Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/28/1995

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und eröffne die Sitzung. Die Fraktion der F.D.P. teilt mit, daß der Abgeordnete Dr. Wolfgang Gerhardt auf seine Mitgliedschaft im Regulierungsrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation verzichtet hat. Der Kollege Dr. Max Stadler wird daher als neues ordentliches Mitglied vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Damit ist der Kollege Dr. Max Stadler als ordentliches Mitglied des Regulierungsrates benannt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Aktuelle Schwierigkeiten des europäischen Einigungsprozesses und die Haltung der Bundesregierung ({0}) 2. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS: Sicherung der Aufgaben des Bundessozialhilfegesetzes bis zur Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung - Drucksache 13/2438 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Wolf ({2}), Simone Probst, Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kleine und mittlere Unternehmen stärken - Nachhaltiges Wirtschaften fördern - Drucksache 13/2436 4. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({3}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({4}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Verlängerung des Investitionsvorranggesetzes - Drucksachen 13/2242, 13/2275 Nr. 2, 13/2447 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({5}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksachen 13/1833, 13/ ... 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({6}), Halo Saibold, Gila Altmann ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhalt der freifließenden Donau zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksache 13/2435 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Gerhard Zwerenz, Heinrich Graf von Einsiedel, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS: Neue europäische Friedensordnung und deutsch-französische Nuklearkooperation - Drucksache 13/2439 8. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Keine Atomwaffentests durch China und Frankreich - Drucksache 13/2443 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Verwaltungsreform ist Staatsreform - Drucksache 13/2464 Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 3, Regierungserklärung zur 4. Weltfrauenkonferenz in Peking, zu dem ich gleich noch etwas sagen werde, und den Tagesordnungspunkt 9, Kindergesundheit und Umweltbelastungen, abzusetzen. Außerdem mache ich auf Änderungen von Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. September 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Gruppe der PDS: Arbeitsmarktpolitische Sofortmaßnahmen für 1996 - Drucksache 13/2263 Bei dem in der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21. September 1995 überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf entfällt die Mitberatung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Dienstrechtliches Begleitgesetz im Zusammenhang mit dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands ({8}) - Drucksache 13/2377 Sind Sie damit und mit den Änderungen der Tagesordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Wir verfahren so. Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich Ihnen noch folgendes mitteilen. Nach den Beschlüssen zur Parlamentsreform wird heute erstmals die Donnerstags-Debatte durchgeführt. Wir hatten uns vorgenommen, zu Beginn der heutigen Donnerstags-Debatte nach einer Regierungserklärung eine ausführliche Aussprache zu den Ergebnissen der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking und deren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Bedeutung für Deutschland durchzuführen. Mit Schreiben vom 27. September 1995 hat die Bundesregierung mitgeteilt, daß Frau Bundesministerin Nolte, die, wie Sie wissen, an dieser Konferenz teilgenommen hat, erkrankt ist. Deshalb haben wir dieses Thema von der heutigen Tagesordnung abgesetzt. ({9}) - Ja, von hier aus sollen die besten Genesungswünsche an die Bundesministerin Nolte ergehen. ({10}) - Herr Lattmann, ist es zur Tagesordnung? - Bitte.

Herbert Lattmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001292, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, nachdem heute verschiedene Änderungen unserer Arbeitsweise in Kraft treten, möchte ich, weil ich das aus der Tagesordnung nicht erkennen kann, fragen, wann denn die Mittagspause vorgesehen ist. ({0}) Ich möchte jedenfalls nicht erleben, daß ich Strafe bezahlen muß, weil ein besonders abgeordnetenfreundlicher Sitzungsleiter wie der Kollege Hirsch, dem die Präsenz möglicherweise nicht ausreicht, eine namentliche Abstimmung durchführt, während ich beim Essen bin. Da in den letzten Tagen so viele Vergleiche angestellt wurden, möchte ich bei dieser Gelegenheit doch einmal sagen: Es gibt wohl keinen Arbeitnehmer in Deutschland, der so lange arbeitet wie wir. ({1}) Der Stundenlohn, den wir bekommen, ist nach einer Aussage des Gewerkschaftsvorsitzenden Issen so, daß sich kein Facharbeiter dafür hergeben würde. Einen 16-Stunden-Tag ohne Mittagspause würde sich kein Arbeitnehmer in Deutschland gefallen lassen, und - ich bin es langsam leid, den Deppen der Nation zu spielen. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Lattmann, zu Ihrer Frage: Heute ist eine Mittagspause nicht vorgesehen. Wir haben uns bis zum Ende der Kernzeit um 13.40 Uhr eine möglichst große Präsenz gewünscht und dies auch miteinander vereinbart. Wir werden im Ältestenrat erörtern, ob wir zukünftig eine Mittagspause einführen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie Zusatzpunkt 2 auf: 4. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts - Drucksache 13/2440 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({0}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Lange, Klaus Kirschner, Rudolf Dreßler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reform des Sozialhilferechts - Drucksache 13/2442 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({1}) Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer ({2}), Marieluise Beck ({3}), Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Entlastung und Weiterentwicklung der Sozialhilfe - Drucksache 13/2437 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({4}) Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP2 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS Sicherung der Aufgaben des Bundessozialhilfegesetzes bis zur Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung - Drucksache 13/2438 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({5}) Innenausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache mit dem Bundesminister für Gesundheit, Herrn Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sozialhilfe bleibt neben den Sozialversicherungen und den Versorgungssystemen der Bundesrepublik Deutschland die dritte Säule des sozialen Netzes. Es bleibt bei einem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, einer großen sozialen Errungenschaft - übrigens Anfang der 60er Jahre von der CDU/CSU eingeführt. ({0}) Es wird, was auch immer in der Öffentlichkeit behauptet wird, keine linearen Kürzungen geben. Das Bedarfsdeckungsprinzip bleibt erhalten. Die Höhe der Sozialhilfe bleibt auch künftig so bemessen, daß damit ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird. Das Leistungsniveau der Sozialhilfe geht über das physische Existenzminimum hinaus und ermöglicht auch künftig die Teilhabe am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben. Meine Damen und Herren, ich möchte auch hier noch einmal die Debatte über die Sozialhilfe zum Anlaß nehmen, um vor dem falschen Schluß zu warnen, daß aus steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen oder steigenden Sozialhilfeausgaben auf die angebliche neue Armut in Deutschland geschlossen werden kann. Ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger, ein Drittel aller Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt, sind Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland, sind Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber, Ausländer, die in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Die Tatsache, daß wegen dieser Zuwanderung die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe gestiegen ist, ist Kennzeichen der Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung und nicht Kennzeichen einer neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Zwei Drittel aller Sozialhilfeausgaben sind Hilfen in Einrichtungen. Die Kosten in diesen Einrichtungen betragen wegen der hohen Qualität, wegen der umfassenden Versorgung monatlich 5 000 DM und mehr. Wer eine Einrichtung in Anspruch nimmt und zum Sozialamt geht, muß dies nicht wegen Einkommensarmut machen, sondern wegen der Höhe der Kosten in den Heimen. Man darf die steigenden Ausgaben für Hilfen in Behindertenwerkstätten und für Hilfen in Pflegeeinrichtungen nicht gegen die Politik ummünzen, daß dies Ausdruck einer neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland sei. ({2}) Meine Damen und Herren, die abenteuerlichste Definition stammt von der nationalen Armutskonferenz: Arm seien diejenigen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, deren Einkommen das Durchschnittseinkommen um 50 % unterschreitet. Nach dieser famosen Definition von Armut existierte in all den Ländern, in denen es ein niedriges Einkommensniveau und keine Einkommensstreuung gibt, keine Armut. Nach dieser Definition sind wir in Deutschland arm, und in Albanien und Kuba gibt es keine Armut. Deshalb darf eine solche Definition nicht die Grundlage für die Armut in der Bundesrepublik Deutschland sein. ({3}) Meine Damen und Herren, Sozialhilfe schafft nicht Armut, Sozialhilfe bekämpft und verhindert Armut. Deshalb wollen wir das Sozialhilferecht aufrechterhalten. ({4}) Ganz offensichtlich sieht auch die SPD das so. Denn in dem Antrag, den sie heute vorlegt, heißt es wörtlich: Zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung steht das BSHG nicht zur Disposition. Das heißt, meine Damen und Herren, auch Sie sind der Auffassung, daß Sozialhilfe gerade Armut verhindert und nicht Armut schafft. ({5}) Ich möchte einige Beispiele nennen, die unsere These, daß dies eine Reform mit Augenmaß ist, rechtfertigt. Erstens. Wer will denn in Deutschland etwas dagegen haben, daß die sozialhilferechtlichen Bedarfssätze in den nächsten Jahren nicht stärker steigen als die Nettolöhne der arbeitenden Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland? ({6}) Wer möchte etwas dagegen haben vor dem Hintergrund, daß die Sozialhilferegelsätze in den letzten zehn Jahren um beinahe 50 % und die Nettoeinkommen der arbeitenden Bevölkerung um 35 % gestiegen sind? Meine Damen und Herren, wenn wir die Akzeptanz der Sozialhilfe in der Bevölkerung aufrechterhalten wollen, müssen wir dafür Sorge tragen, daß die Sozialhilferegelsätze nicht stärker steigen als die Einkommen der arbeitenden Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. ({7}) Wenn wir das nicht tun, müßten im nächsten Jahr auf Grund der Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren die Sozialhilferegelsätze ab 1. Juli 1996 um 8 % gesteigert werden, während die Renten nächstes Jahr wahrscheinlich um 1 % steigen. Wer eine solche Entwicklung will, soll es hier sagen. Lieber Kollege Dreßler, bis vor einem halben Jahr waren wir in diesem Punkt völlig einer Meinung. Sie haben im „Focus" Nr. 50 von 1994 folgendes ausgeführt - ich kann das nur voll unterstreichen -: Weil es bei den Nettoeinkommen in den nächsten 10 Jahren keine Zuwächse geben wird, kann die Sozialhilfe nicht immer weiter nach dem Bedarfsdeckungsprinzip steigen. Es drängt sich auf, die Entwicklung der Sozialhilfe an den Nettolohn zu koppeln. Wir folgen nicht immer der SPD, aber wenn so etwas Vernünftiges zum Ausdruck gebracht wird, machen wir das zu unserem eigenen Vorschlag. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolf?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein. ({0}) Zweitens. Die Sozialhilfeämter werden immer stärker zur Vorschußkasse der Nation. 300 000 Sozialhilfeempfänger wären nicht nötig, wenn andere Sozialsysteme, insbesondere die Arbeitslosenversicherung, sofort nach der Antragstellung, wenn der Antrag dem Grunde nach begründet ist, mit Vorschüssen und schneller arbeiten würden. Wenn ein Antrag auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe gestellt wird, haben wir, da die Bearbeitung des Antrags einige Zeit dauert, die famose Situation, daß der Betreffende, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht selber sicherstellen kann, einen Sozialhilfeantrag stellen muß. Zwei Behörden arbeiten parallel, ermitteln den Bedarf, das Einkommen. Die ganze Bürokratie läuft, damit nach fünf oder sechs Monaten das Sozialamt vom Arbeitsamt, das dann so weit ist, die ausgezahlte Sozialhilfe erstattet bekommt. Meine Damen und Herren, diese Vorschußkassenfunktion der Sozialämter muß beendet werden. Das nutzt den Menschen und schafft weniger Bürokratie. ({1}) Drittens. Wer möchte etwas dagegen haben, daß die Pflegesätze in den Einrichtungen - sie machen zwei Drittel der Sozialhilfeausgaben aus - in den nächsten Jahren nicht stärker steigen als die Bruttolöhne in der Bundesrepublik Deutschland? Den Maßstab Bruttolöhne haben wir gewählt, damit die Personalkosten in diesen Einrichtungen einschließlich der Erhöhungen gewährleistet sind. Wir haben das gleiche Prinzip in der Gesundheitsreform für die Krankenhauspolitik gewählt. Vor drei Jahren wurde prognostiziert, daß dies die deutsche Krankenhauslandschaft zerschlagen und die hohe Qualität der Krankenhausversorgung in der Bundesrepublik Deutschland zerstören würde. Das Gegenteil ist passiert: Noch nie standen die Krankenhäuser wirtschaftlich und finanziell so gut da wie seit dieser Gesundheitsreform. 90 % der Krankenhäuser, die in roten Zahlen waren, sind jetzt in schwarzen Zahlen und haben Gewinne. Deshalb sind all die Anfeindungen, die Pflegesatzdeckelung führe in den Einrichtungen dazu, daß für Behinderte oder Pflegebedürftige nicht mehr das Notwendige getan werden könne, falsch. Wir können es uns nicht mehr leisten, daß Jahr für Jahr die Pflegesätze in Einrichtungen um 10 % oder 15 % steigen. ({2}) Deshalb war es höchste Zeit, daß wir die Pflegesätze an die Bruttolohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ankoppeln. Der vierte Punkt, einer der am meisten umstrittenen, ist die Hilfe zur Arbeit. Es geht hier um Menschen, um die sich sonst kein anderes System in der Bundesrepublik Deutschland kümmert, um Sozialhilfeempfänger, die bestimmte Handicaps haben. Sie werden deshalb von anderen Sozialsystemen auch in bezug auf eine Vermittlung nicht erfaßt, weil sie keine Hilfeempfänger mehr sind. Wir müssen hier einfach der Lebensrealität ins Auge sehen. Ein Sozialhilfeempfänger, der beim Arbeitsamt nicht mehr leistungsberechtigt ist, steht nicht im Mittelpunkt der Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes. Das ist ganz verständlich, weil angesichts der Knappheit des Gutes Arbeitsplatz seitens der Arbeitsämter natürlich in erster Linie diejenigen Menschen vermittelt werden, die Leistungsbezieher sind und die im Falle einer Vermittlung den Haushalt des Arbeitsamtes entlasten. Das ist die Lebensrealität. Deshalb haben wir mit dem Problem zu kämpfen, daß Sozialhilfeempfänger, die nicht mehr beim Arbeitsamt leistungsberechtigt sind, aus dem Blickfeld der Vermittlungsbemühungen verschwinden. Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen; irgend jemand muß sich um sie kümmern. Das sind nach dem Subsidiaritätsprinzip des Sozialhilferechts die Kommunen. ({3}) Wir können doch nicht sagen, daß wir, weil die Arbeitsämter sich nicht um sie kümmern wollen und die Kommunen ebenfalls ablehnen, es zu tun, diese Menschen allein lassen. Nein, wir müssen die Kommunen über die Hilfe zur Arbeit stärker in die Verantwortung für diese Menschen einbeziehen. ({4}) Es gibt 2,5 Millionen Sozialhilfeempfänger, die von der Sozialhilfe eine Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen. Es sind schon 2 Millionen Menschen aus diesem Empfängerkreis herausgerechnet worden, die aus unterschiedlichen Gründen - gesundheitliche Handicaps, Behinderung, fortgeschrittenes Alter, der Status als alleinerziehende Mutter - von vornherein für Hilfe zur Arbeit nicht in Frage kommen. Deshalb sage ich: Viele Sozialverbände sollen endlich damit aufhören, offensichtliche Unwahrheiten in der Bevölkerung zu verbreiten. Nie und nimmer hatten wir jemals die Absicht, einer alleinerziehenden Mutter zuzumuten, über das Sozialamt zur Arbeit gezwungen zu werden. Die Kindererziehung geht vor. Auch wenn es noch tausendmal behauptet wird, entgegne ich: Wir haben nicht vor, alleinerziehende Mütter über die Sozialhilfe zur Arbeit zu zwingen. ({5}) - Wer das behauptet, Herr Kirschner? An die 80 Wohlfahrtsorganisationen haben in der letzten Woche wieder bewußt die Unwahrheit verbreitet, indem sie gesagt haben: Der Seehofer hat vor, daß alleinerziehende Frauen vermittelt werden, daß bei Hilfen für die Kinder gekürzt wird, daß Familien bestraft werden. Meine Damen und Herren, ich versichere hier noch einmal vor der Öffentlichkeit: Kein Mensch hat vor, die Sozialhilfesätze für Kinder zu kürzen, kein Mensch hat vor, den Familien bei der Sozialhilfe etwas wegzunehmen, und kein Mensch hat vor, alleinerziehenden Müttern die Sozialhilfe zu versagen. Das ist die Realität. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Seehofer, zwei kurze Anmerkungen bzw. Fragen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Fragen.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Ihnen ist bekannt, daß die Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger in erster Linie damit zu tun hat, daß diese Bundesregierung Arbeitslosenhilfeempfänger aus der Arbeitslosenversicherung hinausgedrängt hat und dies in einem neuen Gesetzentwurf nochmals tun will? ({0}) Der Bund tut also nichts anderes, als sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ich frage Sie: Ist das nicht zutreffend?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine zweite Frage bezieht sich auf Ihre gerade gemachte Aussage in bezug auf die Zumutbarkeit einer Arbeit. Sind nicht auch schon nach dem jetzigen Gesetz Sozialhilfeempfänger zur Arbeit verpflichtet? Können nicht auch schon nach dem jetzigen Gesetz Kürzungen vorgenommen werden? Werden diese nicht auch schon vorgenommen? Zwingen Sie nicht durch das neue Gesetz, das eine fünfundzwanzigprozentige Kürzung vorschreibt und gleichzeitig zum Inhalt hat, es solle vermieden werden, daß Angehörige davon betroffen werden, die Sachbearbeiter hinsichtlich der Sozialhilfe zu gesetzeswidrigen oder schwierigen Entscheidungen, die sie gar nicht treffen können, einfach auf Grund der Tatsache, daß Sie hier ein schlechtes Gesetz vorlegen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Lieber Kollege Büttner, eine Diskussion in den letzten Wochen bis zu Ihrer Frage habe ich nie verstanden. Wenn schon heute Möglichkeiten im Gesetz stehen und wir diese Möglichkeiten als Angebot für die Kommunen erweitern, dann verstehe ich nicht, wie etwas, was schon heute möglich ist, von Ihnen immer als unsozial eingestuft wird. Wir machen nichts anderes, als das, was schon heute möglich ist, noch zu verfeinern und zu verbessern. ({0}) Ihre zweite Frage zur Arbeitslosenhilfe: Herr Kollege Büttner, ich würde mich nicht nach den vielen Falschmeldungen richten. Die Reform der Arbeitslosenhilfe, die wir vorhaben, verwirklicht den Grundsatz: Es ist besser, Arbeit statt Arbeitslosenhilfe zu bezahlen. Es wird nicht die Arbeitslosenhilfe gekürzt, sondern es werden die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für die Arbeitslosenhilfeempfänger so verbessert, daß ihnen Arbeit vermittelt werden kann. ({1}) Herr Kollege Büttner, daß die originäre Arbeitslosenhilfe, die heute gewährt wird, ohne daß auch nur ein einziger Beitrag in die Arbeitslosenversicherung gezahlt wurde, abgeschafft wird, halte ich für richtig. Wir antworten darauf so, daß die dadurch möglicherweise entstehende Belastung für die Kommunen durch eine Gegenfinanzierung, die wir gleichzeitig vorlegen, ausgeglichen wird. Wir machen keinen Verschiebebahnhof zwischen Bund und Kommunen, wie das von Ihnen immer behauptet wird. ({2}) Wenn es nur gelänge, aus dem Personenkreis von 500 000 Sozialhilfeempfängern, die ich genannt habe und die für die Vermittlungen in Frage kommen, 100 000 in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt zu bringen, dann würde das, auf den Freistaat Bayern bezogen, bedeuten, daß eine kreisfreie Stadt oder ein Landkreis im Schnitt 66 Sozialhilfeempfänger zu vermitteln hätte. Mir kann beim besten Willen keiner sagen, daß wir mit diesem Projekt Sozialhilfeämter zu Arbeitsämtern machen. Ich glaube, eine solche Größenordnung in Flächenstaaten ist eine zumutbare Aufgabe der Kommunen für Menschen, die ansonsten keine Hilfe mehr von anderen Sozialsystemen erfahren. ({3}) Ich wiederhole: 66 Menschen pro Stadt oder Landkreis in einem Flächenstaat wie Bayern. Viele Kommunen haben in den letzten Jahren Vorbildliches auf diesem Gebiet geleistet. Wir haben nach einer Umfrage des Deutschen Städtetages etwa 100 000 Fälle, die auf diesen Sektoren vermittelt wurden, entweder in den normalen Arbeitsmarkt oder in gemeinnützige Arbeiten. Unser Bestreben ist, aus den 100 000 vielleicht das Doppelte, vielleicht sogar 250 000, zu machen. Wenn uns dies gelänge, wäre es gemeinsam mit dem Langzeitarbeitsprogramm, das die Bundesregierung aufgelegt hat, immerhin eine zusätzliche Perspektive für 350 000 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Es kann doch nicht die einzige Perspektive für einen 27jährigen Sozialhilfeempfänger sein, daß er für den Rest seines Lebens Sozialhilfe bezieht. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, durch diese Maßnahmen wieder eine Brücke zum Arbeitsmarkt zu bauen. ({4}) Ich verstehe auch gar nicht, wieso die Kommunen dadurch zusätzlich finanziell belastet sein sollten. Wenn ein Arbeitgeber zwei Jahre lang Lohnkostenzuschüsse in Höhe der Sozialhilfe vom Sozialamt erhält und deshalb die Sozialhilfe entfällt, dann ist doch das Sozialamt nicht zusätzlich belastet. Vielmehr wird die Sozialhilfe, die normalerweise in zwei Jahren zu leisten gewesen wäre, genommen, um einem Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuß oder umgekehrt dem Arbeitnehmer einen Einarbeitungszuschuß zu zahlen, wenn die Höhe des Stundenlohnes ein Hindernis ist, um eine Brücke zum Arbeitsmarkt zu schlagen. Eine Qualifizierungsmaßnahme für einen Sozialhilfeempfänger wird eine Kommune naturgemäß nicht für jemanden durchführen, der 53 Jahre alt ist und anschließend in den Vorruhestand gehen wird, sondern für einen jüngeren Sozialhilfeempfänger. Alle Berechnungen, die wir von neutralen Instituten durchführen ließen, haben ergeben, daß sich bei einer Qualifizierungsmaßnahme die Sache für einen Sozialhilfeträger schon nach wenigen Monaten rechnet, daß es für ihn günstiger ist, den Menschen wieder Arbeit vermittelt zu haben, als jahrelang Sozialhilfe zu bezahlen. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Tauss?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß in der von Ihnen zitierten Studie des Städtetages die Städte sehr deutlich gemacht haben, daß die Kommunen bereits am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt sind, weitere Vermittlungen zu leisten, ({0}) und eben aus diesem Grunde eine weitere Vermittlung von Sozialhilfeempfängern in Tätigkeiten, die die Kommunen vermitteln, nicht möglich ist?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Wissen Sie, Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar. Es gibt in Berlin eine Sozialsenatorin, sie heißt Ingrid Stahmer. Wissen Sie, was Frau Stahmer zu diesem Teil des Gesetzentwurfes gesagt hat? Mehr Qualifizierung, Lohnkostenzuschuß und die Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern sind doch gut. Das hat sie im „Focus" Nr. 15/1995 gesagt. Frau Stahmer gehört der SPD an. Das beantwortet Ihre Frage. ({0}) Meine Damen und Herren, wir verpflichten die Städte und Gemeinden nicht. Aber wenn wir als Angebot auf der einen Seite die Hilfe zur Arbeit verstärken, das Instrumentarium verbreitern, dann ist es auf der anderen Seite gerechtfertigt, ja sogar zwingend, daß für den Fall einer Verweigerung von zumutbarer Arbeit die Sozialhilfe künftig um 25 % gekürzt wird. Das erfordert die Gerechtigkeit in unserem Lande. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daß soziale Rechte, für die Sozialdemokraten jahrzehntelang gekämpft haben, in Deutschland heute vielfach mißbraucht werden, daß es inzwischen Sozialhilfeempfänger in der dritten Generation gibt, daß Sozialhilfe plus Schwarzarbeit den Menschen heute vielfach besser ernährt als normale Erwerbsarbeit, auch diese Tatsachen lassen sich mit dem Hinweis auf Mißbrauch in anderen Bereichen - zum Beispiel bei der Vergabe von Subventionen - bestenfalls relativieren, nicht aber verdrängen. Es bleiben Tatsachen. So Ulrich Klose in seinem Wahlkreis zu Sozialhilfeempfängern der dritten Generation. ({0}) Wie bei allen Sozialsystemen so müssen wir auch bei der Sozialhilfe auf der einen Seite darauf achten, daß wir den Menschen eine Hilfe für ein menschenwürdiges Leben gewähren, auf der anderen Seite aber auf diejenigen achten, die mit ihrer Arbeit und Leistung das hohe Sozialhilfeniveau von heute überhaupt erst ermöglichen. Nur dann haben wir die Akzeptanz für die Sozialhilfe von heute. ({1}) Es wird immer gefragt: Wo sind denn die Arbeitsplätze? In der Bundesrepublik Deutschland erteilen wir jährlich zwischen 800 000 und 1 Million Arbeitserlaubnisse. Das sind alles Arbeitserlaubnisse an Ausländer, weil manche Arbeitsplätze nicht mit deutschen Arbeitskräften zu besetzen sind. Das betrifft z. B. die sozialen Dienstleistungsbereiche, Krankenhäuser, die Gastronomie, das Handwerk, das Baugewerbe und die Landwirtschaft. Meine Damen und Herren, ich behaupte nicht, daß es möglich wäre, diese 800 000 oder 1 Million Fälle Arbeitslosenhilfeempfänger oder Sozialhilfeempfänger umzupolen. Aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit bei uns im Lande muß es doch unsere gemeinsame Anstrengung sein, einen Teil dieser Arbeitserlaubnisse auf arbeitslose Sozialhilfeempfänger umzusteuern. ({2}) Wer möchte also etwas dagegen haben, daß die Regelsätze nicht stärker steigen als die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer? ({3}) Wer möchte etwas dagegen haben, daß die Pflegesätze in den Einrichtungen genauso stark steigen wie die Bruttolöhne? Wer möchte etwas dagegen haben, daß wir einerseits die Hilfe zur Arbeit verstärken und andererseits eine Sanktion vorsehen, wenn zumutbare Arbeit angeboten und abgelehnt wird? Wer kann als vernünftiger Mensch in dieser Republik etwas dagegen haben, daß wir die Beschäftigung von Behinderten in Behindertenwerkstätten künftig besser entlohnen, als dies in der Vergangenheit der Fall war? Das ist doch ein sinnvolles Anliegen. ({4}) Wer möchte etwas dagegen haben, daß wir in den neuen Ländern die Sozialhilfebestimmungen, die noch nicht an die im Westen angeglichen sind, jetzt so angleichen, daß wir auf diesem Feld davon sprechen können, die soziale und die innere Einheit Deutschlands zu vollenden? Auch das ist beim Blindengeld und beim Pflegegeld Bestandteil dieser Sozialhilfereform, mit der wir die Niveaus zwischen Ost und West angleichen. Wer möchte eigentlich gegen diese Reform mit Augenmaß etwas haben? Herr Kollege Büttner, Sie werden gleich wieder davon reden, daß die Bundesregierung die Lasten von der Arbeitslosenhilfe in Richtung Sozialhilfe verschiebt. ({5}) Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist fertig. In der Arbeitslosenhilfe werden dadurch Kosten eingespart, daß Arbeit bezahlt, nicht aber nur Arbeitslosenhilfe gezahlt wird. Das ist das große Projekt von Norbert Blüm. ({6}) Die originäre Arbeitslosenhilfe, die fortfällt, werden wir gegenfinanzieren. Dazu befinden wir uns innerhalb der Regierung in sehr guten Gesprächen. Natürlich bleibt es richtig, daß die wichtigste und beste Maßnahme ist, Sozialhilfebedürftigkeit von vornherein zu vermeiden. Da haben wir gerade in den letzten Monaten vieles geleistet. Ab dem nächsten Jahr werden die Kommunen durch die Einführung der Pflegeversicherung brutto um 11 Milliarden DM entlastet, weil die Pflegeversicherung die Kosten bei der Hilfe zur Pflege zum großen Teil übernimmt. Wir haben gemeinsam die steuerliche Freistellung des Existenzminimums und die Familienförderung beschlossen. Beides führt auch zu einer massiven Entlastung der Sozialhilfe. Gewerkschaften, Arbeitgeber und Bundesregierung haben ein Programm für Langzeitarbeitslose mit 3 Milliarden DM beschlossen, mit dem die Hoffnung und die Perspektive verbunden werden, daß wir 150 000 Arbeitslosenhilfe- und Arbeitslosengeldempfänger wieder dem Arbeitsmarkt zuführen können. Wir haben gesagt, daß wir im Herbst des nächsten Jahres eine Wohngeldnovelle vorlegen. Diese Bundesregierung macht also durch ganz konkrete Maßnahmen mit dem Grundsatz ernst: Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit ist besser, als Sozialhilfe zu bezahlen. Wer möchte etwas dagegen haben, daß wir das Lohnabstandsgebot im Bundessozialhilfegesetz klarer definieren? Wir wollen zwischen den unteren Einkommensgruppen und einem Sozialhilfehaushalt in der Bundesrepublik Deutschland einen Lohnabstand von 15 %. Ich glaube, es ist zwingend geboten, einen Unterschied zwischen der Höhe eines Erwerbseinkommens und der Höhe eines Sozialeinkommens in der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Wir halten 15 % für richtig. Die Verwirklichung der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und die höhere Familienförderung, die wir hier gemeinsam beschlossen haben, führen zur Einhaltung des Lohnabstandsgebots im Westen der Republik von 15 %. Deshalb müssen die Sozialverbände endlich einmal damit aufhören, den Eindruck zu vermitteln, das Lohnabstandsgebot von 15 % würde im nächsten Jahr zu Kürzungen bei Leistungen für Familien oder Kinder führen. Umgekehrt ist es richtig. Die Verstärkung der Familienförderung in der Bundesrepublik Deutschland, die jetzt beschlossen worden ist, führt dazu, daß diese 15 % in der Bundesrepublik Deutschland eingehalten werden. Überhaupt bin ich der Meinung, daß wir das Lohnabstandsgebot in der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie durch eine ordentliche Familienförderung zu gewährleisten haben. ({7}) Was die neuen Länder betrifft, so setzen wir das Lohnabstandsgebot ohnehin erst 1999 in Kraft. Auch da wird der Eindruck vermittelt, ab dem nächsten Jahr komme der soziale Kahlschlag. Wir haben das Jahr 1999 gewählt, weil wir der Überzeugung sind, im zusammenwachsenden Deutschland würde es keinen Sinn machen, in einem wichtigen Bereich ein in Ost und West unterschiedliches Recht 1996 in Kraft zu setzen. Da ist es besser, wir warten bis 1999 ab und setzen es dann für Gesamtdeutschland in Kraft, weil wir dann für Gesamtdeutschland eine gemeinsame Einkommens- und Verbrauchsstatistik haben. Soviel zum Lohnabstandsgebot. Kein vernünftiger Mensch kann etwas dagegen haben. Ich möchte Ihnen ersparen, all die Äußerungen aus der SPD zu zitieren, die dieses Lohnabstandsgebot im Kern begrüßen. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich folgendes sagen. Der Bund spart bei der Sozialhilfereform keine Mark. Die Sozialhilfereform dient dazu, das Sozialhilferecht in sich gerechter zu gestalten, die Sozialhilfe auf Dauer finanziell zu stabilisieren und damit zu ermöglichen, daß wir Menschen, die Hilfe brauchen, auf hohem Niveau diese Hilfe auch gewähren. Die Sozialhilfereform dient auch dazu, die Länder und Kommunen in Zukunft finanziell zu entlasten. Wer die Sozialhilfereform verhindert, trägt dazu bei, daß die Kommunen jährlich zwischen 2 und 3 Milliarden DM mehr belastet sind. Eine Verhinderung dieser Reform würde bedeuten, daß die Kommunen in den nächsten fünf Jahren bis zum Ende dieses Jahrhunderts in einer Größenordnung von 15 Milliarden DM mehr belastet werden. 15 Milliarden DM waren die Ausgaben für die gesamte Sozialhilfe Anfang der 80er Jahre.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Eichstädt-Bohlig?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ich wüßte gerne, ob Sie das Lohnabstandsgebot durch Senkung der Sozialhilfe oder durch Anhebung der Mindestlöhne realisieren wollen, und ich wüßte gerne, ob Sie einen Zusammenhang zwischen der Debatte, die wir heute führen, dem Beitrag, den Sie heute leisten, und der Diätendiskussion in der letzten Sitzungswoche sehen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Das zweite ist so unsachlich, daß wir es jetzt nicht wiederholen müssen. ({0}) Aber zum ersten. Ich habe doch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Einhaltung des Lohnabstandsgebots von 15 % in der Bundesrepublik durch eine stärkere Familienförderung und die steuerliche Freistellung des Existenzminimums gewährleistet ist. Denn diese beiden Maßnahmen führen dazu, daß jemand, der berufstätig ist, mehr Einkommen hat, und dazu, daß die Sozialhilfe entlastet wird. Damit vergrößert sich der Abstand zwischen einer Familie mit Erwerbseinkommen und einer Familie mit Sozialhilfeeinkommen. Ich darf noch einmal etwas zum Lohnabstandsgebot sagen, weil es immer als der soziale Kahlschlag bezeichnet wird; irgend jemand hat das jetzt „Sparhysterie" genannt. Das Lohnabstandsgebot definieren und praktizieren wir bei einer Familie mit fünf Köpfen, d. h. zwei Erwachsenen und drei Kindern, durch den Vergleich des Falles, daß die Familie in Arbeit in den unteren Einkommensgruppen wäre, mit dem Fall, daß sie Sozialhilfe beziehen würde. Diese „Modellfamilie" ist gemeinsam mit den Sozialdemokraten 1993 im Föderalen Konsolidierungsund Wachstumsprogramm vereinbart worden. An dieser Definition des Vergleichsfalles ändern wir überhaupt nichts. Wir ersetzen einen Betrag von derzeit bis zu 263 DM durch einen prozentualen Satz von 15 %. Jetzt stelle ich fest: Wenn man das mit den Sozialdemokraten macht, ist das ein Fortschritt in unserem deutschen Sozialstaat, und wenn man das gegen die Sozialdemokraten macht, ist das ein sozialer Kahlschlag. Neinsagen und Jammern scheint mittlerweile das politische Programm der Sozialdemokratie geworden zu sein. ({1}) Die einzigen Vorschläge, die im Kern wirklich von unseren abweichen, sind: Die Sozialdemokraten wollen, daß die Eingliederungshilfe für Behinderte künftig nicht mehr von der Sozialhilfe, sondern vom Bund bezahlt wird - ca. 13 Milliarden DM. Sie wollen, daß der Bund - obwohl sie beim Asylkompromiß anderes mit uns vereinbart haben - einen Teil der Lasten für die Bürgerkriegsflüchtlinge und die Asylbewerber übernimmt. Dann sind wir bei 15 Milliarden DM. ({2}) Die Sozialdemokraten wollen, daß die versicherungsfremden Leistungen nicht mehr von der Sozialversicherung bezahlt werden, sondern vom Bund - Minimum über 30 Milliarden DM. Ja, meine Damen und Herren, was soll man denn von Vorschlägen halten, die eine große Verschiebung von Beträgen in einer Größenordnung von 50 Milliarden DM vom Sozialsystem hin zum Bund wollen, ohne daß irgendein Finanzierungsvorschlag mitgeliefert wird? Was für mich das Wichtigste ist: Wenn Sie Finanzen nur herumschieben, helfen Sie den betroffenen Sozialhilfeempfängern in keiner Weise. Das ist für mich das Wichtigste. ({3}) Letzter Punkt. Ich habe schon gesagt, daß bei aller Notwendigkeit von Sozialansprüchen noch viel wichtiger ist, daß die Quelle, aus der alles finanziert wird, nämlich unsere Volkswirtschaft, sprudelt und daß wir darauf achten müssen, daß wir die Bereitschaft und die Akzeptanz bei der Bevölkerung erhalten, die mit ihrer Leistung und ihrer Arbeit erst ermöglicht, daß dieses hohe Sozialhilfeniveau von heute finanziert wird. Ich schließe mit einem Zitat des niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, SPD: Wir sollten offen sagen: Wir sind bei dem, was in dieser Gesellschaft zu verteilen ist, am Ende der Fahnenstange angekommen. Es kann nicht mehr um Zuwächse gehen, es geht nur noch um Konsolidierung. Genau dies tun wir. Wir stellen eine Balance zwischen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in unserem Lande und der Höhe der Sozialleistungen her. Es ist und bleibt nach wie vor die beste Sozialpolitik, wenn man auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der arbeitenden Bevölkerung und der Unternehmen Rücksicht nimmt. Deshalb ist diese Sozialhilfereform eine Voraussetzung, daß wir das hohe Sozialhilfeniveau in der Bundesrepublik Deutschland auch in der Zukunft finanzieren können. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Dr. Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Minister Seehofer, Sie haben eine erstaunliche Unsouveränität bewiesen, indem Sie auf die Frage der Präsidentin, ob Sie eine Zwischenfrage von mir zulassen würden, zunächst sehr engagiert untersucht haben, aus welDr. Winfried Wolf cher Kuchenschnitte des Raumes diese Frage kommt, um dann nein zu sagen, während Sie die anderen Fragen aber zugelassen haben. ({0}) Ich möchte in dem Zusammenhang drei Punkte anmerken: Erstens. Bei dem Punkt Soziales denkt natürlich jeder - im Hinblick auf die Regierungsbank - zunächst an den Herz-Jesu-Marxisten Norbert Blüm. Daß er nicht dazu spricht und Sie inzwischen dieses Ressort haben, macht, meine ich, das Klima in diesem Hause sehr deutlich. Man kann den Kollegen Blüm sehr hart kritisieren, weil er selber am Sozialabbau beteiligt war. Aber was aus Ihrer Rede den sozial Schwachen im Lande an Kälte entgegenschlägt, ist unaussprechlich und nicht mit der Tonart von Herrn Blüm vergleichbar. ({1}) Zweitens. Es gibt eine ganz einfache mathematische Erkenntnis: daß Prozentsätze und absolute Zahlen beachtliche Unterschiede darstellen. Sie operieren bei dem Verweis auf die Sozialhilfe immer mit Prozentsätzen. Wenn Sie davon sprechen, etwas sei um 10 oder 20 % angestiegen, ist das bei 500 oder 520 DM ein lächerlicher Betrag. Wenn Sie Prozentsätze bei hohen Einkommen, gar bei Gewinnen, gar bei unseren Diäten ansetzen, sind das riesige Beträge. Sie haben die Zwischenfrage der Kollegin der Grünen in bezug auf unsere Diäten abgetan. Ist es richtig, daß allein die Diätenerhöhung, die die Mehrheit des Hauses bisher genehmigt hat, in den Jahren 1995 und 1996 mit mehr als 1 500 DM das Dreifache dessen ausmacht, was ein Haushaltsvorstand an Sozialhilfe bekommt? Drittens. Wenn Sie in Ihrer Kritik die nationale Armutskonferenz, alle Wohlfahrtsverbände der pauschalen Lüge bezichtigt haben, sollten Sie dabei auch die Kirchen einschließen, die Ähnliches, Vergleichbares zur Sozialhilfe gesagt haben. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, möchten Sie replizieren?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat die Frau Abgeordnete Lange das Wort.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Seehofer, ich kann verstehen, daß Sie sauer sind. ({0}) Sie waren so zornig und erregt, daß eigentlich gar nicht so viel herübergekommen ist von dem, was Sie „Reform" nennen. ({1}) - Das mag vielleicht unterschiedlich gesehen werden. - Ich kann das aber verstehen. Da läßt man sich zunächst breitschlagen, ein Aufgabengebiet zu übernehmen, das im Gesundheitsministerium eigentlich nichts zu suchen hat. Ich gebe auch zu, daß es im Familienministerium nicht umbedingt sehr vernünftig angesiedelt war. Aber, ich glaube, Sie verfluchen manchmal den Tag, an dem Sie da zugestimmt haben; denn Sie haben sich wahrscheinlich nicht vorgestellt, wie schwierig und komplex dieses Gesetz ist - ein Meines Gesetz mit großen Auswirkungen. Insofern finde ich es gut, daß wir die Debatte damit anfangen können. Sie haben mit diesem Wort „Reform" natürlich große Hoffnungen geweckt. Jetzt sind Sie enttäuscht, daß über hundert Organisationen von Wohlfahrtsverbänden dagegen protestieren und sagen: Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück! Die zweite Enttäuschung kam vom Bundesrat: Auch er war von Ihrem Gesetz absolut nicht begeistert. ({2}) Das ist schon interessant. Vielleicht hätten Sie aus anderen Zeitungen zitieren müssen als nur immer aus dem „Focus". Der wird Ihnen dankbar sein; Sie müssen unheimlich viele Hefte kaufen. ({3}) Es gibt aber auch noch andere Zeitungen, die anderes aussagen. Reformhilfe, Bundessozialhilfegesetz, Sozialhilfe, das ist ein uraltes Thema. Hier im Parlament wurde das Gesetz vor rund 33 Jahren beschlossen, 1962. Es löste das Fürsorgerecht ab, das von 1924 war. Ich habe in dem Bundestagsprotokoll nachgelesen - das war sehr spannend -, was z. B. zum § 10 gesagt wurde; das empfehle ich der F.D.P. nachzulesen. ({4}) Es war auch sehr spannend, die Gründe nachzulesen, warum man einen Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe einräumte und warum man den bemerkenswerten Satz hineinschrieb, daß jeder, der in Not ist, Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben hat. Das ist ein Satz, der dieses Gesetz adelt, der so viel gute Wirkung gehabt hat und der es überhaupt erst ermöglicht hat, daß die Sozialhilfe ihre Aufgaben erfüllen konnte, obwohl diese sich völlig verändert haben. Der damalige Minister Schröder begründete, wie er sagte, „das Wesen staatlicher Verpflichtung zur Hilfe für die Notleidenden" mit einem Zitat von Lorenz von Stein: Not ist nicht bloß eine Gefahr, sondern sie ist eine Unfreiheit für den, der sie leidet. ({5}) Die landläufige Debatte, die wir seit Jahren erleben und - so sage ich - auch erleiden müssen, über den Sozialstaatsumbau - oder viel lieber: -abbau - läßt diesen Zusammenhang viel zu oft außer acht. Die Diskussion um Sozialhilfe, die Diskussion um das, was wir Menschen in Not geben wollen, ist alt, älter als dieses Gesetz. Schon immer ist sie schwergefallen. Schon vor 125 Jahren, als man den Vorläufer dieses Gesetzes einführte, stritt man sich darüber, wer wieviel und unter welchen Umständen erhalten sollte. In unsere Begriffe übersetzt, redete man vom Regelsatz, vom. Lohnabstandsgebot und davon, daß die Hilfe auf keinen Fall mehr sein dürfe, als der ärmste Arbeiter verdient, aber bitte mehr als zum nackten Überleben notwendig. Damals sagte man: Jemand, der Hilfe kriegt, soll wenigstens ein anständiges Begräbnis ausrichten können. Seit dieser Zeit streiten wir uns über die Höhe der Regelsätze, werden ganze Wissenschaftlergenerationen verbraucht, um herauszufinden, ob jemand 600 Gramm Reis oder 300 Gramm Nudeln und vielleicht eine Fahrradklingel und einen halben Kinobesuch erhalten soll oder ob es nicht lieber 500 Gramm Mehl und 250 Gramm Zucker sein sollen. Meine Damen und Herren, manchmal erscheint mir diese Debatte so absurd. Ich überlege oft, wieviel Geld in diesen Bereich gesteckt worden ist und was man damit in der Sozialhilfe hätte machen können. ({6}) Gerade in diesem Parlament hörten wir auch von diesem Pult sehr viel Mißliches, sehr viel Beschämendes, standen Fraktionssessel und Regierungsbank den Stammtischen bedenklich nahe. ({7}) Minister Seehofer war zunächst etwas vorsichtiger, auch ein bißchen geschickter, und hat betont, daß er die Mißbrauchsdebatte nicht fortsetzen wolle. ({8}) Aber mit dem, was wir heute gehört haben, Herr Seehofer, haben Sie Ihr Versprechen leider nicht eingelöst. Sehr viele falsche Versprechen und sehr viele falsche Botschaften sind eben von hier ausgegangen. ({9}) Ich will es mir ersparen - ich denke, das wird noch genug geschehen -, die Zahlen für die Sozialhilfe zu nennen. Aber ich denke, das, was Sie gesagt haben, muß noch einmal erläutert werden. Ich möchte deshalb die Vorurteile aufgreifen, die hier immer wieder produziert werden und die in der Bevölkerung so wenig Verständnis dafür wecken, daß wir dieses Sozialhilfegesetz in seinen Strukturen erhalten und ausbauen müssen. ({10}) Die erste falsche Botschaft, die immer kommt, ist, daß die Ausgabensteigerungen darauf beruhten, daß die Leistungen für den einzelnen so angestiegen seien, daß der einzelne soviel mehr bekomme. Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jahren waren die Ausgaben für die Sozialhilfe gedeckelt; die Erhöhungen sind unter der Preissteigerungsrate geblieben. Wir unterhalten uns heute über einen Betrag, der seit dem 1. Juli 526 DM im Monat beträgt. Das sind 17,50 DM pro Tag. Davon muß ein Sozialhilfeempfänger sein Essen, seinen Haushalt, seine Körperpflege bestreiten, davon müssen Reparaturen und Fahrkarten bezahlt werden, davon muß er vielleicht, wenn es gerade noch geht, ins Kino gehen können. Ich glaube, die Phantasie wird nicht übermäßig strapaziert, wenn man sich vorstellt, was man sich für 17,50 DM leisten kann. Dann reden wir darüber, ob das zuviel sei und ob die Sozialhilfeempfänger sich nicht auch ein bißchen an dem allgemeinen Sparprogramm beteiligen könnten. Wenn Ministerpräsident Schröder gesagt hat, daß es keine Zuwächse mehr zu verteilen gebe, dann fallen mir andere Bereiche ein, wo ich die Zuwächse herabschneiden könnte. Aber wo nichts vorhanden ist, Herr Seehofer, kann ich nichts mehr wegnehmen. ({11}) Falsche Botschaft Nummer zwei. Mit dem Lohnabstandsgebot wird immer herumgewedelt. Das fing damals an, als für das BSHG noch das Familienministerium zuständig war und als es darum ging, Einschneidungen in der Sozialhilfe vorzunehmen. Damals wurde uns pausenlos erzählt, daß das Lohnabstandsgebot nicht mehr eingehalten würde. Nachdem wir nachgefragt haben, auf welchen Erkenntnissen das beruhe, wurde schließlich eine Studie in Auftrag gegeben. Ich nehme an, daß Sie die Studie kennen. Sie beweist, daß das Abstandsgebot in der überwiegenden Zahl aller Fälle eingehalten wird und daß es nur in bestimmten Konstellationen bei Familien mit mehreren Kindern Überschneidungen gibt. ({12}) - Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage beantworten.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Sie gestatten keine, gut.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nur in diesen Fällen, in großen Familien, gab es Überschneidungen. Das - ich spreche einmal die ehemalige Familienministerin an - war im Sozialhilfegesetz gewollt, weil man der Meinung war, daß eine größere Familie nicht darunter leiden sollte, daß sie einen größeren Verbrauch hat. Deren Unterstützung wollte man nicht beschneiden und nicht vergleichen mit dem Einkommen eines Arbeiters, der in dieser Situation möglicherweise weniger hatte. Also, es gab Ausnahmen, die zugelassen waren. Hier muß ich vielleicht noch einmal etwas erklären: Sozialhilfe richtet sich nach dem Bedarf. Der Lohn richtet sich nach der Leistung. Da wird nicht danach gefragt, ob einer davon leben kann. Der Vergleich von Bedarf und Leistung ist immer schief. Wenn wir das aufheben wollen, wenn wir wirklich garantieren wollen, daß jeder mit seinem Lohn seine Familie selber über die Runden bringen kann, dann muß man das Augenmerk auf die Systeme richten, die es den unteren Einkommensbeziehern heute unmöglich machen, von ihrem eigenen Gehalt zu leben. ({0}) Herr Minister, Sie haben behauptet, daß die Löhne geringer gestiegen seien als die Regelsätze. Auch das ist immer wieder die gleiche falsche Botschaft. Sie ist halb falsch und halb richtig, aber halb falsch ist auch falsch. ({1}) Denn Sie nehmen den Zeitraum, der Ihnen angenehm ist. Im Zeitraum von 1980 bis 1993 stimmt es tatsächlich, daß die Löhne geringer gestiegen sind als die Sozialhilfe. Aber wenn Sie den Gesamtzeitraum von 1963 bis 1993 betrachten, dann ist es anders. Das hat auch seine Ursache. ({2}) Das liegt daran, daß sich die Sozialhilfe und die Löhne so weit auseinanderentwickelt haben, daß man dann versucht hat, das wieder auszugleichen, und höhere Steigungsraten für die Sozialhilfe vorsah. Trotzdem war die Steigerung der Sozialhilfeleistungen über den gesamten Zeitraum immer niedriger als die der Löhne. ({3}) Die nächste falsche Botschaft, die immer wieder verkündet wird, lautet: es lohne sich nicht mehr zu arbeiten. Damit wird suggeriert, als gäbe es eine Wahlfreiheit zwischen Sozialhilfe und Arbeit. ({4}) Herr Minister, Sie haben diesem Kapitel in Ihrem Entwurf sehr viele neue Regelungen gewidmet. Diese neuen Regelungen machen das Gesetz aber nicht besser. Sie wissen das auch. Sie wissen, daß die Sozialhilfeträger alles Mögliche tun, was in ihrer Macht steht, um Sozialhilfeempfängern wieder Arbeit zu vermitteln. Wieso reflektieren Sie nicht einmal, daß es bei vier Millionen Arbeitslosen, bei annähernd sechs Millionen fehlenden zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen dem Sozialamt nicht gelingen kann, was unseren Arbeitsämtern nicht gelingt: Menschen in Arbeit zu bringen und Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. ({5}) Es ist lachhaft, zu behaupten, die Sozialhilfeempfänger wären alle zu faul, ruhten sich in der sozialen Hängematte aus und man brauchte Sanktionen. ({6}) - Natürlich, es ist im Vorfeld diskutiert worden, wir bräuchten Sanktionen für die Leute, die nicht gewillt sind zu arbeiten. ({7}) Erstens ist es falsch, meine Damen und Herren; denn bereits heute steht im Gesetz, daß jeder erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger verpflichtet ist, jede Arbeit - ich betone noch einmal: jede Arbeit! - anzunehmen. ({8}) - Sie wissen, daß die Zumutbarkeit in der Sozialhilfe weit unter der des AFG liegt. ({9}) Er muß fast alles nehmen, egal, ob es zwei Mark Stundenlohn sind, ob es Arbeit für wenige Stunden ist, egal, ob sie weit entfernt ist und ob sie seiner Qualifikation entspricht. Er ist in dieser Situation schutzlos. Ich denke, die eigentliche Absicht dabei ist, die Arbeitslosen nicht mehr an das Arbeitsamt abzugeben, sondern zu sagen: Sozialamt, mach Du das mal! Denn er hat dann nicht die Schutzrechte wie ein Arbeitsloser, der über das Arbeitsamt vermittelt wird. ({10}) Ganz abgesehen davon, Herr Seehofer, steht auch heute bereits im Gesetz, daß derjenige, der Arbeit verweigert, keinen Anspruch - so heißt es wörtlich: keinen Anspruch! - auf Sozialhilfe hat. ({11}) - Das Schlimme ist, daß Sie das jetzt nicht begriffen haben. ({12}) Wenn Sie verlangen, daß um 25 % gekürzt werden muß, dann hat der Sozialhilfeträger keine Möglichkeit mehr, danach zu sehen - was seine Aufgabe wäre -, wer darunter leidet, wer mit dem Betroffenen zusammenlebt und ob diese 25%ige Kürzung nicht seine Familienangehörigen schädigt. Damit Sie es vielleicht einmal verstehen, mache ich es plastisch: Wenn z. B. ein Familienvater, der Alkoholiker ist, die Arbeit verweigert und dann von der 25%igen Kürzung betroffen ist - das muß ja jetzt sein -, was glauben Sie denn, wer darunter leidet, er oder seine Kinder und seine Familie? ({13}) Und deswegen steht das im Gesetz. Haben Sie eigentlich den Satz 3 gestrichen, oder haben Sie ihn dringelassen? Denn dann widerspricht sich das. Entweder verlangen Sie ein Muß, dann können Sie den Satz 3 streichen, oder Sie nehmen das Muß heraus, und dann können Sie es so lassen. ({14}) - Darf ich weitermachen? ({15}) Es gibt eine nächste falsche Botschaft. - Herr Seehofer, mir geht es sehr um die Semantik dieses Gesetzes, weil nach draußen immer wieder der falsche Eindruck vermittelt oder der Boden bereitet wird, daß man da Kürzungen vornehmen könne. Sie reden von „Anreiz". „Anreiz" finde ich ja hervorragend. Anreiz heißt ja etwa: Du darfst freiwillig etwas tun; ich reize dich an, Arbeit zu tun. Ich sehe schon die blühenden Arbeitslandschaften. Die Sozialhilfeempfänger brauchen bloß zu gucken, und dann können sie sagen: Ich nehme diesen Arbeitsplatz oder jenen. ({16}) Es ist hervorragend. Und wenn sie diesen freiwilligen Anreizen nicht folgen, dann werden sie sanktioniert. Macht das einen Sinn?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Lange, kommen Sie zum Schluß!

