Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 13a und 13b sowie die Zusatzpunkte 7 und 8:
13. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ludger Volmer, Angelika Beer, Dr. Helmut Lippelt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue europäische Sicherheitsarchitektur und die Rolle der französischen Atomwaffen
- Drucksache 13/2456 -Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({0}) Verteidigungsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 13/2392 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Gerhard Zwerenz, Heinrich Graf von Einsiedel, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS
Neue europäische Friedensordnung und deutsch-französische Nuklearkooperation
- Drucksache 13/2439 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({3}) Verteidigungsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Keine Atomwaffentests durch China und Frankreich
- Drucksache 13/2443 -Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz massiver internationaler Proteste hat Frankreich seinen ersten Atomtest gezündet, und es steht zu befürchten, daß weitere folgen, wenn wir nachlassen, dagegen zu protestieren.
Deshalb fordere ich hier als erstes, daß der Bundestag noch einmal unmißverständlich sagt, daß keine weiteren Atombomben gezündet werden sollen.
({0})
Leider hat Frankreich, statt diese üble Testserie einzustellen, versucht, die Notwendigkeit der Tests damit zu begründen, daß die französischen Atomwaffen eine sicherheitspolitische Funktion für Gesamteuropa haben könnten. Jaques Chirac und Juppé haben angeboten, daß die französischen Atomwaffen zum europäischen Atomschirm ausgebaut werden könnten. Darauf wäre meines Erachtens, meine Damen und Herren, eine eindeutige Antwort der Regierung fällig gewesen. Es hätte gesagt werden müssen: Wir weisen dieses Angebot von Chirac zurück.
Es ist schlimm genug, daß die Franzosen selber noch Atomwaffen besitzen und sich nicht daran beteiligen, die Atomwaffen insgesamt zum Verschwinden zu bringen und eine Sicherheitspolitik zu entwickeln, die insbesondere auf einer ökologisch-soLudger Volmer
zialen Strukturpolitik basiert, die in der Lage ware, konfliktpräventiv zu handeln.
({1})
Statt solcher eindeutigen Töne hörte man einen vielstimmigen Chor von seiten der Bundesregierung und aus der CDU/CSU. Der einzige, der das Anliegen der Franzosen einigermaßen klar zurückgewiesen hat, war Verteidigungsminister Rühe, zwar mit einem Argument, das wir nicht schätzen, nämlich daß der amerikanische atomare Schutzschirm ausreiche, aber immerhin wurde die Europäisierung der Atomwaffen abgelehnt.
({2})
Anders Außenminister Kinkel. Er fand den Vorschlag sehr interessant. Staatsminister Schäfer, der zum Glück hier anwesend ist, wies zwar das Anliegen in der jetzigen Form im Auswärtigen Ausschuß zurück, meinte aber, man müsse warten, was da sonst noch kommt, und die Dinge diskutieren.
Da frage ich: Was macht denn die Regierung? Weist sie zurück oder wartet sie ab, um das Angebot weiter zu diskutieren? Ich glaube, wir können da eine eindeutige Antwort verlangen. Die Bundesregierung muß eine eindeutige Politik formulieren.
({3})
Die Uneindeutigkeit hat Tradition. Heute führende CDU-Kollegen haben sich schon immer sehr interessiert an den französischen Atomwaffen geäußert, so z. B. Kollege Karl Lamers, der schon 1989 im Bundestag dazu sagte:
Die französischen und natürlich auch die britischen Nuklearwaffen müssen eine europäische Funktion erhalten. Die Bundesrepublik Deutschland muß ihre Haltung vor allem zur Zukunft des Nuklearen deutlicher machen als bisher. Auch wenn die Verteidigung in europäischen Händen läge, wäre für Frankreich zugleich die beste Versicherung gegen ein deutsches Abirren gegeben.
({4})
Sein jüngerer Kollege Friedbert Pflüger legitimiert heute die französischen Atomwaffen und darf zur Belohnung, wie ich erfahren habe, als erster deutscher Politiker das Plateau d'Albion betreten und die Force de frappe besichtigen.
({5})
Deshalb glaube ich nicht, daß die Bekundung der Bundesregierung, sie wolle nie und unter keinen Umständen die Mitverfügung über Atomwaffen erringen, so ohne weiteres haltbar ist.
Schon bei den Diskussionen über den Nichtverbreitungsvertrag für Atomwaffen haben wir skeptisch angemerkt, daß sich die Verzichtserklärung der Bundesrepublik bisher auf die Zusagen im WEUVertrag gründet. Der aber läuft in zwei Jahren aus.
Selbst wenn die Bundesregierung darauf verzichtet, im nationalen Rahmen, als Nationalstaat Atomwaffen zu haben oder darüber zu verfügen, so ist dadurch noch überhaupt nicht ausgeschlossen, daß sie im Rahmen einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft eine Mitbestimmung, eine Mitverfügung über Atomwaffen erhält. Schließlich werden die Vorgespräche über eine europäische nukleare Planungsgruppe schon geführt. Wir fordern in unserem Antrag, daß solche Verhandlungen sofort eingestellt werden und daß unmißverständlich Abschied von der Perspektive einer europäischen Atommacht genommen wird.
({6})
- Der Zwei-plus-Vier-Vertrag bezieht sich im wesentlichen auch darauf, Herr Irmer, daß die WEU-Bestimmungen bekräftigt werden. Er geht zunächst noch nicht einmal darüber hinaus, wie Sie Ihren ehemaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher fragen können, denn der hat das damals dort hineingeschrieben.
({7})
Es gibt führende, CDU-nahe Wissenschaftler, die auch meinen, daß die Absage der Bundesregierung an Atomwaffen nur halbherzig und nicht ernst gemeint sei. So formulieren z.B. Ernst Häckel und Karl Kaiser von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik - bekanntermaßen regierungsnah -:
Deshalb wäre es ein Beitrag zu einer die europäischen wie die globalen Bedingungen im Auge behaltenden Nichtverbreitungspolitik, wenn schrittweise beide
- nämlich die französischen und die britischen Potentiale miteinander verbunden und in eine europäische Struktur eingeordnet würden. Dies könnte aus einer europäischen nuklearen Planungsgruppe bestehen, welche die Einsatzoptionen definiert, sowie einer Entscheidungsstruktur mit europäischer politischer Spitze, die analog zu den NATO-Verfahren ein nationales Vetorecht Frankreichs und Großbritanniens erhalten kann, bis diese politische Spitze tatsächlich den Charakter eines konföderativen oder föderativen Organs annimmt.
Dann kommen Kaiser und Häckel zu der Schlußfolgerung:
Man muß ... sehen, daß der deutsche Kernwaffenverzicht zwar ohne Vorbehalt ausgesprochen wurde, aber nicht vorbehaltlos gemeint sein kann.
({8})
Dazu hätte ich gern einmal Ihre ganz klare Stellungnahme. Das müssen Sie zurückweisen. Schließlich sind das Berater in Ihrem Umfeld.
Ich frage Sie in diesem Zusammenhang: Warum trainieren eigentlich deutsche Tornados den Atombombenabwurf? Wir wissen doch, daß deutsche Stützpunkte neben den Atomwaffenlagern der Amerikaner existieren - in Nörvenich, in Büchel und in Memmingen -, und dort werden von deutschen Tornados Atombombenabwürfe trainiert. Warum wird das gemacht? Was soll der Sinn sein? Warum wird das nicht verboten? Warum sagt der Verteidigungsminister nicht, damit müsse sofort Schluß gemacht werden? Ich glaube, der Grund kann nur darin liegen, daß man sich gewisse Optionen immer noch offenhalten will. Ich glaube, daß dies auch von höchster Stelle, von seiten des Bundeskanzlers, in gewisser Weise abgedeckt ist. Auch dafür gibt es bestimmte Belege. Ich möchte sie Ihnen vortragen und um eine klare Stellungnahme bitten.
So hat der ehemalige Berater von Mitterrand, Jacques Attali, nun seine Memoiren verfaßt. Er hat dort fein säuberlich ausgeplaudert und aufgeschrieben, was Helmut Kohl mit Mitterrand besprochen hat.
Ich zitiere aus dem Buch von Attali:
2. Februar 1984: Helmut Kohl ({9}): Sogar auf dem Gebiet der Atomwaffen kann man viel mehr gemeinsam machen: Es gibt einen Geheimvertrag zwischen dem Präsidenten der USA und mir über den Einsatz von Atomwaffen. Ich habe hierzu von Reagan einen Brief bekommen. Man könnte sich einen Brief gleichen Typs von Ihnen an mich vorstellen.
François Mitterrand: Warum nicht?
Dann wurde vereinbart, daß Teltschik, der damalige Sicherheitsberater des Kanzlers, mit Attali das Weitere bespricht.
François Mitterrand schlug außerdem vor:
Man muß hinsichtlich des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft einen Geheimpakt zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien abschließen, um diesen Haushalt zu kontrollieren.
Helmut Kohl: Ja. Sehr gerne!
Am Mittwoch, dem 24. Mai 1985, war Horst Teltschik in Paris. Attali schreibt über das Gespräch:
Er
- Teltschik spricht mit mir - Attali auch über die Möglichkeit einer Partnerschaft zwischen Matra und Messerschmidt, um ein tatsächlich europäisch-autonomes nukleares Schutzschild zu entwickeln.
Ich denke, das sind Zitate, die doch sehr zur Sorge Anlaß geben.
Nun ist das zehn Jahre her. Geschichtsbücher haben in der Regel die Eigenschaft, daß sie keine Lebenden mehr treffen. Aber der Kanzler, dessen Vorhaben von 1984/85 hier zitiert worden sind, ist noch heute im Amt.
Wir haben ein Recht darauf, daß Bundeskanzler Kohl selbst hier die Regierungslinie darstellt und dies nicht durch den Staatsminister Schäfer tun läßt. Wir haben ein Recht darauf, daß der vielstimmige Chor der Bundesregierung zu einem Machtwort des Bundeskanzlers zusammengefaßt wird. Der Bundeskanzler möge bitte seine Richtlinienkompetenz in Anspruch nehmen und sagen, ob er bei seinen Vorhaben von 1984/85 geblieben ist, was daraus geworden ist und ob die Äußerungen der CDU/CSU-Fraktionskollegen, die gewisse Sympathien für den französischen Vorschlag hegen, aus der Kanzlerpolitik des letzten Jahrzehnts abgeleitet sind. Wir haben einen Anspruch darauf, weil wir meinen, daß alle Chancen genutzt werden sollten, die die Jahre 1989 und folgende geboten haben: die Chance, wegzukommen von der Bipolarität in Europa, wegzukommen von einer Abschreckungspolitik und wegzukommen von der Idee, Atomwaffen könnten überhaupt irgendeine Form von Sicherheit bieten.
({10})
Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie den Vorstoß der Franzosen eindeutig zurückweist. Auch wir sagen: Wir haben großes Interesse an einer Vertiefung der deutsch-französischen Freundschaft auf allen Gebieten - aber nicht auf dem Gebiet der Waffenbrüderschaft. Wir fordern von der Bundesregierung, daß sie mit uns über neue europäische Sicherheitssysteme nachdenkt, die in erster Linie konfliktpräventiv wirken, die den Dialog mit dem Osten vertiefen, statt neue Fronten aufzubauen, und die ein für allemal allen Atomwaffen in allen historischen Situationen eine eindeutige Absage erteilen.
Danke.
({11})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dieter Schloten das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Vorstandssprecher vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Jürgen Trittin, hat in einem Südwestfunk-Interview vom 20. Juli dieses Jahres die bemerkenswerte Aussage gemacht:
Wir wollen keine Großmacht Deutschland. Deswegen wollen wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Das Festhalten an einer national organisierten Atomstreitmacht ist aber gerade eine Absage an eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Diese Aussage hat mich sehr erstaunt, aber ich meine: Der Mann hat recht.
({0})
Trittin fordert nicht mehr und nicht weniger als eine Europäisierung der französischen und britischen Nuklearwaffen. Der Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Rede, die wir gerade gehört haben, fordern genau das Gegenteil.
({1})
Wir sind in diesem Hause einig: Atomwaffen sind eine Geißel der Menschheit. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, sie abzuschaffen. Aber wir schaffen sie nicht dadurch ab, daß wir mit dem moralischen Zeigefinger herumlaufen, besonders gegenüber unserem französischen Nachbarn,
({2})
sondern nur durch eine intelligente politische Strategie.
Wir wissen nicht, wie lange es bis dahin dauern wird, aber der Maastrichter Vertrag weist eindeutig die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik auf. Wir müssen uns die Frage stellen: Welche Rolle sollen darin die Atomwaffen spielen? Die Kritik an den französischen Atomwaffentests darf die Frage nach der Zukunft französischer, aber auch britischer Atomwaffen in Europa nicht verdrängen. Es gibt zwar viele Konzepte einer europäischen Sicherheitsarchitektur, aber alle umgehen die Frage, was mit den Atomwaffen wird.
Ich weiß, das Thema hat wenig politischen Charme. So sind alle froh, daß geschwiegen wird, insbesondere auch über den amerikanischen Atomschirm, der zur Zeit kein Gegenstand friedenspolitischen Protestes ist. Verdrängtes aber kehrt wieder. Die heutige von außen, nämlich durch Frankreich, initiierte Debatte ist nur ein Anfang. Wenn wir Verantwortungspolitik für Europa machen wollen, dann müssen wir uns auch diesen Fragen zuwenden. Sie lauten konkret: Ist eine atomare Komponente einer supranational gedachten europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes politisch begründbar? Führt sie eventuell zu einer Erosion des transatlantischen Verhältnisses? Ist sie mit der Zielsetzung der Überwindung der Atomwaffen vereinbar?
Die sorgfältige Prüfung dieser Fragen hat nichts mit einem Griff zur Atombombe zu tun,
({3})
wie manche Nationalliberale im Zusammenhang mit einem neuen deutschen Machtstaat träumen mögen. Wir Demokraten halten es vielmehr mit Immanuel Kant: "Der Frieden ist ein Meisterstück der Vernunft."
Ich danke Ihnen.
({4})
Der Kollege Schulz hat um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantrage entsprechend § 42 unserer Geschäftsordnung die Herbeirufung des Bundeskanzlers.
({0})
- Wunderbar. Sie sind sehr schnell, Herr Bundeskanzler; das haben wir mittlerweile mitbekommen. Insofern hoffe ich, daß Sie genauso schnell auf die Zitate reagieren, die hier von unserem Kollegen Ludger Volmer vorgetragen worden sind, denn da haben sich ungeheuerliche Dinge ereignet. Insofern hat die Herbeiführung des Bundeskanzlers einen gewissen Sinn. Er sollte nicht nur in den hinteren Reihen sitzen und schmunzeln.
Herr Kollege Schulz, Sie haben um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten. Da Sie nun etwas wünschen, was ohnehin erfüllt ist,
({0})
sehe ich keinen Sinn darin, daß Sie jetzt einen Debattenbeitrag leisten - es sei denn, Sie wollen eine Kurzintervention machen.
({1})
Herr Präsident, ich kann das beenden. Ich denke, der Sinn unserer Intervention ist klargeworden. Ich hoffe, daß der Bundeskanzler hier das Wort ergreift.
({0})
Herr Kollege Fischer, bestehen Sie unter diesen Umständen noch auf Ihrer Kurzintervention? - Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich direkt auf den Kollegen Schloten antworten.
Der entscheidende Punkt bei dem, was wir hier diskutieren, Herr Kollege Schloten, ist nicht, ob sorgfältig geprüft wird. Die entscheidende Frage ist, welche Funktion die Atomdebatte gegenwärtig und auf absehbare Zeit im Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozeß hat.
Es ist völlig offensichtlich gewesen, daß das Angebot Frankreichs jetzt als Reaktion auf eine nationale Entscheidung auf den Tisch kam, mit der sich FrankJoseph Fischer ({0})
reich erheblich isoliert hat. Sie wissen so gut wie alle anderen Kollegen hier, daß sich der europäische Einigungsprozeß in einem Zustand dramatischer Gefährdung befindet. Der europäische Einigungsprozeß ist - nach dem, was wir nach dem Treffen auf Mallorca gehört haben, was aber auch die Spatzen von den Dächern pfeifen - im Zusammenhang mit der entscheidenden Frage der Währungsunion mehr und mehr ins Stocken geraten. Gleichzeitig befinden sich - dies wird deutlich, wenn man die Äußerungen von Premierminister Juppé gegenüber französischen Bürgermeistern liest - die französischen Staatsfinanzen in einer dramatischen Situation.
Wenn man hier eins und eins zusammenzählt, dann wissen Sie so gut wie ich, daß der europäische Einigungsprozeß zusätzlich gefährdet wird, wenn er jetzt noch mit der Frage des atomaren Potentials von Großbritannien und Frankreich gegenüber den Nichtatomstaaten belastet wird. Das ist im Grunde genommen nur ein Vorbandenspiel der französischen Seite, um diesen europäischen Einigungsprozeß weiter ins Stocken zu bringen. Ich begreife nicht, daß Sie das nicht sehen.
Nun komme ich zum zweiten Punkt. Die Frage der Europäisierung, d. h. der Entnationalisierung der Nuklearwaffenpotentiale ist das eine; die Frage, ob wir ein nuklearisiertes Europa wollen, ist das andere. Ich finde es erstaunlich, daß die Sozialdemokratie neuerdings ja zu einem nuklearisierten Europa sagt.
({1})
- Jetzt sind Sie aber inkonsequent. Wenn ihr schon alle bei eurem Kollegen Schloten klatscht, dann müßt ihr vorher schon bei dem zuhören, was er erzählt.
({2})
Herr Präsident, ich komme zum Schluß. Ich kann hier für meine Partei klipp und klar sagen: Wir wollen ein Europa, das keine nukleare Supermacht ist, und das ohne Wenn und Aber.
({3})
Das Wort hat der Kollege Karl Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte beginnt gut, wie ich finde. Ich stelle fest, Kollege Fischer: Zu dem, was der Kollege Schloten unter Bezugnahme auf Ihren Kollegen Trittin gesagt hat, haben Sie kein Wort gesagt. Es ist in der Tat schwierig, dazu etwas zu sagen. Ich kannte dieses Zitat nicht.
({0})
Es ist hervorragend und beweist ein weiteres Mal, wie inkonsistent Ihre Position ist.
Im übrigen kann ich es mir auch nicht ersparen zu sagen, Herr Kollege Schloten: Das gilt auch für Ihre eigene Fraktion. Ich bin sehr gespannt, was Ihre Kollegin Wieczorek-Zeul gleich zu diesem Punkt sagen wird.
({1})
Ich will zunächst eines aufgreifen. Hier bitte ich darum, daß wir doch versuchen mögen, uns auf eine Meinung zu einigen. Es ist in der Reaktion auf die französischen Tests zum Teil eine moralische Überheblichkeit zum Ausdruck gekommen, die mir Sorgen macht.
({2})
Sie ist Ausdruck eines totalen Un- und Mißverständnisses in bezug auf das französische Selbstverständnis. Dazu gehört beispielsweise die Vorstellung, der französische Staat könne, solle, werde vor Greenpeace auf die Knie fallen. Das hat er nicht getan; ich füge hinzu: Gottlob hat er es nicht getan.
({3})
Diese Vorstellung muß uns weit über diesen Anlaß hinaus Sorgen machen. Wer legitimiert wen zu solchen Aktionen, wie Greenpeace sie durchführt? - Ich glaube, daß dies, auch das eine oder andere, was in dieser Debatte zum Ausdruck gekommen ist, ein Anlaß sein muß, die kulturelle Kommunikation zwischen Deutschland und Frankreich zu intensivieren. Denn - das sage ich ganz deutlich - so gut und hervorragend die Kommunikation auf der politischen Ebene klappt, so sehr macht mir doch das Nachlassen der Kommunikation auf der Ebene darunter oder darüber - wie Sie wollen - gewisse Sorgen. Deswegen, glaube ich, sollten wir alles dafür tun, daß diese Kommunikation intensiviert wird. Das ist nicht nur eine Sache der Regierung. Sie kann Weichen stellen und Anstöße geben. Das ist zwar nicht nur eine Sache von Parlamentariern; es ist aber insbesondere eine Sache von Parlamentariern. Ich hoffe, daß wir uns insofern jedenfalls weitgehend einig sind.
({4})
Nun zu dem französischen Angebot. Zunächst muß man klären, was nicht angeboten worden ist. Denn wir neigen immer dazu, Fragen zu beantworten, die gar nicht gestellt worden sind.
({5})
Es ist nicht die Frage gestellt worden, ob wir einen Finger am Knopf haben wollen. Natürlich ist sie überhaupt nicht gestellt worden. Wir dürfen es nicht, wir wollen es nicht, und selbst wenn wir es wollten, könnten wir es nicht. Also ist diese Frage absolut
irrelevant. All Ihre Rhetorik, Kollege Volmer, ist völlig unangebracht und zielt absolut ins Leere.
({6})
Zweitens. Es ist auch nicht der Vorschlag gemacht worden - Juppé hat das ganz klar gesagt -, den amerikanischen Nuklearschirm durch einen französischen zu ersetzen. Diese Frage ist nicht gestellt worden, ausdrücklich nicht. Sie werden es nicht schaffen, wieder eine Politik des Als-Ob zu betreiben und von dem wahren Sachverhalt und den eigentlichen Fragen abzulenken. Die Frage ist nicht: Soll Deutschland einen Finger am Knopf haben, ein Mitentscheidungsrecht bekommen? Soll der amerikanische Nuklearschirm durch den französischen ersetzt werden?
Worum geht es? Es geht einmal um die Frage, welche Rolle das Nukleare heute überhaupt noch in der grundlegend veränderten Welt spielt. Wir haben als Reaktion auf das französische Angebot eine Alternative. Wir können sagen: Wir wollen das Nukleare nicht. Oder wir sagen: Wir wollen bei der Gestaltung des Nuklearen mitwirken. Das erste, meine Damen und Herren, hätte mit Sicherheit überhaupt keine Aussicht auf Erfolg. Darin sind wir uns im Zweifel auch einig. Wenn es keine Aussicht auf Erfolg hat - und ich füge hinzu, ich bin auch nicht der Meinung, daß eine solche Position richtig wäre -, dann ist es ganz logisch und zwingend zu sagen: Also müssen wir über die Rolle des Nuklearen miteinander reden.
Es kann doch gar kein Zweifel sein, wir alle, alle Europäer sind doch allein von der Existenz dieser Waffen mitbetroffen. Deswegen muß es doch unser Interesse sein, daß wir bei der Gestaltung der Rolle dieser Waffen mitwirken, daß wir mit den Franzosen über die Doktrin reden, daß wir mit ihnen über die Einsatzplanung reden. Es kann doch gar kein Zweifel sein, daß dies in unserem Interesse ist, gerade auch dann, wenn es um Abrüstung und Nonproliferation geht. Wer nicht mitwirkt, entscheidet auch nicht mit über die Politik. Es ist doch unser vitales Interesse, daß wir dabei mitwirken, nicht bei der Entscheidung über den Einsatz, aber über die Gestaltung der nuklearen Strategie Frankreichs.
Vor allen Dingen müssen wir natürlich eines sagen - das sage ich allerdings auch mit Bestimmtheit -: Das Nukleare kann nur im Rahmen einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen europäischen Verteidigung eine Rolle spielen. Darauf müssen wir den allergrößten Wert legen. Das tun wir doch auch. Wir sind doch diejenigen, die das immer wieder fordern. Dann können die Franzosen sagen: Ihr könnt nicht so tun, als gäbe es das Nukleare von zwei Hauptbeteiligten, nämlich Frankreich und Großbritannien, gar nicht. - Umgekehrt müssen wir aber auch sagen: Ja, wir müssen aber eben auch über den Rahmen reden und nicht nur über das Nukleare.
Jetzt füge ich eines mit aller Bestimmtheit hinzu: Durch den französischen Nukleartest und die Reaktionen auf diesen sind die Aussichten auf eine gemeinsame Position mit Frankreich in den Fragen der Verteidigung und der Sicherheitspolitik generell besser geworden. Wie immer man die ursprünglichen Motive beurteilen mag: Frankreich hat erkannt, daß eine solche, eine große, eine schwierige, eine nukleare Politik nicht ohne die europäische Rückendekkung denkbar ist.
({7})
Wenn es so ist, dann wäre es fatal, wenn wir diese Chance nicht nutzten, denn jedermann weiß, daß sich Frankreich aus durchaus verständlichen, aber für uns nicht akzeptablen Gründen bei der Entwicklung einer wirklich handlungsfähigen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik schwertut, die letzten Endes die Abkehr vom Konsensprinzip und darüber hinaus erste Ansätze für die Einführung des Mehrheitsprinzips bedeuten würde. Ich finde, dieses französische Angebot ist gerade in diesem Kontext, auf diesem Hintergrund, den ich dargestellt habe, von ganz außerordentlich großer Bedeutung. Es wäre falsch, so zu tun, als sei das nur ein Ablenkungsmanöver.
Ich darf daran erinnern, daß das Angebot gar nicht neu ist. Schon Präsident Mitterrand hat es auch öffentlich sehr deutlich gesagt. Wir haben so getan, als hätten wir gar nichts gehört. Das tun wir manchmal gerne, wenn uns etwas unangenehm ist. Aber wir können der Frage nicht ausweichen, und wir sollten ihr nicht ausweichen.
Die Chancen sind besser geworden. Ich füge hinzu: Die dringende Notwendigkeit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer gemeinsamen Verteidigung Europas ist nun mehr als hinlänglich bewiesen, nicht zuletzt durch die schrecklichen Ereignisse im früheren Jugoslawien.
Herr Kollege Lamers, der Kollege Fischer würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Bitte, Herr Kollege.
Herr Kollege Lamers, Sie haben gesagt, Sie hielten es aus den von Ihnen dargestellten Gründen für notwendig, mit Frankreich über die zukünftige Gestaltung einer nuklearen Doktrin zu sprechen. Hätten Sie die Güte, dem Haus mitzuteilen - und sei es auch nur in vagen Ansätzen und Eckpunkten -, was Ihre Überlegung deutscherseits, regierungsseits und seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist, wie diese Doktrin gestaltet werden soll? Es wäre von hohem Interesse, wenn Sie hier einmal etwas konkreter würden.
({0})
Herr Kollege, das könnten wir durchaus tun, nur ist das nicht der Sinn der heutigen Debatte.
({0})
- Ja, Moment. - Ich will aber einen Hinweis geben, Herr Kollege Fischer; ich bin noch nicht zu Ende. Ich verweise zunächst einmal auf das, was dem Kollegen Volmer anscheinend völlig entgangen ist, nämlich daß es eine Mitwirkung Deutschlands und anderer NATO-Partner an der nuklearen Strategie der Vereinigten Staaten oder der NATO in Europa gibt. Das ist eine Tatsache. Das Maß der Mitwirkung an der französischen Nuklearstrategie könnte sich an dieser Mitwirkung, die Deutschland und andere NATO-Partner heute haben, orientieren. Das ist, glaube ich, ein hinreichender Hinweis als Antwort auf das, was Sie gefragt haben.
Daß die französische Doktrin wie inzwischen auch die NATO-Doktrin heute natürlich einen anderen Inhalt als zu Zeiten des Kalten Krieges hat, ist ganz klar. Aber vielleicht darf ich mir noch einen Hinweis erlauben, Herr Kollege Fischer. Die Nachrichten, die Herr Ekeus aus Bagdad mitgebracht hat, haben wohl uns alle zutiefst erschrocken. Das, was er festgestellt hat, ging weit über das hinaus, was selbst die Pessimisten angenommen hatten. Ich finde, in einer solchen Welt, wie wir sie haben - damit sind wir natürlich beim Grundsätzlichen -, können wir auf ein solches Mittel wie die Nuklearwaffen - Gott sei es geklagt - tatsächlich - nicht verzichten. Über alles Weitere reden wir mit den Franzosen zunächst einmal hinter verschlossenen Türen und dann erst auf dem offenen Markt.
Ich wiederhole: Die gemeinsame europäische Verteidigung ist eine Notwendigkeit, deren Dringlichkeit durch die Ereignisse im früheren Jugoslawien in dramatischer Weise bekräftigt worden ist. Ich füge hinzu: Auch die Umwandlung, die Reform, die Weiterentwicklung der NATO erfordert dringend einen größeren europäischen Beitrag. Sonst wird es mit der Dauerhaftigkeit des amerikanischen Commitments schwierig. Das sagen heute selbst Briten.
Aus all diesen Gründen sollten wir das französische Angebot nicht nur nüchtern prüfen, sondern sollten auch unsere eigenen Ansichten und unsere eigenen Interessen in dieses Gespräch einbringen. Wir sollten die Chance nutzen, die gemeinsame europäische Verteidigung einen entscheidenden Schritt weiterzubringen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist im Deutschen Bundestag vielleicht die letzte Chance vor dem angekündigten neuen französischen Atomtest, die französische
Regierung aufzufordern, auf diesen Test und auf eine solche Testreihe im Interesse der Menschen zu verzichten, weil Massenvernichtungswaffen nicht mehr getestet, nicht mehr „verfeinert" und nicht mehr neu entwickelt werden dürfen, sondern weil das Ziel sein muß, endlich von Atomwaffen wegzukommen und das Ziel der atomaren Abrüstung wirklich zu erreichen.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion haben bisher in diesem Haus eine Entscheidung über die Ablehnung dieser Tests und eine entsprechende Aufforderung an Frankreich verweigert. Sie haben das mit Mitteln der Geschäftsordnung getan. Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie heute unserem Antrag hier zu. Wer das nicht tut - ich sage das auch an die Adresse der Bundesregierung, die auf den Gipfeln immer wieder geschwiegen hat -, der muß sich sagen lassen: Er ist mitverantwortlich, wenn ein solcher Test in den nächsten Stunden oder Tagen tatsächlich passiert.
({1})
Wir appellieren an die französische Regierung, keine weiteren Atomtests durchzuführen. Es gibt Beschlüsse des Europaparlaments, der OSZE, der Internationalen Atomenergie-Organisation und des Südpazifik-Forums. Alle diese Beschlüsse machen deutlich, daß es notwendig ist, jetzt von der atomaren Aufrüstung wegzukommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bombe, die jetzt in einem zweiten Versuch getestet werden soll, hat die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die Bedenken vieler Wissenschaftler wegen des Austritts hochgefährlicher Nuklide, wegen der möglichen atomaren Gefährdung bis hin an die Küsten Japans und Australiens liegen doch auf dem Tisch. Jetzt möchte ich den Kollegen der CDU/CSUFraktion vorhalten: Sechs Wochen nach der Beschlußfassung über den Nichtweiterverbreitungsvertrag, in dem sich die Regierungen, die über Atomwaffen verfügen, verpflichtet haben, keine Tests mehr durchzuführen, führt die französische Regierung einen solchen Test zum erstenmal durch, testet das, was Alfred Dregger „Selbstmordwaffen" genannt hat.
({2})
Wir haben 48 000 atomare Sprengköpfe. Wir haben sie bereits heute. Ihre Abrüstung bedeutet erhebliche Probleme und Gefährdungen. Allein schon die Abrüstung ist gefährlich. Dann ist es doch an der Zeit, endlich dafür zu sorgen, daß mit diesem Wahnsinn der Entwicklung neuer Atomwaffen Schluß gemacht wird.
({3})
Ich muß sagen: Es ist doch ein absurder Punkt, zu sagen, das sei wegen Europa notwendig. Das muß man sich doch auf der Zunge zergehen lassen.
({4})
Die französische Regierung verhindert, daß Fachleute der Europäischen Kommission wirklich alle Elemente des Testgeländes untersuchen können, behindert damit die Beurteilungsfähigkeit der Europäischen Kommission nach dem Euratom-Vertrag. Wer das tut, der handelt nicht für Europa, sondern trägt dazu bei, daß in Europa eine Spaltung, eine Verlangsamung des Prozesses der europäischen Einigung einsetzt und der gefährdet die weitere europäische Einigung. Das ist das, was offensichtlich die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P. nicht kapieren.
({5})
Es ist so: Die Ankündigung für das nächste Jahr, ein vollständiges Atomtestabkommen zu verwirklichen, ist wichtig und notwendig. Aber was dabei auch erwähnt werden muß, ist die Gefahr bei dem Test dieser neuen Waffen. Jetzt komme ich zu dem, was Herr Lamers gesagt hat. Hinter dem französischen Konzept steckt doch die Vorstellung, daß man im Blick auf regionale Konflikte die Atomwaffe zu einer normalen Waffe gegen angeblich neue Gefahren machen will oder sie als solche begreifen will. Aber wer regionale Konflikte und Kriege - Herr Lamers hat es hier gesagt, er hat das Beispiel Irak angeführt - mit Atomwaffen als führbar erklärt, ermutigt all die Staaten, die bisher mit dem Druck des Nichtweiterverbreitungsvertrages vom Besitz von Atomwaffen ferngehalten wurden und ferngehalten werden mußten.
Wie zynisch müssen eigentlich die Menschen im Südpazifik die Ankündigung des endgültigen Stopps für nächstes Jahr empfinden, wenn ihre Region jetzt zum militärischen Exerzierfeld für weitere Atomtests gemacht wird? Frankreich schadet damit schwer seinem Ansehen in der dortigen Region. Was müssen die Menschen im Südpazifik empfinden? Einer von ihnen, der Ihnen das sagen kann, auch Ihnen, die Sie alles nur vom Schreibtisch her wissen, ist heute hier im Deutschen Bundestag. Er sitzt auf der Tribüne. Das ist Gabriel Tetiarahi. Er ist Präsident von Hiti Tau, des Zusammenschlusses der Nicht-Regierungsorganisationen der Maori auf Tahiti. Seine Organisation engagiert sich seit Jahren dafür, daß in seiner Heimat endlich keine Atomtests mehr durchgeführt werden. Ich sage Ihnen: Er kann auf unsere Unterstützung rechnen.
({6})
Ich hoffe, daß Sie alle, die Sie auch für Heimat sind, ein Wort dazu sagen. Wir begrüßen ihn hier im Deutschen Bundestag. 19 Vertreter und Vertreterinnen von Polynesien haben mit unserer Unterstützung eine Menschenrechtsbeschwerde gegen die französische Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eingebracht wegen Verletzung des Rechtes auf Leben und Gesundheit sowie wegen rassischer Diskriminierung.
Die Europäische Menschenrechtskommission hat diese Klage als zulässig erklärt, die Verhandlungen auf den 27. November dieses Jahres festgelegt und die französische Regierung aufgefordert, bis zum 20. Oktober Stellung zu beziehen. Der Respekt vor rechtsstaatlichen Verfahren und Institutionen gebietet es, daß die französische Regierung auf Atomwaffentests verzichtet. Der Menschenrechtsgerichtshof steht auf französischem Boden in Straßburg.
({7})
Ich habe schon gesagt: Ich halte es für einen durchsichtigen Versuch, in dieser Situation zu behaupten, es gehe darum, den französischen Atomschirm für Europa oder Deutschland auszuweiten. Es wird doch in einer Situation, in der sich Chirac in Europa in Schwierigkeiten befindet, der Versuch gemacht Mitverantwortung und Legitimation durch die Nachbarländer - auch der Bundesrepublik Deutschland - für die Atomtests herbeizuorganisieren. Dem sollten wir eine ganz klare Absage gegenüberstellen.
Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie klar und unmißverständlich die Europäisierung französischer Atomwaffen zurückweist. Wir haben in unserem Antrag, den wir heute zur Abstimmung stellen, gesagt: Deutschland hat auch nach der Vereinigung völkerrechtlich verbindlich auf Entwicklung, Produktion, Erwerb und Verfügung von Atomwaffen verzichtet. Das ist mit eine der Säulen deutscher Außenpolitik in den letzten Jahrzehnten.
Diese Verpflichtung wollen wir heute in der Debatte im Deutschen Bundestag bekräftigen und klarstellen, daß Deutschland eine Teilhabe an Atomwaffen auch auf indirektem Weg ablehnt.
Wir fordern Sie auf: Stimmen Sie mit, machen Sie diese Position deutscher Außenpolitik im Deutschen Bundestag erneut deutlich, und bekräftigen Sie sie.
({8})
Es hat vorhin schon eine Rolle gespielt: Die Bundesregierung muß auch klar Position beziehen, wie sie sich die Entwicklung einer europäischen Militärpolitik vorstellt - Verteidigung ist der falsche Ausdruck -, ob sie eine solche Militärpolitik mit Atomwaffen will oder nicht. Herr Lamers, der Begriff „Gestaltung von Nuklearem" war verräterisch.
Es geht nicht darum, daß wir die Nuklearwaffen in Europa in einem europäischen Maßstab gestalten sollen. Die Frage ist vielmehr: Wollen Sie, daß sie abgerüstet werden? Das ist das, was in diesem Haus heute deutlich gemacht werden muß.
({9})
Die Bundesregierung vertritt in diesen Fragen offensichtlich unterschiedliche Positionen. Es ist schon genannt worden: Kinkel sagte: interessant, Rühe meinte, der NATO-Schutzschirm reiche aus, und Herr Lamers machte die Öffnung gegenüber dieser europäischen Atomstreitmacht deutlich.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie in dieser Frage keine klare Position beziehen, dann setzen Sie und auch die Bundesregierung sich dem Verdacht aus, daß ein Teil der wahnsinnigen Milliardenkosten - Sie beteiligen sich sogar daran - eines französischen Atomprogramms auf den deutschen Steuerzahler abgewälzt wird.
Wir müssen auch einmal über solche Konsequenzen reden. Ich halte das Ganze für unverantwortlich. Auch da wirft Herr Lamers Nebel - Herr Lamers, vielleicht wäre es ganz gut, Sie hörten zu -, denn er sagt: Wir wollen doch, daß sich Frankreich äußert. Mit Verlaub: Wenn Frankreich im Rahmen der NATO entsprechende Informationen über seine nukleare Perspektive und den Umfang seines Potentials gibt - das hat es bisher verweigert -, dann wird es niemanden stören. Die Zielplanung gibt es gar nicht, weder in Frankreich noch in der NATO. Das ist ein Teil des Problems, das seit dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes in bezug auf die Atomwaffen existiert.
Herr Lamers deutet hier an, daß es nicht nur um eine indirekte Teilhabe an Atomwaffen, sondern auch um eine direkte Gestaltung Deutschlands in einer europäischen Atomstreitmacht geht. Das ist heute nicht ausgeräumt worden - im Gegenteil: Es ist noch deutlicher geworden.
Es geht um den Grundsatz: Wie wollen wir gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gestalten? Das bisherige französische Verhalten im Rahmen der Atomtests hat der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik geschadet. Es hat die erste gemeinsame Aktion, nämlich die Forderung nach Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, erschüttert, und es hat im Vorfeld der Regierungskonferenz, der Reformkonferenz zu Maastricht, die Ausgangsbedingungen für gemeinsame Positionen erschwert.
