das steht da nirgends. Wenn Sie die Vereinbarung richtig lesen, werden Sie feststellen, daß diese Koalitionsvereinbarung ein Durchbruch für die ökologische Marktwirtschaft ist.
({0})
- Hören Sie erst einmal zu!
({1})
- Zu Ihnen komme ich noch, Herr Fischer. Warten Sie erst einmal ab.
({2})
Unser Konzept der ökologischen Marktwirtschaft nutzt nämlich die Kräfte des Marktes durch ehrliche Preise für den Umweltverbrauch. Sie setzt auch auf die Eigenverantwortung der Wirtschaft für umweltgerechtes Verhalten und auf besseren und kosteneffizienteren Umweltschutz durch mehr Wettbewerb.
Wir wollen, daß die Instrumente der ökologischen Marktwirtschaft in ihrer ganzen Vielfalt eingesetzt werden. Deshalb hat die F.D.P. durchgesetzt, daß in dieser Legislaturperiode durch praxisbezogene Pilotprojekte weitere marktwirtschaftliche Instrumente erprobt werden.
({3})
Die F.D.P. wird dazu bald konkrete Vorschläge machen. Auch die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" arbeitet in diese Richtung. Sie werden schon noch merken, daß wir Liberale dafür sorgen werden, daß Entwicklung und Einsatz
marktwirtschaftlicher Instrumente zu einem zentralen Thema dieser Legislaturperiode werden.
({4})
Wir verfolgen weiter mit Nachdruck das Ziel einer europäischen CO2-/Energie-Steuer, die allerdings aufkommensneutral sein muß. Wir wollen die Unternehmen an anderer Stelle steuerlich entlasten.
Wenn aber SPD und GRÜNE davon reden, dann meinen sie eine Steuererhöhung zur Finanzierung staatlicher Subventionen ohne Ausgleich an anderer Stelle. Das ist etwas anderes. Das ist mit uns nicht zu machen.
({5})
Wir wollen die Abgabenquote senken und nicht erhöhen. Wir wollen Ökonomie und Ökologie in Einklang bringen. Die Diskussion über die CO2-/ Energie-Steuer und deren Ausgestaltung zeigt meines Erachtens klar, wie Sie von der SPD den Wirtschaftsstandort Deutschland verunsichern und kaputtmachen.
Das gilt auch für Ministerpräsident Schröder, der hier heute morgen eine Abwrackprämie neu auslobte. Das ist nichts anderes als ein kurzfristiges Anheizen einer Kaufwelle, aber kein Instrument der Wirtschaftspolitik.
({6})
Über die umweltpolitischen Auswirkungen des Abfallberges durch eine Abwrackprämie denkt er erst gar nicht nach. Aber, meine Damen und Herren, das wundert niemanden bei einem Ministerpräsidenten, der nein sagt zum Transrapid, weil dieser in Hessen produziert wird, aber ja sagt zu U-Booten, die in Niedersachsen produziert werden.
({7})
Da gibt es kein Konzept. Die Maxime heißt: Regieren nach Gutsherrenart und Beliebigkeit. Außerdem redet Herr Schröder in Platitüden über den Ausstieg aus der Kernenergie, obwohl der Vorgänger von Herrn Scharping im Amt des Parteivorsitzenden der SPD dort gerade eingestiegen ist.
Wir werden als weitere bedeutende Maßnahme die Produktverantwortung für Hersteller im Bereich Altautos, Elektronikschrott und Batterien verwirklichen. Während Herr Fischer vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Hessen Modellprojekte für Recycling ankündigte und kein einziges umsetzte, treiben wir das Thema voran.
({8})
Dazu haben wir in der letzten Legislaturperiode trotz Ihres Widerstands mit dem Kreislaufwirtschaftsgesetz die Grundlage geschaffen.
Wenn Herr Müller hier sagt: „Wir von der SPD werden klar sagen, was wir wollen", dann kann ich darauf nur antworten: Hätten Sie doch heute klar gesagt, was Sie wollen, dann hätte jeder gewußt, was
er zu erwarten hat, nämlich Stoffflußwirtschaft, Gängelung, mehr Staat, mehr Bürokratie und damit auch mehr Monopole. Das ist Ihre Art der Umweltpolitik.
({9})
Ich weiß, daß Ihnen das zu wenig ist. Aber, Frau Hustedt, wenn Sie den ehemaligen Umweltminister Töpfer hier als Ankündigungsminister angreifen, dann schauen wir uns doch bitte erst einmal an, was Ihr Herr Fischer von den GRÜNEN in Hessen gemacht hat.
(
Gar nichts!)
1991 wollten Sie den Abfallentsorgungsplan Hessen ändern. Nachdem die Bundesregierung im Juni 1993 die Grundlagen mit der TA Siedlungsabfall gelegt hatte, haben Sie Ende des Jahres unter Mißachtung der gesetzlichen Vorgaben einen Teilplan I vorgelegt. Der Main-Kinzig-Kreis sowie die Landkreise Gießen, Wetterau und Marburg können ein Lied von Ihrer Umweltpolitik in Hessen singen. In diesem Teilplan I zur Abfallentsorgung sagen Sie zwar, daß die Entsorgungskapazität in jenen Landkreisen zu Ende geht. Sie sagen diesen Landkreisen aber nicht, wie sie die Entsorgung bewerkstelligen sollen. Sie haben gleichzeitig ein Verbot des Hausmüllexports erlassen und die erste Klage des MainKinzig-Kreises gleich verloren.
Teilplan II zum Sondermüll, im August 1994 vorgelegt, ist ebenfalls kein schlüssiges Konzept. In der Drucksache 13/2536 des Hessischen Landtags ist von Ihnen zu lesen, daß außerhessische Entsorgungspfade für Engpässe nötig sind.
Das ist keine Umweltpolitik, Herr Fischer, das ist eine Verweigerungspolitik. Deswegen werden Sie mit Ihrem Konzept keinerlei Erfolg haben.
({0})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist um.
Herr Präsident, ich komme zum Ende.
Es gibt noch eine ganze Reihe von Punkten, die man hier ansprechen müßte. Aber wir werden ja noch viel Zeit haben, uns miteinander zu unterhalten.
Unser Regierungsprogramm kann sich sehen lassen, wenn auch nicht alles enthalten ist, was sich die F.D.P. gewünscht hat. Ich freue mich allerdings, daß wir mit dem Parlamentarischen Staatssekretär Hirche im Bundesumweltministerium jemanden haben, der tatkräftig an der Realisierung der ökologischen Marktwirtschaft mitarbeiten wird. Frau Kollegin Hustedt, ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden das gemeinsam und in guter Zusammenarbeit mit Bundeswirtschaftsminister Rexrodt tun.
Danke.
({0})
Herr Kollege Dr. Klaus Lippold, Sie haben das Wort.
Vizepräsident Hans Klein
An Ihre Adresse, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die namentliche Abstimmung wird ungefähr um 14.35 Uhr stattfinden.
Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist ein Auftakt nach Maß. Michael Müller als umweltpolitischer Sprecher der Opposition, der sonst im Soziologen-Kauderwelsch viel Unverständliches sagt, hat heute einmal einen klaren Satz gesagt - dafür bin ich ihm dankbar -: keine Schonzeit für Angela Merkel. Wenn Sie erwartet haben, daß ich darüber lamentiere und mich weinerlich verhalte, dann muß ich Sie enttäuschen. Erst hat euch der Töpfer verdroschen, und in ihrer Antrittsrede hat euch Angela Merkel gezeigt, daß sie euch verdrischt. Das ist genau das, was wir brauchen. Es gibt keine Schonzeit für diese lasche Opposition! Das muß das Thema sein: keine Schonzeit!
({0})
- Herr Fischer, ich verstehe ja, daß wir Sie getroffen haben.
({1})
Wenn ich sehe, daß Sie Ihren Kinderkram, den Sie 1983 gemacht haben, heute nicht mitmachen, dann sage ich, da sitzt einer in der ersten Reihe, der jetzt ein Jackett trägt. Die anderen haben diese Hemdchen an. Er hat gelernt oder will zeigen, als hätte er gelernt.
({2})
Die anderen haben es immer noch nicht gelernt. Über diese Kinderkrankheiten kommen wir weg. So einfach ist das.
({3})
Herr Kollege Lippold, eine Kollegin vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte gerne eine Frage stellen.
Sie wissen, daß ich es sonst immer zulasse, Herr Präsident, aber ich habe heute unendlich wenig Zeit, denn hier muß etwas rüberkommen. Das ist kein Kneifen.
Hier vorne saß heute ein Ministerpräsident, der etwas zur Kernkraft gesagt hat, der jetzt schon wieder abgereist ist, weil er die Diskussion nicht bis zum Ende durchsteht.
({0})
Der hat auch etwas zur Akzeptanz gesagt. Dann wollen wir doch einmal etwas zur Akzeptanz feststellen. An dem Ort, wo dieses Lager errichtet werden soll, hat die Union mit den Zweitstimmen mehr Stimmen
als GRÜNE und SPD, hat der Direktkandidat weitaus mehr Stimmen als SPD und andere. Ich füge hinzu: Eure herangekarrten Akklamateure stellen nicht die örtliche Bevölkerung dar. Das war schon in Biblis so.
({1})
Dann kommen hier die Angriffe gegen die Umweltpolitik. Ich habe nichts gegen die grüne Kollegin Hustedt, der der Herr Fischer hat aufschreiben lassen, was sie sagen soll. Sie ist noch nicht lange hier im Haus.
({2})
Deshalb setze ich mich damit nicht auseinander, weil wir ein bißchen fairer sind als Sie.
({3})
Das können wir uns nicht vorhalten lassen. Diejenigen, die anfangen, genießen unseren Schutz. Wir bleiben fair. Wir setzen uns mit denen auseinander, die als Scheinprofis in der ersten Reihe sitzen.
({4})
- Herr Fischer, setzen Sie doch nicht die hessische Debatte hier mit unzulänglichen Mitteln fort. So läuft dieses hier nicht.
({5})
Dazu muß dann auch einmal ein Satz gesagt werden.
({6})
Keiner von Ihnen ist darauf eingegangen, daß wir in der letzten Legislaturperiode trotz wirtschaftlich widriger Umstände das Kreislaufwirtschaftsgesetz, die Abfallvermeidung, das Umweltstatistikgesetz, das Umweltinformationsgesetz, das Chemikaliengesetz weitergebracht haben.
({7})
Sagen Sie das einmal Ihren Leuten, bevor sie hier antreten und nicht wissen, worüber sie reden.
({8})
Ich sage Ihnen, wir werden das, was unter Herrn Töpfer offensiv angegangen wurde, mit Angela Merkel genauso offensiv weiter vertreten. Das wird sein: eine aktive Politik für internationalen Umweltschutz. Wer hat denn den internationalen Umweltschutz, die globalen Konferenzen erst hoffähig gemacht? Das war Herr Töpfer. Angela Merkel wird in diese Spuren treten.
Wir hätten international überhaupt nicht dieses Bewußtsein, wenn dieser ehemalige Minister das
Dr. Klaus W. Lippold ({9})
nicht so vorangetrieben hätte und es heute noch als Chef der Sustainable commission tut.
({10})
Dort, wo Sie im Konkreten versagt haben, müssen wir natürlich sehen, daß wir das IMA-Programm fortsetzen werden, daß wir das, was wir angefangen haben, zu Ende bringen werden. Ich sage auch ganz deutlich - dabei können Sie uns unterstützen -, daß wir ein Energieeinsparprogramm für den Altbaubestand brauchen.
Wir können eine Fülle konkreter Punkte auch für die Zukunft nennen, bei denen ich Sie bitte, daß Sie dieses einmal konkret mit aufgreifen, uns begleiten, weil diese Probleme wirklich allgemeine Probleme sind. Hier geht es nicht um Parteipolitik, sondern wir müssen sehen, daß wir erstens deutsch, dann europäisch und dann im internationalen Bereich weiterkommen. Ich meine, das ist eine richtige Vorgehensweise.
Herr Fischer, Sie haben gesagt: Wir wollen das differenziert betrachten. Das habe ich heute morgen aber nicht erlebt. Sie haben es angekündigt. Lassen Sie uns in die differenzierte Einzeldiskussion eintreten. Ebenso, wie mein Fraktionsvorsitzender zu sagen pflegt, schließe ich mit dem Satz: Wir laden Sie dazu ein.
({11})
Herr Kollege Lippold, in diesem Hause ist in der Vergangenheit vielhundertfach von einem Kollegen über den anderen per Zuruf oder auch in der Rede erklärt worden: „Was man Ihnen aufgeschrieben hat ...", oder: „Was Ihnen Ihre Büchsenspanner aufgeschrieben haben ..." Das ist nichts Unübliches.
Ihr Vorwurf an die Kollegin Hustedt ist eine Formel, die hier x-mal gebraucht wurde. Gleichwohl würde ich sagen: Wenn eine Kollegin zum erstenmal spricht und dann ihre Rede doch wohl selber geschrieben hat,
({0})
trifft dieser Vorwurf ein bißchen schmerzhafter als bei einem Routinier im Hause. - Diese Bemerkung wollen Sie mir bitte erlauben.
({1})
Ich erteile dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Jochen Borchert, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, Sie haben ganz sicher nicht dabei geholfen. Es ist auch besser, wenn Sie sich auf den Verzehr von Nahrungsmitteln beschränken.
({0})
Meine Damen und Herren, Ziel der Agrarpolitik der Bundesregierung und der Koalition ist es, den Agrarstandort Deutschland für die Zukunft zu rüsten und zu sichern.
({1})
Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, der Weiterentwicklung der Strukturpolitik,
({2})
dem Ausbau der Agrarsozialpolitik und dem Abschluß der GATT-Verhandlungen sind wichtige Weichenstellungen bereits vorgenommen worden. - Wenn Sie ein bißchen lauter sprechen könnten, Herr Fischer, würde ich gern darauf antworten. Ich habe Sie nicht verstanden.
({3})
- Doch, Herr Kollege Fischer, für die Qualität und die Gesundheit der Nahrungsmittel. Insofern will ich das gern mit Ihnen vergleichen.
({4})
Auch beim Aufbau und bei der Umstrukturierung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern sind wir einen kräftigen Schritt weitergekommen.
({5})
Wir haben die Interessen der neuen Länder, Frau Kollegin Fuchs, erfolgreich vertreten, während die SPD-regierten neuen Bundesländer der Landwirtschaft einen Teil der Anpassungshilfe vorenthalten. Hier zeigt sich der Unterschied in der Interessenvertretung der Landwirtschaft.
Deshalb steht unsere agrarpolitische Arbeit der nächsten Jahre unter dem Motto: das Erreichte stabilisieren, verläßliche Rahmenbedingungen sichern und weitere Entwicklungsperspektiven eröffnen. Deutschland braucht eine wettbewerbsfähige, marktorientierte und umweltverträgliche Landwirtschaft, die hochwertige Nahrungsmittel und nachwachsende Rohstoffe erzeugt und die die natürlichen Lebensgrundlagen erhält und die Kulturlandschaft pflegt, die die wirtschaftliche und soziale Stabilität ländlicher
Räume sichert. Damit leistet die Landwirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung.
({6})
CDU/CSU und F.D.P. treten für die strukturelle Vielfalt in traditionell gewachsenen Familienbetrieben im Voll-, Zu- und Nebenerwerb, in Kooperationen und in anderen Betriebs- und Rechtsformen ein.
CDU/CSU und F.D.P. treten für die bewährte bäuerliche Produktionsweise ein, die sich an der Nachhaltigkeit der Erträge und an der Flächenbindung in der Tierhaltung orientiert.
({7})
- Wo er schlecht ist, Herr Kollege Fischer - ich kann verstehen, daß Sie da aus der hessischen Erfahrung sprechen -, ist dies ein „Erfolg" der hessischen rot-grünen Landesregierung.
({8})
In Hessen findet die Förderung fast nicht mehr statt, unterbleiben Investitionen in der Landwirtschaft wegen der Agrarpolitik der Landesregierung. Es wäre besser, Sie hätten sich in Hessen gründlich informiert, ehe Sie hier solche Zwischenrufe machen.
({9})
- Ich hoffe immer noch, daß er lernfähig ist. Das werden die nächsten vier Jahre zeigen.
Die Bundesregierung wird den eingeschlagenen Weg der europäischen Agrarpolitik zur Marktentlastung mit Ausgleichszahlungen konsequent fortsetzen. Wir werden dabei alles unternehmen, um die Agrarreform zu vereinfachen, um sie für Bäuerinnen und Bauern transparenter zu gestalten und um damit ihre Akzeptanz zu verbessern.
Wir wollen die Fortführung und die marktorientierte Ausgestaltung der Garantiemengenregelung Milch, d. h. wir wollen stabile und wieder steigende Erzeugerpreise durch eine Anpassung der Milchquoten. Wir werden aber auch ein langfristiges Verbot von Leistungsförderern wie BST durchsetzen.
Wir werden bei der Reform der Weinmarktordnung in Europa, bei der Überprüfung der europäischen Marktordnung für Zucker sowie für Obst und Gemüse die Interessen der deutschen Landwirte nachdrücklich vertreten. Um neue Märkte zu erschließen, werden wir die Erforschung und Markteinführung von wettbewerbsfähigen nachwachsenden Rohstoffen verstärken.
Agrarstandort sichern bedeutet für uns auch den Abbau von wettbewerbsverzerrenden Maßnahmen in Europa und in Deutschland. Deshalb werden wir weiter dafür kämpfen, daß die deutsche Landwirtschaft vor abrupten währungsbedingten Preissenkungen geschützt wird.
Zu all diesen Punkten findet man im sogenannten Regierungsprogramm der SPD kein Wort: kein konkretes Wort zur Notwendigkeit der Förderung nachwachsender Rohstoffe, kein Wort zum Außenschutz
({10})
- dann lesen Sie das doch noch einmal nach -, kein Wort zum Abbau von Wettbewerbsverzerrungen. Statt dessen hat die SPD gefordert, das Landwirtschaftsministerium auf der Bundesebene aufzulösen; die Landwirtschaftsministerien in den Ländern werden nach und nach abgeschafft. Das heißt: Die SPD hat sich aus der Agrarpolitik verabschiedet.
({11})
Wenn ich mir das ansehe, vermute ich, daß wir in diesem Bereich auch noch die Rolle der Opposition zu übernehmen haben.
({12})
Die Bundesregierung sieht in der Bewahrung von Natur und Umwelt sowie im Tierschutz eine besondere Verantwortung. Wir werden hierbei auch in Europa eine Vorreiterrolle übernehmen. Denken Sie etwa an unseren Kampf zum Schutz der Tiere beim Transport. Wir werden europaweit einen besseren Schutz durchsetzen.
Gleiches gilt auch für den Umweltschutz. Wir müssen und werden dafür eintreten, daß die Landwirtschaft ihre Aufgaben für Natur und Umwelt erfüllen kann. Die Landwirtschaft muß daher für besondere Anforderungen der Gesellschaft, für ökologische und landespflegerische Maßnahmen, die über die Vorgaben einer ordnungsgemäßen Bewirtschaftung hinausgehen, einen finanziellen Ausgleich erhalten, und zwar als Rechtsanspruch, den der einzelne auch gegenüber den SPD-Regierungen einklagen kann. Umweltleistungen müssen leistungsgerecht entlohnt werden.
({13})
Die Bundesregierung wird die Landwirtschaft darüber hinaus gezielt fördern, um die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu verbessern. Wir wollen die von Brüssel her jetzt mögliche Anhebung der Förderobergrenzen und die Förderung von Teilfusionen in der Milchtierhaltung schon 1995 umsetzen.
Für die einzelbetriebliche Investitionsförderung wird die Bundesregierung durch Umschichtungen in der Gemeinschaftsaufgabe insgesamt 100 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung stellen. Diese Mittel werden dann ausgezahlt, wenn die Länder über die Förderung 1994 hinaus zusätzliche Mittel einsetzen. Damit haben wir die Möglichkeit zu prüfen, ob die
Länder bereit sind, die Landwirtschaft stärker zu fördern und zu unterstützen.
Wir werden an Hand der Ergebnisse diskutieren, ob die SPD in den Ländern dieser Aufgabe nachkommt oder ob sie sich auch hier der Aufgabe verweigert, wie sie das beim soziostrukturellen Einkommensausgleich gemacht hat. Da haben Sie doch die Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer genutzt, um Haushaltslöcher zu finanzieren. Sie haben diese Mittel der Landwirtschaft vorenthalten.
({14})
Über die gezielte Strukturförderung hinaus wird die Bundesregierung den schwierigen Anpassungsprozeß der Landwirtschaft auch künftig sozial flankieren und durch steuerliche Maßnahmen erleichtern.
Herr Bundesminister, Kollege Sielaff würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Aber gern.
Bitte, Herr Kollege Sielaff.
Ich bitte um Nachsicht, Herr Landwirtschaftsminister, aber ich habe vom Präsidenten ein bißchen zögerlich das Wort erhalten.
Sie haben eben behauptet, daß Sie besondere Umweltauflagen für die Landwirtschaft besonders honorieren wollen. Ist es richtig, daß es eine Milchmädchenrechnung ist, wenn die Bundesregierung diese Kosten auf die Länder verteilen will?
Sie selbst haben auf eine entsprechende Frage von mir geantwortet:
Im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit sollen diese Ausgaben finanziell ausgeglichen werden.
Heißt das, daß jetzt die Bundesregierung diese Kosten trägt, oder wer soll sie tragen?
Herr Kollege Sielaff, Milchmädchenrechnung - Milchmädchen hätten eine bessere Rechnung aufgemacht als Sie. Aber ich will gern darauf antworten.
Ich habe gesagt, daß Umweltleistungen der Landwirtschaft, die über die ordnungsgemäße Bewirtschaftung hinausgehen, entschädigt werden müssen. Es muß selbstverständlich sein, daß derjenige entschädigungspflichtig ist, der solche Auflagen verhängt.
Wenn die Länder für Naturschutzgebiete und andere Bereiche weitergehende Auflagen beschließen, dann müssen sie diese natürlich auch finanzieren. Wenn wir von diesem Prinzip abgehen würden - ich kann verstehen, daß Sie das gerne möchten -, dann hätten wir in Kürze flächendeckend Auflagen, die die SPD-Landesregierungen beschließen, und der Bund müßte zahlen. So kann die Aufgabenverteilung sicher nicht sein.
({0})
Die Bundesregierung sieht - ich wiederhole das - in der Bewahrung von Natur und Umwelt sowie im Tierschutz eine besondere Verantwortung.
({1})
Es kommt auch der Möglichkeit einer Nutzungsänderung in der Landwirtschaft eine besondere Bedeutung zu. Sie kann zur Einkommensverbesserung vieler Betriebe und zur Erhöhung der Attraktivität des ländlichen Raumes insgesamt beitragen.
Neben den Aufgaben der Landwirtschaft wird einer unserer Schwerpunkte die Forstwirtschaft sein. Hier geht es vor allen Dingen um die Verbesserung der Situation beim Holzabsatz, um so der Forstwirtschaft zu helfen.
Zu nennen sind auch die notwendigen Maßnahmen in der Fischereipolitik.
Meine Damen und Herren, ich rufe alle auf, die Bundesregierung bei der Erfüllung der schwierigen agrarpolitischen Aufgaben zu unterstützen. Es geht um die Zukunft der deutschen Landwirtschaft in einer schwierigen Zeit. Wir müssen den Agrarstandort Deutschland sichern. Deutschland braucht eine starke Landwirtschaft, eine Landwirtschaft, die sich im europäischen Wettbewerb behaupten kann und die gleichzeitig Natur und Umwelt erhält.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerald Thalheim.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Borchert, die Erwiderung auf Ihre Rede fällt relativ leicht. Man muß dieser Rede der Ankündigungen und Versprechungen nur die Wirklichkeit entgegenhalten.
({0})
- Herr Kollege Hornung, Ihre Zwischenrufe sind bekannt. - Ich will das mit einem Zitat tun. In der bei Landwirten sehr beliebten Zeitschrift „top agrar" war im Novemberheft zu lesen:
Das größte Problem für uns und unsere Betriebe ist inzwischen das Politikrisiko. Wie soll man unter diesen Umständen noch eine halbwegs sichere Existenz in der Landwirtschaft aufbauen? Wo immer man mit jungen, zupackenden Hofnachfolgern über ihre Zukunft diskutiert, steht diese Frage im Mittelpunkt. Und die jungen Bauern haben recht.
Das Thema dieses Heftes lautete bezeichnenderweise: „Die unberechenbare Politik". Kollege Hornung, gemeint war mit dieser „unberechenbaren Politik" die Politik der alten und der neuen Bundesregierung.
({1})
Man kann es auch anders sagen, Herr Bundesminister: Ihre Politik ist gescheitert. Herr Bundeskanzler,
wenn man Ihrer Regierungserklärung und dem Koalitionspapier Glauben schenkt, soll diese Politik fortgesetzt werden. Auch dazu kann ich aus „top agrar" zitieren. Wortwörtlich ist dort zu lesen:
Borcherts Konzept „Der neue Weg" ist das, was es bisher ist, eine einladende Straße, die als Sackgasse endet.
Ich denke, dieses Zitat sagt alles, was die Landwirte denken.
({2})
In den Koalitionsvereinbarungen schreiben Sie jetzt:
Wir werden den eingeschlagenen Weg zur Marktentlastung und weiteren Einkommenssicherung fortsetzen.
Nur, wo geht dieser Weg hin? Er hat auf alle Fälle zu mehr Bürokratie geführt, ohne die entscheidenden Ziele zu erreichen.
Dazu drei Beispiele.
Das erste Ziel ist, die Einkommen zu sichern. Was geschieht? Der Preisverfall hält an mit der Folge, daß die Einkommen der Landwirte und ihrer Familien in katastrophaler Weise hinter denen der anderen Berufsgruppen zurückliegen.
Zweites Beispiel: Prämienzahlungen. In der Koalitionsvereinbarung ist zu lesen, daß diese sicher sind. Herr Bundesminister, wenn ich den jüngsten Informationen aus Brüssel Glauben schenken darf, dann beabsichtigt die Kommission, auch die Ausgleichszahlungen für die EG-Agrarreform vom Währungsausgleich auszunehmen. Das heißt, Änderungen der Parität über 5 % würden die Landwirte voll zu spüren bekommen. Ich möchte in diesem Haus die Forderung erheben, daß Sie sich dem entgegenstellen. Wir werden Sie dabei unterstützen.
({3})
Ich denke, Kollege Hornung, diese Forderung ist legitim und seriös. Nicht seriös ist es, wenn im Koalitionspapier steht, daß man Nachfolgeregelungen für den sogenannten Switch-Over finden will. Herr Bundesminister, Sie wissen - es ist in jeder einschlägigen Zeitschrift zu lesen -, daß der Switch-Over ausläuft und daß Sie, wenn Sie tatsächlich Nachfolgeregelungen treffen wollten, nationale Mittel einsetzen müßten. Sie müßten mir das Geheimnis lüften, wie Sie das in einem Haushalt mit erheblichen Finanzkürzungen tun wollen.
Drittes Beispiel: Flächenstillegungen. Wieviel nun wirklich stillgelegt werden muß, steht bis heute nicht fest. Die Herbstbestellung ist jedoch weitestgehend vollzogen. Herr Bundesminister, auch hier sind Sie den Landwirten eine Erklärung schuldig, wie man mit solchen Politikvorgaben seriös arbeiten kann.
({4})
Für die alte und die heute neu konzipierte Agrarpolitik kann nur das gelten, was in „top agrar" stand: „eine einladende Straße, die als Sackgasse endet".
({5})
Herr Kollege Egon Susset, Sie haben das Wort; es ist das letzte Wort zu diesem Themenbereich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon ein Armutszeugnis, Herr Kollege Dr. Thalheim, wenn Sie an Stelle eines Agrarprogramms der SPD, aus dem Sie jetzt hätten zitieren können, „top agrar" brauchen, um klarzumachen, was für die zukünftige Agrarpolitik wichtig ist. Das ist ein vollkommenes Armutszeugnis.
({0})
Wenn von einem Kollegen aus den neuen Ländern Probleme der Landwirtschaft angesprochen werden, dann hätte ich erwartet, Herr Kollege Dr. Thalheim, daß Sie das, was man von unbefangenen Mitbürgern in den neuen Ländern immer wieder erfahren kann, nämlich daß gerade die Land- und Ernährungswirtschaft der Wirtschaftszweig ist, der sich in der Zwischenzeit entsprechend entwickelt hat, in Ihrem Redebeitrag ansprechen. Dies ist geschehen a) durch die europäische Agrarpolitik, in die sie von Anfang an eingebunden war, und b) durch die Agrarpolitik der Bundesregierung. Ich glaube, das müssen wir hier klar sagen.
({1})
Die Koalitionsvereinbarung zum Agrarbereich ist eine gute Grundlage für die weitere Arbeit in einem sehr schwierigen Politikbereich. Wir wissen, daß die Landwirtschaft mit einer Vielzahl von Herausforderungen fertigwerden muß. Sie ist durch die neuen Weichenstellungen in der europäischen Agrarpolitik einem durchgreifenden Wandel ausgesetzt. Daher muß die Agrarpolitik den Landwirten durch geeignete Rahmenbedingungen helfen, den enormen strukturellen Anpassungsprozeß zu bewältigen.
Einen Moment, Kollege Susset! Eine Kollegin der Gruppe der PDS möchte eine Frage stellen.
Ich wollte Sie gerne fragen, ob Sie nicht meinen, daß der Aufschwung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern noch größer hätte sein können, wenn z. B. die Milchquoten in Brandenburg wenigstens den gleichen Umfang hätten wie in den alten Bundesländern und wenn der Großviehbesatz pro 1 000 Hektar in den neuen Ländern gegenüber den alten Ländern nicht extrem geschrumpft wäre, was völlig unverständlich ist.
Frau Kollegin Luft, jeder, der ein bißchen Ahnung von der Landwirtschaftspolitik in den neuen Ländern hat, weiß, daß die Milchquoten weder in Brandenburg noch sonst irgendwo ausgeschöpft werden.
({0})
Das heißt, es gibt dort genügend Möglichkeiten zur Produktion. - Dazu, meine Damen und Herren, bedarf es der Unterstützung durch politisches Handeln. Wir sind dankbar, daß in der Koalitionsvereinbarung die Bedeutung der Landwirtschaft deutlich zum Ausdruck gebracht wurde.
Wir sind auch dankbar, daß der Bundeskanzler und unser Bundeslandwirtschaftsminister durch ihre Arbeit in der Vergangenheit, aber auch durch das, was in den Koalitionsverhandlungen zum Ausdruck kommt, deutlich gemacht haben, daß für uns die Landwirtschaft kein Bereich ist, den man in der Hinterstube eines anderen Ministeriums macht. Man muß vielmehr klar und deutlich sagen: Hier geht es um einen Wirtschaftsbereich, der den strukturellen Anpassungsprozeß bewältigen muß.