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie reden immer von dem Mißbrauch, und Sie haben jetzt wieder ein Zitat gebracht. Herr Minister, Mißbrauch ist nirgendwo gut, aber im Vergleich zu wirklichem Mißbrauch sind das hier Peanuts. ({0}) Ich möchte hier auf den eigentlichen Mißbrauch hinweisen, der nicht sanktioniert wird: Es ist der Mißbrauch der Bundesregierung mit diesem Gesetz. ({1}) Sie haben dieses Gesetz zu einem Reparaturbetrieb verkommen lassen, indem für Notlagen keine Gesetze geschaffen wurden oder die vorhandenen Gesetze verschlechtert wurden. Sie haben zugelassen, daß die Sozialhilfe zum Ausfallbürgen wurde, wenn andere vorrangige Leistungen nicht vorhanden waren. Sie haben das Sozialhilfegesetz als Verschiebebahnhof genutzt, und Sie haben das weiter vor. Herr Blüm muß über 3 Milliarden DM einsparen. Sie dürfen mal raten, wo die ankommen. Bei den Kommunen! Ich bitte Sie, und ich fordere Sie auf: ({2}) Ziehen Sie dieses Gesetz zurück! ({3}) Schauen Sie nach den Ursachen, verbinden Sie es mit einer Modernisierung! Wenn Sie an die Ursachen nicht herangehen, werden Sie weder den Betroffenen noch den Kommunen noch den Wohlfahrtverbänden hellen. Wir warten auf eine echte Verbesserung. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es heute morgen wieder gehört: Die Sozialhilfe ist offensichtlich der Problemfall des Sozialstaats. Herr Minister Seehofer, Sie haben uns ausführlich und treuherzig versichert, wie sehr Ihnen der Ausbau und der Erhalt dieses Systems am Herzen liege. Sie machen das so intensiv, daß Sie die Sozialhilfe gleichsam vor sich selber retten: Sie rupfen und zausen sie so lange, bis sie nur noch als Gerippe übrigbleibt. Der Regierungsentwurf stellt sich nach meiner Meinung der eigentlichen Herausforderung nicht. Die Sozialhilfe und die vielen Menschen, die darauf angewiesen sind, teilen uns doch etwas darüber mit, was in dieser Gesellschaft los ist und was in dieser Gesellschaft schiefläuft. In diesem Entwurf aber wird es einfach nur als ein gesellschaftspolitischer Störfall, dem man mit finanzieller Schadensbegrenzung begegnen müsse, behandelt. ({0}) Andrea Fischer ({1}) Die Zunahme der Empfängerzahlen richtet die Frage an uns: Was ist da mit einem System passiert, von dem sich seine Schöpfer vor 30 Jahren gedacht hatten, mit diesem letzten Meinen Stück das soziale Netz abzurunden? Wenn da plötzlich Millionen Menschen hineinrutschen, muß da vorher etwas schiefgelaufen sein. Wieso stellen wir uns dieser Frage nicht? Statt dessen leistet Herr Seehofer den sozialpolitischen Offenbarungseid. Er stellt nämlich in der Begründung zu seinem Gesetzentwurf als erstes fest: „Der Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit ist kaum beeinflußbar. " Offensichtlich waltet hier die Macht des Schicksals. Die Regierung resigniert schon, bevor sie überhaupt anfängt zu reformieren. Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Zunahme der Empfängerzahlen ist ein Zeichen dafür, daß bei den Systemen der sozialen Sicherung offenkundig etwas nicht mehr stimmt, daß sie zu den veränderten Lebensformen und zur Erwerbskrise der letzten zehn Jahre nicht passen. ({2}) Jahre der Erwerbslosigkeit haben Menschen aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen lassen, die Bundesregierung hat das auch mit verschiedenen Kürzungen forciert. Die Ehe ist längst kein funktionierendes Sicherungssystem mehr. Der Kinderlastenausgleich - wir haben das in diesem Haus schon reichlich diskutiert - ist offensichtlich unzureichend, weswegen wir dort mit weitverbreiteter Armut zu tun haben. ({3}) Es ist überhaupt nicht tauglich, wie es Herr Seehofer heute morgen wieder versucht hat, Armut als Problem mit Definitionen - „man solle dieses und jenes nicht dazu sagen" - wegzureden. Es gibt diese Armut. Die Bundesregierung sollte aufhören, das zu leugnen. ({4}) Wir sollten die Provokation, die darin liegt, endlich annehmen, anstatt - wie es die Regierung tut - die alarmierenden Zahlen gegen die Betroffenen zu wenden, denn letztlich ist die Vermutung des Mißbrauchs ein Herzstück dieser Reform. Immer wieder kommen diese paar hunderttausend angeblich arbeitsfähigen, aber arbeitsunwilligen jungen Menschen in die Debatte. Nun sei es dahingestellt, wo Seehofer sie alle gefunden hat. Aber in der Studie des Deutschen Städtetages, über die wir uns hier schon mehrfach gestritten haben, ist zu lesen, daß ein Drittel der Kommunen davon berichtet, daß es viele Sozialhilfeempfänger gibt, die angebotene Arbeit verweigern. Ein beträchtlicher Teil der Kommunen berichtet in derselben Studie aber, daß sie gar nicht so viel Arbeit anbieten könnten, wie sie gerne wollten und wie die Sozialhilfeempfänger nachfragten. ({5}) Wenn man aber wie Herr Seehofer eher im Geiste der Armutspolizei darangeht, kann man diese Sache mit dem Angebot auch nicht ernsthaft unterbreiten. Sie sagen immer, Sie wollten Angebote machen, damit die Sozialhilfebedürftigkeit überwunden werden kann. Gleichzeitig wird immer davon geredet, sie nähmen es nicht an. Das ist die Botschaft „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt." Ich meine dagegen: Wenn man Angebote unterbreiten will, setzt das voraus, daß man den Adressaten dieses Angebots ernst nimmt. Ein Angebot macht man auf gleicher Augenhöhe. Dann muß man außerdem noch den Mangel an Jobs zur Kenntnis nehmen, die Sie da alle vermitteln wollen. Deswegen stellt sich die Frage: Geht das eigentlich alles, was Sie in Ihrer Reform da vorschlagen? ({6}) Die Städte und Gemeinden stöhnen seit langem unter der Last der Sozialhilfe. Sie denken, man könnte das retten mit noch mehr finanziellem und organisatorischem Engagement der Gemeinden, ({7}) obwohl die Sozialhilfeträger längst an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind. Zudem macht das meines Erachtens auch ordnungspolitisch nicht sehr viel Sinn. Wieso öffnen wir nicht das Arbeitsförderungsgesetz, so daß die kompetenten Institutionen, die kompetenten Behörden dafür zuständig sind, und unterstützen so die Leute beim Wiederfinden von Arbeit? Statt dessen behandeln Sie das Sozialhilferecht und das Instrument der Hilfe zur Arbeit als eine krude Mischung aus Disziplinierungsinstrument und Ausfallbürgen für den Rückzug aus aktiver Arbeitsförderungspolitik. ({8}) Meine Mängelliste ist allerdings noch länger. Noch einmal zu der leidigen Frage der linearen Kürzung: Sie sagen, es gibt sie nicht. Ich behaupte dagegen, daß der vorgesehene Mechanismus der Anpassung der Regelsätze ebenso wie die sogenannte Konkretisierung des Lohnabstandsgebotes letztlich zu einer systematischen Senkung des Leistungsniveaus führen. Wenn dem nicht so wäre, warum machen Sie es dann? Sie sprechen doch die ganze Zeit davon, daß diese Maßnahmen notwendig sind, um die Kostenentwicklung zu bremsen. Sie können nicht behaupten, daß das nicht zu Kürzungen führt; denn sonst wäre ja der Sinn der ganzen Operation weg. Ich finde, daß das brisant ist und man deswegen vorsichtig sein muß. Der eigentliche Sinn der Sozialhilfe ist doch genau der, einzugreifen, wenn das Einkommen aus vorgelagerten Systemen oder aus Erwerbstätigkeit nicht reicht für ein menschenwürdiges Leben. Diesen Sinn muß die Sozialhilfe behalten. Deswegen muß sie nach anderen Kriterien gestaltet sein als die Einkommen auf dem Arbeitsmarkt. Andrea Fischer ({9}) Herr Seehofer, Sie rechtfertigen die Tiefe dieses Schnitts mit der Kostenentwicklung. Der Gesetzentwurf spricht davon, daß die Ausgabenentwicklung dramatisch sei. In den letzten 13 Jahren - sprich: zwischen 1980 und 1993 - seien die Ausgaben für die Sozialhilfe um 290 % gestiegen. Das allerdings ist eine wirklich eindrückliche Zahl. Dann haben vor ein paar Wochen die Wohlfahrtsverbände gesagt: Herr Seehofer, die Zahl stimmt so nicht, das haut so nicht hin. Daraufhin habe ich eine Kleine Anfrage an das Haus Seehofer gerichtet, und siehe da: In der Antwort, die vor einigen Tagen gekommen ist, war folgendes zu lesen: Wenn man die Ausgabenentwicklung in diesem Zeitraum von 13 Jahren preisbereinigt, dann sinkt die dramatische Zahl von 290 % auf 184 %. Das ist immer noch viel, zweifelsohne. Aber warum schreiben Sie nicht diese, sondern die höhere Zahl in Ihren Gesetzentwurf? Aber es kommt noch besser: Im selben Zeitraum - das steht in der Antwort auf die Kleine Anfrage aus dem Hause Seehofer, das sagt nicht einer der von Ihnen inzwischen so gehaßten Wohlfahrtsverbände - sind die Pro-Kopf-Ausgaben, die Ausgaben pro Sozialhilfeempfänger, um ganze 7 % gestiegen. Und da wollen Sie uns erzählen, wir geben zu viel für Sozialhilfeempfänger aus? Wir müssen das Signal wahrnehmen, daß es so viele Menschen gibt, die Sozialhilfe beziehen. Da stimmt etwas nicht. Wir geben nicht zu viel für den Einzelnen aus, sondern zu viele Menschen sind inzwischen auf dieses System verwiesen. Das ist nicht der Fehler dieser Menschen, sondern der Fehler einer Politik, die versäumt hat, rechtzeitig den Sozialstaat zu renovieren. ({10}) Auf den ersten Blick denkt die unbefangene Leserin dieses Gesetzentwurfes, es handele sich um eine Petitesse. In § 10 wird einfach von „die freien Wohlfahrtsverbände und die andern Träger" gesprochen. Damit werden die Wohlfahrtsverbände und die anderen Träger gleichgestellt. In Wahrheit handelt es sich bei diesen drei Wörtern, die in den § 10 eingefügt werden, urn einen der tiefsten Einschnitte, die man in unserem Sozialsystem machen kann. Ich hätte mir als Grüne nicht träumen lassen, daß ich einmal die Wohlfahrtsverbände gegen eine konservative Regierung verteidigen muß. ({11}) Aber das, was bei Ihnen so schick-modern klingt - man stellt sich vor: alle haben gleiche Marktchancen auf diesem Wohlfahrtsmarkt -, das ist tatsächlich der Abschied vom Subsidiaritätsprinzip. Der Vorrang der Träger der freien Wohlfahrtspflege ist ein ganz bedeutsamer Bestandteil eines Sozialsystems, das zur Grundlage hat, daß der Staat nicht für alles zuständig sei.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel? - Bitte.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Fischer, ist Ihnen bewußt, daß das Subsidiaritätsprinzip nur beinhaltet, daß der Staat nicht eigene, staatliche Einrichtungen bevorzugen sollte gegenüber den freigemeinnützigen? Die Ergänzung „und anderer Träger" meint ja keineswegs andere kommunale oder staatliche Träger, sondern zum einen Träger, die sowohl freigemeinnützig sein können, aber nicht bei den freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden organisiert sind, und zum anderen gewerbliche Träger. Was haben Sie mit Ihrem Verständnis des freien Zugangs zu sozialen Einrichtungen eigentlich dagegen, diese Regelung zu erweitern?

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Selbstverständlich teile ich Ihre Auffassung, daß „Subsidiaritätsprinzip" zunächst einmal nur heißt, daß der Staat nicht für alles zuständig ist, sondern dies an andere Träger übergibt. Ich bin allerdings - anders als Sie - der Auffassung, daß die Träger der freien Wohlfahrtspflege eine besondere Konstruktion sind, die sie von dem unterscheidet, was privatgewerbliche Anbieter in der sozialen Fürsorge im weitesten Sinne leisten. Deswegen muß man den Trägern der freien Wohlfahrtspflege auch die Bedingungen schaffen, daß sie ihre besondere Funktion wahrnehmen können. Diese besondere Funktion ist auch die anwaltliche Vertretung der ganz Schwachen, die besondere Funktion ist, ein Netz für Ehrenamtlichkeit zu bieten, und die besondere Funktion der Träger der freien Wohlfahrtspflege besteht vor allen Dingen darin, auch Menschen zu versorgen, die aus eigener Kraft keine hohen Pflegesätze zahlen können. ({0}) Am Anfang, nach den Ankündigungen der Eckwerte, waren wir ja ganz optimistisch, daß es sich hier um wirkliche Verbesserungen für die Behinderten handeln würde. Von diesen Ankündigungen ist kaum etwas geblieben. Insbesondere, finde ich, ist es ein wirklicher Skandal, daß es immer noch keinen Arbeitnehmerstatus für die Behinderten in Werkstätten gibt und daß das angemessene Arbeitsentgelt auch noch nicht befriedigend geregelt ist. Aber es gibt noch etwas Schlimmeres dabei: Die Verbindung zwischen § 3 und § 93 schränkt das Recht der Behinderten drastisch ein, und zwar ihr Recht auf eine freie Entscheidung darüber, wie sie behandelt und untergebracht werden wollen. Das ist eine drastische Rücknahme der Rechte der Behinderten, die langfristige Folgen haben wird. Der Bundesgesundheitsminister hat eben auf seine guten Erfahrungen mit der Gesundheitsreform verwiesen. Die Deckelung von Pflegesätzen, die für Krankenhäuser Sinn machen mag, kann man nicht einfach ungeprüft für die Einrichtungen, in denen Andrea Fischer ({1}) Behinderte leben, übernehmen. Behinderte leben oft ihr Leben lang in Einrichtungen, und da muß man ganz besondere Maßstäbe anlegen, was die Qualität und die Betreuungsformen anbelangt. ({2}) Deswegen muß man sich überlegen, wie man das mit einer behutsamen Politik in den Griff bekommt. Ich verweise da noch einmal auf die Frage der Kosten und auf die Antwort aus dem Hause Seehofer auf meine Anfrage. In dem Gesetzentwurf heißt es, daß die Kosten in den Einrichtungen von 1980 bis 1993 um 208 % gestiegen sind. Wenn man diese Zahl preisbereinigt und pro Kopf der Hilfeempfänger nimmt, dann sind es nur noch 69 %. Gleichzeitig. hat sich aber in den Einrichtungen die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppelt. Das heißt: Der Pflegeaufwand in den Einrichtungen ist viel höher geworden. Das muß man doch berücksichtigen, bevor man sagt: Es ist alles viel zu teuer, wir können es uns nicht mehr leisten, die Behinderten anständig zu behandeln. Es wäre viel besser gewesen, man hätte sich mit den Trägern zusammengesetzt und die Erfahrungen mit den erst vor kurzem eingeführten prospektiven Pflegesätzen ausgewertet, um zu sehen, ob dies nicht auch weiterhin ein geeignetes Instrument gewesen wäre, Qualität und Wirtschaftlichkeit unter einen Hut zu bringen. Das Projekt Sozialhilfereform geht deswegen systematisch in die falsche Richtung, weil es die eigentliche Frage und die eigentliche Herausforderung, die darin liegt, nicht aufgegriffen hat. Statt dessen haben wir es damit zu tun, daß über eine Mißbrauchsdebatte und mit überzogenen Zahlen ein Problem konstruiert wird, um sich danach als der Reformer, der dieses Problem löst, präsentieren zu können. Wir müssen uns der Provokation stellen, daß es Millionen Sozialhilfebezieher gibt, was etwas darüber aussagt, was in den letzten Jahren schief gelaufen ist. Nach unserer Auffassung kommt man diesem Problem nur bei, indem man an die vorgelagerten Sicherungssysteme herangeht, d. h. die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung, den Kinderlastenausgleich, das Wohngeld, und diese Systeme so ausgestaltet, daß daraus eine bedarfsorientierte Grundsicherung wird. Dann kann man die Sozialhilfe zu ihren Ursprüngen zurückführen, nämlich in individuellen Notsituationen ein allerletztes Netz zu sein. ({3}) Eine bürgerrechtliche Armutspolitik zeichnet sich durch einen respektvollen Umgang mit den Sozialhilfebezieherinnen und -beziehern aus. Sie muß die Menschen als Subjekte ihres eigenen Handelns sehen. Dann ist die Aufgabe der Sozialhilfe das Brükkenbauen, die Unterstützung der vorhandenen Selbsthilfefähigkeiten und auch die Ermutigung. Das ist das Gegenteil davon, die Sozialhilfeempfänger, wie es oft geschieht, als hoffnungslose und zu teure Fälle zu sehen. Darauf kann man nur die phantasielose Antwort geben, daß man kürzt, wo immer es geht. Deswegen schlagen wir vor, den Entwurf zurückzuziehen und einen neuen Versuch zu machen. Das, was hier als die größte Sozialreform der Legislaturperiode angekündigt war, geht nicht in die richtige Richtung. Im Gegenteil: Hier verhält man sich, als stelle jemand bei Feueralarm den Feuermelder ab, anstatt das Feuer zu löschen. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hans-Eberhard Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Lange Herrn Seehofer auf den Kernbereich der Sozialhilfe und ihre Gestaltung aufmerksam gemacht hat und er in seinen Ausführungen erwähnt hat, daß insbesondere die Gemeinden entlastet werden müßten und dies im Zusammenhang mit der Politik der Bundesregierung gesehen werden müsse, wissen wir, zumal Sie im Einzelplan 11 die Arbeitslosenhilfe um 3,4 Milliarden DM senken, daß diese Kosten auf die Gemeinden und Städte zulaufen. Damit bringt die Bundesregierung die Manövrier- und Investitionsfähigkeit der Gemeinden sowie deren Fähigkeit zur Daseinsvorsorge an den Rand des K.o. Das heißt, die Bundesregierung wird dafür sorgen, daß durch ihre Politik insbesondere die Gemeinden an den Rand ihrer Existenzmöglichkeiten herankommen, während eine Einsparung überhaupt nicht erreicht wird. Der zweite Punkt: Es sollte Ihnen doch bekannt sein, daß insbesondere die Städte und die Länder Programme „Arbeit statt Sozialhilfe" fahren, in die vor allem junge Menschen einbezogen werden, damit sie von der Sozialhilfe herunter- und in die Arbeit hineinkommen. Allerdings können dies nur bescheidene Ansätze sein; denn das Grundübel, das diese Regierung nicht beseitigt, ist die Dauerarbeitslosigkeit von Millionen von Menschen. Wenn Sie nicht an dieses Problem herangehen, werden Sie nur an den Symptomen herumdoktern und das Grundübel nicht beseitigen. Das wäre Ihre eigentliche Aufgabe, der Sie als Bundesregierung sich widmen müßten. ({0}) Darum sage ich hier noch einmal: Wenn auf diesem Feld keine Aktivitäten erfolgen, werden wir uns immer in diesem Spannungsfeld befinden. Es werden dann die Ärmsten der Armen getroffen. Eine solche Politik gutzuheißen sollte eines Parlamentes unwürdig sein. Fragt man die Leute, die sich mit der Situation und Struktur der Arbeitlosigkeit beschäftiHans-Eberhard Urbaniak gen, dann sagen sie: Bei Ihrer Politik wird in diesem Jahrhundert keine Entlastung erfolgen. Das ist der Kernvorwurf, den wir Ihnen machen. Sie spalten damit die Gesellschaft. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste hat die Kollegin Dr. Babel das Wort.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Sozialhilferechts. Ich begrüße die Vorlage dieses Entwurfs. ({0}) Sie beruht auf der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und F.D.P. für die 13. Legislaturperiode. Dort haben wir schon festgehalten, daß das Ziel dieser Reform sein soll, Sozialhilfebedürftigkeit zu verhindern und neue Wege aus der Sozialhilfe zu eröffnen. ({1}) In der Koalitionsvereinbarung wird bereits deutlich, daß es uns in erster Linie darum geht, Sozialhilfeempfängern etwa durch konkrete Arbeitsangebote zur Selbständigkeit zu verhelfen und eine selbstverantwortete Lebensgestaltung zu ermöglichen. ({2}) Kosteneinsparungen sind nicht das Hauptmotiv, aber sie sollen auch angestrebt und erreicht werden. Der Bundesgesundheitsminister hat bereits im Frühjahr den Koalitionsfraktionen die Eckpunkte seines Entwurfs vorgelegt, und diese sind auch von den Koalitionspartnern angenommen worden. Die Eckpunkte sind jetzt umgesetzt, und die FDP-Fraktion trägt den Gesetzentwurf grundsätzlich mit. Wir sehen allerdings in einigen Punkten Änderungs- und Diskussionsbedarf. Meine Damen und Herren, die Entwicklung der Sozialhilfe in den letzten Jahren ist dadurch geprägt, daß sowohl die Zahl der Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt als auch die Kosten erheblich angestiegen sind. Befindet sich aber deswegen unsere Gesellschaft auf dem Weg in die Armut? Manche Äußerungen in der letzten Zeit könnten das nahelegen. Aber gerade bei der Sozialhilfe muß man genauer hinsehen. Die Ursachen für Sozialhilfebedürfigkeit sind vielfältig, so vielfältig wie die unterschiedlichen Personen, die Sozialhilfe beziehen. Lassen Sie uns einmal einen Blick auf diese unterschiedlichen Personengruppen werfen. 