Wir wollen - Sie werden es nicht sagen; ich sage es für meine Fraktion und, ich meine, für die Opposition insgesamt -, daß die Europäische Union Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik praktiziert. Wir wollen aber auch, daß sie ein Motor nicht nur der Abrüstung insgesamt, sondern auch weltweiter atomarer Abrüstung wird und sich gemeinsam für Atomteststopps engagiert.
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Eine Atomstreitmacht Europa als atomare Supermacht: Welches Signal wäre das für die Welt? Es wäre ein Signal dafür, daß es um atomare Aufrüstung und nicht um Abrüstung geht. Es wäre ein Signal dafür, daß die Spirale erneut in diese Richtung angedreht wird.
Das Gebot der Stunde ist aber, die Selbstmordwaffen, die Atomwaffen, die Massenvernichtungswaffen zu ächten, zu verschrotten und Schritte in diese Richtung zu beginnen. Ich möchte, daß in der heutigen Debatte klargemacht wird, wie die Position der Bundesregierung zu all diesen Fragen ist. Herr Lamers hat die Perspektive „europäische Atomstreitmacht" aufgemacht. Ich will wissen, wie die F.D.P. zu diesen Fragen steht. Was sagt die Bundesregierung, was sagt Helmut Kohl zu diesen Fragen?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Kollege Uli Irmer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es trifft sich gut, daß ich als Redner folge, nachdem die Kollegin Wieczorek-Zeul
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die F.D.P. aufgefordert hat, zu sagen, was sie von der ganzen Sache hält. Ich will Ihnen das zunächst einmal mitteilen. Offensichtlich sind Ihnen in der Wirklichkeit die politischen Gegner abhanden gekommen; denn sowohl Sie als auch der Kollege Volmer haben sich krampfhaft bemüht, Popanze aufzubauen, von denen bisher weit und breit überhaupt nichts zu sehen war.
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Im Antrag der Grünen ist zu lesen: „Atomstreitmacht unter Kontrolle der Europäischen Union". Sie, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, haben eben von Europa als „atomarer Supermacht" geschwafelt.
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Ich muß wirklich fragen: Wo sind wir eigentlich? Welche Begriffswelt wird hier aus der Luft gegriffen und als dicke Blase aufgebaut? Angeblich soll dann ein wirkungsvoller Knall erfolgen, wenn Sie mit Ihren Worten auf diese Blase zielen. Aber Sie werden merken, daß nur eitel Luft darin gewesen ist.
Frau Wieczorek-Zeul, ich verstehe auch nicht, daß Sie die Koalition, die Bundesregierung anmahnen, zu den französischen Atomtests ganz klar Stellung zu nehmen. Das ist wieder und wieder geschehen. Mein Parteivorsitzender Wolfgang Gerhardt hat von dieser Stelle aus mehrfach ganz eindeutig gesagt, daß er diese französischen Atomtests nicht für richtig halten kann. Der Bundesaußenminister hat das für meine Partei erklärt. Der Bundeskanzler hat das erklärt. Werden richtige Erklärungen dadurch noch richtiger, daß man sie ständig wiederholt? Im Gegenteil, sie schleifen sich dann doch ab. Ich wiederhole nur ganz kurz: Es bleibt bei unseren früheren Aussagen in diesem Punkt.
Ich befürchte, daß sich die Franzosen selbst damit international keinen Gefallen getan haben, weil der Schaden, den sie für ihr Ansehen angerichtet haben,
sehr wahrscheinlich größer als der Nutzen ist, den sie aus den wissenschaftlichen Versuchen ziehen. Aber das ändert nichts an der Kritik, die wir angebracht haben und weiterhin anbringen.
Meine Damen und Herren, bei aller Berechtigung von Kritik kommt es ja nun auch ein bißchen auf den Ton an. Es kommt auch darauf an, welcher Methoden man sich bedient, um eine Kritik zum Ausdruck zu bringen,
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und ob man der Ernsthaftigkeit des Themas angemessen reagiert. Sie aber haben mit clownesken und auf die Kirmes gehörenden Aktionen das Thema im Grunde ins Lächerliche gezogen.
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Frau Wieczorek-Zeul, daß Sie bei dem Versuch, nach Mururoa zu kommen, auf dem falschen Dampfer saßen, kann niemanden erstaunen; denn Sie sitzen gewöhnlich auf dem falschen Dampfer.
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Wenn hier wirklich bis zum Boykott des Champagners und ähnlichen witzigen Aktionen versucht wird, das Thema ins Aktionistische und Lächerliche zu ziehen, dann muß ich hier anmahnen, daß das Thema zu ernst ist, als daß man derartige Späße damit treibt.
Aber es ist ohnehin leider Gottes so: Gewisse „Gutmenschen", die da jammernd durch die Lande ziehen, sind in aller Regel noch schwerer als die ausgemachten Schurken zu ertragen. Manchmal allerdings fällt beides in der gleichen Person zusammen, und dann ist es gänzlich unerträglich.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich möchte Ihnen folgendes vorhalten: Sie verlangen von uns, daß wir hier einem Antrag zustimmen, in dem in der Verurteilung - das ist Ihr Vokabular - überhaupt nicht zwischen Frankreich und der Volksrepublik China differenziert wird. In Ziffer 2 Ihrer Resolution schreiben Sie: „Der Deutsche Bundestag verurteilt den chinesischen Atombomben-Test ... " Und in Ziffer 3 heißt es: „Der Deutsche Bundestag verurteilt die Wiederaufnahme der französischen Atomwaffentests ... " Wenn Sie nicht zwischen China,
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das nach wie vor systematisch Menschenrechte mit Füßen tritt und in dessen Inneren es ganz schrecklich aussieht - fragen Sie nur die Kolleginnen, die gerade auf der Weltfrauenkonferenz in Peking gewesen sind -, und einem Freund und engsten Partner differenzieren, sondern hier beide gleichermaßen auf die Anklagebank setzen, dann können Sie von uns nicht
erwarten, daß wir einer solchen Resolution zustimmen. So geht man nicht mit Freunden um!
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Bei aller Kritik an den Atomwaffentests sollte hier deutlich unterstrichen werden: Frankreich ist und bleibt unser engster und wichtigster Partner in der Europäischen Union.
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Deshalb werden wir unsere französischen Freunde gegen unsachgemäße, überzogene und Schmähkritik jederzeit in Schutz nehmen, und darauf müssen sie sich verlassen können.
Was die Kernwaffen insgesamt anbetrifft, so sage ich noch einmal an die Adresse der jammernden „Gutmenschen": Wer liebt denn Atomwaffen? Wenn Herr Dregger gesagt hat, das seien Selbstmordwaffen, dann ist das ja richtig; es ist ja Teufelszeug. Aber ich kann es doch nicht aus der Welt herausbeten. Es ist doch nun einmal vorhanden.
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Solange unberechenbare Länder, für die die Namen Al-Gaddafi, Saddam Hussein oder Kim Jong II stehen, entweder jetzt oder möglicherweise in Zukunft über Nuklearwaffen verfügen, wäre mir - das muß ich ganz deutlich sagen - nicht wohl, wenn ich wüßte, daß es keine berechenbaren Staaten und Bündnisse mehr gäbe, die gleichfalls über solche Waffen verfügen. Ansonsten wären wir nämlich diesen Verbrechern gegenüber in einer Weise erpreßbar, die kein Mensch politisch verantworten kann.
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Es hilft doch nichts, wir arbeiten doch alle angestrengt für nukleare Abrüstung. Was ist denn das Ziel? Was ist denn schon erreicht worden? START I, hoffentlich demnächst START II; die Kurzstreckenwaffen sind verschwunden. Wir haben in dieser Richtung seit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts erhebliche Erfolge erzielt. Wir müssen weiterarbeiten. Aber es geht doch nicht, daß wir uns einfach eine schöne Welt zusammenbeten und dann eine Jammerleier anstimmen und sagen: Das ist alles Teufelszeug; das muß weg. Es muß weg, aber kontrolliert und in vernünftiger und berechenbarer Weise.
Meine Damen und Herren, eines muß klar sein: Es handelt sich bei den französischen Überlegungen, die jetzt angestellt worden sind, nicht um konkrete Angebote. Wir erwarten durchaus solche Angebote. Wenn sie denn kommen, sollten wir darüber reden. Herr Lamers hat hier überzeugend ausgeführt, daß es ganz selbstverständlich ist, daß wir, wenn diese Waffen bei unseren Partnern in der Europäischen Union vorhanden sind, auch sehr gerne darüber konsultiert werden möchten, wie die Nuklearstrategie aussieht. Oder ziehen Sie es vor, daß die Franzosen und die Briten diese Entscheidungen für sich allein treffen, ohne uns zu informieren oder nach unserer Meinung zu fragen? Das halte ich einfach nicht für eine angemessene Partnerschaft.
Es ist weiterhin völlig klar: Es bleibt bei den völkerrechtlich eindeutigen und verbindlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik. Wir wollen keine Atomwaffen, wir wollen keine Verfügungsgewalt. Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben.
Herr Volmer hat versucht, das hier in Frage zu stellen. Aber das ist doch im Zwei-plus-Vier-Vertrag und in anderen völkerrechtlichen, verbindlichen Erklärungen ganz klar festgezurrt. Deshalb brauchen wir das auch nicht in das Grundgesetz zu schreiben. Ich habe zwar nichts dagegen - das Grundgesetz könnte hier mit Zweidrittelmehrheit geändert werden -, aber die völkerrechtlichen Verpflichtungen sind von uns einseitig nicht aufzugeben. Insofern ist durch sie eine viel bessere Garantie gegeben, als wenn das alles im Grundgesetz stünde, obwohl ich gerne bereit bin, darüber zu reden.
Meine Damen und Herren, es muß auch klar sein: Wenn von Konsultationen in der Europäischen Union über die Nuklearpotentiale, die zwei der Partner besitzen, die Rede ist, dann darf die Diskussion sich nicht auf Deutschland als dritten Partner, der hinzugezogen wird, beschränken, sondern dann müssen alle Partner der Gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik mit einbezogen werden. Sonst bestünde die Gefahr, daß wir in einem ganz anderen Sinne plötzlich zu einem „Kerneuropa" kämen, wo nur noch ein Kern von Staaten über die Kernwaffenpotentiale beraten würde. Das darf nicht sein.
Herr Lamers hat ja dankenswerterweise seinen Vorstoß von damals zum Kerneuropa zurückgezogen bzw. stark modifiziert.
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Herr Lamers, Sie haben dadurch zwar konstruktive Anstöße gegeben - ich will das gar nicht bestreiten -, aber in der Beschränkung auf diese Vokabel hat das natürlich Irritationen ausgelöst.
Meine Damen und Herren, die Äußerungen, die Premierminister Juppé in engem Zusammenhang mit dem ersten Test dieser Reihe getan hat, waren natürlich vom Zeitpunkt her, sagen wir einmal: mißverständlich. Denn es konnte der Eindruck entstehen, als ob die deutsche Öffentlichkeit beschwichtigt werden sollte. Ich halte das nicht für sonderlich glücklich.
Ich betone noch einmal: Unsere Position zu den Tests ist klar, aber wir lassen es nicht zu, daß die enge deutsch-französische Freundschaft durch die Art des Protestes, durch die Art der Resolution, die Sie uns hier vorschlagen, in Zweifel gezogen oder gar gestört wird.
Ich sage noch eines: Wenn die Franzosen derartige Überlegungen anstellen, ist das insofern, wie Herr Kinkel gesagt hat, interessant, da es ihre Bereitschaft unterstreicht, durchaus in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in Fragen der gemeinsamen Verteidigung mit uns zusammen die gemeinsame europäische Politik zu gestalten.
Ich danke Ihnen.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Professor Dr. Jürgen Meyer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Irmer hat soeben die Proteste gegen die französischen Atombombentests pauschal als Clownerien bewertet und dabei die Aktion unserer Kollegin Wieczorek-Zeul sehr heftig und polemisch kritisiert.
Ich stelle dazu fest, daß ich - ich denke, daß das für viele in diesem Hohen Hause gilt - hohen Respekt vor allen habe, die mit den tief besorgten Menschen in Polynesien nicht nur sprechen, was Sie, Herr Kollege Irmer, möglicherweise noch nicht einmal getan haben, sondern sich mit ihnen zusammen vor Ort engagieren. Das zeigt Zivilcourage, wovon ich vielen von uns ein bißchen mehr wünsche.
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Zum Stichwort Clownerien paßt auch überhaupt nicht, daß wir hier vorgetragen haben, daß es die Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg gibt, die von 19 Klägerinnen und Klägern aus Polynesien eingereicht ist und von der SPD unterstützt wird. Herr Kollege Irmer, es ist ein seltener Fall bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte in Straßburg, daß eine solche Beschwerde nach kurzer Frist als vordringlich angesehen wird, und zwar von den Mitgliedern der Kommission, die aus allen Mitgliedstaaten des Europarats kommen. In diesem Zusammenhang sollten auch Sie ein bißchen ernsthafter darüber nachdenken, wie man wirkungsvoll statt nur mit pauschalen Erklärungen, gegen die Atombombentests vorgehen kann.
Schließlich halte ich Ihnen vor: Atomwaffen, wie Sie es getan haben, als Teufelszeug zu bezeichnen ist so lange wenig überzeugend, wie Sie gleichzeitig darüber nachdenken wollen, wie man diese französischen Atomwaffen in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas integrieren kann. Denn eine solche Integration und Überlegungen in dieser Richtung bedeuten doch, daß diese Atomwaffen durchaus sinnvoll wären und auch einsatzfähig erhalten, weiterentwickelt, verbessert werden könnten.
Ihr Nein zu Tests ist deshalb unglaubwürdig, solange Sie weitergehende Überlegungen haben. Denn diese weitergehenden Überlegungen legitimieren die Tests. Über diese Logik sollten Sie mal nachdenken.
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Herr Kollege Irmer, wollen Sie replizieren?
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Herr Präsident, vielen Dank. Ich hätte darauf verzichtet. Ich will nur ganz kurz folgendes sagen, damit kein Mißverständnis aufkommt, aber das war eigentlich von Anfang an klar: Herr Kollege, daß ich die Klage der Menschen aus Polynesien in Straßburg nicht unter den Begriff Clownerien subsumiert haben wollte, dürfte klargeworden sein. Ich habe, nachdem ich dieses Wort gebraucht habe, die Champagner- und Camembertboykotts genannt.
Selbstverständlich ist eine Klage vor einem Gericht wie in Straßburg eine ernst zu nehmende und zu respektierende Angelegenheit.
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Eine weitere Kurzintervention der Kollegin Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Irmer hat vorhin auf den Unterschied zwischen Frankreich und China verwiesen. In der Debatte, die wir im Juli geführt haben, hat der Kollege Duve mit meiner völligen Zustimmung - ich habe das an mehreren Punkten gesagt - erklärt, daß es absolute Unterschiede gibt, die wir hier auch deutlich machen müssen. Ein Land wie Frankreich, das Mitglied der Europäischen Union ist, das eine demokratisch gewählte Regierung hat und ein Rechtsstaat ist, kann bei der Bewertung nicht mit einer Diktatur mit den entsprechenden Potentaten, wie sie in China existieren, auf eine Stufe gestellt werden. Das ist ganz klar.
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Jetzt möchte ich Ihnen aber mit aller Sorgfalt einen Teil Ihrer Widersprüche entgegenstellen: Die SPD ist die Partei, die seit mehreren Jahren, seit es geht, seit der Zugang möglich ist, in China mit den dortigen Atomtestgegnern, dem Lop-Nor-Komitee, Kontakte hält. Wir waren dort, sie waren hier.
Es wäre vielleicht auch gut, wenn das Komitee das nächste Mal hier ist, nicht nur mit den chinesischen Wirtschaftspotentaten zusammenzutreffen, sondern auch - wir bieten es Ihnen an - mit den Menschen aus China zusammenzukommen, die als Minderheit den Tests in ähnlicher Weise ausgesetzt werden, wie das bei den Menschen in Polynesien der Fall ist. Das wollte ich gerne mit allem Nachdruck aus Anlaß des Punktes sagen, den Sie angesprochen haben.
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Das Wort hat die Kollegin Andrea Lederer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe den Kollegen Lamers noch beim Bundeskanzler sitzen, wo er sich mit ihm unterhält. Es geht vielleicht sogar um das Thema und die Frage, wie die Mitgestaltung auch in nuklearer Hinsicht zwischen Deutschland und Frankreich künftig in die Wege geleitet werden könnte.
Ich will Ihnen eines sagen: Es ging gar nicht um Nebelkerzen, die der Kollege Lamers hier heute geworfen hat. Er hat mit einer solch erschreckenden Offenheit und Deutlichkeit gesagt, daß richtig ist, was seitens der Friedensbewegung immer wieder befürchtet wurde, nämlich daß sich die Bundesregierung eine europäische nukleare Option offenhalten will.
Ich will Ihnen sagen, was er hier heute erklärt hat. Kollege Volmer hat zu Recht nochmals ein klares Nein zu Tests verlangt, ein klares Nein dazu, daß die Europäische Union eine nukleare Option, eine nukleare Komponente erhält.
Kollege Lamers aber hat hier heute gesagt, daß es um die Rolle des Nuklearen in Europa gehe. Richtig, Kollege Lamers. Darm haben Sie gesagt, man könne so antworten: Wir wollen keine nukleare Komponente in Europa haben; das habe keine Aussicht auf Erfolg; also komme diese Antwort nicht in Betracht.
Statt dessen geben Sie folgende Antwort, Kollege Lamers: Sie wollen mitgestalten, mitwirken an der Doktrin, an einer Abschreckungsdoktrin, daran, mit Atomwaffen zu drohen, und das irrsinnigerweise nach Hiroshima und Nagasaki und allem, was man dazu weiß, nach dem, was Herr Irmer irrationalerweise als Teufelszeug bezeichnet und wovon er sagt, man könne es nicht wegbeten. Herr Irmer, man kann es verschrotten, man kann es abbauen, man kann es abrüsten. Man muß dazu nicht beten; das kann man auch noch tun.
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Das alles, hat Herr Lamers heute hier erklärt, sei sozusagen das Ziel der Bundesregierung: sich durch Gespräche, durch Verhandlungen solche Fragen offenzuhalten.
Ich muß Ihnen sagen: Ich bin wirklich entsetzt. Ich hatte angenommen, daß klugerweise etwas mehr Zurückhaltung an den Tag gelegt wird. Wir haben hier heute eine eindeutige Antwort der die Bundesregierung tragenden Union erhalten. Sie wollen Gespräche haben über eine nukleare Komponente in Europa, und das wenige Monate vor der Revisionskonferenz von Maastricht, bei der die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eines der Hauptthemen sein wird. Das heißt, Sie fangen jetzt eine Diskussion darüber an, wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa ausgerechnet auch auf Nuklearwaffen gestützt werden soll. Das muß man sich einmal vorstellen.
Herr Irmer, Sie sprechen von Popanzen. Ich glaube, ich habe hier jetzt widerlegt, daß es sich um solche Popanze handelt.
Zu der Frage nach Unterschieden zwischen Frankreich und China will ich Ihnen folgendes sagen: Natürlich gibt es erhebliche Unterschiede, gerade in bezug auf die Demokratie, zwischen diesen Ländern. Aber ich sage Ihnen auch eines: Atomtests sind Atomtests, und Nuklearwaffen sind Nuklearwaffen. Der Protest ist dann glaubwürdig, wenn er ohne Ansehen dieser Länder solche Tests und solche Waffen verurteilt. Genau das ist auch das richtige Vokabular zu diesen Waffen.
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Es gibt - darüber ist die Öffentlichkeit bislang wohlweislich, nehme ich an, seitens der Bundesregierung leider nicht sonderlich gut informiert worden - eine Menge Hinweise darauf, daß diese europäische Option auf Nuklearwaffen und damit auch ein Zugang der Bundesrepublik zu Nuklearwaffen sehr weitsichtig und sehr frühzeitig offengehalten wurde. Der Kollege Volmer hat schon einige Dinge erwähnt, insbesondere aus Gesprächen und Verhandlungen.
Ich will ein weiteres Zitat hinzufügen: Bei der Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages von 1975 wurde von deutscher Seite festgelegt, daß
keine Bestimmung des Vertrages so ausgelegt werden kann, als behindere sie die weitere Entwicklung der europäischen Einigung, insbesondere die Schaffung einer Europäischen Union mit entsprechenden Kompetenzen.
Ich frage Sie - und ich nehme an, Herr Staatsminister Schäfer, Sie werden hier noch zu Wort kommen -: Beabsichtigen Sie, sich bei Ihren Verhandlungen zur Europäischen Union, bei Ihren Gesprächen, die Sie zu diesen Fragen vermutlich gerade auch mit der französischen Regierung führen, künftig auf diese Regelungen zu stützen, um damit eine deutsch-französische nukleare Planungsgruppe zu begründen, wie Kollege Dregger leider - das sage ich nach Ihrer brillanten Rede von vor einiger Zeit - nun vorschlägt? Das ist für meine Begriffe das Einfallstor. Haben Sie vor, sich auf diese Regelung zu stützen, um künftig letztlich auch eine deutsche Beteiligung, Mitwirkung, Mitgestaltung und damit zumindest auch den Teil eines Fingers an den Abzug zu bekommen?
Ich frage noch etwas. Wenn das hier immer heruntergespielt und gesagt wird, es handele sich ja noch gar nicht um ein substantielles Angebot, der Zeitpunkt sei sozusagen unglücklich, es sei schon längst, vor einigen Jahren, ein Angebot von Staatspräsident Mitterrand gemacht worden, dann frage ich Sie: Wollen Sie, daß das Angebot Substanz hat? Wünschen Sie sich das? Wenn ja, wenn dieses Angebot auf Grund Ihrer Prüfung Substanz hat, wollen Sie dann darauf eingehen? Wenn ja, wie verträgt sich das mit Ihren Erklärungen, die hier ewig und drei Tage abgegeben wurden, man wolle auf jegliche, auch indirekte Teilhabe an Nuklearwaffen verzichten? Dann
müssen Sie hier diesen Widerspruch einmal aufklären. Ausgerechnet Sie als abrüstungspolitischer Sprecher, Herr Pflüger, können dann nicht allen Ernstes behaupten, es sei ein interessantes Angebot,
({2})
das man prüfen müsse, weil es Ihnen eben nicht um Abrüstung von Atomwaffen geht - das wäre der einzige Grund für Gespräche und der einzige Anlaß -, sondern weil es Ihnen darum geht, sich zu beteiligen, mitzugestalten, mitzuwirken, wie Kollege Lamers es hier erklärt hat.
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- An der Minimalabschreckung. Mein Gott, haben Sie eigentlich eine Vorstellung, wie die aussehen soll, Minimalabschreckung? Perverserweise werden solche kleinen Miniatomwaffen - ich will Ihnen das mal sagen -, die Sie gegen Störenfriede oder was auch immer in der Welt einsetzen wollen, Baby-Nukes genannt. Was ist das für ein Denken nach alldem, was man über die Wirkung dieser Massenvernichtungswaffen weiß, daß man solche Minimalabschreckung per Atomwaffen organisieren will,
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zu einem Zeitpunkt, an dem 40 Kriege in der Welt stattfinden und es wohl allemal um etwas anderes geht als um so etwas!
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Die Debatte, die heute hier stattfindet, ist unglaublich makaber. Ich gehe davon aus, daß wir noch häufiger darüber diskutieren werden.
Ich erwarte, daß die Bundesregierung Antworten auf all diese Punkte gibt, die hier aufgeworfen wurden.
Wenn die französische Regierung dieses Angebot als substantiell verstanden hat, dann bitte ich darum, daß sich die französische Regierung sehr wohl auch noch einmal die Geschichte einer Diskussion um nukleare Beteiligung in der Bundesrepublik ansieht und darüber nachdenkt, inwieweit sie ein solches Angebot - wenn überhaupt - weiter aufrechterhalten will.
Uns befriedigt auch nicht der Hinweis darauf, daß der NATO-Schutzschirm ausreichend sei. Das ist für uns der Punkt, der uns in dem SPD-Antrag Schwierigkeiten macht, weil wir der Meinung sind, auch hier gäbe es durchaus die Möglichkeit, eine andere Weichenstellung vorzunehmen und einen anderen Ausgangspunkt in den Verhandlungen auch im transatlantischen Verhältnis herzustellen.
Es kann doch nicht sein, im Jahre 1995 erneut eine Diskussion darüber zu beginnen, daß Nuklearwaffen wieder die Grundlage für eine Sicherheits- und Außenpolitik sind. Das darf weder auf europäischer Ebene noch darüber hinausgehend und schon gar nicht auf nationaler Ebene sein.
Ich danke Ihnen.
({6})
Herr Kollege Hiksch hat das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hatte mich gemeldet, kurz bevor die Kollegin Lederer aufgerufen wurde, und zwar zu der Auseinandersetzung, die stattgefunden hat, weil der Kollege Irmer der Sozialdemokratischen Partei vorgeworfen hat, sie verurteile in einem Antrag Atomversuche sowohl von China als auch von Frankreich.
Lieber Kollege Irmer, ich möchte Sie doch einmal fragen: Haben Sie wirklich in Ihrem Kopf, daß Atombombenversuche in gute und böse eingeteilt werden können? Glauben Sie wirklich, daß man unterscheiden kann zwischen atomaren Strahlungen, die durch die französischen Atombombentests ausgelöst werden, und den atomaren Verstrahlungen, die von den Tests der Volksrepublik China ausgelöst werden? Glauben Sie wirklich, daß diese Tests unterschiedliche Auswirkungen auf Mensch und Natur hätten? Wir, die Sozialdemokratische Partei, sind gegen Atomwaffenversuche, gleich, welches Land sie durchführt, weil in der heutigen Zeit Atomwaffenversuche bzw. Atombombentests nicht mehr vertretbar sind, Mensch und Natur zerstören, ganz gleich, ob sie von Frankreich oder von der Volksrepublik China durchgeführt werden.
({0})
Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, unserem Kollegen Helmut Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unser heutiges Thema ist zu ernst und zu wichtig, als daß es sich - Herr Kollege Volmer, bei all Ihrem verständlichen Hang zum Drama - für künstliche Aufregungen eignen würde und schon gar nicht, finde ich, für Karneval auf dem Rhein. Überhaupt nicht eignet es sich zu der Behauptung - ich muß das in aller Deutlichkeit noch einmal sagen, auch wenn es jetzt nicht der Bundeskanzler selbst oder der Bundesaußenminister ist, aber es ist die Bundesregierung, die gelegentlich auch in Gestalt von Staatsministern hier erscheint -, daß die Bundesregierung einen deutschen Nuklearwaffenverzicht unterlaufen will, was hier unentwegt in all ihren Reden angedeutet wird. Das ist absolut grotesk und unsinnig, meine Damen und Herren.
({0})
Wir sollten uns zunächst noch einmal nüchtern betrachten, was in Frankreich eigentlich geschehen ist. In den letzten Wochen wurde dort in Interviews und Reden natürlich im Zusammenhang mit den Atomtests die Frage einer - ich zitiere - möglichen europäischen Dimension der französischen Nuklearwaffen thematisiert. Dabei geht es um eine Überprüfung und Weiterentwicklung der Vorstellungen Frankreichs über den Sinn und Auftrag des vorhandenen
französischen Nukleardispositivs. Völlig abwegig ist die Interpretation - das ist in keiner dieser Äußerungen jemals auch nur angedeutet worden -, die Bundesrepublik Deutschland durch die Hintertür zu einer Nuklearmacht zu machen. Das unterstellen Sie, aber kein französischer Politiker hat das bisher auch nur angedeutet.
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Die französische Regierung hat vielmehr erklärt, mit den französischen Partnern in einen Dialog über eine modifizierte Rolle der französischen Nuklearwaffen einzutreten. Dazu Premierminister Juppé am 7. September:
Wir sollten uns auch alle mit dem Gedanken anfreunden, daß die europäischen Länder ihre Verteidigungspolitik überdenken müssen und daß in diesem Zusammenhang die Rolle der Atomwaffen, über die zwei europäische Länder verfügen, auch überprüft werden muß. Nichtsdestoweniger ist eine Diskussion über all diese Fragen mit unseren europäischen Partnern, an erster Stelle mit Großbritannien und Deutschland, erforderlich. Eine neue Form der Konzertation muß gefunden werden.
Ähnliche Äußerungen - Herr Lamers hat darauf hingewiesen - hat Präsident Mitterrand bereits 1992 gemacht.
In der Logik der im Vertrag über die Europäische Union angelegten Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung liegt es durchaus, daß auch die Frage nach der Rolle der Nuklearwaffen Frankreichs und Großbritanniens in diesem Rahmen zu gegebener Zeit gestellt wird. Es ist auch naheliegend, daß der Denkanstoß dazu von Frankreich ausgeht.
Wir sollten die Frage einer solchen zukünftigen Rolle der französischen Nuklearwaffen in Europa aber nicht mit der Frage der Nukleartests, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, vermengen. Die Bundesregierung ist - ich, und nicht nur ich, sage das zum wiederholten Male - gegen solche Tests. Auch das ist hier wiederholt gesagt worden. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen - auch das ist hier gesagt worden, ich wiederhole es, und wir stellen das mit Befriedigung fest -, daß Frankreich inzwischen erklärt hat, sich gemeinsam mit uns für den Abschluß eines umfassenden Teststoppabkommens im nächsten Jahr einzusetzen. Das ist immerhin ein Fortschritt, den man zur Kenntnis nehmen sollte.
Herr Kollege Volmer, die Bereitschaft, mit unseren französischen Freunden über deren Ideen zu sprechen, ändert nichts an unserer grundsätzlichen Haltung, was den Verzicht auf den Besitz von und die Verfügungsgewalt über Atomwaffen angeht. Dazu bleibt unsere Position eindeutig.
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Ich darf weiter sagen:
Erstens. Der Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen ist im Zwei-plus-Vier-Vertrag, im Nichtverbreitungsvertrag und in anderen Vereinbarungen vertraglich festgeschrieben. Dieser Verzicht ist endgültig. Darauf hat im übrigen auch der französische Premierminister in seiner Rede hingewiesen. Er weiß das.
Zweitens. Für die Verteidigung unseres Landes bleibt das Nordatlantische Bündnis die entscheidende Grundlage. Der transatlantische Sicherheitsverbund in der NATO hat die Sicherheit Deutschlands über die schwierigen Jahrzehnte der Teilung und der Bedrohung gesichert. Auf die Kernfunktion dieses Bündnisses wollen und werden wir auch zukünftig nicht verzichten.
Drittens. Im Rahmen der NATO-Strategie gibt es eine Mitwirkung der nichtnuklearen Partner an der Formulierung dieser Strategie; die gab es, auch in nuklearen Fragen, übrigens immer. Niemand kommt auf die Idee, daraus eine Verfügungsgewalt der Bundesrepublik Deutschland oder anderer Partner über die amerikanischen oder britischen Nuklearwaffen abzuleiten; dies würde im Widerspruch zu unseren klaren internationalen Verpflichtungen stehen.
Für die heutige Debatte haben die PDS und die Grünen Anträge vorgelegt, mit denen der Bundesrepublik verboten werden soll, sich an den heute geltenden Vorkehrungen zur Mitsprache über die Nuklearpolitik innerhalb der NATO zu beteiligen. Dies würde uns der Möglichkeit berauben - ich sage das in allem Ernst -, zu diesem wichtigen Thema innerhalb des Bündnisses noch unsere Auffassungen einzubringen. Mit Deklarationen im Deutschen Bundestag allein, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, werden Sie nicht erreichen, daß Frankreich seine Nuklearwaffen aufgibt. Aber ganz wesentlich ist, daß ein permanenter Dialog über die zukünftige Rolle solcher Waffen geführt werden muß.
Meine Damen und Herren, Tatsache ist doch, daß es Nuklearwaffen gibt, ob wir wollen oder nicht. Entscheidend ist nun einmal, daß es gemäß dem unbefristet verlängerten Nichtverbreitungsvertrag, zu dem wir allesamt und in gemeinsamen Resolutionen und die Bundesregierung durch ihre Verhandlungen beigetragen haben, fünf Länder als legitimierte Nuklearmächte gibt, darunter drei Verbündete der Bundesrepublik Deutschland.
Es muß daher grundsätzlich unser Bestreben sein, unsere politischen Auffassungen und Interessen in bezug auf diese Nuklearwaffen mit in die Waagschale werfen zu dürfen. Um mehr geht es nicht. Aber das ist ungeheuer wichtig, gerade für solche Staaten, die über Nuklearwaffen nicht verfügen und auch nicht verfügen wollen.
Die Bundesregierung hat sich stets nachhaltig für Fortschritte in der nuklearen Abrüstung eingesetzt. Es ist manchmal ein bißchen erschreckend, wie schnell hier vergessen wird. Haben Sie eigentlich vergessen, daß es die Bundesrepublik war, die in herausragender Weise dafür gesorgt hat, daß die völlige
Abschaffung der bodengeschützten Kurzstreckensysteme oder die drastische Reduzierung der sogenannten substrategischen Waffen der NATO beschlossen wurde? Das ist passiert. Wie lange haben wir hier darüber diskutiert, bis es so weit war!
Wir hoffen auf die baldige Ratifizierung und Umsetzung des START-II-Vertrags. Wir werden uns auch in Zukunft für weitere Schritte der nuklearen Abrüstung einsetzen. Hier braucht die Bilanz der Bundesregierung keinen Vergleich zu scheuen. Mit ihrer Abrüstungshilfe leistet die Bundesregierung auch bei der tatsächlichen Umsetzung der Vereinbarungen über den Abbau der Nuklearwaffen einen praktischen Beitrag.
Gerade weil wir ein Nichtkernwaffenstaat sind und bleiben, müssen wir unsere Belange bei der Entwicklung einer vorhandenen und nicht einfach aus der Welt zu diskutierenden Nuklearstrategie einbringen dürfen. Im strategischen Konzept der NATO von 1991 haben wir zusammen mit unseren Partnern festgestellt, daß die unabhängigen Nuklearstreitkräfte des Vereinigten Königreichs und Frankreichs zur Abschreckung und damit auch zur Sicherheit der Verbündeten insgesamt beitragen.
Nun muß ich Ihnen sagen: Wenn Frankreich zum allererstenmal seit 1966, also seit 30 Jahren, erlaubt, daß überhaupt über seine Nuklearstrategie geredet wird, daß es einen Dialog gibt, dann kann ich mich doch nicht hier hinstellen und sagen, diesen Dialog lehne ich ab. Das wäre geradezu ein Witz, meine Damen und Herren. Zum erstenmal erlaubt Frankreich überhaupt, über diese Waffen zu sprechen, die es bisher nicht in der NATO zur Verfügung gestellt hat und für die es seine eigenen Vorstellungen in bezug auf die Strategie hatte - Sie wissen das noch -, zum Teil auch, was Kurzstreckenwaffen mit Reichweiten bis in unser Territorium hinein betraf.
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Nun kommt Frankreich und sagt: Wir wollen einen Dialog. Aber Sie verlangen heute von uns in Ihren Anträgen, daß wir diesen Dialog verweigern. Meine Damen und Herren, so können Sie keine Politik machen.
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Die französische Regierung hat erste Überlegungen geäußert, nicht mehr und nicht weniger. Es entspricht der Logik des europäischen Integrationsprozesses, zu diesen Überlegungen zu gegebener Zeit, vor allem dann, wenn Frankreich selber hierzu die Initiative ergreift, in ein Gespräch im Geiste der deutsch-französischen Partnerschaft einzutreten.
Herr Kollege Volmer, nicht mehr und nicht weniger habe ich auch dem Auswärtigen Ausschuß gesagt. Die Unterstellung, wir warteten geradezu und seien lüstern darauf, bei diesem Dialog endlich Atomwaffen zu bekommen, muß in seltsamen Gehirnen entstanden sein.
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Am Gespräch, am Dialog, an der zukünftigen Gestaltung solcher Strategien, die möglicherweise eines Tages - ich sage das sehr deutlich - ohne Atomwaffen auskommen werden - das hoffen wir alle -, sollten wir uns grundsätzlich beteiligen. Um nicht mehr und nicht weniger geht es uns.
Ich glaube, die ganze Aufregung, die hier inszeniert worden ist, bricht schon langsam in sich zusammen. Das wird bei dieser Debatte immer deutlicher. Es besteht nicht der geringste Anlaß zu Spekulationen oder zu künstlich gemachtem Wahlkampf.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Helmut Lippelt das Wort.
Herr Staatssekretär!
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Sie haben eben wieder darauf hingewiesen, daß wir in einen Dialog über eine modifizierte Position bezüglich der französischen Nuklearwaffen eintreten sollten, daß wir durchaus auf Europäisierung hinwirken sollten usw.
Worüber wir hier heute sprechen, ist etwas ganz anderes. Wir sprechen darüber, mit welcher Intention Sie in diese Gespräche gehen wollen. Genau an den Punkten bedarf es doch der Klarheit. Herr Attali ist ja eine höchst unseriöse Quelle; das ist überhaupt nicht zu leugnen, das wissen auch wir. Aber auch unseriöse Quellen können Steinschläge lostreten. In diesem Fall werden dem Bundeskanzler Behauptungen zugeschrieben, die so wirken können. Wir haben gefragt, was der Bundeskanzler dazu sagt, daß ihm an-gesonnen wird - ob über Herrn Attali oder über seinen Gesprächspartner Mitterrand lassen wir einmal offen -, an Gesprächen beteiligt gewesen zu sein, in denen es darum ging, ein europäisches Nuklearpotential auch mit Fragen der Finanzierung zu verbinden. Ich denke, es wäre sinnvoll, an dieser Stelle mehr Klarheit zu schaffen.
Herr Lamers hat in gewisser Weise recht. Sie haben recht mit Ihrer Einschätzung, daß die Situation für das Eintreten in den Dialog günstig ist. Nur, wenn Sie von Mitgestaltung reden, beginnt die Verunklarung.
({1})
Deshalb müssen wir wissen: Mit welcher Intention gehen Sie in diese Gespräche?