({1})
- Also, ich würde sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren, es warten so viele Leute auf die Abstimmung, daß wir die Diskussion endweder im Ausschuß weiterführen oder bei der Agrardebatte, wenn nur 20 oder 30 Leute anwesend sind.
({2})
Dann können wir vielleicht zu den Dingen Stellung nehmen.
Im Mittelpunkt landwirtschaftlicher Tätigkeit wird auch weiterhin die standortgerechte Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel stehen. Wir wissen, daß die Produktion noch stärker an den Absatzmöglichkeiten orientiert werden muß. Aber hierzu bedarf es der politischen Hilfestellung. Wir wissen, daß 80 % der Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland lieber Waren nachfragen, von denen sie wissen, wo sie produziert und wie sie produziert wurden. Dann aber ist es Aufgabe der Politik, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Eines unserer großen Anliegen ist es, den verantwortungsbewußten Umgang mit Natur und Tieren zu stärken, Land- und Forstwirtschaft besser in Einklang mit dem Erhalt einer intakten Umwelt zu bringen.
({3})
Deshalb sind wir unserem Bundesminister Borchert dankbar, daß er in Brüssel, was die Fragen des Tiertransportes anbelangt, alles Menschenmögliche versucht hat. Ich weiß, auch der Kollege Wissmann hat sich als Verkehrsminister in der Sache entsprechend engagiert. Dadurch ist es gelungen, das, was heute in Europa noch nicht möglich ist, zumindest durch eine nationale Richtlinie in eine akzeptable Richtung zu bringen.
Landwirtschaftliche Tätigkeit ist natürlich eng mit dem ländlichen Raum insgesamt verbunden. Deshalb ist es wichtig, immer wieder klarzumachen, daß auch heute noch rund jeder siebte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Agrarbereich wirtschaftlich verbunden ist: mit der Landwirtschaft, mit der Forstwirtschaft, mit dem Weinbau und mit dem Gartenbau. Dies ist das Rückgrat des ländlichen Raumes.
Die Bürgerinnen und Bürger, die in diesen Wirtschaftsbereichen tätig sind, haben einen Anspruch auf entsprechende politische Unterstützung. Die Bürgerinnen und Bürger des ländlichen Raumes wissen, daß sie sich auf uns und die Bundesregierung verlassen können. Die Koalitionsfraktionen werden die Bundesregierung national, aber auch bei ihrem Bemühen in
Brüssel unterstützen. Ich hoffe natürlich, daß auch die SPD sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat angesichts ihrer dann und wann doch als landwirtschaftsfeindlich empfundenen Politik in nächster Zeit etwas umdenkt.
Ich bedanke mich.
({4})
Keine weiteren Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen.
Zur Umweltpolitik liegt auf Drucksache 13/41 ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vor. Die Entschließungsanträge der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 13/37 und 13/38 wurden zurückgezogen.
Wir kommen damit zur Abstimmung. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze an den Urnen einzunehmen.
Ich eröffne die Abstimmung. ({0})
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abgegeben? - Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht abgegeben? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird später bekanntgegeben.*)
Wir fahren mit der Aussprache fort. Ich darf Sie bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder Platz zu nehmen.
Ich rufe den Themenbereich Familie und Frauen auf.
Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Schmidt ({0}).
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß gar nicht, ob ich der neuen Bundesfrauenministerin wirklich ehrlichen Herzens zu ihrem Amt gratulieren soll.
(
Warum denn nicht?)
Schließlich bleibt nach der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers und nach den Koalitionsvereinbarungen zumindest für die Bundesfrauenministerin nicht viel zu tun. Ich habe dem entnommen, daß Deutschland fit gemacht werden soll für das Jahr 2000, aber offensichtlich soll dieses Jahr 2000 ohne die Frauen stattfinden.
({0})
Für mich hat Politik immer bedeutet, etwas gestalten zu können. Für mich ist Politik ein Ort der Innovation. Aber ich muß Ihnen ehrlich sagen, meine
*) Siehe Seite 221D
Ulla Schmidt ({1})
Damen und Herren von der Koalition: Bei allem, was bisher gesagt worden ist, habe ich von Innovationen sehr wenig verspürt; zumindest von Innovationen, die eine tatsächliche Veränderung der ungleichen Chancen in dieser Gesellschaft bewirken.
({2})
Ich meine die tatsächliche Veränderung der ungleichen Verteilung von Einfluß, von Macht, von Geld oder von traditionellen Arbeitsstrukturen, die bisher nur mit einem einzigen - völlig unwesentlichen - Fakt korreliert: der Geschlechtszugehörigkeit.
Wir wissen, daß die heutige Arbeitsteilung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit im Klartext heißt, daß ca. 60 % aller erwerbstätigen Frauen kein existenzsicherndes Einkommen haben. Wir wissen alle, daß mit dieser Tatsache zusammenhängt, daß Armut im Alter vor allen Dingen Frauen betrifft. In den alten Bundesländern leben über eine Million Frauen über 65 Jahre von weniger als 1 200 DM im Monat. Wenn man die Entwicklung in den neuen Bundesländern betrachtet, werden die Frauen der mittleren oder jungen Generation auch in diese Altersarmut hineingeraten, weil man ihnen verwehrt, existenzsichernde Arbeitsplätze einzunehmen und dort ihre Arbeit auszuüben.
({3})
Wenn man all die schönen Worte beiseite läßt, die in den Koalitionsvereinbarungen stehen und die gestern hier mit der Aufforderung „Gleiche Rechte und Chancen für Frauen und Männer" vorgetragen wurden, bleiben für die Frauen drei Dinge übrig, die ich hier gern aufzählen möchte.
Das erste sind Teilzeitarbeiterinnen, das zweite sind Dienstmädchen, und das dritte ist, daß sich die Frauen an Erwerbslosigkeit in dieser Gesellschaft gewöhnen müssen.
Dienstmädchen: Herr Bundeskanzler, es ist sicher richtig, daß wir über den Ausbau des Dienstleistungssektors private Haushalte diskutieren müssen. Ich bezweifle aber, daß sich die Masse der ungeschützten Arbeitsverhältnisse in den Privathaushalten durch steuerliche Abzugsmöglichkeiten reduzieren läßt.
({4})
Wenn man wirklich sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten schaffen möchte, dann muß man ein Gesetz zum Verbot der ungeschützten Arbeitsverhältnisse einführen.
({5})
Meine Damen und Herren von der Koalition, es ist nicht einmal ein halbes Jahr her, daß wir an dieser Stelle über dieses Problem diskutiert haben. Die SPD hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Eindämmung der ungeschützten Arbeitsverhältnisse vorsah und forderte, daß Arbeitsplätze in Privathaushalten versicherungspflichtig werden. Von Ihrer Seite ist mir entgegnet worden, ich wolle die Arbeitsplätze in
Privathaushalten zerstören, den Wettbewerb verzerren.
Aber wenn man den gegenwärtigen unbefriedigenden Zustand ändern möchte, muß man irgendwann sagen, was man will. Wir laden Sie ein, mit uns dafür zu kämpfen, ungeschützte Arbeitsverhältnisse zu beseitigen, sowohl in der Industrie als auch in privaten Haushalten. Auf diese Weise wird erreicht, daß Frauen einen Anspruch erhalten, der sie in die Lage versetzt, mit ihrer eigenen Arbeit ihre Existenz bis ins hohe Alter zu sichern.
({6})
Dann brauchen sie nicht die Erfahrung zu machen, daß ein Leben voller Arbeit offensichtlich keine Garantie dafür ist, daß man im Alter ohne Existenzsorgen leben kann.
Ich bin für den Ausbau des Dienstleistungssektors. Ich stimme Ihnen zu, daß gerade auch im Dienstleistungssektor Arbeitsplätze der Zukunft für Frauen liegen. Aber Dienstleistung ist mehr als nur Dienstmädchen. Wir brauchen eine Frauenförderung im Bereich der Forschung, der Lehre und der Bildung. Hier gibt es viele qualifizierte Frauen.
Wir sind der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß wir etwas unternehmen müssen, damit Frauen endlich vorwärtskommen. Wir müssen Gesetze schaffen.
({7})
Gehen Sie doch mit uns und lassen Sie uns gemeinsam Vorgaben für die Privatwirtschaft machen! Mehr als 70 % der Arbeitsplätze von Frauen sind dort. Dort sind aber auch die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze.
({8})
Gehen Sie mit uns den Weg, Frauenförderung über die öffentliche Auftragsvergabe zu initiieren! Gehen Sie mit uns den Weg, die Wirtschaftsförderung an frauenfördernde Maßnahmen zu knüpfen! Dies alles sind Möglichkeiten, um die Situation von Frauen in der Arbeitswelt zu verbessern.
({9})
Sie wissen selbst, daß der jetzt vielfach beschworene Aufschwung nicht automatisch Arbeitsplätze für Frauen schafft, sondern daß die Frauen da nach wie vor benachteiligt sind.
({10})
- Ja, wenn das nicht auf meine Zeit angerechnet wird.
Das wird nicht auf die Zeit angerechnet. Ich stoppe das jetzt sofort.
Frau Schoppe, bitte.
Frau Kollegin, ich habe mit Erstaunen und mit Freude
gehört, daß die SPD-Fraktion die Vergabe öffentlicher Aufträge an Frauenförderung knüpfen will. Ich möchte Ihnen aber dazu sagen, daß die SPD auf Länderebene, dort, wo die SPD in der Lage wäre, das zu machen, nicht dazu bereit ist. Das sage ich Ihnen hier als ehemalige Landesministerin, die in Niedersachsen vier Jahre dafür gekämpft hat.
Frau Kollegin Schoppe, ich kann hier nicht für alle SPD-regierten Länder antworten. Ich sage Ihnen nur eines: In Brandenburg wird die Auftragsvergabe an Frauenförderung gebunden. Nordrhein-Westfalen ist dabei, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden.
({0})
- Ist schon geschehen? - In Hessen und Sachsen-Anhalt arbeitet man daran. Es ist im übrigen so, Kollegin Schoppe, daß bestimmte Widerstände zu überwinden sind, was nicht so leicht ist.
({1})
Auch die Frauen in sozialdemokratisch geführten Ländern kämpfen um ein entsprechendes Gesetz. Die SPD hat diese Forderung in ihrem Regierungsprogramm, und wir werden einen geeigneten Gesetzentwurf einbringen. Sie alle sind eingeladen, ihn mit uns gemeinsam umzusetzen.
({2})
Zweitens: Teilzeitarbeit. Ich weiß, daß heute viele Menschen - über 2 Millionen - gern weniger arbeiten wollen oder auch teilzeitarbeiten wollen. Ich weiß auch, daß viele Frauen zumindest einen Teilzeitarbeitsplatz haben würden. Aber; Herr Bundeskanzler, es darf auf Dauer nicht so sein, daß Teilzeitarbeit weiterhin vor allem eine Angelegenheit für Frauen ist.
(
Da sind wir einer Meinung!)
Sie haben in Ihren Koalitionsvereinbarungen etwas ganz Wichtiges geschrieben, daß nämlich Teilzeitarbeit auch in Führungspositionen möglich sein muß, daß Teilzeitarbeit keine Beschränkung der Qualifikationsmöglichkeiten zur Folge haben soll. Nur, Herr Bundeskanzler: Heute morgen hat der Herr Wirtschaftsminister geredet und gesagt, bei der Teilzeitarbeit müsse die SPD endlich Farbe bekennen; alle rechtlichen Hemmnisse müßten endlich beseitigt werden. Ich sage Ihnen: Wenn wir gemeinsam in diesem Hause wollen, daß Teilzeitarbeit für Frauen und für Männer eine Möglichkeit wird, Beruf und Familie zu vereinbaren, daß sie die Möglichkeit bietet, einerseits erwerbstätig zu sein und sich andererseits weiterzubilden, dann müssen wir auch gesetzliche Vorschriften machen, nämlich dahin gehend, daß ein Teilzeitarbeitsplatz gegenüber einem Vollzeitarbeitsplatz nicht mehr mit Benachteiligung verbunden ist.
({0})
Dann brauchen wir Anreize, daß tatsächlich diejenigen, die ein höheres Einkommen haben, diejenigen, die eine höhere Qualifikation oder auch höhere Positionen inne haben, für eine bestimmte Zeit auf die Ausübung ihres Berufes verzichten. Das ist Solidarität: daß man denen eine Chance gibt, die erst einmal
ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. Dazu brauchen wir entsprechende gesetzliche Maßnahmen. Sie sind die Voraussetzung dafür, daß Teilzeitarbeit nicht weiterhin eine Domäne der Frauen bleibt mit der Folge, daß sie sozialversicherungsrechtlich immer weniger abgesichert sind; eine Domäne der abrufbaren Arbeitsplätze, was letztendlich dazu führt, daß die Verdienste so gering sind, daß manch eine Frau und alleinerziehende Mutter zwei, drei oder vier Teilzeitarbeitsverhältnisse eingehen muß, damit sie überhaupt leben kann.
({1})
Frau Kollegin Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Gern, wenn es mir nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Frau Kollegin Schmidt, ist Ihnen bekannt, daß wir die Teilzeitarbeit schon 1986 im Beschäftigungsförderungsgesetz der Vollerwerbstätigkeit gleichgestellt haben, daß Ihre Forderung also acht Jahre zu spät kommt?
Nein, Herr Kollege Blüm, ich bin nicht acht Jahre zu spät. Es ist acht Jahre zu spät, wenn man davon ausgeht, daß wir wirklich etwas hätten ändern können, und zwar dahin gehend, daß wir existenzsichernde Teilzeitarbeitsplätze haben, daß ich als Teilzeitarbeitende genauso an beruflichen Qualifikationen teilnehmen kann wie andere und daß ich einen Anspruch darauf habe, wirklich genauso gefördert zu werden wie andere.
({0})
Ich bin elf Jahre Personalrätin gewesen und weiß, wie lange wir im öffentlichen Dienst haben kämpfen müssen, ehe überhaupt einmal eine Schulleiterstelle in Teilzeitarbeit wahrgenommen werden konnte.
({1})
Da gibt es noch ein breites Aufgabenfeld; aber die Diskussion haben wir ja schon geführt.
Mein dritter Punkt ist die Arbeitslosigkeit, das Akzeptieren der Arbeitslosigkeit von Frauen. Obwohl die Erwerbsquote von Frauen und Männern in der ehemaligen DDR fast gleich groß gewesen ist, stieg die Zahl der erwerbslosen Frauen stetig an und liegt heute bei 19,5 %. Bei den Männern beträgt die Arbeitslosenquote dagegen 8,9 %. Es handelt sich hierbei nicht um einen freiwilligen Rückzug aus der Erwerbsarbeit, wie vielfach gesagt wird. Das zeigen auch die Zahl der arbeitslos gemeldeten Frauen und die Zahl der Frauen, die einen Erwerbsarbeitsplatz suchen.
Ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich feststelle, daß beide etwa gleich sind und bei ca. 2,5 Millionen Menschen liegen. Das ist bei den Frauen ebenso wie bei den Männern. Wenn man bei den Langzeitarbeitslosen die Zahl der Männer mit der Zahl der Frauen vergleicht, sieht das Ganze noch trüber aus. 1992 stellten die Frauen rund 68 % derjenigen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung waren. Jetzt, Ende 1994, hat sich diese Zahl auf 76,8 % erhöht.
Ulla Schmidt ({2})
In allen Wirtschaftsbereichen in Ostdeutschland zeigt sich, daß die Frauen auch aus den sogenannten Frauenberufen durch Männer verdrängt werden. Ich weiß, daß Sie, Herr Bundeskanzler, ein sehr energischer Verfechter der deutschen Einheit sind. Ich sage Ihnen eines: Mir liegt das am Herzen. Ich bin sehr viel in den neuen Bundesländern und führe dort sehr viele Gespräche mit den Frauen. Mir liegt ganz besonders am Herzen, daß wir die soziale und innere Einheit Deutschlands bewerkstelligen.
Aber wenn dem so ist, dürfen wir nicht zulassen, daß ganz große Teile der Biographien der Frauen einfach negiert werden, auch das, was für sie lebenslang selbstverständlich war, daß sie nämlich das Recht hatten, ihr eigenes Geld zu verdienen, wenn sie es wollten,
({3})
daß sie Beruf und Familie vereinbaren konnten. Das Stück Freiheit, zu entscheiden, ob man mit Kindern allein leben will oder ob man in der Ehe leben will - all dies dürfen wir nicht einfach so wegschieben; denn es hat auch etwas damit zu tun, daß uns diese innere Einheit gelingt und daß wir es gemeinsam schaffen, den Glauben an die Demokratie und das Vertrauen in sie zu stärken.
Deshalb brauchen wir verstärkte Anstrengungen und gesetzliche Maßnahmen, damit den Frauen der Weg in die Erwerbsarbeit ermöglicht wird. Wir müssen es schaffen, Beruf und Familie zu einer Angelegenheit von Frauen und Männern zu machen. Wir müssen es schaffen, daß Frauen und Männer wirklich die gleichen Chancen und Rechte haben.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern davon gesprochen, daß wir gleiche Chancen bei der beruflichen Bildung verwirklichen wollen; aber heute ist es eine Tatsache, daß trotz aller Appelle immer noch 55 % der Mädchen sich auf die zehn typischen Frauenberufe konzentrieren. Dagegen hätte ich ja nichts, wenn es den Mädchen so gut gefiele. Ich habe aber etwas dagegen, weil es die Berufe sind - Sie kennen sie alle; da sitzt nie ein Mann, wenn man hereinkommt -, wo die Rolle der Frau als Dazuverdienerin geprägt wird und wo es keine Aufstiegschancen gibt.
({4})
Wer das wirklich beseitigen will, den lade ich ein, mit uns zumindest einmal offen darüber zu diskutieren, ob unsere Auffassung, wir müßten eine Reservierung von Ausbildungsplätzen für Mädchen vornehmen, der richtige Weg ist.
Ich glaube, nach allem, was hier diskutiert wird, muß es so sein: Wir müssen die Plätze nicht nur deshalb freihalten, weil dies eine Chance dafür ist, daß auch Frauen und Mädchen in Berufen mit Zukunft und mit der Aussicht, daß sie sich davon ernähren können, ausgebildet werden, sondern auch deshalb, weil dies eine Form ist, durch die wir endlich etwas in den Köpfen der Eltern verändern, die z. B. sagen: „Das ist doch nichts für dich, Automechaniker zu werden", und in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer, die bei der Frage: „Wer geht hin und bekommt ein Praktikum?" immer die Mädchen in die Boutiquen und die Jungen in die Industrie schicken. All dies ist ein Anlaß, in unserer Gesellschaft über Reformen wirklich nachzudenken und etwas zu verändern.
({5})
Lassen Sie uns doch offen darüber diskutieren und nicht immer nur unter dem Aspekt - wie es leider die jetzige Bundesfrauenministerin in der Debatte im April getan hat -, dies sei alles schädlich für die Wirtschaft. Frau Nolte, ich sage hier: Wenn es uns gelänge, in dieser Gesellschaft diese Probleme und Fragen so zu lösen, daß allein die Qualifikation, die eingebracht wird, und nicht das Geschlecht zählt, wäre dies ein enormer Antrieb und eine Innovation auch für die Wirtschaft und für die Wirtschaftskraft dieses Landes, weil viel Produktivität, Kreativität usw. darin enthalten sind.
({6})
Ich würde dies z. B. gern den Landfrauen in Mecklenburg-Vorpommern zur Antwort geben, wenn die sich an mich wenden: „Hören Sie, wir haben doch immer viel organisieren müssen. Wir haben aus nichts etwas gemacht. Wir haben hier auch die Steine von den Feldern geholt. Warum brauchen Sie uns jetzt nicht beim Aufbau Deutschland?" - Ich glaube, dahinter stecken so viel Phantasie, Ideen und Kraft von Frauen, daß dies wirklich der Zukunft zugewandt wäre und daß wir ins Jahr 2000 aufbrechen könnten, weil wir alles, was an Qualifikation in diesem Land vorhanden ist, endlich einmal in diesen Prozeß einbeziehen würden und nicht zwischen Männern und Frauen und Osten und Westen aufteilen usw. würden.
({7})
Lassen Sie mich abschließend sagen - ich hätte gern noch andere Bereiche angesprochen ({8})
- Der Herr Kollege Glos hat eben gesagt: "Ein bißchen leiser! " Das ist nicht böse gemeint: Ich werde manchmal etwas lauter, weil es mir ein Herzensanliegen ist.
Bei der Gleichstellung von Frau und Mann müssen wir wirklich davon ausgehen, daß dies nicht die Idee von ein paar verrückten Weibern in diesem Land ist, die nichts anderes im Sinn haben, als sich selber zu verwirklichen, sondern daß es die Idee von Demokratie, von Gerechtigkeit und von einem sinnvollen Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen ist.
({9})
Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Glos, bitte.
Frau Kollegin Schmidt, gestatten Sie mir eine Richtigstellung. Es mag heute mit meiner Stimme zusammenhängen, daß mein Zwischenruf nicht richtig angekommen ist. Ich hatte Sie gebeten, auch mit uns zu sprechen und nicht nur mit dem Herrn Bundeskanzler. Das war mein Anliegen.
({0})
Sehen Sie mal, Herr Kollege Glos, Sie habe ich so oft hier, aber mit dem Herrn Bundeskanzler kann ich viel seltener reden. Lassen Sie mir doch das Vergnügen!
(Beifall im ganzen Hause -
Sehr gut!)
Das ist eine Frage der Demokratie; um das kurz zu sagen, weil ich fest davon überzeugt bin. Demokratie heißt Entscheidung einer Mehrheit auch für die anderen. Man beugt sich dann diesen Mehrheitsentscheidungen und lebt damit. Diese Entscheidung für die Mehrheit unseres Volkes kann aber nur dann gefaßt werden, wenn die Entscheidungen von Frauen und Männern in diesem Land gleichberechtigt getroffen werden, weil ansonsten immer ein Geschlecht entscheidet, was gut für das andere Geschlecht ist. Das ist halt nicht die Mehrheit. Wir sind die Mehrheit des Volkes.
({0})
Gerechtigkeit ist notwendig, weil es so ist, daß Frauen in diesem Land - wie überall auf der Welt - sehr viel geleistet haben und sehr viel leisten. Was ihnen verwehrt bleibt, ist eine gerechte Anerkennung ihrer Leistungen. Statt dessen werden Frauen bestraft. Weil sie sich für Familie, die Pflege und viele andere Dinge entscheiden, sind sie es, die immer finanziell abhängig sind und nicht selber über sich entscheiden können.
Sie können mir glauben: Ich bin selber alleinerziehende Mutter. Ich weiß, was es heißt, berufstätig zu sein und ein Kind zu erziehen und zu versorgen, und welche Schwierigkeiten das macht. Ich hatte Glück. Ich hatte das Glück einer guten Ausbildung und auch eines Berufs, bei dem ich so viel Geld verdiente, daß das ging. Aber Millionen von Alleinerziehenden in diesem Land haben das nicht.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, ist es notwendig, daß wir uns über die Zahl unterhalten: Bis zu welchem Einkommen wird denn Kindergeld gezahlt? Die Masse der Alleinerziehenden lebt doch von weniger als 2 000 DM im Monat. Denen nützt es doch nichts, wenn wir die Kinderfreibeträge in der Steuer erhöhen. Denen nützt nur etwas bar auf die Hand.
({1})
Ich weiß, Herr Präsident, daß meine Redezeit abgelaufen ist. Aber als drittes möchte ich noch diesen einen Satz sagen.
Wenn wir uns hier in diesem Bundestag darüber unterhalten, wie denn eine Verschlankung des Staates aussieht, wie wir denn unsere Haushalte sanieren, wie wir denn sinnvoll mit unserem gesellschaftlichen Reichtum umgehen, dann sage ich Ihnen: Es ist eine ungeheure Verschwendung von gesellschaftlichem Reichtum, wenn wir die bestqualifizierte Frauengeneration, die es in dieser Republik je gab, draußen vor den Türen stehen lassen, hinter denen Geld verdient wird, hinter denen Ideen entwickelt werden und hinter denen Politik gestaltet wird. Es sind hohe Kosten für ihre Ausbildung und ihre Qualifikation angefallen. Wir können nicht sagen, daß es reicht, wenn die Frauen nachher in niedrig bezahlten Berufen oder nicht ihrer Ausbildung gemäß eingesetzt werden. So bringen wir auch die Finanzen dieses Landes nicht in Ordnung.
Ich hoffe, daß wir jetzt gemeinsam einen Start wagen. Ich bringe die Anträge der SPD-Fraktion ein. Dann diskutieren wir über die einzelnen Punkte, wie wir die Situation der Frauen in diesem Land verändern können.
Vielen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, ich gebe jetzt das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Regierungserklärung des Bundeskanzlers auf Drucksache 13/41 bekannt. Abgegebene Stimmen: 623. Mit Ja haben gestimmt: 292. Mit Nein haben gestimmt: 331. Enthaltungen: Keine. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 623; davon:
ja: 292
nein: 331
enthalten: 0
Ja SPD
Adler, Brigitte
Antretter, Robert Bachmaier, Hermann
Bahr, Ernst
Barnett, Doris
Barthel, Klaus Becker-Inglau, Ingrid Behrendt, Wolfgang Berger, Hans
Bernrath, Hans Gottfried Bertl, Hans-Werner
Bindig, Rudolf
Blunck ({0}), Lieselott Dr. Böhme ({1}), Ulrich Börnsen ({2}), Arne Brandt-Elsweier, Anni Braune, Tilo
Dr. Brecht, Eberhard Burchardt, Ursula
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Conradi, Peter
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Deichmann, Christel Diller, Karl
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßen, Peter
Dreßler, Rudolf
Duve, Freimut
Eich, Ludwig
Enders, Peter
Ernstberger, Petra
Faße, Annette
Ferner, Elke
Fischer ({3}), Lothar Fograscher, Gabriele Follak, Iris
Freitag, Dagmar
Fuchs ({4}), Anke Fuchs ({5}), Katrin Fuhrmann, Arne
Gansel, Norbert
Gilges, Konrad
Gleicke, Iris
Gloser, Günter
Dr. Glotz, Peter
Graf ({6}), Angelika Grasedieck, Dieter Großmann, Achim
Haack ({7}), Karl-Hermann
Hacker, Hans-Joachim Hagemann, Klaus
Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel Hartenbach, Alfred
Dr. Hartenstein, Liesel Dr. Hauchler, Ingomar Heistermann, Dieter Hemker, Reinhold
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Hempelmann, Rolf
Dr. Hendricks, Barbara Heubaum, Monika Hiksch, Uwe
Hiller ({8}), Reinhold Höfer, Gerd
Hoffmann ({9}), Jelena Hofmann ({10}), Frank Holzhüter, Ingrid
Horn, Erwin
Ibrügger, Lothar Imhof, Barbara Irber, Brunhilde Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Jens, Uwe
Jung ({11}), Volker Kaspereit, Sabine Kastner, Susanne Kemper, Hans-Peter Kirschner, Klaus Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun
Klose, Hans-Ulrich
Dr. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf Kolbow, Walter
Kressl, Nicolette Kröning, Volker Krüger, Thomas Kubatschka, Horst Dr. Küster, Uwe Kuhlwein, Eckart Kunick, Konrad Kurzhals, Christine Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Lehn, Waltraud Lennartz, Klaus
Dr. Leonhard, Elke Lörcher, Christa Lohmann ({12}), Klaus
Lotz, Erika
Dr. Lucyga, Christine
Maaß ({13}), Dieter
Mante, Winfried Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Mehl, Ulrike
Meißner, Herbert Mertens, Angelika
Dr. Meyer ({14}), Jürgen Mogg, Ursula
Mosdorf, Siegmar
Müller ({15}), Michael Müller ({16}), Jutta Müller ({17}), Christian Neumann ({18}), Volker. Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf Oesinghaus, Günter
Onur, Leyla
Opel, Manfred Ostertag, Adolf Palis, Kurt
Papenroth, Albrecht
Dr. Penner, Wilfried
Pfannenstein, Georg
Dr. Pick, Eckhart Poß, Joachim Purps, Rudolf
Rehbock-Zureich, Karin
von Renesse, Margot
Rennebach, Renate Reuter, Bernd
Dr. Richter, Edelbert Rixe, Günter
Robbe, Reinhold
Rübenkönig, Gerhard Dr. Schäfer, Hansjörg Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Scharping, Rudolf
Scheelen, Bernd
Dr. Scheer, Hermann Scheffler, Siegfried Schild, Horst
Schily, Otto
Schloten, Dieter
Schluckebier, Günter Schmidbauer ({19}), Horst
Schmidt ({20}), Ursula Schmidt ({21}), Dagmar Schmidt ({22}), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina Schmitt ({23}), Heinz
Dr. Schnell, Emil
Schöler, Walter
Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela
Dr. Schubert, Mathias Schütz ({24}), Dietmar Schuhmann ({25}),
Richard
Schulte ({26}), Brigitte Schultz ({27}), Reinhard
Schultz ({28}), Volkmar Dr. Schuster, R. Werner
Dr. Schwall-Düren, Angelica Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf
Seidenthal, Bodo
Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Spanier, Wolfgang Dr. Sperling, Dietrich Spiller, Jörg-Otto
Steen, Antje-Marie Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter
Tappe, Joachim
Tauss, Jörg
Dr. Teichmann, Bodo Terborg, Margitta Teuchner, Jella
Dr. Thalheim, Gerald Thierse, Wolfgang Thieser, Dietmar
Thönnes, Franz
Titze-Stecher, Uta Tröscher, Adelheid Urbaniak, Hans Eberhard Verheugen, Günter
Vogt ({29}), Ute
Voigt ({30}), Karsten D. Wagner, Hans Georg
Dr. Wegner, Konstanze Weiermann, Wolfgang Weis ({31}), Reinhard Weisheit, Matthias Weißgerber, Gunter
Weisskirchen ({32}), Gert
Welt, Jochen Wester, Hildegard Westrich, Lydia
Wettig-Danielmeier, Inge Wieczorek-Zeul, Heidemarie Wittich, Berthold
Dr. Wodarg, Wolfgang Wohlleben, Verena Wolf, Hanna
Wright, Heide Zapf, Uta
Zumkley, Peter
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Altmann ({33}), Gisela Altmann ({34}), Elisabeth
Beck ({35}), Marieluise Beck ({36}), Volker
Beer, Angelika Berninger, Matthias Buntenbach, Annelie Dietert-Scheuer, Amke
Eichstädt-Bohlig, Franziska Fischer ({37}), Andrea Fischer ({38}), Joseph Grießhaber, Rita
Häfner, Gerald Hermenau, Antje Heyne, Kristin
Höfken-Deipenbrock, Ulrike Hustedt, Michaele
Dr. Kiper, Manuel Knoche, Monika
Dr. Köster-Loßack, Angelika Lemke, Steffi
Lengsfeld, Vera Dr. Lippelt, Helmut
Metzger, Oswald Müller ({39}), Kerstin Nachtwei, Winfried Özdemir, Cern Poppe, Gerd
Probst, Simone
Dr. Rochlitz, Jürgen
Scheel, Christine Schewe-Gerigk, Irmingard Schlauch, Rezzo
Schmidt ({40}), Albert Schmitt ({41}),
Wolfgang
Schönberger, Ursula Schoppe, Waltraud
Schulz ({42}), Werner Steenblock, Rainder Sterzing, Christian
Such, Manfred Dr. Vollmer, Antje
Wilhelm ({43}), Helmut Wolf-Mayer, Margareta
PDS
Bierstedt, Wolfgang Böttcher, Maritta Bulling-Schröter, Eva-Maria Graf von Einsiedel, Heinrich Dr. Elm, Ludwig
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fuchs, Ruth Dr. Gysi, Gregor
Dr. Heuer, Uwe-Jens
Heym, Stefan
Dr. Jacob, Willibald Jelpke, Ulla
Jüttemann, Gerhard
Dr. Knake-Werner, Heidi Kutzmutz, Rolf
Lederer, Andrea Lüth, Heidemarie Dr. Luft, Christa Dr. Maleuda,
Günther Johannes Müller ({44}),
Manfred Walter Neuhäuser, Rosel Dr. Rössel, Uwe-Jens Schenk, Christina Tippach, Steffen
Warnick, Klaus-Jürgen
Dr. Wolf, Winfried
Zwerenz, Gerhard
Nein
CDU/CSU
Adam, Ulrich
Altmaier, Peter
Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günter Basten, Franz Peter
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria
Börnsen ({45}), Wolfgang Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich
Borchert, Jochen Bosbach, Wolfgang Brähmig, Klaus
Braun ({46}), Rudolf Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Brunnhuber, Georg Bühler ({47}), Klaus Büttner ({48}),
Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens ({49}), Manfred Carstensen ({50}),
Peter H.
Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deß, Albert
Diemers, Renate Dietzel, Wilhelm Dörflinger, Werner Doss, Hansjürgen Dr. Dregger, Alfred Eichhorn, Maria
Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer Eßmann, Heinz Dieter Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Dr. Faltlhauser, Kurt Feilcke, Jochen
Dr. Fell, Karl H. Fink, Ulf
Fischer ({51}), Dirk Fischer ({52}), Leni Frankenhauser, Herbert
Dr. Friedrich, Gerhard
Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Geiger, Michaela Geis, Norbert
Dr. Geißler, Heiner Glos, Michael
Glücklich, Wilma
Dr. Göhner, Reinhard
Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim
Grill, Kurt-Dieter Gröbl, Wolfgang Gröhe, Hermann Grotz, Claus-Peter Grund, Manfred
Günther ({53}), Horst Haschke ({54}),
Gottfried
Hasselfeldt, Gerda Haungs, Rainer
Hauser ({55}), Otto Hedrich, Klaus-Jürgen
Heise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate Hinsken, Ernst Hintze, Peter
Hörster, Joachim Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Hüppe, Hubert
Jacoby, Peter
Jaffke, Susanne Janovsky, Georg Jawurek, Helmut Dr. Jobst, Dionys Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Jüttner, Egon
Jung ({56}), Michael Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Kanther, Manfred Karwatzki, Irmgard Kauder, Volker
Keller, Peter
von Klaeden, Eckart Dr. Klaußner, Bernd Klein ({57}), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ({58}),
Hans-Ulrich
Königshofen, Norbert
Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Koslowski, Manfred Kossendey, Thomas Kraus, Rudolf
Krause ({59}), Wolfgang Krautscheid, Andreas Kriedner, Arnulf
Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul
Krziskewitz, Reiner Dr. Kues, Hermann Kuhn, Werner
Dr. Lamers ({60}), Karl A.
Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert Lamp, Helmut Johannes Laschet, Armin Lattmann, Herbert
Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl Josef Lensing, Werner Lenzer, Christian Letzgus, Peter
Limbach, Editha
Link ({61}), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold ({62}),
Klaus W.
Dr. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun Lohmann ({63}),
Wolfgang
Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael Dr. Mahlo, Dietrich Marschewski, Erwin Marten, Günter
Dr. Mayer ({64}),
Martin
Meinl, Rudolf Horst Dr. Meister, Michael Dr. Merkel, Angela Merz, Friedrich
Meyer ({65}), Rudolf Michelbach, Hans Michels, Meinolf
Dr. Müller, Gerd
Müller ({66}), Elmar Nelle, Engelbert
Neumann ({67}), Bernd Nitsch, Johannes
Nolte, Claudia Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm Oswald, Eduard
Otto ({68}), Norbert
Dr. Päselt, Gerhard Dr. Paziorek, Peter Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero
Dr. Pflüger, Friedbert Philipp, Beatrix
Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Polenz, Ruprecht Pretzlaff, Marlies
Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter Rachel, Thomas Raidel, Hans
Dr. Ramsauer, Peter Rau, Rolf
Rauber, Helmut Rauen, Peter Harald Regenspurger, Otto
Reichard ({69}), Christa Reichardt ({70}),
Klaus Dieter
Dr. Reinartz, Bertold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Richter, Roland Richwien, Roland Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl ({71}), Erich Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Rönsch ({72}),
Hannelore
Röttgen, Norbert
Ronsöhr, Heinrich-Wilhelm Dr. Rose, Klaus Rossmanith, Kurt J.
Roth ({73}), Adolf
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen
Sauer ({74}), Roland Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schauerte, Hartmut Schemken, Heinz Scherhag, Karl-Heinz
Scheu, Gerhard Schindler, Norbert Schlee, Dietmar Schmalz, Ulrich Schmidbauer, Bernd
Schmidt ({75}), Christian Dr.-Ing. Schmidt ({76}), Joachim
Schmidt ({77}), Andreas Schmiedeberg, Hans-Otto Schmitz ({78}),
Hans Peter
von Schmude, Michael Schnieber-Jastram, Birgit
Dr. Schockenhoff, Andreas
Dr. Scholz, Rupert Freiherr von Schorlemer, Reinhard
Dr. Schuchardt, Erika
Schütze ({79}), Diethard Schulhoff, Wolfgang
Dr. Schulte
({80}), Dieter
Schulz ({81}), Gerhard Schulze, Frederik Schwalbe, Clemens Sebastian, Wilhelm-Josef Seehofer, Horst
Seibel, Wilfried Seiffert, Heinz-Georg
Seiters, Rudolf Selle, Johannes Siebert, Bernd Sikora, Jürgen
Singhammer, Johannes Sothmann, Bärbel Späte, Margarete Spranger, Carl-Dieter
Steiger, Wolfgang Steinbach, Erika Dr. Freiherr von Stetten,
Wolfgang
Dr. Stoltenberg, Gerhard Storm, Andreas Straubinger, Max Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Teiser, Michael
Dr. Tiemann, Susanne
Dr. Töpfer, Klaus
Tröger, Gottfried
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Vogt ({82}), Wolfgang Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Wetzel, Kerstin
Wilhelm ({83}), Hans-Otto Willner, Gert
Wilz, Bernd
Wimmer ({84}), Willy Wissmann, Matthias Wittmann ({85}),
Simon
Wöhrl, Dagmar Wonneberger, Michael Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zierer, Benno
Zöller, Wolfgang
FDP
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela
Braun ({86}),
Hildebrecht
Bredehorn, Günther
van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf
Frick, Gisela
Friedhoff, Paul K.
Friedrich, Horst
Funke, Rainer
Genscher, Hans-Dietrich Dr. Gerhardt, Wolfgang Günther ({87}), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Dr. Haussmann, Helmut Heinrich, Ulrich
Hirche, Walter
Dr. Hirsch, Burkhard Homburger, Birgit
Dr. Hoyer, Werner
Irmer, Ulrich
Dr. Kinkel, Klaus
Kleinert ({88}), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich L. Koppelin, Jürgen
Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Lanfermann, Heinz Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lühr, Uwe
Möllemann, Jürgen W. Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Dr. Rexrodt, Günter
Dr. Röhl, Klaus
Schäfer ({89}), Helmut Schmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Schmidt-Jortzig, Edzard Dr. Schwaetzer, Irmgard Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Stadler, Max
Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter
Türk, Jürgen
Dr. Weng ({90}), Wolfgang
Vizepräsident Hans-Ulrich Klose
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Kollegin Claudia Nolte.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatten gestern und heute machten deutlich: Uns geht es darum, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sichern. Ich finde es gut, daß auch Frau Schmidt das so verstanden hat.
Aus gutem Grund haben die Koalitionsparteien deshalb die Familienpolitik als eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre bezeichnet. Martin Luther hatte in seinen Tischreden u. a. darauf verwiesen, daß die Familie die Quelle des Segens, aber auch des Unsegens der Völker sein kann.
({0})
Das war damals richtig, und das ist heute richtig.
Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, daß in meinem Elternhaus menschliches Miteinander selbstverständlich war und ich dadurch Halt und Orientierung erfahren konnte. Wie junge Menschen in ihrer Familie aufwachsen, hat großen Einfluß auf ihre Entwicklung und die Zukunft unserer Gesellschaft.
({1})
Wir wollen die Familie stärken. Sie ist das Fundament unserer Gesellschaft. Nirgendwo sonst wird der unauflösliche Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung deutlicher. Nirgendwo ist die Notwendigkeit von mehr Eigenverantwortung und mehr Solidarität anschaulicher als in der Familie.
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Wenn die Eigenverantwortung des einzelnen gestärkt wird, gewinnt der Staat Handlungsspielräume zurück, um denen zu helfen, die dringend Unterstützung brauchen.
Unser Ziel ist es, den Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungsausgleich weiterzuentwikkeln. Wir wollen, daß Familien mit Kindern weniger Steuer zahlen müssen als Kinderlose. Deshalb heben wir den Kinderfreibetrag deutlich an und erhöhen ihn stufenweise.
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Eltern und Alleinerziehende können sich darauf verlassen, daß wir das, was für den Unterhalt der Kinder notwendig ist, nicht wegsteuern. Die Höhe des Kindergeldes muß sich stärker am Einkommen und an der Kinderzahl orientieren.
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Die finanzielle Absicherung alleinerziehender Matter und Väter wollen wir verbessern, indem wir im Unterhaltsvorschußgesetz die bisherigen Altersgrenzen für Kinder erhöhen.
Wir brauchen dringend ein kinderfreundliches Wohnumfeld und preiswerte Wohnungen für Familien mit Kindern.
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Ich werde mich deshalb dafür einsetzen, daß die Wohnungseigentumsförderung für Familien mit Kindern verstärkt, kostensparendes Bauen gefördert und mehr Bauland neu erschlossen wird.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wir werden vier Jahre Zeit haben, miteinander zu reden. Ich wünsche mir, daß ich in meiner ersten Rede einmal das Gesamtkonzept darstellen kann.
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Nicht nur der Bund, auch Länder und Kommunen sind gefordert, ihren Beitrag dazu zu leisten. Das gilt auch für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz. Nicht nur, weil der Kontakt zu Gleichaltrigen für die Entwicklung von Kindern wichtig ist, Kindergärten und Kinderbetreuungseinrichtungen insgesamt erleichtern auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und stellen eine wichtige Erziehungshilfe dar.
Zu einer familienfreundlichen Gesellschaft gehört für mich der bessere Schutz ungeborener Kinder.
({1})
Die Auseinandersetzungen darüber sind sehr emotional geführt worden. Mit gegenseitigen Vorurteilen, Unterstellungen und Beschimpfungen werden wir dem Auftrag, eine verfassungsgemäße Regelung zu entwickeln, nicht gerecht. Der Gewissensentscheidung des anderen sollten wir mit Respekt begegnen.
({2})
Wir müssen gemeinsam in einer großen Kraftanstrengung dafür eintreten, daß es zu einem Gesetz kommt, das Rechtssicherheit schafft, das ungeborene Leben schützt, den Frauen gerecht wird und dem Selbstverständnis einer pluralen Gesellschaft entspricht.
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Die gemeinsame Basis dafür bietet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Mir persönlich wird ein Konsens viel abverlangen; das bekenne ich ausdrücklich. Aber ich biete Ihnen meine Bereitschaft dazu an,
({4})
weil mir viel daran liegt, daß es in dieser Frage zu einer möglichst breiten Übereinstimmung in Staat und Gesellschaft kommt.
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Ich bin davon überzeugt, daß dem ungeborenen Kind niemand einen besseren Schutz geben kann als die Mutter. Mit Ihrer Unterstützung möchte ich erreichen, daß die Bedingungen für Familien mit Kindern in unserem Land besser werden.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft gehört auch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit für Frauen und Männer. Ob sich junge Paare für Kinder entscheiden, hängt wesentlich davon ab, wie im Alltag und in der Arbeitswelt den Bedürfnissen von Familien und Kindern Rechnung getragen wird. Hier sind durch die Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht, durch das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub in den vergangenen Jahren entscheidende Weichenstellungen erreicht worden.
Für besonders wichtig halte ich eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und Arbeitsorganisation. Deshalb werden wir mit den Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Gespräch bleiben, praxisnahe Modelle starten und unsere Offensive für mehr Teilzeitarbeit fortsetzen.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode im Gleichberechtigungsgesetz für den öffentlichen Dienst des Bundes beschlossen, daß auch bei Teilzeitarbeit Höherqualifizierung, Aufstieg sowie die Ausübung von Leitungsfunktionen möglich sind.
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Darin sind auch die Nachteilsverbote enthalten, die Sie gefordert haben. Mittel- und langfristig muß dies Eingang auch in die Privatwirtschaft finden. Es geht nicht an, daß für sieben Männer und Frauen, die einen Teilzeitarbeitsplatz suchen, nur einer zur Verfügung steht.
Berufstätigkeit von Frauen ist heute in der Regel etwas Selbstverständliches. Viele Frauen wollen auch dann im Beruf bleiben, wenn sie es finanziell nicht nötig haben, sei es, weil sie im erlernten Beruf auch arbeiten und vorwärtskommen wollen, eigenständig und sozial abgesichert sein wollen oder weil sie ganz einfach Freude daran haben.
Es ist aber leider eine Tatsache, daß es Frauen oft schwerer haben als Männer,
({8})
sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, insbesondere dann, wenn Arbeitsplätze knapp sind. Das zeigt sich besonders schmerzhaft in den neuen Bundesländern, in denen die Frauenarbeitslosigkeit doppelt so hoch ist wie die der Männer. Deshalb müssen im arbeitsmarktpolitischen Bereich weiterhin besondere Anstrengungen unternommen werden, um Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten zu eröffnen.
Wenn ich Ihren Worten glauben darf, Frau Schmidt, kann ich auf Ihre Unterstützung rechnen.
Unsere Bemühungen, daß Frauen und Männer alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens gleichberechtigt gestalten können, setzen wir fort. Dem diente die Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes, die wir gemeinsam verabschiedet haben. In unserer Gleichberechtigungspolitik wird es keinen Stillstand geben.
Das macht auch der Bericht der Bundesregierung für die vierte Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking deutlich. Er zeigt zum einen eindrucksvoll, welche Fortschritte in den vergangenen zehn Jahren gemacht worden sind, aber er benennt auch die Defizite, die angegangen werden müssen.
Im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz arbeiten Hunderte Frauen aus den verschiedensten Organisationen an der Vorbereitung des deutschen Beitrags mit. Diesen Frauen möchte ich für ihr Engagement danken.
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Partnerschaft, meine Damen und Herren, beschränkt sich nicht nur auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Eine partnerschaftliche Gesellschaft muß gerade auch im Miteinander der Generationen ihren Ausdruck finden. Ältere Menschen haben eine Lebensleistung einzubringen, auf die wir jungen Menschen aufbauen können. Sie haben eine Fülle von Erkenntnissen und Erfahrungen, die wir nutzen sollten, auch wenn es um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland geht.
Es gibt genügend Beispiele, in denen gerade ältere Menschen in sozialen Diensten oder auch beim Aufbau neuer Betriebe in den neuen Bundesländern wesentliche Beiträge leisten.
Mit dem Bundesaltenplan ist ein zentrales Förderinstrument des Bundes für die Seniorenpolitik entstanden. Auf kommunaler Ebene gibt es zunehmend Seniorenbeiräte, die ihren Einfluß auf die Kommunalpolitik ausüben. Diese Strukturen müssen wir in Zukunft stärken. Daneben muß die Alternsforschung intensiviert und müssen ihre Erkenntnisse in die Praxis umgesetzt werden.
Wir aus der jüngeren Generation tun gut daran, auf den Rat und die Erfahrung der Älteren zu hören. Ich verspreche Ihnen eine aktive Seniorenpolitik.
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Auf ihrem Lebenswerk bauen die Jüngeren auf, wenn auch mit dem der Jugend eigenen kritischen Blick und eigenen Lebensvorstellungen. Wir Politikerinnen und Politiker müssen die Anliegen der Jugend ernst nehmen und sie als verantwortungsbewußte und mündige Staatsbürger fördern und fordern.
Für die Perspektive junger Menschen ist die Sicherstellung eines Ausbildungsplatzes von besonderer Bedeutung. Das ist in den letzten Jahren gelungen. Das wollen wir auch in Zukunft erreichen.
Jugendliche brauchen Bewährungsfelder. Sie sind zum Engagement bereit, ob es sich um den Einsatz für Behinderte oder Kranke, für die Bewahrung der
Schöpfung oder um Projekte der Dritten Welt handelt. Diese Bereitschaft wird auch in der Nachfrage nach dem freiwilligen sozialen Jahr und dem freiwilligen ökologischen Jahr deutlich.
Die internationale Jugendarbeit wird in dieser Legislaturperiode weiter an Bedeutung gewinnen. Neben das deutsch-französische Jugendwerk ist das deutsch-polnische Jugendwerk getreten. Allein 1993 haben 40 000 junge Deutsche und Polen an seinen Programmen teilgenommen.
Der Austausch mit den mittel- und südosteuropäischen Ländern wird sich verstärken. Diese Staaten sind daran interessiert, daß wir ihnen beim Aufbau von Jugendverbandsstrukturen und bei der Gestaltung der Jugendarbeit helfen.
Gerade beim Aufbau von Jugendverbänden und einer modernen Struktur für die Jugendarbeit sind in den letzten Jahren wichtige Erfahrungen in den neuen Bundesländern gesammelt worden, die jetzt international genutzt werden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir macht die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen Sorgen. Viele dieser Jugendlichen kommen mit einer komplizierter gewordenen Lebenswirklichkeit nicht zurecht. Gewalt ist auch ein Zeichen von Unsicherheit, für das Gefühl, keine Perspektive zu haben. Manche suchen dann Zuflucht bei denen, die einfache Antworten parat haben: bei Pseudosekten oder in links- oder rechtsradikalen Gruppen. Diese Jugendlichen dürfen wir nicht abschreiben.
Als Ursachen jugendlicher Gewalt werden häufig Orientierungslosigkeit und Bindungsunfähigkeit genannt. Eine wertorientierte Erziehung ist die entscheidende Vorsorge gegen Extremismus und Gewalt.
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Die Schulen haben dabei nicht nur eine Verpflichtung zur Wissensvermittlung, sondern auch zur Erziehung. Die Hauptverantwortung für die Erziehung der Kinder haben aber die Eltern. Das Erziehungsrecht ist auch eine Erziehungspflicht.
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Meine Damen und Herren, die menschliche Gestaltung unseres sozialen Netzes ist ohne die anderthalb Millionen ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer nicht denkbar. Sie tragen in den Wohlfahrtsverbänden dazu bei, daß der Gemeinsinn gestärkt wird. Für mich ist es eine wichtige Aufgabe, zusammen mit den Trägern der freien Wohlfahrtspflege das Ehrenamt in unserer Gesellschaft zu erhalten und zu stützen.
Wir werden das Modellprogramm der Förderung sozialer Selbsthilfe in den neuen Bundesländern fortsetzen. Dort sind bereits 5 500 Selbsthilfegruppen entstanden, in denen sich ca. 160 000 Menschen sozial engagieren. Das ist eine erfreuliche Entwicklung zur Eigeninitiative, wenn man bedenkt, daß in der ehemaligen DDR die freie Vereins- und Verbandsarbeit unerwünscht war.
Die freien Wohlfahrtsverbände leisten auch einen erheblichen Beitrag bei der Durchführung des Zivildienstes. An den Strukturen dieses Dienstes halten wir
fest. Wir werden sie in den nächsten Jahren insbesondere in den neuen Bundesländern, wo gegenwärtig 25 000 Zivildienstleistende ihren Dienst versehen, aufbauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor fünf Jahren habe ich mich im Neuen Forum mit familienpolitischen Problemen in der ehemaligen DDR beschäftigt. Daß ich heute daran arbeiten darf, in der Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik die innere Einheit unseres Vaterlandes vollenden zu helfen, ist für mich Herausforderung und Verpflichtung.
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Das Wort hat die Kollegin Rita Grießhaber.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Nolte! Die frauenpolitische Landschaft ändert sich langsam, aber unaufhaltsam. Wir sind bekanntlich die Partei, die als allererste die Quote eingeführt hat.
({0})
Das Ergebnis dieser Quote können Sie hier sehen: Unsere Fraktion hat den höchsten Frauenanteil aller Fraktionen und besteht zu fast 60 % aus Frauen.
Jetzt hat diese Diskussion auch die CDU eingeholt. Selbst der Bundeskanzler - auch wenn er mir jetzt den Rücken zudreht - und sein Generalsekretär können sich den Zeichen der Zeit nicht mehr verschließen. Etwas Angst vor der eigenen Courage haben sie ja wohl doch; denn sie nennen ihr halbherziges Vorgehen ganz vorsichtig und verschämt Quorum. Immerhin ist es schon einmal etwas.
Die Beweggründe für den Schwenk in der Union liegen aber wohl weniger in der Hinwendung zu einer neuen qualitativen Frauenpolitik. Ich glaube, das Motiv ist viel schlichter: die Unzufriedenheit der Frauen in den eigenen Reihen und das Ausbleiben der jungen Wählerinnen. Aus diesem Grund haben wir jetzt auch die neue Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die rein formal sogar eine vierfache Quote erfüllt: jung, Frau, Mutter und aus den neuen Bundesländern.
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Es wird sich zeigen, ob mehr hinter dem PR-Gag steckt. Was ich allerdings bis jetzt von Ihnen, Frau Nolte, insbesondere zum § 218 gehört habe, macht mich im höchsten Maße skeptisch. Die Diskussion um die Abtreibung ist sicherlich, wie Sie richtig benannt haben, mit sehr starken Emotionen verbunden. Nun hat der Bundeskanzler in einem Fernsehinterview behauptet, daß Sie, Frau Nolte, in dieser Frage eine eigene persönliche Meinung hätten. Wenn es nur das wäre, wären die öffentlichen Wogen der Entrüstung nicht so hoch gegangen. Aber daß Sie mit genau dieser Einstellung Frauenministerin dieses Landes
geworden sind, gibt Ihrer angeblich privaten persönlichen Meinung wohl ein ganz anderes Gewicht.
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Daran nehmen vor allem auch die Frauen in den neuen Bundesländern Anstoß, denn gerade dort vertreten Sie eine Minderheitenmeinung, die reichlich exotisch ist.
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Frauen wird für ihre Lebensplanung eine Menge abverlangt. Sie haben sich, je nach Bedarf, sehr flexibel bewegt. Sie sind zum großen Teil aus der traditionellen Frauenrolle ausgebrochen, in Schule und Beruf schneiden sie vielfach besser ab als die Männer, und viele sind für einen hohen persönlichen Preis in Männerdomänen eingebrochen. Die Verantwortung, die Frauen in Familie und Beruf tragen, ist groß. Aber eine ganz grundlegende Frage ihres Lebens sollen sie nicht frei entscheiden dürfen, nämlich die, ob sie mit Kindern leben wollen oder können. Das Selbstbestimmungsrecht wird uns Frauen mehrheitlich von Männern abgesprochen. Uns wird die Unfähigkeit zu einer rechtmäßigen eigenverantwortlichen Entscheidung unterstellt.
({4})
Wir werden sicher in anderen Debatten noch ausführlicher über den § 218 sprechen, aber zwei Punkte möchte ich noch benennen, auf die Sie auch nicht eingegangen sind. Wer wirklich Schwangerschaftsabbrüche verhindern will - und das beteuern alle hier -, muß zum einen sehr viel mehr tun für eine umfassende Aufklärung über Verhütung, Sexualität und Familienplanung, muß auch mehr tun für die Zugänglichkeit von sicheren und unschädlichen Verhütungsmitteln. Zum anderen muß eine Politik gemacht werden, die das Leben mit Kindern, mit alten Menschen, mit Kranken und Pflegebedürftigen aktiv fördert, statt nur davon zu reden.
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Von konservativer Seite werden der Werteverfall dieser Gesellschaft, die Höhe der Scheidungsrate, die mangelnde Wärme in der Familie und der Geburtenrückgang oft beklagt. In den neuen Bundesländern - ich glaube, es wird Ihnen nicht entgangen sein - liegt der Geburtenrückgang seit 1989, territorial unterschiedlich, bei 50 bis 70 %. Die ostdeutschen Frauen verweigern sich gleichsam im zivilen Ungehorsam. Sie verzichten auf den eigenen Kinderwunsch und greifen sogar immer öfter zum Mittel der Sterilisation, um nur ganz sicher zu gehen. Diese selbstzerstörerische Tendenz finde ich in höchstem Maße alarmierend. Frau Nolte, sorgen Sie sich weniger um die Moral, reagieren Sie auf den Hilfeschrei der Frauen aus dem Osten!
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Herr Bundeskanzler, Sie nannten die Familie in Ihrer Regierungserklärung den Ort, an dem über die Zukunft entschieden werde. Nun hilft es nicht, die
Leistungen, die die Familien für die Gesellschaft erbringen, und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu beschwören. Was zählt, sind Taten. Doch gerade die familienpolitische Bilanz nach 12 Jahren konservativ-liberaler Regierung ist dürftig.
Sogar das Bundesverfassungsgericht bescheinigt der Bundesregierung, daß sie in 12 Jahren nicht in der Lage war, den Familien zumindest das Existenzminimum zu garantieren, das die Sozialhilfe Kindern zubilligt. Der Finanzminister wird vom Verfassungsgericht gezwungen, etwas zu tun. Dutzende von Experten haben Modelle vorgelegt. Die Regierung ist längst am Zug.
Noch immer sieht die Realität für viele Frauen so aus, daß sie unfreiwillig ihre Erwerbstätigkeit aufgeben müssen, wenn sie Mütter werden. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung - ich finde, mit ganz neuen und ungewohnten Tönen - familienfreundliche Arbeitszeiten gefordert. Wir sind sehr gespannt, ob er diese Forderung auch an die Wirtschaft richten wird, wenn es um den Standort Deutschland geht. Es ist die Frage, ob sein Kabinett bereit sein wird, die gesetzlichen Rahmenbedingungen entsprechend zu verändern, oder ob es nur eine billige Sprechblase war.
({7})
Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird von der Koalition immer noch als Frauenthema behandelt. Es ist aber nur deswegen ein Frauenthema, weil die Männer die Verantwortung von sich schieben. Auch hier im Parlament ist der Ort, wo gefragt werden muß: Sind Vätern ihre Kinder nicht viel mehr Zeit und Kraft wert? Nur 1,4 % der Väter lassen sich für die Erziehung ihrer Kinder beurlauben. Wir werden um eine Änderung des Geschlechterverhältnisses noch sehr viel streiten müssen. Wir werden auch Anreize schaffen müssen, damit sich Väter für die Erziehung freistellen lassen. Sie, meine Herren von der Koalition, wissen ja aus eigener Erfahrung um die Bedeutung des Geldes.
Warum aber müssen immer die Frauen für die Verbesserung der Rahmenbedingungen kämpfen? Sollten die Herren dieses Thema zu ihrem vordringlichen Anliegen machen, statt es wie bisher zu blockieren, hätte das Problem endlich den Stellenwert, den es in der Rhetorik der Regierungserklärung hatte.
({8})
Wie wenig Erziehungsarbeit wert ist, bekommt frau noch einmal bei der Rentenrechnung quittiert. Wer nicht versicherungspflichtig teilzeitarbeitet, um Zeit für die Kinder zu haben, bekommt weder die Erziehungszeit noch aus dieser Erwerbsarbeit eine Rente angerechnet. In der letzten Legislaturperiode wurde eine Entschließung des Bundestages zur Verbesserung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten verabschiedet. In der neuen Legislaturperiode ist das Problem noch immer ungelöst. Jetzt soll erneut geprüft werden.
Wenn wir vom Thema Familie reden, möchte ich einen Punkt nicht außer acht lassen: Für viele Frauen
und Kinder, Frau Nolte, ist Familie auch ein Ort der Gewalt. Ich weiß nicht, ob Sie das mit dem lutherischen Zitat von dem Unsegen gemeint haben und warum Sie es nicht ausgesprochen haben. Jedenfalls ist es so, daß Frauenhäuser für mißhandelte Ehefrauen sowie Beratungsstellen für mißbrauchte Kinder großen Zulauf haben. Sie zeigen den dringenden Bedarf an einer Politik, die mit Verunsicherung, Angst und Gewalt anders umgehen muß - nicht nur bei Jugendlichen, auch bei Männern.
({9})
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Frauen ist nicht gewährleistet. Schnelle, kompetente und unbürokratische Hilfe für Opfer ist leider noch nicht selbstverständlich. Daß Zufluchtstätten für Frauen erstritten wurden, ist ein Fortschritt. Daß aber die Frauen mit ihren Kindern für ihre Sicherheit mit dem Verlust der Wohnung bezahlen müssen, das darf nicht so bleiben.
({10})
Zu welch extremen Formen die materielle Abhängigkeit von Frauen führen kann, zeigt das Geschäft mit der Not osteuropäischer Frauen. Viele von ihnen landen als Prostituierte in deutschen Bordellen. Diese Tatsache wie auch die Tatsache, daß junge Mädchen und Kinder in Südostasien von deutschen Sextouristen mißbraucht werden, paßt nicht in das Erscheinungsbild, das die Bundesregierung nach außen vermitteln will. Deswegen hat sich auch Frau Merkel nicht getraut, an den offiziellen Bericht über die Lage der Frauen in Deutschland für die Weltfrauenkonferenz den Bericht der nichtstaatlichen Organisationen, wie versprochen, anzuhängen.
Hier war viel von der Zukunft die Rede. Wenn wir sehen, daß 50 000 Kinder in dieser reichen Republik in Notunterkünften, Obdachlosenheimen und auf der Straße leben und immer mehr Kinder in Haushalten aufwachsen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, dann ist das kein gutes Zeichen für die Zukunft. Über 30 % aller Sozialhilfeempfänger sind unter 18 Jahren. Das ist kein Problem von Drückebergern, sondern ein gesellschaftlicher Skandal.