1993 gaben die Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt zu 30 % als Grund für die Abhängigkeit das Fehlen einer Erwerbstätigkeit, also das Fehlen einer bezahlten Arbeit, an. Diese Arbeitsuchenden sind nochmals aufzuteilen. Es sind Jugendliche, die auf Grund mangelnder schulischer und beruflicher Qualifikation keine Möglichkeit haben, in den regulären Arbeitsmarkt integriert zu werden. Es sind auch altere Menschen, die seit längerem aus der Erwerbstätigkeit herausgefallen sind und den Kontakt zur Arbeitswelt verloren haben. Immer mehr Familien, vor allem in Ballungsgebieten, werden zu Sozialhilfebeziehern, da sie auf Grund der hohen Mieten und den fehlenden bezahlbaren Wohnungen trotz eigenem Erwerbseinkommen zumindest ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen sind. Weiter gibt es die Gruppe der Älteren, den stationär pflegebedürftigen Menschen. Sie werden sozialhilfeabhängig, da sie die hohen Pflegekosten aus ihren Alterseinkünften nicht zahlen können. Für manche Menschen - darauf ist schon hingewiesen worden - ist die Sozialhilfe eine Art Durchgangsstation. Bei ihnen bestehen nämlich durchaus Ansprüche auf Leistungen, etwa nach dem Arbeitsförderungsgesetz oder dem Rentengesetz, aber es vergeht so viel Zeit, daß sie ohne Sozialhilfe in der Zwischenzeit verhungern müßten. Alleinerziehende, vor allem Frauen, können mangels Möglichkeiten zur Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten und werden deshalb zu Sozialhilfebeziehern. Hinzu kommt in vielen Fällen der Entzug der wirtschaftlichen Grundlage durch gescheiterte Familienbeziehungen wie Trennung und Scheidung. Schließlich gibt es arbeitsfähige junge Leute, die sich in der Sozialhilfe „häuslich" eingerichtet haben, vielleicht ergänzt durch gelegentliche Schwarzarbeit, und bei denen ein gewisser Schubs aus der Fürsorge in die Eigenversorgung guttut. Die öffentliche Diskussion über Sozialhilfe, die gerade in den letzten Monaten sehr polemisch geführt wurde, hat sich an diese notwendige differenzierte Betrachtung nicht gehalten. Es gab nur Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Die Reden, die hier gehalten worden sind, sind ein Beispiel dafür. Meine Damen und Herren, die Sozialhilfe - das haben neueste Untersuchungen ergeben - ist besser als ihr Ruf. Sie leistet in vielen Fällen wertvolle und wirksame Hilfe. Ihr Bezug ist in der Regel von kurzer Dauer und stellt für viele Bezieher eine wichtige Brückenfunktion zur Überwindung von Notlagen dar. Im gegliederten System der sozialen Sicherheit muß die Eigenverantwortung der Sozialhilfe erhalten bleiben, wenn man nicht, wie es die F.D.P. vorschlägt, in ein umfassendes Konzept wie das Bürgergeldsystem umsteigt. Erstes Ziel aller Bemühungen muß sein, den Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit zu verhindern. ({3}) Meine Damen und Herren, dies kann nicht allein die Sozialhilfe leisten. Dazu gehören auch andere Politikfelder: die Arbeitsmarkt-, die Familien-, die Steuer- und die Wohnungsbaupolitik. Sie sind besser miteinander zu verknüpfen. Die Koalition hat auch in dieser Legislaturperiode bereits einiges erreicht. Ich nenne einige Stichworte: die Steuerfreistellung des Existenzminimums und der deutlich verbesserte FamiDr. Gisela Babel lienleistungsausgleich. Dies wird sich ab 1996 auf das verfügbare Einkommen gerade in den unteren und mittleren Einkommensschichten auswirken. In vielen Fällen wird es dazu führen, daß Familien, die trotz Erwerbstätigkeit ergänzend Sozialhilfe bezogen haben, nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sein werden. ({4}) Das Lohnabstandsgebot wird durch diese Maßnahmen in diesen Feldern hergestellt, meine Damen und Herren. Insofern sage ich auch, daß wir die Problematik des Lohnabstandsgebotes in diesem Gesetzentwurf gar nicht mehr in den Vordergrund zu stellen brauchen. Wir haben heute schon einen Abstand von 16 % zwischen Sozialhilfe und dem Lohn. Ich halte das für gut, denn ich glaube, es ist in unserer Gesellschaft wichtig - das sage ich auch an die Adresse der SPD -, den Anreiz zu erhalten und zu fördern, durch eigene Erwerbstätigkeit für sich selbst zu sorgen und nicht auf Fürsorge angewiesen zu sein. ({5}) Die Maßnahmen der Koalition zur Schaffung von mehr preiswertem Wohnraum, vor allem für Familien, halte ich für ein ganz wichtiges Präventionsmittel bei der Frage der Sozialhilfebedürftigkeit. Der Mangel an Betreuungsmöglichkeiten für Kinder darf auch nicht länger zur Sozialhilfeabhängigkeit von Alleinerziehenden führen. Es ist daher nicht akzeptabel, daß der zum 1. Januar 1996 verankerte Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz verschoben oder aufgeweicht wird. ({6}) Die F.D.P.-Bundestagsfraktion lehnt die vom Bundesrat geforderte Stichtagsregelung ab. Mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz steht und fällt die Neuregelung zum Schwangerschaftsabbruch. ({7}) Aber darüber hinaus das ist in diesem Zusammenhang wichtig - finden gerade auch alleinerziehende Mütter wieder zurück an ihren Arbeits- und Ausbildungsplatz und werden von der Sozialhilfe unabhängig. Stationäre Pflege wird spätestens mit der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung im Sommer 1996 nicht mehr regelmäßig zum Sozialhilfebezug führen. Nur noch in Ausnahmefällen werden das Alterseinkommen und die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, um Sozialhilfebezug zu verhindern. Eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung des Sozialhilfebezugs ist sicher auch eine Wirtschaftspolitik, die Investoren in Deutschland ermutigt, Arbeitsplätze zu schaffen, und die dazu führt, daß wir insgesamt die Arbeitsmarktsituation etwas verbessern können. Meine Damen und Herren, ich komme nun zur Prävention im Sozialhilferecht selbst. Der Gesetzentwurf sieht vor, daß zukünftig rückständige Mieten von der Sozialhilfe übernommen werden, wenn sonst Wohnungslosigkeit droht. Es ist vorgesehen, daß Räumungsklagen, die vor dem Amtsgericht landen, den Sozialhilfeträgern mitgeteilt werden, damit sie sozusagen präventiv einsteigen können, bevor es zur Katastrophe kommt. ({8}) Das ist sehr sinnvoll. Ebenso sinnvoll ist es, daß die 400 000 Personen, die heute nur vorübergehend in der Sozialhilfe sozusagen einen Parkplatz haben, um in den Leistungsbezug zu kommen, in Zukunft schneller zu ihren eigentlichen Leistungsbezügen aus der Arbeitslosenoder Rentenversicherung kommen. Wenn wir davon ausgehen können, daß dann 80 % von diesen 400 000 aus der Sozialhilfe herausfallen, halte ich das für eine sehr wirksame und gute Maßnahme. ({9}) Einer der Schwerpunkte des Entwurfs ist auch ausdrücklich die Verbesserung der Instrumentarien zur Förderung der Arbeitsaufnahme schwer vermittelbarer Sozialhilfeempfänger. Hier denken wir an Zuschüsse, an befristete Lohnkosten- und Einarbeitungszuschüsse. Das soll der Sozialhilfeträger selbst organisieren oder mit dem Arbeitsamt zusammenarbeiten. Auch das ist sinnvoll, aber die F.D.P. hat darauf gedrungen und durchgesetzt, daß das in der Finanzierung sauber bleibt. Es kann nicht angehen, daß solche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf Kosten des Beitragszahlers zur Arbeitslosenversicherung gezahlt werden, d. h. die Tür zum Arbeitsamt geöffnet wird. Das muß in der Finanzierung getrennt bleiben. ({10}) Verweigert der arbeitslose Sozialhilfeempfänger zumutbare Arbeit, so sieht der Entwurf der Bundesregierung eine Kürzung des Regelsatzes um 25 % zwingend vor. Aus der vorher bestehenden Kann- ist eine Muß-Regelung geworden. Ich halte dies für gerechtfertigt, denn wir stellen dem Arbeitslosenhilfebezieher, der arbeitslos ist und dem Arbeit zugemutet werden kann, ein ganzes Instrumentarium von Fördermaßnahmen zur Verfügung. Verweigert er dennoch zumutbare Arbeit, so ist die Kürzung auch berechtigt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Beck?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte weiterkommen. Wichtig für diesen Bereich ist auch - das betone ich für die F.D.P. -, daß die Kosten der Qualifizierung von den Trägern der Sozialhilfe übernommen werden müssen. Aber auch hier wird eine langfristige Entlastung der Sozialhilfeträger erreicht werden, wenn es gelingt, Sozialhilfeempfängern, wie Jugendlichen, die sozusagen aus ihrem normalen Leben herausgefallen sind, die Drop-outs, mit Maßnahmen wieder eine Motivation zur Arbeit zu geben, damit sie im Grunde aus der Sozialhilfe herausfinden. Den Anstieg der Ausgaben zu bremsen ist ein weiteres Ziel. Bei diesen Sparmaßnahmen stehen wir positiv zu dem, was der Entwurf vorsieht, nämlich einer neuen Struktur der Regelsätze, angelehnt an Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Wir halten es ebenfalls für richtig, daß es bis zu dem Zeitpunkt, an dem die neue Erfassung greift, eine pauschale Angleichung an den Anstieg des Nettoarbeitsentgelts in den alten Bundesländern gibt. Richtig ist es auch, daß man einmalige Leistungen in der Sozialhilfe pauschaliert. Hier hat es eine ausufernde Rechtsprechung gegeben, die dazu führte, daß einmalige Leistungen sehr unterschiedlich gewährt werden. Ich glaube, es ist richtig, daß der Gesetzgeber mit einer Rechtsverordnung hier wieder Ordnung schafft. Und es ist ebenfalls richtig, daß wir versuchen, den Ausgabenanstieg in den Einrichtungen zu bremsen. Nur, ich weiß nicht, ob der Bundesgesundheitsminister gut beraten ist zu glauben, daß er mit Fallpauschalen hier dasselbe Ziel erreicht, das er im Krankenhausbereich zu Recht propagiert hat, wo eben gilt: Blinddarm ist gleich Blinddarm. Aber man kann nicht sagen: Behinderter ist gleich Behinderter. Wir werden in der Diskussion über diese Mechanik sicher noch einmal sprechen. Ich begrüße im Gegensatz zu den Grünen die Veränderung des j 10 Abs. 2 BSHG, wonach Sozialhilfeträger künftig auch mit anderen Trägern zusammenarbeiten können, mit privatgewerblichen und mit sonstigen, z. B. mit Selbsthilfegruppen. Wir sind der Meinung, daß es den Wettbewerb, das Kostenbewußtsein und wirtschaftliches Handeln unterstützt, wenn wir das tun. Ich verstehe die Aufregung über diese Änderung überhaupt nicht; denn an der Unterstützung, an der Vorzugsstellung der freien Wohlfahrtsverbände ist überhaupt nicht gerüttelt. Die Abs. 1, 3, 4 und 5 bleiben unverändert. Es wird nur die Möglichkeit einer solchen Zusammenarbeit vorgesehen, nämlich da, wo sie sich anbietet und wo sie sinnvoll und kostenwirksam ist. Wir haben hier nur nachvollzogen, was wir im Pflegegesetz schon gemacht haben und was wir in der zweiten Änderung des Heimgesetzes, die wir heute noch bereden werden, ebenfalls machen wollen, nämlich, daß der Wettbewerb durch Öffnung für privatgewerbliche Träger möglich wird. Ein letzter Punkt. Erhebliche Diskussionen haben die Änderungen der §§ 16 und 116 BSHG ausgelöst. Hier hat der Regierungsentwurf die Vermutung konkretisiert, daß wer in einer Wohngemeinschaft lebt, auch eine Hausgemeinschaft bildet. Das heißt, sie wirtschaften aus einem Topf, aus einem Kühlschrank. Die widerlegbare gesetzliche Vermutung, daß sich in einem Haushalt Angehörige in Notlagen helfen, soll also für alle Hausgemeinschaften, unabhängig von dem Verwandtschaftsgrad, gelten. Es ist sicher im Blick auf den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außerordentlich zweifelhaft, ob wir das so machen können. Allein auf Grund der gemeinsamen Nutzung von Wohnungen - Sie wissen ja, daß die Zahl von Wohngemeinschaften steigt - kann man nicht schon von Hilfegemeinschaften und von Hausgemeinschaften sprechen. Ich selbst halte diesen Eingriff für problematisch; es ist ein Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte. Besonders denke ich in diesem Zusammenhang auch an das Auskunftsrecht, das es in bezug auf den Arbeitgeber eines Mitbewohners geben soll, der sagen soll, wie hoch die Einkünfte sind. Ich glaube, so weit sollten wir nicht gehen. Wir werden diesen Paragraphen sicher noch einmal überarbeiten. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Das Sozialhilferecht bedarf der Reform. Der vorgelegte Regierungsentwurf enthält dazu außerordentlich brauchbare und richtige Vorschläge. Aber er läßt dem Parlament noch Raum für weitere Verbesserungen. Machen wir uns an die Arbeit. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte an das anknüpfen, was Frau Babel zum Schluß sagte - ich dachte, es käme gar nicht mehr -; es geht um den § 16 BSHG. Ich finde, daß er nicht nur aus Gründen der Verhältnismäßigkeit besonders problematisch ist. Er enthält ja zum einen die Beweislastumkehr für eheähnliche Lebensgemeinschaften. Grundsätzlich soll danach in Zukunft von der Vermutung ausgegangen werden, daß sich Angehörige solcher Gemeinschaften gegenseitig Unterhalt gewähren. Bislang mußte das Sozialamt ein gemeinsames Wirtschaften nachweisen. Aber der eigentliche Hammer liegt woanders. Sie beziehen damit erstmals schwule und lesbische Lebensgemeinschaften, wie alle übrigen Wohngemeinschaften, in die sozialrechtliche Subsidiarität ein. Dies halte ich für in keiner Weise hinnehmbar. Wir haben in der letzten Woche hier im Bundestag eine Diskussion zu später Stunde - wenige von Ihnen werden es mitbekommen haben - geführt über die Frage der Einbeziehung z. B. gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in das soziale Mietrecht. Da wurde mit Zähnen und Klauen daran festgehalten, daß hier nicht einmal die kleinstmögliche rechtliche Volker Beck ({0}) Änderung vorgenommen wird. Hier wollen Sie diese Lebensgemeinschaften in die Subsidiarität einbeziehen. Das ist das erste Mal, daß Sie solche Lebensgemeinschaften rechtlich zur Kenntnis nehmen, aber eben nur dort, wo es darum geht, daß auch sie zur Kasse gebeten werden. ({1}) Wir als Schwulen- und Lesbenbewegung haben immer gesagt: Wir sind bereit, die gleichen Pflichten zu übernehmen, wenn wir die gleichen Rechte bekommen. Solange Sie uns aber auch nur die kleinste rechtliche Anerkennung verweigern, ist diese Änderung nicht hinnehmbar. Wir fordern Sie von der F.D.P. auf, bei dieser Frage tatsächlich hart zu bleiben und nicht nur leicht zu überarbeiten, sondern diese Änderung rundweg zurückzuweisen. Solange die Koalition nicht in der Lage ist, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften wie auch nichteheliche Lebensgemeinschaften steuerrechtlich und zivilrechtlich angemessen anzuerkennen, kann es keine Einbeziehung in sozialrechtliche Regelungen geben, die zur Folge haben, daß diese Lebensgemeinschaften bisher geltende Ansprüche verlieren. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Dr. Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Babel und Herr Minister Seehofer, wissen Sie, was die Leute, die uns heute zuhören, auf die Palme bringt? Sie bringt auf die Palme, daß sie postwendend die Bestätigung dafür bekommen, was sie längst vermutet haben: daß wir Wasser predigen und Wein saufen. ({0}) Es ist erst eine Woche her, daß sich die Mehrheit dieses Hauses dafür ausgesprochen hat, die Diäten kräftig zu erhöhen. Und heute gehen Sie daran, die Sozialhilfe zu beschneiden. ({1}) Ich muß schon sagen: Ich finde es beschämend - das ist hier schon deutlich gesagt worden -, daß bei den Ärmsten der Armen um Pfennige gefeilscht wird und Sie sich selber mit Tausendmarkscheinen bedienen. Dieses Mißverhältnis müßten Sie den Leuten draußen einmal erklären. Das versteht kein Mensch mehr. Ich muß aber zugeben: Das ist nur die Spitze des berühmten Eisberges. Es ist Ausdruck skandalöser gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist ein exemplarisches Beispiel für die Situation, daß die Armut in diesem Land in gleichem Maße wächst, wie der Reichtum zunimmt. Seit 1980 haben sich die jährlichen Vermögenseinnahmen der Besserverdienenden mehr als verdoppelt und die Vermögen insgesamt fast verdreifacht. Seit 1993 haben Sie den Selbständigen und den Unternehmen dann noch 9,4 Milliarden DM an Steuern geschenkt. Welche Schlußfolgerung ziehen Sie daraus? Ihre Schlußfolgerung ist, daß man dann den Sozialhilfeempfängern dafür etwas wegnehmen kann. Seit Jahren wird von Ihnen eine geradezu hysterische Kampagne gegen Sozialmißbrauch geführt. Wenn diese Kampagne hier und da in der Öffentlichkeit auf offene Ohren trifft, dann nur deshalb, weil der wahre soziale Mißbrauch am Staatshaushalt im verborgenen blüht. Wer weiß denn schon, daß etwa drei Millionen Menschen regelmäßig ihre Mahlzeiten als Geschäftsausgaben von der Steuer absetzen? Wer weiß denn schon, daß der Mißbrauch von Geschäftswagen als Privatautos bald die gesamten Jahresaufwendungen für die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt aufwiegt? Wer weiß denn schon, daß dieses Land für seine Armen und Obdachlosen weniger zur Verfügung hat als für die Verlustabschreibung von Immobilienspekulanten? ({2}) Herr Minister Seehofer, wollen Sie angesichts solcher Relationen wirklich ernsthaft behaupten, wir seien am Ende der Fahnenstange angekommen, was die Verteilung sozialer Leistungen angeht? Das ist doch absolut unglaubwürdig. Herr Minister, wollen Sie sich angesichts solcher Relationen wirklich trauen, die Armutsdefinition der nationalen Armutskonferenz anzuzweifeln? Es ist nicht allein deren Definition; es ist auch die Definition des EG-Ministerrates. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Diese Definition hat - das finde ich richtig - das soziokulturelle Niveau hier in der Bundesrepublik zur Grundlage und nicht das in Afrika, in Kuba oder in Bangladesch. ({3}) Wir brauchen - das gebe ich gerne zu - dringend eine Reform der Sozialhilfe. Natürlich sind die Ausgaben für Sozialhilfe immens gestiegen. Aber wissen Sie auch, daß der Ausgabenanstieg pro Person seit 1980 in realer Kaufkraft gerechnet - das ist jetzt kein Vergleich von Äpfeln mit Birnen - ganze 0,2 % ausmacht? Auch das ist ein Grund dafür, daß die Sozialhilfe nicht einmal für das Nötigste ausreicht. Am 21. des Monats ist für viele schon der letzte Pfennig ausgegeben. Wir alle wissen auch, daß mit der geplanten Novelle noch mehr Menschen ein Leben in ärmlichsten Verhältnissen zugemutet wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzentwurf der Bundesregierung fällt in eine Zeit zunehmender sozialer Verunsicherung. Die Erwerbslosenzahlen bleiben auf dramatisch hohem Niveau. Die soziale Not nimmt vor allem bei sehr jungen Menschen zu. Kinderreichtum wird zu einem Armutsrisiko. Immer mehr Gruppen sind ausgegrenzt und geraten in gesellschaftliche Isolation. Die Sicherungssysteme versagen vor dieser Entwicklung zunehmend. Auch das ist ein Grund dafür, daß der Sozialhilfebedarf steigt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Knake-Werner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hannelore Rönsch?

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Selbstverständlich.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie zeichnen ein schlimmes Bild, auch über Empfänger von Sozialhilfe. Können Sie mir z. B. die Summen nennen, die eine Alleinerziehende mit zwei Kindern in - ich komme Ihnen entgegen - BerlinHellersdorf bekommt?

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich brauche Ihnen das nicht für Berlin-Hellersdorf zu sagen, sondern könnte Ihnen das auch für Bremen - von dorther komme ich, wie Sie möglicherweise noch nicht zur Kenntnis genommen haben - sagen. Ich kenne die Sozialhilfedebatte in diesem Lande, solange es die Sozialhilfe gibt. ({0}) Ich weiß sehr wohl, wieviel Sozialhilfe eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern bekommt. ({1}) Ihre eigene Studie - das will ich Ihnen auch sagen - hat bereits belegt, daß die Grundlage für die Berechnungen, die hier angestellt werden, nämlich die berühmte Fünf-Kopf-Familie, wie Herr Minister Seehofer sie nennt, unredlich ist. Sie ist einfach deshalb unredlich, weil Sie sehr wohl wissen, daß das ein absolut untypisches Beispiel ist, und auch wissen, ({2}) daß eine Familie mit einem Alleinverdiener und drei Kindern finanziell deshalb so schlecht ausgestattet ist, weil die Wohngeldregelungen und die Kindergeldregelungen schlecht sind. ({3}) Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß die Sozialhilfesätze zu hoch sind. Natürlich weiß ich, daß eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern - ({4}) - Ich habe gar nicht davon geredet, daß sie zu hoch sind. ({5}) Wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne fortfahren.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer?