Wir alle sind froh darüber, daß die bipolare Welt zerfallen ist. Aber beim Aufräumen darf man über diese Fragen nachdenken. Dann fällt der enorme Schritt auf, zu dem sich die Ukraine nolens volens, aus Finanzgründen und anderen Gründen, gedrängt gesehen hat. Dieser Schritt der Ukraine, eine der bedeutendsten Leistungen im letzten Jahr, beseitigt
eine Nuklearmacht. Es wäre zu begrüßen, wenn Sie sich vice versa in manchen Punkten auf die noch notwendige Rolle der USA verlassen - ich bestreite überhaupt nicht, was Sie in diesem Zusammenhang zu Ekeus gesagt haben - und mit den europäischen Verbündeten darüber sprechen, ob wir nicht die Dynamik der Entnuklearisierung dieser Welt Zug um Zug vorantreiben, indem man nur das Ziel vor Augen hat, die Zahl der Atommächte zu verringern.
Die Frage ist nicht, wie wir die atomare Rolle Englands oder Frankreichs mitgestalten. Es geht nur darum, wie wir mit England und Frankreich in dem Sinne reden können, daß sie sich in der Lage sehen, dem ukrainischen Beispiel zu folgen. Das ist die einzige Gesprächsmöglichkeit, die ich Ihnen zubilligen würde. Bei allem anderen finden Sie unseren entschiedenen Widerstand.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Alfred Dregger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Zitat, auf das sich verschiedene Kollegen verschiedener Fraktionen heute bezogen haben.
({0})
Es sind Sätze, die ich in der letzen Atomdebatte am 16. Februar 1995 gesprochen habe:
Kein Staatsmann, der bei Verstand ist und ein Minimum an Verantwortung empfindet, wird nach den Erfahrungen von Hiroschima, Nagasaki, aber auch Tschernobyl Atomwaffen einsetzen. Atomwaffen sind keine Waffen des militärischen Sieges, keine Waffen der Schlacht, sie gehören erst recht nicht auf des Gefechtsfeld, und auf eigenem Territorium sind sie Selbstmordwaffen. Es darf daher keine militärische Strategie und keine militärische Doktrin mehr geben, die, und sei es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaffen vorsieht.
({1})
Meine Damen und Herren, Gott sei Dank liegen die ersten und bis dahin letzten Atomwaffeneinsätze lange zurück. Ich bin überzeugt: Wenn eine Atomwaffe in den letzten Jahren, wo auch immer auf der Welt, eingesetzt worden wäre, dann gäbe es niemanden mehr, der an der Richtigkeit der Sätze zweifeln würde, die ich eben vorgetragen habe.
({2})
Die Notwendigkeit einer Minimalabschreckung bleibt aber bestehen. Denn wir dürfen uns den Gaddafis und anderen Leuten, die nicht gewillt sind, sich an die Völkerrechtsordnung zu halten, nicht ausliefern.
({3})
Diese Minimalabschreckung muß unter internationaler Kontrolle erfolgen, durchgeführt durch die klassischen Atommächte, die sich auf diese Aufgabe vorbereiten müssen.
Aber bis wir dieses Ziel einmal erreicht haben werden, werden noch lange Jahre vergehen. Wir leben vorerst in einer Welt voller Waffen und auch voller Atomwaffen. Wir dürfen uns nicht allein auf unser Fernziel konzentrieren, sondern wir müssen uns fragen: Was können wir denn tun, um diese Gefahren für unser Volk zu reduzieren?
Ich bin der Meinung, daß wir dazu Verbündete brauchen. Wir haben sie ja in der NATO. Dazu gehört, daß wir uns unterrichten, wie denn der Stand der Gefahrenlage ist. Es wurde vorhin kritisiert, daß wir der Nuklearen Planungsgruppe der NATO angehören. Das ist für uns lebensnotwendig. In dieser nuklearen Planungsgruppe werden wir informiert; dort werden wir konsultiert. Wir erhalten so die Möglichkeit, unsere spezifisch deutschen Sicherheitsinteressen bei denen zur Sprache zu bringen, die am Drükker sitzen. Das setzt auf unserer Seite Einfühlungsvermögen, Sachverstand, Gesprächsbereitschaft, Vertrauen und Vertraulichkeit voraus. Mit apodiktischen Forderungen, wie die Grünen sie in ihrem Antrag erhoben haben, geht das nicht.
Was uns gegenüber den USA und Großbritannien seit langem gelungen ist, sollte uns jetzt auch Frankreich gegenüber gelingen, das bisher zu einer vergleichbaren Lösung nicht bereit war. Wie wertvoll das für uns sein würde, sei am Beispiel der Hades - Sie kennen dieses Problem - erläutert. Diese Kurzstreckenrakete wurde noch unter der Präsidentschaft von Mitterrand produziert, eine Rakete, die wegen ihrer geringen Reichweite von weniger als 450 km nur Deutschland und die anderen unmittelbaren Nachbarn Frankreichs treffen könnte, nicht einen potentiellen Angreifer. Die Kurzstreckenraketen sind daher für uns noch gefährlicher als die Mittel- und Langstreckenraketen.
Deshalb haben wir in Gesprächen mit Frankreich gegen diese Kurzstreckensysteme Front gemacht. Das Ergebnis: Ihre Zahl wurde verringert; sie wurden in die Depots verbannt; Truppen für die Betreibung dieses Systems wurden nicht mehr aufgestellt. Das war ein Erfolg, wenn auch kein vollständiger.
Wir Deutschen haben ein Interesse daran, daß der neue Präsident seinen Vorgänger in diesem Punkt bestätigt und - was noch besser wäre - diese Kurzstreckensysteme vollständig beseitigen ließe. All das setzt aber voraus, daß wir die von Frankreich angebotene Zusammenarbeit nicht ausschlagen, daß wir intensiv miteinander sprechen.
Mein Vorschlag ist: Die von Frankreich angebotene Zusammenarbeit mit Deutschland und den anderen europäischen Verbündeten sollte in einer europäischen nuklearen Planungsgruppe institutionalisiert werden. Das könnte und sollte ein Thema für die Regierungskonferenz zur Überprüfung des Maastrichter Vertrages sein.
Im übrigen empfehle ich, Frankreich in dieser Diskussion in einer Weise zu behandeln, wie unser engster und wichtigster Verbündeter in Europa es erwarten kann.
({4})
Das bedeutet, alle Forderungen, die wir an Frankreich richten, sollten wir auch an die USA, Großbritannien und Rußland richten. Daß sich Frankreich ferner ohne Einschränkung bereit erklärt hat, 1996 ein umfassendes Teststoppabkommen abzuschließen, sollten wir nachdrücklich begrüßen.
({5})
Ich appelliere an die anderen Atomwaffenstaaten, diesem guten Beispiel Frankreichs zu folgen.
An der Position Deutschlands - der Herr Staatsminister hat es vorhin dankenswerterweise klargestellt - sollte sich im übrigen nichts ändern. Wir haben auf Atomwaffen verbindlich verzichtet und streben weder Mitbesitz noch Verfügungsgewalt über diese Waffen an. Es liegt aber im existentiellen Interesse Deutschlands, auf die Atomwaffen seiner Verbündeten, auf deren Einsatzdoktrin und auf deren Zielplanung Einfluß zu nehmen - auf die französischen nicht weniger als auf die amerikanischen und britischen, auf die Deutschland seit langem im Rahmen der Planungsgruppe der NATO Einfluß nehmen kann und Einfluß nimmt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir realistisch und ohne Aufregung unsere nationalen Interessen und unser Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens prüfen, könnten wir zu einer Übereinstimmung kommen, zu einer Lösung dieser Probleme mit Frankreich und damit zu einer Stärkung in Deutschland und auch in Europa.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Karsten Voigt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist äußerst interessant - weniger, weil die Franzosen eine neue Nuklearpolitik oder Nuklearstrategie verkündet hätten; bisher haben sie nur einen Begriff in die Debatte geworfen. Sie ist viel interessanter wegen der deutschen Reaktion, weil hier im Parlament sichtbar wird, welche Hoffnungen die einen und welche Befürchtungen die anderen haben.
Da möchte ich Herrn Dregger an das erinnern, was Sie in der Debatte über Hades und Pluton angesprochen haben. Damals haben die Franzosen den
Kanten D. Voigt ({0})
Begriff der „dissuasion elargie" in die Debatte geworfen. Dann gab es auf Regierungsebene Arbeitsgruppen, dann gab es Arbeitsgruppen zwischen den Parteien, auch zwischen der Sozialistischen Partei Frankreichs und der Sozialdemokratischen Partei, und alle haben wir geprüft, was sich an der französischen Politik ändern würde, welche Hoffnungen, welche Gefahren es gibt, ob sie uns endlich über ihre Absichten genau informieren würden, wie uns bisher die Amerikaner informieren. Was kam heraus? Heiße Luft!
Bei allem Respekt vor den verschiedenen Äußerungen, die hier gefallen sind, muß man erst einmal feststellen, was in Frankreich wirklich gemeint ist. Man sollte nicht auf eine klassische Art französischer Diplomatie hereinfallen, daß, wenn man sich in einer internationalen Krisensituation befindet - in diesem Falle die Nichtakzeptanz der Nukleartests -, eine diplomatische Bewegung gemacht wird, die dann wieder versickert. Dann haben sie sich alle aufgeregt, die einen etwas befürchtet und die anderen etwas gehofft. Gewesen ist aber nichts.
({1})
Da unterscheide ich mich grundsätzlich nicht in dem Wollen einer deutschfranzösischen Zusammenarbeit, aber in der Art, wie ich mit so etwas umgehe, von meinem Kollegen Karl Lamers, der immer, wenn jemand in Paris hustet, in Bonn Schnupfen bekommt. Ich glaube, diese Art und Weise darf man auch im Umgang mit einem so seriösen Partner, wie es eine alte diplomatische Schule in Paris ist, nicht betreiben.
Es ist wahr, die deutsch-französische Freundschaft ist bei uns so etwas wie eine zweite Staatsraison. Sie ist die Voraussetzung für den Aufbau Europas, für die Vertiefung und Erweiterung der Integration und natürlich auch für die Osterweiterung. Ohne die deutschfranzösische Zusammenarbeit funktioniert in Europa nichts.
Ich möchte aber einfach darauf hinweisen, daß diese deutsch-französische Zusammenarbeit in den letzten Jahren gelitten hat, und zwar nicht, weil die SPD-Fraktion oder einzelne Abgeordnete aus ihr gegen Nukleartests protestieren, sondern weil schlicht und ergreifend die Bundesregierung Versäumnisse zu verzeichnen hat, die sie nicht beseitigt hat.
({2})
Es hat Meinungsverschiedenheiten beim GATT gegeben. Es gibt sie bei der institutionellen Weiterentwicklung der Europäischen Union, bei der Osterweiterung, bei der Finanzierung der Europäischen Union und bei bestimmten Punkten der Balkanpolitik. Das alles hat diese Bundesregierung schleifen lassen. Das ist nicht behoben worden.
Ich möchte noch einmal daran erinnern, wie der französische Botschafter Scheer demonstrativ öffentlich in das Auswärtige Amt einbestellt worden ist. Das ist ein Umgang, der sich unter Partnern in dieser Form nicht gehört.
({3})
Es macht mich besorgt, daß diese Bundesregierung, die immer von der deutschfranzösischen Freundschaft redet - der Bundeskanzler am allermeisten -, in den letzten Jahren die deutsch-französische Beziehung in der Sache, in der Substanz hat schleifen lassen und daß deshalb in wachsendem Maße Entfremdung zu verzeichnen ist und auch die Gefahr der Umorientierung besteht. Die französische Zusammenarbeit mit den Amerikanern und den Briten z. B. ist auch ein Zeichen dafür, daß sich dieser Bundeskanzler und diese Bundesregierung zuwenig um Paris gekümmert haben. Der Bundesaußenminister ist ausgesprochen selten dort gewesen.
({4})
- Ich glaube, ich bin in den letzten Jahren häufiger in Paris gewesen als der Bundesaußenminister. Die Bundesregierung redet von der deutsch-französischen Zusammenarbeit, aber sie tut wenig.
({5})
Dazu gehört übrigens auch die Frage der Nukleartests. Der französische Präsidentschaftskandidat Chirac
({6})
- ich bin schon bei der Sache - hat bereits während seines Präsidentschaftswahlkampfs gesagt, daß er, im Unterschied zu dem Kandidaten der französischen Sozialisten, die Nukleartests wieder aufnehmen wolle. Warum hat diese Bundesregierung ihm nicht schon während des Wahlkampfes signalisiert, daß nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus allen anderen europäischen Staaten ein solcher Protest kommen würde?
({7})
Indem die Bundesregierung hier nichts getan hat und nicht frühzeitig gewarnt hat, hat sie eine Krise in den deutsch-französischen Beziehungen und in den Beziehungen Frankreichs zu Europa mit provoziert.
({8})
Durch Wegducken, Wegtauchen und Aussitzen löst man solche Probleme nicht.
Es ist also viel Porzellan zerschlagen worden. Trotzdem sollten wir diese Debatte auch als Chance begreifen, als Chance, endlich die deutsch-französischen Beziehungen wieder zu bereinigen und durch neue Aktivitäten auch zu festigen.
Ich bin z. B. der Meinung, daß wir in den deutschfranzösischen Beziehungen versuchen sollten, den Elysee-Vertrag zu ergänzen oder zumindest darüber zu beraten, wie er ergänzt werden soll. Es ist beispielsweise unerträglich, daß es dort nur eine Zusammenarbeit zwischen den Regierungen gibt. Warum gibt es dort keine Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten? Diese muß im Vertrag mit vereinbart werden. Hier fehlen entsprechende Initiativen der Regierungskoalition und der Bundesregierung.
Karsten D. Voigt ({9})
Wir erleben in der gegenwärtigen Debatte, daß deutsche und französische Intellektuelle die Probleme der Nuklearwaffen, aber auch die Probleme in Bosnien und andere Fragen Osteuropas unterschiedlich wahrnehmen. Es gibt also offensichtlich trotz aller Gemeinsamkeit einen Unterschied in der politischen Kultur. Warum wird so wenig für den deutschfranzösischen kulturellen Austausch getan und der Dialog zwischen diesen Eliten nicht intensiviert?
({10})
Deutsche und Franzosen, das sind Freunde, die in Wirklichkeit kulturell und politisch weniger miteinander verkehren als Deutsche und Amerikaner. Aber auch dort haben die Kontakte abgenommen. Auf der Bevölkerungsebene läuft das gut, aber bei den politischen Eliten sind zunehmend Entfremdungserscheinungen zu verzeichnen.
Zu den deutsch-französischen Beziehungen gehört aber auch, daß man sich darüber klar ist, wo man unterschiedlicher Meinung ist. Das ist z. B. bei den Nukleartests der Fall. Ich habe eben schon gesagt, wir hätten den Franzosen frühzeitig bereits im Wahlkampf sagen sollen, daß wir gegen diese Waffen sind.
Nun zum französischen Angebot. Ich habe in den letzten Wochen - zum Teil waren einige Kollegen aus anderen Fraktionen beteiligt - mit französischen Abgeordneten geredet und gefragt, was im Angebot steht. Ich habe eigentlich nur herausgehört, daß sie gesagt haben, man müßte prüfen, ob vielleicht später einmal etwas in der Substanz sein könnte. Daß die Franzosen ihre Nuklearpolitik ändern würden, habe ich nicht festgestellt. Herr Dregger, man kann ja über eine europäische nukleare Planungsgruppe reden. Aber warum gehen die Franzosen nicht in die Nukleare Planungsgruppe der NATO?
({11})
Aber lassen wir diesen Punkt beiseite. Reden wir einmal über die Idee der europäischen nuklearen Planungsgruppe; sie ist über 20 Jahre alt. Warum hat denn diese Bundesregierung, wenn sie meint, das sei richtig - darüber gibt es hier im Parlament unterschiedliche Auffassungen -, die Franzosen bisher nicht dazu bewegt? Entweder hat sie es nicht versucht, oder sie hat sie nicht bewegen können.
Realität ist, daß beides zutrifft. In den vergangenen Jahren ist mit den Franzosen weder über deren Nuklearpolitik intensiv geredet worden, noch gibt es in informellen Gesprächen irgendeinen Ansatzpunkt dafür, daß die Franzosen ihre Nuklearpolitik ändern wollen.
Die Franzosen denken überhaupt nicht daran, ihre nationale Verfügung über Nuklearwaffen aufzugeben. Das ist für sie - ich sage das einmal so - noch ein viel stärkeres Symbol als für uns die Bundesbank. Die Force de frappe ist für die Franzosen das Symbol der nationalen Souveränität.
Ich bin gegen eine deutsche Mitverfügung über diese französischen Nuklearwaffen. Aber ich glaube auch, die Konservativen, die meinen, sie bekämen irgendeine Mitverfügung, werden schlicht und ergreifend in der bitteren Realität eines anderen belehrt werden. Es wird keine europäische Verfügung über französische Nuklearwaffen geben. Es wird erst recht keine deutsche Mitverfügung über Nuklearwaffen geben. Das ist auch gut so.
({12})
Also sollten wir mit den Franzosen darüber reden, wie sie sich in der Sache nicht nur rhetorisch, sondern in Zukunft europäischer verhalten. Es ist doch einfach die Realität, daß sie jetzt eine europäische Geste machen, aber vorher die Nukleartests ohne europäische Einbeziehung durchgeführt haben. Es gibt also einen tatsächlichen Ablauf, der faktisch nicht proeuropäisch ist, und eine Rhetorik, die proeuropäisch ist.
Jetzt wäre es doch die Aufgabe einer einigermaßen handlungsfähigen Bundesregierung, zu dem französischen Partner zu gehen, besonders wenn man bilaterale Beziehungen sehr pflegen will, und zu sagen: „Jetzt habt ihr eine europäische Rhetorik vorgeführt. Ihr habt aber eine andere Handlung durchgeführt. Ihr habt euch im europäischen Kontext auch anders verhalten. Ihr habt das Echo gespürt. Was wollt ihr denn nun eigentlich?"
Herr Schäfer, wo haben Sie denn heute in Ihrer Rede gesagt, in welcher Hinsicht sich die Franzosen ändern? Sie haben gesagt: Wir brauchen die amerikanischen Nuklearwaffen. Wir brauchen deshalb nicht ergänzend die Franzosen. Darin stimme ich mit Ihnen überein. Aber eigentlich wäre es doch Ihre Aufgabe gewesen, zu sagen: „Nach dieser französischen - das ist schon ein paar Wochen her - Initiative haben wir als Bundesregierung auf der Ebene des Bundeskanzlers, des Verteidigungsministers und des Außenministers die Franzosen konsultiert. Dabei ist dies und jenes herausgekommen. Dort gibt es eine Änderung der französischen Politik." Fehlanzeige! Da gibt es nichts.
({13})
Jetzt reden hier Herr Lamers und Herr Dregger groß von einer möglichen Änderung der französischen Politik. Hier sagt der Staatsminister, er sehe keine Änderung in der französischen Politik. Was stimmt denn nun? Entweder sagt man ganz offen, aus Paris kommt heiße Luft - dann, finde ich, ist es richtig, daß man damit höflich umgeht; dann soll man sich dann aber weder aufregen noch etwas hoffen -, oder es stimmt, was Herr Dregger und Herr Lamers sagen: Ja, es gibt erste Anzeichen einer möglichen künftigen Änderung. Dann würde ich gerne von der Bundesregierung wissen, welche Anzeichen es denn wirklich gibt und was sich verändert hat. Bisher hat sich in der Sache nichts verändert.
({14})
Ich habe am Anfang gesagt, daß die Debatte im Bundestag fast interessanter ist als das französische Angebot. Denn es passiert folgendes - das ist die Außenwirkung dieser Debatte -: Leute im Ausland, beKarsten D. Voigt ({15})
sonders im europäischen Ausland, fangen auf Grund dieser Debatte in Deutschland an zu fragen: Will ein Teil der deutschen Konservativen in Wirklichkeit auf Dauer gesehen nicht eine Mitverfügung?
({16})
Warum schweigt die Bundesregierung bei den Nukleartests?
Sie ist jetzt nicht nur weniger über die französischen Nukleartests besorgt, die wir alle ablehnen, sondern sie fragen sich gleichzeitig: Ist dort ein geheimes Spiel im Gange, weil dort keine klaren Äußerungen kommen? Deshalb werden Verdächte bei unseren Nachbarn groß. Dann, Herr Schäfer, haben Sie beides zusammen: keine Substanz im französischen Angebot und das Mißtrauen unserer anderer europäischen Partner.
Sind Sie bereit, dem Herrn Staatsminister eine Frage zu beantworten? - Bitte.
Herr Kollege Voigt, würden Sie nicht mit mir feststellen, daß die tatsächliche Art und Weise, um herauszufinden, ob sich an der Politik eines Partnerlandes etwas ändert, die Form des Gespräches ist? Würden Sie mir nicht auch zustimmen, daß das angebotene Gespräch aus Frankreich deshalb von uns nicht abgeschlagen werden sollte? Wir können jetzt noch nicht sagen, daß es eine neue Politik gibt. Aber vielleicht werden wir in diesen Gesprächen etwas darüber erfahren, vielleicht sogar mitwirken können. Ich glaube, das ist doch eigentlich der Sinn Ihrer Forderung, häufiger nach Paris zu fahren.
({0})
Sehr geehrter Herr Staatsminister, lieber Kollege Abgeordneter, wäre es dann nicht vielleicht auch sinnvoll gewesen, wenn die Bundesregierung mit der französischen Regierung gesprochen hätte, so wie wir mit anderen Parlamentariern bereits gesprochen haben? Ist es nicht ganz interessant, daß, nachdem einige Abgeordnete bereits mit dem französischen Gegenpartner gesprochen haben, Sie im Auswärtigen Ausschuß auf meine Bitte, daß wir doch endlich etwas tun sollten, gesagt haben, man solle abwarten? Beim Abwarten bekommt man keine Klarheit.
({0})
Dieses Wort des Abwartens stammt nicht von mir, sondern von Ihnen aus dem Auswärtigen Ausschuß. Wenn Sie abwarten, bekommen Sie keine Klarheit über die französische Politik.
Ich frage Sie wieder: Sind Sie von vornherein der Meinung, da hat sich nichts geändert - dann müssen Sie den Kollegen der CDU/CSU widersprechen -, oder sind Sie der Meinung, da ändert sich was dann sind einige der Diskussionen in unseren Nachbarländer berechtigt. - Haben Sie noch eine Frage?
({1})
Ja. - Ich möchte diese Debatte, Herr Kollege Voigt, nicht verlängern. Aber Sie müssen mir aber doch nach der heutigen Debatte zustimmen: Wenn wir gesagt hätten: „Wir möchten nicht abwarten, bis die Franzosen kommen, um mit uns zu sprechen, sondern wir können es gar nicht abwarten, bis wir mit den Franzosen sprechen dürfen," hätten Herr Volmer, Frau Kollegin Lederer und selbst Frau Kollegin Wieczorek-Zeul hier noch ganz andere Töne angeschlagen, als sie heute morgen schon angeschlagen haben. Würden Sie mir da nicht zustimmen?
Nein, da stimme ich Ihnen überhaupt nicht zu. Wenn ich nach Frankreich fahre, um mit den Franzosen darüber zu reden, entsteht öffentlich nie der Verdacht, daß ich eine nukleare Mitverfügung will.
({0})
Wenn Sie das von vornherein sagen, werden solche Probleme bei den Partnern im Parlament, bei den Grünen und der PDS auch nicht entstehen.
Das Problem ist nicht nur, daß Sie keine Gespräche geführt haben. Das Problem ist auch, daß Sie keine klare Position beziehen zu dem, was Sie wirklich wollen. Das kommt ergänzend hinzu.
({1})
Ich sage Ihnen: Auf Dauer gesehen ist dieser Umgang zwischen Partnern gefährlich. Es ist besser, Meinungsverschiedenheiten anzusprechen, um sie zu klären - die französische Diplomatie ist an so etwas gewöhnt - und um dann zu sehen, wo man neue Gemeinsamkeiten aufbauen kann. Die Politik des Aussetzens führt zur Verschluderung und zur Verschlechterung der deutsch-französichen Beziehungen.
({2})
Deshalb sagen wir klar, was Sache ist, und betonen gleichzeitig: Wir bleiben und sind die Partei der deutsch-französischen Freundschaft, die bei den Nukleartests nicht übereinstimmt - das ist unsere Position -, die bei der Nuklearpolitik auch anderer Auffassung ist, die sich aber ansonsten um neue Gemeinsamkeiten mit den Franzosen bemühen wird und die dabei nicht abwartet, sondern handeln wird.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Friedbert Pflüger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Voigt! Die
Bemerkung, daß sich der Bundeskanzler nicht genügend um das deutsch-französische Verhältnis gekümmert habe, ist nun wirklich eine Lachnummer. Das wissen Sie selbst am allerbesten.
({0})
Es gibt keinen Politiker in Deutschland, der sich mehr um das deutsch-französische Verhältnis gekümmert hat als Helmut Kohl. Ich glaube, wenn Sie sich einmal in der Bevölkerung umhören, und wenn Sie vor allen Dingen in Frankreich nachfragen, wer mehr für die deutsch-französischen Beziehungen getan hat: die CDU/CSU, Karl Lamers, Herr Schockenhoff, Herr Seiters und viele andere oder Frau Wieczorek-Zeul mit ihrer Mission vor kurzem oder der SPDBundesvorstand, der nach Ihren Worten gar nicht mehr über Außenpolitik diskutiert, dann, glaube ich, werden die Leute ganz klar wissen, wer in letzter Zeit mehr für die deutsch-französischen Beziehungen getan hat.
({1})
Herr Kollege Meyer, ich fand Ihre Intervention sehr interessant, aber doch im Kern falsch. Wir wehren uns als Union keineswegs gegen die Besorgnisse von Menschen auf der Straße über Atomtests. Wir sind auch nicht gegen sachliche Kritik an den Tests oder, wie Herr Voigt eben gesagt hat, dagegen, mit Frankreich Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Natürlich gehört das zu einer Freundschaft dazu. Wir sind aber gegen eine völlig maßlose Kampagne, gegen die Beschimpfung des französischen Präsidenten, gegen die dauerhafte Beschädigung der deutsch-französischen Beziehungen dadurch, daß die Franzosen ständig beschimpft und in die Ecke gestellt werden.
({2})
Bei aller Kritik, die man an der französischen Position äußern kann und die eben noch einmal von der Bundesregierung geäußert worden ist, sollten wir uns doch die ganze französische Position ansehen. Ich finde, wir sollten gegenüber Frankreich ein bißchen fairer sein. Wenn wir nämlich die französische Position unter Chirac einmal mit der unter Mitterrand vergleichen, dann ergibt sich ein klarer Fortschritt. Das will ich begründen.
({3})
- Das wissen Sie vielleicht gar nicht, Herr Kollege: Herr Mitterrand hat 86mal Tests auf Fangataufa und Mururoa durchführen lassen - 86mal! -, im übrigen zum großen Teil in der Hochphase der Entspannungspolitik. Herr Chirac hat acht Tests angekündigt. Wahrscheinlich werden es etwas weniger werden. Herr Mitterrand hat ein einseitiges Moratorium verkündet, das jederzeit aufkündbar ist. Herr Chirac sagt das erste Mal: Ich bin ohne jedes Wenn und Aber bereit, einem weltweit gültigen Atomteststoppabkommen beizutreten. Herr Mitterrand hat nie auf
sogenannte Minitests verzichtet, also auf Atomwaffenversuche unterhalb einer bestimmten Kilotonnenanzahl. Herr Chirac sagt ganz eindeutig: Keine Minitests.
Sogar ein Kritiker von Atomtests wie Harald Müller von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung hat, obwohl er die Tests kritisiert, gesagt: Chirac hat am Genfer Verhandlungstisch eine ganz entscheidende Konzession gemacht und das Tor für einen wirklichen Atomteststoppvertrag im nächsten Jahr weit aufgestoßen. Ich finde es unfair, daß diese französische Position, die ein Fortschritt ist und die dazu führen wird, daß wir im nächsten Jahr zu einem Ende aller Atomtests kommen, von Ihnen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Das gehört mit auf den Tisch und in die Debatte.
({4})
Ich möchte auf einige der Gegenargumente, die von Ihnen genannt worden sind, eingehen. Das erste Gegenargument, Herr Kollege Voigt, lautet, das, was die Franzosen machen, sei alles nur Taktik. Ich finde, das ist wirklich nicht haltbar.
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- Auch wenn es irgend jemand anders gesagt hat, ist es nicht haltbar.
Giscard hat als Präsident bereits in den 70er Jahren von der erweiterten Abschreckung gesprochen; das haben Sie erwähnt. Er hat schon immer eine europäische Funktion der Force de frappe eingeräumt. Mitterrand hat Anfang 1992 davon gesprochen, daß wir über eine europäische Doktrin für die britischen und französischen Nuklearwaffen reden sollten. Im Januar dieses Jahres, also lange vor den Atomtests und der schwierigen Situation für Frankreich, hat Juppé, damals Außenminister, von der „dissuasion concertée", also der konzertierten Abschreckung oder Abratung, gesprochen. Im Februar 1994 heißt es im Weißbuch Frankreichs: „Ohne Kernwaffen ist Europas Verteidigungsautonomie nicht möglich."
Das heißt, die Behauptung, die Franzosen hätten erst nach der Kritik an den Tests aus taktischen Gründen eine Argumentation nachgeschoben, ist nicht haltbar. Die Franzosen haben diese Angebote vorher gemacht. Es ist an uns, die Frage zu stellen, ob wir diese Angebote ernsthaft genug diskutiert und geprüft haben.
({6})
Ich füge hinzu: Selbst wenn, Herr Voigt, die französischen Avancen hinsichtlich einer europäischen nuklearen Komponente nur taktischer Natur wären oder einem Lernprozeß in den letzten Monaten entsprochen hätten, sollten wir, meine ich, die Franzosen beim Wort nehmen und mit ihnen darüber reden - und zwar aus unserem Sicherheitsinteresse, Herr Kollege Schäfer, und nicht nur aus Höflichkeit gegenüber Frankreich.
Ein zweiter Punkt ist hier immer wieder angesprochen worden, vor allem auch von dem Kollegen Volmer. Es heißt, wir würden auf kaltem Wege versuchen, Deutschland zur Atommacht werden zu lassen. Sie haben von einer „atomaren Waffenbrüderschaft" mit Frankreich gesprochen. Herr Kollege Volmer, es gibt in diesem Haus nicht einen einzigen Politiker - jedenfalls habe ich keinen einzigen kennengelernt -, der dafür wäre, den deutschen Verzicht auf ABCWaffen in Frage zu stellen.
({7})
Wir wollen keinen deutschen Finger am Knopf. Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis!
Gerade wenn man ein nicht nuklearer Staat ist, hat man in einer Welt, in der es - ob Sie es wollen oder nicht - noch Tausende von nuklearen Waffen gibt und in der die Gefahr der Weiterverbreitung nicht ab-, sondern zunimmt, ein besonderes Interesse daran, nuklearen Schutz zu haben und auch - das füge ich hinzu - mitsprechen zu können.
Worum geht es bei dieser konzertierten Abschrekkung eigentlich? Es geht darum, daß Frankreich - das ist die entscheidende Neuerung, Herr Kollege Voigt - das erste Mal anbietet, seine Nuklearwaffen - bisher wirklich eine rein nationale, man kann fast sagen: eitel gehütete Domäne - in eine europäische Diskussion einzubringen.
Es ist doch ein Fortschritt für uns alle, wenn wir über die Nukleardoktrin, über die Trägersysteme, über die Art und Weise der Waffen, über das, was Nuklearwaffen heute überhaupt an Bedeutung haben, mitreden können. Das ist doch besser, als daß die Nuklearwaffen einfach da sind, wir aber nicht mitreden können.
Ich fände es gut, wenn wir gegenüber Frankreich die gleichen Möglichkeiten hätten, wie wir sie innerhalb der NATO gegenüber den Vereinigten Staaten haben, nämlich eine Art politischer Mitwirkung. Das bedeutet keine Verfügung; die Letztverfügung wird in Paris bleiben, so wie sie in allen Zeiten, was die amerikanischen Nuklearwaffen angeht, selbstverständlich in Washington geblieben ist.
Ich glaube, wir sollten den Dialog annehmen. Es sind viele Frage zu klären; da gebe ich Ihnen völlig recht. Wir müssen die Franzosen auch bitten, konkreter zu werden, und das tun wir auch. Aber zu sagen, daß wir dafür nicht zur Verfügung stehen,
({8})
das schadet unseren Sicherheitsinteressen.
({9})
Herr Kollege Pflüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Voigt?
Ja.
Herr Kollege Pflüger, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich Ihre Blickrichtung für falsch halte? Sie sollten sich jetzt an Herrn Schäfer wenden, der gerade wegguckt, und nicht an uns; denn wir haben Gespräche mit den Franzosen geführt. Die Bundesregierung jedoch offensichtlich nicht, sie will noch abwarten. Deshalb ist dies eine Kritik an der Bundesregierung, die Sie dann auch nicht aus Höflichkeit an andere richten sollten.
({0})
Herr Kollege Voigt, daß Sie Gespräche über diese Frage führen, glaube ich Ihnen gerne. Ich glaube auch gern, daß das der Kollege Duve, der Herr Gansel, Herr Schloten und noch ein paar Kollegen machen.
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Aber die Reaktion Ihrer Fraktion auf das Angebot Frankreichs war absolut indiskutabel und unter Freunden fast eine Unverschämtheit.
({1})
Es geht im Grunde um eine einzige Frage. Wir wollen keine Verfügung über Atomwaffen. Aber wollen wir die Nichtverfügung mit Mitsprachemöglichkeiten koppeln, oder wollen wir ohne Mitsprachemöglichkeiten sein? Frau Wieczorek-Zeul, Sie können hundertmal sagen, Sie wollten eine nuklearfreie Welt.
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Die Nuklearwaffen sind da. Da müssen Sie erst einmal Herrn Schirinowski und Saddam Hussein und all die anderen überzeugen, die heute an Nuklearwaffen arbeiten.
Auch ich will nukleare Abrüstung. Jeder, der in dem entsprechenden Unterausschuß ist, weiß auch, daß ich mich mit aller Entschiedenheit für nukleare Abrüstung einsetze. Aber solange es Massenvernichtungswaffen auf der Welt gibt, bin ich froh darüber, daß wir eine minimale Abschreckungskapazität im Westen aufrecht erhalten, und zwar sowohl in Amerika als auch in Frankreich.
({3})
Es können mir kein Pazifist und kein noch so gutgläubiger Idealist auf der Welt garantieren, daß nicht in fünf Jahren, vielleicht sogar schon in zwei oder drei Jahren, im Kreml irgendein Diktator regiert, der über 25 000 Nuklearwaffen verfügt. Keiner von uns will das; aber wer kann das ausschließen?
Weil wir das nicht ausschließen können, will ich, daß wir neben dem Prozeß der Abrüstung, den wir hoffentlich weiterführen, auch in der Lage bleiben, jeder Form von Erpressungsversuchen zu widerstehen.
({4})
Wichtig ist, daß wir das Ganze nicht nur als eine deutschfranzösische Angelegenheit betrachten, sondern daß wir all diese Frage sehr schnell auch mit unseren anderen europäischen Partnern, etwa in der EPZ oder in der WEU besprechen. Wichtig ist vor allen Dingen, daß wir es auch mit Amerika besprechen.
So halte ich etwa die Idee für völlig richtig, die Frage der Erweiterung der französischen Nuklearwaffen einmal in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO mit Amerika und mit Frankreich zu besprechen. Vielleicht ergibt sich hier eine Möglichkeit, auf diese Art und Weise Frankreich wieder näher an die militärische Integration der NATO heranzuführen.
Jedenfalls ist eines für uns klar: Diese französischen Nuklearwaffen können genauso wie die britischen Nuklearwaffen niemals ein Ersatz, sondern nur eine Ergänzung des amerikanischen Nuklearschirms darstellen.
({5})
Nun wird immer wieder der Vorwurf gemacht, das würde dazu führen, daß in Amerika der Isolationismus bestärkt würde. Ich glaube, daß das Gegenteil der Fall ist. Wir haben es ja in der Debatte um die konventionelle Verteidigung Europas erlebt. Seit Jahren hatten die Amerikaner gefordert, Europa müsse mehr Verteidigungslasten tragen, weil Europa sonst bei amerikanischen Kongreßabgeordneten überhaupt nicht mehr als ein Ort zu vertreten wäre, an dem sich Amerika engagiert.
Das heißt, die Amerikaner wollen nicht, daß wir uns in irgendeiner Weise gegen sie aussprechen; aber sie wollen einen europäischen Pfeiler der Verteidigung. Was wir auf der konventionellen Ebene mit der WEU und dem Eurocorps haben, warum sollten wir das nicht auch im Nuklearbereich haben?
Ich finde - das hat Kollege Fischer vorhin zu Recht erklärt -: Es wäre völlig falsch, die Frage der europäischen Nuklearwaffen sozusagen in das Zentrum der europäischen Politik geraten zu lassen.
({6})
Aber es ist genauso falsch, Herr Kollege Fischer, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, zu planen und so zu tun, als ob es die französischen und britischen Nuklearwaffen nicht gäbe. Das ist Die-Decke-über-den-Kopf-Ziehen und so tun, als ob wir in einer anderen Welt lebten. Aber wir leben in dieser Welt und nicht in einer anderen, Herr Kollege Fischer.
({7})
Die Fraktion der CDU/CSU setzt sich entschieden dafür ein, daß der begonnene Prozeß der nuklearen Abrüstung weiter vorankommt. Wir begrüßen es deshalb, daß die Franzosen auf eine früher geplante atomare Bombe verzichtet haben. Die Franzosen werden demnächst das Plateau d'Albion, also ihre landgestützten Interkontinentalraketen, gänzlich aufgeben. Wir erleben überall auf der Welt im Moment einen Prozeß der Abrüstung, an der Spitze übrigens Deutschland, etwa im Bereich der konventionellen Abrüstung. Die Haushälter haben sich gerade darüber geeinigt, daß wir in unserem Haushalt den Posten für die Abrüstungshilfe an Moskau erheblich erhöhen: von 13 Millionen DM auf 18 Millionen DM. Das ist in Zeiten knapper Kassen eine gewaltige Leistung.
({8})
Wir in Deutschland sind die ersten gewesen, die den KSE-Vertrag zur Abrüstung erfüllt haben. Das heißt, Sie können uns wirklich nicht vorwerfen, wir würden keine Abrüstung betreiben. Wir wirken auch auf die Amerikaner und die Russen ein, START II, die große Abrüstungsvereinbarung, endlich zu ratifizieren.
Aber wir sagen auch: Wir müssen, solange es Aggressoren auf dieser Welt gibt, die über Nuklearwaffen oder biologische bzw. chemische Waffen verfügen, in der Lage sein, uns zu verteidigen. Das aber, was uns bei dem Ganzen am wenigsten gefällt, ist die Rolle des moralischen Oberlehrers, Frau Wieczorek und Herr Fischer.