({11})
Junge Menschen brauchen mehr als die Erfahrung, daß Geld und Ellenbogen nützlich sind. Sie müssen das hier schon oft zitierte Wort Solidarität tatsächlich real erfahren. Junge Frauen und Mädchen brauchen die Erfahrung, daß ihnen die Welt sichtlich offensteht. Am glaubwürdigsten und direktesten erleben sie das durch entsprechende Vorbilder.
Die Finanzierungsspielräume werden enger. Alle beklagen das, und alle weisen darauf hin, wenn es ums Sparen geht. Die Rede vom sparsamen und schlanken Staat, sie ist in aller Munde. Wir stehen dafür, daß bei dieser Diät nicht die Frauenbelange weggehungert werden.
({12})
Kosteneinsparungen sind etwas anderes als Leistungsabbau. Eine Debatte über das Anders und Besser, nicht über das Weniger oder Mehr ist hier gefragt, meine Damen und Herren.
({13})
Wo die Quotierung nicht mehr greift, weil es keine Neueinstellungen, sondern Entlassungen gibt, müssen Arbeitsstrukturen auch im Interesse der Frauen geändert werden. Dies ist ohne allgemeine Arbeitszeitverkürzung in möglichst großen Schritten nicht zu verwirklichen. Nur wenn vorhandene Arbeit auf mehr Schultern verteilt wird, können Fraueninteressen im Arbeitsleben erfolgreicher eingebracht werden.
Wenn der Kuchen, der zu verteilen ist, schrumpft, geht es nicht um das größte Stück für die Frauen. Es geht darum, die satten Mäuler nicht zusätzlich zu stopfen und diesen Kuchen nach einem ganz neuen Rezept zu backen, so daß Frauen und Männer wirklich gleiche Chancen haben. Ich denke, grüne Frauenpolitik ist eine geeignete Hilfe dafür.
({14})
Nun hat der Bundeskanzler auch davon gesprochen, daß wir statt von der Risikogesellschaft von der Chancengesellschaft reden sollten. Ich will das gerne aufgreifen und fordere Sie auf: Schaffen Sie bessere Chancen für ein Leben mit Kindern auch dadurch, daß Familien in allen Formen, nicht aber die Ehe steuerlich begünstigt wird.
({15})
Die Familie braucht keine moralische Aufrüstung, sondern finanzielle und soziale Unterstützung. Familienpolitik muß dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung tragen, indem sie auf die Bedürfnisse der Frauen eingeht. Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, moderne sozialpolitische Konzepte umzusetzen, die individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung für beide Geschlechter ganz neu verknüpfen.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen.
Herr Präsident! Meine Kollegen und Kolleginnen! Das Erfreuliche an dieser Debatte für die Frauen, die hier ringsherum sitzen, ist, daß sie gewiß vieles von dem, was Frauen aus anderen Fraktionen gesagt haben, unterschreiben können. Das Erbitternde an dieser Debatte ist, daß mir vieles bekannt vorkommt, weil wir ähnlich schon vor 20 Jahren geredet haben.
({0})
Die Familienpolitik ist nicht ohne Grund ein zentraler Bestandteil in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und F.D.P.; denn trotz der vielfältigen Anstrengungen der jeweiligen Bundesregierungen in
der Vergangenheit - ich schließe alle ein - fällt die familienpolitische Bilanz immer noch recht zwiespältig und in vielem ernüchternd aus. Es ist der ehemaligen Familienministerin, Frau Hannelore Rönsch, zu danken, daß sie die Familienpolitik immer wieder thematisiert hat und daß sie zäh drangeblieben ist. Dafür bin ich ihr dankbar.
({1})
Der neuen Familienministerin wünsche ich eine glückliche Hand, Durchsetzungsvermögen,
({2})
Ausdauer und die Zähigkeit, die dieser Politikbereich offenbar in ganz besonderem Maße braucht.
({3})
Sehen wir uns die Realitäten an, meine Kollegen und Kolleginnen: Es ist weder in der ehemaligen DDR noch in der heutigen Bundesrepublik annähernd gelungen, Familienfreundlichkeit zum übergeordneten Qualitätsmerkmal unserer Gesellschaft zu machen. Schon die Vorstellungen darüber, was Familienfreundlichkeit eigentlich bedeutet, gehen weit auseinander: Für die einen bedeutet es, daß vom Staat möglichst viel abgenommen wird. Für einige andere bedeutet es, daß es reine Privatsache ist, in die sich niemand einzumischen hat.
Der Fünfte Familienbericht drückt es kraß, aber, wie ich finde, zutreffend aus. Er spricht nämlich von einer „strukturellen Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber den Familien". Damit können nicht nur Staat und Politik gemeint sein. Das betrifft die Wirtschaft, die Gewerkschaften, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, Vereine, Bildungsinstitutionen, Medien; sie alle sind in der Pflicht sowie auch jeder einzelne von uns.
Die Stellung der Familie bemißt sich nicht allein nach dem Grad ihrer finanziellen Entlastung, sondern vor allem auch danach, wieweit es gelingt, Strukturen zu schaffen, die der Familie Vorrang einräumen, anstatt sie zu benachteiligen.
({4})
Hier sind in diesen Tagen schon Stichworte dazu gefallen, wie die „Arbeitswelt" oder die „Kinderbetreuung". Das ist vor allen Dingen für Frauen immer noch ein Drahtseilakt. Es kann einen wahnsinnig machen, daß es so schrecklich langsam geht.
({5})
Ich denke, es sind immer noch die gleichen Forderungen wie diejenigen, die ich vor vielen Jahren stellte, als meine Kinder noch klein waren.
Familienpolitik muß frei von Scheuklappen sein; denn es nützt nichts, wenn wir hier von Wunschvorstellungen ausgehen. Natürlich ist die Familie von den tiefgreifenden Veränderungen berührt, mit denen wir heute leben. Die heile Bilderbuchfamilie ist wohl ohnehin eher eine Erfindung, als daß sie die Wirklichkeit unserer Großelterngeneration gewesen ist.
Junge Frauen entscheiden sich heute zunächst - wie auch anders? - für eine berufliche Tätigkeit,
und dann werden Überlegungen zum Familienleben angestellt. Anschließend versuchen Sie, beides miteinander in Einklang zu bringen. Männer haben damit wenig Probleme. Für sie war es doch immer schon so: zuerst der Beruf und dann die Familie.
Die Frauen stoßen auf eine Vielzahl von Fragen und Problemen; das wissen wir. Dazu gehören natürlich auch materielle Probleme, die zu bisher unbekannten Abhängigkeiten in einer Partnerschaft führen.
Familienpolitik ist eine Gratwanderung, weil wir entscheiden müssen: Wann trifft die Überschrift „Privatangelegenheit" zu, und wann sind Antworten und Regelungen von der Politik gefordert?
Antworten brauchen die vielen Alleinerziehenden, die es weiß Gott schwer haben. Aber ich möchte hier einmal sagen: Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, nicht auch an die „ganz normale Familie" zu denken. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben, daß sie bei uns eine aussterbende Art sei und daß sie mehr und mehr an Bedeutung verlöre.
({6})
80 % aller Kinder leben mit beiden leiblichen Eltern zusammen, und unter allen Familienformen in Deutschland machen über 80 % die klassischen Zweielternfamilien aus.
({7})
- Ja, das muß man einmal sagen; auch die brauchen nämlich Antworten.
Ebensowenig stimmt es, daß immer weniger junge Paare heute heiraten wollen und sich Kinder wünschen. Wenn man dem Familienbericht Glauben schenkt, dann ist eher ein gegenteiliger Trend zu beobachten.
Die Entscheidung für Kinder wird heute natürlich sehr bewußt getroffen; wenn es ratsam erscheint, wird diese Entscheidung vertagt. Da machen sich eben negative Erfahrungen, wie sie im Zweifel befreundete Familien im Alltag erleben, auch negativ bemerkbar. Das hat etwas mit der schwierigen Situation am Arbeits- und auch am Wohnungsmarkt zu tun.
Eine Untersuchung, die mich besonders berührt hat, sagt aus: Bei einer Befragung von 20jährigen jungen Frauen, bei denen der Kinderwunsch ziemlich groß war, wurde die Zahl der Kinder weit höher angegeben als bei einer gleichen Befragung derselben Frauen zehn Jahre später. Da ist der große Wunsch weg; da hat die Lebenswirklichkeit zugeschlagen.
({8})
Die Koalition hat sich in der Familienpolitik einiges vorgenommen, um wichtigen Forderungen, wie sie auch der Familienbericht enthält, gerecht zu werden. Zu den Verbesserungen, die wir uns vorgenommen haben, zählt auch eine systematische Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Mütter und Väter. Das haben auch andere immer wieder gesagt. Ich betone: Das „und" ist dabei besonders wichtig. Denn Erziehungsurlaub, Teilzeitarbeit, Dreifachbelastung durch Kindererziehung, Haushalt und
Erwerbstätigkeit sind immer noch und immer wieder Frauensache.
In der Tat dient es den Frauen, wenn es mehr Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten auch in höher qualifizierten Funktionen gibt. Und in der Tat: Es dient den Frauen, wenn es bessere Weiterbildungsangebote während der Kinderpause gibt und der Wiedereinstieg dadurch erleichert wird. Auch die finanzielle Stärkung von Alleinerziehenden hilft überwiegend Frauen. Manche dieser Vorhaben dienten den Frauen aber noch weit mehr, wenn sie auch von Männern angenommen würden. Das ist leider noch lange nicht selbstverständlich.
({9})
Es gibt in dieser Debatte immer Dinge, die man wirklich nicht mehr hören kann, weil man sie sich an den Schuhsohlen abgelaufen hat. Dazu gehört gleichsam wie ein Pawlowscher Reflex, daß dann, wenn man von Teilzeitarbeit in Führungspositionen redet, sofort gefragt wird: Wie ist das mit dem Teilzeitminister? Oder es ist vom Topmanager die Rede. Diese wirklich herausgehobenen Positionen sollten doch nicht die Meßlatte sein. Aber wie ist es denn bei der Leitung einer Kindertagesstätte? Wie ist es denn bei Führungspositionen, die weit unter der eines Ministers liegen? Da gibt es eine Menge zu ändern; dazu braucht man gar nicht so schrecklich viel Phantasie.
({10})
Daß dieses „und für Väter" bei Vätern eine so geringe Akzeptanz hat, das liegt - das muß um der Gerechtigkeit willen gesagt werden - nicht nur an den Vätern, sondern das liegt vor allen Dingen an den Personalabteilungen und den Chefetagen von Unternehmen. Dort wird nämlich der Wunsch nach Teilzeitarbeit des Mannes nicht selten als Ausdruck fehlender Leistungsbereitschaft mißverstanden und womöglich sogar mit Karrierenachteilen geahndet. Ich erinnere übrigens daran, wie lange die F.D.P. schon die Neuorganisation von Arbeitszeiten und Arbeitsabläufen gefordert hat
({11})
und wie heftig der Widerstand von SPD und Gewerkschaften dagegen lange Zeit gewesen ist. Das scheint sich jetzt zu ändern.
({12})
Stichwort: Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Die Kommunen, die das immer schon als einen wichtigen Politikbereich betrachtet haben, haben die Nase vorn. Aber sie sollten doch nicht bestraft werden; die anderen müssen nachziehen und sollten das Lamentieren bleiben lassen.
({13})
Zum Thema Öffnungszeiten von Kindergärten will ich kurz sagen: Ich finde, das ist sehr zwiespältig und sehr problematisch; denn es heißt ja in letzter Konsequenz nichts anderes, als daß sich die Kinder dem Arbeitsalltag anpassen müssen. Eigentlich sollte sich
der Arbeitsalltag den Kindern, den Frauen mit Kindern und den Familien anpassen.
({14})
Eine Kinderbetreuung bis zum sechsten Lebensjahr ist wunderschön. Aber es wird alles nichts nützen, wenn bei uns die Ganztagsschule nicht zur Regelangebotsschule wird. Ansonsten gucken die Mütter wieder in die Röhre.
({15})
In der jüngeren Vergangenheit wurde einiges auf den Weg gebracht. Die Anerkennung von drei Kindererziehungsjahren im Rentenrecht für ab 1992 geborene Kinder wurde schon genannt. Ich ärgere mich übrigens sehr darüber, daß dieses immer als „versicherungsfremde Leistung" apostrophiert wird. Das mag ja technisch richtig sein, aber psychologisch ist es mit Sicherheit falsch.
({16})
Denn wenn keine Kinder erzogen würden, dann würde dieses ganze wunderbare System zusammenbrechen. Es gehören nämlich zwei dazu, die Beitragszahler und die Kinder. Ob das wirklich eine versicherungsfremde Leistung ist, das möchten wir doch einmal in Frage stellen.
Eine „Geburtenprämie" - ich will darauf nur kurz eingehen -- in Form eines Begrüßungsgeldes von 1 000 DM, so wie sie Herr Stolpe in Brandenburg vorschlägt, halte ich für eine Luftnummer. Das ist keine Familienförderung, meine Damen und Herren.
({17})
Das ist die Gießkanne. Sie ist sehr teuer. Das kann man nur mit neuen Steuern finanzieren. Im übrigen ist das billig und durchsichtig.
Die Probleme beginnen später. Junge Mütter, die aus wohlerwogenen Gründen zu Hause bleiben, machen die bittere Erfahrung, daß sie später als 40jährige keinen Arbeitsplatz mehr finden. Ihre Kompetenz, die sie in der Familienarbeit erworben haben, fällt unter den Tisch. Das hat zur Folge, daß wir - was wiederum auch positiv ist - sehr viele Existenzgründerinnen haben. Sie tun das nicht nur, weil sie Chefs werden wollen, sondern auch, weil sie keinen Job mehr bekommen.
Familienpolitik bliebe unvollständig, wenn sie sich nicht auch den hier lebenden ausländischen Familien widmen würde. Ausländische Familien sind in vielen Fällen Stiefkinder der Familienpolitik, und das, obwohl heute bereits mehr als dreiviertel der ausländischen Wohnbevölkerung in Familien bei uns leben - anders als am Beginn der Gastarbeiterzeit. Häufig gibt es bei ihnen Schwierigkeiten beim Ehegatten- und Familiennachzug. Die Bildungs- und Wohnsituation ist oft ungünstig. Die Arbeitslosigkeit ist überCornelia Schmalz-Jacobsen
durchschnittlich hoch. Der Aufenthaltsstatus ist oft zu unsicher und erschwert damit die Lebensplanung. Von der Ungleichbehandlung in Gesetzen und bei deren Anwendung ganz zu schweigen.
Der grundgesetzlich garantierte Schutz von Ehe und Familie beschränkt sich aber keineswegs nur auf deutsche Ehen und deutsche Familien.
({18})
Ich kündige für die F.D.P. an, daß dieser Punkt bei der in der Koalition vereinbarten Novellierung des Ausländergesetzes eine hohe Priorität haben wird.
Ausländische Familien sind eine Realität, binationale Ehen ebenfalls. Der Herr Bundeskanzler hat bei der Benennung der neuen Familienministerin ziemlich wörtlich gesagt, daß sich die Lebenswirklichkeit junger Frauen von heute am Kabinettstisch wiederfinden sollte. Wohl denn! Zu dieser Lebenswirklichkeit gehört es auch, daß jede zehnte junge Ehe in der Bundesrepublik eine binationale Ehe ist. Machen wir es doch diesen Leuten endlich ein bißchen leichter.
({19})
Ein Gespräch mit dem Verband binationaler Familien ist hier sehr empfehlenswert. Achten wir die Würde dieser Familien! Vielleicht können wir auch ein bißchen von dem Zusammenhalt dieser Familien lernen.
({20})
Ich möchte, weil Sie das von mir vielleicht auch erwarten, drei Worte zur Kinderstaatszugehörigkeit sagen. Sie wissen, daß die Ausländerbeauftragten der Länder, ob sie nun der CDU, der F.D.P. oder der SPD angehören, gesagt haben: Das reicht nicht, das ist halbherzig, das ist zuwenig.
({21})
Ich sage das auch. Aber das ist jetzt die Situation.
Ich habe aber etwas dagegen, wenn hier total abgelehnt wird, wenn gesagt wird: Es ist schlimmer als gar nichts, es ist ganz fürchterlich. Die, die das sagen, setzen sich nämlich dem Verdacht aus, daß es ihnen ums Prinzip und nicht um die Kinder geht.
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- Doch!
Ich bin ja gar nicht glücklich darüber. Nur, ich bin gegen diesen Justament-Standpunkt. Denn für die Erleichterung im Alltag dieser Kinder macht es eben doch etwas aus. Die Reisen werden möglich, die ein großes Kümmernis für Schulen, die ein Kümmernis für Sportverbände waren.
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- Ich weiß, das gefällt Ihnen nicht. Aber wir müssen jetzt sehen, was wir aus dieser Regelung machen.
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- Sie müssen mich in diesem Punkt gar nicht „anmachen". Aber ich bin gegen Fundamentalopposition, wo immer und aus welcher Richtung sie auch kommt.
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Ich komme zum Schluß, meine Kollegen und Kolleginnen. Eine glaubwürdige Familien- und Frauenpolitik ist selbstverständlich auch die Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Senioren- und Jugendpolitik. Wir sollten uns davor hüten, das in Kästchen zu tun. Diese Teilbereiche der Politik müssen sehr eng miteinander verzahnt sein, wie das inzwischen ja auch durch das Ministerium angelegt ist. Diese Bereiche müssen sich zu einer umfassenden Gesellschaftspolitik zusammenfügen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Dürftigkeit der Koalitionsvereinbarung ist nun schon in nahezu allen Punkten konstatiert worden. Ich muß sagen, daß es in den Bereichen Frauen und Familie besonders deutlich wird. Da heißt es in der Koalitionsvereinbarung:
Die Koalition wird weiter aktiv - weiter aktiv! - für gleiche Rechte und gleiche Chancen für Frauen im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben eintreten.
Ich meine, das ist nichts als blanke Blasphemie. Der Ausdruck „weiter aktiv " soll Kontinuität vorspiegeln. Ich frage mich nur: Kontinuität wovon? Es gab schon in der letzten Legislaturperiode nichts, was auch nur annähernd in den Verdacht hätte kommen können, wirklich eine Politik der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Gesellschaft zu sein. Ich erinnere hier nur an das Gleichberechtigungsgesetz, das in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet worden ist und das das Papier nicht wert ist, auf dem es steht. Frauen als Thema emanzipatorischer Politik kommen bei dieser Bundesregierung nicht vor, wie überhaupt, meine ich, emanzipatorische Politik bei dieser Bundesregierung nicht vorkommt.
Ich habe mir die Koalitionsvereinbarung mit besonderer Aufmerksamkeit in bezug auf die die Frauen betreffenden arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen angesehen. Dabei stelle ich fest, daß als ein entscheidendes Instrumentarium zur Bewältigung des Arbeitsmarktdesasters, von dem Frauen besonders betroffen sind - ich erinnere daran, daß die Arbeitslosenquote von Frauen im Osten doppelt so hoch ist wie die der Männer -, der Bundesregierung nichts anderes einfällt als die Fortsetzung der Teilzeitoffensive. Diese Teilzeitoffensive ist bereits in der letzten Legislaturperiode heftig kritisiert worden. Sie wurde
zum einen deshalb kritisiert, weil sie, solange sie nicht mit einer entschiedenen Antidiskriminierungspolitik verbunden ist, den Status von Frauen als Dazuverdienenden zementiert, weil sie, zumindest in der herkömmlichen Form, nicht existenzsichernd ist und weil sie damit auf die Ehe als Versorgungsinstitution rekurriert und so das damit verbundene Armutsrisiko Frauen zuteilt, zum anderen deshalb, weil sie das Vereinbarkeitsproblem weiter als ein ausschließlich weibliches definiert.
Auch die Absicht der Bundesregierung, die Arbeitgeberfunktion privater Haushalte zu stärken und das auch noch als großangelegtes Beschäftigungsprogramm für Frauen zu verkaufen, ist eine Unverschämtheit.
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Frauen als Putz- und Kinderfrau im eigenen und auch noch im Teilzeitjob im Haushalt des Nachbarn, das ist die Antwort der Bundesregierung auf die Tatsache, daß in Deutschland fast 2 Millionen in der Regel gut qualifizierte Frauen - da rechne ich die stille Reserve noch .nicht einmal mit - einen Arbeitsplatz suchen.
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Meine Damen und Herren, nach wie vor ist die sogenannte Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen deutlich höher als die im Westen. Nach wie vor wünschen nur etwa 3 % der Frauen im Osten ein Dasein als Hausfrau. Man kann es in Anbetracht der konservativen Mehrheit in diesem Haus nicht oft genug betonen: Frauen im Osten und - das möchte ich dazusagen - zunehmend auch im Westen erheben den Anspruch auf eine qualifizierte Erwerbstätigkeit, auf ein Einkommen, mit dem sie ihre Existenz eigenständig sichern können. Ich meine, das ist eine Frage der Menschenwürde und der Humanität einer Gesellschaft.
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Die Umsetzung dieses Anspruchs erfordert entschlossenes Handeln in zwei Richtungen: einmal in der Beziehung, daß es um die Umverteilung von Arbeitsplätzen gehen muß, und zum anderen, daß es um die Schaffung von Arbeitsplätzen gehen muß. Beides muß Aufgabe von Bundespolitik sein. Von beidem lese ich in der Koalitionsvereinbarung nichts Ernsthaftes.
Ich meine, die Herstellung einer wirklichen Chancengleichheit von Frauen und Männern im Bereich der Erwerbsarbeit ist ohne eine Antidiskriminierungspolitik, die Männern und Frauen einen gleichberechtigten Zugang zu den vorhandenen Ausbildungs- und Erwerbsarbeitsplätzen sichert, nicht denkbar. Darüber hinaus muß endlich auch die Wirtschaftspolitik zur Kenntnis nehmen, daß sie bislang eben nicht geschlechtsneutrale Wirkungen zeitigt und daß es deshalb erforderlich ist, die Frage der Chancengleichheit von Frauen und Männern in den Zielgrößenkatalog von Wirtschaftspolitik zu integrieren. Wir werden dazu parlamentarische Initiativen einbringen.
Viel Pathos wird bemüht, wenn es in der Koalitionsvereinbarung um Familie und um Kinder geht. „Kinder sind unsere Zukunft" , heißt es da. Die Gegenwart, meine Damen und Herren, ist eine andere. Heute leben in der Bundesrepublik Deutschland bereits mehr als eine Million Kinder von Sozialhilfe. In den ostdeutschen Bundesländern werden im Vergleich zu 1988 gegenwärtig nur noch ein Drittel der Kinder geboren. Dieser dramatische Geburtenrückgang, der, wie Experten festgestellt haben, in der überlieferten Menschheitsgeschichte singulär ist, ist die individuelle Reaktion von Frauen in Ostdeutschland auf die Kinder- und Frauenfeindlichkeit dieser Gesellschaft. Das ist - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen-kein monetäres Problem. Insofern wird ein veränderter Familienlasten- oder Familienleistungsausgleich - oder wie auch immer man das nennen will - oder auch eine Gebärprämie von 1 000 DM oder so etwas daran nichts Wesentliches ändern.
Auch von der Durchsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ist in der Koalitionsvereinbarung nichts zu lesen, ebensowenig davon, wie die Ausgrenzungen, die Frauen allein auf Grund ihrer Gebärfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt erfahren und hinnehmen müssen, bekämpft werden könnten.
Ich meine, es ist symptomatisch, daß sich im Abschnitt Frauenpolitik, der in der Koalitionsvereinbarung lediglich als Unterpunkt der Familienpolitik vorkommt, keine Aussagen zum Selbstbestimmungsrecht von Frauen finden. Daher möchte ich noch einmal an das erinnern, was hier auf der Tagesordnung steht: Es geht um die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, und zwar in einer Weise, die die noch verbliebenen Spielräume, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gelassen hat, voll ausschöpft. Wenn ich dann sehe, daß eine katholische Fundamentalistin zur Ministerin in diesem Bereich gemacht worden ist, bin ich skeptisch, was unsere Möglichkeiten in diesem Parlament anbelangt. Lassen wir es darauf ankommen.
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Die zweite Sache, um die es mir geht: Es muß eine Änderung des Strafgesetzbuches in der Weise stattfinden, daß endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wird.
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Es muß ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für ausländische Ehefrauen geschaffen werden, und es muß die Verfolgung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung als Asylgrund anerkannt werden.
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Ich meine generell, daß in dieser Gesellschaft darüber nachgedacht werden muß, wie insbesondere für Frauen die Möglichkeiten verbessert werden können, tatsächlich zu eigenen Lebensentwürfen zu kommen und diese auch umzusetzen. Lesbische Frauen können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, zu einer eigenen Identität in dieser Gesellschaft zu kommen.
Der Bundesregierung liegen eine klare Analyse der Situation von Frauen und entsprechende Schlußfolgerungen vor. Es ist ja nicht so, daß man hier sagen könnte, man wüßte von nichts. In Vorbereitung auf die 4. Weltfrauenkonferenz in Peking haben zahlreiche Vertreterinnen nichtstaatlicher Organisationen einen umfassenden Bericht zur Situation der Frauen in der Bundesrepublik erarbeitet. Ursprünglich sollte dieser Bericht gemeinsam mit dem Regierungsbericht bei der Weltfrauenkonferenz eingereicht werden. Das wurde nun von der Bundesregierung abgesagt. Der Grund ist klar: Das, was die Vertreterinnen der NGOs dort erarbeitet haben, erschüttert das Selbstbild der Bundesregierung gerade in dem Punkt, den wir hier behandeln, offenbar nachhaltig.
Ein letztes: Die Zusammenlegung des Ministeriums für Frauen und Jugend mit dem für Familie und Senioren zeigt, daß die Bundesregierung auch von der strukturellen Seite her jeden Anspruch auf eine eigenständige Frauenpolitik aufgegeben hat. „Frau" ist nur noch das Etikett in einem Ministerium, das Frauen nicht als eigenständige Subjekte, sondern nur als Objekte familienpolitischer Maßnahmen wahrnimmt.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie kündigen in der Koalitionsvereinbarung eine grundlegende politische Erneuerung an, präsentieren jedoch in Ihrem Regierungsprogramm nur den sattsam bekannten Mangel an Intelligenz und Kreativität. Ich kann mich daher nur dem hier an dieser Stelle schon oft zum Ausdruck gebrachten Wunsch anschließen, daß diese Stümperei nicht volle vier Jahre so weitergeht.
Danke.
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Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Frauen- und Familienpolitik gibt es sicher viele Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien, aber man darf nicht verkennen, daß es durchaus unterschiedliche Ausgangspunkte gibt, und so beruht die Politik der CDU/CSU auf dem Grundsatz: Jeder Mensch soll sein Leben in eigener Verantwortung gestalten. Männer und Frauen sollen ihr Lebensmodell selbst wählen. Der Staat darf die Rollenverteilung nicht vorschreiben, sondern muß die Rahmenbedingungen schaffen, damit individuelle Lebensplanungen verwirklicht werden können. Männer und Frauen haben das Recht auf freie Entscheidung für die Familie, für den Beruf oder für beides, nämlich für Familie und Beruf.
Nach wie vor ist der Wunsch, eine Familie zu gründen und Kinder zu haben, das wichtigste Ziel in der Lebensplanung einer großen Mehrheit aller jungen Menschen. Der Stellenwert der Familie ist immer noch sehr hoch. Doch haben sich Familienformen und Familienleben stark verändert. So gibt es immer mehr Alleinerziehende, immer mehr Alleinstehende. Die Zahl der Ehescheidungen nimmt zu. Familien haben immer weniger Kinder.
Die Leistungen der Familien für unsere Gesellschaft sind groß. Sie werden aber oft als selbstverständlich betrachtet und zuwenig anerkannt. So gilt es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch den Familien eine gleichberechtigte Teilhabe an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung gewährleisten.
Eltern mit Kindern vergleichen ihren Lebensstandard und ihre Chancen zur Lebensgestaltung nicht nur mit anderen Müttern und Vätern, sondern auch mit jenen, die keine Kinder zu versorgen haben. Ein Leben mit Kindern hat seinen eigenen Wert, gibt ihm Sinn und Erfüllung und ist auch nicht ersetzbar. Eltern leisten aber auch viel, um ihren Kindern gute Startchancen in unserer Gesellschaft zu ermöglichen, und müssen dabei auf manches verzichten.
Die Entscheidung für Kinder wird von jungen Paaren mehr und mehr bewußt getroffen. Diese Entscheidung wird auch zukünftig um so leichter fallen, je deutlicher Staat und Gesellschaft Kindererziehung als Leistung anerkennen.
In der letzten Legislaturperiode haben wir den Kinderfreibetrag, das Kindergeld und den Kindergeldzuschlag erhöht. In dieser Legislaturperiode ist die Verbesserung des Familienleistungsausgleichs ein wesentlicher Punkt der Familienpolitik. Ziel ist die volle steuerliche Freistellung des Existenzminimums von Kindern, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen von Mai und Juni 1990 gefordert hat.
Die Union hält am dualen Familienleistungsausgleich fest. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil 1990 ausgeführt, daß Kinderfreibeträge sozial gerecht sind und einer leistungsgerechten Besteuerung entsprechen. Der Kinderfreibetrag bewirkt, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich ist, um Eltern gegenüber Kinderlosen mit gleich hohem Einkommen gerecht zu besteuern. Die finanzielle Belastung der Eltern mit Kindern darf im Verhältnis zu jeweils gleichviel verdienenden Kinderlosen nicht höher sein.
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Nach unseren Vorstellungen soll der Kinderfreibetrag so angehoben werden, daß er auch ohne Hinzurechnung des Kindergeldes die volle Höhe des Existenzminimums eines Kindes abdeckt.
Das Kindergeld muß bedarfsgerecht ausgebaut und darf nicht nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden, wie die SPD es möchte. Es muß um so höher sein, je geringer das Einkommen der Familie und je größer die Kinderzahl in der Familie ist. So verstehen wir soziale Gerechtigkeit.
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Familiengerechtes Wohnen ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entfaltung von Familien. Deswegen ist die Schaffung preiswerter Wohnungen ein wichtiges Vorhaben in dieser Legislaturperiode.
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Wir brauchen mehr Familienfreundlichkeit auf dem Wohnungsmarkt, in der Arbeitswelt und in unserer Gesellschaft.
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Das veränderte Rollenverhalten von Frauen, das Bemühen um gleiche Bildungs- und Ausbildungschancen und gleiche Mitwirkungsrechte hat die Familienpolitik nicht unwesentlich beeinflußt. Früher war es selbstverständlich, daß Frauen die Versorgungsaufgaben in den Familien übernahmen, daß sie Leistungen für die Gesellschaft erbrachten, ohne Gegenleistungen einzufordern. Das veränderte Bildungsverhalten, eine andere Einstellung zum Leben, aber auch finanzielle Erfordernisse, die eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen notwendig machen, führen zu neuen Herausforderungen, zu neuen Belastungen für die Familie, sind aber auch eine Herausforderung für die Gesellschaft gegenüber den Familien.