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, jetzt würde ich gerne meine Rede fortsetzen, wenn Sie erlauben. ({0}) Minister Seehofer, ich habe Ihr demagogisches Zahlenspiel bereits zur Kenntnis nehmen dürfen und kann mir sehr gut denken, was Sie mir hier jetzt anzubieten hätten. Ich muß feststellen, daß wir es mit einer Entwicklung zu tun haben, in der Solidarität zunehmend der Ellenbogenmentalität unterlegen ist. Der vorgelegte Gesetzentwurf trägt dazu bei. Er bekämpft nicht die Ursachen von Sozialhilfebedürftigkeit. Zum wiederholten Male geht es darum, ausschließlich die Ausgaben für Sozialleistungen zu senken. Menschen kommen in diesem Entwurf nicht vor, höchstens als Kostenfaktoren, die nach unten korrigiert werden müssen. ({1}) Einen Systembruch werfen Ihnen die von Ihnen so wenig geschätzten sozialen Verbände vor und for-dem eine Rücknahme der Novelle. Mit ihrem Vorwurf des Systembruchs haben sie recht, denn Sie verabschieden sich einmal mehr aus Ihrer sozialstaatlichen Verantwortung. Sie wollen nicht die Defizite Ihrer Politik übernehmen. Immer häufiger lassen Sie die Folgen politischer Fehlentscheidungen andere ausbaden, z. B. die Länder, die Kommunen oder einzelne. ({2}) Die Sozialhilfenovelle widerspricht diesem Trend nur scheinbar; das wissen Sie genau. Herr Minister Seehofer, Sie versprechen den Kommunen eine Entlastung um 2,3 Milliarden DM, weil die Sozialhilfeausgaben verringert werden. Aber um welchen Preis geschieht das? Sie verdonnern die Kommunen dazu, daß sie arbeitsfähige Sozialhilfebezieher und Sozialhilfebezieherinnen in Arbeit bringen - fürwahr ein umwerfender Gedanke. Bei 6 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen sollen die Kommunen das fertigbringen, was der Arbeitsverwaltung zuvor nicht gelungen ist. ({3}) Sozialämter mutieren unter der Hand zu Arbeitsämtern zweiter Klasse. Das können Sie nun einmal nicht wegreden. Für die Beschaffung sozial sicherer und nicht nur kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse fehlt in diesem Gesetzentwurf jede Idee. Aber darum soll es ja auch gar nicht gehen. Es geht um die Ausweitung untertariflicher und prekärer Beschäftigung und um den verstärkten Einsatz bei sogenannten Pflicht- und Gemeinschaftsarbeiten gegen eine bescheidene Aufwandsentschädigung von 1,50 oder 3 DM. Zumutbarkeit spielt in Ihrem Gesetzentwurf keine Rolle mehr. Jeder muß jede Arbeit annehmen. Das geht alles natürlich nicht mehr freiwillig und auch nicht durch gutes Zureden. Drastische Senkungen sollen nachhelfen. ({4}) - Ich kann mir gut vorstellen, daß das nicht in Ihr Weltbild paßt, aber Sie müssen es einfach ertragen. ({5}) So wird, wenn es nach der Regierung geht, zukünftig die Ablehnung eines Arbeitsangebots mit einer 25%igen Kürzung des Sozialhilfesatzes bestraft. Das ist schon mehrfach gesagt worden. Wenn Sie Sozialhilfebezieher und Sozialhilfebezieherinnen wirklich in den Arbeitsmarkt eingliedern wollen, dann müssen Sie ihnen den Zugang zum AFG eröffnen und ihre Förderung durch die Arbeitsämter wollen. Wenn Sie den Kommunen mehr Spielräume für dezentrale Beschäftigungspolitik geben wollen, wofür ich sehr bin, dann müssen Sie ihre materielle und personelle Handlungsfähigkeit stärken. Selbst wenn den Kommunen eine Reduzierung der Sozialhilfeausgaben gelänge, erwartet sie mit dem Entwurf des Haushalts 1996 bereits eine neue Belastung. Den von Ihnen angekündigten Ausgleich dafür haben Sie bisher offensichtlich erfolgreich geheimgehalten. Eine Verlagerung der Aufgaben hin zum Bund, eine Stärkung der vorgelagerten sozialen Sicherungssysteme, eine intelligente Arbeitsmarktpolitik - das wäre im Interesse der Kommunen und im Interesse der betroffenen Menschen. Der Regierungsentwurf aber setzt eine Spirale von Lohnsenkung und Abbau von sozialen Errungenschaften in Gang, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist. Ich denke, das ist ein Grund dafür, daß fast alle namhaften Sozialverbände und -organisationen in einer an Deutlichkeit nicht zu überbietenden Erklärung die Rücknahme der Novelle gefordert haben. Daß Sie, Herr Minister, dieses Papier als Horrormeldung abtun, zeigt schon, wie weit Sie sich von der Lebensrealität der Menschen entfernt haben. Ich danke Ihnen. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Hannelore Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die zwei Rednerinnen von SPD und PDS konnten leider der Versuchung nicht widerstehen, mit Zahlen zu manipulieren. Oder sie kennen die Zahlen vielleicht nicht; ich nehme einmal letzteres an. Ich habe Sie gefragt, was eine Alleinerziehende z. B. in Berlin-Hellersdorf, Berlin-Marzahn, Berlin-Weißensee oder bei Ihnen in Bremen, woher Sie kommen, erhält. Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern hat eine Sozialhilfe von 2 043 DM zur Verfügung. Ist ein Kind unter drei Jahren vorhanden und erhält diese Alleinerziehende Erziehungsgeld, kommen weitere 600 DM hinzu. Ich denke, man muß diese Sätze einmal ganz deutlich aussprechen, um die Diskrepanz zwischen dem, was Sie hier an Armut und Elend dargestellt haben, und dem, was in unserem Sozialstaat geleistet wird, zu sehen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wollen Sie darauf antworten? - Bitte. ({0})

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kollegin Rönsch, ich weiß nicht so genau, was Sie mit diesen Zahlen sagen wollen. ({0}) Finden Sie es eigentlich nicht verwerflich, daß eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern mit dem Betrag, den Sie gerade genannt haben, also 2 030 DM, ({1}) immer noch unter dem durchschnittlichen Einkommen in dieser Gesellschaft liegt? Finden Sie es normal, daß eine Frau, die sozusagen gesellschaftlich notwendige Arbeit leistet, indem sie Kinder erzieht, nicht einmal die Chance hat, auf dem durchschnittlichen soziokulturellen Niveau dieser Gesellschaft zu leben? Ich finde das nicht normal, und ich finde es auch ganz schön zynisch, wenn ausgerechnet wir als Abgeordnete mit unseren Diäten hier mit solchen Zahlenspielereien manipulieren und demagogisch argumentieren. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich finde es verwerflich, daß jede dritte Alleinerziehende in der Bundesrepublik Deutschland vom Vater des Kindes oder der Kinder keinen Unterhalt erhält. Wenn wir uns hier einig sind, daß wir gemeinsam etwas tun müssen, komme ich Ihnen entgegen. Ich finde es aber eine erhebliche Leistung unseres Sozialstaates und unserer Solidargemeinschaft, daß diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, mit den Beträgen, die ich eben genannt habe, ausgestattet werden, um an unserer Gesellschaft insgesamt partizipieren zu können. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Eine Kurzintervention der Abgeordneten Frau Lehn.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Rönsch, ich finde es verwerflich, wenn ein Mitglied des Bundestages, von dem man annehmen darf, daß es ein wenig mehr Ahnung hat als diejenigen, die sich mit dem Thema überhaupt noch nicht beschäftigt haben, hier zu dem Mittel der völlig falschen Zahlendarstellung greift, nur um Stimmung zu machen. Das ist nicht in Ordnung. ({0}) Ich will Ihnen gerne sagen, an welchen Stellen Sie sich nicht nur irren, sondern auch Behauptungen aufstellen, die nicht haltbar sind. Eine Frau, die alleinerziehend ist und zwei Kinder hat, erhält nach den Regelsätzen knappe 1 200 DM. Eine solche Frau erhält zusätzlich Miete, und zwar in der Regel in der Größenordnung, in der Miete anfällt. Eine Frau oder eine Familie, die arbeiten geht und über Einkommen verfügt, und zwar über niedriges Einkommen, bekommt inzwischen mehr Kindergeld - dank der SPD -, ({1}) das aber bei der Sozialhilfe angerechnet wird, und zwar in voller Höhe, und hat die Möglichkeit, Wohngeld zu beantragen und zu erhalten. Ich sage zwar, das ist zu gering, aber gleichwohl gibt es diese Möglichkeit. Auch dies wird bei den Sozialhilfeempfängern in voller Höhe angerechnet. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Rückantwort, Frau Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, mich erstaunt Ihre Tonlage. ({0}) Ich kannte sie aus unserer Arbeit bisher nicht. Ein einfacher Blick in die Unterlagen oder ein Gang zum Sozialamt in Ihrem Wahlkreis ({1}) - vielleicht haben Sie keinen - wird die Zahlen, die ich Ihnen gerade genannt habe, bestätigen. Ich stimme Ihnen in einem zu: Die Miete in diesem Betrag ist pauschaliert. ({2}) - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Blick in die Unterlagen hätte dieses „Aha" eben unnötig gemacht. Die Sozialhilfe übernimmt die Miete eines Sozialhilfeempfängers komplett, wenn die Wohnung seiner Familiengröße entspricht. Wo wird bei einem normalen Lohn- oder Gehaltsempfänger die Miete komplett übernommen? In der Sozialhilfe ist dies aber der Fall. Ich würde Ihnen doch empfehlen: Gehen Sie in Ihren sozialdemokratisch regierten Kommunen einmal zum Leiter des Sozialamtes oder zu Ihren Bürgermeistern und Oberbürgermeistern. Fragen Sie sich dort schlau. Ich bin sicher, Sie stimmen dann hier im Parlament anders ab. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner der Abgeordnete Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute die umfassendste Reform der Sozialhilfe seit Schaffung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahr 1961. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß die Diskussion darüber kritisch geführt wird; schließlich geht es um das Schicksal von Hunderttausenden von bedürftigen Menschen in diesem Land. Ganz und gar nicht gut ist aber, daß diese Diskussion von manchen mit Argumenten geführt wird, die mit dem Gesetzentwurf nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. ({0}) Politische Auseinandersetzung: ja. Aber wir sollten das Gebot der Sachlichkeit einhalten und auch bedenken, welche Wirkungen von unserer Diskussion auf die Betroffenen ausgehen. Der Text des Gesetzentwurfs liegt vor. Jeder kann sich Punkt für Punkt damit auseinandersetzen, was wirklich verändert werden soll. Wer ein gerechtes Urteil fällt, wird zu der Schlußfolgerung kommen, daß dieser Reformentwurf maßvoll, ausgewogen und finanziell verantwortbar ist. Unser Ziel lautet: Wir wollen den Annen wirksam und verläßlich helfen. Gerade deshalb müssen wir verändern, damit erhalten bleiben kann, was erhalten bleiben soll. Wir wollen eine Anpassung des Sozialhilferechts an die geänderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. In der Tat haben sie sich seit 1961 dramatisch verändert. Aber in diesem Gesetzentwurf wird keine einzige Kürzung vorgeschlagen. Zu den Grundlagen dieses Gesetzentwurfs gehört, daß die Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes voll erhalten bleiben - ganz besonders das sich immer wieder in der Diskussion befindliche Prinzip der Nachrangigkeit. Was heißt Nachrangigkeit? Das heißt, daß die Sozialhilfe erst dann einspringen soll, wenn sich der einzelne und seine Familie nicht selbst helfen können und auch die Sozialversicherung und die anderen vorrangigen Leistungsträger ihnen nicht ausreichend helfen können. Wir, die Unionsparteien, waren es, die dieses Nachrangigkeitsprinzip 1961 geschaffen und in das Bundessozialhilfegesetz eingefügt haben. Deshalb, meine Damen und Herren von der Opposition, brauchen wir keinerlei Belehrungen darüber, daß die Sozialhilfe von Lasten befreit werden muß, für die sie nicht gedacht ist. Ich nenne die wichtigsten Punkte; denn wir reden nicht nur darüber, wir handeln danach. Ich nenne die Pflegeversicherung. Wenn im nächsten Jahr die zweite Stufe der Pflegeversicherung eingeführt wird, werden über 500 000 pflegebedürftige Menschen nicht länger auf die Sozialhilfe angewiesen sein. Das ist ein Riesenfortschritt: 11 Milliarden DM Entlastung für die Gemeinden. Ist das nichts? ({1}) Ich nenne die Reform des Familienleistungsausgleichs: Die Kindergelder werden ab dem nächsten Jahr massiv erhöht. ({2}) Zehntausende von Familien werden dann nicht länger wegen zu geringen Kindergeldes auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sein. Ich nenne das Asylbewerberleistungsgesetz. Es bewirkt eine Entlastung der Gemeinden in Höhe von über 300 Millionen DM. Ich nenne das Programm der Bundesregierung zum Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit. Bundesminister Seehofer hat es bereits gesagt: Ja, bei der beabsichtigten Reform der Arbeitslosenhilfe wird es zu zusätzlichen Belastungen der Gemeinden kommen. Aber wir werden uns dafür einsetzen und dafür sorgen, daß diese Belastungen voll kompensiert werden. ({3}) Wir wissen, was Nachrangigkeit der Sozialhilfe heißt. Nachrangigkeit, meine Damen und Herren von der Opposition, kann doch nicht bedeuten, die notwendigen Reformen im Sozialhilferecht zu unterlassen, die Kosten der Sozialhilfe ungezügelt steigen zu lassen und lediglich dem Bund immer tiefer in die Tasche greifen zu wollen. Das kann Nachrangigkeit doch nicht bedeuten. ({4}) Das sehen Ihre Vorschläge im Kern aber vor. ({5}) Zu welchen Blüten dieser Versuch führt, kann man nachvollziehen, wenn man sich den SPD-Antrag, der heute auch zur Debatte steht, genau anschaut. Da wird doch allen Ernstes vorgeschlagen, die Sozialhilfeträger sollten zur Beitragsleistung für arbeitslose Sozialhilfeempfänger an die Bundesanstalt für Arbeit verpflichtet werden - natürlich in der Erwartung, daß die Bundesanstalt für Arbeit dann die ganzen Kosten, die ganzen Ausgaben für arbeitslose Sozialhilfeempfänger übernimmt. ({6}) Hat denn die SPD-Fraktion, die sonst immer so sehr den Versicherungscharakter der Arbeitslosenversicherung betont und daraus zu Recht die Forderung ableitet, bestimmte Ausgaben nicht länger über den Versicherungsbeitrag zu finanzieren, den wichtigsten Grundsatz der Versicherung vergessen, nämlich daß ein Risiko nur dann versichert werden kann, wenn es nicht bereits eingetreten ist? ({7}) Das ist das eherne Prinzip jeder Versicherung. Bei arbeitslosen Sozialhilfeempfängern ist aber genau das Gegenteil der Fall: Hier ist der Versicherungsfall bereits eingetreten; das ist gerade der Grund für die Sozialhilfebedürftigkeit dieses Personenkreises. Nein, meine Damen und Herren von der Opposition, die Vorschläge sollten schon etwas durchdachter sein, als nur dem Bund tiefer in die Tasche greifen zu wollen. ({8}) Wir brauchen Reformen in der Sozialhilfe selbst. Wir müssen den Kostenauftrieb begrenzen. Denn - das wissen auch Sie; Professor Krupp hat das in seinem Aufsatz deutlich gemacht - zweistellige Steigerungsraten kann sich kein System auf Dauer leisten, wenn die Steigerungsraten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit allenfalls einstellig sind. Das betrifft ganz besonders die Kosten im Heimbereich. Dort sind die Kosten so stark angestiegen, daß man es nicht auf Dauer so weiterlaufen lassen kann. Deshalb schlagen wir eine vorübergehende Deckelung der Erhöhung der Pflegesätze für die Heime in Anlehnung an die Höhe der Bruttolohnsteigerungsraten für die nächsten Jahre vor. Das ist wahrhaftig ein maßvoller Vorschlag. Ergänzend soll in den Jahren danach dafür gesorgt werden, daß man sich nicht mehr vorrangig an den Kosten, sondern mehr an den Leistungen orientiert, die ein Heim erbringt. Auch das ist doch ein Vorschlag in die richtige Richtung, dient doch den wirtschaftlich arbeitenden und leistungsfähigen Heimen. Allein durch diese Maßnahmen wird die Sozialhilfe zusätzlich um 1 Milliarde DM jährlich entlastet. Das zweite Maßnahmenbündel: Durch die vorübergehende Anbindung der Regelsatzerhöhung an die Nettolohnentwicklung wird noch einmal ein Einsparvolumen von rund 1 Milliarde DM erzielt - allerdings immer nur im Verhältnis dazu, daß nichts geschehen wäre. Ich meine, daß diese beiden Maßnahmenbündel zur Verminderung des Kostenauftriebs vertretbar sind, zumal sie auf den Zeitraum bis 1998 begrenzt sind. Dem stehen nun aber erhebliche Verbesserungen gegenüber, um die wir Sozialpolitiker uns seit Jahren leider bisher vergeblich bemüht haben. Sie stehen jetzt neu in diesem Gesetz. Umbau des Sozialstaates, Sparen, um zu gestalten - das sind die Stichworte für eine moderne Sozialpolitik. Ich frage Sie: Wenn mit diesem Gesetzentwurf dafür gesorgt wird, daß über 300 000 Sozialhilfeempfänger nicht länger Sozialhilfeempfänger sind, weil die Arbeitsämter endlich die Arbeitslosengelder rechtzeitig auszahlen sollen, ist das ein Rückschritt, oder ist das ein Fortschritt? Ich sage, das ist ein erheblicher Fortschritt. ({9}) Wenn wir jetzt dafür sorgen, daß die Gemeinden zur Vermeidung von Obdachlosigkeit im Regelfall die rückständigen Mieten übernehmen, ist das ein Rückschritt, oder ist das ein Fortschritt? Ich sage, das ist ein deutlicher Fortschritt. ({10}) Kann denn jemand im Ernst bestreiten, daß es ein sehr großer Fortschritt ist, wenn die Rentner im Osten unseres Vaterlandes endlich den Mehrbedarfszuschlag bekommen, den die Rentner im Westen schon lange erhalten? 100 DM pro Monat mehr im Portemonnaie für einen Rentner im Osten, für einen Erwerbsunfähigen - achten Sie das gering? ({11}) Meine Damen und Herren, nur 1,50 DM betrug oft der Stundenlohn, den ein Behinderter in einer Behindertenwerkstätte bekam. Seit Jahren fordern die Behindertenverbände - wie ich meine, völlig zu Recht -, daß diesen Menschen Verbesserungen zuteil werden. Das tun wir jetzt. Fortschritt oder Rückschritt? Ich sage, das ist ein ganz großer Fortschritt. Ist es nicht wirklich ein großer Fortschritt für die Sozialhilfeempfänger, wenn durch eine neue Rechtsverordnung sichergestellt wird, daß man nicht mehr für jedes einzelne Hemd, nicht mehr für jeden einzelnen Mantel zum Sozialamt laufen muß, daß nicht jedesmal ein neuer Antrag, jedesmal eine neue Einzelfallprüfung erfolgen muß? Viel mehr als die mit großer Lautstärke vorgetragenen Forderungen zur Sozialhilfe dient dies der Würde und dem aufrechten Gang des Sozialhilfeempfängers. Das sind erhebliche Fortschritte. Das ist wichtig. ({12}) Der wichtigste Fortschritt bei der Sozialhilfereform sind die Brücken, die wir für arbeitslose Sozialhilfeempfänger neu in den Arbeitsmarkt bauen. Einarbeitungszuschüsse, Lohnkostenzuschüsse und Qualifikationsmaßnahmen sind das Herzstück der Sozialhilfereform. Die Studien von Leibfried aus Bremen zeigen, daß das Vorurteil vom arbeitsunwilligen Sozialhilfeempfänger falsch ist. Gerade deshalb ist es notwendig, den arbeitslosen Sozialhilfeempfängern alle Chance zu geben, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Dagegen den Einwand zu erheben, es gäbe nicht genügend Arbeitsplätze, ist geradezu zynisch. Natürlich sind die Arbeitsplätze knapp, aber was folgt denn daraus? Soll das heißen, daß sich die Sozialhilfeempfänger im Kampf um die knappen Arbeitsplätze wie bisher ganz hinten in der Schlange einzureihen haben? ({13}) Das ist doch die Konsequenz Ihres Gedankenganges. Nein, arbeitslose Sozialhilfeempfänger müssen wie jeder andere auch eine Chance im Kampf um die Arbeitsplätze haben. Dann gibt es das - gelinde gesagt - nicht sehr durchdachte Argument, Sozialämter zu Ersatzarbeitsämtern zu machen. ({14}) Das will niemand. Aber umgekehrt: Die Arbeitsämter wären doch rettungslos überfordert, wenn man ihnen allein die Aufgabe zuweisen würde, die größte soziale Herausforderung in Deutschland zu bewältigen, nämlich Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Arbeitsämter zahlen Arbeitslosengeld, sorgen für Qualifikationen, führen Arbeitsmarktmaßnahmen durch, und sie vermitteln Arbeit. Aber Arbeitsämter schaffen keine Arbeit. ({15}) Neue Arbeit zu schaffen ist die große Herausforderung an die gesamte Gesellschaft. Es kann nicht angehen, eine so wichtige Institution wie die Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland, die einen ganz großen Einfluß haben, einfach draußen vor zu lassen. Sie sind es doch, die die Probleme, aber auch die Möglichkeiten vor Ort viel besser kennen als jeder andere. Sie sind es, die am ehesten Tätigkeitsfelder für den Personenkreis entdecken können, der sonst auf Grund des wirtschaftlichen Wandels keine Chance hat, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. ({16}) Tatsache ist: Viele Gemeinden verwirklichen das heute schon. Sie verdienen dafür Dank und Anerkennung. ({17}) Aber es gibt andere Gemeinden, die sich noch sehr vornehm zurückhalten. Ich finde, das muß geändert werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fink, wenn Sie hier darstellen, daß die Arbeitsämter die Vermittlung von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern nicht bewältigen können, wie kommen Sie dann auf die Idee, zu glauben, daß dieses die Sozialämter können, nachdem diese das bisher schon tun können, sie es teilweise auch tun, aber mit dem Problem nicht fertig werden?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kirschner, ich kann Ihnen eine ganz einfache Antwort geben. Ich war Sozialsenator in Berlin und habe mich um das Thema gekümmert. Der Erfolg ist, daß meine Nachfolgerin Frau Stahmer heute darauf verweisen kann, daß in Berlin 70 000 Arbeitsgelegenheiten im gemeinnützigen und sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsfeld geschaffen worden sind. ({0}) Das kann man schaffen, wenn man sich wirklich darum kümmert. Das ist unser Thema. Ich sage Ihnen: Es hilft den Gemeinden. Wer genau rechnet, stellt schnell fest, daß es die beste Investition ist, die man überhaupt machen kann. Aber darüber brauchen wir vielleicht nicht im einzelnen reden. Reden wir über das Thema Mißbrauch. Mißbrauch gibt es überall. Mißbrauch gibt es auch in der Sozialhilfe. Wenn jemand auf Kosten des Steuerzahlers lebt, wenn er nicht alt ist, wenn er nicht krank ist, wenn er keine Kinder und keine Pflegebedürftigen zu versorgen hat und wenn er dann dennoch die ihm angebotene Arbeit ablehnt, dann ist es, wie ich meine, nicht mehr als recht und billig, daß ihm die Unterstützung des Staates zumindest teilweise entzogen wird. ({1}) - In den Studien des Deutschen Städtetages steht, daß jeder dritte Sozialhilfeempfänger die ihm angebotene Arbeit verweigert hat. ({2}) Ich frage Sie aber: Wie sind die Konsequenzen gewesen? Sie waren von Gemeinde zu Gemeinde sehr unterschiedlich. Ich finde, da muß man etwas tun. Sie haben auch die Zumutbarkeit der Arbeit als Argument genannt. Ich frage Sie: Fällt denn jemandem ein Zacken aus der Krone, wenn er Grünanlagen pflegt, Büroarbeiten macht oder Behinderte begleitet? Das sind Arbeiten, die in Deutschland Millionen von Menschen tun, aus deren Steuergeldern die Sozialhilfe finanziert wird. ({3}) Etwas dafür zu leisten, daß die Gemeinschaft den notwendigen Lebensunterhalt sicherstellt, kann doch nicht zuviel verlangt sein. Und dann gibt es das Argument der Bedarfsdekkung. Es ist richtig, für die Jahre bis 1998 wird davon abgewichen, 1999 gilt wieder das Bedarfsdeckungsprinzip. Da gibt es Leute, die von Unterhöhlung des Sozialstaates und dem größten sozialen Anschlag sprechen. Ja, meine Damen und Herren von der SPD, wir haben jetzt einmal die Möglichkeit nachzuprüfen, ob denn an Ihrem großen Geschrei etwas dran ist. Der Bundesrat hat ja am Freitag vergangener Woche zu dem Gesetzentwurf Stellung bezogen. ({4}) Was schlägt denn nun der Bundesrat vor? Wir können es ja einmal genau nachlesen. Wir wollen die Regelsätze entsprechend der Entwicklung der Nettolöhne erhöhen, der Bundesrat entsprechend der Entwicklung der Preise. Allerdings sagt der Bundesrat, die Deckelung in den Jahren 1993 bis 1996 solle nicht wieder aufgeholt werden. Das ist der Vorschlag des Bundesrates. Rechnet man diesen Vorschlag nun einmal durch, dann kommt man zu erstaunlichen Feststellungen. Die Regelsätze würden sich nämlich nach dem Vorschlag des Bundesrates um kein Jota mehr erhöhen als nach dem Vorschlag der Bundesregierung. ({5}) Der Grund ist ganz einfach. Zwar fiele im nächsten Jahr die Erhöhung etwas höher aus, aber im Jahre 1997 kommt die Steigerungsrate der Nettolöhne aus dem Jahre 1996 zum Zuge, und dann kommt der ganze Jahressteuereffekt, die Entlastung der Arbeitnehmer zum Vorschein. Mit einer über 3%igen Erhöhung wird im Jahre 1997 wieder aufgeholt. Ja, meine Damen und Herren, wenn man einmal genau hinschaut, wird man feststellen: Über die Techniken der Regelsatzanpassung in diesen Jahren wird man sich verständigen können. Darüber können wir alle miteinander reden. Aber, meine Damen und Herren Sozialdemokraten, dann möchte ich Sie doch herzlich bitten, es etwas bescheidener zu machen, sonst geht es Ihnen wie in der Geschichte dem Kaiser mit den neuen Kleidern, nur daß die Leute merken, daß Sie nichts anhaben. Zu diesen unwahrhaftigen Vorwürfen gehört übrigens auch der, die Bundesregierung wolle die Sozialhilfe kürzen, obwohl doch nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Wenn das Sozialamt wegen des Mangels an Arbeitsplätzen dem Sozialhilfeempfänger keinen Arbeitsplatz anbieten kann, dann kann der Sozialhilfeempfänger die Arbeit auch nicht verweigern, und dann kann ihm auch nichts gekürzt werden. So einfach ist das. ({6}) Nein, meine Damen und Herren, im Interesse der Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, müssen wir doch genau schauen, welche Wortwahl wir benutzen. Der Grundkonsens in Sachen Sozialstaat in Deutschland ist doch viel ausgeprägter, als es in den Debatten immer wieder zum Vorschein kommt. Schauen wir uns nur einmal die Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika an. Auch dort macht man eine Sozialhilfereform. Aber was geschieht dort? Die Sozialhilfereform beinhaltet dort, daß die Betreffenden nach einem bestimmten Zeitraum - einem Jahr - keinerlei staatliche Unterstützung mehr erhalten. Das ist nicht nur ein Vorschlag der Republikaner, das sagen auch die Demokraten. Darüber besteht Konsens in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn so etwas hier vorgelegt worden wäre, dann wäre ich mit Ihnen einer Meinung, und wir gingen gemeinsam auf die Barrikaden. Aber solche Vorwürfe beim Gesetzentwurf der Bundesregierung zu erheben ist doch einfach absurd. ({7}) Meine Damen und Herren, wir sind zu Änderungen des Gesetzentwurfs im Rahmen der parlamentarischen Beratung bereit. Ich will auch schon gleich die ersten drei Änderungen nennen, die wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen. Erstens. Um der besonderen Stellung der freien Wohlfahrtspflege gerecht zu werden, soll § 10 des Bundessozialhilfegesetzes in der geltenden Fassung beibehalten werden. Ich denke, daß sich dieses Zusammenspiel von Staat und freien Wohlfahrtsverbänden wohl bewährt hat. Das Problem, daß auch private Anbieter mit niedrigen Preisen zum Zuge kommen, wird nicht in § 10, sondern in § 93 geregelt. Auch wir sind der Meinung, daß das so sein soll. ({8}) Zweitens. Wir wollen den Behinderten mehr Rechte in den Werkstätten zukommen lassen; denn die Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstätten ist ganz ungeklärt. Ich denke, auch sie haben ein Recht darauf, geschützte Rechte zu bekommen, Mitbestimmmungsrechte, Urlaubsrechte und dergleichen mehr. Das muß auch den Behinderten zugute kommen. ({9}) Drittens. Wir wollen, daß die Träger der Sozialhilfe ein möglichst umfassendes und effektives Spektrum von Instrumenten zur Hand haben. Solche Einrichtungen wie z. B. START in Nordrhein-Westfalen mit Leiharbeit sind erfolgreich. Warum sollten sich die Sozialämter nicht dieser Hilfen bedienen können? Ich nenne z. B. Beschäftigungsgesellschaften. Jedes Wirtschaftsamt in den Städten und in den Gemeinden bedient sich solcher Hilfestellung. Denken Sie an Wirtschaftsförderungsgesellschaften und andere moderne Instrumentarien. Ich finde, wir brauchen ganz moderne Instrumentarien für die Sozialämter, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden können, sich wirklich um die Armen zu kümmern, indem sie mit dem Thema, den Menschen zu helfen, Ernst machen, indem sie sich nicht nur dafür einsetzen, für die Sozialhilfeberechtigten ein paar Mark mehr Regelsatz zu bekommen, sondern vor allem die Hauptaufgabe bewältigen, dafür zu sorgen, daß Menschen befähigt werden, wieder aus eigener Kraft zu leben, daß sie eben nicht länger Sozialhilfeempfänger sein müssen. Das ist doch das wichtige Ziel. Die Sozialämter müssen da einfach einen Modernisierungsschub durchmachen. Die Armut in Deutschland ist nicht so offensichtlich wie die Armut in der Dritten Welt. Deshalb fällt es leichter, sie zu verdrängen. Aber auch in unserem reichen Land gibt es Menschen, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können. Wir sind zur Solidarität mit ihnen verpflichtet. Der große Papst Johannes Paul II. spricht in seiner Enzyklika von der Option oder der vorrangigen Liebe für die Armen. Auch in dem gemeinsamen Papier von evangelischer und katholischer Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland werden drei Optionen benannt, wobei die Option für die Schwächsten an erster Stelle steht. Es ist wahr: Die christliche Botschaft lenkt den Blick auf die Empfindung der Menschen, auf Kränkungen, auf Demütigungen, auf Benachteiligungen, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten. Es war der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der als Vorsitzender der Grundsatzprogrammkommission der CDU eine wirklich wichtige Debatte in den 70er Jahren über das Verständnis von Solidarität geführt hat. Es gibt ein sehr unterschiedliches Verständnis von Solidarität. Sozialdemokraten haben aus ihrer Tradition heraus immer das Solidaritätsverständnis zu dem ihren gemacht, das besagt: Solidarität wird letztlich nur von Gleichen empfunden. Deshalb haben sie das Programm der Gleichheit nach vorne gebracht. Wir haben gesagt: Nein, Solidarität offenbart sich erst recht darin, daß es Solidarität nicht nur zwischen Gleichen, sondern auch zwischen Ungleichen gibt. Daß Reiche und Arme miteinander teilen, das ist unser christlich verstandener Solidaritätsbegriff. Das ist auch die eigentlich bewegende Idee des Bundessozialhilfegesetzes. Wir, die Unionsparteien, waren es, die im Jahre 1961 das Bundessozialhilfegesetz geschaffen haben. Wir brauchten dazu keine Ermunterungen; denn wir haben damals allein die Regierung in der Bundesrepublik Deutschland getragen. ({10}): Das waren noch Zeiten!) Es muß doch nachdenklich stimmen, daß es in dem Zeitraum, in dem die Sozialdemokraten die Regierungsverantwortung in Bonn getragen haben, wiederum ein Christlicher Demokrat war, nämlich HeiUlf Fink ner Geißler, der die Sozialdemokraten überhaupt erst darauf aufmerksam machen mußte, daß es noch Armut in der Wohlfahrtsgesellschaft gibt. Das hatten sie über ihrem Regieren völlig vergessen. ({11}) Nein, meine Damen und Herren, unsere Überzeugung ist: Jeder Mensch hat - unabhängig von seiner Leistung, unabhängig von seinen Mißerfolgen und seinen Fehlern - ein unveräußerliches Recht: Das ist das Recht auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens. Das ist unsere Grundüberzeugung. Durch diese Sozialhilfereform sichern wir dieses Grundrecht des Menschen verläßlich ab. ({12})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Lehn, Sie haben das Wort.