Herr Kollege Pflüger, ich muß Sie unterbrechen, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist. Sie müssen zum Schluß kommen.
Ich werde meinen letzten Satz sagen.
Die moralische Oberlehrer-Rolle wird auch in Frankreich von denjenigen abgelehnt, die durchaus Kritik üben. Ich kann es kaum einem Angehörigen, z. B. eines französischen Soldaten, der in Sarajevo ums Leben gekommen ist - das sind insgesamt etwa 50 Soldaten -, erklären, warum die SPD und die Grünen mit dem moralischen Zeigefinger auf Frankreichs Atomtests zeigen, gleichzeitig aber eine Minimalhilfe bei der Eingreiftruppe in Bosnien verweigern. Diese Art und Weise trägt zur Unglaubwürdigkeit Ihrer Politik bei.
({0})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frankreich trifft in diesen Tagen und Stunden Vorbereitungen, seinen nächsten Atomwaffentest im Südpazifik durchzuführen. Dafür gibt es untrügliche Anzeichen. Wir sind deshalb der Meinung, daß das deutsche Parlament gut beraten ist, über den vorliegenden Antrag meiner Fraktion „Keine Atomwaffentests durch China und
Frankreich" hier und jetzt eine Abstimmung durchzuführen.
({0})
Wir wollen, daß das deutsche Parlament heute an die französische Regierung appelliert, die geplante Testreihe nicht fortzusetzen. Meine Damen und Herren, dies halten wir auch aus außenpolitischen Gründen für vertretbar und für notwendig. Denn wenn wir schrittweise zu einer europäischen Innenpolitik kommen wollen, dann muß auch ein freundschaftlicher Appell des deutschen Parlaments an die französische Regierung, diese Atomwaffentestreihe nicht weiter fortzusetzen, möglich und geboten sein.
({1})
Die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich wäre in einem schlechten Zustand, wenn ein offenes und öffentliches Wort des deutschen Parlamentes nicht Bestandteil der französisch-deutschen Freundschaft sein könnte. Wir sind in dieser Rolle nicht Oberlehrer, meine Damen und Herren, sondern wir sind in der Hinsicht Freunde, daß sich Freundschaft auch daran mißt, wie wir in kontroversen Fragen miteinander freundschaftlich umgehen.
({2})
Deshalb bitte ich alle, über unseren Antrag über den Appell an die französische Regierung im Parlament eine Entscheidung herbeizuführen.
Danke schön.
({3})
Ich erteile ebenfalls zur Geschäftsordnung dem Abgeordneten Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich kurz fassen, weil ich den Worten meines Vorredners, des Kollegen Catenhusen, zustimme.
Es ist erforderlich, daß der Deutsche Bundestag heute ein klares Votum abgibt und entscheidet. Wir möchten auch unseren Antrag zur Entscheidung und Beschlußfassung im Hause heute anbieten. Wir fordern, daß über unseren Antrag getrennt abgestimmt wird, daß zu Punkt 3 - ich sage das noch einmal ausdrücklich -, über die Position des ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Alfred Dregger, extra abgestimmt wird.
Im übrigen möchte ich sagen, daß wir auch dem Antrag der SPD zustimmen können, obwohl wir einen Vorbehalt haben zu Punkt 6, in dem Sie feststellen, daß der atomare Schutzschirm der USA ausreiche. Dieser Auffassung sind wir nicht, aber darüber sollten wir weiter diskutieren.
({0})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Hörster das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens meiner Fraktion beantrage ich die Überweisung der Anträge in den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß.
({0})
- Wir haben in diesem Haus - Frau Wieczorek-Zeul, Sie haben das nicht mitbekommen, weil Sie vor Ort waren ({1}) genau dieses Thema mehrfach erörtert,
({2})
und sind zu der Auffassung gelangt, daß die Art und Weise, wie wir die Sache hier behandelt haben, auch im Verhältnis zu Frankreich vernünftig und wirkungsvoll gewesen ist.
({3})
Ich beziehe mich auf eine frühere Geschäftsordnungsdebatte: Wenn die Position unserer französischen Freunde vor zwei Monaten mit dem verglichen wird, was sie heute an politischen Überlegungen anstellen,
({4})
dann hat das, was wir in diesem Hohen Hause debattiert haben, seine Wirkung gezeigt. Deswegen bin ich nach wie vor der Auffassung - das ist auch die Auffassung meiner Fraktion -, daß es sehr vernünftig ist, all das, was in diesem Zusammenhang zu erwägen und zu beraten ist, in den zuständigen Fachausschüssen zu behandeln,
({5})
denn sie haben das bisher noch nicht getan, Frau Wieczorek-Zeul. Deswegen gehört das meiner Auffassung nach in die Fachausschüsse.
({6})
Im übrigen will ich anmerken: Wir hatten den Ablauf dieser Debatte etwas anders besprochen. Ich finde es nicht in Ordnung, daß jetzt noch zusätzliche Anträge zur Abstimmung aufgesattelt werden, obwohl wir vorher, was die Anträge von der PDS und den Grünen betraf, eine Überweisung vereinbart hatten. Eine Änderung ist Ihnen unbenommen; die Dinge sind nicht einklagbar. Es gibt so etwas wie einen Komment; den kann man verletzen. Das ist bei dem allgemeinen Klima im Augenblick möglicherweise üblich geworden.
({7})
Wir werden bei unserem Überweisungsantrag bleiben, weil wir ihn für sachgerecht und bei diesem schwierigen Thema auch für unvermeidlich halten, damit sich die Fachleute in den Ausschüssen mit diesen Fragen befassen können.
({8})
Nun erteile ich dem Abgeordneten van Essen das Wort zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir schließen uns diesem Antrag der CDU/CSU-Fraktion an.
({0})
Unsere kritische Position - das habe ich schon in der letzten Debatte gesagt - zu den französischen Atomwaffentests ist klar.
({1})
Aber wir möchten auch, daß das in einem besonderen Stil durchgeführt wird.
({2})
Wir sind der Auffassung, daß das, was Sie uns vorgelegt haben, diesem besonderen Stil zwischen Deutschland und Frankreich nicht entspricht.
({3})
Deshalb ist es eine vernünftige Vorgehensweise, das in den Ausschüssen sorgfältig zu beraten.
Vielen Dank.
({4})
Nun bekommt das Wort zur Geschäftsordnung die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein Skandal, was in diesem Hause passiert. Während der Haushaltsdebatte hat der erste Atomtest Frankreichs wieder stattgefunden. Kein Wort hier dazu, keine Debatte! Sie haben nicht zugestimmt, daß eine Debatte hier in diesem Haus stattfindet.
({0})
Der Alterspräsident des Bundestages ist heute zurückgetreten; er hat sein Mandat niedergelegt. Ein Grund dafür war auch diese Arroganz der Macht, die er hier zu spüren bekommen hat.
({1})
Frau
Dr. Enkelmann, ich bitte um Nachsicht. Sie können jetzt nicht die Debatte fortsetzen, sondern Sie können nur zur Geschäftsordnung sprechen. Ich bitte Sie, sich daran zu halten.
Herr Präsident, die Abgeordneten der Gruppe PDS sind dafür, daß die Anträge von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier abgestimmt werden. Geredet wurde in diesem Haus über dieses Thema genug. Ein klares Veto des Hauses ist notwendig. Dieses Veto muß heißen: Nein zu Atomtests, und das für alle Zeiten.
({0})
Nun möchte der Abgeordnete Volmer eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Ist das so?
({0})
- Wunderbar.
Dann spricht zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem hier Überweisung beantragt wurde, möchte ich nochmals den Antrag für meine Fraktion stellen, daß der Punkt 3 unseres Antrages, den ich hier kurz ins Gedächtnis rufen möchte, heute abgestimmt wird, da er aus meiner Sicht abstimmungsfähig ist.
Joseph Fischer ({0})
Der Punkt 3 in unserem Antrag heißt:
Der Deutsche Bundestag bekräftigt in diesem Zusammenhang die richtungsweisenden Feststellungen des Ehrenvorsitzenden der CDU/CSUFraktion, Dr. Alfred Dregger, in der Bundestagsdebatte am 16. 2. 1995:
„Kein Staatsmann, der bei Verstand ist und ein Minimum an Verantwortung empfindet, wird nach den Erfahrungen von Hiroschima, Naga-said, aber auch Tschernobyl Atomwaffen einsetzen.
({1})
Atomwaffen sind keine Waffen des militärischen Sieges, keine Waffen der Schlacht, sie gehören erst recht nicht auf das Gefechtsfeld, und auf eigenem Territorium sind sie Selbstmordwaffen. Es darf daher keine militärische Strategie und keine militärische Doktrin mehr geben, die, und sei es als Ultima ratio, den Einsatz von Atomwaffen vorsieht. "
({2})
Meine Damen und Herren, nach dem, was wir heute hier gehört haben über die Notwendigkeit der Diskussion über Nukleardoktrinen und ähnliches mehr mit Frankreich, und nach dem, was wir gleichzeitig vom Kollegen Dregger in der vergangenen Debatte gehört haben, halte ich es nicht nur für dringend geboten, sondern für unverzichtbar, daß der Deutsche Bundestag über diese Grundlage, die der Kollege Dregger hier in beeindruckender Weise dargestellt hat, was ich ihm selbst nicht zugetraut habe,
({3})
hier und heute eine Abstimmung herbeiführt. Wenn Sie das überweisen, dann bedeutet das im Klartext, verehrter Kollege Hörster, daß Sie diese Position ebenfalls nicht zur Abstimmung bringen wollen, weil Ihr Laden an dieser Position auseinanderfliegt.
Wir beantragen, daß dieser Punkt heute hier abgestimmt wird.
({4})
Nun möchte zur Geschäftsordnung der Abgeordnete Pflüger sprechen.
Herr Präsident! Ich wollte nur darauf hinweisen, daß der Antrag der Grünen insofern unkorrekt ist, als er natürlich genau an der falschen Stelle aufhört.
({0})
Sie hätten weiterlesen sollen, Herr Kollege. Der Abgeordnete Dregger hat nämlich in der gleichen Rede gesagt:
Heute muß es unsere größte Sorge sein ... daß Atomwaffen in die falschen Hände geraten. Dafür bleibt Abschreckung oder, wie die Franzosen sagen, Abhaltung" geboten. Ein Minimalbestand an Atomwaffen zur Abschreckung solcher politischer Desperados bleibt notwendig.
Wenn das dazukommt, sieht die Sache schon ganz anders aus, Herr Kollege.
({1})
Herr Abgeordneter Pflüger, ich kann zwar Ihre Bemerkung inhaltlich verstehen, es hat nur keinen Sinn, unter dem Mantel der Geschäftsordnungsdebatte die inhaltliche Diskussion fortzuführen. Wenn das gewünscht wird, müßten wir das beschließen.
({0})
Wir kommen nun zur Abstimmung. Es ist beantragt worden, die Drucksachen 13/2456, 13/2392, 13/ 2439 und 13/2443 an die Ausschüsse zu überweisen, und zwar federführend an den Auswärtigen Ausschuß, zur Mitberatung an den Rechtsausschuß, den Verteidigungsausschuß und den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Bei der Grundgesetzänderung soll die Federführung beim Rechtsausschuß liegen.
Es ist gleichzeitig vorgeschlagen worden, über den Antrag der SPD direkt abzustimmen.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat beantragt, über die Ziffer 3 ihres Antrags - das ist Drucksache 13/2456 - getrennt abzustimmen. Das bedeutet, daß die Überweisungsanträge vorgehen.
Unter dieser Maßgabe stimmen wir zunächst darüber ab, ob die genannten Drucksachen - mit Ausnahme der Ziffer 3 von 13/2456 - überwiesen werden sollen. Findet sich dafür eine Mehrheit, ist der Rest erledigt, und wir werden in einer zweiten Abstimmung darüber abstimmen, ob die Ziffer 3 ebenfalls überwiesen werden oder direkt abgestimmt werden soll. Insoweit ist die Geschäftslage klar.
Ich komme nun zur Abstimmung über die Überweisung der genannten Drucksache mit Ausnahme der Ziffer 3 an die eben aufgeführten Ausschüsse. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen! - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Überweisung mit Mehrheit beschlossen worden ist.
({1})
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Wir kommen dann zur Abstimmung über die Überweisung der Ziffer 3 der Drucksache 13/2456. Wer dieser Überweisung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? ({2})
Ich stelle fest, daß bei einer Stimmenthaltung auch in diesem Falle die Überweisung jeweils mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition beschlossen worden ist.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 und den Zusatzpunkt 9 auf:
14. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Modernisierung der öffentlichen Verwaltung - Drucksache 13/2206 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({3})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verwaltungsreform ist Staatsreform - Drucksache 13/2464 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ehe ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen verehrten Kolleginnen und Kollegen, die ihr nicht folgen wollen, ihre Unterhaltung möglichst draußen zu führen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Körper.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenstand der heutigen Debatte ist u. a. der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Wir haben vor längerer Zeit diesen Antrag vorgelegt, weil wir bei der Bundesregierung auf diesem Gebiet erheblichen Handlungsbedarf sehen. Genau betrachtet beschränken sich die Überlegungen der Bundesregierung nämlich auf das Dienstrecht. Eine Reform der Verwaltung hingegen wird bisher weitgehend ausgeklammert. Aber darum geht es eigentlich. Es geht um eine effizientere Organisation und ein modernes Management, um Kostentransparenz und Aufgabenkritik. Es geht auch um das Dienstrecht, das ist aber nicht der zentrale Punkt. Ein Reformansatz, der sich ausschließlich von der Frage des Personalabbaus leiten läßt, zielt in die völlig falsche Richtung.
({0})
Die Aufgabenkritik wird in unserem Papier zentral genannt. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende hat uns dafür auch schon gelobt. Ich fürchte allerdings, daß wir hier sehr unterschiedliche Ausgangspunkte haben, denn das Ziel der Koalition ist offensichtlich die effektive Verschlankung des Staates nach dem Subsidiaritätsprinzip. Der Staat soll sich nach Ihrer Vorstellung prinzipiell auf hoheitliche Kernaufgaben konzentrieren. Sie sind damit meines Erachtens mehr oder weniger auf dem Wege zum Nachtwächterstaat des vorigen Jahrhunderts. Offensichtlich finden Sie dabei Unterstützung auch beim Deutschen Industrie-
und Handelstag, der den drastischen Abbau aller Sozialversicherungsleistungen auf das Niveau einer Basisabsicherung gefordert hat.
Das ist nicht unser Ziel. Wir wollen nicht den Rückzug des Staates, der wichtige sozialstaatliche Aufgaben preisgibt, sondern den effizienten Staat, der seine Aufgaben selbst oder in Kooperation mit Privaten erfüllen kann. Wir wollen einen Staat, der sich bei zentralen sozialen und gesellschaftlichen Problemen seiner Verantwortung stellt. Seine besondere Verantwortung liegt in dem Gemeinwohl.
Zum unantastbaren Kern der Staatsaufgaben gehören nach unserer Auffassung seine sozialen Schutzfunktionen. Der Staat muß Freiheit und Sicherheit gewährleisten, er muß sozial und ökologisch verantwortlich handeln, um Arbeit für alle, soziale Gerechtigkeit und den Schutz von Umwelt und Natur herzustellen.
({1})
- Lieber Erwin Marschewski, wo die Unterschiede liegen, sage ich Dir gleich noch. - Der Staat ist verpflichtet - das ist ein wichtiger Punkt -, auch den Zugang zu Bildung und Kultur und beispielsweise auch die Medienvielfalt zu gewährleisten. Das sind für uns Kernaufgaben des Staates. Für diese Aufgaben behält der Staat die Letztverantwortung, auch wenn er sie Privaten ganz oder teilweise überläßt. Es geht nicht darum, daß der Staat alles selbst erledigen muß. Er trägt aber Verantwortung, daß diese Aufgaben im Interesse der Bürgerinnen und Bürger optimal erledigt werden. Deshalb ist es wichtig, daß Privatisierungen gegebenenfalls durch Entprivatisierungen auch rückgängig gemacht werden können und rückgängig gemacht werden, wenn sich herausstellt, daß die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht werden.
({2})
Umfang und Komplexität der staatlichen Aufgaben nehmen zu. Gleichzeitig stoßen wir an harte finanzielle Grenzen. Wir müssen, um handlungsfähiger
zu sein, die Verwaltung modernisieren. Wenn der Bundesinnenminister seine Aufgaben ernst nähme, müßte er eigentlich auf der Ebene der Bundesregierung beginnen, bei den Bundesministerien.
({3})
Den Ministerien kommt im Politikprozeß eine aktive Rolle zu. Ihnen obliegt die Lösung von Zukunftsproblemen. Wir schlagen deshalb vor, die Führungs-, Beratungs- und Gestaltungsfunktion der Ministerien von den ausführenden Verwaltungsaufgaben deutlicher zu trennen und letztere Oberbehörden zu übertragen.
Vor Jahren gab es beim Bundesinnenminister eine Projektgruppe „Regierungs- und Verwaltungsreform", die eine Trennung von politischen und administrativ-fachlichen Aufgaben vorgeschlagen hat. Ich bemerke mit Interesse, daß heute wenigstens einige der Vorschläge zum Dienstrecht wieder herausgeholt werden. Allerdings bleibt das weit hinter einer wirklichen Reform zurück.
In der Diskussion stark umstritten ist die Einführung einer zeitlichen begrenzten Vergabe von Führungsfunktionen. Diese Diskussion ist mir eigentlich unverständlich. Der Haupteinwand, Führungsfunktionen würden dann weniger nach Sachkompetenz und mehr nach Parteibuch vergeben, ist oberflächlich. Zum einen ist auch das heutige Dienstrecht keine Sperre gegen Ämterpatronage, wie man das bei der Bundesregierung sieht. Zum anderen muß es gerade unser gemeinsames Ziel sein, qualifizierte Führungskräfte zu gewinnen, damit die Leistungs-
und Innovationsfähigkeit der Verwaltung gestärkt wird.
({4})
Führungsfunktionen müssen ausgeschrieben werden. Dieses Verfahren gewährleistet nämlich eine höhere Transparenz als das heutige Verfahren der Stellenbesetzung. Führungspositionen auf Zeit - das ist eine Frage, die uns noch beschäftigen wird. Die Entscheidung muß nach sorgfältiger Abwägung getroffen werden.
Mit der von der Bundesregierung beabsichtigten Einführung einer Erprobungszeit in Führungsfunktionen können lediglich Fehlbesetzungen - und nur solche, die sich innerhalb des Erprobungszeitraums zeigen - korrigiert werden. Eine Erhöhung der Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Verwaltung ist bei einer solchen Maßnahme kaum zu erwarten.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion halten am Berufsbeamtentum fest. Unser öffentlicher Dienst braucht das Beamtenethos. Wir brauchen Beschäftigte, die Stetigkeit der Aufgabenerfüllung, Unbestechlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Zuverlässigkeit unseres öffentlichen Dienstes auf dem Boden der Verfassung gewährleisten.
Andererseits ist es ein verbreiteter Fehler, den öffentlichen Dienst mit dem Berufsbeamtentum gleichzusetzen.
({5})
Heute gewährleisten Beamte und Angestellte und Arbeiter seine Funktionsfähigkeit.
({6})
Wir sind der Auffassung, daß Beamte nicht überall dort verwendet werden müssen, wo sie heute verwendet werden. Sie sollten nur im Kernbereich der staatlichen Tätigkeit eingesetzt werden.
({7})
Wir wollen nicht die Abschaffung des Berufsbeamtentums, sondern seine Weiterentwicklung.
({8})
Sie von der Union und von der F.D.P. versuchen immer wieder, die Diskussion auf ein solches Gleis zu schieben. Aber Sie selbst sind angreifbarer, als Sie es sich eingestehen wollen. Wenn der stellvertretende Fraktionsvorsitzende hier im Bundestag erklärt: „Der Staat hat sich prinzipiell auf die hoheitlichen Kernaufgaben zu konzentrieren", so wollen Sie nicht nur eine Beschränkung des Beamtenstatus auf den hoheitlichen Kernbereich, wie auch wir es wollen. Vielmehr gehen Sie weit über dieses Ziel hinaus. Denn Sie wollen staatliche Aufgaben außerhalb des Kernbereiches abschaffen.
({9})
Das ist im Ergebnis eine radikale Methode, die Zahl der Beamten zu beschränken: indem man ihnen einfach die Aufgaben wegnimmt.
Das, lieber Erwin Marschewski, ist der eigentliche Unterschied zwischen euch und uns. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir keinen ausschließlich auf hoheitliche Kernaufgaben beschränkten Minimalstaat.
Ziel der Modernisierung ist die leistungsfähige und bürgernahe öffentliche Verwaltung, die ihre Aufgaben rechtmäßig, wirtschaftlich, sozial und umweltverträglich erfüllen kann. Ein wesentlicher Aspekt der Modernisierung ist zudem die Stärkung der Dienstleistungs- und Kundenorientierung. Dazu brauchen wir eine effizientere Organisation und moderneres Management, mehr Kostentransparenz und die Beschränkung auf solche Aufgaben, die der Staat - und nur der Staat - besser erledigen kann als andere.
Das Reformgebäude kann nicht nach einem starren, zentral ausgearbeiteten Plan errichtet werden. An dem Bau sind vielmehr öffentliche Arbeitgeber, Gewerkschaften und Beschäftigte zu beteiligen. Entscheidend ist, daß begonnen wird; das Weitere wird ein fortwährender Prozeß sein. Einer der ersten Schritte muß eine Vereinbarung mit den Gewerkschaften über die Grundsätze dieser Reform sein. Eine Reform gegen die Beschäftigten wird nicht möglich sein.
({10})
Das hier ist keine Theorie; es gibt z. B. im kommunalen Bereich schon sehr viele praktische Beispiele, die zeigen, wie es gehen kann. Auch in den Bundesländern wurde ein Reformprozeß in Gang gesetzt. Nur die Bundesregierung zögert noch. Die von ihr eingesetzte Kommission ist nach meiner Auffassung überflüssig und hat nur den Effekt, daß die Einleitung der Reform vermieden oder in fernere Zukunft hinausgeschoben wird.
({11})
Die Reform muß sich der Tatsache stellen, daß in unserer komplexen Welt hierarchische Strukturen nicht zufriedenstellend funktionieren. Deshalb muß verstärkt auf Selbstorganisation und dezentralisierte Verantwortung gesetzt werden. Eine weitere- Tatsache ist, daß die Verwaltung heute ihre eigenen Kosten nicht kennt. Wer die eigenen Kosten nicht kennt, kann nicht sparsam wirtschaften.
({12})
Er kann Leistungen und Kosten nicht vergleichen, um zu entscheiden, wer eine Aufgabe in welcher Weise wahrnehmen soll. Wenn es an Leistungs- und Kostenberechnungen fehlt, wird privatisiert, ohne zu prüfen, ob die Verwaltung eine Leistung nicht unter gleichen Bedingungen besser und/oder kostengünstiger erbringen könnte. Um solche Mängel abzustellen, brauchen wir neue Formen des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens.
({13})
Tatsache ist auch, daß in den Verwaltungen möglichst nach dem Prinzip verfahren wird: neue Aufgabe, neues Personal. Diese Praxis läßt sich nur dadurch einschränken, daß die Entscheidung über Personal-, Finanz-, Organisationsfragen in dezentralisierte Arbeitseinheiten verlagert wird.
({14})
Aufgaben- und Ausgabenverantwortung müssen in einer Hand liegen. Der Handlungsspielraum einzelner Arbeitseinheiten wird durch die Zuweisung globaler Budgets erweitert. Im Rahmen zentral festgelegter und überwachter Regeln können sie dann Personal einstellen, Planstellen verlagern, Stellen bewerten, Finanzmittel innerhalb einer Abteilung oder eines Bereiches umwidmen, eingesparte Beträge ganz oder teilweise für andere Betriebszwecke verwenden.
Tatsache ist, daß die Aufgabenkritik in den Verwaltungen heute zu kurz kommt. Diese Aufgabenkritik muß intensiviert werden. Es muß ständig geprüft werden, ob staatliche Aufgaben weiterhin wahrgenommen werden sollen, ob sie besser anderen Stellen übertragen werden oder ob ihr Vollzug effizienter gestaltet werden kann.
Ich will ein letztes Beispiel für den Reformbedarf nennen: Das Personalmanagement in unseren öffentlichen Verwaltungen ist schlichtweg schlecht.
Die Routine der Stellenbesetzungen verdient in der Regel diese Bezeichnung nicht. Aber vergessen dürfen wir nicht: Das wichtigste Kapital unseres öffentlichen Dienstes sind die Beschäftigten.
({15})
Von ihrem Engagement und ihren Leistungen hängt es ab, wie die Verwaltung funktioniert. Was jedes Wirtschaftsunternehmen weiß und beherzigt, ist in der öffentlichen Verwaltung noch lange keine Selbstverständlichkeit. Wir brauchen eine Personalentwicklungsplanung auf der Grundlage eines reformierten Beurteilungswesens, eines flexibleren Laufbahnrechtes, verbunden mit Konzepten zur Fort- und Weiterbildung. Gerade die Fort- und Weiterbildung der Beschäftigten muß eine zukünftige zentrale Aufgabe werden.
({16})
Die Koalition führt seit Jahren ausschließlich eine ideologische Debatte über „Markt oder Staat",
({17})
„Privatisierung" und „Abbau des Staates" und verkennt dabei völlig das vorrangige Ziel, den Staat durch eine Modernisierung der Verwaltung handlungsfähiger zu machen.
Es ist erschreckend - sehen Sie sich doch einmal die einschlägigen Umfragen an! -, wie wenig die Bürgerinnen und Bürger dem Staat und der Politik heute noch zutrauen. Ich sage: Das ist erschreckend, weil unsere Demokratie von der grundsätzlichen Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger lebt, den Politikern ein Mandat zu übertragen. Nach einer jüngsten Befragung des Instituts für Entwicklungsplanung und Strukturforschung an der Universität Hannover glauben z. B. nur noch 7 % der Jugendlichen an die Kompetenz der Verantwortlichen in der Politik. Gerade diese Distanz der Jugend zur konkreten Politik ist für mich sehr beunruhigend.
Dieser Befund hat sicher verschiedene Ursachen. Aber wenn eine Bundesregierung und wenn Regierungsparteien über Jahre hinweg erklären, der Staat müsse sich nach dem Subsidiaritätsprinzip gesundschrumpfen, und überhaupt, die Wirtschaft und Gesellschaft seien gefordert, ihre Probleme primär selbst zu lösen, so kann eine solche Bewußtseinsentwicklung bei Jugendlichen, aber auch Erwachsenen nicht weiter verwundern. Wer sich für unzuständig erklärt, darf sich nicht wundern, wenn er für inkompetent gehalten wird.
({18})
Meine Damen und Herren, die Modernisierung von Staat und Verwaltung ist eine entscheidende politische Gestaltungsaufgabe der 90er Jahre. Ich
wage die Behauptung, daß der Staats- und Politikverdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger nur begegnet werden kann, wenn es uns gelingt, diese Aufgabe gemeinsam zu meistern.
Schönen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Eduard Oswald.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Körper, Sie haben natürlich recht: Die Modernisierung der Verwaltung ist eine Aufgabe; sie muß eine gemeinsame Aufgabe sein. Aber ich widerspreche Ihnen mit folgender Feststellung: Es ist Tatsache, daß die Modernisierung der Verwaltung bei uns, bei der Koalition und bei der Bundesregierung, in guten Händen ist.
({0})
Wir haben seit langem damit begonnen, staatliches Handeln zu überprüfen und auf das Notwendige zu beschränken.
({1})
- Laßt mich doch einmal reden.
Wir begrüßen die heutige Debatte sehr, gibt sie doch wirklich die Möglichkeit - wie auch Sie, Herr Kollege Körper, es getan haben -, sehr sachlich verschiedene Positionen herauszuarbeiten; zum anderen gibt diese Debatte die Chance zu einem Konsens. Ich glaube, das ist besonders wichtig; denn ohne die Bereitschaft von Bund, Ländern und Gemeinden und der Tarifparteien zur Zusammenarbeit können die anstehenden Herausforderungen wirklich nicht bewältigt werden.
In der Nachkriegsphase unserer Republik ging es für die öffentliche Verwaltung zunächst darum, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Diese Wiederaufbauphase führte zu einer verfassungsrechtlichen Durchdringung der Verwaltung und zu einer starken Verwaltungsgerichtsbarkeit. In einer zweiten Phase wurde versucht, bürgerliche Beteiligungsrechte zu stärken und bürgerfreundliche Organisationsformen zu finden. Es war richtig so, um demokratische Defizite der Verwaltung zu beheben. Jetzt stehen wir vor neuen Aufgaben und Problemen: Steigende Personalkosten, Finanzknappheit bei Bund, Ländern und Kommunen, aber auch der weltweite Standortwettbewerb machen eine Neukonstruktion der hergebrachten Verwaltung unerläßlich.
Die Globalisierung der Märkte ist eine der größten Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft. Unsere Wirtschaft steht internationalen Konkurrenten gegenüber. Der Standort Deutschland kann im internationalen Wettbewerb nur bestehen, wenn auch die Verwaltung höchsten Anforderungen gerecht wird.
({2})
Das heißt, Deutschlands Wettbewerbsposition hängt entscheidend auch von den Verwaltungsleistungen ab.
Daneben wollen wir mehr Freiräume und Eigenverantwortung für die Bürgerinnen und Bürger. Herr Kollege Körper, ich glaube, daß sich junge Menschen mehr an diesem Staat beteiligen können, mehr Bereitschaft haben, wenn sie tatsächlich mehr gefordert werden, wenn sie mehr Möglichkeiten haben. Ich sehe ein, wir vertreten hier unterschiedliche Meinungen. Lassen Sie uns darüber im weiteren Verlauf diskutieren.
Wir wollen also die Innovationskraft in Wirtschaft und Gesellschaft stärken und Impulse für Wachstum und Arbeitsplätze geben. Der Rechtsstaat muß effektiv sein, und er darf nicht an Überperfektionierung ersticken. Dabei kommt es ganz entscheidend auf den Gesetzgeber an. Verwaltung und Justiz arbeiten auf der Grundlage von Gesetzen, für die wir die Verantwortung tragen. Dessen sollten wir uns immer bewußt sein.
({3})
Sie konzentrieren sich in Ihrem Antrag im wesentlichen auf die Modernisierung der Verwaltung und die Dienstrechtsreform. Dies sind nach unserer Auffassung aber nur Bausteine zum notwendigen Gesamtkonzept eines schlanken Staates. Koalition und Bundesregierung haben dazu eine Reihe von Initiativen ergriffen: Standards werden überprüft, Statistikvorschriften durchforstet, Kriterien einer Aufgabenkritik wurden erarbeitet; das Bundeszentralregister, das Bundesamt für Finanzen und andere Behörden wurden exemplarisch durch Unternehmensberater untersucht. Dies sind wichtige, entscheidende Aufgaben. Das Pilotprojekt „flexible Budgetierung", an dem unter anderem die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt ist, ist auf gutem Weg.
Vergangene Woche hat sich der Sachverständigenrat Schlanker Staat, von dem auch heute die Rede war, unter dem Vorsitz unseres Kollegen Professor Dr. Scholz konstituiert. Dieser Rat wird bisherige Initiativen bündeln, und - das hat die erste Sitzung schon gezeigt - er wird tatsächlich auch neue Anstöße geben. Die wirkliche effektive Verschlankung des Staates muß, wie gesagt, bei dieser Aufgabenkritik beginnen.
Herr Kollege Oswald, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schily?
Herr Kollege, ich will jetzt nicht mit Ihnen in eine Debatte über die Erfolgsaussichten dieser Kommission eintreten. Könnten Sie mir die Frage beantworten, warum in dieser Kommission kein Vertreter der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr einbezogen wird, zumal diese Gewerkschaft, gerade was die Modernisierung der
Verwaltung angeht, auf gute und bemerkenswerte Vorarbeiten verweisen kann?
Herr Kollege Schily, ich sehe die Zusammensetzung dieser Kommission als für alle Beteiligten sehr breit an. Es sind die Gewerkschaften vertreten. Von daher gab es auch schon in der ersten Sitzung eine breite Diskussion, auch von seiten der Gewerkschaftsvertreter. Ich meine, sie sollten einmal abwarten und dann das Ende der Ergebnisse sehen, ob Sie wirklich Ihre Kritik in dieser Form noch aufrechterhalten.
({0})
Bund, Länder und Gemeinden müssen sich fragen, ob alle Aufgaben, die sie in den vergangenen Jahrzehnten in die eigene öffentliche Regie übernommen haben, tatsächlich nur in staatlich-öffentlicher Verantwortung wahrgenommen werden können. Wo keine komplette Aufgabenprivatisierung möglich ist, wo also staatliche Verantwortung im Kern zu erhalten ist, müssen wir sicher mit Maßnahmen der Organisationsprivatisierung arbeiten. Über diese Dinge möchten wir tatsächlich intensiv mit Ihnen reden. Darum, dies sage ich ausdrücklich, kann dies nur eine erste Diskussion sein. Wir sollen und wollen den Konsens herausarbeiten, auch da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind.
Mit der Privatisierung von Post und Bahn ist bereits Grundlegendes auf den Weg gebracht worden.
Zur notwendigen, ich nenne es einmal: Dynamisierungskur für unseren Staat gehören neben Fragen nach den Aufgaben auch die Straffung der Verwaltungsverfahren. Für kürzere Genehmigungsverfahren werden auf der Grundlage der Ergebnisse der Schlichter-Kommission bald konkrete Gesetzentwürfe vorgelegt. Es wird sich zeigen: Die Genehmigungsverfahren können vereinfacht werden, ohne den Schutz Dritter oder gar die Umwelt in irgendeiner Form zu beeinträchtigen.
({1})
Daneben müssen wir natürlich die Verwaltungsverfahren effizienter gestalten. Ich glaube aber, daß wir auch hier die Chance haben, einen Konsens zu finden.
Ein wirklich schlanker Staat setzt aber zunächst voraus, daß bei der Bevölkerung das Bewußtsein für eine Zurücknahme staatlicher Zuständigkeiten und staatlicher Regulierungen wieder wächst. Das ist völlig richtig, Herr Kollege Körper. Darüber müßten wir natürlich auch einen öffentlichen Dialog führen. Wir müssen schauen: Ist die Akzeptanz dafür jeweils da? Auch hier teile ich Ihre Auffassung.
Wenn wir uns zum Subsidiaritätsprinzip bekennen, darf es bei diesem Bekenntnis allein nicht bleiben. Wirkliche Subsidiarität bedeutet eben Vorrang gesellschaftlicher Freiheit, Eigenverantwortung sowie Zurücknahme staatlicher Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf hoheitliche Kernaufgaben.
Mit einem Nachtwächterstaat hat das nach unserer Auffassung wirklich nichts zu tun.
({2})
Genauso gibt es die unabänderlich nur vom Staat zu erfüllende Verantwortung. Dies setzt die Akzeptanz bei den Bürgern voraus.
Unser Ziel muß es also sein, daß mehr bürgerliche Eigenverantwortung gerade in gesellschaftlicher und sozialer Solidarität wahrgenommen wird, um staatliche Subsidiarität wirklich zu ermöglichen und damit zugleich - das ist unsere Philosophie - mehr Freiräume für den Bürger zu schaffen und überzogene Staatstätigkeiten abzubauen. Lassen Sie uns natürlich darüber reden, was diese Staatstätigkeiten sind, damit auch die Grundvoraussetzung für die Senkung von Steuern möglich ist. Das wollen wir doch schließlich alle gemeinsam.
({3})
Verwaltung muß leistungsfähig und gleichzeitig bürgernah sein. Sie soll rechtmäßig und effizient handeln. Wir müssen Dienstleistungs- und Kundenorientierung immer wieder stärken. Dies ist eine Daueraufgabe. Das ist nicht eine Aufgabe, die man einmal erledigt und dann wieder weglegt, sondern das ist eine Daueraufgabe. Modernes Management und eine optimale Nutzung der modernen Informationstechnologien müssen Selbstverständlichkeiten sein, Flexibilität muß geschaffen und neue Handlungsformen müssen erprobt werden, und vor Ort muß es mehr Entscheidungsspielräume geben.
({4})
- Ich bin gleich am Ende, Herr Kollege Schily. Ich bitte um Verständnis. Der Kollege Dietmar Schlee geht als nächster auf unsere Positionen ein, und Meinrad Belle geht auf die Frage des öffentlichen Dienstrechts ein. Ich komme jetzt zum Ende.
Wer in Zukunft Staat machen will, kann dies nicht mit dem Dienstrecht von gestern.
({5})
Die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes brauchen ein Dienstrecht, das ihnen mehr Flexibilität, mehr Motivation und mehr Förderungs- und Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Es geht um die Leistungsfähigkeit insgesamt.
Dann noch ein Satz zum Beamtentum. Es hat mich sehr gefreut, was Sie zum Thema Beamte gesagt haben. Für die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben ist die Beamtenschaft unverzichtbar.
({6})
Das Berufsbeamtentum ist Garant einer stabilen und leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung. Wir halten am Berufsbeamtentum fest. Wir sagen dazu: auch für Lehrer; denn Bildung und Erziehung junger Menschen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Auch dies ist unsere Position.
Rückführung staatlicher Tätigkeitsbereiche, schlanker Staat, Verwaltungsreform - all dies kann und muß nicht zu einem schwachen Staat führen, der die Erwartungen und Ansprüche seiner Barger nicht erfüllt. Wir wollen den Bürger von überflüssiger Bürokratie und Überreglementierung entlasten, ihm aber auf der anderen Seite auch das Vertrauen in die innere Sicherheit und in die Geltung des Rechts wieder stärker vermitteln. Ein Staat, der sich zurücknehmen soll, der weniger kontrollieren will und im privaten und wirtschaftlichen Bereich Verantwortung zurückgibt, muß sich auf ein hohes Rechtsbewußtsein in der Gesellschaft verlassen können. Nur so können wir unser Ziel einer Verantwortungsgesellschaft erreichen. Ich hoffe, daß wir das doch letzten Endes alle gemeinsam wollen.
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Ich erteile der Kollegin Dr. Antje Vollmer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute das erste Mal, daß wir über dieses Thema diskutieren. Es scheint ein eher trockenes, sprödes und bürokratisches Thema zu sein. Das ist es aber ganz und gar nicht; denn im Kern geht es um die Reformfähigkeit des Staates, um so etwas wie Staatsphilosophie.