Mit verbesserten Bildungs- und Ausbildungschancen verband sich in der Frauenpolitik der 70er Jahre die Hoffnung, daß Frauen dann auch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben hätten. In den 80er Jahren erkannte man, daß der gewünschte Durchbruch nicht erreicht worden war. So erging der Ruf nach neuen Konzepten, nach gezielter Frauenförderung und nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
In den letzten zehn Jahren wurde dazu durch diese Regierung einiges erreicht.
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Wir haben das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub eingeführt.
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Wir haben die Anerkennung von Erziehungszeiten bei der Rentenversicherung, die Freistellung von der Arbeit zur Betreuung von kranken Kindern, die Beseitigung diskriminierender Bestimmungen bei Teilzeitbeschäftigungen und berufliche Wiedereingliederungsprogramme nach der Familienphase eingeführt.
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Wir haben in der letzten Legislaturperiode Kinderberücksichtigungszeiten und Pflegeberücksichtigungszeiten eingeführt, um gerade jene Frauen, die geringe Renten bekommen, damit unterstützen zu können.
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Und wir haben im Zweiten Gleichberechtigungsgesetz festgelegt, Frau Kollegin Schmidt, daß Teilzeitarbeit wegen Kindererziehung nicht zu beruflicher Benachteiligung führen darf.
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Dieses Gesetz ist seit dem 1. September in Kraft.
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- Frau Schmidt, wir haben ja als Bundesregierung und Bundestag nur die Möglichkeit, für den Bund Gesetze zu machen. Die Länder sind jetzt aufgefordert, dies nachzuvollziehen, und erfahrungsgemäß wird einem Beispiel im Bund dann auch die Wirtschaft folgen. Davon gehen wir auf jeden Fall aus.
Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein weiterer Schwerpunkt im Gleichberechtigungsgesetz die Frauenförderung, ferner die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in Gremien des Bundes und ein eigenständiges Beschäftigungsschutzgesetz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
Mit der Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes wurde eine Klarstellung des Gleichberechtigungsgrundsatzes erreicht.
All diese politischen Konzepte und Erfolge haben aber immer noch nicht zu einer echten Partnerschaft von Frau und Mann geführt. Deshalb wird die Koalition weiter aktiv für gleiche Rechte und gleiche Chancen für Frauen im gesellschaftlichen, im politischen und im wirtschaftlichen Leben eintreten. Sie wird in dieser Legislaturperiode die Maßnahmen zur Erleichterung der Wiedereingliederung von Frauen nach einer Erziehungsphase intensiv fördern und die Weiterbildungsmöglichkeiten während der Erziehungsphase fördern.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist längst kein Frauenanliegen mehr, sondern ein zentrales Thema für die Zukunft unserer Familien und ein zentrales Thema für die ganze Gesellschaft.
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Ein ganz wichtiger Gesichtspunkt ist dabei, unsere Arbeitswelt so zu gestalten, daß die Lebensbereiche Familie und Beruf individuell aufeinander abgestimmt werden können und nicht allein die Arbeitswelt das Leben der Familien bestimmt.
Ansätze zu einer familienfreundlichen Gestaltung des Arbeitslebens dürfen nicht bei den Frauen haltmachen, sondern müssen sich an den Bedürfnissen aller Familienmitglieder orientieren; das sind Mütter, Väter und Kinder. Die Verbesserung der Situation von Frauen allein ändert noch nichts an den herkömmlichen Strukturen. Eine familiengerechte Arbeitszeit wird sich für jede Familie anders darstellen, da die Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind.
Gleichberechtigung und Partnerschaft in der Familie setzt Gleichberechtigung und Partnerschaft in Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Frauen müssen mehr Beteiligungsmöglichkeiten im Erwerbsleben und in der Politik bekommen, Männer mehr Engagement in der Familie zeigen, die Wirtschaft muß mehr auf die Erfordernisse und Bedürfnisse von Familien eingehen. Dies weiter zu verwirklichen ist unsere Aufgabe, und dafür setzen wir uns ein.
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Das Wort hat die Kollegin Christel Hanewinckel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zur Debatte steht jetzt und hier die zukünftige Politik dieser Bundesregierung für die Frauen, für die Jugendlichen, für die Senioren und Seniorinnen und für die Familien. Im Koalitionspapier und in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers gab es zur Frauenpolitik keine Aussage, zur Jugendpolitik keine Aussage, zur Altenpolitik keine Aussage, zur Familienpolitik vage Aussagen,
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dafür aber Klagen und Forderungen, die der Opposition gut anstünden und nicht einem Regierungschef, der das, was er beklagt und fordert, seit zwölf Jahren zu verantworten hat.
({1})
Dabei stellt er sich, die Regierung, durch die Art der Larmoyanz als Opfer und das Volk als Täter dar. Ich werde Ihnen bei den einzelnen Politikfeldern Kostproben aus der Regierungserklärung in Erinnerung rufen.
Zuvor aber noch etwas Grundsätzliches zu diesem neuen Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend! Auf den ersten Blick scheint das ein immens wichtiges gesellschaftspolitisches Ministerium zu sein. Auf den zweiten Blick, meine Damen und Herren, wird deutlich, daß die neue Ministerin vorrangig zur Verwaltung von Ideologie vorgesehen ist.
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Wie zu hören war, wird ein ganz wichtiger Bereich, nämlich die Bundessozialhilfegesetzgebung, dem Gesundheitsminister zugeschlagen. Ein Deal zwischen Männern? Zwischen Männern der CSU? Was auch immer, in jedem Fall ist es so, daß dieser Bereich aus dem Ministerium, in das er sachgemäß gehört, wenn er schon nicht bei Arbeit und Soziales ist, in Zukunft weg sein wird.
Befürchten denn die Herren der Regierungsriege, daß Frau Nolte es nicht packen wird, sich gegen den massiven Widerspruch der SPD, der Länder, der Kirchen, der CDA, der Wohlfahrtsverbände durchzusetzen, wenn es an den Abbau von Sozialleistungen gehen wird? Oder vermutet man, daß die Masse von Armut und Elend, die durch das BSHG eigentlich verhindert werden soll, aber nach Theo Waigels Absichten und den Absichtserklärungen des Kanzlers vergrößert werden wird, von einer jungen, zarten Frau nicht verkraftet werden kann?
Meine Damen und Herren, die Armut, die in unserem reichen Lande herrscht, ist in der Tat kaum vertretbar und verkraftbar. Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom 14. Oktober 1994 belegen das. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger für 1993 lag sage und schreibe bei 4 945 000. Das ist gegenüber 1992 eine Zunahme von 4,8 % bundesweit, in den alten Bundesländern eine Steigerung von 3,7 %, in den neuen Bundesländern eine Steigerung von 11,6 %.
({3})
In den neuen Ländern und Berlin ({4}) gab es Ende 1992 rund 140 400 Sozialhilfehaushalte. Das waren schon damals 37 % mehr als 1991. In Westdeutschland sind etwa 30 % der Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, in Ostdeutschland knapp 44 % aller Sozialhilfeempfänger.
Sie müssen sich einmal klarmachen, wohin Ihre Regierung geführt hat. Was hat das noch mit sozialer Sicherung und sozialer Gerechtigkeit zu tun?
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Armut darf nicht als ein Randproblem unserer Gesellschaft mißdeutet und bagatellisiert werden. Armut ist nicht einfach Schicksal, es gibt vielmehr neben der Eigenverantwortlichkeit stets auch eine Mitverantwortlichkeit der Gemeinschaft für die Lebenssituation der in ihr lebenden Benachteiligten ... Armut ist ein strukturelles Problem. Deshalb muß auch nach Wirkungen unserer gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung gefragt werden, die in unheilvoller Weise selektierend und armutsfördernd sein können und die Zielbestimmung unseres sozialen Rechtsstaates latent unterlaufen.
Dies ist ein Zitat aus dem „Gemeinsamen Wort" der evangelischen und der katholischen Kirchen. Ich denke, hier wird etwas sehr deutlich: Wenn die Bundesregierung immer wieder danach fragt, was denn gemeint sei, wenn wir von Armut sprechen, ist es wirklich an der Zeit, daß Sie sich mit dem Bundeskanzler und der neuen Ministerin an der Spitze dazu bequemen, endlich zu definieren, was Armut in diesem Lande ist. Denn das sind Sie uns und den Menschen in diesem Land nach wie vor schuldig.
({6})
Meine Damen und Herren, Armut darf nicht weiter verdrängt werden. Deshalb fordern wir von der Bundesregierung erneut, eine Armutsberichterstattung zu erstellen, die alle relevanten Faktoren von Armut beschreibt, eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, die den Weg zu sicheren Arbeitsplätzen bereitet, endlich einen verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienleistungsausgleich auf die Beine zu stellen, bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe keine Kürzungen vorzunehmen, den Wohnungsbau endlich anzukurbeln, insbesondere durch den zusätzlichen Bau von jährlich mindestens 100 000 Sozialwohnungen mit langfristiger Bindung, und den Einstieg in eine soziale Grundsicherung in die Wege zu leiten, damit die Sozialhilfe ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Hilfe im Einzelfall, wieder nachkommen kann.
Wenn Sie keine eigenen Vorschläge und Entwürfe haben, meine Damen und Herren: Alle diese Punkte können Sie mit uns beschließen. Wir haben entsprechende Anträge und Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht.
({7})
Die Zahlen der Sozialhilfeempfänger machen deutlich, wie massiv Kinder und Jugendliche, Familien und Alleinerziehende, vor allen Dingen Frauen, betroffen sind. Für diese von der Sozialhilfe Betroffenen war bisher das ehemalige Ministerium für Familie und Senioren zuständig. Jetzt ist - dies steht eigentlich schon lange an - eine Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes notwendig. Aber das wird Ihrem Ressort, Frau Nolte, jetzt entzogen und kommt völlig sachfremd zum Gesundheitsministerium. Ich frage noch einmal, was es dort soll, welchen Einfluß Sie hierbei überhaupt noch haben bzw. haben werden und welche Möglichkeiten Sie in Ihrer Fraktion sehen, diese Punkte so auf den Weg zu bringen, daß die Familien, die Alleinerziehenden und die Jugendlichen in Ihnen in Zukunft tatsächlich eine Lobbyistin haben. Ich vermisse das bisher. In der Regierungserklärung und auch in Ihrer Rede vorhin war davon an keiner Stelle die Rede.
({8})
Nun möchte ich mein Versprechen einlösen, mit Kostproben der Larmoyanz des Kanzlers die vier Titel des Ministeriums genauer zu besehen und jeweils mit einem Zitat von ihm einzuführen.
Erstens zur Familienpolitik. Der Kanzler sagt - Zitat 1 -:
Jeder weiß, daß Kinder unsere Zukunft sind, aber gegen Spielplätze in Wohnvierteln wird gerichtlich vorgegangen, und Kinder zu haben wird immer mehr zum Nachteil bei der Wohnungssuche.
Zitat 2:
Wir wollen, daß unsere Gesellschaft familien- und kinderfreundlicher wird.
Zitat 3:
Eltern und Alleinerziehende brauchen Unterstützung und Ermutigung.
Recht so, Herr Kanzler! Aber was sollen das Gejammere und die Forderungen an andere? Meines Wissens sind Sie seit zwölf Jahren in der Regierungsverantwortung.
({9})
Wieso kommt dann immer wieder von dieser Stelle die Forderung an die Gesellschaft, an die bösen anderen, womöglich noch an die Opposition, doch endlich ein bißchen familienfreundlicher zu sein?
Wenn Sie das so feststellen, dann haben Sie in den letzten zwölf Jahren offenbar nichts für die Kinderfreundlichkeit in diesem Land getan.
({10})
Offenbar gab es bisher keine Ermutigung und keine Stützung für Familien, wenn jetzt plötzlich Ermutigung und Stützung erforderlich sind.
Das, was Sie vorhaben, ist für Familien allerdings weiterhin entmutigend: in der Regierungserklärung vage Aussagen zum Familienleistungsausgleich, dafür aber Versprechungen zur Steuerentlastung für Besserverdienende; keine Vorschläge für die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit, ausgenommen das nette Teilzeitarbeitsangebot für Mütter; keine Aussage zur Bundesverantwortung für die Finanzierung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz.
({11})
- Das mußte jetzt ja kommen; darauf war ich schon vorbereitet. Wir haben immer wieder versucht, endlich die Protokollnotiz von Ihnen zu bekommen. Alle zuständigen Ministerien stellen fest, daß es in der Tat von Ihrer Seite - entgegen dem, was Sie immer behauptet haben - überhaupt keine Regelung gibt. Deshalb gibt es auch keine Protokollnotiz.
({12})
Meine Damen und Herren, Familien brauchen keine Almosen und Geschenke und Freundlichkeiten. Familien brauchen Rechte und Gerechtigkeit; und Familien brauchen vor allem Arbeit - es macht ihnen nämlich keinen Spaß, auf der Tasche anderer zu liegen , um ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können.
({13})
Meine Damen und Herren, die Forderungen der Sozialdemokratie nach einer verfassungsgemäßen und sozial gerechten Familienpolitik kennen Sie. In diesem Internationalen Jahr der Familie haben wir nur durch Anfragen und Anträge der SPD im Juni 1994 eine familienpolitische Debatte in diesem Haus gehabt. Sie haben schnell noch den Familienbericht hineingemogelt, der aber kein Verdienst Ihrer Seite gewesen ist.
Heute wie damals gibt es von der Koalition keine konkreten Vorschläge, nach denen die Familien tatsächlich gerecht behandelt werden. Mit Ihren vagen Aussagen werden Sie nichts in diesem Lande, aber auch nichts kinder- oder familienfreundlicher gestalten. Da müssen Sie schon zupackendere Dinge auf den Tisch dieses Hauses legen. Sie bleiben mit Ihrer Politik immer wieder in den alten Strukturen.
Im „Gemeinsamen Wort" der Kirchen bekommen Sie konkrete politikfähige Vorschläge für eine gerechte Familienpolitik. Wenn Sie nicht bereit sind, diese Vorschläge von der SPD anzunehmen, dann sind Sie hoffentlich in der Lage und bereit, sie von den Kirchen anzunehmen.
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Zweitens zur Altenpolitik. Der Kanzler sagt:
Jeder wird gebraucht. Wir sind angewiesen auf die Lebenserfahrung der älteren Generation.
Leider ist der Herr Bundeskanzler jetzt nicht mehr da,
sonst hätte er mir vielleicht spontan antworten könChristel Hanewinckel
nen. Wo in Ihrem Regierungskonzept geben Sie etwas auf diese Erfahrung der alten Generation? Wo kommt die ältere Generation denn vor? Ich habe in Ihrer Regierungserklärung nichts entdeckt. Wo gibt es Aussagen zur Problematik des Wohnens im Alter? Wo sind Aussagen zu einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen? Wo steht etwas zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung? Wo steht etwas zur sozialen Grundsicherung im Alter oder bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit? Diese Liste ist fortsetzbar. Ich will das gar nicht alles wiederholen. Wir haben das in den letzten Jahren immer und immer wieder hier durchgekaut. Es ist langsam wirklich langweilig, Ihnen immer wieder das gleiche erzählen zu müssen. Trotzdem gibt es keine Aussage zu alledem.
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Es kann natürlich sein, daß die Koalition deshalb nichts dazu sagt, weil sie unseren Initiativen und Anträgen folgen will. Ich denke, da sind wir schnell dabei.
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- Ja, manchmal habe ich noch einen Rest Optimismus. Den will ich an dieser Stelle auch nicht verhehlen.
Ich komme zum dritten Bereich, zur Frauenpolitik. Dazu ist heute schon einiges gesagt worden. Aber zuvor möchte ich wieder ein Wort vom Kanzler zitieren:
Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist als allgemeiner Grundsatz inzwischen unbestritten. Aber es wird im Alltag oft zu wenig dafür getan, Frauen gleiche Chancen zu geben.
In der Tat, Herr Bundeskanzler und Frau Ministerin: In Ihrem Alltag spielt Frauenpolitik keine Rolle und im Alltag der Unionsfraktionen vermutlich auch nur zu 14 %, wenn wir nachrechnen bzw. wenn wir dem Ergebnis glauben dürfen, das ausgerechnet worden ist.
Ich bin heute fürbaß erstaunt, wie oft ich aus Ihrem Munde hören mußte, wie toll das doch mit Art. 3 der Verfassung geworden ist. Ich glaube, Sie haben eine Erinnerungslücke. Ich war dabei und kann mich gut erinnern, daß es fast zu nichts gekommen wäre, weil nämlich die Gespräche der Berichterstatterinnen geplatzt sind. Der Grund war nicht, daß die Frauen aus Ihrer Fraktion nicht wollten. Das war in der Tat nicht der Punkt. Aber es war offenbar nicht möglich, die Männer der CDU/CSU dahinzubringen, endlich zu akzeptieren, daß Frauen gleichberechtigte Wesen sind und nicht etwas Unmenschlicheres als Männer.
Was haben wir denn zustande bekommen? Einen Minimalkonsens, bei dem das Wörtchen Gleichstellung nicht einmal in der Begründung fallen durfte. Stolz können wir wahrlich nicht darauf sein. Was allerdings richtig ist: Das ist ein kleines Hoffnungszeichen.
Mit dieser Regierungserklärung wird zwar die Gleichberechtigung nicht bestritten - wie man auch an diesem Satz sehen kann -, aber Frauen haben darin keine Chancen. Sie haben ein Gleichberechtigungsgesetz passieren lassen, das dem anfangs zitierten Satz alle Ehre macht. Keine Chancen für Frauen
auf dem Arbeitsmarkt. Wissen Sie eigentlich, was es für Frauen im Osten Deutschlands bedeutet, aus einem Bereich ausgegrenzt zu werden, der sie früher unabhängig und eigenständig gemacht hat? Jetzt sind viele von ihnen nicht nur arbeits- und chancenlos - weil sie einmal Frau sind und womöglich auch noch Kinder haben -, sondern sie sind jetzt sogar abhängig von der Sozialhilfe.
In Ihrer Regierungserklärung steht, daß Anreize geschaffen werden müssen, die Sozialhilfe, wenn es irgend geht, freiwillig wieder zu verlassen. Ich empfinde das als eine Verhöhnung all derer, die von der Sozialhilfe leben müssen, weil die Strukturen dieses Landes, die Sie maßgeblich mitbestimmt haben, diese Menschen überhaupt erst dort hineingeschoben haben. Das ist eine Verhöhnung der Frauen, Kinder und Jugendlichen, die überhaupt nicht mehr anders können, als von diesem Geld leben zu müssen. Ich finde, das ist ein Unding. Das sagt etwas aus über das Menschenbild und das Frauenbild, das offenbar in Ihrer Fraktion vorherrschend ist.
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Wissen Sie nicht, was es für Frauen bedeutet, auf Familie und Kindererziehung begrenzt zu werden, ohne daß von Ihnen hier auch nur ein Signal ausgeht? Es wäre z. B. demokratisch und gerecht, auf dem Arbeitsmarkt wirklich gleiche Chancen für Frauen und Männer zu schaffen, etwa durch die Neuaufteilung von Arbeit. Sie fordern aber Teilzeitarbeit für die Frauen, wahrscheinlich damit sie auch weiterhin ihre Mehrfachbelastung zugunsten der Männer unter einen billigen Hut bekommen.
Frau Kollegin Hanewinckel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Link?
Ja, bitte, Herr Kollege.
Bitte, Herr Kollege.
Frau Kollegin Hanewinckel, sind Sie bereit zuzugeben, daß es beim Empfang der Sozialhilfe auch Mißbrauch gibt? Wenn ja, dann haben wir dies damit gemeint.
Ich gebe Ihnen zu, daß es bei der Sozialhilfe Mißbrauch gibt. Wie die Wohlfahrtsverbände, die vorrangig damit zu tun haben, festgestellt haben, gibt es bei der Sozialhilfe einen Mißbrauch von einem Prozent. Ich finde es langsam wirklich unerträglich, daß wir an dieser Stelle immer wieder in die Mißbrauchsdebatte eintreten,
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wo wir doch von einem einzigen Prozent reden. Von den 99 %, die die Sozialhilfe zu Recht bekommen, weil dies nach unserem Grundgesetz für Menschen in schwierigen Lebenslagen so vorgesehen ist, redet bei Ihnen offenbar kaum noch jemand.
Was haben Frauen, vor allen Dingen die im Osten Deutschlands, von Ihnen, Frau Nolte, bei der Neuregelung des § 218 zu erwarten? Sie wissen, daß Frauen in Ost und West sehr wohl in der Lage sind, verantwortlich Kinder zu erziehen. Vater Staat läßt sie dabei, wenn die Kinder erst einmal da sind, bekanntlich auch ziemlich alleine hantieren. Aber bei der Frage der eigenverantworteten Entscheidung für ein Kind ist Frau plötzlich beratungs- und strafbedürftig.
Ihre Forderung - Sie haben sie zwar nicht heute aufgemacht, aber wir haben ein ganz gutes Erinnerungsvermögen -, für eine Abtreibung ein Jahr Arbeit im Krankenhaus, quasi als Strafversetzung, leisten zu müssen, ist für mich abenteuerlich. Da werde ich an das Mittelalter erinnert.
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Ich hoffe sehr - Sie haben das ja vorhin auch angedeutet -, daß Sie an dieser Stelle, auch wenn Ihnen das schwerfällt dies kann ich akzeptieren , umschwenken werden. Wenn Sie, Frau Nolte, das aber nicht schaffen, dann werden Sie die Erfahrung machen, daß Sie nicht die Ministerin der Frauen Deutschlands sind, sondern bestenfalls die Ministerin einer Randgruppe.
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Ich kann Ihnen hier und heute versprechen, daß die Frauen der SPD-Bundestagsfraktion eine demokratisch verantwortete und gerechte Gleichstellungspolitik für dieses Land mitmachen werden - aber unter dem sind wir nicht zu haben.
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Zum letzten, der Jugendpolitik. Herr Kohl sagt: „Wir brauchen die Träume und die Dynamik der Jugend. " Schon die Lektüre der Koalitionsvereinbarung unter dieser Überschrift war sehr enttäuschend. Wer irgendeinen Hinweis auf Jugendpolitik gesucht hat, hat ihn vergeblich gesucht. Nix von Traum, nix von Dynamik!
Wer Böses denkt, dem fällt spätestens jetzt wieder ein, daß sich die Bundesregierung mit Erfolg davor gedrückt hat, dem Bundestag den 9. Jugendbericht bis zum Ablauf der letzten Legislaturperiode zuzuleiten, wie sie es gemußt und auch gekonnt hätte; denn die Sachverständigen waren bereits im März 1994 mit ihren Arbeiten dazu fertig. Dieser Bericht, der sich schwerpunktmäßig mit der Situation in den neuen Ländern beschäftigt, macht das Versagen der Bundesregierung hinsichtlich der Angleichung der Lebensbedingungen von Jugendlichen in Ost und West drastisch deutlich und richtet gleichzeitig hohe Erwartungen an künftiges Regierungshandeln.
Einige zentrale Forderungen: Die Förderung der .Jugendarbeit muß deutlich verbessert werden. Die Jugendverbände sind zu unterstützen in ihrem Bemühen, Interessen und Bedürfnisse Jugendlicher aufzugreifen und sie zu vertreten. Das ehrenamtliche Engagement in Jugendverbänden ist anzuerkennen und zu fördern. Und es ist notwendig, den freien Zusammenschluß junger Menschen zu Selbsthilfegruppen anzuregen und zu unterstützen. Ein ganz wichtiger Punkt ist: Die politische Bildung muß im Rahmen der
Jugendarbeit einen besonderen Schwerpunkt darstellen; es ist vermutlich mit das wirksamste Mittel zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt.
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers ist auf all diese Forderungen - die er vermutlich kennt, weil ihm der Jugendbericht ja schon vorliegt - nicht eingegangen, er ist uns hier eine Antwort schuldig geblieben. Auch Frau Nolte hat diese Forderungen nicht aufgenommen, obwohl sie als ehemalige jugendpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion hier einiges hätte bieten müssen. - An dieser Stelle bin ich sehr enttäuscht von Ihnen.
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Wen wundert es nach dieser Regierungserklärung, wenn junge Menschen das Gefühl haben, die Politik kümmere sich nicht um sie, sondern vorrangig um sich selbst, sie sei inkompetent und den tatsächlichen Herausforderungen für die Gestaltung ihrer Zukunft nicht gewachsen? Die Jugendpolitik dieser Bundesregierung - wenn sie überhaupt stattfindet - reagiert nur noch administrativ, um angefallenen Schaden soweit wie möglich in Grenzen zu halten. Nicht das Prinzip der Prävention, sondern das hilflose Reagieren auf soziale Eklats, z. B. in Ihrer Forderung, Frau Nolte, das Jugendstrafrecht zu verschärfen, bestimmt die staatliche Förderungs- und Forderungspolitik.
Es wird höchste Zeit, meine Damen und Herren, daß die verhängnisvolle Politik in diesen vier Bereichen, die das Haus in Zukunft zu verhandeln haben wird, umgekehrt wird. Ob dazu seitens der Mehrheit dieses Hauses auch nur graduell Bereitschaft besteht, werden wir spätestens bei den bald anstehenden Haushaltsberatungen erfahren.
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Träume und Dynamik der jungen Frau Nolte, Erfahrung vom alten Kanzler: Meine Damen und Herren, in der Regierungserklärung stand beides nicht zur Verfügung. Wir sind gespannt, Frau Nolte, auf Ihre ersten hundert Tage. Dann werden wir Sie sehr ernst nehmen, und dann werden Sie uns auch hier und anderswo Rede und Antwort stehen müssen.
Vielen Dank.
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Die Kollegin Ortrun Schätzle hat das Wort.
I Zerr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers deutlich wurde, nimmt die Familienpolitik im Bereich der einzelnen Politikbereiche eine zentrale Stellung ein. Ich meine, Frau Hanewinckel, zur Familie gehören Kinder, gehören Erwachsene und Senioren. Damit umfaßt die Familienpolitik praktisch alle Generationen und Lebensbereiche.
Es muß dabei bleiben, daß Familienpolitik in diesem Bündel einer Politik für alle Generationen auch in Zukunft eine Schlüsselfunktion einnimmt. Sie muß
unbedingt eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre bleiben.
({0})
- Das war in den letzten Jahren schon so.
In dieser Überzeugung hat auch die bisherige Ministerin für Familie und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, gearbeitet. Ich möchte ihr dafür danken, daß sie die Familienpolitik und eine neuformulierte Seniorenpolitik mit sehr großem Geschick und überzeugender Menschen- und Sachkenntnis gestaltet hat.
({1})
Ich wünsche der neuen Ministerin für Jugend, Frauen, Familie und Senioren, Frau Claudia Nolte, auch eine gute Hand, diese an den Lebenswelten unterschiedlicher Generationen orientierte Politik erfolgreich fortzusetzen.
({2})
Ich finde die Kritik, die gerade von seiten der Opposition und vorrangig von Ihnen, Frau Hanewinckel, kam, im Vorfeld einer solchen Aufgabe sehr unloyal.
({3})
Sie verderben einem Neuling - ich darf in diesem
Falle sagen: einer jungen Frau, für die Sie eigentlich immer verantwortungsvolle Ämter einfordern - eine Chance, indem Sie die Chance zerreden.
({4})
Ich glaube, es gehört nicht zur politischen Kultur dieses Hauses, daß wir so verfahren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Familienpolitikerin sehe ich einen sehr wichtigen Teil unserer Zukunftspolitik in der Familienpolitik. Ich war dafür dankbar, daß unser Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die Wertigkeit der Familie so hervorgehoben hat; denn allen Unkenrufen zum Trotz und das muß immer wieder öffentlich gesagt werden - hat auch die Familie in der heutigen Gesellschaft nichts an Bedeutung verloren.
Junge Menschen wollen Familie. Also machen wir Politik für junge Familien, indem wir eine gute Familienpolitik machen.
({5})
Die Familie hat trotz einschneidender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen und trotz eines starken Funktions- und Strukturwandels, auch trotz ihrer Mängel und Schieflagen, die junge Menschen erkennen, nichts von ihrem Wert verloren.
Sie hat sich gerade für junge Menschen als die beständigste und krisenfesteste Form menschlichen Zusammenlebens bewährt. Der Bundeskanzler hat noch einmal betont, daß sie gerade der Ort ist, an dem Liebe, Zuneigung und Verläßlichkeit, auch Toleranz erfahren und gelebt werden können.
Wenn wir in die heutigen Lebenswelten von Familie hineinsehen, dann stellen wir fest, daß trotz der räumlichen Trennung Solidarität zwischen Jung und
Alt gelebt wird. Das Beziehungsnetz hält. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung, Pflege und Fürsorge werden oft über kilometerweite Strecken hinweg garantiert und in einem großen Ausmaß erbracht. Der Wille, dies zu tun, diese Leistungen und Pflichten im Familienverband zu übernehmen, ist weiterhin vorhanden. Das ist etwas sehr Positives.
({6})
Als Vertreterin der bisherigen Arbeitsgruppe „Familie und Senioren" möchte ich die Eckpunkte nennen, die für eine zukünftige Familienpolitik wichtig sind. Zum ersten muß Politik weiterhin den hohen Wert der Familie immer wieder bewußt machen und die gesamten Rahmenbedingungen so gestalten, daß sie den stark veränderten heutigen Lebens- und Arbeitsmustern in ganz unterschiedlichen familialen Konstellationen gerecht werden. Das sind die Eltern mit Kleinkindern, mit Heranwachsenden, die alleinerziehenden Väter und Mütter, die Großeltern, die alleinlebenden Senioren, die Adoptiv- und Pflegeeltern, Familien in den alten und neuen Bundesländern und Ausländerfamilien.
Zum zweiten. Wir Christdemokraten, gerade die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Familie und Senioren", möchten auch in der kommenden Legislaturperiode - hierbei stehen wir auf dem Boden der Regierungserklärung - Politik nach christdemokratischen Grundsätzen vollziehen. Dies äußert sich darin, daß wir berücksichtigen wollen, wie es der 5. Familienbericht deutlich gemacht hat, daß über 80 % unserer Bevölkerung zu Ehe, Familie und Kindern stehen. Wir wollen außerdem eine Familienpolitik auf dem Boden des Grundgesetzes. Das heißt für uns: Ehe und Familie stehen unter dem Schutz des Staates ebenso wie jedes einzelne Menschenleben. Das ungeborene Kind, Kranke, Behinderte, Gebrechliche oder Sterbende, die auch zur Familie gehören: jeder hat ein Recht auf Unverfügbarkeit seines Lebens.
({7})
Zum dritten. Wir fordern eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft, die Kinder als Bereicherung unseres Lebens anerkennt, die Rücksicht nimmt, die Toleranz übt und sich solidarischer und verantwortungsvoller verhält, als dies bisher manchmal der Fall war.