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier heute nicht nur über die Sozialhilfe, wir debattieren weniger oder auch mehr, Herr Minister Seehofer, unzulänglich über Menschen - Menschen, die nicht unbedingt zu unserem Lebensalltag gehören, Menschen, denen wir zwar immer öfter begegnen, weil es immer mehr von ihnen gibt, von denen wir aber immer weniger wissen. Dafür kennt aber jeder von uns jemanden, der jemanden kennt, der von Sozialhilfe lebt ({0}) gut lebt, besser lebt als der Durchschnittsmensch. Wir sind alle miteinander mindestens gefährdet, manchmal schon geschädigt - nicht wahr, Frau Babel, wollte ich eigentlich an dieser Stelle sagen; aber sie ist im Moment leider nicht im Saal - dadurch, daß wir zu weit weg von der Lebenswirklichkeit sind. Das ist einer der Gründe, weshalb ich meine Ausführungen - wenn Sie gestatten, Herr Präsident - ebenso anschaulich wie praktisch gestalten möchte. Es handelt sich bei diesem Gegenstand hier, wie Sie sehen können, um ein Zentimetermaß. Mit diesem Zentimetermaß läßt sich die Bandbreite der Sozialhilfe darstellen. Man könnte ja nun annehmen, daß ein Gesetzentwurf zur Reform der Sozialhilfe 95 cm dieses Maßbandes abdeckt und wenigstens für einen großen Teil Lösungen aufzeigt. Lassen Sie mich Ihnen jetzt zeigen, wo die CDU/CSU und die F.D.P. stehengeblieben sind: nämlich hier, bei 20 cm. ({1}) Diese 20 cm sind die Grundlage der angeblichen Sozialhilfereform. Kein Wort über Nachrangigkeit, nichts über das Versagen der vorgelagerten Leistungssysteme, nichts über ein seit Jahren viel zu geringes Kindergeld, nichts über Mindestabsicherung im Alter und bei Behinderung. Statt dessen brüstet sich Herr Seehofer heute morgen damit, daß wir ja nun Gott sei Dank inzwischen das Kindergeld erhöht haben und das Existenzminimum steuerlich freigestellt wurde - ich sage noch einmal: dank der SPD. ({2}) Er brüstet sich damit und meint, jetzt wäre das ja mit dem Lohnabstandsgebot alles nicht mehr so besonders schwierig. Der Beitrag von Herrn Seehofer ist so wie das Ergebnis, das herausgekommen ist: Tempo statt Inhalt. Grundlage muß jedoch eine ebenso sorgfältige wie umfassende Analyse sein. Unverzichtbar sind Stellungnahmen der Sozialorganisationen, der freien Träger, der Kirchen, der Gewerkschaften. Unerläßlich ist das vollständige Verarbeiten von Daten und Fakten des zuständigen Ministeriums, so spärlich diese auch sein mögen. Als hilfreich erweisen sich zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu Einzelthemen. ({3}) Die Sozialhilfeausgaben im Jahre 1994 betrugen knapp 50 Milliarden DM. Allein auf die Hilfe zum Lebensunterhalt entfiel nur ein solch geringer Teil - ein Drittel -, während so viel - zwei Drittel - auf die Hilfe in besonderen Lebenslagen entfiel. Ich kann das auch andersherum zeigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, ich glaube, das langt jetzt an Darstellung für das Fernsehen.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Fernsehen ist doch gar nicht unbedingt präsent. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, darf ich Sie noch einmal unterbrechen. - Der Begriff „Parlament" kommt von „parlare", von sprechen. Wir überzeugen uns - oder auch nicht - mit Argumenten. Stellen Sie sich vor, jemand vertritt eine andere Meinung als Sie und bringt einen mehrere Meter langen Stab mit, um zu beweisen, wieviel geschehen ist. ({0}) Also bitte, unterlassen Sie es jetzt! ({1})

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will dem selbstverständlich folgen. Aber lassen Sie mich auch sagen: Ein Redebeitrag ohne Gestik und Mimik scheint mir doch eine stocksteife Angelegenheit zu werden. ({0}) Aber inzwischen haben wir uns ja an das Maß gewöhnt, ({1}) und der Gebrauch der Hände ist mir nicht untersagt worden. ({2}) Wir könnten auch sagen: Soviel betrifft Hilfe in Einrichtungen, und soviel betrifft Hilfe außerhalb von Einrichtungen. ({3}) Und 50 % des Redebeitrags - Sie erinnern sich dieser 20 cm - entfällt auf soviel, ({4}) nämlich auf den Leistungsmißbrauch in der Sozialhilfe. ({5}) Dabei sagen auch Sie gelegentlich - zu selten -, daß der inzwischen häufigste Grund für den Bezug von Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen die Arbeitslosigkeit ist. Die Arbeitslosen sind die Gruppe mit der bei weitem höchsten Steigerungsrate in den letzten Jahren. Die Sozialhilfeausgaben wegen Arbeitslosigkeit liegen zwischenzeitlich bei über 6 Milliarden DM. Die Möglichkeit, eigenständig das Dasein zu sichern, hat sich verschlechtert, und zwar nicht nur für Randgruppen, sondern auch für sozial unauffällige Menschen, die bis vor wenigen Jahren noch als gesichert galten. Das macht deutlich, daß nicht die Sozialhilfe das Problem ist. Vielmehr ist die Zahl der Menschen, die von Sozialhilfe leben müssen, Indikator eines gesellschaftlichen Problems. Besonders zu erwähnen ist hier, daß ein Drittel der Haushalte allein deswegen auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen ist, weil Menschen arbeitslos wurden. Das sind keine Drückeberger, keine Sozialhaie, die ihre Zeit damit verbringen, die üppigen Mittel der Sozialhilfe zu verprassen. Das sind über fünfzigjährige Männer und Frauen, die die Wirtschaft nicht mehr will, das sind junge Menschen, die keine Berufserfahrung, oft auch keine Ausbildung haben, das sind Frauen, die keine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden, das sind chronisch Erkrankte, die ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben können. Meine Damen und Herren, das sind nahezu 700 000 Haushalte in diesem Land. Die Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P. tun wenig bis gar nichts, um Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Statt dessen beklagen sie sich darüber, daß die Ausgaben für die soziale Sicherung steigen, daß die Menschen, die darauf angewiesen sind, die Sozialhilfe auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Mit der Verdächtigung des generellen Mißbrauchs und der Anspruchsmentalität versuchen sie Leistungskürzungen zu legitimieren. Denn je weniger sie Ursachen bekämpfen, um so bedeutender werden Argumente für den Umbau des Sozialstaates, hinter dem nichts anderes als Abbau steht. ({6}) Hier hinein gehört auch Ihr Vorschlag, Sozialämter sollten noch mehr als bisher Arbeitsmöglichkeiten anbieten. Einmal abgesehen davon, daß Sozialämter auch keine Arbeitsplätze zaubern können, einmal abgesehen davon, daß sich Sozialämter neben den Arbeitsämtern den Zugang zur Wirtschaft erst noch erarbeiten müßten, einmal abgesehen davon, daß die in Sozialbehörden arbeitenden Kollegen und Kolleginnen durch den Anstieg der Fallzahlen ohnehin schon völlig überlastet sind, einmal abgesehen davon, daß den Sozialämtern - bislang jedenfalls - eine arbeitsmarktpolitische Kompetenz fehlt, einmal abgesehen von diesen Dingen verschieben Sie mit einem Federstrich auch noch die Kosten für einen großen Teil der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in die Kommunen. Das ist die konsequente Fortsetzung Ihrer Politik, meine Damen und Herren: ({7}) Selbst nichts tun, Mißerfolg abwarten und sich dann aus der Verantwortung stehlen. ({8}) Seit den achtziger Jahren wurden die Leistungen für Arbeitslose wiederholt gesenkt. Auf diese Art und Weise haben Sie künstlich Sozialhilfebedürftigkeit geschaffen. Auch Ihr Ansinnen, die Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre zu begrenzen, gehört in dieses Spektrum. Hören Sie endlich mit diesen unsinnigen Vorschlägen auf. Keine weiteren Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe. Keine zeitliche Befristung hilft weiter. Wir brauchen eine Arbeitslosenhilfe, die das Existenzminimum sichert, so daß diese Menschen nicht mehr oft zusätzlich zu den Sozialämtern gehen müssen. Wir brauchen ein modernes, den heutigen Anforderungen gerecht werdendes Arbeitsförderungsgesetz. Wir müssen die Arbeit und nicht die Arbeitslosigkeit finanzieren. ({9}) Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Entwurf eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes enthält wertvolle Bausteine auch für eine echte Sozialhilfereform. Wir fordern Sie auf, alle arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen in die aktive Arbeitsmarktpolitik einzubeziehen. Herr Fink, das zu Ihrer Information: Allein dadurch fallen bei den Sozialhilfeträgern Minderausgaben in Höhe von rund 700 Millionen DM an. Zur Finanzierung von Beiträgen zur Arbeitlosenversicherung, die selbstverständlich Bestandteil des Vorschlages sind, fallen 200 Millionen DM an, so daß es letztendlich noch zu einer Einsparung in der Größenordnung von 500 Millionen DM kommt. Wer fordert, muß auch fördern. Fördern müssen Sie, damit die große Mehrheit der arbeitswilligen Sozialhilfeempfänger überhaupt in die Lage versetzt wird, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Dazu bedarf es einer Erweiterung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Hierzu ist Kinderbetreuung erforderlich, und zwar ganztägige Betreuung genauso wie verläßliche Halbtags- und Ganztagsschulen. Wir brauchen aber auch Teilzeitarbeitsplätze und Arbeitsplätze für Ungelernte. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, daß die Zahl der Arbeitsplätze für gering qualifizierte Personen kontinuierlich abgenommen hat und weiter abnimmt. Kluge Verteilung der vorhandenen Arbeit ist angesagt und nicht der Einstieg in eine neue Verdrängung. Subventionierte Sozialhilfeempfänger gegen bestehende Arbeitsverhältnisse, Personalabbau in den Kommunen im Arbeiterbereich und Pflege der Friedhöfe und Grünanlagen für 1,50 DM pro Stunde durch Sozialhilfeempfänger - das ist keine Problemlösung. Zeigen Sie den Menschen, die Hilfe brauchen, Perspektiven auf! Ich komme zum Schluß. ({10}) Meine Damen und Herren, wer ankündigt, er wolle neue Schuhe anfertigen, damit er besser laufen kann, wer glaubt, daß es ausreiche, dafür die Länge der Zehen zu kennen, und die wohlmeinenden und hilfreichen Vorschläge von Fachleuten auch noch ignoriert, dem kann der fertige Schuh nicht passen. Da wird er wohl noch einmal neu anfangen müssen. Insoweit kann ich nur sagen, meine Damen und Herren, Herr Minister Seehofer: Machen Sie sich mal an die Arbeit, arbeiten Sie - Sie erinnern sich - dieses Stück von diesem Stück auf, und kommen Sie dann mit einem besseren Ergebnis wieder! ({11})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Kollegin Brigitte Lange hatte sich vorhin zu einer Kurzintervention auf den Beitrag des Kollegen Fink gemeldet. Aber die Meldung kam ein paar Sekunden zu spät; da hatte ich schon die nächste Rednerin aufgerufen. Deshalb, Frau Kollegin, nehmen Sie bitte jetzt das Wort.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Koalitionsfraktionen haben Probleme, zu begreifen, warum wir vermuten müssen, ({0}) daß die Regelsätze gekürzt werden. Sie haben vor allen Dingen Probleme, zu begreifen, was bisher im Sozialhilfegesetz galt, nämlich das Bedarfsdeckungsprinzip, Herr Minister. Der Bedarf eines Menschen in unserer Gesellschaft ist nicht an dem Anstieg oder der Senkung des Nettolohnes zu bemessen. Daß Sie diesen Parameter gewählt haben, liegt nicht nur daran, daß Sie es zu simpel fänden, es miteinander zu verknüpfen, sondern vor allem daran, daß Sie die Erfahrung der letzten Jahre haben, daß der Reallohn gefallen ist. Wenn Sie die Sozialhilfe an die Nettolöhne anbinden und dazwischen einen Lohnabstand haben müssen, dann hoffen Sie, daß der Regelsatz nicht so ansteigt. Der Parameter ist ein günstiger für die Bundesregierung. Warum ist er nun ein günstiger für die Bundesregierung? Weshalb wollen Sie bundeseinheitliche Regelsätze festsetzen, was neu ist? Bisher haben es die Länder getan. Herr Fink wird es wissen. Es war auch vernünftig so, weil man damit tatsächlich auf die Situation der Region Rücksicht nehmen konnte. Sie haben es deswegen vor, weil Sie genau wissen, daß der Regelsatz eine ganz wichtige Komponente des Existenzminimums ist. Da Sie dieses Existenzminimum ab 1. Januar 1996 steuerfrei lassen müssen, sind Sie natürlich eminent daran interessiert, diesen Steuerausfall so gering wie möglich zu halten. Insofern sind Sie eminent daran interessiert, nicht den Ländern zu überlassen, die Regelsätze so zu gestalten, daß sie tatsächlich dem Bedarf des einzelnen entsprechen, sondern Sie machen einen Bedarfssatz nach Kassenlage. Deswegen kann man nicht blauäugig sagen, das Ergebnis, Herr Fink, ist möglicherweise in einem Jahr bei der Nettolohnanbindung das gleiche, als wenn wir das Bedarfsdeckungsprinzip benutzt hätten, nämlich die Preissteigerungsrate genommen hätten. Wir liefern uns einem System aus, was in die Ungerechtigkeit läuft. Deswegen lehnen wir es ab. Frau Rönsch, was Sie vorhin gesagt haben, war unfair.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, die Zeit für die Kurzintervention ist um. Wenn Sie einen solchen Fächerschuß abgeben, dann müßte ich alle, die Sie ansprechen, zur Replik zulassen. Das möchte ich aber ungern tun. Ich nehme an, daß der Kollege Fink das jetzt für alle Angesprochenen tun kann. Bitte, Herr Kollege Fink, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete, für normale Menschen ist es schwer, zu verstehen, wie es mit den Regelsatzfestlegungen ist. Das ist ein sehr kompliziertes Verfahren, wie wir alle wissen. Deshalb bitte ich Sie doch einfach, mit mir noch einmal nachzurechnen, ob es stimmt oder nicht stimmt, was ich sage. Erstens. Für die Jahre 1993 bis 1996 ist mit Zustimmung der SPD-Fraktion und des Bundesrates von der bisherigen Methode der Festsetzung der Regelsätze abgewichen worden. Man hat eine Deckelung auf höchstens 2 % vorgenommen. Zweitens. Wie soll es jetzt weitergehen? Wie sollen ab dem 1. Juli 1996 die Regelsätze erhöht werden? Da sind die Grünen - das muß man denen zugestehen - konsequent. Denn Sie sagen: Wir wollen das Bedarfsdeckungsprinzip haben. Demzufolge sollen ab dem 1. Juli 1996 die Regelsätze um rund 9 % erhöht werden. Das ist der Vorschlag der Grünen. Ob es finanziell verantwortlich ist, ist eine andere Frage. Was sagen Sie aber nun mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat? Ich habe in Ihrem Antrag keine gegenteilige Meinung gelesen. Die möchte ich gegebenenfalls gerne von Ihnen hören. Da sagen Sie: Jawohl, wir wollen uns der Preisentwicklung anpassen, aber den Effekt der Deckelung aus den Jahren 1993 bis 1996 nicht wieder aufholen. Was heißt das also? Da können Sie nachrechnen. Dann müssen Sie sehen, wie die Preise im Jahre 1995 gestiegen sind. Dann bekommen Sie die Regelsatzerhöhung für 1996. Die letzte Preissteigerungsrate lag bei 1,7 %. Also können Sie in etwa in dieser Größenordnung mit einer Regelsatzanpassung nach Ihrem Vorschlag rechnen. Im Jahr 1997 kommen die Preisentwicklung 1996 und die Nettolohnentwicklung 1997 zum Vorschein. Jeder weiß, daß sich dann die Preise in etwa bei einer Größenordnung von 2 % - vielleicht etwas weniger oder etwas mehr, das weiß heute keiner - entwickeln werden. Die Nettolöhne - das wissen wir bereits heute - werden allein durch den Jahressteuereffekt um 1 % bis 2% höher ausfallen als nach dem bisherigen Verfahren. Das bedeutet, Sie bekommen eine Nettolohnerhöhung um vielleicht 3,5 % im Jahre 1996. Das heißt aber, daß in 1997 die Regelsätze nach der Nettolohnentwicklung um 3,5 % angepaßt werden, während es nach Ihrem Vorschlag knapp 2 % sind. Sie bekommen den ganzen Effekt wieder hinein. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns lieber über die richtige Methode sprechen, wie wir 1999 die Regelsätze bemessen, miteinander streiten - darüber kann man auch streiten - als über die Methode der Regelsatzanpassung bis dahin. Darüber werden wir uns immer einig werden. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile der Kollegin Regina Schmidt-Zadel das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler, Herr Minister Seehofer, hat schon sehr genau gewußt, warum er Sie mit der Zuständigkeit für die Sozialhilfe betraut hat. ({0}) - Hören Sie gut zu. Sie werden erfahren, was ich damit meine. Die Cleverneß, mit der Sie in der letzten Legislaturperiode das Gesundheitsstrukturgesetz gegen den erbitterten Widerstand der Interessengruppen durchgesetzt haben, hat Ihnen reichlich Respekt eingebracht. ({1}) Auch bei der jetzt anstehenden sogenannten BSHG-Reform ({2}) - ich freue mich nicht so sehr, wenn von Ihrer Seite Beifall kommt, aber es tut mir gut ({3}) muß man Ihnen, Herr Minister, wieder ein gehöriges Maß an Schlitzohrigkeit attestieren. Es ist wirklich beachtlich, wie Sie es fertigbringen, in der Öffentlichkeit etwas als Reformwerk, gar als große Verbesserung zu verkaufen, was in Wirklichkeit schamloses Kürzen und Zusammenstreichen sozialer Leistungen ist, meine Damen und Herren. ({4}) Insofern, Herr Seehofer, haben Sie in der Tat die Erwartungen Ihres Chefs erfüllt. Sie haben Ihren Gesetzentwurf zur BSHG-Novelle trotz der massiven Kritik ausnahmslos aller im Sozialbereich tätigen Verbände und Organisationen in den Bundestag eingebracht und in vielen Fällen gegenüber dem Reformentwurf sogar noch einmal verschlimmbessert. ({5}) - Das erkläre ich Ihnen. Ob Ihnen, Herr Seehofer, diesmal auch wieder der Tapferkeitsorden für das Durchsetzen schwieriger Gesetzesvorhaben verliehen wird, wage ich zu bezweifeln. Nach Ihrer Rede heute morgen glaube ich aber, daß viele Stammtische in der Bundesrepublik Sie für den Orden wider den tierischen Ernst vorschlagen werden, Herr Minister. ({6}) Hier geht es nämlich nicht darum, Ärzten, Zahnärzten und Apothekern Spitzeneinkommen von einem sehr hohen Niveau herunterzudeckeln, hier geht es schlicht um das Existenzminimum, um das Nötigste zum Lebensunterhalt für dauerarbeitslose Menschen und Behinderte, meine Damen und Herren. Frau Rönsch, nach Ihrem Vorschlag von heute morgen, der nicht ganz den Tatsachen und den Zahlen entsprach, mache ich Ihnen den Vorschlag, das zu tun, was kürzlich eine Journalistin getan hat, nämlich vier Wochen von der Sozialhilfe zu leben. Ich glaube, daß Sie dann hier anders reden würden, als Sie es getan haben. ({7}) Die Sozial- und Behindertenverbände haben Ihnen Ihr Reformwerk nicht von ungefähr förmlich um die Ohren gehauen. Sie haben heute morgen viele Zitate von unseren Parteifreunden gebracht. Ich will Ihnen ein Zitat eines Ihrer Parteifreunde aus meinem Wahlkreis nennen. Ein CDU-Landtagsabgeordneter, der Aufsichtsratsvorsitzender einer Werkstatt für Behinderte ist, tritt vor die Presse und kündigt an, mit der eigenen Regierung in Bonn ganz schonungslos ins Gericht zu gehen. Die sogenannte Reform, so seine Kritik, werde die ohnehin schon schlechten Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter in Werkstätten für Behinderte noch unwürdiger machen. Recht hat er, dieser Kollege von Ihnen, meine Damen und Herren. Ich denke, wir können ihm zustimmen. ({8}) Herr Minister Seehofer, die vorliegende BSHG-Novelle bedeutet für die Behinderten und die Einrichtungen eine Katastrophe, und das gleich in zweierlei Hinsicht. Die Behinderten stehen nach dieser Novelle finanziell schlechter da als vorher ({9}) - ich zeige Ihnen das an Beispielen; die können Sie gerne haben, ich habe es schriftlich -, und die seit langem geforderte Verbesserung der Rechtsstellung der Behinderten, die im Referentenentwurf in weiten Teilen noch enthalten war, ist immer noch nicht verwirklicht. Punkt 1 ist vor allem die Folge des geplanten neuen Verfahrens zur Regelsatzbestimmung und des konkretisierten Lohnabstandsgebots und trifft nicht nur die Behinderten, diese aber um so schlimmer, meine Damen und Herren. Alle Verbände haben diese Pläne einmütig als Verabschiedung vom Bedarfsdeckungsprinzip gegeißelt. Sie, Herr Minister, haben das, was die Verbände dazu gesagt haben, als Horrormeldungen bezeichnet. Dazu kann ich nur sagen: Hört! Hört! - Sie werden doch wohl nicht ernsthaft bestreiten, daß Sie Pläne haben, die Regelsätze nach § 22 BSHG auch für 1996 bis 1999 strikt an die Entwicklung der Nettolöhne zu koppeln, und daß ab 1999 zusätzlich ein starrer Abstand zu den durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen eingeführt wird. Das, Herr Minister und meine Damen und Herren, ist doch faktisch die Abkehr vom Prinzip der Bedarfsdeckung. ({10}) Bedarf ist schließlich das, was hilfsbedürftige Menschen zur Sicherung ihres Existenzminimums und zur Führung eines menschenwürdigen Lebens benötigen. Wenn die Kosten für diesen Lebensunterhalt, der wirklich alles andere als ein Leben in Saus und Braus ist, nun stärker steigen als die Nettolöhne, dann ist das keinesfalls eine Ungerechtigkeit, wie die Bundesregierung auch heute in den Reden nicht müde wird zu suggerieren. Die Ungerechtigkeit beginnt, wenn die Bundesregierung mit Hilfe statistischer Taschenspielertricks, mit einer unsinnigen Deckelung und mit einem starren Abstandsgebot das Existenzminimum zum Spielball der Politik macht. Das ist vorgesehen. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt der Behindertenverbände sind die neuen Regelungen im Bereich der Hilfsangebote der Einrichtungen für Behinderte. Auch hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Ich würde gern das Zentimetermaß meiner Kollegin auch jetzt noch einmal zeigen und demonstrieren, wie weit das auseinanderklafft. ({11}) Von Verbesserungen für die Behinderten, wie Sie, Herr Minister Seehofer, sie versprochen haben, kann überhaupt keine Rede sein, jedenfalls nicht in dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben. Im Gegenteil, werden diese Pläne Gesetz, sind die Auswirkungen auf die Einrichtungen für Behinderte verheerend. Es sind vor allem drei Maßnahmen, die in Zukunft zu erheblichen Problemen für die Einrichtungen führen werden. Da ist zum einen die geplante Deckelung der Pflegesätze in den Einrichtungen. Wie bei der Krankenhausfinanzierung soll nun auch im Behindertenbereich die Entwicklung der Pflegesätze an die Entwicklung der Beitragseinnahmen der Krankenkassen gekoppelt werden. Von seiten der Verbände wird dabei völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß sich die sozialhilfefinanzierten Einrichtungen für Behinderte mit den Krankenhäusern überhaupt nicht vergleichen lassen. Während wir es im Krankenhausbereich mit einem Überangebot an Betten zu tun haben, gibt es bei den Einrichtungen im Behindertenbereich einen riesigen Nachholbedarf. Das Netz an Wohnheimen, Tagesstätten, Werkstätten und ambulanten Diensten ist bei weitem noch nicht ausreichend; von „flächendeckend" kann hier überhaupt keine Rede sein. Die vorgesehene Deckelung der Pflegesätze bei gleichzeitig steigenden Personalkosten wird die Einrichtungen mittel- und langfristig zu einem Abbau ihrer Angebote zwingen müssen. Die Bundesvereinigung der Lebenshilfe bemerkt in ihrer Stellungnahme zu Recht, daß die Behinderten schließlich lebenslang auf solche Hilfsangebote angewiesen sind, während die Behandlung in den Krankenhäusern nur eine zeitlich begrenzte Maßnahme ist. Ich denke, das ist der Unterschied. Neben der Deckelung der Pflegesätze wird zudem auch die geplante Pauschalierung der Hilfen die Versorgung der Behinderten mit Hilfsangeboten erheblich beeinträchtigen. Ab 1999 sollen die Einrichtungen die Verantwortung für die Gewährung individueller bedarfsdeckender Leistungen von den Sozialhilfeträgern übernehmen. Dafür erhalten sie allerdings eine Vergütung, die gar nicht die Gewährung einer solchen bedarfsdeckenden Hilfe ermöglicht. Statt dessen wird eine pauschale Vergütung eingeführt. Während also die Einrichtungen von der Deckelung in ihrem finanziellen Spielraum beschnitten werden, die Behinderten durch die Pauschalierung ihren Anspruch auf bedarfdeckende Leistungen verlieren, werden beide zusammen - ich nenne es einRegina Schmidt-Zadel mal so - von der dritten Keule Seehofers getroffen, der geplanten Rechtsgleichstellung von privatgewerblichen Einrichtungen mit den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Herr Fink, ich freue mich sehr, daß Sie heute angekündigt haben, darüber noch einmal nachzudenken. Hören Sie gut zu; ich liefere Ihnen jetzt die Argumente, die vielleicht dann Ihr Gesetzesvorhaben noch beeinflussen können. Sie ebnen einer Entwicklung den Weg, die für die Versorgung behinderter Menschen unabsehbare Folgen haben wird. Die umfassende Versorgung aller Personengruppen, unabhängig vom Grad der Behinderung und auch unabhängig vom Aufwand für Pflege und Betreuung, war immer Ziel der am Gemeinwohl orientierten Träger der freien Wohlfahrtspflege. Die zwangsläufig am Gewinn orientierte Ausrichtung privatgewerblicher Träger wird, wie es die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel zu Recht formuliert haben, zu einer Aufteilung in gewinnverheißend zu versorgende Menschen einerseits und mit hohem Aufwand und schwierig zu versorgende Personen andererseits führen. Eine solche Entwicklung kann doch nicht im Interesse der Behinderten und auch nicht in Ihrem Interesse sein. ({12}) Lassen Sie mich aber zum Schluß noch auf einen Punkt eingehen, der diese BSHG-Novelle aus Sicht aller in der Behindertenarbeit Tätigen völlig diskreditiert: das Fehlen jeglicher Verbesserung der Rechtsstellung der Behinderten. Es war schon sehr verwunderlich, daß im Regierungsentwurf die noch im Referentenentwurf enthaltenen Regelungen plötzlich verschwunden waren. Ich denke, daß das wirklich ein ganz wichtiger Punkt ist, der seit Jahren von den Behindertenverbänden eingefordert wird, daß die Behinderten in den Werkstätten den Arbeitnehmern rechtlich gleichgestellt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ihre Redezeit, Frau Kollegin!