Der „schlanke Staat" war eines der ersten und wichtigsten Reformversprechen, das Helmut Kohl bei seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag gegeben hat. Dabei ist es schon sehr merkwürdig, daß wir heute nur auf der Basis von Anträgen der Opposition darüber diskutieren. Es scheint also irgendwo bei der Regierungskoalition in dieser Frage zu haken:
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Ein kleiner Versuch, ein erstes Straucheln, ein Scheitern von Herrn Minister Kanther und wieder eine neue Sachverständigenkommission, noch dazu in einer Zusammensetzung, die vor allem eines zeigt, nämlich daß sie „regierungspositionslastig" ist. Die ÖTV wird, wie Otto Schily schon richtig gesagt hat, nicht beteiligt. Ich glaube, das sind Zeichen, daß die Regierung nicht ehrgeizig genug ist. Ihr fehlt das Gespür für den Konsens. Ihr fehlt ein Gesamtkonzept. Ihr fehlt genau das, was sie braucht, nämlich eine Philosophie der Staatsreform. Darum geht es.
Überlegen wir einmal, wie man das begründen kann. Tatsächlich ist eine Reform des öffentlichen Dienstes - das wissen alle - mehr als überfällig. Wer heute mit der Verwaltung zu tun hat und wer heute in der Verwaltung arbeitet, der macht jedesmal, wenn er die Verwaltung betritt, den Weg ins 19. Jahrhundert und zurück. Das ist ein Kern der Entfernung dieser Verwaltung von der Bevölkerung. Das ist aber auch ein Grund der tiefen Müdigkeit und der Resignation, die es bei vielen Beschäftigten im öffentlichen Dienst gibt.
Viele Strukturen sind verkrustet, Entscheidungen langwierig. Es ist an der Zeit, zu prüfen, ob die Organisationsstruktur des Staates überhaupt noch zu den Bürgerinnen und Bürgern paßt, die in diesem Staat leben. Lassen Sie uns doch einmal diese Frage prüfen. Ich finde, daß sich jeder Staat der Welt mindestens etwa alle 25 Jahre diese Frage vorlegen müßte: Gleicht er eigentlich noch seinen Bürgerinnen und Bürgern? Daß sich die meisten Staaten der Welt diese Frage gar nicht stellen, hat häufig damit zu tun, daß sie gar nicht so lange Friedenszeiten haben, sondern daß Kriege, Revolutionen und Wirtschaftskrisen diese wichtige Frage, nämlich der Ähnlichkeit der Staatsorganisation mit dem Bewußtsein und den tragenden Bewußtseinsströmen in der Bevölkerung, in den Hintergrund drängen.
Ich finde, wir haben gerade durch eine ruhige Entwicklung auch des demokratischen Bewußtseins in diesem Lande die Chance, zu überlegen: Wie könnte es denn heute anders aussehen?, damit wir auch wieder zu einem größeren Konsens kommen. Eine Schere hat sich geöffnet. Während der Staat immer mehr Aufgaben an sich gezogen hat und gleichzeitig die öffentlichen Kassen immer knapper geworden sind, wandern die Bürger in ihrem Bewußtsein immer mehr aus diesen staatlichen Sphären aus. Inzwischen ist der Finanzdruck so groß, daß die Bundesregierung aus diesem Grund geradezu gezwungen ist, den öffentlichen Sektor zu reformieren. Doch vor einer reinen Kürzungsorgie kann man nur dringend warnen, weil sie nämlich Hand an die Wurzeln des sozialen Konsenses legt.
Die öffentlichen Verwaltungen erfüllen zahlreiche unersetzliche soziale Funktionen, die sich weder privatisieren noch abschaffen lassen. Deswegen halten wir die Privatisierung auch nicht für den Königsweg. Wir sagen es ganz deutlich: Den billigsten Staat können wir uns überhaupt nicht leisten.
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Woher kommen nun aber die Reformpotentiale? Es ist doch interessant: In den 70er Jahren fand die große Reformdebatte auf der Bundesebene statt. Sie war Teil dieser großen Aufbruchstimmung, die es damals gegeben hat. Heute sehen wir, daß es auf der Bundesebene eine Stagnation gibt und daß die Reformbereitschaft vor allen Dingen auf der Ebene der Kommunen und in einigen Ländern besteht. Dieses Zurückbleiben der Bundesebene hinter der Aufbruchstimmung bei den Kommunen ist doch sehr interessant.
Otto Schily möchte eine Zwischenfrage stellen, die genehmige ich gerne.
Jetzt übernimmt sie gleich wieder das Amt des Vizepräsidenten.
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Frau Kollegin Dr. Vollmer, Sie sprechen über die Bundesebene und den dortigen Modernisierungsstillstand. Haben Sie eine Erklärung dafür, daß bei der Bundesregierung auch nicht in Ansätzen erkennbar ist, daß sie eine sehr gute Gelegenheit für eine Modernisierung der Bundesverwaltung ergreift, nämlich den Umzug von Bonn nach Berlin?
Genau da kann ich nur zustimmen. Ich wäre auch selber noch in meiner weiteren Rede darauf gekommen.
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Solche Chancen wie der Umzug kommen natürlich nicht oft. Jeder weiß, daß die äußere Mobilität durch die innere Mobilität ergänzt werden muß. Das ist genau meine Meinung.
Ich wollte aber vorweg noch - wenn ich darf - über die Reformstimmung in den Kommunen berichten. Natürlich weiß jeder, daß es auch da einen äußeren Anlaß gibt, nämlich die Finanznot. Wir von den Grünen hatten eine Anhörung, in der eine regelrechte Aufbruchstimmung, ein Wettbewerb zwischen verschiedensten Modellen, dem Heidelberger Modell, dem Wuppertaler Modell, dem Berliner Modell, dem Frankfurter Modell, stattgefunden hat, die gegenseitig voneinander lernen wollten.
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Es war so etwas wie ein Städtewettbewerb in Staatsreform. Genau das brauchen wir. Die Frage ist: Warum kommt das bei Ihnen nicht an?
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Es geht uns um eine Revitalisierung und um eine Demokratisierung des öffentlichen Sektors. Wir wollen Bürgerinnen und Bürger, die sich gut bedient fühlen und die gerne zu den staatlichen Stellen kommen. Wir wünschen uns Beschäftigte, die nicht ständig an die Grenzen des Dienstrechts stoßen, wenn sie sich persönlich und verantwortlich einsetzen wollen.
Wir sind der Meinung, der preußische Beamte und die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums sind so nicht länger zeitgemäß. Aus den Vertretern der Obrigkeit als Leitbild sind längst Bürger geworden, d. h. wir stellen so etwas fest wie eine „Verbürgerlichung" der Angestellten des öffentlichen Dienstes.
Deswegen sind wir für eine konsequente Entbeamtung. Beamtinnen und Beamte sollen künftig nur noch in hoheitlichen Kernbereichen eingestellt werden, z. B. bei Polizei und Justiz. Unsere Fraktion hat diese Woche einen eigenen Antrag eingebracht. Der geht - das werden Sie sehen - weiter als der der SPD, wobei in Teilen Übereinstimmung besteht.
Wir wollen die Debatte um die Staatsreform: Was muß der Staat tun? Was können wir selbst? Wobei brauchen wir noch Unterstützung? Welche Wettbewerber müssen neu ermöglicht werden? Dabei ist unser bedeutendster Gedanke: Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen freien sozialen Bewegungen sind wichtigster Baustein für die Staatsreform. Ihre Erfahrungen aus den vielen freien Bewegungen gilt es mit der öffentlichen Sphäre zu verzahnen. Wir suchen nach genau diesem Nadelöhr, wo die hohe Kompetenz und auch die hohe Professionalität, die sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Bereichen erworben haben, eingespeist wird, und danach, wie der Staat sie zu seiner eigenen Reform nutzbar machen kann.
Wie am Ende des 19. Jahrhunderts die Wohlfahrtsverbände aus der Arbeiterbewegung und aus den christlichen Sozialbewegungen hervorgegangen sind und ihre eigenen Organisationen gegründet haben, u. a. den Paritätischen Wohlfahrtsverband, so müssen auch heute die neu entstandenen Selbsthilfegruppen der Bürgergesellschaft den Verbänden und sozialen Trägern gesetzlich gleichgestellt werden; denn sie leisten für das Gemeinwesen eine ähnlich wichtige und für die Modernisierung des öffentlichen Sektors sogar eine noch wichtigere Funktion.
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Das müssen sie, weil für diese Bewegungen die Pionierzeit vorbei ist und weil diese Bewegungen sonst entweder ermüden oder sich selbst zu neuen Sozialbürokratien entwickeln würden, was wir nicht wollen. Das heißt: Wir fordern, daß sie als Wettbewerber bei den öffentlichen Leistungen eine faire Chance haben und daß sie bei dem, was sie an Beratung und Unterstützung brauchen, durch die öffentliche Hand unterstützt werden.
Unser zweiter Grundgedanke besagt: Keine Regierung der Welt kann Staat und Verwaltung reformieren, wenn sie nicht selbst Reformbereitschaft demonstriert. Das war übrigens ein Grund, warum ich so entschieden auch für die Reform des Bundestages und unserer eigenen Organisation plädiert habe. Ich meine, wir müssen uns ein Stückchen selber legitimieren, wenn wir diese Reform auch bei den öffentlichen Verwaltungen und beim öffentlichen Dienstrecht vornehmen wollen.
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Wie Otto Schily schon gesagt hat, ist die Chance des Umzugs riesengroß.
Wir haben aber noch einen anderen konkreten Vorschlag: Wir möchten gern eine Musterbehörde oder am besten zwei Musterbehörden haben. Deswegen schlagen wir dem Innenministerium von Herrn Kanther
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und dem Zukunftsministerium von Herrn Rüttgers vor, miteinander in einen kreativen Wettbewerb einzutreten, damit diese beiden Wege - der Weg Kanther, der Weg Rüttgers - miteinander wetteifern. Dann wollen wir sehen, was sie an Modellen für ReDr. Antje Vollmer
formen des öffentlichen Sektors zustande bekommen - gerade auch auf der Bundesebene -, an denen die anderen Ministerien ablesen können, wie so etwas geht.
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Ich finde, das wäre ein schöner Streit zweier Schulen.
Unser dritter Grundgedanke befaßt sich in engerem Sinne mit der Modernisierung des Dienstleistungsbetriebs Staat und mit der Reform des öffentlichen Dienstrechts. Ich habe nicht mehr die Zeit, das alles aufzuführen. Sie können das aus unserem Antrag ersehen; vieles entspricht dem, was Sie auch bei der SPD finden: mehr Selbstbestimmung, mehr Verantwortung für die Beschäftigten, weniger Hierarchien, Führungsebenen auf Zeit, gleicher Anteil für die Frauen, besonders für die Führungspositionen, und - neu bei uns - die Einführung einer „Bürgercharta", d. h. ein Verbraucherschutz für die Verbraucher der Dienstleistungen der öffentlichen Hände. Ich glaube, daß das richtig ist und daß das, jedenfalls aus unserer Grünen-Tradition,
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auch eine Konsequenz dessen ist, was wir früher gefordert haben, nämlich mehr Bürgerrechte. Dazu gehört auch ein Akteneinsichtsrecht.
Zusammenfassend möchte ich sagen: Unsere Parole für die Reform des Staates lautet deshalb: Vater Staat wird pensioniert; die Bürgergesellschaft hilft sich fortan selbst.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Schmidt-Jortzig.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung ist eine ebenso grundsätzliche wie übergreifende Aufgabe. Sie richtet sich nicht nur an staatliche Ebenen von Bund und Ländern, sondern auch an die Gemeinden, Städte und Kreise. Sie geht alle politischen Parteien an, wo immer sie Aufgaben und Organisationsverantwortung tragen.
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Deshalb ist es zu begrüßen, wenn die SPD-Fraktion einen zwar nicht sonderlich originellen, aber immerhin konkreten Entschließungsantrag dazu vorlegt, mit welchem die Diskussion hoffentlich auch in der Sache vorangetrieben werden kann.
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Freilich stört dann - das muß ich am Anfang mit behandeln -, daß vorab erst wieder einmal die bekannten Schützengräben ausgehoben werden. Da steht nämlich, Länder und Gemeinden hätten in ihren Verwaltungen einen nachhaltigen Veränderungsprozeß in Gang gesetzt - was ich für die Kommunen voll unterstreiche -, die Bundesregierung sei auf dem Gebiet der Verwaltungsreformen dagegen bisher untätig, ihre Vorschläge zum Dienstrecht seien unzureichend.
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Das ist schlechterdings völlig an den Realitäten vorbei. Das wissen Sie auch.
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Deswegen frage ich mich, was das mit einer sachlichen Diskussion, die wir hier um diese Dinge hoffentlich betreiben wollen, zu tun hat.
Die jetzige Bundesregierung ist noch nicht einmal ein Jahr im Amt und hat bereits ein umfangreiches Konzept zur Flexibilisierung der Planungs- und Genehmigungsverfahren auf den Weg gebracht. So etwas ähnliches - auch in Länderhoheit - habe ich aus sozialdemokratischer Provenienz noch nie gesehen.
Die Bundesregierung hat ein realistisches Eckwertepapier zur Erneuerung des Beamtenrechts vorgelegt, über das man in einzelnen Punkten streiten kann, über das Bund, Länder und Berufsvertretungen zur Zeit aber sehr erfolgversprechende Gespräche führen.
Die Bundesregierung hat eine Arbeitsgruppe Haushaltsrechtsreform eingesetzt - von dem Generalgremium „schlanker Staat" -, an dem immerhin auch Kreise weit über die Koalition hinaus beteiligt sind. Ich weise im übrigen ausdrücklich,
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weil das hier mitunter etwas in Zweifel gezogen wurde, auf Frau Görner vom Deutschen Gewerkschaftsbund hin. Darüber möchte ich jetzt aber gar nicht reden; darauf ist ja schon Bezug genommen worden. Auch die Initiative zur Ausdünnung des Statistikwesens ist schon angesprochen worden.
Das alles läßt sich also bei noch nicht einem Jahr Regierungszeit, bei noch nicht einem Jahr Legislaturperiode
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schon einmal ganz gut sehen.
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Alle Beteiligten sind nun aufgerufen - deswegen finde ich auch diesen Antrag gut -, da mitzumachen.
Gleichwohl muß man die Frage stellen, wie denn nun die Bilanz der großenteils von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, geführten Bundesländer aussieht. Da nehme ich nur etwa mein HeimatDr. Edzard Schmidt-Jortzig
land Schleswig-Holstein. Das liegt ja auch relativ nahe, weil sich die Ministerpräsidentin dieses Landes verbal an die Spitze der Bewegung zu stellen pflegt.
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- Ja, Sie werden gleich hören, daß es mit den realen Bilanzen, die man da vorlegen könnte, etwas schwach ist. In Schleswig-Holstein regiert ja bekanntlich die SPD mit absoluter Mehrheit; sie hat also keinen Partner, auf den man sich möglicherweise hinausreden könnte.
In der dort zu Ende gehenden Legislaturperiode ist jedoch bisher lediglich eine einzige neue - jetzt kommt das Sensationsstück - Beurteilungsrichtlinie für den öffentlichen Dienst hervorgebracht worden, was auch noch für die Öffentlichkeit als gewaltiger Erfolg abgefeiert wurde. Die Öffentlichkeitsarbeit ist wirklich optimal, aber der Substanzerfolg ist relativ gering.
Statt dessen hat man in der Zeit im gesamten Ministerienbereich mehr Beamte als jede andere Regierung zuvor neu eingestellt. Die Kieler Ministerialbürokratie ist in den jetzt sieben Jahren unter SPD-Regierung um 19 % oder 454 Stellen aufgebläht worden.
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Zur Vervollständigung des Bildes hat man gleich jede konkrete Organisationsreform unterlassen und bei den Aufgabenaufgriffen sogar noch zugelegt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonntag-Wolgast?
Gern, selbstverständlich.
Herr Kollege Schmidt-Jortzig, ist Ihnen bekannt, daß die von Ihnen erwähnten Stellenanhebungen im Lande Schleswig-Holstein
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etwas mit neuen Aufgabenstellungen zu tun haben, etwa im Lehrerbereich auf Grund gestiegener Schülerzahlen und zum Zwecke der Verbesserung des Bildungswesens,
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und mit einer gesteigerten Anzahl von Polizisten, weil es leider wegen der unzureichenden Politik der Bundesregierung zur Wahrung der inneren Sicherheit notwendig ist, in bestimmten Bereichen die Zahl der Polizistenstellen anzuheben?
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Liebe Frau Sonntag-Wolgast, ich habe eben versucht, deutlich zu machen, daß ich der Landesregierung in Schleswig-Holstein u. a. vorwerfe, daß sie bei dem Thema Aufgabenkritik nichts anderes zustande gebracht hat, als mehr Aufgaben aufzugreifen.
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- In der Tat, das hat die Landesregierung Schleswig-Holsteins getan. Sich deswegen an die Spitze des Fortschrittes zu stellen, wenn es auch um die Aufgabenkritik geht,
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stimmt mich jedenfalls nicht besonders überzeugt. Im übrigen sieht die betroffene Landespolizei die Aussage von den zusätzlichen Stellen ganz anders, wie Sie in dem letzten Manifest auch nachlesen können. Das sind Rechenkunststücke, die da die Stellen vermehrt haben wollen. Aber wie auch immer, 454 Stellen in sieben Jahren bei einem Land der Größenordnung Schleswig-Holsteins ist schon bemerkenswert.
Was die Reform des öffentlichen Dienstrechts anbetrifft, hört man von der Frau Ministerpräsidentin einzig den stereotypen Ruf nach einer Grundgesetzänderung, von der Frau Simonis allerdings genau weiß, daß sie dafür schon im Bundesrat keine, geschweige denn, eine ausreichende, Mehrheit bekommt.
Bei näherem Hinsehen staunt man ohnehin, daß Frau Simonis nicht etwa den Art. 33 Abs. 4 GG mit dem „Funktionsvorbehalt" geändert haben will, sondern den anschließenden Abs. 5 mit den „hergebrachten Grundsätzen". Dabei sollte doch eigentlich hinlänglich bekannt sein, daß diese Einrichtungsgarantie einer „vernünftigen Fortentwicklung" des Beamtenrechts keinesfalls im Wege steht, wie das Bundesverfassungsgericht zu betonen nicht müde wird.
Meine Damen und Herren, wer so offenkundig seine Schutzschilde aufbaut, hinter denen er bzw. sie getrost jede tatsächliche Veränderung vermeiden kann, darf bei dem zentral wichtigen Thema der Verwaltungsreform nun wirklich nicht auf andere zeigen. Ich denke also, wir sollten, wenn es uns um die Sache zu tun ist, ganz rasch solche durchsichtigen und unergiebigen Verantwortungsabschiebungen unterlassen.
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- Jetzt komme ich zur Sache.
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Sie haben aber in Ihrem schönen Antrag selber eingeführt, daß der Bund gar nichts macht und die Länder so toll sind. Das ist wirklich voll neben der Sache.
Ich sage den Antragstellern gerne - ich habe das schon vorhin hoffentlich an der richtigen Stelle deutlich genug für das Protokoll durch den gezielten Beifall bei einzelnen Punkten zum Ausdruck gebracht -, daß ich ihrem Aufruf, für die Bundesministerien nicht nur eine Dienstrechts-, sondern auch eine Verwaltungsreform durchzuführen, und zwar sowohl in der Aufbau- wie in der Ablauforganisation, nur vollauf beipflichten kann.
Dekonzentration, also Entzerrung und Ausfächerung, ist die Devise. Kleinere, möglichst selbständig und ganzheitlich produzierende Arbeitseinheiten bringen offenkundig bessere Ergebnisse als arbeitsteilig in die Großorganisation eingebundene Wirkungsformen. Da, wo Verwaltung nicht nur aus Routine besteht, erweist sich eben ergebnisorientierte Arbeit der Menschen in individueller Aufgabengesamtverantwortung als qualitativ und aufwandsbezogen besser. Volle Unterstützung also in diesen Punkten für Ihren Antrag!
Zur wirklich eigenverantwortlichen und flexiblen Kleingruppenarbeit gehört sicher auch weitgehende Disponibilität der bereitgestellten Finanzmittel, Budgetierung also, Outputorientierung statt Inputorientierung. Das ist ja im Grunde auch unstreitig. Wir geben also unsere Zustimmung: Ergebniskontrolle statt Verfahrenskontrolle.
Zustimmung erhalten Sie, Herr Kollege Körper und natürlich auch Herr Kollege Schily - Sie beide haben diese Dinge ja der Öffentlichkeit vorgestellt -, von mir auch für Ihr Plädoyer für eine Stärkung von Selbstorganisation und Innovation der jeweils einzelnen Verwaltungsträger. So ist es bei Ihnen ausdrücklich formuliert. Dazu kann ich nur sagen: Es lebe die dezentrale Organisationshoheit!
Patentrezepte, einfache Nachahmungen von Modellen oder gar praxisferne Fremdanweisungen führen sicher nicht zum Ziel; gefragt ist vielmehr die konkrete Verwaltungskunst, die organisatorische Feineinstellung in jedem Arbeits- und Behördenbereich selber.
Meine Damen und Herren, zur Reform des öffentlichen Dienstrechts kann ich mich aus Zeitgründen jetzt nicht mehr im einzelnen äußern. Ich habe aber gehört, dazu wird in dieser Debatte noch im einzelnen Stellung genommen. Wir werden an anderer Stelle sicher Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen. Es liegen ja auch die „Eckwerte" der Koalition vor. Die Gespräche - ich habe schon darauf hingewiesen - mit den anderen Ebenen und Seiten scheinen mir durchaus erfolgversprechend zu sein, wenngleich etwa - dazu noch ein paar kurze Bemerkungen - über die Stellenobergrenzen und den Gedanken, Führungspositionen auf Zeit zu vergeben, intensiv miteinander gesprochen werden muß.
Hinsichtlich der strengen Stellenobergrenzen von Bundes wegen sage ich Ihnen ganz unverhohlen meine Sympathie, daß man diese auflockern sollte,
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sei es durch Wegfall, sei es durch eine Öffnungsklausel, um sie für die Länder flexibel zu machen.
Zu den Führungspositionen auf Zeit, die von Ihnen sehr heftig verlangt werden, überwiegt bei mir die Skepsis ganz deutlich. Die Koalition hat für diese Führungspositionen ihr Modell von Erprobungszeiten in die Debatte eingebracht. Mir scheint, Führungspositionen auf Zeit würden die politische - um es deutlich zu sagen: die parteipolitische - Unabhängigkeit der betreffenden Beamten in führenden Positionen in Frage stellen, insbesondere nachdem in der Diskussion Beispiele fallen und nicht mehr nur von Regierungspräsidenten die Rede ist, sondern auch von Schulleitern. Wollen Sie einen Schulleiter, der sich innerhalb von fünf Jahren politisch nicht bewährt hat, wieder absetzen? Das ist doch wohl nicht im Sinne des Erfinders.
Warum macht man nicht mit Blick auf Bayern von dieser Möglichkeit etwa bei politischen Beamten größeren Gebrauch? Das würde sicherlich nicht für die Schulleiter gelten; wenn es für die gelten würde, wäre das, glaube ich, auch sehr schlimm. Warum tritt man nicht der Überlegung näher, die ganz interessant ist - ich denke dabei auch an den Fall des hessischen Staatssekretärs eines ganz bestimmten Ministeriums -, politische Beamtenstellen auf Zeit zu schaffen? Wäre es nicht interessant, einmal politische Beamte auf Zeit ins Visier zu nehmen? Aber das bitte nur als Anregung zu dem Punkt Führungspositionen auf Zeit, Führungspositionen auf Bewährung. Da werden wir mit Sicherheit noch ins Gespräch kommen müssen.
Zu zwei Dingen in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von der SPD, möchte ich noch etwas kritisch anmerken. Zum einen geht es dabei - ich nehme an, das ist nur eine Auslassung - um die zu Recht angemahnte Aufgabenkritik. Herr Kollege Körper, Sie haben in Ihrem Antrag die Sicherung der bürgerlichen und sozialen Grundrechte, die Abwehr ökologischer Gefahren, die Setzung ökonomischer Rahmenbedingungen, die Gewährleistung eines modernen Bildungswesens und einer leistungsfähigen Infrastruktur als Fächer der von Ihnen vorgestellten Kernaufgaben angeführt.
Bereits bei der „Setzung ökonomischer Rahmenbedingungen" würde ich, wie Sie sich vorstellen können, aus meinem liberalen Herzen heraus zur Vorsicht mahnen. Denn da öffnen sich dem Staat allzu viele Einfallstore, um regulierend und bevormundend in die Abläufe - nicht nur die merkantilen, sondern auch die ganz tagtäglichen - einzugreifen, was dieselben mindestens potentiell wieder stört und hemmt.
Statt dessen fehlt aber in Ihrer Aufzählung ein ganz wichtiger Komplex unabdingbarer Staatsaufgaben - ich nehme an, daß er nur vergessen worden ist -, nämlich jener, der sich mit der Sicherheitsgewährleistung für die Menschen nach innen wie nach außen beschäftigt. Streitkräfte, Polizei und Justizdienste mögen nicht in jedermanns Sonntagsgemälde vom schönen, sanften Staat passen, sind aber realistischerweise völlig unersetzlich. Sie sind übrigens in Ihrem Leitantrag zum SPD-Bundesparteitag
auch auf diesen Punkt eingegangen, aber in Ihrem Antrag heute fehlt er.
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- Gut.
Gerade in diesem Bereich lassen sich personelle Ressourcen eben nur sehr begrenzt einsparen. Um so mehr dürften dort neue Konzepte der Personalführung, des technischen Outsourcing und der gestrafften Dienstabläufe gefragt sein.
Zum zweiten will ich doch noch ein Wort zur Privatisierung sagen, die bei Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, leider, wie ich finde, wieder einmal viel zu ideologisch voreingenommen abgehandelt wird.
Schon aus Rechtsgründen darf eine reale Übertragung öffentlicher Aufgaben auf Private nur stattfinden, wenn der bisher tätige Verwaltungsträger sie selber privatrechtlich erfüllen dürfte, seine Zuständigkeit nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist und die Eigenart der Aufgaben, wie es in manchen Vorschriften ausdrücklich steht, oder ein überwiegendes öffentliches Interesse der Übertragung nicht entgegensteht. Darüber sollte Konsens bestehen.
Verschwiegen werden darf aber auch keineswegs - das gehört zur Privatisierung dazu; das weiß eigentlich auch jeder -, daß unter Umständen Garantenpflichten zur Ausgleichsleistung zwingen, also die Einschaltung Privater keineswegs immer nur finanzentlastend abläuft.
Privatisierungen kommen vielmehr auch unter Kostengesichtspunkten schon deshalb häufig ins Kalkül, weil dadurch unternehmerisches Interesse, bürgerliches Kapital und individueller Kräfteeinsatz aktiviert werden können. So schafft man wieder produktive Arbeitsplätze und wirtschaftet eben solide.
So pauschal gegen die Privatisierung zu Felde zu ziehen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun, ist also nicht sehr angemessen. Man braucht auch gar nicht die Aufgabenzuständigkeit selber auf Private zu übertragen, sondern kann die Privaten durchaus unselbständig in ein behördlich bleibendes Erledigungsregime einbeziehen.
Schließlich sei der Vollständigkeit halber noch deutlich gesagt, daß man manche freiwillige eigene Aufgabe gar nicht erst aufgreifen müßte, sondern durch behutsame oder gezielte Einwerbung dritter Unternehmensinteressen die Sache von vornherein in privatwirtschaftliche Bedarfsdeckung einmünden lassen kann.
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Insofern fand ich übrigens die, wenn ich es einmal so
übersetzen darf, Subsidiaritätsideen, die Frau Kollegin Vollmer hier vorgetragen hat, durchaus interessant.
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Wenn es einem wirklich um Verwaltungsreform zu tun ist, um schlanken Staat und mehr Kostentransparenz und Wettbewerb, dann sollte man auch beim Thema Privatisierung die Scheuklappen ablegen und unvoreingenommen die dortigen Effektivierungsmöglichkeiten ausschöpfen.
Insgesamt, meine Damen und Herren von der SPD, freuen wir uns also auf die eingehende Sachdiskussion mit Ihnen. Wenn Sie da ohne Vorurteile mitmachen wollen, dann bringen wir dieses zentrale Anliegen des Koalitionsprogrammes auch entscheidend voran.
Eine Steigerung der Handlungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung bringt letztlich zudem bessere Leistungen für den Bürger, und das muß ja wohl unser aller Ziel sein.
Besten Dank.
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Ich erteile das Wort der Abgeordneten Maritta Böttcher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Notwendigkeit der Modernisierung von Staat und Verwaltung steht, so denke ich, außer Frage. Einen Teil dieser politischen Aufgabe konnte ich als Abgeordnete eines Kreistages im Land Brandenburg mit der Ämterbildung bereits verfolgen und zum Teil auch mitgestalten.
Die Ostdeutschen sehen sich heute einer ihnen übergestülpten ungeheuren Rechtsmasse von ca. 80 000 Paragraphen gegenüber, die ihnen weitestgehend fremd geblieben sind. Eine Flut von Papieren ergießt sich über die Bürgerinnen und Bürger.
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Vor allem ältere Menschen fürchten sich oft, den Briefkasten zu öffnen. Es könnte wieder ein Bescheid darin liegen, den sie kaum verstehen. Ein kompletter Rentenantrag z. B. ist, mit allen Anlagen und Erläuterungen aneinandergereiht, acht Meter lang und wiegt fast 300 Gramm. Die Bearbeitungszeiten betragen rund anderthalb Jahre, und etwa jeder dritte Bescheid ist fehlerhaft. Bürgerinnen und Bürger fühlen sich der Bürokratie wehrlos ausgesetzt.
Damit sich an diesem Eindruck, den Verwaltungshierarchien beim Normalverbraucher hinterlassen, so schnell wie möglich etwas ändert, begrüßen wir mit Nachdruck die Thematisierung der Verwaltungsreform als Staatsreform und ihre Verbindung mit einer grundlegenden Bürokratiekritik, wie sie im Antrag der Grünen vorliegt.
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Auch im SPD-Antrag - ich möchte darauf jetzt nicht näher eingehen, weil sehr viel dazu bereits hier in der Diskussion gesagt wurde - sind sehr viele Ansätze enthalten, die, wie ich glaube, geeignet sind, auf diesem wichtigen Gebiet ein Stück weiterzukommen.
Wir halten die unlängst in der Haushaltsdebatte wiederum deutlich gewordende Tendenz, unter dem Diktat knapper Kassen den Staat als politische Gestaltungskraft zugunsten der Verstärkung des Repressionsapparates zurückzunehmen, auch aus der DDR-Erfahrung heraus für gefährlich.
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Die Regulierungs- und Steuerungsfähigkeit von Staat und Verwaltung muß ein Maß erreichen - und das haben Sie ja selbst auch gesagt; ich verstehe Ihre Zwischenrufe gar nicht -, in dem Bürgernähe, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit den Vorrang gewinnen.
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Der in der 12. Legislaturperiode von der PDS/ Linke Liste eingebrachte Verfassungsentwurf bekennt sich auch deshalb zum Prinzip der partizipatorischen Demokratie: Träger der Staatsgewalt ist das Volk. In Art. 2 wird formuliert, daß Ausübung von Staatsgewalt den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet ist und ihrer Kontrolle unterliegt.
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Art. 62 hebt den Beamtenstatus auf, und Art. 162 bestimmt, daß das Recht des öffentlichen Dienstes unter Beachtung der vollen politischen und gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit der Beschäftigten neu zu regeln ist. Alle diese Zielstellungen verstehen sich als Antwort auf die Deformation des demokratischen Prozesses, wie sie im Trend zur Bürokratisierung, zum Parteienabsolutismus, d. h. zum faktischen Politikmonopol der etablierten Großparteien, und zur Zuschauerdemokratie zum Ausdruck kommen. Daß diese Forderungen nichts an Aktualität eingebüßt haben, zeigen die vorliegenden Anträge.
Die Debatte zur Verwaltungsreform kann nicht nur an Hand von Dienstrechtsänderungen oder als Privatisierungsdiskussion geführt werden. Personalkürzungen sind ebensowenig Reformersatz wie die vom Innenminister angekündigten Effizienzsteigerungen, die vorwiegend als Leistungsanreize daherkommen. Das Schicksal solcher Anreize zeigt die Geschichte der Westleihbeamten beim Aufbau der Ostbürokratie.
Die Chance des Neuaufbaus der Landes- und Kommunalverwaltungen in den neuen Bundesländern wurde nicht für eine grundlegende Reform benutzt. Im Gegenteil: Ostdeutschland hat sich zum „Pilotprojekt" für die verstärkte Privatisierung kommunaler Aufgaben in der gesamten Bundesrepublik entwickelt.
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- Ja, Herr Marschewski, ich werde Ihnen ein Beispiel nennen: Im öffentlichen Personennahverkehr lag der Privatisierungsgrad in Ostdeutschland 1994 schon bei etwa 20 % und damit weit höher als im alten Bundesgebiet. Am weitesten fortgeschritten ist jedoch die Beteiligung von Unternehmen bei der Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Beispiellos in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Privatisierung der gesamten Wasserwirtschaft im Rostocker Raum. Die Folgen dieser Privatisierungsstrategie sollen nun die Bürgerinnen und Bürger bezahlen. Mit bis zu 20 DM pro Kubikmeter Abwasser und Anschlußbeiträgen von bis zu 50 000 DM sind die Folgekosten dieser Politik nun wieder bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen, und die Kommunen, die mit der Privatisierung ihren Haushalt eigentlich entlasten wollten, stehen vor dem finanziellen Kollaps.
Die Bundestagsgruppe sowie die Landtagsfraktionen der PDS haben Vorschläge eingebracht, wie durch Novellierung des Kommunalabgabengesetzes und durch schnelle Finanzhilfen von Bund und Ländern die Situation entspannt und die hohen Belastungen für die Bürgerinnen und Bürger abgebaut werden können.
Sehr deutlich wird an solchen Beispielen, daß Privatisierung kommunaler und staatlicher Aufgaben keinesfalls die Patentlösung für kostengünstigere Verwaltung sein kann. Im Gegenteil: Zunächst und vor allem bedeutet sie Verlust von Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten für die Kommunen. Private Betreiber sind nicht automatisch besser, schneller, leistungsfähiger und billiger, zumal sie ja zusätzlich noch Profit erwirtschaften müssen.
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Die Kommune jedoch haftet auf Grund der fortbestehenden Verantwortung weiterhin für die ordnungsgemäße Erfüllung der öffentlichen Aufgabe.
Die Positionen und Forderungen der PDS zum Problemkreis Privatisierung kommunaler und öffentlicher Aufgaben lassen sich so zusammenfassen:
Erstens: Kommunale Selbstverwaltung setzt den Erhalt, Ausbau und Schutz des Kommunalvermögens voraus. Für Städte, Gemeinden und Landkreise sind eigene Unternehmen eine wesentliche Grundlage der Selbstverwaltung sowie unverzichtbarer Bestandteil einer eigenständigen Haushalts- und Finanzwirtschaft.
Zweitens: Die Privatisierung des Kommunalvermögens sowie öffentlicher Leistungen bringt weder eine dauerhafte finanzielle Entlastung der Haushalte noch pauschal mehr Leistungen durch Wettbewerb und bessere Versorgung.
Drittens: Kommunale Selbstverwaltungsaufgaben lassen sich nicht verkaufen, da die Kommunen auf vielen Gebieten versorgungspflichtig bleiben.
In diesem Sinne unterstützen wir ausdrücklich die Bestrebungen zur Modernisierung von Verwaltungsstrukturen. Nicht radikaler Leistungs- und Stellenabbau kann die Lösung sein, sondern eine Neuorganisation von Verwaltungsabläufen. Dies kann durchaus auch unter Einbeziehung der sogenannten neuen Steuerungsmodelle, mit denen gegenwärtig rund 150 Städte und Landkreise experimentieren, erfolgen. Wichtig ist dabei allerdings, die Spezifik der „Produktion" öffentlicher Leistungen zu beachten: Verwaltungshandeln besteht nicht nur aus bürokratischer oder betriebswirtschaftlicher Steuerung, sondern ist wesentlich Gewährleistung von Daseinsvorsorge. Insofern ändert natürlich kein Experiment mit noch so neuen Steuerungsmodellen etwas an den eigentlichen Steuerungsinstrumenten der Verwaltung: an Finanzzuweisungen, am selbst für Fachleute kaum noch übersehbaren Dickicht der Rechts-
und Verwaltungsvorschriften, am Wirrwarr der Weisungen, Formulare und Zuständigkeiten, an den starren Eingruppierungs- und Stellenobergrenzenverordnungen und an partei- und personalpolitischen Egoismen.
Es gibt also viel zu tun, meine Damen und Herren. Auch wir werden unsere Vorschläge einbringen.
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Ich erteile nun dem Kollegen Dietmar Schlee das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man sagt es so leicht dahin: Die Verschlankung des Staates und die Modernisierung der Verwaltung sind zentrale Aufgaben von Bund, Ländern und Gemeinden in den kommenden Jahren. Wer wie ich die Verwaltung auf allen Ebenen kennt, spürt förmlich die Herausforderung, vor der wir alle stehen. Die Herausforderung ist auch deshalb so groß, weil der Erwartungsdruck der Bürger so groß ist, wie Sie alle das jeden Tag feststellen können. Der Bürger will weniger Staat jetzt,
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und dem müssen wir Rechnung tragen.
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Dies ist für uns alle natürlich auch eine große Chance. Die Politik kann ihre Reformfähigkeit, ihre Innovationsfähigkeit, ihre Leistungsfähigkeit und - ganz wichtig - ihre Konsensfähigkeit unter Beweis stellen. Das heißt, wenn wir in den nächsten Jahren diese Aufgabe, zumindest weite Teile dieser Aufgabe meistern würden, hätten wir nicht nur einen leistungsfähigeren, einen kostengünstigeren, einen bürgernäheren Staat; wir hätten insgesamt für die Politik Vertrauen zurückgewonnen.
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Mein Eindruck ist, Herr Kollege Körper, daß gerade die jungen Leute in diesem Bereich von uns eine ganze Menge erwarten und daß wir alles tun müssen, um gerade auch diesen Erwartungen gerecht zu werden.
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Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Penner?
Natürlich.
Herr Kollege Schlee, ist Ihnen denn auch aufgefallen, daß ungeachtet Ihrer Skepsis gegenüber zuviel Staat seit vielen Jahren immer mehr Wünsche an den Staat herangetragen werden?
Lieber Kollege Penner, das ist mir selbstverständlich überdeutlich, und dazu will ich gleich im Nachgang noch etwas sagen. Sie werden sich wundern, Herr Kollege, was ich dazu zu sagen habe.