({8})
Zum vierten. Wir wollen die Erziehungsfähigkeit junger Eltern fördern; denn wir kennen ihre Unsicherheit gerade in einer Gesellschaft, die von Individualisierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist. Die Ministerin hat vorhin eine wertorientierte Erziehung als Ziel genannt hat. Auch das ist es, was junge Eltern suchen und wo sie Leitbilder brauchen.
Zum fünften. Wir wollen an der dualen Familienförderung festhalten. Wir unterstützen eine Politik, die den Familienlastenausgleich zum Familienleistungsausgleich fortentwickelt - die Inhalte sind vorhin genannt worden -, denn neben der steuerlichen Entlastung von Familien durch Anhebung des Kinder240
freibetrags muß auch das Kindergeld, eventuell in Form von ausgleichenden Transferleistungen, stärker am Einkommen und an der Kinderzahl orientiert werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich darf gerade diesen Satz zu Ende führen.
Wenn die Kritik darin bestand, daß wir Not und Armut von Familien definieren müßten, dann kann ich nur sagen: Das kann nicht auf Grund eines Sozialhilfesatzes geschehen; denn auf Sozialhilfe besteht in unserem Land ein Rechtsanspruch, und sie will gerade die Armut verhindern.
({0})
Sie gestatten die Zwischenfrage von Frau Kollegin Schmidt?
Frau Schmidt, bitte.
Frau Kollegin Schätzle, vielleicht können Sie, da Sie dieses Thema gerade noch einmal ansprechen, mir vielleicht meine Frage beantworten. Sie sagen, Sie halten am dualen System der Familienförderung fest. Sie wollen den Kinderfreibetrag in der Steuer erhöhen. Sie wissen genausogut wie ich, daß eigentlich nur diejenigen das voll in Anspruch nehmen können, die in diesem Land wirklich auch ausreichend Steuern bezahlen dürfen; denn sonst kann ich nichts einsparen. Sie sagen, daß das Kindergeld auf die wirklich Bedürftigen reduziert werden soll. Dürfte ich von Ihnen einmal wissen, in welcher Höhe das Einkommen einer wirklich bedürftigen Familie ungefähr liegt? Mich macht es immer etwas mißtrauisch, wenn davon die Rede ist, daß eigentlich schon die Sozialhilfeempfänger zu denen, die ausreichend versorgt sind, gehören: Wo ist die Grenze zu setzen?
({0})
Liebe Frau Schmidt, Sie wissen so gut wie ich, daß weder die Armut definiert ist noch wir das Existenzminimum definiert haben. Sie wissen, daß dies eine Aufgabe dieser Legislaturperiode wird. Wenn Sie nun die Transferleistungen an einer Bemessungsgrenze ermittelt haben wollen, dann darf ich Sie nur auffordern, in dieser Legislaturperiode tüchtig mitzuarbeiten, damit wir auch hier zu einem gerechten Ansatz von Bemessungsgrundlagen kommen.
({0}) Ich möchte gerne weiterfahren.
Sechstens. Ich begrüße auch die Absicht der Koalitionsvereinbarung, daß Wohneigentumsförderung, vor allen Dingen für Familien mit Kindern, verstärkt wird. Es wurde schon einige Male gesagt: Junge Familien und Alleinerziehende brauchen mehr, familiengerechtere und preisgünstigere Wohnungen.
Siebtens. Wir unterstützen jede Anstrengung, die Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit zu erleichtern. Helmut Kohl hat auch hier in seiner
Regierungserklärung darauf abgehoben. Denn gerade im Arbeitsleben und in der Arbeitswelt wird den Bedürfnissen von Familien noch zuwenig Rechnung getragen. Dazu kommt auch das, was der Bundeskanzler im Hinblick auf das öffentliche Leben und die Dienstleistungsbetriebe genannt hat. Kindergärten und Betriebe und Geschäfte haben zu starre Öffnungszeiten. Da brauchen wir genauso wie in der Arbeitswelt flexiblere Lösungen, um eine Koordination von Familienbetreuung und Arbeitswelt besser zu gewährleisten. Wir brauchen auch und das wissen wir, obwohl das mehr die Kommunen betrifft - mehr und vielfältigere Kinderbetreuungseinrichtungen, denn gerade dadurch, daß wir den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz aufrechterhalten, muß auch vor Ort die Einrichtung dazu angeboten werden.
Achtens. Wir plädieren dafür, Eigenverantwortung und Eigenvorsorge im Gesundheitswesen zu fördern, stellen uns aber gegen eine Abschaffung der Familientarife in der Krankenversicherung, wie es verschiedentlich in den letzten Tagen in der Presse angekündigt wurde.
({1})
Neuntens. Wir fordern eine Familienpolitik für die Mehrgenerationenfamilie, denn gerade die Seniorenpolitik, die von der bisherigen Ministerin Hannelore Rönsch hervorragend aufgebaut wurde und sich auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit als wichtiger Baustein unserer Gesellschaftspolitik gefestigt hat, muß weitergeführt werden.
({2})
Alt sein und alt werden hat heute nichts mehr ausschließlich mit krank sein und gebrechlich sein zu tun, sondern es geht heute um eine Politik für aktive Senioren,
({3})
die ihre Selbständigkeit bewahren wollen, die weiterhin am gesellschaftlichen Leben Anteil haben wollen. Deshalb dürfen wir eine Politik für Senioren nicht nur auf eine Politik für die Pflegebedürftigen reduzieren.
({4})
Dadurch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sehen Sie, verengt sich Familienpolitik nicht auf Finanzpolitik für Familien, sondern Familienpolitik hat ihre eigenen gesellschaftspolitischen Schwerpunkte in den einzelnen Zielgruppen Jugend, Erwachsene und Senioren. Familienpolitik ist aber gleichzeitig auch eine Querschnittsaufgabe aller politischen Bereiche und der gesellschaftlichen Gruppierungen.
({5})
Ich fordere uns deshalb auf, alle, auch die Opposition, mit allen Kräften daran zu arbeiten, um auf die drängenden Fragen unserer familialen und gesellschaftlichen Veränderungen durch eine zukunftstragende Familienpolitik die richtigen Antworten zu geben.
Ortrun Schätzle Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Falk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Auch ich sage etwas zur Familienpolitik.
({0})
Die mich kennen, haben das sicherlich auch nicht anders erwartet. Zur Frauenpolitik ist schon soviel gesagt worden. Sie ersparen uns auch keine Wiederholungen. Deswegen ist es nötig, zum Abschluß der Debatte noch einmal deutlich zu machen, warum wir immer wieder das Feld Familienpolitik ansprechen und das, was Sie als Ideologie bezeichnen, so herausstellen: was den Wert für die Gesellschaft insgesamt ausmacht.
Ich will es an zwei Beispielen festmachen, die mir bei den ganzen Diskussionen erheblich zu schaffen machen, und zwar schlagwortartig. Kinder scheinen sich bei uns erstens immer mehr zu lästigen Karrierehindernissen zu entwickeln und zweitens zu unerträglichen finanziellen Belastungen, die ihre Eltern zu unsäglichem Verzicht auf viele liebgewonnene Gewohnheiten zwingen. Man liebt sie zwar und sorgt dafür, daß sie an allen Angeboten, die ihrer optimalen Entwicklung dienen, teilhaben können, aber gleichzeitig ist nur der Staat ein guter Staat, der möglichst früh ein umfassendes Angebot der Betreuung zur Verfügung stellt, damit Mann und Frau möglichst wenig von den freiheitsbeschränkenden Auswirkungen des Kindes zu spüren bekommen. Dazu wird suggeriert, daß bereits der rechnerische sprich: materielle - Gegenwert des Kindes, ausgezahlt in Mark und Pfennig, endlich wieder die Glückseligkeit in den Familienalltag bringt.
Meine Damen und Herren, sind Kinder wirklich nicht mehr als ein CD-Player, den wir auf die Liste der Luxusgüter zur Komplettierung des Haushalts setzen und uns irgendwann leisten können? Natürlich bin ich auch dafür, daß wir die Lasten aus der Erziehung von Kindern durch einen gerechteren Familienleistungsausgleich deutlich verringern. Aber sind wir uns eigentlich im klaren darüber, wieviel Leistung der Staat inzwischen erbringen soll und muß, weil sich die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Zusammenhänge grundlegend geändert haben, weil wir sehr viele individuelle Lebensformen ohne Rücksicht auf das Ganze ausleben? Hier ist auch anzusiedeln, daß Sozialhilfe an viel mehr Stellen eintreten muß, als es früher der Fall gewesen ist: weil wir uns Individualität leisten. Das ist keine Diskriminierung der Frauen, die mit ihren Kindern Sozialhilfe bekommen, sondern es ist eine Hilfe, die der Staat an dieser Stelle leistet.
({1})
Ich will auf die Notwendigkeiten eingehen, die sich aus dem veränderten Gebilde Familie für die zukünftige Politik ergeben, und an den Beginn stellen, daß trotz aller Schwarzmalerei von dem Verfall herkömmlicher Familienstrukturen die Mehrheit der Deutschen nach wie vor einen hohen, wenn nicht den höchsten Stellenwert bei ihrer Lebensplanung der Familie zumißt. Für sie ist die Familie unverändert das Zusammenleben von Eltern mit Kindern, von G enerationen, auch wenn vom großen Haus, dem Zusammenleben von ein bis vier Generationen, nicht mehr übriggeblieben ist als die moderne Kleinfamilie. Mehr noch: Einelternfamilien, Alleinerziehende mit Kindern, Patchworkfamilien - alle diese Fachausdrücke belegen die gewandelte familiäre Struktur. Selbst innerhalb der traditionellen Familienform haben sich immense Veränderungen ergeben. Zu den neuen Familienformen haben sich vielfältige Lebensformen ohne Kinder gesellt, die früher eher ein Rand- oder Ausnahmedasein führten.
Das sind Tatsachen das betone ich -, die wir zur Kenntnis zu nehmen haben, weil wir sie mit Sicherheit nicht zurückdrehen können und auch nicht zurückdrehen wollen sollten. Aber diese Komponenten schaffen veränderte Bedingungen für das Zusammenleben in der Familie wie auch in der Gesellschaft insgesamt.
Viele Selbstverständlichkeiten, die früher von Familien und in der Familie geleistet wurden, von Kinderbetreuung über Pflege von Angehörigen, Einheit von Haus- und Arbeitsbereich, Kontakt und Hilfe in der Nachbarschaft, solidarische Einbindung von Randpersonen, sind heute aus dem Funktionsbereich der Kleinfamilie verdrängt. Zunehmend ist der Staat, d. h. die Politik, gefordert, hier Ersatzfunktionen zu übernehmen: Kindererziehung in Krippe, Tagesstätte und I fort, Lebensversicherung von der Wiege bis zur Bahre, Dienstleistungsangebote rund um die Uhr, ausgefeilte Bildungs- und Freizeitangebote in Vereinen und Verbänden und schließlich weil dabei so einiges schiefgeht - umfassende Beratungsangebote für alle Problembereiche.
Familienpolitik, meine Damen und Herren, darf nicht entmündigen. Vielmehr sollten Eltern zur Erziehung ihrer Kinder ermutigt werden und nicht unter dem Druck stehen, nur pädagogisch geschulte Kräfte könnten Optimales für die Entwicklung ihrer Kinder erreichen. Ich schlage vor: Wo ihnen die Erfahrung fehlt, sollte man über geeignete Formen der Vermittlung von Grundbegriffen und Werten in der Erziehung durch Schulungsangebote nachdenken. Schließlich können wir für fast alles amtliche Zertifikate erwerben; nur zur Erlernung der Grundbegriffe der Erziehung und Konfliktlösung im Alltag ist uns bisher noch nicht viel Praktikables eingefallen.
Wenn Eltern mit Kindern allerdings unter Ausgrenzung und finanziellen Benachteiligungen leiden, wenn sie die Geringschätzung der Leistungsträger und derer, die sich dafür halten, spüren, dann steht es schlecht um die Zukunft der Familie, dann steht es schlecht um unser Land, um unser aller Zukunft. Deshalb, so finde ich, verdient das wiedervereinigte Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Bezeichnung Zukunftsministerium zumindest ebenso wie das so genannte.
({2})
Es ist das einzige Ressort, das schon in der Bezeichnung Menschen in den Mittelpunkt stellt, Bevölkerungsgruppen, deren Interessen auf Grund zahlreicher gesellschaftlicher und struktureller Benachteiligungen besonders wahrgenommen und gefördert werden sollen. Insofern ist es allen anderen Bereichen übergeordnet; seine Aufgaben sind nur als Querschnittsaufgaben zu bewältigen, was an der Politik für junge Menschen besonders deutlich wird.
Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Friedens- und Verteidigungspolitik, der Umwelt, der inneren Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit wirken sich unmittelbar auf die Situation junger Menschen in Staat und Gesellschaft aus. Alle hier gefällten Entscheidungen sind Politik für die Jugend, Politik für junge Menschen, ist Investition in die Zukunft, in ihre und in unsere eigene. In alle hier genannten Bereiche sollten wir uns also immer wieder mitberatend einmischen.
Wenn man Jugendliche fragt, was sie heutzutage am meisten bedrückt, so ist es neben allgemeinen Sinn- und Orientierungsschwierigkeiten häufig die Sorge um die eigene berufliche und damit auch um die familiäre Zukunft. Jungen Menschen Zukunftschancen zu eröffnen heißt deshalb auch, ihnen Ausbildungs- und Arbeitsplätze bereitzustellen. Nur wenn wir die beruflichen Perspektiven für die heranwachsende Generation verbessern - dazu gehört im engeren Sinne die Aufwertung der beruflichen Bildung genauso wie die Entlastung und Reform der Hochschulen -, erleichtern wir jungen Menschen auch das Ja zur Familie.
Dieses Ja zur Familie, einer der Schwerpunkte der Regierungspolitik der nächsten vier Jahre, stellt leider immer noch vor allem junge Mädchen und Frauen vor schwierige Entscheidungskonflikte. Zugegeben, hier kann der Staat nicht alle Probleme lösen; denn eine zielorientierte Lebensplanung ist nun einmal durch die seit der Schöpfung unveränderte Biologie des Kinderkriegens für Frauen schwerer. Sie müssen Berufsausbildung, Berufseinstieg, Familiengründung usw. parallel hinkriegen oder sich entscheiden, an welcher Stelle sie zunächst Verzicht leisten.
Daß Männer demgegenüber eine Zeitspanne bis zum 35., 40. Lebensjahr ohne wachsenden Entscheidungsdruck zwischen Beruf und Familiengründung verstreichen lassen können - biologisch problemlos natürlich noch viel länger - sollte man sich ab und zu einmal klarmachen. Allein dieses gibt ihnen bessere berufliche Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten. Selbst wenn in dieser wichtigen Phase Kinder geboren werden, bleibt die Karriere in der Regel ungestört, weil die Wirklichkeit noch immer vom Bild des Mannes als dem Ernährer der Familie geprägt ist. Dabei möchte ich betonen, daß die Frauen diese Aufgabe in aller Regel mit großer Freude annehmen. Trotzdem sollte man bei dem Hinweis „Aber Kinder bereichern doch das Leben ungemein" das tun sie nun wirklich - nicht vergessen: Das muß dann gleichermaßen für Frauen und Männer gelten.
Der Wiedereinstieg nach der Familienphase ohne Karriereverlust ist ein nach wie vor nur in Ansätzen gelöstes Problem. Eine Teilzeitoffensive, die von
Beförderungen und Leitungsfunktionen abgekoppelt ist, hat ihren Sinn verfehlt.
In der Bereitstellung von zukunftssicheren Arbeitsplätzen, der Garantie wirtschaftlicher Sicherheit und der Ermöglichung praktikabler Familienlösungen kann sich der Querschnittsbereich Jugendpolitik allerdings nicht erschöpfen. Rechtliche Rahmenbedingungen und wirtschaftliche Eckdaten allein machen junge Menschen nicht glücklich. Ohne Heilsbotschaften oder Allheilmittel zu verkünden, ohne der Gefahr zu erliegen, antiquierte oder starre Lebensvorstellungen zu vermitteln, muß Politik jungen Menschen Orientierung anbieten.
Auch in wirtschaftlich angespannter Zeit muß gelten, daß Begabung und Begeisterung eine Chance erhalten und junge Menschen das Recht haben, Umwege zu gehen und sich auszuprobieren, ohne daß ihnen dadurch berufliche oder gesellschaftliche Nachteile entstehen.
Mut zur Zukunft zu vermitteln soll dabei unser Ziel sein, zu verhindern, daß sich orientierungsschwache Jugendliche gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen und in die Isolation flüchten.
Der Zulauf, den Jugendsekten erfahren, steigender Drogenkonsum und die zunehmende Akzeptanz oder gar Anwendung von zielloser oder zielgerichteter Gewalt sind Alarmsignale, sind Zeichen dafür, daß unsere Gesellschaft ihren Schutzverpflichtungen nur unzureichend gerecht wird.
Gesprächsbereitschaft und Zeit zum Zuhören müssen hier bei Erwachsenen ganz dringend Vorrang haben vor Freizeitpark, Health-Center, Joggingbahn und Shopping-Mall - Räume, die immer größer werden und in denen Kinder und Jugendliche stören.
Die Förderung von Jugendarbeit sowie Jugendverbandsarbeit muß kontinuierlich fortgeführt werden. Das Engagement von Jugendlichen im politischen, sozialen, kirchlichen, kulturellen und sportlichen Bereich bietet Orientierungsmöglichkeiten und vermittelt einen verantwortungsvollen Umgang miteinander.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Ich bin sofort fertig.
Das Erlernen und Erfahren von Gemeinsinn stiftenden Werten wie Menschlichkeit, Toleranz und Solidarität ist der beste Schutz gegen Gewaltbereitschaft und Intoleranz.
Dabei müssen die Rahmenbedingungen zur Entwicklung junger Menschen so gefaßt sein, daß ein Höchstmaß individueller Entwicklung und sozialer Erfahrung erlebbar wird. Schranken aufzuzeigen und Werte zu vermitteln und dabei gleichzeitig zu Kreativität und zu Nonkonformismus zu ermutigen,
Frau Kollegin, ich muß Sie bitten, zum Abschluß zu kommen.
- fit zu machen für die Übernahme von Verantwortung zum Mitdenken und
Mitgestalten ist die, wie ich meine, schwierigste Herausforderung einer zukunftsorientierten Jugend-und Familienpolitik.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Kirschner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu Beginn der Debatte über den gesundheitspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarungen wollte ich Sie, Herr Kollege Seehofer, zu Ihrer Wiederberufung als Gesundheitsminister eigentlich beglückwünschen. Ich würde Ihnen gerne eine glückliche Hand bei der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens und vor allem bei der Bewahrung der sozialen und solidarischen Krankenversicherung wünschen, vor allem aus der Verantwortung heraus, daß Gesundheit ein Gut ist, das sowohl für den einzelnen Menschen wie für unsere gesamte Gesellschaft von herausragender Bedeutung ist.
Wenn ich mir allerdings die Koalitionsvereinbarungen dazu durchlese, Herr Gesundheitsminister, dann bin ich mir sicher, Sie können gar keine glückliche Hand haben; denn Ihnen sind schon jetzt die Hände gefesselt.
({0})
Meine Damen und Herren, stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Im Jahre zweitausend X werden die Leistungsanbieter jährlich beträchtliche Einkommens- und Gewinnzuwächse verbuchen können. Die gesetzlichen Krankenkassen haben soeben den Sprung in den Verband der Privatversicherer geschafft. Die Beiträge für eine Mindestgesundheitsversorgung sind kontinuierlich gesunken. Der Arbeitgeberpräsident kann wieder durchatmen, weil sich die Arbeitgeber endlich nach Jahrzehnten des Ausstiegskampfes aus der gesetzlichen Krankenversicherung verabschieden. Als Belohnung für die Versicherten, die noch in Brot und Arbeit stehen, gibt es zu Weihnachten kleine Aktiengeschenke der in Aktiengesellschaften umgewandelten gesetzlichen Krankenkassen. Und statt eines vollwertigen Versicherungsschutzes halten die Versicherten ein wertloses Bonusheft in der Hand.
Meine Damen und Herren, das ist die Richtung, die Sie mit Ihrer Koalitionsvereinbarung einschlagen.
({1})
Ich sage Ihnen, Herr Bundesgesundheitsminister, Sie haben nur zwei Optionen: Entweder Sie erarbeiten im Konsens weitere Vorschläge zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung, wie wir sie in Lahnstein gemeinsam erarbeitet und beschlossen haben, oder Sie beschließen hier mit Ihrer Mehrheit Leistungskürzungen.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung heißt es - ich zitiere -:
Ausgabenentwicklung und Aufgabenumfang bleiben einnahmeorientiert.
Das heißt im Klartext: Die Zeche, die die Versicherten bezahlen müssen, besteht dann entweder darin,
daß höhere Zuzahlungen fällig werden, oder darin, daß auf medizinisch notwendige Leistungen verzichtet werden muß. Sie verstecken ihre Absichten hinter nebulösen Begriffen wie „Eigenverantwortung und Eigenvorsorge im Gesundheitswesen müssen gestärkt werden".
({2})
Oder auch: „Neubestimmung von Subsidiarität und Solidarität".
({3})
- Ja, ich sagte es ja auch.
Damit soll der Systemwechsel des Gesundheitswesens aus der Sicht der Regierungskoalition, aus der Sicht eines Teils der Leistungsanbieter und aus der Sicht der Arbeitgeber vorbereitet werden. Ganz sicher aber ist, daß das Leistungsniveau des Gesundheitswesens aus der Sicht der Versicherten und der Patienten dann nicht um-, sondern abgebaut wird.
Die medizinisch notwendige Vollversorgung, die wir bisher im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung haben, kann sich dann nur noch derjenige leisten, der dafür auch das notwendige Kleingeld im Portemonnaie hat.
({4})
Meine Damen und Herren, daß Sie dieses Szenario weit von sich weisen, ist nichts anderes als eine Pflichtübung; der Text Ihrer Koalitionsvereinbarung zu dem Thema „Weiterentwicklung des Gesundheitswesens", der zwar vage ist, läßt jedoch ohne Zusammenarbeit mit der SPD nur dieses Szenario zu. Denn gerade wegen fehlender sozial gerechter Perspektiven und ausgesparter Lösungsansätze zu dem zweifellos vorhandenen Problem der Knappheit der Mittel und der immer noch herrschenden strukturellen Verwerfungen auf der Leistungsanbieterseite ist klar, wohin die Koalitionspolitik gehen soll. Es geht um die Rationierung von Leistungen, und es geht Ihnen um eine Privatisierung von Gesundheitsrisiken. Damit ist mit all seinen sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Weg in die Mehrklassenmedizin vorgezeichnet. Ihre Koalitionsvereinbarung enthält keinen einzigen konkreten Hinweis darauf, daß das zum 1. Januar 1993 auf den Weg gebrachte Gesundheitsstrukturgesetz in seinen Reformmaßnahmen konsequent Schritt um Schritt umgesetzt wird.
({5})
Wenn aber, meine Damen und Herren, über die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens diskutiert wird, dann muß diese Diskussion auf der Grundlage der im Gesundheitsstrukturgesetz angelegten Reformen geschehen. Wir, d. h. alle in Lahnstein Beteiligten, haben dieses Gesetz gemeinsam erarbeitet und beschlossen. Die Bundesregierung, insbesondere Sie, Herr Bundesgesundheitsminister Seehofer, sind in der Verantwortung. Die Umsetzung dieses Gesetzes fordere ich namens der SPD ein. Das war und ist die Geschäftsgrundlage unserer Zusammenarbeit
und der Zustimmung zu diesem Gesundheitsstrukturgesetz.
Meine Damen und Herren, Ihre Ankündigung in der Koalitionsvereinbarung, auf der Grundlage des Endberichts des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen eine dritte Reformstufe vorzubereiten, bedeutet nichts anderes als einen weiteren Abbau der sozialen Krankenversicherung. Denn entsprechend den bei den Regierungsparteien in Mode gekommenen Begriffen wie z. B. „Eigenverantwortung und Eigenvorsorge sollen verstärkt werden" sind die Fragen vom Bundesminister für Gesundheit an den Sachverständigenrat formuliert worden. Der Sachverständigenrat antwortet also nur auf die tendenziösen Fragen, die er vom Bundesminister für Gesundheit vorgegeben bekommen hat. So wird z. B. von Ihnen gefragt: Was kann ausgegrenzt werden? Wo sind die Grenzen bei den Leistungen der Solidargemeinschaft? Welche Einkommensarten der Versicherten können neben ihren Löhnen zusätzlich herangezogen werden? Welche Wahltarife können den Versicherten angeboten werden, ohne daß dabei die Arbeitgeber belastet werden? Oder: Wie kann der reduzierte Grundleistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aussehen?
({6})
Das sind die Fragen, die Sie gestellt haben.
Und prompt will auch der Sachverständigenrat dann das vorhandene Problem der Knappheit der Mittel ausschließlich in der Sphäre der Versicherten lösen. Folgt man den bereits in einem Zwischenbericht dargelegten Vorschlägen das ist ja eine der wenigen klaren Aussagen in Ihrer Koalitionsvereinbarung -, dann werden die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung ausgehebelt.
({7})
Danach stehen der bisherige Arbeitgeberanteil bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, das Solidarprinzip, das Finalprinzip - das heißt, daß die Leistungen unabhängig von der Verursachung der Erkrankung erbracht werden -, das Sachleistungsprinzip und die medizinisch vollwertige Versorgung zur Disposition.
Meine Damen und Herren, dies steht ganz eindeutig im Zwischenbericht des Sachverständigenrates drin, schön umschrieben mit so Formulierungen wie Zwiebelmodell, Pfirsichmodell oder Tortenmodell. Kollege Zöller, Sie wissen es genau, das steht im Sachverständigenbericht drin. Wenn Sie sagen, auf der Grundlage dieser Vorschläge wollen Sie die gesetzliche Krankenversicherung aus Ihrer Sicht weiterentwickeln, dann bedeutet das eben den Abschied von der bisherigen solidarischen Krankenversicherung.
({8})
Meine Damen und Herren, ich finde, die Schlagzeilen vom vergangenen Sonntag haben es auf den Punkt gebracht, indem in einer Sonntagszeitung formuliert wurde: „Das sind Folterwerkzeuge für die Versicherten" oder „Die Koalition berät über Horrorliste". Genau darauf zielen Ihre strategischen Überlegungen
und die Ankündigungen ab, auf der Grundlage des Sachverständigenberichts die gesetzliche Krankenversicherung umzugestalten. Ich empfehle dem Bundesgesundheitsminister, der diese Zeitungsmeldungen ja nur dem Zeitpunkt nach, nicht dem Inhalt nach mit den Worten dementiert hat, der Inhalt habe mit der Wahrheit so viel zu tun wie eine Schildkröte mit dem Stabhochsprung, sehr schnell geeignete Schildkröten zum Trainieren zu suchen und vor allem die Latte nicht zu hoch zu legen.
({9})
Ich sage Ihnen: Wir werden es nicht zulassen, daß die gesetzliche Krankenversicherung einer Gesundheitspolitik zum Opfer fällt, bei der das Gemeinwohl auf der Strecke bleibt. Denn das Solidaritätsprinzip fordert die Solidarität der Starken mit den Schwachen ein, während hier die Solidarität der Schwachen mit den Starken eingefordert wird.
({10})
Meine Damen und Herren, Solidarität kennt ein eindeutiges Prüfungsmerkmal: Wie wirken die Maßnahmen auf die sozial Schwächeren, auf die Älteren und auf die chronisch kranken Menschen? Das ist auch der Maßstab, den wir Sozialdemokraten an Ihre Politik anlegen werden. Den Weg, den Sie offensichtlich ohne jegliche Not gehen wollen, den müssen Sie alleine gehen. Die SPD sieht jedenfalls keinen Grund zum Abbau des sozialen Krankenversicherungsschutzes,
Die Behauptung, aufgrund der demographischen Entwicklung sei die gesetzliche Krankenversicherung nicht mehr zu finanzieren, ist verantwortungslose Panikmache. Alle entsprechenden Bevölkerungsprojektionen gehen davon aus, daß die Alterspyramide für unser Sozialleistungssystem frühestens in 15 Jahren zu Problemen führt.
Die Gefahr für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung geht in viel stärkerem Maße von der offenen und versteckten Massenarbeitslosigkeit aus, der Lohnentwicklung sowie der herrschenden Verteilungspolitik. Seit 1982, also seit diese Koalition an der Regierung ist das ist ja auch ihr erklärtes Ziel -, ist die Lohnquote ständig gesunken. Angesichts sinkender Reallöhne und Renten droht sich dieses Problem, das Sie mit zu verantworten haben, weiter zu verschärfen.
Also weder die demographische Entwicklung noch der medizinische oder der medizinisch-technische Fortschritt und erst recht nicht der Wandel des Krankheitsspektrums rechtfertigen das, was Sie in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben und was trotz aller Dementis von Ihnen bestellte Sachverständige längst vorbereiten.
Ich biete Ihnen an, in Kooperation mit uns Sozialdemokraten eine moderne, finanzierbare und sozial ausgewogene Gesundheitspolitik zu konzipieren. Das Gesundheitsstrukturgesetz, zu dem wir Sozialdemokraten uns im Gegensatz zur Koalition immer noch eindeutig bekennen, ist eine historische Weichenstellung und die einzige Strukturreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, was unser Gesundheitswesen betrifft.
Für die Ausgestaltung des Systems der Gesundheitsversorgung und deren Finanzierung sind die strukturellen Reformelemente in diesem Gesetz von entscheidender Bedeutung. Hierdurch werden bestehende Strukturmängel abgebaut und das Selbststeuerungspotential der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt. Viele dieser Elemente bedürfen erst noch der weiteren Konkretisierung und der Umsetzung durch die Selbstverwaltungsorgane oder sie bedürfen noch der Verordnungen durch die Bundesregierung.
Positive Auswirkungen werden dabei insbesondere ausgehen von der Aufhebung des Selbstkostendekkungsprinzips im Krankenhaus und der Ablösung des tagesgleichen Pflegesatzes durch Sonderentgelte und Fallpauschalen oder der Verzahnung der Krankenhäuser mit der ambulanten Versorgung oder der neuen Grundlagen für die Vergütungsregelungen in der ärztlichen Versorgung, wie z. B. die Zusammenfassung von ärztlichen Leistungen zu Leistungskomplexen, oder der Organisationsform der ärztlichen Versorgung mit der Möglichkeit zur Anstellung von Ärzten durch Vertragsärzte, oder auch der unbefristeten Zulassung der noch bestehenden Polikliniken in den neuen Bundesländern.
Denken Sie aber auch an die Steuerung ärztlich verordneter Arznei- und Heilmittel mit der Erstellung einer Positivliste durch ein unabhängiges Institut „Arzneimittel in der Krankenversicherung". Dies sind echte Reformmaßnahmen, so wie es das Gesundheitsstrukturgesetz vorsieht. Dies ist alles erst in der Umsetzungsphase.