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß. Wenn Sie das getan hätten, wäre das noch ein guter Punkt in Ihrem Gesetzentwurf gewesen. Der vorliegende Gesetzentwurf opfert die Interessen der Behinderten und vieler Menschen zugunsten einer kurzsichtigen und unvertretbaren Politik des sozialen Kahlschlags. Das machen wir nicht mit. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Hannelore Rönsch das Wort.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich hätte mich gefreut, wenn Sie, Frau Kollegin der Sozialdemokraten, die Zeit, die Sie verwandt haben, um hier Zentimetermaße abzuschneiden und damit auch Sozialhilfediskussionen ein wenig zu diskriminieren, einfach dafür verwandt hätten, einen Blick in Ihre Arbeitsunterlagen zu tun. Sie haben die Zahlen, die ich heute genannt habe, angezweifelt. Sie hatten recht damit, denn ich habe die Zahlen vom zweiten Halbjahr 1994 genannt. Ich will Ihnen jetzt noch einmal den aktuellen Stand seit dem 1. Juli 1995 mitteilen. Dieser hat sich tatsächlich verändert, d. h. verbessert. Nehmen wir wieder einmal die Alleinerziehende in Bremen mit zwei Kindern. Sie hat einen Sozialhilfebedarf von 2 410 DM. Ist dabei ein Kind unter drei Jahren, erhält sie weitere 600 DM netto Erziehungsgeld. Das sind 3 010 DM Sozialhilfebedarf. Es wurde die Frage nach der Miete gestellt. Ich erkläre es gerne noch einmal. Bei Sozialhilfeempfängern wird die Miete komplett übernommen, sofern sie der Familiengröße quadratmetermäßig entspricht. Sie sehen, ein Blick in diese Unterlagen, die Ihrer aller Arbeitsunterlagen sein sollten, erleichtert nachher die Zustimmung zu unseren Anträgen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Wortmeldung für diese Kurzintervention erfolgte auf Grund des Beitrags der Kollegin Schmidt-Zadel, die jetzt Gelegenheit erhält zu replizieren. Ich erteile ihr hiermit das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Rönsch, Sie haben bei den Zahlen in Ihrer Kurzintervention u. a. vergessen, zu sagen, wie diese Berechnung zustande kommt. In Ihren Berechnungen ist die Miete enthalten. Diese kann je nach Stadt und Kreis sehr unterschiedlich sein. Von daher, denke ich, können diese Zahlen nicht so stehenbleiben. Sie sollten wirklich die Regelsätze benennen, die eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern bekommt, die Miete dazurechnen und dann sagen, daß auch das Wohngeld angerechnet wird. Das wäre eine richtige Interpretation dessen, was Sie gesagt haben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Da wir die Debatte, in der das Instrument der Kurzintervention ohnehin überstrapaziert worden ist, nicht in Form von Kurzinterventionen weiterführen wollen, nehme ich an, daß der Kollege Fink, der jetzt das Wort bekomm, auf diesen Beitrag eingehen kann. ({0})

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, man ist schon darüber verwundert, daß Sie immer sagen, die VerUlf Fink gleiche stimmten nicht, weil in die Zahlen die Miete eingerechnet ist. ({0}) Frau Abgeordnete, wissen Sie denn gar nicht, daß jeder normale Mensch aus seinem Einkommen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und die Miete zu zahlen hat? Deshalb ist das der einzig richtige Vergleichsmaßstab. ({1}) Ich möchte noch kurz auf einige weitere Dinge eingehen. Oft wird so getan, als hätten wir Probleme zu lösen, die erst durch den Gesetzentwurf entstünden. Ich nehme den einen Hinweis auf, der da lautet: Gut, nur weil der Haushaltsvorstand eine ihm zumutbare Arbeit verweigert hat, kürzt ihr ihm die Sozialhilfe um 25 %. Aber was ist denn mit den Haushaltsangehörigen? Auf wen wird. letztendlich die Kürzung entfallen? Dieses Problem ist doch nicht neu, sondern damit haben sich die Sozialämter schon über Jahre hinweg auseinandersetzen müssen. Dafür gibt es doch ein umfangreiches Instrumentarium. Die Sozialämter gewähren in solchen Fällen beispielsweise Sachleistungen, damit ein Mißbrauch der Barleistungen durch den Haushaltsvorstand ausgeschlossen wird. ({2}) Das ist nichts Neues. Damit haben sich die Sozialämter schon seit Jahren beschäftigt. Oder ein weiteres Argument. Sie sagen immer: Die armen Gemeinden sind überhaupt nicht in der Lage, auch nur einen zusätzlichen gemeinnützigen Arbeitsplatz zu schaffen; das alles geht gar nicht. Ich habe Ihnen doch vorhin schon eine Zahl genannt, wiederhole sie aber, damit Sie sie wirklich aufnehmen können: Seit meiner Zeit als Sozialsenator in Berlin haben wir - meine Nachfolgerin für Stahmer hat das fortgeführt - jährlich 70 000 Arbeitsgelegenheiten in Berlin geschaffen. 70 000 Arbeitsgelegenheiten bei einer Einwohnerzahl von über 3 Millionen! Vorher gab es das nicht. Damit Sie wirklich erkennen, worüber wir reden, sollten Sie einige Städte zum Vergleich heranziehen. Nehmen wir einmal Mannheim. Dort gibt es einen ordentlichen Sozialdezernenten. (Klaus Kirschner ({3}) - Aber der Sozialdezernent wird von der CDU gestellt. Sonst wäre dort nichts passiert. Bei einer Einwohnerzahl von etwas über 300 000 werden über 4 000 Arbeitsgelegenheiten geschaffen. Jetzt nehme ich einmal ein paar nordrhein-westfälische Städte, damit auch deren Zahlen einmal auf den Tisch kommen, und wir wissen, worüber wir reden. Ausweislich der Studie des Deutschen Städtetages, der ja ein unverdächtiger Zeuge ist, den Sie auch gerne zitieren, ist es so, daß Köln mit einer Einwohnerzahl von 960 000, also von fast einer Million, genau 800 Arbeitsgelegenheiten geschaffen hat. Ich wiederhole die Zahl für Berlin: Bei einer Einwohnerzahl von über drei Millionen sind es dort 70 000 Arbeitsgelegenheiten. ({4}) In Essen sind bei 627 000 Einwohnern genau 577 Arbeitsverhältnisse geschaffen worden. In Bochum, meiner Heimatstadt, in der ich lange gearbeitet habe, die jetzt leider falsch regiert wird, steht 400 000 Einwohnern die klägliche Zahl von 242 Arbeitsverhältnissen gegenüber. ({5}) Dann behaupten Sie, die Gemeinden würden überfordert! Die müssen sich endlich auch einmal darum kümmern, nicht nur das schönste neue Rathaus zu bauen, sondern arbeitslose Sozialhilfeempfänger in Arbeit zu bringen. Das muß für die Gemeinden ein wichtiges Ziel sein. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Frau Kollegin Lehn.

Waltraud Lehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Fink, von Ex-Kollegin zu Ex-Kollege. Ich war Sozialdezernentin in der Stadt Marl. ({0}) Auf dieser Grundlage frage ich Sie: Können Sie mir bitte sagen, wieviel dieser Arbeitsgelegenheiten sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsmöglichkeiten sind? Können Sie mir weiter sagen, in welchem Umfang im gleichen Zeitraum insbesondere kommunale Arbeitsplätze und Arbeitsplätze bei Einrichtungen der Kommune weggefallen sind?

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich. Nach den Untersuchungen des Städtetages sind im Durchschnitt 80 % der angebotenen Arbeitsplätze gemeinnützige und 20 % sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. So haben wir es in Berlin auch gemacht, und das ist richtig so. Hunderttausend Leute kannst du nicht mit der Entgeltvariante beschäftigen. Das ist organisatorisch unmöglich. Deshalb mußt du erst schauen, ob es einigermaßen klappt. Da kann es ein Aufbauprogramm mit gemeinnütziger Arbeit geben. Diejenigen, die sich dann bewährt haben, werden in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse übernommen. Die Wahrheit ist - und das ist doch toll -, ein Drittel bis zwei Drittel aller Sozialhilfeempfänger, die in solchen Arbeitsverhältnissen beschäftigt worden sind, haben am Ende einen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden. ({0}) Das nenne ich eine wirklich realistische Sozialpolitik. Das andere, was erzählt wird, ist doch alles Kokolores, das muß ich einfach sagen. Es stimmt doch hinten und vorne nicht, was Sie da erzählen. ({1}) Sie müssen sich mit Sozialhilfe in Gemeinden einmal beschäftigen, damit Sie wissen, worüber Sie reden. Noch einen letzten Hinweis, weil ein Weiteres im Raume steht. Es wird gesagt: „Zieht euren Gesetzentwurf wieder zurück! " und: „Unsäglich!" usw. Wenn man sich die Sache genauer ansieht, ergibt sich etwas anderes. Auch wenn die nationale Armutskonferenz zusammengetreten ist und Herr Sengling da etwas verkündet, stellt man, wenn man genauer nachsieht, fest, daß der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk nicht mit unterschrieben haben. Wenn man sich die Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der Liga, ansieht und zwischen den Zeilen liest, stellt man sehr viel mehr fest. Ich will noch etwas sagen. Im Bundesrat gab es bereits den ersten Durchgang dieses Gesetzentwurfs. Damit Sie, Herr Struck, hier im Bundestag nicht wieder eine Riesenschau abziehen, während die Sache im Bundesrat ganz anders aussieht, zitiere ich den Sozialminister von Rheinland-Pfalz, immerhin Mitglied der SPD: Ich weiß nicht, ob die Bundesregierung und ob Sie, Herr Seehofer - obwohl ich es Ihnen immer noch zutraue -, wirklich den Konsens suchen. Ich betonte für unser Land und für die Ländermehrheit ausdrücklich die Bereitschaft, miteinander über eine Sozialhilfereform zu sprechen und vertieft über einzelne Vorschläge zu verhandeln. Dann sagt er - jeder Kundige weiß, was das heißt -: Wir werden dann auch feststellen, daß es durchaus Bewegungen und auch differenzierte Meinungen innerhalb der Gruppierungen gibt. Das will ich gar nicht verschweigen. Natürlich gibt es sie. Das sagt Herr Gerster. Ich prophezeie Ihnen: Wir werden den Gesetzentwurf zur Sozialhilfe in Gesetzesform verabschiedet bekommen, auch mit Zustimmung des Bundesrates. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/2440, 13/2442, 13/2437 und 13/2438 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Vereinbarte Debatte zur Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die krisenhafte Entwicklung bei Daimler-Benz Aerospace, DASA, bereitet uns Sorgen. Wir sorgen uns um die Arbeitsplätze von Tausenden von Menschen. Es geht um den Erhalt der technologischen Kompetenz in einem wichtigen Feld. Es stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt eine Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland? Auch vor dem Hintergrund der Krise bei der DASA beantworten wir diese Frage eindeutig mit Ja. ({0}) Wir haben ein Interesse an einer Luft- und Raumfahrtindustrie, allerdings ohne Automatismus beim Anspruch auf öffentliche Gelder. Im Vergleich zu anderen Branchen hat die Luft- und Raumfahrtindustrie nur einen relativ geringen Anteil am Bruttosozialprodukt und an den Arbeitsplätzen. Die Größe der Branche steht jedoch in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer strategischen Bedeutung. Luft- und Raumfahrt ist eine Schlüsselindustrie gerade für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Wir brauchen Überlegenheit der Technologie und hochqualifizierte Beschäftigung. Luft- und Raumfahrt strahlt in andere Wirtschaftsbereiche aus. Ein Verzicht auf die Luft- und Raumfahrt wäre ein Verzicht auf Zukunftsfähigkeit, ein Verzicht auf Technologiestandort und Industrienation. Die Luft- und Raumfahrt ist in einer schwierigen Lage. Das hängt mit dem Einbruch der Nachfrage im zivilen und im militärischen Sektor zusammen. Die Industrie muß sich an eine veränderte Wettbewerbssituation international anpassen. Schließlich muß die Industrie einerseits ihre Kosten überwiegend in D-Mark und andererseits ihre Erträge nahezu ausschließlich in Dollar berechnen. Mit dieser komplexen Situation müssen wir uns gemeinsam auseinandersetzen. In diesen Tagen rufen viele nach dem Staat. Deshalb ist es wichtig, in Erinnerung zu rufen, daß wir nicht bei Null anfangen. Vielmehr hat der Bund bereits Erhebliches für die Luft- und Raumfahrtindustrie geleistet. Seit 1967 hat das Wirtschaftsministerium für den Airbus rund 6,5 Milliarden DM ausgeThomas Rachel geben. Mittlerweile hat der Airbus einen Marktanteil von rund 30 %. Der Forschungsminister hat seit 1975 rund 20 Milliarden DM zur Forschungsförderung der Luft- und Raumfahrt investiert. Ich sage ganz klar: Auch in diesem Bundeshaushalt sind die Mittel knapp. Trotzdem fördern wir auf einem hohen Niveau weiter. Ich sage auch: Es kann nicht sein, daß bei plötzlich auftretenden Schwierigkeiten der Ruf nach der Finanzspritze des Bundes ertönt. Unternehmerische Entscheidungen und Risiken können nicht durch staatliche Subventionen kompensiert werden. ({1}) Ich denke, für beide Seiten, Staat und Industrie, müssen die bisherigen finanziellen Aufwendungen und die technischen Erfolge eine Verpflichtung sein. Der Staat, der mit Milliardenbeträgen geholfen und gefördert hat, kann von der betroffenen Industrie erwarten, daß der Gesichtspunkt des Erhalts hochwertiger Arbeitsplätze in Deutschland ({2}) ein entscheidendes Kriterium ist. ({3}) Klar ist auch, daß die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit in erster Linie Sache des Unternehmens ist. Das Unternehmen muß über die angemessene Standortstruktur entscheiden. Für den politischen Bereich stellt sich die Frage der politischen Rahmenbedingungen und der konkreten Beschaffungsentscheidungen: Erstens. Wir müssen darüber sprechen, wie wir der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie eine faire Chance im internationalen Wettbewerb geben können. So ist es ein Problem, daß die amerikanische Konkurrenz große militärische Aufträge kostenmindernd für die Zivilproduktion nutzen kann. Zweitens. Die Zeit nationaler Alleingänge ist vorbei. Um uns auf dem Weltmarkt mit hartem Wettbewerb behaupten zu können, brauchen wir europäische Strukturen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist entweder europäisch, oder sie ist irrelevant. Die Kooperationspartner, beispielsweise die Koreaner oder die Chinesen, fragen nicht nach einem deutschen oder nach einem französischen Partner, nein, sie wollen einen europäischen Kooperationspartner. Deshalb kann das Motto für uns nur heißen: gemeinsam entwickeln, gemeinsam produzieren, gemeinsam beschaffen, gemeinsam nutzen, gemeinsam exportieren. ({4}) Als Unionsfraktion unterstützen wir die Bundesregierung bei ihren Bemühungen, die Rahmenbedingungen bei der Förderung der Luftfahrt innerhalb der Europäischen Union zu verbessern. Das ist ein wichtiges Anliegen. Drittens. Der Bund hat ein Luftfahrtforschungsprogramm für 1995 bis 1998 mit jeweils 600 Millionen DM von seiten des Bundes und der Industrie aufgelegt. Ich sage, weil darüber diskutiert wird, auch deutlich: Es gibt kein anderes deutsches Forschungsprogramm, das in seinem Volumen und in seinen Schwerpunkten so auf die Wünsche der Industrie abgestimmt ist wie gerade dieses Programm. ({5}) Natürlich kann man über die Fortsetzung des Programms nach 1998 nachdenken. Aber ich sage auch ganz klar: Jetzt ist es erst einmal an der Zeit, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, bevor der Ruf nach neuen Geldern des Bundes laut wird. Bei der Verteidigung ihrer Luft- und Raumfahrtinteressen sind sich die Bundesländer einig, zumindest soweit es um die gemeinsame Inanspruchnahme der Bundeskasse geht. ({6}) Angesichts der Tatsache, daß der Bund hier schon eine ganze Menge erbracht hat, möchte ich die Bundesländer schon einladen, eigene finanzielle Beiträge zur Absicherung des Luftfahrtforschungsprogramms einzubringen. Dabei darf es keinen Standortegoismus der Bundesländer zu Lasten des Ganzen geben. ({7}) Viertens. Der Staat ist ein wichtiger Abnehmer im Bereich Luft- und Raumfahrt. Insofern hat die Industrie und haben die Menschen, die dort beschäftigt sind, einen Anspruch auf langfristige Planungssicherheit und Berechenbarkeit. Wir müssen Klarheit bei den Beschaffungen haben. Ich nenne das europäische Jagdflugzeug Eurofighter 2000, für dessen Entwicklung durch Techniker und Ingenieure unserer Luftfahrtindustrie schon 5,6 Milliarden DM investiert wurden. Ich nenne Future Large Aircraft, ich nenne den Hubschrauber Tiger und den NATO-Hubschrauber 90. Darüber muß das Parlament entscheiden. Luftfahrtpolitik bedarf keiner abstrakten Entscheidung, sondern einer sehr konkreten. Wenn man aus verteidigungspolitischen Gründen zu dem Ergebnis kommt, daß wir ein neues Jagdflugzeug brauchen, dann sollten wir es kaufen, und zwar nicht im Ausland. ({8}) Aber was bietet uns die SPD? Schröder ist dafür, Matthäus dagegen und Scharping unentschieden. Die SPD ist auch in dieser Frage nicht handlungsfähig. ({9}) Ich bin der Meinung, die Beschäftigten in der Industrie und auch die Bundeswehrpiloten haben einen Anspruch darauf, klaren Wein eingeschenkt zu bekommen. Mit diesem müden Gebräu der SPD kann man keine Zukunft gestalten. ({10}) Meine Damen und Herren, die Forschungsminister werden im Oktober in Toulouse darüber entscheiden, ob wir als Europäer uns an der Internationalen Raumstation Alpha beteiligen. Statt getrennte nationale Wege zu gehen, wollen Amerikaner, Japaner, Kanadier und Europäer erstmalig gemeinsam eine Raumstation bauen, sie im Weltall stationieren und mit Astronauten Forschung betreiben. Das ist ein faszinierendes Projekt. Rund tausend Arbeitsplätze könnten damit im Bereich der deutschen Raumfahrt gesichert werden. Was sagen die Grünen? Sie lehnen die deutsche Beteiligung an Alpha und auch die bemannte Raumfahrt ab. ({11}) Bei den Haushaltsberatungen haben sie die Streichung der Mittel beantragt. Ich kann nur sagen: Das ist konkrete Zukunftsverweigerung. ({12}) Die in der Raumfahrt führenden Nationen der Welt werden in ungeahnter Kooperation einige hundert Kilometer von der Erdkugel entfernt über nationale, politische und sprachliche Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Sollte Deutschland da abseits stehen? Ich meine: Nein. Das ist ein einzigartiges Vorhaben, das wissenschaftliche und wirtschaftliche Nutzung sowie außenpolitischen Nutzen miteinander verbindet. Meiner Meinung nach sollten wir mitmachen. Die Raumfahrt hat eine tiefergehende Bedeutung, als es auf den ersten Blick vielleicht ersichtlich ist. Das Bild von der Erdkugel ist wahrscheinlich das wertvollste Apollo-Vermächtnis, das es gibt. Die Aufnahmen von der Erde aus dem Weltall haben die Vorstellungen unserer Welt zutiefst verändert. Die Einmaligkeit und die Verwundbarkeit unseres Erdballs sind deutlich geworden. Raumfahrt leistet wichtige Beiträge zur Lösung von Zukunftsaufgaben. Das Abschmelzen der polaren Eiskappen und das Ansteigen der Ozeane als Folge des Treibhauseffektes werden mittels Radarsensoren aufgezeichnet. Satelliten messen Meeresströmungen, Wellenhöhen und auch Windgeschwindigkeiten. Satelliten haben durch die kontinuierliche Beobachtung des Ozonlochs dazu beigetragen, einen entscheidenden Bewußtseinswandel in der Öffentlichkeit zu bewirken. Gleichzeitig gibt es auch eine wirtschaftliche Bedeutung. Die ARIANE-Rakete hat am zivilen Raketen- und Satellitenmarkt einen Anteil von 60 %. Der ROSAT Satellit, 1990 gestartet, hat im Universum 120 000 neue Röntgenquellen entdeckt. D1- und D2-Missionen waren erfolgreich. In diesem Moment ist ein deutscher ESA-Astronaut, Thomas Reiter, zusammen mit russischen Kosmonauten in der Raumstation MIR und betreibt gemeinsam mit ihnen Schwerelosigkeitsforschung. Ich finde, das ist eine hervorragende Leistung. Wenn man sich vor Augen führt, daß der Bundesforschungsminister allein in diesem Jahr 1,6 Milliarden DM für Weltraumforschung und -technik zur Verfügung stellt, bleibt mir eigentlich nur noch ein Spruch übrig, den ich aus der Fernsehreklame kenne, der Spruch eines bekannten Autoherstellers in Deutschland: „Die tun was!" ({13}) Die Raumfahrtindustrie muß ihr Geld verstärkt auch auf den Märkten gewinnen und darf nicht nur auf Aufträge des Staates hoffen. In den nächsten Jahren wird es neue Nutzungsfelder geben: Satellitennavigation, neue Formen der Telekommunikation, Erderkundung zum Nutzen der Landwirtschaft, Katastrophenschutz. Wir haben heute nur einen Anteil von 2 % am Weltmarktvolumen von 43 Milliarden DM. Es wird ein jährliches Wachstum von 16 % auf 186 Milliarden DM erwartet. Diese Märkte wollen erorbert werden, und zwar zum Wohle deutscher Arbeitsplätze. ({14}) Lassen Sie mich einen abschließenden Gedanken formulieren: Raumfahrt ist jenseits aller Nutzanwendung und Wirtschaftlichkeitsbetrachtung auch eine forschungspolitische Aufgabe, die das Selbstverständnis der Wissenschaft im tiefsten berührt. In neue, unbekannte Räume und Welten vorzudringen, physisch und psychisch, ist seit jeher ein Streben der Menschen gewesen. Raumfahrt kann zu tieferem Verständnis der Materie und auch der Geschichte unserer Welt beitragen. Was für uns vor Jahren noch Zukunft war, ist heute Gegenwart. Wir müssen jetzt gemeinsam die Gegenwart von morgen erfinden. Herzlichen Dank. ({15})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rachel, Sie gehören nicht der F.D.P.-Fraktion an, die ihre Erstlingsredner mit einem Blumenstrauß zu bedenken pflegt. ({0}) Dafür haben Sie heute die Genugtuung, in einer Debatte, die in die erste Kernzeit nach unserer Reform fällt, vor fast vollem Hause geredet zu haben. ({1}) Vizepräsident Hans Klein Ich erteile der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk das Wort.