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Wenn wir dieses Thema jetzt angehen, dann müssen wir, glaube ich, aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir müssen alles tun, um neue Fehler im Vorfeld zu vermeiden. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß, wenn wir in diesem Punkt weiterkommen wollen, Mut notwendig ist, daß wirklich von uns allen ein hohes Maß an Mut und auch Risikobereitschaft gefordert wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich gerade „Fehler" gesagt habe, so glaube ich, Herr Kollege Körper, daß es uns keinen Schritt weiterbringt, wenn Sie in Ihren Antrag hineinschreiben, die Bundesregierung habe sich Versäumnisse anzurechnen, sie tue in diesem Bereich nicht, was sie tun sollte, und auf die Länder, auf die Kommunen verweisen. Kollege Schmidt-Jortzig hat Ihnen am Beispiel Schleswig-Holsteins - man könnte sofort drei weitere nennen - deutlich gemacht, daß diese Diskussion überhaupt nichts bringt. Sie ist zu punktuell. Wir sind, meine ich, in dieser Frage alle im gleichen Boot. Wir sollten uns dieser großen Aufgabe gemeinsam stellen und solche parteipolitischen Kinkerlitzchen, wie Sie sie in den Antrag hineingeschrieben haben, in Zukunft lassen. Das bringt die Bürger nur dazu, daß sie sich mit Grausen von all dem abwenden, was wir hier tun.
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Meine Damen und Herren, Mut und Ehrlichkeit - lassen Sie mich dies mit großen Ernst sagen - sind notwendig. Dabei müssen wir uns alle eingestehen, daß wir in den 80er Jahren mit der Reform der Verwaltung nicht das erreicht haben, was wir eigentlich alle gemeinsam erreichen wollten.
Wenn vorhin wieder davon die Rede war, daß Aufgabenkritik notwendig sei, dann sage ich: Dies ist in den Gemeinden, in den Ländern und bis zu einem gewissen Grade auch im Bund in den 80er Jahren gemacht worden. Es hat uns nicht weit genug gebracht, das müssen wir einfach zugestehen.
Oder: Wenn vorhin Kostentransparenz in der öffentlichen Verwaltung gefordert wurde, so klingt das ganz hervorragend. Eine Vielzahl von Modellen ist auf den Weg gebracht worden. Der Durchbruch ist auch in diesem Bereich nicht erreicht worden.
Oder: Es sind neue Informationstechniken eingeführt worden, um die Verwaltung schlanker, leistungsfähiger, bürgernäher zu machen. Aber unter dem Strich ist alles - das muß man selbstkritisch feststellen - Stückwerk geblieben. Deshalb müssen wir versuchen, zu einem neuen Ansatz zu kommen.
Meine Damen und Herren, wenn wir in der Vergangenheit zu kurz gesprungen sind, dann liegt das natürlich auch daran - ich will das ganz offen ansprechen -, daß der Leidensdruck offensichtlich nicht groß genug gewesen ist.
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Heute ist das anders. Natürlich geht es auch um das Geld, geht es um den Wirtschaftsstandort Deutschland. Das macht die Diskussion um diesen Wirtschaftsstandort schlaglichtartig deutlich. Es geht aber heute viel mehr als in den 80er Jahren darum, daß der Bürger mehr Freiraum haben will, daß er weg will von der Gängelung.
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Wir alle sind verpflichtet, dem Willen des Bürgers, soweit das irgendwie geht, zu entsprechen. Ich nehme das auf, was der Kollege Penner vorhin, an mich gerichtet, gefragt hat: Deshalb brauchen wir entschiedenere Schritte als in den 80er Jahren. Es sind - es hat gar keinen Sinn, darüber hinwegzudiskutieren - strukturelle Änderungen notwendig. Ich will Ihnen einige konkrete Beispiele nennen.
Wir müssen bei uns selbst beginnen. Wir alle - das ist ein Teil der Selbsterkenntnis - haben die Verwaltung zu dem gemacht, was sie heute ist. Wir haben ihr die Arbeitsstrukturen, die sie heute hat, qua Gesetz geschaffen. Deshalb hat es gar keinen Sinn und ist total falsch, irgend etwas auf die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes abladen zu wollen; das ist einfach daneben. Das müssen wir uns eingestehen. Wir müssen bei uns beginnen!
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Das heißt, wir müssen mit der Deregulierung beginnen. Der Vorschriftendschungel muß durchforstet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir dürfen in Zukunft nur noch das an Vorschriften produzieren, was unabweisbar nötig ist. Das will der Bürger von uns und nicht irgendwelche hehren Diskussionen über Aufgabenkritik oder über Managementmethoden. Das machen wir nun schon seit vielen Jahren.
Das heißt auch: Wir brauchen weniger und einfachere Gesetze - Gesetze, die die Verwaltung handhaben kann. Wir müssen der Verwaltung wieder größere Ermessensspielräume einräumen, die sie eigenverantwortlich ausfüllen kann und für objektive und unbestechliche Regelungen nutzen kann. Das ist ein Ansatz, der uns weiterbringen würde.
Herr Kollege Körper, es führt kein Weg daran vorbei, alles Schönreden nützt hier nichts: Wir müssen bei der Gesetzgebung in Kenntnis der Folgekosten und auch der strukturellen Konsequenzen für die Verwaltung entscheiden. Es muß transparent gemacht werden, welche Auswirkungen eine Regelung bis hinunter in die Gemeinde, in den Betrieb, bis zum einzelnen Bürger hat. Wenn wir einem Handwerksbetrieb eine neue Statistik abverlangen, dann möchte ich wissen, wieviele Arbeitsstunden dies beim Handwerker beansprucht. Wenn ich dies nicht weiß, bin ich in Zukunft nicht mehr bereit, solchen Gesetzen zuzustimmen.
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Ich will abwägen können. Das wäre, glaube ich, ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir sollten einen Schritt weitergehen - ich weiß wohl, wie schwer das ist -: Wir sollten auch überlegen - auch wenn dies methodisch nicht einfach sein wird -, uns im Sinne eines Controllings der eigenen Arbeit jedes Jahr einen Bericht darüber vorlegen zu lassen, welche Kostenfolgen die verabschiedeten Gesetze haben. Es wäre interessant, am Ende eines Jahres zu wissen: Haben wir mehr Kosten in der Wirtschaft und in der Verwaltung, auch was die Verwaltung bei den Ländern und Gemeinden angeht, produziert? Das wäre ein Ansatz, der uns weiterbringen würde.
Ich meine, wir müssen auch zu befristeten Gesetzen und Verordnungen kommen.
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Das automatische Außerkrafttreten von Gesetzen und Verordnungen kehrt die Beweislast um und wirkt in die Richtung, wie ich sie eben beschrieben habe.
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Ein zweiter Punkt. Herr Kollege Körper, wenn wir das Haushaltsrecht flexibler gestalten und handhaben, kann die Wirtschaft, kann vor allem die Verwaltung wirtschaftlicher handeln. Ich will einige Beispiele nennen: Gegen das Phänomen des Dezemberfiebers, das wir seit 20 Jahren immer wieder beschreiben, hilft nur die Übertragbarkeit von Mitteln.
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Andere Beispiele sind: mehr gegenseitige Deckungsfähigkeit, die Zusammenfassung von Haushaltstiteln oder gar die Schaffung von sogenannten Globaltiteln. Nur so kommen wir weg vom kameralistischen, am Jährlichkeitsprinzip orientierten Denken und zwingen zu Kostendenken, zu Kostenverantwortung, zu Wirtschaftlichkeit.
Aber diese Forderungen können wir nicht nur an die Gemeinden und an die Länder richten. Voraussetzung ist, daß wir als Parlament, als Haushaltsgesetzgeber, unsere Aufgabe neu verstehen. Wir üben unser Kontrollrecht nicht dann effizient aus, wenn wir im Haushalt jede Ausgabe und jeden Zweck minutiös festlegen. Viel wichtiger ist es, Ziele zu formulieren, der Verwaltung einen flexiblen Haushaltsvollzug zuzugestehen und dann über die Ergebnisse im Sinne eines Controllings zu reden. Das zu implantieren könnte uns innerhalb weniger Jahre ganz entscheidend voranbringen.
Ein dritter Punkt. Wer neue und unkonventionelle Wege gehen will, muß Risiken eingehen. Deshalb brauchen wir Experimentierklauseln. In vielen Bereichen werden Experimente notwendig sein. Wer aber eine Experimentierklausel in ein Gesetz aufnimmt, muß für das Risiko, das er damit eingeht, natürlich auch die politische Verantwortung tragen.
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Aber wenn wir vorankommen wollen, Herr Kollege Körper, wenn wir nicht nur über Aufgabenkritik und über Dinge sprechen wollen, über die wir immer schon geredet haben, dann müssen wir uns auf solche Experimentierklauseln verständigen.
Ein vierter Punkt. Wir müssen den Staat wieder auf die Kernbereiche staatlichen Handelns zurückführen. Es muß Ballast abgeworfen werden.
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Lassen Sie uns die Diskussion über die Privatisierung offen führen. Sie sollten sich nicht im Vorfeld ideologisch festlegen. Es wird an der einen oder anderen Stelle neue Möglichkeiten geben. Man kann in vielen Bereichen natürlich auch darüber reden, ob die Privatisierung etwas bringt. An diesem Beispiel kann man besonders deutlich machen, daß wir gemeinsam an die Lösung dieser Probleme heran müssen.
Wenn ich von Kernbereichen rede, gehört dazu natürlich auch die Selbstbeschränkung der Politik bei der Formulierung neuer Anforderungen an staatliches Handeln.
Ein fünfter Punkt - Herr Kollege Schily, der weg mußte, wollte mich zu diesem Punkt eigentlich etwas fragen, hat mir das aber schon vorher übermacht -, den ich mit großem Ernst anspreche: Wir müssen den Berlin-Umzug nutzen, um die Ministerien von Vollzugsaufgaben zu entlasten. Es ist meine feste Überzeugung: Leitungsaufgaben sind im Ministerium zu
erfüllen, Vollzugsaufgaben in den nachgeordneten Behörden.
Dann können wir auch innerhalb der Behörden eine schlankere Struktur erreichen und - ich will das nur zu bedenken geben; ich weiß, daß viele völlig anderer Meinung sind - vielleicht eine Hierarchieebene, z. B. die Ebene der Unterabteilungsleiter in den Ministerien, herausnehmen. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Ich will unterstreichen, was vorhin gesagt wurde: Wir als Bund müssen auch in bezug auf die Ministerien vorangehen, wenn wir in den Ländern und den Gemeinden glaubwürdig sein wollen.
Sechster Punkt. Wir brauchen einen vernetzteren Ansatz, als wir ihn heute haben. Es reicht nicht aus, wenn wir nur eine Körperschaft betrachten. Wir müssen die Zusammenhänge sowohl in der Rechtssetzung als auch beim Vollzug zwischen EU, Bund, Ländern und Gemeinden im Auge behalten. Ich unterstreiche die Einbeziehung der EU. Wenn wir in unsere Reformüberlegungen die Europäische Union und all das, was sie anrichtet - ich sage das einmal so salopp -, nicht mit einbeziehen, dann werden wir sicherlich der Aufgabe nicht gerecht, die uns gestellt ist.
Siebter Punkt. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir - das ist vorher angeklungen; ich glaube, Sie, Herr Körper, haben es gesagt; der Kollege Oswald hat es ebenfalls gesagt - natürlich die Mitarbeiter im öffentlichen Bereich einbinden. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wir dürfen dem öffentlichen Sektor nicht nur Reformen von außen aufdrängen. Wir müssen in den Verwaltungen selbst einen Innovationsprozeß in Gang setzen. Das ist ja schon einmal in einem Bundesland - ich will den Namen nicht nennen - in den 80er Jahren gemacht worden. Es sind 70 Modellprojekte in die Verwaltung hineingetragen, mit der Verwaltung erarbeitet worden. Das hat den Schwung, die Dinge zu reformieren, entscheidend gefördert.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.
Das will ich gerne tun.
Hinter diesem Punkt verbirgt sich, meine ich, folgendes: Eigenverantwortung statt Hierarchie, Wettbewerb statt Monopol, Resultate statt Regeln. - Das wären die Überschriften, die wir gerade auch für diesen Bereich bräuchten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wie gesagt, wir stehen vor einer ganz, ganz großen Herausforderung. Wir sollten alle zusammen versuchen, dieser großen Herausforderung gerecht zu werden.
Vielen Dank.
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Ich erteile nun
das Wort dem Abgeordneten Jochen Welt.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schlee, ich war vor zehn Jahren auf einem Seminar zum Thema „Management und Entwicklung in der öffentlichen Verwaltung".
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Da habe ich exakt alle die Punkte, die Sie genannt haben, schon gehört. Ich frage mich natürlich, warum diese Aufgaben im Rahmen Ihrer Regierungsverantwortung seit 13 Jahren nicht schon längst erfüllt worden sind.
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Der Bundesinnenminister hat am vergangenen Donnerstag den Sachverständigenrat „Schlanker Staat" eingesetzt. Das hört sich gut an; das ist ein modischer Begriff. Doch ist auch Vorsicht geboten; denn nicht alles, was schlank gemacht wird, ist dann anschließend auch noch gesund.
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Wir wollen - das sage ich ganz ausdrücklich - einen gesunden Staat, insbesondere was das Sicherheitsbedürfnis der Bürgerinnen und Bürger angeht, und wenn er dann noch schlank ist, dann soll uns das sehr recht sein.
Herr Minister Kanther, der sich heute von dem Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung vertreten läßt,
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sprach bei der Konstituierung dieses Gremiums von einer Herkulesaufgabe. Der Minister macht zwar starke Worte, aber er ist nun einmal kein Herkules.
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Aber vielleicht will er ja die von dieser Regierung zu verantwortende Bundesverwaltung mit dem berühmten Stall des Königs Augias vergleichen, der von über 1 000 Kühen eingemistet wurde und der als eine Herkulesaufgabe anschließend ausgemistet werden sollte.
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Der Unterschied zwischen Herkules und Minister Kanther ist der: Herkules dachte nach, packte an, leitete einen Fluß durch den Stall und mistete ihn dadurch aus. Minister Kanther denkt immer noch nach, packt nicht an und bildet zur Entlastung eine neue
Fachkommission. Deshalb gibt es so gravierende Unterschiede zwischen dem Minister und Herkules. Der Minister ist für eine derartige Aufgabe wie die Reform der öffentlichen Verwaltung offensichtlich nicht ausreichend gerüstet und geeignet.
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Meine Damen und Herren, Länder und insbesondere die Gemeinden modernisieren die Verwaltung seit langem. Sie erwarten die Unterstützung des Bundes, sie warten auf veränderte beamtenrechtliche Rahmenbedingungen. In dieser Zeit verkündet der Minister ausschließlich die Einsetzung einer solchen Kommission und verkündet Eckpunkte zur Reform des öffentlichen Dienstrechtes. Auch diese Eckpunkte sind wieder einmal nur Papier, sind wieder einmal nur Absichtserklärungen. Meine Damen und Herren, wir brauchen keine weiße Salbe, wir brauchen eine grundsätzliche Reform des öffentlichen Dienstrechtes. Dies ist das, was not tut.
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Weder die Bereitschaft zur Neuordnung des Berufsbeamtentums wird durch die Bundesregierung in Erwägung gezogen noch die für die Reformbemühungen in den Gemeinden so notwendige Streichung der Stellenobergrenzenverordnung für die Beförderungspraxis.
Außerdem ist die Ankündigungspolitik dieser Regierung nicht glaubwürdig und vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt nicht motivierend. Sie reden, Sie beschreiben Papier, es geschieht nichts.
Wer, wie die Bundesregierung, von einem schlanken Staat spricht, Gemeinden und Länder zu Reformanstrengungen auffordert oder kritisiert, wie wir es gerade von seiten der Koalition gehört haben, selbst aber nichts tut, gleichzeitig aber innerhalb der Amtszeit dieses Bundeskanzlers die Zahl der Minister und Staatssekretäre um 10 % aufstockt, hat den Schlankheitsbegriff eines Sumo-Ringers. Das hat nichts mit schlanker Verwaltung zu tun.
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Ohne eine Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes läuft überhaupt nichts. Es muß für sie klar sein, daß die Modernisierung der Verwaltung nicht per se nur ein Stellenkürzungsprogramm für die unteren und mittleren Gehaltsstufen bedeutet. Aber wenn es zum Abbau von Arbeitsplätzen kommt, dann muß deutlich sein, daß nicht nur bei den kleinen Beamten und Angestellten gestrichen wird; es muß deutlich werden, daß hier die Treppe von oben nach unten gefegt wird. Aber die Bundesregierung meint ja eigentlich nur die Privatisierung, wenn sie vom schlanken Staat spricht.
Die Modernisierung von Staat und Verwaltung ist für uns mit der Zukunftssicherung der sozialen und der ökologischen Bedingungen verbunden. Eine MoJochen Welt
dernisierung, die die soziale Sicherung, die Gerechtigkeit, die Zukunftssicherung unserer Gesellschaft in Gefahr bringt, ist nicht nur keine Modernisierung, sondern der Rückfall in die sozialstaatliche Steinzeit.
Es muß bei allem doch darum gehen, daß sich mit der Privatisierung die so privatisierten Unternehmen nicht ihrer sozialen Aufgaben entledigen, daß sie nur noch für die Gewinne verantwortlich sind. Sie dürfen sich also nicht nur die Rosinen aus dem öffentlichen Kuchen herauspicken und die lästigen übriggebliebenen Aufgaben anderen und hier insbesondere den Gemeinden zuweisen.
Wir haben den Eindruck, daß sich bei dieser Koalition die Frage der Modernisierung des Staates auf eine knallharte Privatisierungsdebatte auf der einen Seite und ein Schönschminken des öffentlichen Dienstrechts auf der anderen Seite reduziert.
Wir Sozialdemokraten gehen hier pragmatisch und ohne ideologische Scheuklappen in die Diskussion. Wir sagen dort ja zur Privatisierung, wo der staatliche Vorsorgeauftrag nicht aufgegeben wird, wo Private besser, effizienter und kostengünstiger arbeiten können, wo nicht Monopole des Staates durch private Monopole ersetzt werden.
Wir bauen im Gegensatz zu Ihnen keine Luftschlösser. Es gibt in sozialdemokratisch verantworteten Gemeinden gute Beispiele für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Privaten und Gemeinden. Schicken Sie diese Sachverständigenkommission doch einmal über die Dörfer und in die Städte! Da gibt es Eckdaten gratis bei Kulturbetrieben, bei Ver-
und Entsorgungsgesellschaften für Strom, Fernwärme oder Wasser.
Während der Bund sich also, was seinen Aufgabenkatalog angeht, auf die Privatisierung reduziert, ansonsten die Modernisierung des Staates und der Verwaltung ausklammert und ein wenig am öffentlichen Dienstrecht herumfrisiert, gibt es Modernisierungsbestrebungen in den Gemeinden schon in großer Zahl. Diese sollte man nach unserer Einschätzung unterstützen.
Nach einer Befragung des Deutschen Städtetages haben ca. 80 % aller Städte und Gemeinden Modernisierungsmaßnahmen eingeleitet, geplant oder zum Teil abgeschlossen. Der Schwerpunkt der Modernisierungsaktivitäten konzentriert sich auf die Bereiche Haushalt, Rechnungswesen, Personal und Organisation, kommunale Beteiligungssteuerung und das Verhältnis zwischen Rat und Verwaltung.
Die Mehrzahl der Städte geht davon aus, daß der Modernisierungsprozeß zwischen drei und fünf Jahren dauern wird. Es gibt also in den Städten und Gemeinden einen großen Reformeifer, der dem Prozeß der Modernisierung in den Gemeinden sehr viel Schwung verliehen hat. Die Finanznot der Gemeinden ist dabei ein wesentlicher, vom Ergebnis her aber nicht immer sinnvoller Antrieb.
Man muß nämlich wissen, daß dieser Druck der steigenden Haushaltsdefizite auch eine große Gefahr für die Reorganisationsmaßnahmen darstellt. Einerseits gibt es einen Bedarf an hohen Investitionen z. B. für Ausbildung und Technik, andererseits hofft man auf schnelle Kosteneinsparungen.
Mit diesen Kosteneinsparungen ist natürlich erst mittel- und langfristig zu rechnen. Die vielfältigen Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen gehen aber oft mit einem massiven Personalabbau einher - bei einzelnen Gemeinden von 20, 30 und mehr Prozent mit erheblichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt -, aber vor allen Dingen auch mit der sich entwickelnden starken Eigendynamik zur Neuverteilung der Aufgaben in den Gemeinden.
Von daher geht es uns Sozialdemokraten nicht nur darum, jetzt den Bund zu mehr Aktivitäten bei der Modernisierung in den eigenen Behörden und in den eigenen Ministerien aufzufordern. Nein, es geht uns auch darum, daß die anderen Gebietskörperschaften unterstützt werden, daß ihnen geholfen wird und daß ihnen bei ihren Modernisierungsabsichten nicht noch weitere Steine in den Weg gelegt werden.
Wir fordern daher auch die Reform der Gemeindefinanzen im Rahmen des Finanzausgleichs. Was nützen modernisierte Verwaltungen in den Gemeinden, wenn sie durch eine verfehlte Gemeindefinanzpolitik ausgetrocknet werden? Sollen wir dann in den Gemeinden die Defizite nur besser verwalten? Es macht doch keinen Sinn, wenn die Gemeinden erst modernisiert werden, um sie dann aus finanziellen Gründen vor die Hunde gehen zu lassen.
Nein, wir müssen gewährleisten, daß der Staat auch in Zukunft seine soziale Schutzfunktion gegenüber den Bürgern wahrnehmen kann. Dabei hilft sicherlich eine Modernisierung der Verwaltung. Aber wir brauchen auch eine Stärkung der verfassungsmäßig gewollten Selbstverwaltung der Gemeinden.
Wir benötigen auch die finanziellen Rahmenbedingungen. Wir benötigen für die Gemeinden eine finanzielle Entlastung und eine Gemeindefinanzreform, die ihren Namen verdient. Nur so kann der Staat das wahrnehmen, was seine Aufgabe ist: die Wahrung und Förderung der Grundrechte sowie die Abwehr von Gefahren gegenüber Staat und Bürgern.
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Nun erhält der Abgeordnete Meinrad Belle das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Jochen Welt, als Sie in Ihrem Beitrag vorhin an das Seminar vor zehn Jahren erinnerten, bei dem es hieß, daß diese Verwaltungsreform eine Daueraufgabe ist, ist mir wieder der alte Ausspruch eingefallen, den irgendein schlauer Mensch - ich glaube, es war Manfred Rommel - getan hat, daß eine Daueraufgabe eine Aufgabe sei, die dauerhaft nicht erledigt werde. Das wollen wir natürlich nicht. Darum wollen wir uns intensiv mit diesen Problemen beschäftigen.
Ich spreche nun als Berichterstatter unserer Fraktion in erster Linie zur Reform des öffentlichen Dienstrechts.
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Trotz gewisser schriller Töne in der heutigen Diskussion seitens des Kollegen Welt, die ich von ihm normalerweise nicht gewöhnt bin,
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oder auch in bisherigen Presseveröffentlichungen - anscheinend sind diese schrillen Töne gelegentlich notwendig, vielleicht zur persönlichen und auch zur parteipolitischen Profilierung; das könnte ja sein - will ich zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung gerne feststellen: Mit der Grundanalyse im SPD-Papier gehe ich in weiten Bereichen - soweit es sich um die Reform des öffentlichen Dienstrechts handelt - einig. Die Notwendigkeit der Reform des öffentlichen Dienstrechts ist offensichtlich.
Aber über einige Punkte muß natürlich noch sehr intensiv diskutiert werden. Die Reform des öffentlichen Dienstrechts ist nur gemeinsam mit den betroffenen Beamten möglich.
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Die bisher von uns intensiv geführten Gespräche mit dem Beamtenbund und mit den Gewerkschaften stimmen mich in dieser Beziehung sehr optimistisch.
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Unsere Eckwerte zur Reform des öffentlichen Dienstrechts sind der Öffentlichkeit bekannt und müßten eigentlich auch dem Kollegen Welt bekannt sein, wenn er die Zeitung lesen würde. Aber vielleicht liest er auch bloß Parteizeitungen. - Nein, das macht er nicht. Er liest alles sehr interessiert. - Diese Eckwerte wurden von unserem Innenminister Kanther und auch von den innenpolitischen Sprechern der Koalitionsfraktionen veröffentlicht.
Sie haben heute über die Notwendigkeit der Reform geredet; wir handeln. Wir haben intensive Koalitionsgespräche geführt. Die Koalitionsgespräche sind abgeschlossen. In den nächsten Tagen werden Sie den Gesetzentwurf vorliegen haben. Wir haben diese Eckwerte - ich habe es gerade gesagt - sehr intensiv beraten. Wir waren uns auch sehr kurzfristig über die wesentlichen Inhalte einig.
Natürlich kann die Reform nur gemeinsam von Bund und Ländern verwirklicht werden. Als sinnvoll hat sich jetzt auch erwiesen, daß Minister Kanther gleichzeitig die Gespräche mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer suchte. An dieser Stelle möchte ich unserem Minister für das ständige Rückkoppeln und Abstimmen in und mit der Koalitionsarbeitsgruppe herzlich danken.
Wenn ich nach einem ersten gründlichen Studium des SPD-Papiers richtig informiert bin, stimmen wir grundsätzlich im Ziel und in den wichtigsten Punkten der Umstellung des antiquierten Beamtenrechts des 19. Jahrhunderts überein. Es soll leistungsorientierter und flexibler gestaltet werden. Einig sind wir uns offensichtlich bei Erprobungszeiten in Führungspositionen, bei der Durchlässigkeit des Laufbahnrechts, bei der funktions- und leistungsgerechten Bezahlung. Nicht ganz einig sind wir uns bei der Reform des Beurteilungswesens, bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit und beim Ausbau des Beteiligungsrechts.
Einer der wichtigsten Streitpunkte in den nächsten Wochen wird die Frage der Besetzung von Führungspositionen auf Zeit sowie die Frage des Umfangs der Beschränkung des Beamtenstatus auf den hoheitlichen Kernbereich sein. Die von den Gewerkschaften und einzelnen Teilen der SPD beabsichtigte Einführung eines einheitlichen öffentlichen Dienstrechtes ist natürlich mit uns nicht zu machen. Es steht auch nicht in Ihrem Papier; das will ich gern feststellen.
An dieser Stelle will ich nicht verschweigen, daß ich persönlich eine gewisse Sympathie für die Besetzung von Führungspositionen auf Zeit habe, gerade auch nach meinen eigenen positiven Erfahrungen als ehemaliger hauptamtlicher Bürgermeister, der bei uns in Baden-Württemberg vom Volk auf Zeit gewählt wird. Dies müssen wir noch einmal gründlich mit den Bundesländern diskutieren. Aber - darin liegt die Problematik der Angelegenheit - wir sagen nein zu einer Parteipolitisierung der öffentlichen Verwaltung. Diese ist nicht ganz auszuschließen. Wir haben natürlich auch entsprechende Erfahrungen in den einzelnen Bundesländern.
Ich will noch einige wenige persönliche Anmerkungen, auch zur Daueraufgabe, machen. Seit ich 1960, vor nunmehr 35 Jahren, in den öffentlichen Dienst eingetreten bin, wurde immer wieder die Notwendigkeit einer Reform des öffentlichen Dienstrechts betont. Das war schon damals eine Daueraufgabe. Die von uns jetzt in den Eckwerten vorgestellte Reform ist in diesen 35 Jahren die erste Reform, die diesen Namen tatsächlich verdient.
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Ich weiß aber auch: Dies sind erste Reformschritte, die fortgesetzt werden müssen. Der Reformansatz steht und fällt mit der Bereitschaft unserer Beamten zur Durchführung dieser Reform. Hier ist von uns allen noch Überzeugungsarbeit zu leisten.
Dreh- und Angelpunkt bei der Einführung von Leistungsanreizen und bei der Umstellung auf die Leistungsorientierung wird natürlich das neue Beurteilungswesen sein. Dazu ist Offenheit, Bereitschaft zu Neuem und eine Umstellung in den Köpfen von Vorgesetzten und Mitarbeitern notwendig. Nach unseren bisherigen Gesprächen mit den Verbänden und den Beamten in den Behörden bin ich überzeugt, daß diese Reform gelingen kann.
Nach Abschluß der Gespräche des Bundesinnenministers mit den Ministerpräsidenten erwarten wir in den nächsten Tagen und Wochen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Ich freue mich auf die sachkundigen Beratungen des Gesetzentwurfs und Ihres Papiers im Innenausschuß und lade Sie herzlich dazu ein.
Meinrad Belle Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2206 und 13/2464 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung der Steinkohleverstromung ab 1996
- Drucksache 13/2419, 13/2471Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf ziehen wir die Konsequenz aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die bisherige Finanzieriung der Stromkohle für verfassungswidrig erklärt hat. Wir legen dieses Gesetz zeitgerecht vor. Die Lösungen, die angeboten werden, sind sachgerecht.
Ich begrüße ausdrücklich, daß die Finanzierung nunmehr über den Haushalt erfolgt. Das hat den enormen Charme, daß wir jedes Jahr darüber nachdenken können, wie wir weitermachen. Wir organisieren das nicht in einem Nebenhaushalt, sondern es bleibt im Blickpunkt der Politik. Das entspricht den Prinzipien von Wahrheit und Klarheit. Es verstärkt die Anstrengungen aller Beteiligten, zeitgerecht zu vernünftigen und den Steuerzahler entlastenden Lösungen zu kommen.
Mit dieser Regelung entlasten wir die Stromkunden in einem ganz erheblichen Umfang. Die Ersparnisse werden zwischen 8 und 10 % der Energiekosten ausmachen. Auf einen normalen Haushalt umgerechnet sind das im Jahr gut 100 DM; bei den Unternehmen kann sich das zu nennenswerten Beträgen addieren. Ich denke, das ist - das muß man auch sagen, wenn man daran denkt, daß es Überlegungen gegeben hat, aus ökologischen Gründen grundsätzlich anders vorzugehen; diese Überlegungen sind bekannt - ein nennenswerter Entlastungseffekt im Hinblick auf die Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Die Regelung hat Auswirkungen auf die Kohle. Der wichtigste Teil ist wohl die Plafondierung. Wir plafondieren in den nächsten drei Jahren mit zunächst 7,5 Milliarden DM und dann zweimal jeweils 7 Milliarden DM.
Ich möchte betonen, daß mit dieser Plafondierung bei heute etwa 200 DM Differenz zwischen Importkohle und inländischer Kohle eine nennenswerte Reduzierung der Produktion für die Verstromung verbunden ist, und zwar von bisher 41 Millionen t auf 37,5 Millionen t. Ob das dann paßt und reicht, können wir noch nicht sagen, weil wir die Differenz zwischen Importpreis und eigenen Gestehungskosten zugrunde legen müssen.
Das ist insoweit schon eine nennenswerte Reduzierung. Das Geld geht nunmehr direkt an den Bergbau und läuft nicht mehr über die EVUs. Das halte ich für eine vernünftige Lösung. Der Bergbau nimmt es ein und kann mit dem eingenommenen Geld auf der Basis seiner eigenen Kalkulationen über seine Rationalisierungsanstrengungen selbst entscheiden und selbst bestimmen, wieviel Kohle er mit diesem Geld veräußern kann. Er kann unternehmerisch vorgehen und kaufmännisch planen.
Die Aufgabe wird sein, mit diesem Geld so viel Kohle wie möglich zu verkaufen. Das heißt, wer viel Kohle verkaufen will, muß sich anstrengen, daß die Preisdifferenz zwischen Importkosten und Gestehungskosten möglichst gering bleibt. Die Preisdifferenz zur Importkohle können wir nicht beeinflussen, aber die eigenen Gestehungskosten können wir beeinflussen. Insoweit werden nennenswerte Rationalisierungsanstrengungen nötig bleiben.
Die Kohle befindet sich nicht mehr in einer besonderen Abhängigkeit von den Entwicklungen bei den EVUs. Sie erhält Bewegungsspielraum. Im Jahreszeitraum kann eine Überschreitung um bis zu 20 % erfolgen; im ersten Jahr bis zu 15 %, später noch einmal 15 % und dann 10 %. Das ist ein wichtiger Punkt. Die EVUs könnten anderenfalls durch ihr Einkaufsverhalten die Kohle in Preisschwierigkeiten bringen. Wir möchten nicht, daß der Kohle wegen der Enge des Haushalts die notwendigen kaufmännischen Freiheiten genommen werden; denn es wird ja einen nennenswerten Interessengegensatz zwischen EVUs und Kohleerzeugern geben. In diesem Zusammenhang möchte ich die EVUs nachdrücklich auffordern, recht zügig für die Klarheit zu sorgen, auf die die Kohle einen Anspruch hat. Es ist schon erstaunlich, daß ausgerechnet RWE und VEW bis heute noch keinerlei Abnahmeverpflichtung unterzeichnet haben.
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- Doch, das ist schon verwunderlich. Die Herrn könnten sich schon ein bißchen beeilen.
Schlußbemerkung: Der Druck in Richtung eines weiteren Abbaus der Kohlesubventionen, insbesondere ab 1998, wird stark zunehmen. Das sehe ich als ganz unvermeidlich und realistisch an. Je früher die
Harmut Schauerte
Gespräche darüber aufgenommen werden, desto verträglicher kann die Reduzierung geregelt werden. Ich bitte auch die für die Kohle Verantwortlichen, dies noch einmal sehr nachdenklich zu prüfen.
Wer mit Recht Planungssicherheit und Perspektiven von der Politik einfordert, darf vor unvermeidlichen weiteren Reduzierungen nicht die Augen verschließen. Die Politik steht nicht nur gegenüber den Bergleuten - gegenüber denen auch, aber nicht nur -, sondern vor allem auch den steuerzahlenden Bürgern in der Pflicht. Diese schwierige Gratwanderung müssen wir in aller Verantwortung immer wieder neu auf uns nehmen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Jung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war ein langer und steiniger Weg vom Kohlekompromiß 1991 bis zu diesem Gesetzentwurf zur Umstellung der Steinkohleverstromung - Herr Schauerte, Sie haben nur einen Teil davon im Bundestag miterlebt -, der mit harten Vereinbarungen, mit wiederholten Wortbrüchen der Bundesregierung, mit Verunsicherung der Bergleute, Protesten und Demonstrationen, erneuten Vereinbarungen und neuen Verunsicherungen bis hin zur Resignation gepflastert war. Am Ende ist ein Torso herausgekommen, der den Anforderungen, die an die Planungssicherheit bei allen Beteiligten zu stellen sind, absolut nicht genügt.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß mit dem Gesetzentwurf, der nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, den in unseren Augen bewährten Kohlepfennig für verfassungswidrig zu erklären, notwendig geworden ist, wenigstens die Finanzierungszusage des Artikelgesetzes für das Jahr 1996 eingelöst wird.
Auch haben wir zur Kenntnis genommen, daß der Bundesfinanzminister die Finanzierungszusagen des Artikelgesetzes in der mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 1998 berücksichtigt hat. Das hat zwar keine Gesetzeskraft, schafft aber ein Minimum an Planungssicherheit für drei Jahre. Auf dieser Grundlage werden wenigstens kurzfristige Kohleverträge abgeschlossen werden können. Wenn einige bis heute gezögert haben, solche Verträge abzuschließen, dann hat das etwas mit dem Willensbildungsprozeß, den Sie zu verantworten haben, zu tun.
Wir nehmen schließlich zur Kenntnis, daß es gelungen ist, die Übertragbarkeit der Mittel aus den jährlichen Finanzplafonds von einem zum anderen Jahr sicherzustellen. Anders könnten die Fondsmittel nämlich nicht ausgeschöpft werden. Außerdem könnten - was noch wichtiger ist - die Kostensenkungspotentiale, auf die wir alle so viel Wert legen und die in einer zeitlichen und mengenmäßigen Flexibilität der Steinkohlelieferungen über das Abrechnungsjahr hinaus liegen, nicht genutzt werden.
Die Bundesregierung hat diesen Grundsatz in ihrer Gegenäußerung zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrates akzeptiert. Das ist gut so. Wir werden in dem weiteren parlamentarischen Verfahren allerdings darauf dringen, daß dieser Grundsatz in das Gesetz eingefügt wird.
Sie halten sich mit Ihrem Gesetzentwurf aber nicht an die Verpflichtung aus den Konsensgesprächen in diesem Frühjahr: daß die gesetzlichen Finanzierungszusagen bis zum Jahr 2000 vollständig erfüllt werden, wenn es nicht gelingt - das ist ausdrücklich so betont worden -, eine einvernehmliche Lösung zur Degression der Kohlehilfen bis zum Jahr 2005 zu finden. Sie stellen in der mittelfristigen Finanzplanung für die Kohleverstromung im Jahr 1999 nicht mehr 7 Milliarden DM, wie das im Artikelgesetz verankert ist, sondern nur noch 6 Milliarden DM ein. Ich kann Sie nur in aller Form darauf hinweisen, daß das weder mit den betroffenen Landesregierungen noch mit uns irgendwann einmal besprochen, geschweige denn vereinbart worden ist.
In der vergangenen Woche hat sich Herr Rexrodt im Wirtschaftsausschuß zu der Frage, ob die Bundesregierung noch zu dieser Verpflichtung steht, die in den Konsensgesprächen immerhin von zwei Bundesministern, Herrn Rexrodt und Frau Merkel, sowie von den Ministerpräsidenten von Sachsen und Bayern, Herrn Biedenkopf und Herrn Stoiber, und zusätzlich von vier Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. unterschrieben worden ist, sehr sibyllinisch ausgedrückt.
Auf dem Gewerkschaftstag der IG Bergbau und Energie am letzten Sonntag hat Herr Rexrodt zu einem Spitzengespräch eingeladen, um über eine Degression der Verstromungshilfen schon ab dem Jahr 1999 oder, wie er es sagt, über einen „kontrollierten Sinkflug" zu verhandeln. Offensichtlich versteht er nicht allzuviel vom Fliegen. Sonst würde er nämlich wissen: Wenn man im Sinkflug überzieht, dann gerät man unversehens in einen unkontrollierten Sturzflug, und dann bleiben nur noch Schrott und Leichen übrig.
Diese Politik ist doch geradezu eine Aufforderung an die Verantwortlichen in der Stromwirtschaft, keine langfristigen Bezugsverträge mehr abzuschließen, abnehmende Bezugsmengen zu kontrahieren und sich allenfalls für die Zukunft Optionen offenzuhalten. Um im Bild zu bleiben: Es ist die Aufforderung, die Schwimmwesten anzulegen.