Hier ist der Ansatz für die Modernisierung und Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens. Darauf muß auch weiterhin aufgebaut werden. Dieser Reformkurs ist fortzusetzen. Bei der Koalitionsvereinbarung kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß bei der Koalition wenig Interesse vorhanden ist, das GSG konsequent umzusetzen.
({11})
Wir hatten in und nach Lahnstein zunächst die Hoffnung, daß die Koalitionäre nach der gescheiterten Jahrhundertreform Norbert Blüms
({12})
durch kräftigen Nachhilfeunterricht der SPD die wirklichen Ursachen der Probleme, nämlich mannigfaltige Ineffektivitäten und Ineffizienzen in allen Versorgungsbereichen, erkannt hätte. - Das ist nicht oberlehrerhaft. Liebe Frau Kollegin Babel, vielleicht erinnern Sie sich daran, was Sie für einen Gesetzentwurf im Jahre 1992 vorbereitet hatten. Dieser Gesetzentwurf hat doch keinerlei Strukturelemente beinhaltet, sondern ausschließlich höhere Selbstbeteiligungsregelungen für Versicherte und Budgetierung. Alles andere - deshalb ist es nicht oberlehrerhaft -, was an Strukturelementen in Lahnstein vereinbart wurde und was heute im Gesetz steht, sind Dinge, die von der SPD durchgesetzt worden sind. Das können Sie wohl nicht ableugnen.
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Da es in Ihrer Koalitionsvereinbarung nicht um Umbau, sondern um Abbau des Sozialstaates geht,
stelle ich fest: Diese Bundesregierung hat nichts hinzugelernt. Ich sage Ihnen, Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen können nicht nach der neoklassischen Wirtschaftstheorie, der Markt wird es richten, behoben werden. Ich halte Ihnen entgegen, was der Jesuitenpater Professor Hengsbach festgestellt hat:
({14})
Mehr Markt macht nicht gesund. Das werden Sie mir doch wohl zugeben.
Im übrigen lassen Sie mich an all diejenigen, die immer so viel mehr Markt fordern, sagen: Werfen Sie doch einmal einen Blick über den Zaun, nämlich den Zaun zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Krankenversicherung. Bei der letzteren verlief die Ausgabenentwicklung geradezu dramatisch. Von 1975 bis 1993 stiegen die Ausgaben in der Vollversicherung der privaten Krankenversicherung von 4,7 Milliarden DM auf 18,8 Milliarden DM. Die Anzahl der in der privaten Krankenversicherung vollversicherten Mitglieder stieg dagegen im selben Zeitraum lediglich von 4,2 Millionen auf 6,9 Millionen Versicherte an. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß bis 1989 privat Versicherte ohne größere Schwierigkeiten in das GKV-System wechseln konnten, was meist ältere Versicherte in Anspruch nahmen. Hierbei wurde die private Krankenversicherung um teure Risiken entlastet. Um so stärker ist dieser Ausgabenanstieg, der viel stärker ist als in der gesetzlichen Krankenversicherung, zu bewerten.
Anstatt Rationierung von Leistungen und damit Verlagerung von Gesundheitsrisiken in den privaten Bereich, wohlgemerkt ohne Not und noch mit ausreichenden Wirtschaftlichkeitsreserven im System,
({15})
erwarten die Menschen in unserem Land eine Gesundheitspolitik.
Lieber Kollege Dr. Thomae, ich sage es noch einmal: Setzen wir doch zuerst einmal das Gesundheitsstrukturgesetz konsequent um!
({16})
Das ist doch unser gemeinsamer Wille. Es geht hier darum, die Wirtschaftlichkeitsreserven auszuloten. Danach werden wir das prüfen. Wir können doch gar nicht sagen, wo, wenn das Gesetz noch nicht einmal in seinen Strukturelementen umgesetzt ist.
({17})
Wir haben es nicht umsonst gemacht, wenn ich beispielsweise an den Krankenhausbereich denke. - Ja, das ist in Ordnung. Aber reden Sie nicht von einer dritten Reformstufe, bevor wir nicht einmal dieses Gesetz konsequent umgesetzt haben! Darum geht es doch. Erst dann können Sie davon reden, wo wir noch Defizite haben, wo wir Nachholbedarf haben, wo Nachbesserungsbedarf ist. Sie senden ständig Signale an diejenigen aus, die dieses Gesetz sowieso nicht wollten; so als ob wir oder Sie es mit dem Gesetz nicht ernst meinten, Herr Bundesgesundheitsminister.
Meine Damen und Herren, es geht darum, daß wir eine Gesundheitspolitik benötigen, die den veränder246
ten Anforderungen und Erwartungen gerecht wird. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt. Diese Bundesregierung nimmt überhaupt nicht zur Kenntnis, wie fatal die Folgen einer fehlenden zielorientierten Prävention und Gesundheitsförderung sind. Sie haben es in den vergangenen Jahren versäumt, eine gezielte gesellschaftlich-präventive Gesundheitspolitik zu gestalten. Offensichtlich nimmt der Bundesminister für Gesundheit nicht zur Kenntnis, was in der deutschen Sozialmedizin und für Länder mit einer epidemiologischen Gesundheitsberichterstattung längst gesicherte Erkenntnis ist, nämlich die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod.
Diese Bundesregierung entfaltet, wenn überhaupt, vorwiegend Aktivitäten bei den verhaltensbedingten Gesundheitsrisiken. Die verhältnisbedingten Gesundheitsrisiken, also z. B. die Bedingungen, die in der Arbeitswelt oder in der Umwelt oder auch im sozialen Umfeld zu suchen sind, werden so gut wie völlig ausgeblendet. Die Bundesregierung nimmt damit in Kauf, daß die Zugehörigkeit zu sozialen Schichten über die Krankheitsrisiken und Lebenserwartungen mitbestimmt. Die Prävention und die Gesundheitsförderung werden wohl auch weiterhin nach dem Motto „Weiter so Deutschland" betrieben.
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Der Bundesgesundheitsminister wird weiterhin seine wesentlichen Energien darauf verschwenden, die Probleme zu verniedlichen, zu leugnen oder sogar so zu definieren,
({19})
daß er nicht zuständig sei, wie in der Antwort auf die Große Anfrage zur Prävention nachzulesen ist. Herr Kollege Kalb, ich empfehle Ihnen einmal die Antwort auf die Große Anfrage der SPD zur Prävention nachzulesen. Vielleicht sollten Sie dies tun, bevor Sie hier einen Zwischenruf machen, zu dem ich Ihnen sagen muß: Sie haben diese Antwort nie nachgelesen. Vielleicht wissen Sie nicht einmal, daß die SPD eine solche Große Anfrage gestellt hat.
({20})
- Ich sage Ihnen: Wenn Sie dies nachlesen, und wenn Sie das vergleichen, dann ist so etwas angesichts von millionenfach verlorenen und beschädigten Lebensjahren geradezu zynisch. Es entspricht der Ideologie der Bundesregierung, einer Individualisierung der Gesundheitsrisiken bzw. des Präventionsgedankens, die die Bedeutung von Verhaltenswirkungen nicht nur herunterspielt, sondern auch zu einer Schuldzuweisung gegenüber dem einzelnen Menschen führt.
Meine Damen und Herren, wir werden dafür sorgen, daß die soziale Krankenversicherung - das ist unsere Zielsetzung - erhalten bleibt. Wir werden auch dafür sorgen, daß die gesetzliche Krankenversicherung auch in Zukunft einen vollwertigen Krankenversicherungsschutz den Versicherten anbieten wird.
Wir werden auch dafür sorgen, daß dieses System zu tragbaren Beitragssätzen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanzierbar bleibt, und wir werden auch dafür sorgen, daß die gesetzliche Krankenversicherung nach vorne weiterentwickelt und nicht abgebaut wird.
Zu diesen Zielen bieten wir Ihnen die Zusammenarbeit an. Alles andere ist für uns nicht diskussionsfähig, und dies wird auf den entschiedensten Widerstand der SPD - sowohl hier im Bund als auch in den Ländern - stoßen.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat Bundesminister Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin zunächst dem Kollegen Kirschner sehr dankbar für die gebremsten Glückwünsche, für die Barmherzigkeit, mit der er wieder einmal mit mir umgegangen ist. Ich möchte allerdings den Verdacht des Bundesfinanzministers zurückweisen, daß ich ihm vorher Valium verabreicht hätte. Diesen Verdacht hat der Bundesfinanzminister gerade geäußert. Ich weise das ausdrücklich zurück.
Lieber Herr Kirschner, Sie haben über Dinge gesprochen, die nirgendwo stehen und die niemand beabsichtigt. Das deutsche Gesundheitswesen ist das leistungsfähigste auf der Welt, und es wird in dieser Legislaturperiode auch das leistungsfähigste auf dieser Welt bleiben.
({0})
Damit Sie nicht nachlesen müssen, sondern es unmittelbar von mir hören, sage ich Ihnen hier noch einmal zwei Dinge, die ich seit Wochen immer klar formuliert habe und die auch Bestandteil meines Dementis vom Wochenende waren. Es bleibt bei der beitragsfreien Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter den Bedingungen, die wir dort formuliert haben;
({1})
denn es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn diese Koalition auf der einen Seite überlegt, wie man die Familien mit Kindern und die Frauen, die zu Hause Kinder erziehen und nicht berufstätig sind, stärken kann, und auf der anderen Seite gleichzeitig überlegen würde, die beitragsfreie Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung abzuschaffen. Dies findet nicht statt. Dies ist logisch.
({2})
Meine Damen und Herren, das andere wird auch nicht stattfinden - das habe ich immer wieder gesagt -, nämlich daß es in der Bundesrepublik Deutschland für die ärztliche Dienstleistung eine Selbstbeteiligung geben wird. Der Besuch eines Arztes oder einer Ärztin darf nicht zum Privileg eines größeren Geldbeutels werden. Deshalb wird es keine Selbstbeteiligung bei einem Arztbesuch geben.
({3})
Diese beiden Dinge sind klar und auch immer wieder gesagt worden. Sie, Herr Kirschner, und Ihr Kollege Dreßler sowie viele andere führen eine reine Phantomdiskussion, indem Sie sich mit Dingen auseinandersetzen, die bei uns niemand beabsichtigt, schon gar nicht der Bundesgesundheitsminister.
({4})
Es wird jetzt immer wieder gesagt: Vollziehen wir doch zuerst das GSG, und überlegen wir dann, ob weiterer Reformbedarf besteht. Ist es in der Bundesrepublik nicht einmal möglich, eine Reform einzuleiten, bevor uns die Verhältnisse dazu zwingen? Jeder, der sich mit dieser Materie auskennt, weiß, daß wir mittelfristig, also 1995/96, weiteren Reformbedarf haben werden. Dies stellen wir nicht erst heute fest, sondern das sage ich seit Mai 1992, nachdem wir das GSG eingeleitet hatten. Wenn man die verschiedenen Umstände addiert, ergibt sich, daß sie zu dieser Reform zwingen.
Sie werden mit mir, Herr Kirschner, in den nächsten Tagen und Wochen erleben, wie sich die aktuelle Situation hinsichtlich der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung darstellt. Der Sparwille nimmt dort deutlich ab. Wir werden froh sein, wenn wir bis Ende 1995 mit den Sparwirkungen des GSG zu Rande kommen. Dazu kommen die ständig steigende Lebenserwartung, die ständig steigende Erwartungshaltung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit dieses Systems, der medizinische Fortschritt und der medizintechnische Fortschritt. Nicht einer dieser Gründe, aber die Addition aller dieser Gründe zwingt die Politik zu einer Reform.
({5})
Ich sage noch einmal: Wir sollten die Reformüberlegungen anstellen, bevor uns die Verhältnisse dazu zwingen. Das erwarten die Menschen von uns, die uns gewählt haben.
({6})
Der Reformbedarf besteht. Herr Kirschner, ich vermag nicht nachzuvollziehen, wieso Sie ihn immer wieder in Frage stellen, wieso Sie das Tempo, mit dem wir diese neue Reform angehen möchten, in Frage stellen, nachdem Sie selbst von seiten der SPD eine Kommission eingesetzt haben, die diesen weiteren Reformbedarf formulieren soll, und nachdem Sie selbst erst vor kurzem in der Öffentlichkeit erklärt haben, daß weiterer Reformbedarf spätestens 1996 und 1997 besteht. Sollen wir erst dann reformieren, wenn das Jahr 1996 bereits da ist, oder sollten wir nicht die Zeit bis zum Jahre 1996 nutzen, um diese Reformen vorzubereiten?
({7})
Es geht nicht darum, die bewährten Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Kopf zu stellen. Die Tatsache, daß die gesetzliche Krankenversicherung die leistungsfähigste auf dieser Welt ist, ist auch darauf zurückzuführen, daß wir die bewährten Prinzipien von Solidarität und Eigenverantwortung, von Selbstverwaltung, Therapiefreiheit und freier Arztwahl in der gesetzlichen Krankenversicherung
zusammengebunden haben. Das ist die Grundlage für die Leistungsfähigkeit dieses Systems.
({8})
Wir haben überhaupt keinen Grund, uns nach anderen Systemen umzuschauen. Alle Versuche, mit anderen Grundprinzipien das Risiko der Krankheit abzusichern, sind in der Menschheitsgeschichte gescheitert. Die Amerikaner sind mit ihrem Versuch gescheitert, das Krankheitsrisiko zu privatisieren. Sie dürfen in Amerika alles werden, nur nicht krank. Das andere Extrem, jedes Lebensrisiko in jeder Verästelung zu sozialisieren, ist auch gescheitert. Unter diesem System waren zwar alle Menschen gleich, aber alle gleich arm. Deshalb können diese beiden Pole, Privatisierung oder Sozialisierung von Lebensrisiken, für uns kein Vorbild sein.
({9})
Wir wollen die bewährten Prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung weiterentwickeln. Wir brauchen keine Revolution, sondern eine Fortentwicklung des Systems mit Augenmaß und Vernunft.
In den letzten zwei Jahren haben wir pausenlos den Vorwurf von Medizinern, Apothekern, Pharmaherstellern, Krankenkassen und Krankenhäusern gehört, wir hätten seinerzeit im Jahre 1992 viel zu schnell gehandelt. Die Beteiligten seien nicht ausreichend in die Vorbereitung der Gesundheitsreform des Jahres 1992 einbezogen worden.
Nun haben wir den großen Vorteil, daß die gesetzliche Krankenversicherung momentan finanziell kein Notfallpatient ist. Deshalb können wir in den nächsten Monaten in aller Ruhe mit den Beteiligten, und zwar mit allen Beteiligten, die neue Reform vorbereiten. Wir beginnen bereits in der zweiten Januarwoche mit den Krankenkassen und mit den Medizinern. Wir werden mit allen Beteiligten des deutschen Gesundheitswesens sprechen.
Wir haben für diese Gespräche keine Schubladenpläne, keine Geheimpläne, keine Vorgaben. Wir führen diese Gespräche ohne Tabu. Denn wir wollen jetzt einmal die Nagelprobe machen, ob diejenigen, die ständig beklagen, daß sie bei Reformen in der Gesundheitspolitik nicht ausreichend beteiligt worden sind, wirklich über eigene Alternativen und eigene Vorschläge verfügen. Das wollen wir ab Januar bei unseren Gesprächen einmal sehen. Wer sich bei diesen Gesprächen nicht beteiligt oder bei diesen Gesprächen nicht ausreichende Alternativen auf den Tisch legt, der meldet sich bei der Gestaltung der nächsten Gesundheitsreform ab.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?
Bitte, Herr Dreßen.
Herr Bundesgesundheitsminister, wenn Sie sparen wollen: Würden Sie vielleicht
jetzt schon abschätzen können, wie Sie die Grundlohnsummensteigerung im Jahr 1995 veranschlagen, nachdem Sie sich ja im Jahre 1994 total verschätzt haben, indem Sie den Kassen 3,2 % vorgegeben haben, die damit immense Ausgaben tätigen mußten, die nicht notwendig gewesen wären, wenn Sie eine richtige Prognose abgegeben hätten?
Wollen Sie in diesem Jahr wieder so überhöhte Prognosen abgeben? Ich meine, das wäre ja ganz gut. Dann geben wir diese Prognosen einmal an die Gewerkschaften weiter. Vielleicht sind die Ihnen dafür dankbar.
Lieber Herr Kollege Dreßen, man sollte immer auf der Höhe der Zeit diskutieren. Ihre Fragestellung geht auf Einlassungen des DGB und der Gewerkschaften zurück, die Mitte des Jahres richtig waren.
({0}) Heute habe ich die neuesten Zahlen.
- Haben Sie einmal die bayerische Geduld! Die Bayern sagen immer: Man soll das Wasser halten können. - Hören Sie mir jetzt einmal zu.
Ich habe heute die neuesten Zahlen. Wir haben für das ganze Jahr 1994 eine Grundlohnsummensteigerung von 3,2 % prognostiziert. In den ersten drei Quartalen des Jahres 1994 waren es 2,9 %. Nun weiß jedes Milchmädchen, daß die Grundlohnsummenentwicklung im vierten Quartal nach oben gehen wird, weil im vierten Quartal die 13. Monatsgehälter und die Sonderzahlungen ausbezahlt werden. Herr Dreßen, wenn Sie mit Ihrer Partei bei Ihren Prognosen auch nur annähernd so an der Wirklichkeit liegen würden, wie wir mit unserer Prognose für das Jahr 1994, dann würde ich Ihnen noch zu Lebzeiten eine Freifahrt auf dem Chiemsee in Bayern bezahlen.
({1})
Wir brauchen keine Revolution. Meine Damen und Herren, wir wollen die Reform zusammen mit allen Beteiligten vorbereiten. Nur: Einige Eckpunkte sind auch dafür klar. Es bleibt bei der einnahmeorientierten Krankenversicherungspolitik. Das heißt, die Ausgaben werden auch künftig nicht stärker steigen dürfen als die Einnahmen. Denn, meine Damen und Herren, alles können wir uns leisten, nur nicht steigende Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung. Deshalb bleibt es bei diesem Eckpfeiler.
Es bleibt bei einer sozialen Krankenversicherung. Das heißt, daß kranke Menschen das medizinisch Notwendige in bester Qualität auch in Zukunft erhalten müssen.
Es bleibt bei der qualitätsorientierten Krankenversicherungspolitik, es bleibt bei der Selbstverwaltung, und es bleibt bei der freiheitlichen Gesundheitspolitik, also bei freier Arztwahl und Therapiefreiheit bei den Ärzten.
Mehr Vorgaben wollen wir für diese Gespräche gar nicht machen. Denn sonst bekommen wir wieder den Vorwurf, wir würden den Beteiligten eine Lösung vorlegen, ohne sie ausreichend an diesen Gesprächen zu beteiligen.
Ich sage jetzt vorsorglich für das nächste halbe Jahr: Alles, was da gemeldet, gesendet oder gesagt wurde, ist falsch. Es gibt in meinem Hause bisher keinen Punkt, kein Komma, kein Wort, keinen Satz mit Bezug auf den möglichen Inhalt der nächsten Gesundheitsreform. Alles, was bisher dazu gesagt oder veröffentlicht wurde, ist falsch. Deshalb war der Vergleich mit der Schildkröte und dem Stabhochsprung zutreffend. Die Meldungen der letzten Tage hatten mit der Wahrheit soviel zu tun wie eine Schildkröte mit dem Stabhochsprung, und dabei bleibt es.
({2})
Nun gehört zu meinem Hause künftig auch die Sozialhilfe. Ich weiß nicht, warum das besonders kritisiert wird. Solange ich zurückdenken kann, hat die Sozialhilfe früher immer zum Gesundheitsministerium gehört, auch zur Zeit von Heiner Geißler.
({3})
Ich sage auch hier ganz deutlich: Die Sozialhilfe ist und bleibt neben der Versicherung und der Versorgung die dritte wesentliche Säule unseres sozialen Netzes. Wenn wir jetzt eine Diskussion über die Fortentwicklung der Sozialhilfe führen, müssen wir vornweg eine Diskussion über das Image und eine Imageveränderung der Sozialhilfe führen. Es muß sich niemand schämen, der die Sozialhilfe und damit die dritte Säule unseres sozialen Netzes in Anspruch nimmt.
({4})
Nirgendwo steht das, Herr Kollege Dreßler, was Sie am Wochenende in allen Interviews gesagt haben, daß wir nämlich die Sozialhilfesätze linear kürzen wollten. Das ist nicht beabsichtigt. Die Sozialhilfe bleibt die dritte stabile Säule des sozialen Netzes.
Daß die Regierung dies nicht erst heute sagt, sondern schon zehn Jahre ernstgenommen hat, mögen Sie allein aus der Zahl ersehen, daß der Realwert der Sozialhilferegelsätze in den letzten zehn Jahren um 19 % gestiegen ist, während die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer nur um 10,5 % gestiegen sind. Das heißt, der Nettowert der Sozialhilferegelsätze ist fast doppelt so stark gestiegen wie die Realwerte der Nettoarbeitseinkommen. Deshalb kann diese Regierung mit Fug und Recht davon reden, daß sie die Sozialhilfe als eigenständigen Pfeiler der sozialen Absicherung in unserer Sozialpolitik ernst nimmt.
({5})
Nun zu Ihnen, lieber Herr Kollege Dreßler. Ich muß Sie ansprechen, weil Sie am Wochenende über manche Radiosender Unsägliches von sich gegeben haben. Offensichtlich ist es nicht sehr häufig gehört worden, denn es hat in der Presse nur sehr, sehr ärmlich Niederschlag gefunden.
Meine Damen und Herren, für Hilfe zur Pflege gibt die Sozialhilfe 16,4 Milliarden DM aus. Aus der Zahl der Leistungsbezieher kann man aber nicht Rückschlüsse auf eine neue Armut in der Bundesrepublik Deutschland ziehen. Denn wenn jemand stationär gepflegt wird, kann es sein, daß er auch bei
einer Pension von 3 000 oder 4 000 DM auf Sozialhilfe angewiesen ist, weil es bisher bei diesem Risiko die gesetzliche Absicherung in der Sozialversicherung nicht gab. Da liegt der Grund doch nicht im zu niedrigen Einkommen, sondern in den zu hohen Kosten, meine Damen und Herren. Deshalb haben wir eine eigenständige soziale Pflegeversicherung gebraucht.
({6})
Man kann doch nicht aus der Zahl der Pflegebedürftigen Rückschlüsse auf eine neue Armut in der Gesellschaft ziehen.
({7})
Meine Damen und Herren, ich sage auch dies mit vollem Ernst und mit vollem Bedacht: Jeder dritte Sozialhilfeempfänger in der Bundesrepublik Deutschland ist Ausländer. Ich bewerte das nicht. Man muß aber hinzufügen: Man kann nicht auf der einen Seite Menschen in der Bundesrepublik Deutschland integrieren, Bürgerkriegsflüchtlingen in der Bundesrepublik Deutschland helfen, aber dann, wenn sie Sozialhilfe beziehen, diesen Umstand auf der anderen Seite als Maßstab für neue Armut in der Bundesrepublik Deutschland heranziehen.
({8})
Ich werde bei der Fortentwicklung der Sozialhilfe sehr stark auf eine integrierte und differenzierte Betrachtungsweise dieses Problems Wert legen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?
Darf ich Ihnen den Fall eines Arbeitnehmers tunesischer Herkunft nennen, der 35 Jahre in Deutschland tätig war, Sozialhilfe bezogen hat und anschließend ausgewiesen worden ist? Vielleicht sollten auch solche Dinge mit einfließen. Haben Sie das bei den Zahlen berücksichtigt, die Sie hier vortragen und die möglicherweise zu Irrtümern führen?
Herr Kollege Tauss, lernen Sie Geduld! Ich komme noch darauf. Ich will eine differenzierte und eine integrierte Betrachtung. Ich komme auf das Problem der Arbeitslosigkeit.
Ich beginne mit der integrierten Betrachtung, meine Damen und Herren. Das Hauptziel bei der Fortentwicklung der Sozialhilfe muß die Vermeidbarkeit von Sozialhilfebezug sein. Ein Hauptgrund für Sozialhilfebezug war in der Vergangenheit die Pflegebedürftigkeit. Ich sagte es. Das Problem wird ganz entscheidend durch die gesetzliche Pflegeversicherung reduziert.
({0})
Jeder sechste Sozialhilfebezieher ist ein Kind unter sieben Jahren. Deshalb ist es notwendig und auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarung, den Familienleistungsausgleich massiv zu verbessern. Ich nenne
die Beispiele nur, um deutlich zu machen, daß man manche Folgen, die man aus der Sozialhilfestatistik abliest, nicht mit Maßnahmen im Sozialhilferecht beseitigen kann, sondern nur mit Maßnahmen in anderen Bereichen unserer Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({1})
Was die Arbeitslosigkeit betrifft, stimme ich Ihnen zu. Da gibt es Probleme. Ich halte sehr viel von dem Vorschlag von Norbert Blüm zum Brückenbau zwischen einem Leistungsbezug und einer Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt. Man sollte den Gedanken weiterverfolgen, ob man nicht für eine Überbrükkungszeit einen Sozialhilfeempfänger, einen Arbeitslosenhilfeempfänger gewissermaßen vom Sozialamt, vom Arbeitsamt aus vermittelt - er bliebe dann Sozialhilfe- bzw. Arbeitslosenhilfeempfänger -, damit dem Arbeitgeber die Angst, er würde es vom ersten Tag an mit unüberwindlichen Schranken und Hürden des Arbeitsrechts zu tun haben, genommen wäre. Dann wäre dieses Alibiargument nicht mehr möglich. Meine Damen und Herren, ich halte davon sehr viel.
Aber es gehört auch zur Wahrheit, daß es Menschen bei uns im Lande gibt - ich sage nicht, daß dies eine Mehrheit ist, aber es ist eine nennenswerte Größe -, die lieber Sozialhilfe als ein Arbeitseinkommen beziehen. Auch das gehört zur sozialen Gerechtigkeit; die Aufwendungen für diese Menschen sind von den leistungsbereiten Arbeitnehmern mitzufinanzieren. Ich bin dafür, daß wir dies auch in der Öffentlichkeit aussprechen.
Ich sage noch einmal: Das ist keine Mehrheit. Aber auch diesem Problem müssen wir zu Leibe rücken. Da hilft nur eines: Überwindung der Sozialhilfebedürftigkeit, verstärkte Anstrengungen der Kommunen, der Landkreise und der Städte, damit diese Menschen mit Unterstützung der Arbeitsverwaltung wieder in Arbeit kommen.
Es wird immer gefragt: Gibt es für diese Menschen denn überhaupt Arbeit? - Ich möchte Sie nur auf einen Gesichtspunkt hinweisen. Es gab im Jahre 1993 annähernd 200 000 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, die sogenannte Saisonbeschäftigte waren. Es gibt in Deutschland 1,3 Millionen Arbeitserlaubnisse, davon über 900 000 allgemeine Arbeitserlaubnisse, d. h. solche, bei denen das Arbeitsamt zuerst prüfen muß, ob nicht Deutsche für diese Arbeit zur Verfügung stehen. Von diesen 900 000 Inhabern allgemeiner Arbeitserlaubnisse, bei denen das Arbeitsamt erst einmal prüfen muß, ob deutsche Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, sind 200 000 Saisonbeschäftigte. Sie alle kennen die Fälle bei der Weinlese, beim Spargelstechen und ähnlichem mehr.
Jetzt möchte ich, ohne sofort in die Ecke des Unsozialen oder des sozialen Kahlschlägers gedrängt zu werden, die Frage stellen, ob es bei dieser Sachlage von über 900 000 allgemeinen Arbeitserlaubnissen nicht auch notwendig ist, verstärkt Bezieher von
Sozialhilfe für diese Arbeitsplätze mit ins Gespräch und in die Vermittlung zu bringen.
({2})
Herr Dreßler, auch wenn Sie nur ein Ohr frei haben: Niemand von uns denkt an eine lineare Kürzung der Sozialhilfe. Aber eine sinnvolle Fortentwicklung des Sozialhilferechts aus dem Jahre 1961 ist, wie ich denke, eine Notwendigkeit.
({3})
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?
Ja. Das wird ja alles nicht angerechnet. Oder?
Nein, es wird nicht angerechnet.
Ist Ihnen bekannt, daß ein Großteil der Sozialhilfeempfängerinnen alleinerziehende Frauen und ältere Frauen sind? Können Sie mir sagen, wie wir die bei der Spargelernte und ähnlichen Arbeiten einsetzen sollen?
Ihre Eigenschaft ist wie die des Herrn Kirschner: Sie problematisieren etwas, was ich überhaupt nicht angesprochen habe. Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen über den Sozialhilfebereich ausdrücklich gesagt: Die Sozialhilfe ist ein eigenständiger Zweig unseres Sozialsystems. Niemand muß sich schämen, wenn er Sozialhilfe bezieht. Es ist so und es wird auch künftig so sein, daß Menschen in einer Lebenssituation sind, in der sie auf Sozialhilfe angewiesen sind, und wir nicht das Recht haben, mit dem Finger auf diese Menschen zu zeigen oder sie zu verurteilen.
({0})
Dazu zählt natürlich auch eine alleinerziehende Frau mit fünf Kindern, die nicht berufstätig sein kann. Dazu zählt jemand der krank, aber nicht krankenversichert ist. Auf diese Fälle habe ich mich überhaupt nicht bezogen. Ich habe gesagt: Es gibt externe Probleme, die wir lösen müssen, um die Sozialhilfebedürftigkeit zu vermeiden - Stichwort Pflege, Stichwort Verbesserung des Familienleistungsausgleichs. Ich habe gesagt, daß wir uns den Menschen zuwenden müssen, die wegen Arbeitslosigkeit Sozialhilfe beziehen. Bei diesem Sachverhalt habe ich angeführt, daß es darunter auch Menschen gibt, die gar nicht so unglücklich darüber sind, daß sie Sozialhilfe an Stelle eines Arbeitseinkommens beziehen. Alles gemeinsam gehört zur Wahrheit und ermöglicht nur so eine differenzierte und gerechte Betrachtungsweise.
Ich begrüße das Papier der Kirchen genauso wie Heiner Geißler. Das Papier ist eine sehr gute Diskussionsgrundlage für die nächsten Monate auch bei der Fortentwicklung der Sozialhilfe. Ich werde in den nächsten Wochen beide Kirchen zu einem Gespräch über die Fortentwicklung des Sozialhilferechts einladen. Ich denke, in den Grundfundamenten sind wir
gar nicht weit auseinander. Gerade zu dem Komplex „Arbeitsmarkt", den ich zuletzt angesprochen habe, sagen die Kirchen: Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß diejenigen, die nicht in der Lage sind, eine eigene ausreichende Arbeitsleistung zur Wirtschaft beizusteuern, von der Gesellschaft soviel erhalten, daß sie menschenwürdig leben können.