Dies werden wir nicht mitmachen. Wir unterstützen die IG Bergbau und Energie in ihrer Forderung, eine sichere Finanzierung der Kohleverstromung bis zum Jahr 2005 zu gewährleisten, wie es in der Kohlerunde von 1991 vereinbart wurde, und eine verläßliche Langfristperspektive zu eröffnen.
Die jährlichen Finanzplafonds - das ist ja der eigentliche Inhalt der Plafondsregelung - bergen gegenüber dem bisherigen System ohnehin ganz erhebliche Risiken, die voll vom Bergbau getragen werden müssen. Dazu gehört das Risiko jährlicher Haushaltsbeschlüsse, dazu gehört das Währungsrisiko, und dazu gehört auch das Weltmarktpreisrisiko.
Volker Jung ({0})
Die beiden letzten Risiken wiegen besonders schwer, weil sie vom Bergbau überhaupt nicht und von der nationalen Politik allenfalls in engen Grenzen beeinflußt werden können.
In gewisser Weise wird hier das Verhältnis von Politik und Wirtschaft auf den Kopf gestellt. Während es früher darum ging, daß der Staat dem heimischen Steinkohlebergbau im Interesse der Versorgungssicherheit die Risiken teilweise abgenommen und damit die Planungssicherheit geschaffen hat, werden dem Bergbau jetzt alle Risiken aufgeladen
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und Planungssicherheit allenfalls für den Staat geschaffen.
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Das ist ein Paradoxon sondergleichen, meine Damen und Herren, das nur dadurch zu erklären ist, daß die Regierungskoalition keinen Wert mehr auf Versorgungssicherheit legt, jedenfalls so lange nicht, wie die internationale Versorgung läuft. Bei drohenden Versorgungskrisen - auch das haben wir in den vergangenen Jahren erlebt; ich erinnere an den Golfkrieg oder die Unterbrechung von russischen Gaslieferungen durch die Ukraine - wurden dann regelmäßig diese Position revidiert, und zwar so lange, bis die Krise abgewendet war. Das ist eine reine Schönwetterpolitik. Das hat mit einer verantwortlichen und vorsorgenden Energiepolitik nichts zu tun.
Darum sind die Vorschläge der beiden Wirtschaftsminister aus Bayern und Sachsen, der Herren Wiesheu und Schommer, die den heimischen Steinkohlebergbau auf einen vernachlässigbaren Rest zusammenschrumpfen lassen oder ganz zum Erliegen bringen wollen, für uns
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völlig inakzeptabel. Sie sind volkswirtschaftlich nicht nur unsinnig, sie sind auch unsolidarisch gegenüber den Ländern Nordrhein-Westfalen und Saarland, die ja seit Jahren einen erfolgreichen sozial- und regionalverträglichen Strukturwandel in den Revieren betreiben - das kann man ja auch nicht leugnen -,
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der ohne Brüche nur dann fortgesetzt werden kann, wenn er mit langem Atem und klaren Rahmenbedingungen durch die Politik - auch und gerade des Bundes - betrieben wird.
Es wäre ja auch ein Stück Versorgungssicherheit, meine Damen und Herren, wenn Sie eine konsequente Energieeinsparpolitik betrieben; denn jede eingesparte Tonne 01, jeder eingesparte Kubikmeter Gas verringert unsere heute wieder sehr deutlich ansteigende Importabhängigkeit. Aber Sie haben keine müde Mark zusätzlich in den Haushalt eingestellt, um Energiesparen und erneuerbare Energiequellen zu fördern. Damit wird übrigens auch die Ankündigung von Bundeskanzler Kohl auf dem Berliner Klimagipfel, die Kohlendioxidemissionen bis zum Jahr 2005 um 25 % zu reduzieren, zu einer reinen Sprechblase degradiert.
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Sie scheinen nach wie vor zu glauben, meine Damen und Herren, daß Sie die entstehende Energielücke mit dem Zubau von Kernenergie schließen können. Da machen Sie aber die Rechnung ohne den Wirt, nämlich ohne die Stromwirtschaft, die - das hat sie immer wieder erklärt - bei den vorhandenen Überkapazitäten und vor allen Dingen bei der unübersehbaren Akzeptanzkrise in unserem Land kein einziges Kernkraftwerk ersetzen, geschweige denn hinzuhauen wird.
Meine Damen und Herren, wenn wir den begonnenen Konsensprozeß, unabhängig davon, daß die zweite Runde gescheitert ist, im Grundsatz aufrechterhalten wollen - dafür haben Sie sich, wenigstens einige von Ihnen, ausgesprochen; dafür spreche auch ich mich aus, in welcher institutionellen Form man sich das auch immer vorstellen kann -, dann werden Sie nicht einseitig Ihre Optionen durchdrükken können, die unsere Optionen erledigen. Diesen Punkt haben Sie offensichtlich noch nicht gelernt. Ein solcher Konsensprozeß läßt sich erst dann wieder einfädeln, wenn Sie zu einem fairen Dialog zurückkehren über die klimapolitische Herausforderung, über Energieeinsparung und erneuerbare Energiequellen, über die Sicherheit unserer Energieversorgung und nicht zuletzt über den Beitrag der heimischen Steinkohle zu diesem Projekt.
Schönen Dank.
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Es spricht jetzt die Abgeordnete Antje Hermenau.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Pacta sunt servanda. Über die zukünftigen Pacta unterhalten wir uns später. Die jetzigen haben erreicht, daß der Bund Zuwendungsbescheide an den Bergbau für die Jahre 1996 bis 1998 erteilt. Die Finanzierung wird aus dem Bundeshaushalt erfolgen. Was das heißt, haben wir bereits in den laufenden Haushaltsberatungen für das kommende Jahr gemerkt. Wir haben ein Budget des Wirtschaftsministeriums, in dem deutlich mehr als die Hälfte nur für die Subventionierung der deutschen Steinkohle eingestellt werden mußte. Durch dieses Budget droht die Solarzellenforschung und -herstellung ins Ausland abzuwandern. Wir haben uns noch nicht eingestanden, daß die deutsche Einheit die Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland auch dahin gehend verändert hat, daß Absprachen, die vor vielen Jahren getroffen wurden, einer erneuten Prüfung unterzogen werden müssen.
Wir wollen nicht, daß die deutsche Steinkohlesubvention eine unendliche Geschichte wird. Wir wollen auch nicht vorschützen, daß es immer so weiter gehen kann. Deshalb werden wir uns an der Diskussion über eine mögliche Degression des Plafonds ab 1999 beteiligen. Denn in diesem Kontext wird der Bundestag das Gesetz zur Umstellung der Steinkohleverstromung ab 1996 zu diskutieren haben.
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Ein Wort an Sie, Herr Jung. Es muß jetzt mit dem Branchenumbruch und dem Strukturwandel im Saarland und in NRW etwas schneller gehen; denn die Umstände haben sich geändert.
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Das betrifft nicht nur die Tatsache, daß es weitere fünf Bundesländer gibt, sondern das betrifft auch die damals noch nicht absehbare Geschwindigkeit der Globalisierung der Markte und andere Faktoren, die hinzukommen. Das wissen Sie genausogut wie ich. Ich denke, wir müssen noch einmal darüber reden, ob die Rahmenbedingungen, die damals gültig waren, jetzt noch Gültigkeit besitzen. Ich will das etwas erläutern.
Die Energieunternehmen machen in verschiedenen Wirtschaftsmagazinen Werbung, in der sie sagen: Die Industrieproduktion in Deutschland braucht Entlastung von hohen Kosten. Das kann man nachvollziehen. Deshalb müsse der Strompreis günstig sein, um die Arbeitsplätze in Deutschland zu halten. Das ist ein jetzt sehr schick gewordenes Damoklesschwert, mit dem die Politik gezwungen werden soll, den aktuellen Wünschen der Wirtschaft zu folgen, ohne sich über die Verantwortung für die Zukunft zu unterhalten.
Wir wollen nicht, daß die Strompreise, schon gar nicht für industrielle Verbraucher, sinken. Strom muß teuer sein, sonst ist die Motivation, ihn zu sparen, gering. Insofern erscheint uns die Sprachregelung, es werde angestrebt, die Strompreise im Osten Deutschlands innerhalb der im Westgebiet geltenden Bandbreite zu halten, zu vage. Ich hoffe, daß die parlamentarische Beratung hierzu Konkretisierungen erbringen wird.
Um dem Argument der Arbeitsplatzauslagerung zu begegnen: Man wird prüfen müssen, inwieweit einheitliche Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene weiterhelfen, z. B. bezüglich gleicher Umwelt-
und Sicherheitsstandards, wobei mir nicht die Korrektur nach unten vorschwebt - um Mißverständnissen vorzubeugen.
Die Anregung des Bundesrates, das Jährlichkeitsprinzip in der Haushaltsführung zu durchbrechen, erscheint mir in diesem Zusammenhang sinnvoll.
Im übrigen warten wir noch immer auf den Bericht der Bundesregierung zur CO2-Reduzierung, der nicht nur vom Bundesrat, sondern auch vom Umweltausschuß des Bundestages eingeklagt worden ist.
Ich danke Ihnen.
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Es spricht jetzt der Kollege Paul Friedhoff.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute in erster Lesung über die Umstellung der Steinkohleverstromung ab 1996.
Zur Erinnerung: Ende vergangenen Jahres hatte das Bundesverfassungsgericht den Kohlepfennig für verfassungswidrig erklärt. Damit stand ein wesentliches Finanzierungsinstrument für die Verstromungshilfen nicht mehr zur Verfügung. Der Gesetzgeber war aufgefordert, eine andere Lösung zu finden. Wir Liberale haben uns schließlich mit dem Modell der Finanzierung aus allgemeinen Haushaltsmitteln durchgesetzt. So konnte die ökonomisch und auch ökologisch sinnlose Einführung der Kohlepfennigersatzsteuer vermieden werden.
Dabei stand allerdings für uns immer fest, daß wir zu den Zusagen des Energieartikelgesetzes stehen. Dort ist die Rahmensetzung für die kommenden Jahre klar vorgegeben: 1996 stehen 7,5 Milliarden DM, für die folgenden Jahre bis zum Jahr 2000 7 Milliarden DM jährlich zur Verfügung. Dies ist nur ein Teil der Hilfen, die die Steinkohle bekommt - ein anderer Teil kommt über die Kokskohle -, so daß dies zwar der größere, aber eben nur ein Teil von etwa 10,5 bis 11 Milliarden DM ist.
Wir Liberale haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß wir uns die Degression und den weiteren Abbau der Plafonds gewünscht hätten, aber natürlich gilt auch für das Energieartikelgesetz, daß Verträge einzuhalten sind.
({0})
Meine Damen und Herren, das Energieartikelgesetz gibt aber nicht nur die Höhe der Finanzplafonds für die nächsten Jahre vor, es fordert auch den weiteren Abbau der Subventionen nach dem Jahr 2000. Es stellt fest, daß
„ die Höhe der Finanzplafonds für die Jahre 2001 bis 2005 sowie die Notwendigkeit und etwaige Höhe eines festzuschreibenden Sockelbetrages ab 2006 gemeinsam in einem Gesetz geregelt werden".
Dabei, so das Gesetz weiter,
„werden die Finanzplafonds unter Berücksichtigung der dann gegebenen gesamtwirtschaftlichen und energiewirtschaftlichen Situation sowie haushaltspolitischer Erfordernisse mit Wirkung ab 2001 weiter zurückgeführt."
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten wollen, daß zügig darüber entschieden wird, damit sich die deutsche Steinkohle rechtzeitig auf die neuen Planzahlen einstellen kann. Deswegen bedauern wir auch das Scheitern der EnergiekonsensgePaul K. Friedhoff
spräche und hoffen, daß sich in der SPD die Vernunft durchsetzt und daß wir danach zu neuen Gesprächen kommen können, um diese Dinge im Einvernehmen regeln zu können.
Darm müssen wir uns auf jeden Fall auch über die Zeit von 1999 bis 2000 schon heute Gedanken machen; denn nach unserer Auffassung würde es sonst im Jahr 2001 einen zu starken Knick in der Förderung geben. Deswegen sind wir im Interesse des Bergbaus nicht an einem sanfteren Gleitflug interessiert. Wir wollen das einbeziehen, damit wir zu vernünftigen Lösungen für den Bergbau kommen können.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß sagen, daß auch wir dem Vorschlag zur Übertragbarkeit der Verstromungshilfe zustimmen. Ich denke, daß dies dazu beitragen wird, der deutschen Steinkohle die notwendige Dispositionsfreiheit zu geben, damit die Mittel auch sinnvoll eingesetzt werden können.
Ich danke Ihnen.
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Jetzt hat der Abgeordnete Rolf Köhne das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Kohleverstromung schreibt die energiepolitischen Tendenzen der Vergangenheit fort. Chancen für eine umweltfreundliche, sozialverträgliche und ressourcenschonende Energieversorgung werden so vertan.
In einer Zeit, da sich überall die Einsicht durchgesetzt hat, daß niedrige Preise für fossile Energien zu Verschwendung und damit zur Verschärfung des Klimaproblems führen, werden in Deutschland die durchschnittlichen Energierohstoffpreise für Steinkohle und sogar für westdeutsche Braunkohle auf das Dumpingpreisniveau des Weltmarkts heruntersubventioniert. Das ist ökologisch kontraproduktiv.
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Auf einem derartigen Preisniveau wird der Strukturwandel in Richtung einer ökologisch verträglichen Energiebewirtschaftung verhindert.
Diese Gesetzesvorlage steht in krassem Gegensatz zur Diskussion um Energiesteuern, die in den verschiedenen politischen Lagern geführt wird. Es dürfte kaum bestritten werden, daß die notwendige Erhöhung der Energiepreise um so besser greifen würde, je weiter sie sich dem Anfang der Rohstoffströme nähert.
Eine solche Besteuerung der Primärenergie reicht aber allein nicht aus. Die Unwägbarkeiten sind dabei sehr hoch, da das Anbieterverhalten monostrukturierter Förderländer leicht zu einer Aufhebung der erwünschten Lenkungswirkung führen kann.
Deshalb brauchen wir eine Mengenbegrenzung der Importe von Kohle, Gas und Öl. Nur so können die klimatischen Ziele wirksam erreicht werden. Dies ist schon im Sinne einer Beschränkung des weltweiten Transports und des Handels von Rohstoffen unabdingbar und sollte mit einer Importabgabe auf fossile Energien gekoppelt werden. Damit ständen dann auf kurze und mittelfristige Sicht auch die Mittel zur Verfügung, die wir für den energiepolitischen Strukturwandel brauchen und die zur Stützung der regional verfügbaren Energieträger wie der Steinkohle zur Verfügung gestellt werden müssen.
Die heimische Steinkohle, um die es hier in dieser Debatte geht, würde auf diese Art und Weise wesentlich über höhere Preise, die durch die Verknappung der Primärenergie entstehen, sowie durch die genannte Importabgabe subventioniert werden. Die vorgesehenen Haushaltsmittel wären dann für andere Zwecke frei, und die ganze Geschichte wäre nicht von dem Willen und von dem Ergebnis der Haushaltsberatungen abhängig. Außerdem würde das höhere Preisniveau bei Primärenergie die Wettbewerbsfähigkeit von Wasser, Wind und Sonne weiter stärken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Die Streichung der Genehmigungspflicht für Gaskraftwerke ist eine energie- und umweltpolitische Fehlentscheidung. Grundsätzlich muß jeder Bau eines Kraftwerks einer kritischen Prüfung unter verschiedensten Gesichtspunkten unterzogen werden.
Soll Least-Cost-Planning als ordnungspolitisches Instrument greifen, so darf der Genehmigungsvorbehalt nicht leichtfertig aufgegeben werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Jacoby.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Planungssicherheit, Verläßlichkeit, Berechenbarkeit - ich denke, wir setzen mit diesem Gesetz, über das wir jetzt diskutieren, exakt diese Kriterien um. Ich möchte noch einmal daran erinnern: Das Artikelgesetz beginnt eigentlich erst mit dem Jahre 1997. Wir ziehen jetzt die Leistungen, die für die Jahre 1997 bis 2000 dort festgeschrieben sind, um ein Jahr für das Jahr 1996 vor. Wir brauchen uns deshalb sicherlich nicht schelten zu lassen, ganz im Gegenteil.
Deshalb möchte ich sagen, meine Damen und Herren: Man muß sich schon wundern: Diejenigen, die vor anderthalb Jahren das Artikelgesetz bekämpft haben, spielen sich jetzt als Gralshüter dieses Artikelgesetzes auf.
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Das halte ich für widersprüchlich und für nicht überzeugend.
Ich finde, es führt auch kein Weg daran vorbei: Man darf dann das Artikelgesetz nicht nur partiell wahrnehmen. Das Artikelgesetz hat zwei Teile: bis zum Jahr 2000, aber auch über das Jahr 2000 hinaus. Da ist ja wohl der Hinweis erlaubt, daß es z. B. der Ministerpräsident Schröder war, der schon eine Degressionslinie vorgegeben und mit 4,5 Milliarden DM beziffert hat.
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Das sind 40 % weniger, als für die Zeit vor 2000 in unserem Gesetz stehen. Insofern sind wir doch alle gefordert, einen Wandel ohne Bruch zu erreichen. Diesem Problem und dieser politischen Herausforderung stellen wir uns.
Ich möchte darauf hinweisen, daß das Artikelgesetz unter diesem Gesichtspunkt angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts schon jetzt seine erste Bewährungsprobe bestanden hat. Wo wären wir bei der aktuell zu bewältigenden Problematik infolge des Wegfalls des Kohlepfennigs gelandet, hätte es dieses Artikelgesetz nicht gegeben? - Das zum Thema Engagement zugunsten der Steinkohle; das zum Thema Berechenbarkeit, Planungssicherheit und Perspektive.
Deshalb sage ich: Die Verpflichtungen, die wir jetzt bis zum Jahr 2000 eingehen, auf die wir uns beziehen, stehen unter der Prämisse - so hat es auch der Wirtschaftsminister vor der IGBE ausgedrückt; ich war selbst dabei -, daß wir einvernehmlich zu Degressionslinien kommen, die früher beginnen als im Jahre 2000 und die dann eine flachere Degression haben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen: Sowohl die Vertreter des Steinkohlebergbaus als auch die Vertreter der Gewerkschaft sind bis zur Stunde viel konstruktiver mit dieser Einladung umgegangen, als das eben aus den Worten des Kollegen Jung geklungen hat.
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Insofern möchte ich darauf hinweisen: Wir sichern jetzt klare, verläßliche Grundlagen nach dem Artikelgesetz.
Niemand soll aber den Eindruck erwecken, als seien die 7 Milliarden DM Verstromungshilfen bis zum Jahr 2000 die Lösung des Problems schlechthin. Vielmehr ist es die Brücke, die wir betreten, mittels der wir Eigenverantwortung stabilisieren und provozieren und den Strukturwandel beschleunigen wollen. Das war der Hintergrund, weswegen gesagt worden ist, besser eine sozialverträgliche Entwicklung einzuleiten und sie früher beginnen zu lassen als eine bruchartige Entwicklung ohne die soziale Begleitung, die bisher immer durch die Politik organisiert war und möglich gewesen ist.
Unsere Botschaft muß diejenige sein: Wir sichern für einen absehbaren, überschaubaren mittelfristigen Zeitraum Planungssicherheit und Orientierungskriterien. Die Botschaft muß darüber hinaus lauten: Umstrukturierung sowohl im Innern der Unternehmen wie auch im Blick auf die Regionen. Die finanziellen Engagements, die wir im Blick auf die Steinkohlefinanzierung überhaupt eingehen, sind in ihrer Wirkung regionale, sektorale Wirtschaftsförderung für zwei Bundesländer. Es handelt sich um Größenordnungen, die beachtlich sind. Deshalb, finde ich, hat das Engagement der Bundesregierung und der Koalition in diesem Zusammenhang auch einen Dank aus den Revierregionen verdient, die sich in der Bewältigung des Strukturwandels wesentlich intensiver und schneller bewähren müssen, als das bisher der Fall gewesen ist.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Kolb.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon gesagt worden: Der vorliegende Gesetzentwurf regelt die Umstellung des Verstromungssystems ab 1996 vom Kohlepfennig auf eine Haushaltsfinanzierung und die Abwicklung des bis Ende dieses Jahres vom Kohlepfennig gespeisten Verstromungsfonds. Der Gesetzentwurf dient also der rechtlichen Bereinigung im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Er sollte daher fristgerecht zum Jahresende in Kraft treten. Dies ist nur dann möglich, wenn der Entwurf jetzt nicht über Gebühr mit anderen Themen befrachtet wird. Hierzu zähle ich z. B. die notwendige Festlegung der Degression des Verstromungsplafonds ebenso wie das Thema Strompreise in den neuen Bundesländern.
Ich möchte doch noch einmal feststellen, daß der Bund seine kohlepolitischen Zusagen aus den Energiekonsensgesprächen erfüllt hat. Der Bergbau hat die Zuwendungsbescheide für die Lieferungen an die Stahlindustrie und die Stromwirtschaft erhalten. Der Steinkohlebergbau erhält damit auch in den nächsten Jahren insgesamt mehr als 10 Milliarden DM pro Jahr, und davon sicher 8 bis 9 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt. Das zeigt, daß wir wirklich eine Kraftanstrengung zugunsten der heimischen Steinkohle unternehmen.
({0})
Eine Subventionierung in dieser Höhe können wir aus finanz- und haushaltspolitischen Gründen gleichwohl nicht auf Dauer fortsetzen. Im Interesse der Haushaltsentlastung müssen wir die Hilfen zurückführen. Die Bundesregierung hat deshalb bereits bei den Energiekonsensgesprächen im Frühjahr 1995 angekündigt, daß sie aus finanz- und haushaltswirtschaftlichen Gründen eine Verringerung der Verstromungshilf en schon ab 1999 für erforderlich hält. Nur dann ist - das hat Kollege Friedhoff betont - ein flacher Degressionsverlauf zu erreichen und auch zu verantworten.
Geht man, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, den Subventionsabbau erst nach dem Jahr 2000 an, steigt das Risiko für den Bergbau, seine Förderung stärker und schneller an der Degression ausrichten zu müssen. Dies, Herr Kollege Jung, kann nicht im Interesse des Steinkohlebergbaus, der Bergleute und der Reviere sein. Deswegen wird der Bundeswirtschaftsminister den Steinkohlebergbau und die IGBE zu einem Spitzengespräch - aufgefordert wird hierzu in Kürze - einladen. Ich habe die Hoffnung, daß wir auch hier gemeinsam und einvernehmlich, wie Kollege Jacoby gesagt hat, erneut eine akzeptable Lösung finden. Dabei müssen wir natürlich auch die soziale Seite im Auge behalten. Die Bundesregierung wird dann eine weitere Regelung zu Zeitpunkt und Degression vorschlagen.
Ein Wort zu den Strompreisen in den neuen Bundesländern. Die Bundesregierung unterstützt weiterhin das politische Ziel, das durchschnittliche Strompreisniveau zwischen neuen und alten Ländern vergleichbar zu halten. Dazu hatten sich die Vertragspartner des Stromvertrages im Jahre 1990 verpflichtet. Für eine gesetzliche Regelung im Sinne einer Strompreisgleichheit, wie sie die neuen Bundesländer im Bundesrat gefordert haben, besteht aber keine Notwendigkeit. Sie wäre auch mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Auch in den westlichen Bundesländern gibt es seit längerem größere Unterschiede bei den Strompreisen.
Die Bundesregierung hat volles Verständnis für die Sorgen um mögliche Folgen für Industrieansiedlungen in den neuen Bundesländern. Man muß aber auch sagen: Derzeit liegen die Strompreise in den neuen Bundesländern noch in einer Bandbreite, die auch in den alten Bundesländern anzutreffen ist.
Wir haben die Energieversorgungsunternehmen, insbesondere die Eigentümer der VEAG, wiederholt und nachdrücklich auf die im Stromvertrag übernommene Verpflichtung hingewiesen, ein vergleichbares Strompreisniveau anzustreben. Auch den Ländern kommt im Rahmen ihrer Energie- und Strompreisaufsicht eine entscheidende Rolle zu. Diese Verantwortlichkeiten sollten nicht verwischt werden.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu unterstützen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 13/2419 und 13/ 2471 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a und 16 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Beendigung der Strafverfolgung für hoheitliches Handeln von DDRBürgern und über die Gewährung von Straffreiheit für Handlungen, bei denen der Strafzweck mit Herstellung der deutschen Einheit entfallen ist ({0})
- Drucksache 13/1823 -Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß
b) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS
Anpassung, Änderung und Ergänzung des Einigungsvertrages sowie konsequente Verwirklichung der in ihm enthaltenen Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer
- Drucksache 13/2226 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Der Ältestenrat schlägt zu diesen Tagesordnungspunkten eine Aussprache von einer halben Stunde vor, wobei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll.
Die Gruppe der PDS beantragt, die Debattenzeit zu verlängern. Wird zu diesem Antrag zur Geschäftsordnung das Wort gewünscht? - Ja.
Das Wort hat die Abgeordnete Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie können sich vorstellen, daß wir mit der vom Ältestenrat vorgeschlagenen Regelung nicht einverstanden sind. Ich beantrage deshalb im Namen der Gruppe eine Verlängerung der Debattenzeit für den folgenden Tagesordnungspunkt auf mindestens 90 Minuten.
({0})
In 30 Minuten sollen hier zwei schwergewichtige Vorlagen debattiert werden, der Antrag zur Anpassung, Änderung und Ergänzung des Einigungsvertrages sowie der Entwurf eines Strafverfolgungsbeendigungsgesetzes. Eine gründliche Aussprache in 30 Minuten scheint uns unmöglich.
({1})
Man muß sich einmal vorstellen: Sie feiern in der nächsten Woche den fünften Jahrestag der Wiedervereinigung.
({2})
Zugegeben: Wir sehen nicht sehr viel Grund zum Feiern.
({3})
Sie würdigen dieses Ereignis im Parlament mit keiner Silbe.
Nun verweisen Sie - ich nehme an, das wird passieren - auf eine mögliche Debatte - ({4})
- Nächste Woche ist der fünfte Jahrestag. Haben Sie das vergessen?
({5})
Nun verweisen Sie auf eine mögliche Debatte am 12. Oktober. Aber wir sind der Auffassung: Ober die Wiedervereinigung Deutschlands, über die „glorreichen" Folgen für Ost und West kann man nicht genug reden.
({6})
Außerdem wollen wir gern, daß Sie schon vor den staatlich organisierten Feierlichkeiten
({7})
in der Öffentlichkeit etwas sagen. Es mag sein, daß dann manchem das Feiern vergeht.
({8})
Am 12. Oktober sind Bierzelte und Ehrentribünen längst abgebaut. Der Alltag ist dann bei vielen wieder mit Sorgen, Befürchtungen und Ängsten eingekehrt. Deshalb sollte unserer Auffassung nach die heutige Debatte verlängert werden, damit der Bundeskanzler Gelegenheit bekommt, zu erklären, wo überall im Osten er blühende Landschaften sieht;
({9})
damit Kollege Schäuble sagen kann, welche Konsequenzen seine Aussage in der „Berliner Morgenpost" hatte. Ich zitiere:
Das Gelbe vom Ei haben wir nicht, und deshalb müssen wir zu Korrekturen ohne jede Eitelkeit bereit sein.
({10})
- Das ist alles zur Geschäftsordnung. Ich erkläre, was wir in dieser Debatte bereden wollen.
({11})
Welche Korrekturen waren hier gemeint? Wann ist endlich mit konkreten Vorschlägen zu rechnen?
Wir sind der Auffassung, daß die heutige Debatte - deshalb fordern wir die Verlängerung - auch klären sollte, ob der Konsens von 1956 inzwischen aufgekündigt wurde. Ich darf aus dem „Bulletin" der Bundesregierung zitieren:
Die Errichtung eines neues Regierungssystems darf ... in keinem Teile Deutschlands zu einer politischen Verfolgung der Anhänger des alten Systems führen.
({12})
Aus diesem Grunde soll nach Auffassung der Bundesregierung
- von 1956 dafür Sorge getragen werden, daß nach der Wiedervereinigung Deutschlands niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder nur, weil er in Behörden oder politischen Organisationen in einem Teil Deutschlands tätig gewesen ist,
({13})
verfolgt wird.
Das war 1956 der Grundkonsens der Bundesregierung.
({14})
Unsere Frage heute: Ist dieser Grundkonsens aufgegeben worden? Wir meinen, ein großes Programm mit großen Themen und entsprechender politischer Tragweite, wir meinen: zu groß für eine Debattenzeit von 30 Minuten. Stimmen Sie deshalb, auch im Interesse der Redezeit Ihrer eigenen Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag zu.
({15})
Ebenfalls zur Geschäftsordnung der Kollege Andreas Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will einmal darauf hinweisen, daß wir uns in der ersten Beratung befinden.
({0})
Andreas Schmidt ({1})
Angesichts des Antragstellers und der Intention der Anträge bin ich der Auffassung, daß 30 Minuten mehr als genug sind. Wir lehnen den Antrag ab.
({2})
Weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Wir kommen also zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Gruppe der PDS auf Verlängerung der Redezeit? - Gegenstimmen? ({0})
Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt.
Wer stimmt für den Vorschlag des Ältestenrates? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Vorschlag ist angenommen. Damit beträgt die Debattenzeit eine halbe Stunde, wobei die PDS eine Redezeit von fünf Minuten erhält.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Abgeordneten Christa Luft das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, das in den neuen Bundesländern Millionen Menschen persönlich betrifft. Wir debattieren ein Thema, das auch in den alten Ländern interessiert verfolgt wird und das über die Landesgrenzen zur Kenntnis genommen wird, weil es um das Wie des Zusammenlebens von Ost und West geht.
({0})
Es tut mir leid: Ich kann in meinem Wahlkreis niemandem plausibel machen, weshalb die Diätendebatte, die immerhin nur 672 Menschen betrifft, vor gut einer Woche hier im Plenum fast einen halben Tag gedauert hat - und das im übrigen vor vollem Haus -,
({1})
während heute, wo wir ein millionenfach interessierendes Thema besprechen, fast niemand mehr im Saal ist, wir mit der Zeit geizen und dem Thema eine halbe Stunde geben. Wie gesagt: Ich kann das niemandem plausibel machen, und mancher andere kann das, wenn er ehrlich ist, vermutlich auch nicht.
({2})
Die deutsche Einheit hat den ostdeutschen Menschen - das ist zweifelsohne so - auf manchem Gebiet Nutzen gebracht. Ich nenne nur Beispiele - man könnte manches andere aufzählen -: auf dem Gebiet der individuellen Menschenrechte, der persönlichen Freiheiten, beim Warenangebot, bei infrastrukturellen Leistungen. Aber wenn man sich umtut, dann erfährt man von vielen, vielen Menschen in den neuen Bundesländern - und ich kenne nicht wenige aus den alten, die das so sagen - nach einer halben Dekade Wiedervereinigung: Wir sind vereint, doch nicht eins.
Dieser ambivalente Zustand ist teils durch den mit der heißen Nadel gestrickten Einigungsvertrag bedingt, teils durch seine willkürliche Umsetzung. Ganze Lebensbereiche hat der Einigungsvertrag nicht oder aber ungenügend, ja sogar falsch geregelt. Das Makabre ist, daß die Regierung und die Koalitionsabgeordneten an dem, was von Anfang an falsch geregelt worden ist, unerschrocken festhalten. Nehmen Sie nur das unheilvolle Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" oder die unsägliche Altschuldenregelung: Noch immer stehen für diese wichtigen Bereiche, die persönliches Leid bringen und die wirtschaftliche Entwicklung hemmen, vernünftige Lösungen aus.
Nicht an den Buchstaben gebunden fühlen sich Regierung und Koalitionsabgeordnete hingegen bei solchen Bestimmungen des Vertrages, die berechtigte Interessen und Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern zum Ausdruck bringen. Ich erinnere nur an die Zusage des Vertrages, Mieterhöhungen nur im Gleichschritt mit der Einkommenssteigerung vorzunehmen. Welten klaffen doch zwischen Wort und Tat auf diesem Gebiet.
({3})
Oder ich nenne die mit dem Einigungsvertrag angestrebte Garantie der Unteilbarkeit der Grundrechte für alle Bürgerinnen und Bürger. Wie verhält sich denn dazu nun das nach wie vor praktizierte Rentenstrafrecht? Meine Damen und Herren, es bleibt doch Ihr Geheimnis, wie Sie dieses Rentenstrafrecht mit der Gleichbehandlung der Bürgerinnen und Bürger in Übereinstimmung bringen wollen. Mit Ihren dauernden Hü-und-hott-Ankündigungen - das muß ich einmal den Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU-Fraktion sagen - zur Neuregelung des Rentenüberleitungsgesetzes treiben Sie doch nahezu Schindluder mit den Menschen aus der älteren Generation. Dieses Thema ist als Wahlkampfschlager überhaupt nicht geeignet, auch nicht als Lockmittel, das man einmal auslegt und dann zurückzieht. Dazu ist dieses Thema viel zu schade.
({4})
Übrigens hatten wir dieses Manöver 1994 schon einmal.
Wir demokratische Sozialistinnen und Sozialisten nehmen den fünften Jahrestag, der bevorsteht, zum Anlaß, um eine Anpassung des Einigungsvertrages an die entstandene Situation und seine Änderung und Ergänzung zu beantragen.
Kernpunkte eines notwendigen Einigungsvertragsänderungsgesetzes sind für uns erstens die Garantie des Gleichheitsgrundsatzes für die Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder in allen Lebensbereichen, einschließlich der Respektierung ihrer Biographien und des Schutzes ihres erworbenen Eigentums, zweitens die Schaffung von Voraussetzungen dafür, daß die erwerbsfähigen Menschen in Ostdeutschland ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten können. Sie wollen auf Dauer nicht alimentiert werden; es widerspricht ihrer Würde. Wir fordern die Revitalisierung der Industrie, der Wissenschaft und Kultur, statt der weiteren Verschwendung von Qualifikations- und geistigen Potentialen zuzusehen. Das würde ja auch im übrigen für den westdeutschen Steuerzahler günstiger werden.
({5})
Drittens geht es uns um die Aufhebung aller Formen der juristischen Diskriminierung ostdeutscher Menschen. Der von unserer Abgeordnetengruppe eingebrachte Entwurf eines Strafverfolgungsbeendigungsgesetzes hat das Ziel, den Kalten Krieg in Deutschland nun endgültig zu beenden. Es kann doch nicht sein, daß der Bundeskanzler in Südafrika ausdrücklich und, wie ich finde, zu Recht die Aussöhnungspolitik lobt und wir hier in Deutschland ganz andere Realitäten haben.
({6})
- Nein.
Zehntausende von Ermittlungsverfahren wurden in den neuen Ländern aus unterschiedlichsten Gründen eingeleitet, zumeist geht es urn hoheitliches Handeln dieser Bürgerinnen und Bürger. Aber nicht nur die Betroffenen sind bei diesem Verfahren gemeint, sondern alle, die loyal zur DDR standen und die man permanent demütigt.
Uns geht es - dies darf ich zum Abschluß sagen - mit diesem Strafverfolgungsbeendigungsgesetz um drei Fälle. Wir wollen erstens, daß künftig eine Strafverfolgung wegen hoheitlichen Handelns für die DDR ausgeschlossen ist. Wir wollen zweitens, daß es keine Strafverfolgung mehr für Straftaten gibt, bei denen der Zweck der Verfolgung mit der Vereinigung entfallen ist. Weshalb soll eigentlich heute noch jemand für das Übertreten von Zollgesetzen an der Grenze zu Westberlin zur Verantwortung gezogen werden? Den Staat gibt es nicht mehr, den diese Gesetze schützen sollen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.
Ja. - Drittens möchten wir, daß jene Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, die teilungsbedingt Straftaten durch Spionage begangen haben, amnestiert werden. Nach Aufhebung der Zweistaatlichkeit gibt es keinen nachvollziehbaren Grund,
Frau Kollegin.
- sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, es sei denn, es handelte sich um das Motiv der Rache. Das sollte dem Recht fernliegen.
Ich danke Ihnen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dietrich Mahlo.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gruppe der PDS hat hier zwei sehr ungleiche Vorlagen eingebracht, mit denen wir uns befassen sollen. Das eine ist ein Katalog von Veränderungswünschen, der praktisch die gesamten in der vorigen Legislaturperiode unter größten Schwierigkeiten verabschiedeten Einheitsgesetze in Frage stellt und sie verändern will. Es soll eine erneute Verhandlung geben. Ich räume Ihnen zwei Dinge ein: Die Aufgaben, die mit diesen Gesetzen zu bewältigen waren, waren extrem schwierig. Nicht jeder in unserer Fraktion ist der Auffassung, daß das optimal gelungen sei, aber das, was wir nun zur Wahrung des Rechtsfriedens und zur allmählichen Angleichung der Lebensbedingungen, auch zum Aufbau einer produktiven Wirtschaft geschaffen haben, stellen Sie jetzt in einem großen flächendeckenden Abwasch, der praktisch acht Fachausschüsse befassen würde
({0})
und den wir hier nicht ansatzweise behandeln können, selbst wenn sie zweimal 90 Minuten Redezeit beantragt hätten, in Frage. Insgesamt ist es natürlich ein Vorgehen der Einigungsgegner gegen den bisherigen Einigungsvorgang.
Ich möchte mich daher mit meinen Bemerkungen im wesentlichen auf Ihre zweite Vorlage beschränken, auf das sogenannte Strafverfolgungsbeendigungsgesetz, das zu einigen allgemeinen Bemerkungen Veranlassung gibt.
Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung melden sich hier gewissermaßen Täter und ihre Helfer zu Wort.
({1})
Sie möchten straffrei gestellt, sie möchten in Frieden gelassen werden, und sie möchten in Zukunft als Gentlemen unter Gentlemen leben.
({2})
- Dazu komme ich noch, Frau Kollegin.
({3})
- Nicht demokratisch, aber rechtsstaatlich. Ich glaube, Sie profitieren von diesem Rechtsstaat außerordentlich.
Aber Sie spekulieren bei Ihrem Antrag auch ein bißchen auf das Desinteresse und die Ahnungslosigkeit, mit denen ein Großteil der Westdeutschen schon immer den Vorgängen in der seinerzeitigen DDR gegenübergestanden hat, auf die eifrigen Wegseher und Verharmloser und auf einen Teil der westdeutschen Intelligenzia bis hin zur Chefredaktion einer Hamburger Wochenzeitung, die über ihre jahrzehntelange Wahrnehmungssperre mit ein paar kleinlauten Bemerkungen hinweggekommen ist. Personen in Ost und West, die dem Recht der sozialistischen DDR niemals eine einzige kritische Bemerkung gewidmet haben, sind jetzt eifrig dabei, die Rechtmäßigkeit der Prozesse wegen der DDR-Regierungskriminalität in Frage zu stellen.
Ich lese in der Begründung zu dem Gesetzesentwurf es hätten sich nun einmal nach dem Zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden zwei Staaten entwikkelt. Die hätten eine zunehmend unterschiedliche und schließlich sogar entgegengesetzte Rechtsordnung gehabt.
({4})
Sie seien in die jeweiligen unterschiedlichen Bündnisse und Militärblöcke eingebunden worden. Dann seien sie im gleichen Zuge Mitglieder der UNO geworden. Schließlich habe es in beiden deutschen Staaten auch Bürger gegeben, die sich im Gegensatz zu dem Staat befanden, in dem sie lebten. Auch in anderen Ländern der Erde habe es innere Konflikte gegeben. So waren die Realitäten nun einmal. Man muß das nicht so eng sehen. - Wie müßig, hier Wertungen vorzunehmen! Da kann man nur mit Nietzsche sagen: Wir sind alle gleich, blinzelte der Pöbel.
Die vielen, vielen Toten, die erstickten Qualen in den Zuchthäusern, das mehrfach gebrochene Rückgrat von über einer Generation, das planmäßige Verderben der Kinder, das verlorene Leben von Millionen war nur ein verzeihlicher Irrtum.
({5})
Das darf man nicht so eng sehen. Damit dürfen sich keine Konsequenzen verbinden.
({6})
Diejenigen, die für den politischen Terror in der DDR verantwortlich sind, soll man einfach freundlich lachend in Rente schicken.
Da, meine Damen und Herren, sind wir mit Ihnen nicht ganz einer Meinung. Wissen die Antragsteller, daß die Mitarbeiter des DDR-Staatsapparates heute als Angehörige des öffentlichen Dienstes gelten und Rente beziehen, während die Opfer der staatlichen Unterdrückung um eine viel zu geringe Entschädigung betteln mußten?
({7})
Sozialismusnostalgiker bezeichnen die schwachen Versuche, Unterdrücker von gestern zur Rechenschaft zu ziehen, als Rachejustiz. Sie behaupten, es ginge um strafrechtliche Abrechnung. Sie behaupten, das Strafrecht werde zum Instrument politischer Verfolgung, sei Fortsetzung des kalten Krieges. Tatsächlich handelt es sich um nichts anderes, als daß der nüchterne und undramatische Rechtsstaat pflichtgemäß dazu übergegangen ist, zu untersuchen, ob sich Verdächtige strafbar gemacht haben. Rechtsstaat bedeutet, daß jeder Angeklagte, auch die Honneckers, Kesslers und Wolffs, in den Genuß jenes ehernen Grundsatzes zivilisierter Strafrechtspflege kommt, der da lautet: Keine Strafe ohne Gesetz. Das genau ist auch der Grund, warum es zu so wenig Anklagen und noch weniger Verurteilungen kommt.
Darf ich Sie daran erinnern, daß der NS-Jurist Roland Freißler und die SED-Juristin Hilde Benjamin diesen Satz durch einen anderen Satz ersetzt haben, der da lautet: Kein Verbrechen ohne Strafe.
Es ist wahr: Der uns vorliegende Gesetzesentwurf beansprucht keine Anwendung auf Straftaten, die sich gegen das Leben oder die Gesundheit von Personen richten. Er will sich nicht auf Straftaten beziehen, die bei Gelegenheit hoheitlichen Handelns begangen wurden. Aber diese Darstellung verkennt oder verschweigt, daß in dem Staate DDR eben nicht ausnahmsweise bei Gelegenheit ordnungsgemäßen Handelns einmal das Gesetz überschritten wurde, sondern daß dieser Staat politisch flächendeckend repressiv gewesen ist. Wahlfälschungen geschahen nicht bei Gelegenheit, sondern waren konstitutiver Bestandteil der SED-Herrschaft.
Das MfS war der Herr aller politischen Untersuchungsverfahren. Folterungen waren konstitutiver Bestandteil dieser Herrschaftspraxis. Das MfS war seinerseits nicht ein Staat im Staate, sondern nur ausführendes Organ der Partei, dem alles, was an menschlichen Qualen verursacht wurde, als finales Unrecht zuzurechnen ist.
Daß dieses Regime bereit war, seine Inhumanität per Freikaufpraxis gegen Bares zu mildern, geschah nicht bei Gelegenheit, sondern war Bestandteil des Systems wie seine Unwahrhaftigkeit und seine Brutalität, wovon in Ihrem Gesetzesentwurf natürlich nichts zu lesen ist.
Es ist unbefriedigend, wenn einfache Grenzsoldaten angeklagt werden, ihre Befehlsgeber aber noch frei herumlaufen.
({8})
Es ist unbefriedigend, wenn der Sekretär des Zentralkomitees für Sicherheit, Egon Krenz, also der Chef von Herrn Mielke, noch frei herumläuft und wenn gegen hohe Beteiligte am Repressionsapparat, wie Tisch und Götting, vorwiegend wegen lachhafter Vermögensdelikte vorgegangen worden ist.
Aber es ist nicht Sache der Abgeordneten, der Staatsanwaltschaft Weisungen zu geben. Die Helfer der Diktatur, die Freistellung von Strafe begehren, behaupten, sie hätten immer ein gutes Gewissen geDr. Dietrich Mahlo
habt. Wenn dem so ist, warum wurde dann der Schießbefehl in seiner geltenden Fassung immer nur mündlich erteilt? Warum wurde Verurteilten in politischen Prozessen ihr Urteil nicht ausgehändigt? Warum wurden Hinrichtungen durch Fälschung der Protokolle mit unwahren Angaben zu Todesart, -ort und -zeitpunkt verschleiert? Doch offenbar nicht, weil Sie alle ein gutes Gewissen hatten, sondern weil Sie es für notwendig hielten, den Sachverhalt zu camouflieren.
Es ist wahr - keine Irrlehre entbehrt ganz des Richtigen -, daß das Strafrecht nicht der Weisheit letzter Schluß ist und das Strafrecht nur eine begrenzte Funktion hat.
({9})
Schon in der griechischen Antike gab es um des Friedens willen Amnestien nach Gewaltherrschaften. Aber da waren die Verhältnisse überschaubar, und man wußte, was man amnestierte. Eine totalitäre Diktatur, flächendeckend und konspirativ, muß erst aufgeklärt werden, bevor eines Tages das Verzeihen und das Vergessen einsetzen kann.
Wir Deutschen haben mit kollektiven Verdrängungen reiche Erfahrung. Mir erscheint es sinnvoll, wenn sich in unserem Volk die historische Erfahrung herumspricht, daß sich Mitläufertum eben nicht in jedem Falle bezahlt macht.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention bekommt der Abgeordnete Ludwig Elm.
Wir hatten zur Kenntnis zu nehmen, daß heute nicht mehr als 30 Minuten für diese wichtige Debatte am Vorabend des 5. Jahrestages der Vereinigung vorgesehen werden sollten. Mit diesem letzten Beitrag war weiterhin zur Kenntnis zu nehmen, daß unser Antrag „Strafverfolgungsbeendigungsgesetz" offenbar auch nicht zur Kenntnis genommen wurde, daß man sich nicht die Zeit genommen hat, unser Anliegen dort ernsthaft zu prüfen. Als Ersatz für diese Anstrengung, einen eingebrachten Antrag aufmerksam zur Kenntnis zu nehmen, zu durchdenken und darauf zu reagieren, sind wir mit einem Katalog von Aussagen zur DDR-Geschichte konfrontiert worden, der eine willkürliche Mischung von einzelnen Vergehen, von Unterstellungen und weitreichenden Interpretationen darstellt.
Uns geht es darum, daß mit dieser extensiven Ermittlungs- und Verfolgungspraxis, die sich gegen Zehntausende von ehemals im Staatsdienst der DDR tätigen Bürgern wendet, wo wir heute schon erleben müssen, daß die Mehrzahl schließlich nach aufwendigen Ermittlungen nach der Anheizung des politischen Klimas ergebnislos eingestellt werden, weil die unterstellten Behauptungen einfach nicht nachweisbar sind, daß mit diesen Kampagnen, mit dieser extensiven politischen Stimmungsmache und Strafverfolgung Schluß gemacht wird, daß auch bestimmte rechtsstaatlich bewährte gültige Verjährungsprinzipien eingehalten werden. Das ist in umfangreichen Dokumentationen inzwischen nachgewiesen. Ich verweise darauf, daß wir damit rechnen, daß das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Berufsverbotspraxis endlich eine europäische Dimension in diese Auseinandersetzung bringt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind nur noch sehr wenige und sollten doch wenigstens eine Atmosphäre herstellen, in der wir uns zuhören können.
Dieses Urteil zur Berufsverbotspraxis - da drängen sich viele Analogien zu dem, was in Ostdeutschland stattfindet, auf - trägt dazu bei, auch europäische Normen in dieser inneren rechtspolitischen Auseinandersetzung in Deutschland herbeizuführen.
Am Ende dieses letzten Beitrages haben wir den Hinweis auf den Umgang mit der Vergangenheit nach 1945 gehört. Ich hätte mir gewünscht, daß der Vertreter dieser Partei an dieser Stelle entweder etwas konkreter oder etwas bescheidener und selbstkritischer wird. Sie haben für die Partei gesprochen, die nach 1945 in hohem Maße die rechtsstaatliche Aufklärung und Sühne ungleich schwererer massenhafter Verbrechen gegen die Menschlichkeit verschleppt und vereitelt hat. Dieser Vergleich gehört einmal mit dazu.
({0})
Herr Kollege Mahlo, möchten Sie zur Kurzintervention Stellung nehmen? Sie müssen das nur melden.
Bitte.
Herr Kollege, ich räume Ihnen zunächst ein, daß Sie einen sorgfältig ausgearbeiteten Gesetzentwurf vorgelegt haben und daß eine solche erste Lesung natürlich immer zu vereinfachenden Antworten verleitet. Das ist - wie Sie vielleicht einräumen werden - in einem solchen Gremium auch nicht anders möglich.
Was den letzten Angriff in bezug auf Straftäter aus der NS-Zeit betrifft, so möchte ich Ihnen stellvertretend für die SED, deren Nachfolge Sie freiwillig angetreten haben, diese Blumen gern zurückgeben. Sie wissen ganz genau, wie es in der DDR ausgesehen hat und daß der Versuch einer Aufarbeitung nicht einmal ansatzweise gemacht worden ist. Insofern sollten Sie hier vielleicht besser nicht mit Steinen werfen.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es liegen heute zwei Drucksachen vor, eine davon ist das Strafverfolgungsbeendigungsgesetz, das sogenannte Schlußgesetz.
({0})
- Ich verwende Termini, die aus Ihrer Partei kommen.
Die Einbringung dieses Machwerks ist erstens eine Provokation des deutschen Parlaments,
({1})
zweitens ein neuer Höhepunkt der Desinformationskampagne der PDS über den Alltag in Deutschland,
({2})
drittens ein erneuter Versuch, DDR-Geschichte und das Handeln von Teilen der Nomenklatura so umzuinterpretieren, daß es in das unaufgeklärte Geschichtsbild der PDS-Hinterzimmer paßt - ein Akt der Geschichtsklitterung ({3})
und viertens nicht zum Schluß eine Demütigung für all diejenigen, die in der DDR unter Repressionsmaßnahmen persönlich gelitten haben.
({4})
Ich will mich gar nicht dabei aufhalten, daß dieser Gesetzentwurf aus PDS-Vorfeldorganisationen stammt, die auch Vereinigungen beinhalten, in denen Angehörige bewaffneter Organe des MfS, der Polizei, der Grenztruppen etc. vertreten sind.
({5})
Es ist eine Geschmacklosigkeit, uns einen Entwurf vorzulegen, in dem die potentiellen Objekte der Strafverfolgung ihr eigenes Entlastungsgesetz geschrieben haben.
({6})
Hier wird die Desinformations- und Verleumdungsstrategie gegenüber der justitiellen Aufarbeitung des SED-Unrechts fortgesetzt. Nach dem Gesetzentwurf würde bei der heutigen Strafverfolgung angeblich - ich zitiere - „DDR-Recht verfälschend angewandt", die Rechtskultur und Rechtssicherheit würden dabei untergraben; dies alles sei „politische Strafverfolgung", und im Osten gebe es ein verbreitetes Unbehagen darüber.
Meine Damen und Herren, wenn es ein Unbehagen in Ostdeutschland gibt, dann darüber, daß die Menschen erkannt haben, daß die heutigen in der Bundesrepublik gewachsenen rechtsstaatlichen
Strafverfolgungsinstrumente keine geeigneten Instrumente sind, um der strafrechtlichen Seite des SED-Unrechtsregimes wenigstens annähernd gerecht zu werden.
Die Täter von einst kommen meist ungeschoren davon oder werden nur mit Bagatellstrafen belegt. D a s ist der Gegenstand des Unbehagens der Menschen, übrigens nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in Westdeutschland.
({7})
Wenn sich Herr Modrow heute hinstellt und schreit, bei seiner Anklage wegen Wahlfälschung in Dresden handele es sich um Siegerjustiz, dann muß der Herr darauf hingewiesen werden, daß das heute angewandte Recht wesentlich milder ist als das Recht, nämlich das DDR-Strafgesetz, nach dem er belangt worden wäre, wenn das Verfahren bereits in der sich demokratisierenden DDR vor dem 3. Oktober 1990 angelaufen wäre. Dankbar sein müßte er für diesen staatlichen Akt der Milde, der ihm durch die Vereinigung zuteil geworden ist. Statt dessen nur Verdrehungen und Verleumdung - da wird einem übel, meine Damen und Herren, speiübel.
({8})
Daß diese Behauptungen die Unabhängigkeit der bundesdeutschen Justiz in Frage stellen und damit trefflich zum Ausdruck bringen, wie die PDS zu den Prinzipien der Gewaltenteilung sowie zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht, sei hier nur am Rande bemerkt.
({9})
Der Gesetzentwurf hat noch andere Funktionen: Hier will die ehemalige Nomenklatura im nachhinein ihr Geschichtsbild zunächst dem Parlament und später dem gesamten deutschen Volk aufzwingen: Da, wo heute mit rechtsstaatlichen Instrumenten Strafverfolgung gegenüber SED-Unrecht betrieben wird, sei es in der DDR ja nur um Ausübung hoheitlicher Aufgaben oder um Tätigkeiten - ich zitiere - „in Ausübung einer Rechts- oder Dienstpflicht der DDR" gegangen. Hier fällt mir nur der alte Filbinger-Satz ein: Was früher Recht war, kann heute kein Unrecht sein!
({10})
So reagieren sie immer, die alten Eliten, wenn sie nach ihren Untaten eines Tages mit Rechtsstaatlichkeit und mit Menschenrechten konfrontiert werden - heute genauso wie in der Nachkriegszeit. Die PDS steht hier in einer üblen Tradition.
({11})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Brudlewsky?
Bitte schön.
Ich hätte gerne einmal gewußt, was Sie dazu sagen, daß in SachsenAnhalt auf dem PDS-Parteitag ein ehemaliger MfSMann mit den Worten kandidierte: Ich bereue nichts. Er bekam dabei von einem großen Anteil der Anwesenden Beifall.
({0})
- Ein großer Teil hat Beifall geklatscht.
({1})
Ich habe den Vorgang aufmerksam verfolgt. Er paßt in der Tat nahtlos in den Kontext der Vorlage, die wir hier im Parlament haben.
({0})
Schier unerträglich wird es jedoch, wenn die PDS im Antrag behauptet, es gebe an einer Strafverfolgung kein öffentliches Interesse mehr. Hier werden all jene, die unter der Repression des SED-Regimes zu leiden hatten und die allzuoft wegen der Verweigerungshaltung der Täter heute nur noch auf die erzieherische Wirkung des Strafverfahrens hoffen können, kollektiv entmündigt und ihrer Stimme beraubt. Ich kann von dieser Seite aus den Opferverbänden nur zurufen: Stellen Sie sich einer solchen Darstellung entgegen; klären Sie die PDS darüber auf, wie Ihre tatsächlichen Wünsche und Interessen an dieser Stelle sind, meine Damen und Herren!
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bierstedt?
Bitte schön.
Herr Schwanitz, ich habe eine Frage zu Mehrheiten und Minderheiten. Ich war auf diesem Parteitag in Sachsen-Anhalt anwesend. Ich frage Sie: Sind von weit über 100 Anwesenden 11 Leute, die an einer Stelle Beifall geklatscht haben, eine Mehrheit oder eine Minderheit?
({0})
Mein Eindruck war in der Tat, daß diejenigen, die dort geklatscht haben, in der Minderheit waren. Aber ich sage Ihnen an dieser
Stelle auch, daß schon allein das Faktum, daß ein derartiges Mitglied Ihrer Partei für ein solches Amt kandidieren kann, bezeichnend genug ist.
({0})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bierstedt?
Nein, ich würde jetzt gerne im Zusammenhang zu Ende reden.
Meine Damen und Herren, die inneren Funktionen dieses Schlußantrages sind klar. Zum einen sollen die Täter nicht nur amnestiert, nein, ihre Verbrechen und Vergehen sollen noch nachträglich legalisiert und gerechtfertigt werden.
({0})
Dies ist ein zentraler Baustein in der Gesamtstrategie, die früheren Funktionsträger selbst von moralischer Schuld freizusprechen.
Zum anderen ist dieser Antrag der Kitt, der die PDS als die Interessenvertreterin der Nomenklatura im Inneren zusammenhält. Der Antrag dient damit auch dem Selbsterhaltungstrieb dieser Partei. Wir sollten diesen Antrag dorthin tun, wo er herkommt, meine Damen und Herren: auf den Kehrichthaufen der Geschichte.
({1})
Zum Schluß noch eine Bemerkung zum zweiten Antrag der PDS, der den Einigungsvertrag betrifft. Dabei will ich mich gar nicht dazu auslassen, was in diesem Papier alles von anderen Oppositionsfraktionen abgeschrieben oder was dort an zum Teil unsinnigen oder illusionären Sachverhalten dargestellt wird.
Ich habe mir statt dessen noch einmal das Protokoll der Volkskammersitzung vom 20. September 1990 angesehen. Damals wurde im DDR-Parlament abschließend über den Einigungsvertrag debattiert. Der Vorsitzende der PDS-Fraktion Gysi bezeichnete dort den Einigungsvertrag als schlampig und oberflächlich,
({2})
als Unterwerfungsanschluß allein nach den Vorstellungen Kohls. Er sagte, Unangenehmes und Gesundheitsschädigendes solle künftig den DDR-Bürgern im Osten zugemutet werden. Ostdeutschland würde das Armenhaus Deutschlands; das würde über Jahre festgeschrieben. Löhne, Gehälter und Renten sollten auf lange Zeit niedriger bleiben. Das Ganze sei auch noch völlig unverbindlich, führte er aus. Die Bürgerinteressen würden in diesem Vertrag klein- und die Interessen der NATO und der Konzerne großgeschrieben. Man könne dem überhaupt nicht zustimmen; so seine Ausführungen.
Meine Damen und Herren, man kann sich nicht zum Sachwalter einer Angelegenheit machen, die man unabhängig von berechtigter inhaltlicher Kritik früher derartig diffamiert und bekämpft hat. Allein schon aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, ist dieser PDS-Antrag unglaubwürdig, scheinheilig und ein durchsichtiges Manöver.
({3})
Schönen Dank.
({4})
Das Wort zur Kurzintervention erhält der Abgeordnete Bierstedt.
Herr Schwanitz, da Sie mir nicht das Recht gewährten, einen zweiten Teil der Frage zu stellen, sehe ich mich genötigt, Sie ganz einfach auf folgendes hinzuweisen: Ich bitte Sie und auch Frau Brudlewsky, zur Kenntnis zu nehmen, daß auch mir persönlich die Kandidatur des dort Anwesenden nicht recht war.
({0})
Unsere Partei befindet sich aber in einem Prozeß der Aufarbeitung der Geschichte. Da gehört es ganz einfach zu demokratischen Gepflogenheiten, daß sich jeder um ein politisches Amt bewerben kann. Das steht übrigens auch im Grundgesetz. Ich habe es gestern schon einmal zitiert. Ich erspare es mir jetzt; da sind Sie sicherlich alle kundig.
Es gab eine außerordentlich kritische Auseinandersetzung. Das nehmen Sie bitte einfach einmal zur Kenntnis. Falls Sie das nicht wahrhaben wollen, lade ich Sie recht herzlich zum nächsten Bundesparteitag in Magdeburg ein.
({1})
Ich besorge Ihnen auch eine Übernachtungsmöglichkeit. Sie können von mir aus in meinem Büro alles wahrnehmen.
Ich will Ihnen ganz offen sagen: Auch in der PDS findet eine kritische Aufarbeitung statt.
({2})
Ausdruck der kritischen Aufarbeitung ist auch der Gesetzentwurf, den wir heute eingebracht haben. Ich bitte Sie ganz einfach, diese Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und nicht ständig mit Unterstellungen zu arbeiten. Auch in dieser Partei gibt es das Bemühen, sich mit der Vergangenheit kritisch auseinanderzusetzen.
({3})
Schönen Dank.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Frau Brudlewsky.
Ich habe mich auf die Zeitung „Volksstimme" berufen, in der es stand; sie ist überparteilich und unabhängig.
({0})
- „Überparteilich, unabhängig" steht darüber, und das möchte ich den heutigen Zeitungen doch auch zugestehen.
({1})
Ich habe zur Kenntnis genommen - ich sage doch etwas Positives, nun hören Sie doch einmal zu! -, daß es kritisch aufgenommen und ausgewertet wurde und daß sich sehr viele dagegenstellten. Auch das habe ich gelesen und finde es gut. Aber man sollte die Konsequenzen wirklich ziehen und sich von solchen Leuten endlich trennen. Dann ist Ihre Partei auch wieder glaubwürdig.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerald Häfner. Irgendwie gehen die weiteren Diskussionen jetzt doch auf Kosten der Zeit von allen; also bitte!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich wäre der Meinung gewesen, daß dieses Thema eine längere Debatte vertragen hätte,
({0})
und dies nicht nur wegen des bevorstehenden Jahrestages der deutschen Einheit, sondern auch deshalb, weil ich meine, ein solcher Gesetzentwurf, wie er uns heute vorliegt, verdient, zu sehr viel besserer Zeit als am Freitag nachmittag vor leerem Hause erörtert zu werden.
({1})
Denn nur wenig ist lehrreicher im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit einer Diktatur, mit unserer gemeinsamen Vergangenheit, aber auch in bezug auf unser oft recht verschiedenes Demokratieverständnis als dieser Gesetzentwurf.
({2})
- Ich bedanke mich übrigens, meine Damen und Herren von der PDS, für den Beifall von Ihrer Seite. Aber Sie werden von jetzt an wenig Anlaß zum Klatschen haben. Mir geht nämlich bei Ihrem Gesetzentwurf wirklich der Hut hoch.
Ich will zuvor aber noch ein paar Worte zu Ihrem heute ebenfalls zur Debatte stehenden Antrag sagen. Von den Themen her ist darin meines Erachtens viel Richtiges angesprochen, etwa was die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern betrifft, was Arbeitsplätze, Mieten, das Problem der Rückgabe vor Entschädigung und vieles andere mehr angeht. Der Antrag liest sich allerdings wie ein Wunschzettel, und zwar ein völlig ungedeckter. Besonders sein Finanzierungsteil ist schlichtweg abenteuerlich. Ich empfehle den geschätzten Kollegen, die das noch nicht getan haben, wirklich, dies in humorgetränkten Stunden nachzulesen. Es ist ein Wunschzettel, der Machbares und überhaupt nicht Machbares völlig durcheinander einfach auflistet. So kann man keine Politik machen, und so tut man vor allen Dingen den Menschen in den neuen Bundesländern keinen Gefallen. Nötig sind vielmehr erstens die Wahrheit und zweitens konkrete realisierbare Vorschläge.
Noch schlimmer aber ist Ihr Gesetzentwurf zur Beendigung der Strafverfolgung usw., der uns heute vorliegt. Hier läßt die PDS tatsächlich plötzlich die Maske fallen.
({3})
Da ist mit der demokratischen Reputierlichkeit endgültig Schluß, der Lack blättert ab, und zum Vorschein kommt die häßliche Fratze der Parteigänger des alten totalitären Regimes.
({4})
Ich habe einen vergleichbaren Gesetzentwurf wirklich noch nicht gesehen. Ich finde, er ist ein starkes Stück.
Die Frage des Umgangs mit der Vergangenheit, gerade mit totalitärer Vergangenheit, ist für mich in eminentem Maße eine Demokratiefrage. Denn dabei geht es auch darum, ob wir aus den Fehlern lernen. Dies gilt z. B. für die Frage, wie es möglich war, daß Hunderttausende, Millionen in diesem System unterdrückt und terrorisiert, aber auch wie es möglich war, daß ebenso viele zu Bütteln des Systems werden konnten, mitgemacht und große Schuld auf sich geladen haben. Mir geht es nicht um Rache, es geht auch nicht um Vergeltung. Es geht nur darum, aufzuarbeiten, wie das geschehen ist
({5})
und warum es so war, damit so etwas in Zukunft nie mehr geschieht, damit endlich vielleicht auch mehr Zivilcourage möglich ist, damit Menschen widerstehen, wenn sie erneut zu Bütteln eines totalitären Systems gemacht werden.
Sie aber, meine Damen und Herren von der PDS, schlagen sich nicht auf die Seite des Rechtsstaats und der Demokratie, auch nicht auf die der Opfer,
({6})
sondern Sie schlagen sich auf die Seite der Täter. Sie stilisieren Täter zu Opfern und vergessen dabei die wirklichen Opfer. Hunderttausende haben in den Gefängnissen gesessen,
({7})
haben wirklich übelste Verfolgungsmaßnahmen und Bespitzelung erleiden müssen, haben ihren Beruf nicht ausüben können. Wo waren Sie denn da? Sie haben geschwiegen, Sie haben mitgemacht. Sie haben ja sogar ganz bewußt das Erbe der alten SED angetreten.
({8})
- Heute, Herr Zwerenz, fällt es Ihren Leuten leicht, sich hinzustellen und gegen „Verfolgung" anzugehen, wo es in Wahrheit um nichts anderes geht als um rechtsstaatliche Verfahren.
({9})
- Ich wußte, daß Sie laut werden würden. Aber das ist keine demokratische Methode. Sie haben sich in dieser Debatte mit dem Mittel der Kurzintervention ohnehin mehrfach die Gelegenheit verschafft, hier zu reden. Auch ich möchte jetzt reden können und bitte um Ihre Aufmerksamkeit.
Sie haben in diesem Gesetzentwurf geschrieben:
§ 1
({10}) Bürger der DDR, die in Ausübung hoheitlicher Aufgaben für die DDR und ihre Behörden tätig wurden, werden mit Inkrafttreten dieses Gesetzes für diese Tätigkeiten nicht mehr strafrechtlich verfolgt.
Darin ist alles enthalten: Darin ist der Mord enthalten,
({11})
darin ist der Stasi-Oberst enthalten oder der Wahlfälscher - ({12})
- Selbstverständlich! Soll ich Ihnen einmal sagen, welche Regelung Sie bei Mord vorgesehen haben? Der Mord, der von einem westdeutschen Agenten der DDR-Staatssicherheit hier im Westen begangen wurde, wird nach Ihrem Gesetzentwurf natürlich weiter verfolgt. Der Mord aber, der von einem Bürger der DDR im Auftrag der Staatssicherheit begangen
wurde, wird nach Ihrem Willen zukünftig straffrei gestellt.
({13})
- Das ist wirklich unglaublich, kompletter Irrsinn. Ein solcher Vorschlag auf dem Tisch dieses Hauses hätte es meines Erachtens verdient, hier zu bester Fernsehzeit erörtert zu werden,
({14})
damit allen einmal deutlich wird, welches Verhältnis zu Rechtsstaat und Demokratie und Gesetzen bei Teilen dieses Hauses vorliegt.
({15})
Es ist wirklich leicht, im DDR-System mitzuschwimmen und sich hinterher über angebliche Verfolgung wegen des eigenen Verhaltens zu beschweren. Sorgen Sie doch mit uns dafür, daß alle Verantwortlichen, Herr Gysi eingeschlossen, Gelegenheit haben, sich vor Gericht in einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren zu verantworten! Jeder hat dabei die Gelegenheit, seine Gesichtspunkte vorzutragen. Sorgen Sie dafür, daß vor allen Dingen die Opfer nun endlich zu ihrem Recht kommen und daß nicht in so unverschämter Weise, wie Sie das tun, die alten Täter zu Opfern stilisiert und die wahren Opfer dabei mit Füßen getreten werden!
Ich danke Ihnen.
({16})
Als letzter in dieser Debatte spricht der Abgeordnete Dr. Klaus Röhl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS hat einen Gesetzentwurf und einen Antrag eingebracht und erweist sich als echter SED-Nachfolger: Der Gesetzentwurf ist nichts weiter als ein Schutzbrief, ein Freibrief für Verfassungsbrecher, Rechtsbeuger, für Leute, die Todesurteile aus politischen Gründen verhängt haben,
({0})
für Menschenräuber, Gefangenenmißhändler, Mauerbauer, Mauermörder, Mandantenverräter, Wahlfälscher, für Leute, die staatliche Gelder verschoben und veruntreut haben, für Leute, die ein ganzes Volk jahrzehntelang eingesperrt, gepeinigt und unterdrückt haben,
({1})
für Leute, die ein ganzes Land in den wirtschaftlichen Ruin geführt haben, die Krieg und Aggression in anderen Ländern mit Waffen und Personal unterstützt haben, die mitgeholfen haben, sich vom Kommunismus befreiende Länder und Völker militärisch zu besetzen und zu unterdrücken.
({2})
Wir haben Budapest und Prag nicht vergessen!
Meine Damen und Herren von der PDS, wir bewilligen keinen Freibrief für den verurteilten Wahlfälscher Modrow. Wir lassen KoKo-Ausplünderer und SED-Geldverschieber nicht ungeschoren davonkommen. Diesen Frei- und Schutzbrief stellen wir nicht aus.
({3})
Meine Damen und Herren, in einem Antrag zur Anpassung, Änderung und Ergänzung des Einigungsvertrages versucht die PDS, die Nachfolgepartei der SED, wie die Agitations- und Propagandaabteilung der SED bestehende Tatsachen, jedermann bekannte Umstände und Entwicklungen zu verdrehen und auf den Kopf zu stellen.
({4})
Hier, im Lande des Grundgesetzes, gilt die Unteilbarkeit der Grundrechte, hier sind sie unverrückbar. In Ihrer zusammengebrochenen DDR wurden sie gebrochen und zertreten. Hier gilt der Gleichheitsgrundsatz, hier besteht Chancengleichheit. In der DDR wurde Kaderauswahl nach SED-Gesichtspunkten getroffen.
({5})
Hier kann sich jeder frei politisch betätigen. Sie sitzen ja im Bundestag, in den Länderparlamenten und in kommunalen Gremien. In Ihrer DDR wurden politisch Andersdenkende verfolgt, ins Gefängnis geworfen. Bei Ihnen durften die Andersdenkenden und ihre Kinder nicht die Oberschulen und Universitäten besuchen.
({6})
Ihre DDR-Regierung, Ihre „führende Partei der Arbeiterklasse " hat die Wirtschaft der DDR ruiniert, die Betriebe schrottreif gefahren und lebensunfähig gemacht.
({7})
Die Bundesrepublik und ihre Bürger aus allen Teilen des Landes leisten die Transfers für den Wiederaufbau, für das Abfangen der hinterlassenen kaschierten Arbeitslosigkeit, für das Ankurbeln von Forschung und Entwicklung.
Die DDR hat die Städte und Dörfer, die Häuser und Wohnungen in einem katastrophalen Zustand hinterlassen. Wir setzen die Wohnungen und Städte wieder
5040 Deutscher Bundestag -.13. Wahlperiode Dr. Klaus Röhl
instand. Die DDR, die SED hat mit ihren Privilegierungsprinzipien das Rentenrecht entstellt und leere Kassen hinterlassen. Wir haben die Renten aus dem Keller geholt.
Wer hat denn die Bürger bei Nacht und Nebel von Haus und Hof vertrieben, die Betriebe enteignet? Wer hat die Mauer errichtet, die Menschen nicht mehr auf ihre Grundstücke gelassen, von den Grundstücken verjagt? Wer hat die Ursachen dafür geschaffen, daß redliche Erwerber jetzt Probleme haben? Wer hat denn Grundbesitz für verwerflich erklärt?
Wir versuchen den Ausgleich, wollen die Gerechtigkeit herstellen. Sie schüren nur Ressentiments, Vorurteile und Haß. Wir haben unbescholtene, stasifreie Angehörige von Volkspolizei und NVA in Polizei und Bundeswehr integriert.
Hier arbeiten die Gerichte nach Verfassung und Gesetzen. In der DDR wurde Recht nach Anweisung der SED-Bezirkssekretäre und nach den Richtlinien des Politbüros der SED gesprochen.
({8})
Wir lassen nicht zu, daß Täter des SED-Staates in Opfer verwandelt und die wahren Opfer verhöhnt werden.
({9})
Sie stellen sich als Retter dar und haben zu keiner Zeit konstruktiv mitgearbeitet. Ihre Parteimitglieder brüsten sich auf Ihren Parteitagen mit ihrer Stasitätigkeit.
Meine Damen und Herren, das Volk der DDR hat sich in einer friedlichen Revolution selbst befreit. Es hat die politische Clique der SED abgeschüttelt. Es hat 1990, am Jahrestag der Revolution von 1848, frei, gleich und geheim ein Parlament gewählt. Dieses frei und geheim gewählte Parlament hat mit dem Einigungsvertrag Recht gesetzt. Dieses Recht lassen wir uns nicht verdrehen, entstellen oder verfälschen.
Wir weisen den Antrag mit aller Entschiedenheit und Energie zurück.
({10})
Es besteht der Wunsch nach einer Kurzintervention. - Bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte anknüpfen an die Äußerung des Kollegen - es gibt ganz viele Anknüpfungspunkte, aber einer reicht mir in diesem Fall -, daß die Gerichte hier im Westen nach Verfassung und Gesetz arbeiten.
({0})
Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen - ich komme aus Westdeutschland und kenne diese Diskussion über lange Jahre -:
({1})
Ich bin durchaus der Auffassung, daß es in der DDR politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen gegeben hat und daß es insofern heute sicherlich einen Zuwachs an Rechtsstaatlichkeit gibt.
({2})
Das will ich Ihnen gerne zugestehen.
Aber wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß in diesem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland jahrelang Berufsverbote auf der Grundlage eines international höchst umstrittenen Radikalenerlasses verhängt worden sind?
({3})
Menschen, die lange Jahre als Berufsbeamte im Schuldienst waren, sind aus dem Schuldienst geworfen worden.
Wollen Sie bitte auch zur Kenntnis nehmen, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Politik der Bundesregierung endlich als das gegeißelt hat, was sie wirklich war: eine Menschenrechtsverletzung?
({4})
Das ist es, was mich an dieser Debatte so empört: Sie können recht haben in vielen Einschätzungen und können meinetwegen diese Meinung vertreten. Aber diese unsägliche Doppelmoral, die hier immer wieder an den Tag gelegt wird, finde ich persönlich unerträglich.
({5})
Ebenfalls zur Kurzintervention der Abgeordnete Gerald Häfner.
Es tut mir leid: Wenn mir hier Doppelmoral - ({0})
- Halten Sie doch bitte für einen Moment den Mund! Dieses Geschrei hier ist wirklich nicht der richtige Stil.
Wenn z. B. mir, der ich in dieser Debatte gesprochen habe, wegen der Berufsverbote hier Doppelmoral vorgehalten wird, dann fühle ich mich herausgefordert, Ihnen zu antworten. Ich habe in diesem Land, solange ich politisch tätig war, immer gegen Berufsverbote gekämpft. Ich frage mich aber: Mit welchem Recht legen Sie hier einen Gesetzentwurf
vor, der umgekehrt gegenüber allem, was an Unrecht in der ehemaligen DDR geschehen ist - dagegen sind die Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland wirklich ein Klacks -, konsequent schweigt?
({1})
Zu meiner Freude hat Herr Bierstedt wenigstens gerade noch Worte des Bedauerns gefunden. In Ihrem Antrag aber steht davon nicht ein Satz.
({2})
Ich vermute, Sie haben den Gesetzentwurf selbst nicht gelesen; denn es gibt ein paar Leute in Ihrer Gruppe, denen ich solch ein Machwerk einfach nicht zutraue.
Da steht z. B.:
Diese beiden deutschen Staaten besaßen eine zunehmend unterschiedliche und entgegengesetzte Staatsgewalt und Rechtsordnung.
Oder etwas weiter unten:
Es gab in beiden deutschen Staaten Bürger, die sich im Gegensatz zu dem Staat befanden, in dem sie lebten.
Später heißt es dann:
Auch in anderen Ländern der Erde hat es in den letzten zwei Jahrzehnten scharfe innere Konflikte gegeben.
Und dann fordern Sie den „Schlußstrich". Das ist alles, was Sie zu Staatsterror, zu Unterdrückung und Ermordung von Menschen zu sagen haben. Mehr nicht! Das macht mich wirklich wütend.
({3})
Wenn Sie noch einmal ohne jede Kritik am DDRTotalitarismus über „Berufsverbote" im Westen klagen, dann werde ich wieder wütend werden. Denn so geht es nicht. Reden Sie erst einmal dazu!
({4})
Ich lasse eine letzte, die wirklich letzte Kurzintervention zu, und zwar von dem Abgeordneten Steffen Tippach.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ja eigentlich ein Gemütsschaf, aber wenn sich mehrere Mitglieder dieses Hauses, die ja offensichtlich in der DDR recht gut ihre Karriere gestalten konnten, die es bis zur Akademie der Wissenschaften geschafft haben, die es geschafft haben, zu promovieren, die es geschafft haben, Diplomjuristen und Diplomökonomen zu werden,
({0})
hier hinstellen - im Unterschied zu ihnen konnte ich in der DDR weder Abitur machen noch studieren - und mir Handlangertum für Täter vorwerfen,
({1})
dann geht mir das einfach zu weit. Dann beweist das für mich einen „Mut zur Lücke" in bezug auf die eigene Vergangenheit, der für mich unerträglich ist und der erbärmlichen Opportunismus darstellt.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
({0})
- Lassen Sie mich doch zum Schluß kommen!
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/1823 und 13/2226 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Oktober 1995,13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.