Das ist absolut richtig. Dabei ist darauf zu achten - das ist jetzt diese differenzierte Betrachtung -, daß dadurch nicht eine falsche Bequemlichkeit Platz greift, die das notwendige Arbeitsethos in der Gesellschaft aushöhlt. Wir müssen bei der Verteilung von sozialen Transferleistungen darauf achten, daß nicht die Bescheidenen das Gefühl bekommen, daß sie von den Cleveren ausgenutzt werden. Auch das gehört zur sozialen Gerechtigkeit.
({1})
Ein letzter Gedanke. Eine dritte große Reform wird die Neuordnung des Transplantationsrechtes in der Bundesrepublik Deutschland zum Gegenstand haben. Der Bund hat durch die letzte Grundgesetzänderung dafür die Gesetzgebungskompetenz. Es wird das erste Gesetz sein, das wir auf diesem Sektor einbringen. Es ist ein unwürdiger Zustand, daß die Deutschen, was die Transplantationen betrifft, Importland sind. Das heißt, daß Deutschland als reiches Land mehr menschliche Organe für Transplantationen importiert als umgekehrt.
Deshalb, denke ich, haben wir hier eine zweifache Aufgabe: Erstens müssen wir dafür sorgen, daß mehr Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bereit sind, Organe für schwerkranke Menschen zur Verfügung zu stellen, für Menschen, für die die Transplantation die einzige Chance zum Überleben ist. Das ist praktizierte Nächstenliebe. Die Diskussion der letzten Monate, die Diskussion insbesondere auf Grund der Verunsicherung durch den Gesetzentwurf in Rheinland-Pfalz, hat leider Gottes dazu geführt, daß die Spenderbereitschaft massiv zurückgegangen ist. Es ist ein unwürdiger Zustand, wenn wir mehr importieren als umgekehrt. Wir brauchen dafür eine saubere rechtliche Grundlage. Die Vergabe der Organe darf nur nach medizinischen und nicht nach ökonomischen und finanziellen Kriterien erfolgen. Wir werden ganz massiv verfolgen, daß es keinen Organhandel in der Bundesrepublik Deutschland geben darf.
({2})
Ein weiterer Schwerpunkt dieser Reform wird sein, daß wir die Menschenwürde und das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen achten. Wir dürfen in der Bundesrepublik Deutschland nicht soweit kommen, daß die Daten eines Personalausweises durch das Recht stärker geschützt sind als die menschlichen Organe. Deshalb halte ich bei der Reform des Transplantationsrechts sehr viel davon, daß wir das Bestimmungsrecht des Verstorbenen oder seiner Angehörigen achten. Ich bin ein entschiedener Gegener einer Widerspruchslösung, die gewissermaßen zum Inhalt hat, daß man von der Zustimmung desjenigen ausgeBundesminister Horst Seehofer
hen darf, der zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat.
({3})
Ich denke, hinsichtlich der Organe müssen wir positiv formulieren.
Die Zukunft kommt nicht durch jene, die wie die SPD die Augen vor den Problemen schließen, sondern die Zukunft kommt durch jene, die die Probleme anpacken. Das Gesundheitsministerium wird auf diesem Gebiet mit der Gesundheitsreform Nummer 3,
({4})
mit der Reform des Transplantationsrechts und mit einer Fortentwicklung des Sozialhilferechts drei ganz herausragende Arbeitsschwerpunkte haben. Daneben gibt es viele andere Punkte, z. B. die Aufarbeitung der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses HIV.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Monika Knoche.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Herr Minister Seehofer, das, was Sie vorgetragen haben, war sehr sympathisch.
({0})
Es fragt sich nur, weshalb Sie mittels Ihrer Anfrage an die Sachverständigen so ausdrücklich wissen wollen, welche Leistungen im Jahre 2000 noch von der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckt werden sollen. Auch Ihre Koalitionsvereinbarungen sprechen an allererster Stelle von Eigenverantwortung, Eigenvorsorge und Wettbewerb im Gesundheitswesen.
Wovon sie nicht sprechen, ist, daß Gesundheitspolitik ein ganzheitliches Verständnis von Mensch und Natur braucht; sonst greift sie zu kurz. Wer soziale, kulturelle, diskriminierende Einflüsse, die krankmachen, leugnet, läuft Gefahr, in einer inhumanen Selbstverschuldungsideologie zu landen. Der zunehmenden Zerstörung der Umwelt kann sich der Mensch allein durch individuelle Verhaltensänderungen nicht entziehen.
Wir denken nicht in den Kategorien Schuldzuweisung und Leistungsausgrenzung und wehren uns entschieden dagegen, daß mit dem Leid und der medizinischen Unterversorgung von spritzdrogenabhängigen Menschen Politik für den starken Staat gemacht wird. Das ist der eigentliche Mißbrauch.
({1})
Kranke gehören in ärztliche Hände und nicht hinter Gefängniswände.
({2})
Diese Regierung muß begreifen, Herr Seehofer, daß ihre Drogenpolitik samt dem Abstinenzdiktat gescheitert ist.
({3})
Legalisierung weicher, Entkriminalisierung harter Drogen - damit bekommt der Schlag gegen die Drogenmafia ein humanes Gesicht. Es ist notwendig, Gesundheitspolitik von moralisch verbrämten Irrationalismen freizuhalten; denn sie soll die Diskriminalisierung Kranker überwinden.
Das galt und gilt insbesondere für HIV-Infizierte und Aidserkrankte. Die Finanzmittel für die Aidsprävention zu kürzen wäre ein folgenreicher Fehler.
({4})
Die politisch Verantwortlichen, Ärzte in Blutbanken und Pharmaindustrie haben beim HIV-Blutskandal in kaum faßbarem Maß versagt. Internationaler Bluthandel, deutsch-deutsches Blutgeschäft über SchalckGolodkowski sind in meinen Augen bislang nicht ausreichend aufgeklärt.
({5})
Das Geschäft mit dem Blut, das Geschäft mit der Krankheit haben Menschen mit dem Leben bezahlt. Der Untersuchungsausschußbericht ist fertig, die politische Befassung hier im Bundestag beginnt erst.
Im Koalitionsvertrag ist die Fortsetzung der Gesundheitsreform angekündigt. Die breite öffentliche fachliche Kritik am Gesundheitsstrukturgesetz fordert die Verteidigung des Sozialen im Gesundheitlichen als einen Wert an sich in einer zivilen Gesellschaft. Das zu betonen scheint mir trotz Ihrer Rede sehr wichtig.
({6})
Wir haben unter dieser Regierung keine Gesundheitsreform, sondern eine Deformation der Solidargemeinschaft von oben erlebt, die hervorragend korrespondiert mit einem generellen Sozialabbau als freimarktwirtschaftliche Antwort auf die Strukturkrise. Ist Armut und Existenzangst an sich schon ein Krankheitsrisiko, so droht das neue System der Gesundheitsversorgung nach der dritten Stufe des GSG seinerseits zu einer krankmachenden Armutsfalle zu werden.
({7})
Vor dem Hintergrund der angestrebten Leistungskürzungs- und Ausgrenzungsvorhaben im gesetzlichen Krankenversicherungssystem von Selbstverschulden und Eigenverantwortung zu reden kann angesichts der Lebenswirklichkeit dann doch schon in Zynismus abgleiten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen eine Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der Patientinnen und Patienten. In diesem Sinn wollen wir Demokratisierung des Gesundheitswesens.
({8})
Eine Reprivatisierung der sozialen Daseinsvorsorge lehnen wir ab.
({9})
Die Gesundheitsversorgung selbst auf den Markt des freien Wettbewerbs zu werfen führt unumgänglich in die Zweiklassenmedizin. Wer sich wie die Bundesregierung von marktideologischen Prämissen leiten läßt, kommt zu abstrusen Schlüssen.
Das Autoversicherungskonzept von Voll- und Teilkasko analog auf das Krankenversicherungssystem zu übertragen kann nur dem passieren, der letztlich den Warencharakter der Krankheit in den Mittelpunkt rückt und nicht den Menschen.
({10})
Staatliche Gesundheitspolitik muß eine bedarfsgerechte, optimale Infrastruktur garantieren und muß in diesem Sinne regulierend wirken. Über eine monistische Finanzierung des Krankenhausbereichs entledigt sich der Staat weiterer gesamtgesellschaftlicher Aufgaben zu Lasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
Das gilt um so mehr, weil von den KonservativLiberalen die Diskussion auf die Lohnzusatzkosten zugespitzt wird, und da zählen vordringlich die Arbeitgeberinteressen. Sie sind es auch, die - und das haben Sie nicht dementiert, Herr Seehofer - die Mutterschaftsleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung werfen wollen.
Mutterschaft könnte bald wie in vordemokratischer Zeit wieder zur reinen Privatsache der Frau werden. Dem Selbstverschuldungsprinzip folgend dürfte es nicht mehr lange dauern, bis uns die private Versicherungswirtschaft das erste private Empfängnisunfallversicherungsangebot offeriert.
Es würde mich schon interessieren, wie sich unsere Frauenministerin, die die Eigenfinanzierung des Schwangerschaftsabbruchs so vehement begrüßt, diesen rational-logischen Argumenten der Arbeitgeber in diesem Fall widersetzen will. Sie sitzt in der Falle ihrer eigenen Mutterschaftsideologie.
Im Erlanger Menschenversuch mit einer hirntoten schwangeren Frau sind die Grenzen des Ethischen und Moralischen von der Medizin überschritten worden. Wer das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht respektiert, kann die Frau vor der Verdinglichung ihrer Gebärfähigkeit und ihrer Reduzierung auf ein fötales Umfeld nicht schützen.
({11})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Abschluß kommen.
Sie haben das Organtransplantationsgesetz angesprochen. Ich hätte gerne noch in diesem Zusammenhang über die Gen- und Reproduktionstechnologie gesprochen. Was unbedingt erforderlich ist, ist eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung, eine Ethik- und Wertediskussion, damit die Entwicklung in diesen Bereichen nicht den Pharmakonzernen und den Experten überlassen bleibt.
({0})
Das ist auch eine notwendige Schlußfolgerung, wenn wir von Demokratisierung und Zivilität in dieser Gesellschaft sprechen.
Danke.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vier Gesetzespakete möchten wir in dieser Wahlperiode durch das Parlament bringen.
Erstens. Wir möchten die Thematik des GKVAnpassungsgesetzes mit seinen Schwerpunkten wieder aufgreifen.
Zweitens. Das Psychotherapeutengesetz ist heute noch nicht erwähnt worden. Ich denke, es lohnt sich, daß wir auch dieses Gesetzeswerk wieder neu anpakken, damit es endlich einen Abschluß findet.
({0})
Drittens. Ein weiterer Schwerpunkt ist das schon erwähnte Transplantationsgesetz. Auch hier ist es höchste Zeit, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland einen gesetzlichen Rahmen finden.
Viertens. Die dritte Stufe des Gesundheits-Reformgesetzes wird ebenfalls ein großer Schwerpunkt sein. Es ist notwendig, und wir können es nicht, wie von seiten der SPD vorgeschlagen wurde, ewig hinausschieben. Ende 1995 endet die Budgetierung, wie wir es alle im Gesetz festgesetzt haben, auch Sie von der SPD.
Was bedeutet Budgetierung? Wir haben kurzfristig die Kosten gesenkt. Wir haben die Ausgaben im Griff. Wir haben sogar das Glück, daß wir die Beiträge senken konnten. Aber es bedeutet auch kontinuierliche Kostendämpfung, so daß auf die Dauer gesehen erhebliche Gefahren entstehen und eine gesundheitliche Benachteiligung für die Patienten eintreten könnte. Weil wir die Herausforderungen und die demographische Entwicklung sehen, aber auch weil wir die Zunahme der Zahl von chronisch-degenerativen Krankheiten, den medizinisch-technischen und den medizinisch-wissenschaftlichen Fortschritt sehen, müssen wir jetzt anfangen, damit wir ab 1996 die Kosten im Griff haben.
Herr Kollege Thomae, darf ich Sie unterbrechen. Ich möchte die Abgeordneten im Bereich der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN bitten, ihre Gratulationscour nach draußen zu verlegen.
({0})
Hier, meine Damen und Herren, müssen wir die strukturellen Veränderungen sehr sorgfältig auf den Weg bringen.
Es ist gut, daß der Sachverständigenrat das Gutachten im Frühjahr auf den Tisch legt. Wir werden unterschiedliche Vorschläge bekommen. Wir alle wissen, auch Sie, daß dieses Leistungspaket auf Dauer
nicht aufrecht erhalten werden kann, wenn wir die Beitragssätze stabil halten wollen. Wir müssen darüber diskutieren, welche Leistungen in diesem System auf Dauer finanziert werden oder nicht.
({0})
- Ich weiß gar nicht, worüber Sie sich aufregen.
Wenn wir in der Wahlkampfphase mit Ihrer sogenannten Schattenministerin, Frau Schüller, diskutiert haben, lag sie mit uns immer auf einer Linie.
({1})
Ich weiß gar nicht, welche Politik von seiten der SPD und ihrer Schattenministerin vertreten wird, die Sie immer als die Frau herausgestellt haben, die im Gesundheitssektor großen Erfolg haben würde. Sie sagt selber: Die Leistungen können auf Dauer nicht mehr finanziert werden. Also bitte, was wollen Sie? Sagen Sie einmal konkret, wie Ihre Vorhaben aussehen.
Meine Damen und Herren, wir wollen das medizinisch Notwendige sichern. Da gibt es keine Diskussion. Wir wollen aber die Diskussion über die Frage eröffnen, welche Leistungen auf Dauer nicht unbedingt notwendig sind.
({2})
Ich möchte eines betonen: Wir haben in einem großen Umfange versicherungsfremde Leistungen im System. Ich möchte auch darüber diskutieren; denn sie gehören nicht in die Krankenversicherung. Sie gehören in die Steuerpolitik. Ich denke, da sind wir uns einig. Laßt uns also schrittweise überlegen, welche versicherungsfremden Leistungen aus dem Versicherungssystem herausgenommen werden sollten, damit die Lohnzusatzkosten gesenkt werden und der Standort Bundesrepublik Deutschland gesichert wird!
Dann haben Sie die Punkte Eigenverantwortung und Eigenvorsorge in der Koalitionsvereinbarung kritisiert.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ihnen beantworte ich keine Frage. Ich habe Sie heute den ganzen Tag beobachtet. Bei jedem Sachgebiet meinen Sie, Sie könnten mitsprechen. Ich muß sagen, es fällt mir sehr schwer, dies zu verstehen.
({0})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner?
Ich achte jeden Kollegen, der aus dem Sachgebiet kommt. Bitte schön, Herr Kirschner.
Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Dr. Thomae, da Sie die versicherungsfremden Leistungen bemängeln, frage ich Sie: Haben Sie eigentlich der zusätzlichen Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung durch das Mutterschaftsgeld zugestimmt, ja oder nein?
Herr Kirschner, Sie wissen ganz genau, daß ich zugestimmt habe. Sie wissen auch, daß es in dieser Phase aus ökonomischen Gründen keine andere Möglichkeit gibt. Aber ich gehe davon aus, daß ab 1996, wenn die Wiedervereinigung wirklich Erfolg - auch ökonomischen Erfolg - hat, die Steuereinnahmen so fließen, daß wir eine Chance haben, die versicherungsfremden Leistungen herauszunehmen. Dies möchte ich massiv unterstützen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Redezeit läuft davon. Nur noch einige Stichworte, die in dieser Koalitionsvereinbarung für mich sehr wichtig sind.
Erstens: der Wettbewerb zwischen den Kassen. Der Wettbewerb kann sich nicht nur auf den Bereich der Werbung beziehen. Der Wettbewerb muß vielmehr auch bei der Vertragsgestaltung erfolgen.
({1})
Es kann nicht so sein, wie es die SPD will: einheitliche, gemeinsame Vertragsgestaltung. Das ist kein Wettbewerb. Die Kassen müssen die Chance haben, individuell nach Kassenart Verträge abzuschließen. Dann werden wir nämlich Beitragssenkungen ermöglichen. Wir werden die daraus entstehenden Möglichkeiten weitergeben können.
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Hier sollten Sie sich anschließen, damit wir Wettbewerb zwischen Krankenkassen erfahren und realisieren.
Ein weiterer Punkt: Wir haben uns dafür eingesetzt - und ich bin froh, daß wir das in der Koalitionsvereinbarung so deutlich gesagt haben -, daß wir die traditionellen Arzneimittel weiter so behandeln werden, wie wir es in der Vergangenheit getan haben.
({3}) Da gibt es kein Abweichen.
Ein entscheidender Punkt, gegen den Sie immer waren und zu dem Sie jetzt auf einmal reumütig zurückkommen, ist: Sie wollen auf einmal die forschende Industrie nennenswert unterstützen, damit sie nicht abwandert. Meine Damen und Herren, vor der Wahl haben Sie Gespräche mit diesen Industriezweigen geführt und nennenswerte Zusagen gemacht: Wenn Sie die Regierung übernehmen, wollen Sie sie massiv unterstützen. Dies haben wir nun in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, und wir werden diesen Weg gehen.
Meine Damen und Herren, die Grundlagen für die nächsten vier Jahre sind gut. Wir müssen jetzt schon mit der Arbeit beginnen, so wie es eben von Minister Seehofer gesagt wurde. Wir müssen die Zeit nutzen, konkrete Vorschläge zu erarbeiten, um dann in Ruhe das Gesetzeswerk anzugehen. Wir Liberalen sind dazu bereit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Fuchs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweifellos ist das Gesundheitswesen in unserem Land dringend reformbedürftig. Insofern wäre die nun auch in der Koalitionsvereinbarung enthaltene Absicht, sich weiterhin der Reform dieses Systems zu widmen, nur allzu verständlich.
Zwei Aussagen versprechen allerdings wiederum nichts Gutes: erstens die Ankündigung, daß man die bisherigen Reformen fortsetzen, also offensichtlich an ihrem Geist und ihrer Zielrichtung festhalten will, und zweitens die Tatsache, daß man das Reformkonzept ausdrücklich auf der Grundlage des Endberichtes des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion erarbeiten will.
Nimmt man hinzu, daß - so der Text der Koalitionsvereinbarung - Eigenverantwortung und Eigenvorsorge weiter verstärkt werden sollen, dann wird vollends deutlich, wohin die Reise auch nach dem Willen dieser neuen Regierung gehen soll. Bekannt ist, daß sich unter dem Begriff Eigenverantwortung immer wieder die Absicht verbirgt, steigende finanzielle Lasten allein auf die Versicherten und Patienten abzuwälzen. Leider wird auf diese Weise die ansonsten uneingeschränkt zu begrüßende Aussage, daß die gesetzliche Krankenversicherung dem Grundsatz der Solidarität verpflichtet bleiben soll, beträchtlich relativiert.
Das bisherige Herangehen an die Reform im Gesundheitswesen hat die bestehenden Probleme keineswegs gelöst. Das Ziel bestand einseitig in einer finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung. Erreicht wurde es bisher vor allem durch die strikte Budgetierung, durch die deutlich erhöhte Zuzahlung im Rahmen der Selbstbeteiligung der Kranken und auch durch eine verstärkte bürokratische Reglementierung medizinischer Arbeit oder durch Zulassungsbeschränkungen für ärztliche Niederlassungen.
Im Ergebnis dessen hat sich die Situation nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Beschäftigten im Gesundheitswesen verschlechtert. Auch prägen verstärkt innerärztliche Verteilungskämpfe und drastisch verminderte berufliche Perspektiven vor allem der jungen Ärztegeneration das Bild. In Ostdeutschland sehen sich nicht wenige der neu niedergelassenen Ärzte von akuter Existenzgefährdung bedroht.
Nun soll der Endbericht des Sachverständigenrates zu einem wichtigen Ausgangspunkt weiterer Veränderungen werden. Vor nicht allzu langer Zeit war Gelegenheit, den Zwischenbericht zur Kenntnis zu nehmen. Ganz offensichtlich sind die Überlegungen
dieses Gremiums hauptsächlich darauf gerichtet, wie man im nächsten Reformschritt die Krankheitskosten noch stärker als bisher den Versicherten übertragen kann.
Schließlich war es dieser Sachverständigenrat, der in sehr detaillierter Form die verschiedensten Modelle von Regel- und Wahlleistungen erarbeitete. Regel- und Wahlleistungen bedeuten aber die Aufgabe des sozialen Charakters der gesetzlichen Krankenversicherungen und die Rückkehr zur Zweiklassenmedizin: Für mehr Geld gibt es bessere, für weniger Geld schlechtere Medizin. Das ist die Realität, und Schönreden ändert daran nichts.
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Demgegenüber entspricht es dem grundlegenden Gebot der Sozialstaatlichkeit, auch weiterhin zu gewährleisten, daß jeder Mensch das gleiche Recht auf gesundheitliche Fürsorge und den Schutz seiner Gesundheit in Anspruch nehmen kann. Dies als wichtigen Ausdruck sozialer Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft zu erhalten sollte das Ziel einer wirklichen Reform sein.
Zweifellos ist es richtig, daß die finanziellen Aufwendungen für das Gesundheitswesen künftig weiter wachsen werden. Andererseits sind aber die gegenwärtigen Kosten in nicht unbeträchtlichem Maße durch zahlreiche Struktur- und Steuerungsfehler des bestehenden Systems geprägt.
Meine Damen, meine Herren, notwendig wäre eine tiefgreifende Strukturreform im Gesundheitswesen, welche zuerst die vorhandenen Rationalisierungsreserven erschließt.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen. - Herr Kollege Schlauch, wenn Sie sich zur Ruhe betten wollen, gibt es außerhalb des Hauses angenehmere Möglichkeiten.
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Bitte fahren Sie fort.
Ich erwähnte, daß eine Strukturreform im Gesundheitswesen notwendig sei, welche zuerst die vorhandenen Rationalisierungsreserven erschließt, ohne dabei eine qualitativ hochstehende Versorgung zu gefährden. Hier, Herr Minister Seehofer, gebe ich Ihnen recht: Das deutsche Gesundheitswesen hat wirklich eine hohe Qualität. Es wäre gut, wenn diese qualitativ hochstehende medizinische Betreuung für alle Menschen erhalten bleiben könnte.
Zuzahlung und Selbstbeteilung, Regel- und Wahlleistungen oder Kostenerstattungssysteme erwiesen sich nicht als Steuerungsinstrumente und sind so für die PDS inakzeptabel. Sie sind nicht nur unwirksam, sondern darüber hinaus vor allem unsozial und für die medizinische Qualität der Versorgung sogar kontraproduktiv. Anders ausgedrückt: Reformen ja, aber
nicht nach dem Rezept, das Koalition und Regierung bisher erkennen lassen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lohmann ({0}).
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Fischer versichert, daß auch er sich zur Ruhe legen will. Das kann er meinetwegen tun. Es hängt vielleicht damit zusammen, daß einige der zuletzt gehörten Reden außerordentlich langweilig waren.
({0}) Ich will versuchen, das nicht zu tun.
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Frau Dr. Fuchs, Sie haben soeben u. a. von einer Zweiklassenmedizin gesprochen: Für mehr Geld gebe es mehr Gesundheit. Eigentlich hätten Sie dann auch sagen sollen, daß in dem System, in dem Sie große sportliche Leistungen erbracht haben, für weniger Geld auf Staatskosten medizinische Leistungen gegeben wurden, die alles anderes als gesund gewesen sind.
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Herr Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Fuchs?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ich habe Hochleistungssport betrieben. Ich habe im Sportausschuß und überall, seitdem ich hier im Hause bin, gesagt, daß Hochleistungssport nicht in erster Linie die Gesundheit zum Ziel hat, sondern Höchstleistung. Wir sind daher verpflichtet, eine medizinische Betreuung zu schaffen, die die Hochleistungssportler mit den geringsten medizinischen Schäden aus dieser leistungssportlichen Tätigkeit herauskommen läßt.
({0})
Frau Kollegin, Sie müssen eine Frage stellen.
Ich weiß, was Sie gemeint haben. Aber dazu habe ich auch eine Position. Hier brauchen wir nicht über den Osten zu reden.
Frau Kollegin, Sie müssen eine Frage stellen.
Ich habe von Ihrer und von anderer Seite gehört, Sie hätten nichts von dem gewußt, was von den Medizinern mit Ihnen gemacht worden ist.
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- Sie haben es doch gewußt. Dann sind Sie das Risiko selbst eingegangen. Dann können Sie später auch nicht auf Staatskosten Gesundheitsleistungen beanspruchen.
Die Schwerpunkte dessen, was wir heute angesprochen haben, nenne ich stichwortartig ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wir wollen die Fortführung des Reformprozesses im Gesundheitswesen. Wir wollen vor allen Dingen den weiteren Ausbau der Arzneimittelsicherheit einschließlich abschließender Regelungen der Entschädigung für HIV-infizierte Bluter.
Frau Kollegin Knoche vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie haben u. a. davon gesprochen, das Geschäft mit Blut und ähnlichem sei nicht ausreichend aufgeklärt worden. Nun waren Sie in der vorigen Legislaturperiode noch nicht in diesem Hause. Aber wenn Sie von Nichtaufklärung sprechen,
({1})
rufe ich viele andere hier zum Zeugen an, daß stunden- und tagelang aufgeklärt worden ist. Wenn Sie sich die Mühe machen würden, den Schlußbericht des Untersuchungsausschusses zu lesen, dann könnten Sie zu einer anderen Einschätzung kommen.
Im übrigen haben wir die von Ihnen geforderte breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Ihnen hier im Hause immer nur gelegentlich führen können. Denn in den Ausschüssen waren Ihre Gruppe nie vertreten.
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In dem Untersuchungsausschuß, in dem ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, der Obmann meiner Fraktion zu sein, ist Frau Wollenberger nur ein einziges Mal erschienen, hatte also offensichtlich kein weiteres Interesse an einer, wie es von Ihnen heißt, breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung.
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- Da ist mir Kohl lieber.
Herr Kollege, ich muß Sie unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Knoche?
Ja, natürlich. Wenn ich sie anspreche, muß ich das zulassen.
Werter Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß vorausgesetzt werden kann, daß sich eine Fraktionssprecherin, die sich zum erstenmal im Deutschen Bundestag zu einer sehr speziellen Thematik äußert, hinreichend fachkundig gemacht hat, um die Aussagen, die sie trifft, treffen zu können?
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Vielleicht sind Ihnen der ganze Umstand und die Tatsachen des deutsch-deutschen Stasi-geleiteten Bluthandels ausführlicher bekannt. Dann könnten Sie ja die Frage beantworten, warum sich die Bundesregierung dazu nicht äußert.
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Um die Frage zu beantworten: Natürlich dürfte man voraussetzen, daß sich eine Sprecherin, die erstmalig hier redet, ausführlich sachkundig gemacht hat. Ich sage: Sie hätte es machen sollen. Darüber, ob sie es gemacht hat, bin ich mir aber doch sehr im Zweifel. Im übrigen: Von Stasi-geleiteten Verkäufen usw. steht im Schlußbericht des Untersuchungsausschusses nichts.
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Meine Damen und Herren, ich fahre dann fort: Die bereits vor den Bundestagswahlen geführten Beratungen - ich nehme beispielhaft die Beratungen zum Gesetz zur Anpassung krankenversicherungsrechtlicher Vorschriften und zum Psychotherapeutengesetz, das heute schon einmal genannt worden ist, heraus - haben deutlich belegt, daß im Grunde Ihre Unbeweglichkeit, ja Kompromißunfähigkeit, Herr Kirschner und Herr Dreßler, das Ganze im Vermittlungsausschuß haben scheitern lassen. Das können wir uns nicht leisten; denn die Menschen erwarten von uns, daß wir für diese Bereiche Lösungen finden und den Bundesrat und auch den Vermittlungsausschuß nicht als Blockadeinstrument mißbrauchen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Ich bin wirklich dankbar für die Zwischenfragen, da dies zeigt, daß Sie jetzt zuhören.
Herr Kollege Lohmann, meinen Sie mit den Begriffen Bewegungsunfähigkeit
({0})
und Kompromißunfähigkeit, daß die SPD innerhalb dieses Verhandlungsprozesses Ihren versuchten Einstieg zur Erhöhung der Selbstbeteiligung kompromißlos abgelehnt hat?
({1})
Nein. Wenn es überhaupt um den Einstieg in die Selbstbeteiligung geht: Das hat die SPD erstmalig in Lahnstein getan. Bis dato hatte sie es immer strikt abgelehnt.
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Wir haben das nicht für unlogisch gehalten und deshalb gemeint, man könnte auch in anderen Bereichen über diese Dinge sprechen, Herr Dreßler.
({1}) - Deswegen waren Sie ja so unbeweglich.
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Das wollten Sie doch von mir hören.
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- Das ist die Hauptsache. Es ist für uns Westfalen
- Sie sind in Wuppertal an der Grenze - einfacher, wenn man Klartext redet.
Ich möchte Ihnen von der CDU/CSU-Fraktion aus noch einmal versichern, daß wir bereit und willens sind, uns hier vor allen Dingen ergebnisorientiert sachlich und politisch auseinanderzusetzen. Es hat keinen Sinn, wie es vorhin Herr Kirschner getan hat, den Menschen beispielsweise mit Reformüberlegungen von vornherein Angst zu machen und sie zu verunsichern. So geschieht es aber laufend. Sie bauen Pappkameraden auf, arbeiten mit Unterstellungen, und wenn der Pappkamerad nach einer gewissen Zeit mühsam entstanden ist, schlagen Sie auf ihn ein und wissen zum Schluß überhaupt nicht mehr, warum Sie ihn aufgebaut haben.
Wir sollten zusammen zu vernünftigen Lösungen kommen. Das hat sich die Koalition fest vorgenommen. Sie können sich unserer Auffassung nach nicht ausschließen. Deswegen fordern wir Sie auf, Konzepte einzubringen und mitzuarbeiten.
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Meine Damen und Herren, die Orientierungsdaten für diesen Reformdialog, den wir Ihnen anbieten, haben wir mit der Koalitionsvereinbarung geschaffen. Diesen Rahmen gilt es nun durch die Arbeit zu konkretisieren. Ich hoffe also, daß wir in diesem Deutschen Bundestag zu gemeinsamen Ergebnissen kommen werden. Da helfen, Herr Kirschner, die Parolen, die Sie vorhin ausgegeben haben, überhaupt nicht weiter.
Mit der CDU/CSU, mit der Koalition wird es einen Abschied von der solidarischen sozialen Krankenversicherung, wie Sie es genannt haben, auf keinen Fall geben.
Wolfgang Friedrich Lohmann ({5})
Wer reformunfähig ist und sich uns auch als unfähig zeigt, Positives für die Zukunft zu leisten, dem ist natürlich nicht zu helfen. Die Menschen werden daraus ihre Schlüsse ziehen.
Schönen Dank.
({6})
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Sitzung.
Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 25. November 1994, 9.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.