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie befindet sich in einer schwierigen Lage, ihr größtes Unternehmen, die Daimler-Benz Aerospace, in einer existentiellen Krise. Im Halbjahresbericht bringt der DASA-Vorstand der Öffentlichkeit einen Verlust von über 1 1/2 Milliarden DM zur Kenntnis und rechnet mit weiteren deutlichen Verlusten bis zum Jahresende. Etwa 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an etwa 40 Standorten in Deutschland sind zu Recht zutiefst über ihre Situation beunruhigt und fragen ihre Unternehmensführung, aber auch die Politik nach den Zukunftschancen ihres Unternehmens und der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Ich meine, Management und Politik schulden den Menschen Offenheit und Klarheit über ihre Zukunftschancen, ({0}) gerade weil dieser Bereich in einem nicht geringen Umfang von öffentlichen Aufträgen abhängt. Wir Sozialdemokraten meinen: Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist ein unverzichtbares Element der deutschen Industrie. Sie verfügt in hohem Ausmaß über Zukunftstechnologien, deren Innovationen auf andere Bereiche ausstrahlen. Schlüsseltechnologien wie Mikro- und Optoelektronik, Softwaretechnologie, neue Hochleistungswerkstoffe und neue Energietechnologien kommen interdisziplinär zum Einsatz. Viele dieser Technologien werden in den nächsten Jahren auf weltweiten Wachstumsmärkten wie der zivilen kommerziellen Satellitenkommunikation eine wichtige Rolle spielen. Herr Kollege Rachel, wir müssen aber auch darüber reden, daß in den 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DASA über Jahrzehnte ein Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionswissen entstanden ist, das in der deutschen Industrie seinesgleichen sucht. ({1}) Die hohe Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihr Know-how, ihre Produktionsfähigkeiten und ihre Arbeitsplätze gilt es unserem Land zu erhalten. ({2}) Die Zukunft der Luft- und Raumfahrtindustrie wird im zivilen Bereich liegen, in dem die DASA schon heute 70 % ihres gesamten Umsatzes erzielt. ({3}) Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit - da stimme ich meinem Vorredner zu - läßt sich auf Dauer nur in einer engen europäischen Kooperation sichern. Wer aber der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie helfen will, muß sich über die Gründe der massiven Krise im klaren sein. Das sind im wesentlichen drei: die Lage auf dem Weltmarkt für zivile Luftfahrzeuge, die hausgemachten Probleme bei der DASA und die fehlende mittelfristige Planung bei der staatlichen Nachfrage. Die internationalen Probleme sind dabei ohne Zweifel die gravierendsten. Die Deregulierung des Luftverkehrs hat weltweit zu hohen Verlusten der internationalen Luftverkehrsgesellschaften geführt. Das hat bei den Flugzeugbauern zu Nachfrageeinbrüchen und zu weltweiten Überkapazitäten geführt. Allein Airbus mußte seine Planung von 210 auf mittlerweile 120 Maschinen zurückführen. Das hat natürlich Konsequenzen für die Gewinne und die Kostensituationen mit sich gebracht. Aber darüber hinaus ist die deutsche Industrie auch in einer ungünstigeren Wettbewerbslage als andere europäische Mitbewerber und erst recht als ihre US-Konkurrenten. Dazu muß man der Bundesregierung sagen, daß die Europäische Union zusammen mit den USA im Rahmen des GATT im Juli 1992 ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das zu schlimmen Nachteilen für die deutsche und die europäische Luft- und Raumfahrtindustrie geführt hat. ({4}) Es ist der US-Industrie gelungen, die in Europa praktizierte direkte Förderung stark zu reduzieren und die in den USA praktizierte indirekte Förderung durch Militär- und Forschungsprogramme weitgehend unangetastet zu lassen. Das hätte sich voraussehen lassen. Der vom DASA-Management als entscheidend vorgetragene Verfall des Dollarkurses ist zwar wichtig, aber zumindest in diesem Jahr laut Halbjahresbericht nicht entscheidend für die Höhe der Verluste. ({5}) Nach uns vorliegenden Informationen betragen die Rückstellungen für die sogenannten Drohverluste für einen Dollarrückgang auf DM 1,35 - der Dollar steht übrigens heute auf 1,41 DM - etwa 220 Millionen DM. Das ist für ein Unternehmen eine ernst zu nehmende Summe, aber nicht der Löwenanteil der Verluste. ({6}) Deswegen muß man sagen: Die hausgemachten Fehler der DASA haben zu größeren Verlusten geführt als die Dollarschwäche. ({7}) Man kann dem Management von Daimler-Benz und DASA nur raten, selbst einmal in den Spiegel zu sehen und sich zu fragen, ob sie nicht ihre eigenen Kaufentscheidungen bei Fokker und Dornier nun zu Lasten Dritter, nämlich ihrer Arbeitnehmer und des Staates sanieren müssen. ({8}) Betrachtet man nun die vom DASA-Vorstand lancierten und öffentlich gemachten Konzepte wie z. B. das Dolores-Programm, so drängt sich der Verdacht auf, als wolle man von eigenen Fehlern ablenken und die eigenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Politik massiv unter Druck setzen. ({9}) Wir meinen, eine konzertierte Aktion zum Erhalt der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie zur Zukunftssicherung der Arbeitsplätze war und ist schon lange überfällig. Ministerpräsidentengipfel sind dafür kein Ersatz, ({10}) weil sie zentrale Probleme gar nicht angehen können. Die Bundesregierung muß deswegen mit den Beteiligten gemeinsam ein industriepolitisches Konzept vorlegen. Aber davor muß das DASA-Management seine eigenen Hausaufgaben machen. Dafür gibt es vier Punkte: Die Dolores-Drohliste von 15 000 Entlassungen und der Schließung ganzer Standorte muß zunächst einmal vom Tisch. ({11}) Denn es geht nicht, daß man sagt, alle Beteiligten müßten sich an einen Tisch setzen, ihnen aber gleichzeitig die Pistole auf die Brust setzt und mit Massenentlassungen und Standortschließungen droht. ({12}) Wir erwarten dafür von der DASA ein neues und mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abgestimmtes Zukunftskonzept für das Unternehmen, bei dem dessen Beiträge sowie diejenigen der Konzernmutter und der Arbeitnehmer zur Sicherung der Standorte darzustellen sind. Wir wissen, daß die Arbeitnehmer dazu bereit sind. ({13}) In dieses Konzept gehören auch realistischere Eckdaten für den Dollarkurs und die erwartete Kapitalrendite. Meine Damen und Herren, niemand will Daimler-Benz angemessene Renditen verwehren. Aber als Teilbegründung für die Notwendigkeit von Massenentlassungen und Standortschließungen sind sie eine Zumutung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Politik. ({14}) Wir erwarten, daß die DASA den hausgemachten Problemen ernsthaft zu Leibe rückt - die übrigens allesamt mehr kosten als der schwache Dollar - und sie nicht zu Lasten deutscher Standorte löst. Allein bei Fokker entstand ein Verlust von 597 Millionen DM, und für das zweite halbe Jahr stehen weitere 0,8 Milliarden an. Auch bei den Schwierigkeiten bei Dornier handelt es sich nicht um ein Dollarproblem, wird doch bei der DO 328 schon zu über 80 % im Dollarraum produziert. ({15}) Letztlich muß sich das DASA-Management stärker als bisher der Aufgabe zuwenden, Ersatzproduktionen für die unvermeidlich geringer werdende militärische Nachfrage zu finden, d. h. neue, innovative Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. ({16}) Wir alle wissen, wie verdammt schwer das in einer Struktur ist, die nicht an Marketing auf harten Wettbewerbsmärkten gewöhnt, sondern auf staatliche und speziell militärische Beschaffung getrimmt war. Hier kann und muß Politik, die sich gemeinsam und aus vernünftigen Gründen nach dem Ende des Kalten Krieges für Abrüstung als Priorität entschieden hat, den Übergang vom militärischen Entwicklungs- und Beschaffungswesen in neue zivile Bereiche öffnen und ebnen helfen, auch finanziell. ({17}) Und weil Sie nachgefragt haben: Das ist unsere Vorstellung von einer aktiven, sozialverträglichen Industriepolitik. Nicht am militärischen Produkt kleben um jeden Preis, sondern sich überlegen, wie sich Wissen und Qualifikation sowie das hohe Produktions-Know-how für weltweit absetzbare neue Ideen und Produkte nutzen lassen. Übrigens ist beim Dolores-Konzept nicht auszuschließen, daß 15 000 Arbeitsplätze in Deutschland in der jetzigen Flaute der zivilen Luftfahrt zu Lasten der Arbeitnehmer und auf Kosten des Staates radikal abgebaut werden und dann, wenn die Weltnachfrage bei der zivilen Luft- und Raumfahrt wieder anspringt, die Arbeitsplätze im Ausland wieder hochgezogen werden. ({18}) Seien Sie sicher, wir werden darauf achten, daß bei allen künftigen Staatsaufträgen sichergestellt wird, daß Produktion, Arbeitsplätze und Know-how in einem garantierten Maß in Deutschland bleiben, auch in einem unausweichlich enger werdenden europäischen Verbund. ({19}) Im dritten und wichtigsten Punkt für die Krise ist die Politik in der Verantwortung. Das sind nämlich die fehlenden Konzepte für die mittelfristige Entwicklung der Nachfrage in wichtigen Bereichen der Luft- und Raumfahrtindustrie. Hier muß nicht die DASA, hier muß die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben machen, ({20}) zügig, aber auch sorgfältig, und dann dem Parlament zur Entscheidung vorlegen. Ich sage Ihnen eines: Übers Knie brechen läßt sich da nichts; denn eine Beschaffungsentscheidung für ein System, ob nun im militärischen Bereich oder bei der Raumfahrt, bedeuDr. Sigrid Skarpelis-Sperk tet ja notwendigerweise, daß ein anderes Projekt aus dem Haushalt herausfliegt, wenn die Summe der Beschaffungsaufträge begrenzt ist. Das hat dann auch wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Konsequenzen, möglicherweise sogar im selben Konzern. Deshalb werden wir Sozialdemokraten darauf bestehen, daß die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht und endlich ein Konzept für die Luft- und Raumfahrt, auch ein haushaltsfähiges, tragbares Konzept für die militärischen Aufträge vorlegt, denn das steht immer noch aus. ({21}) Wir bedauern sehr, daß die Bundesregierung trotz der hohen staatlichen Aufwendungen - allein in den Airbus sind etwa zehn Milliarden DM geflossen - sich derzeit nicht in der Lage sieht, ein Konzept für die Luft- und Raumfahrtindustrie vorzulegen, sondern - so hat es uns der geschätzte Kollege Lammert versprochen - auf die Jahreswende 1995/1996 vertröstet. Ein Gutachten über die Luft- und Raumfahrtindustrie wurde im Frühsommer 1995 vergeben und soll nun im Sommer 1996 vorliegen - fürwahr nicht gerade eine besonders eilige Behandlung, und Herr Lammert ist nun nicht der erste und nicht der zweite, sondern der dritte Koordinator für die Luft- und Raumfahrt. So, meine Damen und Herren, wird die Bundesregierung ihrer Verantwortung gegenüber dem Parlament, der Öffentlichkeit und der betroffenen Luft- und Raumfahrtindustrie nicht gerecht. ({22}) Wir erwarten, daß der Koordinator der Bundesregierung endlich aus seiner Moderatorenrolle herauskommen darf und dem Deutschen Bundestag ein industrie- und haushaltspolitisches Konzept vorlegt. Mein Kollege Schütz wird auf die Details näher eingehen. Die Menschen in der Luft- und Raumfahrtindustrie erwarten von der Bundesregierung und der Politik Klarheit über ihre Ziele und Planungssicherheit für ihr Unternehmen. Deswegen, meine Herren von der Bundesregierung: Machen Sie Ihre Hausaufgaben sorgfältig und zügig, damit das Parlament auch in der Lage ist, verantwortlich zu entscheiden! ({23})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf der Besuchertribüne hat Herr Senator Coetsee, der Präsident des Südafrikanischen Senats, mit seiner Delegation, mit der er hier zu Gast weilt, Platz genommen. Ich begrüße ihn namens des Hauses herzlich. ({0}) Herr Senator und Kolleginnen und Kollegen aus dem Südafrikanischen Senat! Dieses Hohe Haus hat am Schicksal Ihres Landes immer aktiven Anteil genommen. ({1}) Wir richten auch jetzt, in der Zeit der rassischen Zusammenarbeit, große Hoffnungen auf Sie. ({2}) Ich erteile das Wort der Kollegin Simone Probst.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für wirklich tragfähige politische Konzepte ist die Krise bei der DASA eine der größten Herausforderungen. Der drohende Wegfall von 15 000 Arbeitsplätzen ist alarmierend. Allerdings ist die Strategie der Konzernführung und auch die der Bundesregierung alles andere als überzeugend. Auch die Debatte, die heute und in den letzten Tagen geführt wurde, geht an den Kernpunkten vorbei. Was soll die Diskussion um Eurofighter, ja oder nein? Ich frage Sie wirklich: Was soll das? Sicherheitspolitische Entscheidungen müssen als sicherheitspolitische Entscheidungen und nicht als Beschäftigungsprogramme mit unklarer Wirkung getroffen werden. ({0}) Nutzen Sie doch nicht die bedrängte Situation der Beschäftigten, um umstrittene Entscheidungen jetzt hopplahopp salonfähig zu machen, vor allem, weil der militärische Sektor der DASA in den letzten Jahren von über der Hälfte auf nur noch gut ein Viertel gesunken ist! Zwar ist uns auch dieser Anteil ein Dorn im Auge. Wir diskutieren aber nur ein Viertel der gesamten Palette. Das heißt auch, mit der Entscheidung für oder gegen den Eurofighter ist das Problem der DASA nicht gelöst und der Plan Dolores nicht vom Tisch. ({1}) Da frage ich mich einfach, was dieser Zirkus der Ministerpräsidenten verschiedenster Couleur in der letzten Woche sollte. Es ist zwar richtig, daß Rüstungsaufträge vordergründig und kurzfristig Kapazitäten auffüllen können, aber es gehen doch von solchen Aufträgen keine Impulse für neue Produkte und Arbeitsplätze aus. ({2}) Vielmehr zeigen neben allen unseren prinzipiellen Bedenken alle Untersuchungen, daß die versprochenen Innovationseffekte der Militärproduktion für die zivile Fertigung längst nicht eingehalten werden können. Es hat sich im Gegenteil gezeigt, daß die Rüstungsindustrie eher eine Sackgasse für technologische Innovation und Kreativität im zivilen Bereich ist. ({3}) Nehmen Sie doch das Beispiel Dornier. Dornier hat sich im Bereich der Medizintechnik engagiert und einen Ultraschall-Nierensteinzertrümmerer entSimone Probst wickelt, sozusagen eines der vielbeschworenen Abfallprodukte. Allerdings konnte sich dieses sogenannte Abfallprodukt nicht gegen andere Anbieter auf dem Markt durchsetzen, weil dem Konzern Dornier die nötige Infrastruktur wie beispielsweise Marketing und Vertrieb fehlt. Hier ist eine große strukturelle Schwachstelle, die geschlossen werden muß, wenn Projekte zur Konversion Erfolg haben sollen. ({4}) Es müssen Strukturen geschaffen werden, die die Eigenständigkeit der zivilen Produktion sichern und damit Arbeitsplätze gerade in der Hochtechnologie zu erhalten helfen. Warum gibt es hier so wenige Aktivitäten? Warum liegt hier nur ein Stellenabbauprogramm und nur die Forderung nach neuen Subventionen auf dem Tisch? ({5}) Warum findet in einer gerade für die Beschäftigten so prekären Situation keine Marktanalyse statt, welche Produkte mit welchem Know-how hergestellt werden können? Aus technischer Sicht könnte die DASA viel Nützliches produzieren: umweltfreundliche Antriebssysteme, Motoren für Blockheizkraftwerke, die eine sparsame und dezentrale Energieversorgung erlauben, wesentlich sparsamere Kraftfahrzeuge, Elektrofahrzeuge für den Stadtverkehr, umweltfreundliche Nutzfahrzeuge wie Busse und Lkw, weiterentwikkelte Windenergieanlagen, Solarzellen, Techniken zur Wiederverwertung von Werkstoffen, moderne Meerwasserentsalzungsanlagen, neuartige Batterien und andere Speicher zur Nutzung von Überschußenergien und zum Antrieb von Fahrzeugen, Systeme zur Umweltbeobachtung und zur Telekommunikation. Dies alles wird nicht vorangetrieben. Vielmehr soll die Airbus AG nach den vorliegenden Plänen mit 7 500 abzubauenden Stellen am stärksten betroffen sein. Das ist nicht nur angesichts der bisher allein für den Airbus geflossenen Subventionen in Höhe von 6,5 Milliarden DM ein Skandal. Es kann doch nicht angehen, daß Unternehmen erst die Subvention kassieren und dann Entscheidungen dieser Tragweite ausschließlich aus konzernstrategischen Erwägungen heraus treffen. ({6}) Vielmehr hat die DASA gerade auf Grund der umfangreichen öffentlichen Mittel, die sie in den letzten Jahren erhalten hat, eine standort- und beschäftigungspolitische Verantwortung, vor allem, weil die Deutsche Airbus AG keinesfalls vom Pleitegeier bedroht ist, sondern ein profitables Unternehmen in einem wachsenden Markt ist. 1994 belief sich der Überschuß auf 260 Millionen DM. Ohne die Fehlkalkulation des Daimler-Managements bei der vom Größenwahn geprägten Einverleibung von Dornier und Fokker wäre die DASA vermutlich ein gut laufendes Unternehmen, und die Milliardenverluste müßten nicht von der Airbus wettgemacht werden. ({7}) Es kann doch nicht angehen, daß das Management die Verantwortung und die Belegschaft das Risiko trägt, während der Staat durch Subventionen für die Fehlentscheidungen des Managements einstehen muß. ({8}) Denn auch eine Veränderung des Dollarkurses fällt ja nicht plötzlich vom Himmel. Hintergrund der jetzt betriebenen Rationalisierungsplane bei der DASA ist das Ziel, die Kapitalrendite bis zum Jahr 1998 auf 12 % und den Gewinn auf 1,1 Milliarden DM zu steigern sowie das Eigenkapital bis zum Jahre 2000 auf 2,6 Milliarden DM zu verdoppeln, und das bei einem angenommenen Dollarkurs von 1,35 DM. Wir wissen, daß er heute bei ungefähr 1,45 DM steht und daß die DASA Währungssicherungsgeschäfte vorgenommen hat, die den Dollarkurs bis 1998 absichern. Man muß gegenüber dem Konzernvorstand diese Ziele vehement bestreiten und sich nicht zu unvernünftigen Entscheidungen verleiten lassen. ({9}) Die Politik darf nicht durch einzelne Konzerne erpreßbar werden. Vielmehr müssen die politischen Rahmenbedingungen verläßlich gesetzt werden und staatliche Gelder an zukunftssichere Arbeitsplätze und Projekte gebunden werden. Unter dieser Voraussetzung ist es einfach grotesk, auf die geplante Raumstation Alpha zu setzen - ein Projekt, das von großen Finanzierungslücken gekennzeichnet ist, ein Projekt, in der die Art und Weise und der Umfang der Kooperation mit Frankreich und Italien ungeklärt ist. Solch ein Projekt verkörpert doch keine Zukunft, sondern nur neue Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten. Schaffen Sie die politischen Rahmenbedingungen, daß die zivile Produktion der DASA gestützt wird. Die Einführung einer Kerosinsteuer ist auch vor diesem Hintergrund längst überfällig. ({10}) Wir treten für eine drastische Reduzierung des Flugverkehrs ein; allerdings müssen die Rahmenbedingungen so sein, daß die modernsten und umweltschonendsten Techniken auf dem Markt auch wirklich Chancen haben, Fuß zu fassen. ({11}) Eine Kerosinsteuer wird die Nachfrage nach treibstoffsparenden Flugzeugen, wie es der Airbus ist, stark erhöhen. Die technischen Möglichkeiten, die wir haben, müssen doch für den ökologischen Umbau genutzt werden. Da frage ich mich, warum, als die DASA das letzte Solarzellenwerk geschlossen hat, das Management und die Belegschaft nicht an die Politik herangetreten sind, wo wir doch wissen, daß das ein Bereich ist, wo wirklich Zukunftschancen der Technologie liegen. Warum wurde da keine Unterstützung eingefordert? Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden: mit einer Energiesteuer, mit einer kostendeckenden Vergütung, damit diese Bereiche nicht abwandern, sondern hier erhalten bleiben, ({12}) damit die Arbeitsplätze erhalten bleiben und damit die Rahmenbedingungen verläßlich sind und nicht von Entscheidungen von einer Woche auf die andere abhängig gemacht werden. Wir unterstützen alle Bemühungen, das Wissen und die Arbeitsplätze im Bereich der Hochtechnologie zu erhalten. Das Wissen und das Know-how sind ein hohes Gut, das nicht unbedacht verspielt werden darf. Wir teilen die Sorge der Beschäftigten um ihre Arbeitsplätze. Aber gerade deshalb muß jede weitere Mark an die DASA an glasklare Bedingungen und Spielregeln geknüpft werden. Es ist doch ein Armutszeugnis, wenn wir unseren Gestaltungsspielraum aufgeben, vor allen Dingen auf Grund der Fehlentscheidungen einzelner Konzerne. Es geht hier um Steuergelder, und ich denke, dies ist mitnichten moderne Wirtschaftspolitik. Vielen Dank. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der vergangenen Woche haben alle Fraktionen mit herzbewegenden Worten ihre Mittelstandsfreundlichkeit gepriesen. Es war richtig schön, sich das anzuhören. Heute behandeln wir in einem besonderen Tagesordnungspunkt die Probleme eines großen Unternehmens, ({0}) und prompt hagelt es Rufe nach Unterstützung und nach Subventionen: Um die Zukunft einer Zukunftsindustrie in Deutschland gehe es. Können Sie sich vorstellen, daß wir bei Problemen eines mittelständischen Unternehmens in gleicher Weise verfahren? ({1}) - Wir kommen auf dieses Thema noch zurück. Frau Matthäus, so vergeßlich bin ich doch nicht. Ich habe das in mehr als 20 Jahren Wirtschaftspolitik nicht erlebt. Aber so ist das eben: Ein großes Unternehmen macht Verluste und kündigt in ziemlich drohender Weise den Abbau von Arbeitsplätzen an. Und dann beginnt das Schauspiel: Vom Frühstücksfernsehen bis zu den „Tagesthemen" wird uns die DASA dargeboten, regionale und überregionale Zeitungen, von „FAZ" bis „Bild", erregen die Gemüter, die IG-Metall organisiert Demonstrationen. Sieben Ministerpräsidenten eilen herbei und demonstrieren parteiübergreifend Einigkeit; Herr Rachel hat recht: möglichst zu Lasten der Bundeskasse. Wenn Sie, meine Herren, Ihre Arbeitsplätze in Ihren Regionen sichern wollen, ist das völlig in Ordnung; aber bitte: zu Ihren Lasten. ({2}) Ich bin sicher, Herr Ministerpräsident Stoiber, Sie und Ihre Kollegen haben den Ruf des Kollegen Rachel, Standortegoismus dürfe es nicht geben, mit viel Zuversicht und Zutrauen aufgenommen. Meine Damen und Herren, wir verstehen die Sorgen der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Familien. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen, in denen es schwierig ist, neue Arbeitsplätze zu finden. Das ist das Bittere daran. Aber das Unternehmen und die IG-Metall, die in einem mitbestimmten Unternehmen über erheblichen Einfluß verfügt, machen es sich wohl zu leicht, eigene Fehlentwicklungen einfach beim Steuerzahler abzuladen. ({3}) Wer kümmert sich eigentlich um die Schieflage eines Mittelständlers in vergleichbarer Lage? Wenn es nicht 15 000 von 75 000, sondern 200 von 1 000 Arbeitsplätzen sind, dann kommt allein der Bürgermeister und sonst nur der Gerichtsvollzieher oder der Konkursverwalter. ({4}) Das, meine Damen und Herren, ist der Wettbewerbsnachteil kleiner und mittlerer Unternehmen. Ihnen kommen wir selten oder gar nicht zu Hilfe, über sie ergießt sich das Füllhorn staatlicher Rettungsmaßnahmen nicht. Sie dürfen zusehen, wie mit ihren Steuergeldern ihre großen Konkurrenten häufig genug künstlich am Leben gehalten werden. ({5}) Deshalb sage ich auch bei dieser Gelegenheit noch einmal in Richtung Mittelständler: Tretet ihr dafür ein, daß die Steuern gesenkt werden, daß euch eure Gewinne belassen werden! Wehrt euch gegen die Subventionswirtschaft! Ihr zahlt die Steuern, die Großen kassieren die Subventionen. ({6}) Industriepolitik für Zukunftsindustrien, das ist offensichtlich nur die modische Umschreibung für einen alten Mechanismus: von der Förderung der Zukunft über die Erhaltungssubvention zur Dauersubvention. Übrigens, was heißt eigentlich Subventionsgewährung in großen Fällen für den Arbeitsmarkt? Die Politik brüstet sich dann oft genug, sie habe Arbeitsplätze erhalten. Das Gegenteil ist richtig. Staatliche Hilfszahlungen nehmen den Druck von Tarifverhandlungen. In der nächsten Tarifrunde kann fröhlich weiter gefordert werden. Aber die dann vereinbarten Tarifsteigerungen sind unverdaulich für kleine und mittlere Unternehmen. Dort wird dann Produktion ins Ausland verlagert, wie wir es tagtäglich erleben. Die indirekte Subventionierung der Ergebnisse von Tarifverhandlungen macht große Unternehmen gegen Kostensteigerungen unempfindlicher und zerstört Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen. ({7}) Wirtschaftswissenschaftler schätzen, daß ein so erhaltener Arbeitsplatz wegen dieser Kausalkette mit ca. drei bis fünf verlorenen Arbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen bezahlt wird. Meine Damen und Herren, unser früherer Kollege Herbert Ehrenberg hat kürzlich zur Fusion DaimlerBenz/MBB im „Handelsblatt" geschrieben: Daß die Fusion volkswirtschaftlich falsch war, das wußten wir lange. Jetzt wissen wir, daß sie auch betriebswirtschaftlich falsch war. Er hat recht. ({8}) - Wir haben genehmigt; ich weiß. Sie wissen, daß ich dagegen war. Trotzdem haben wir am Ende genehmigt. ({9}) - Ja, das weiß ich auch. Aber Sie kennen doch alle die Vorgeschichte, und Sie kennen auch alle den einzigen wichtigen Grund: daß wir versuchten, insbesondere von den Wechselkurssubventionen beim Airbus zu Lasten der Bundeskasse davonzukommen. Aber so haben wir nun nicht gewettet, daß wir die Fusion damals genehmigt haben und die Subventionsforderung doch wieder auf den Tisch bekommen. ({10}) Muß denn jetzt, meine Damen und Herren, der Steuerzahler für Mißmanagement geradestehen? ({11}) Soll er für die Unfähigkeit zahlen, das Problem AEG zu lösen? Soll der Steuerzahler den offenbar falschen Kauf von Fokker finanzieren? Nach gestrigen Pressemeldungen rechnet der neue Daimler-Benz-Vorsitzende Jürgen Schrempp bei seinem Neuerwerb mit einem Verlust von 1 Milliarde holländische Gulden in diesem Jahr. ({12}) - Also, immer noch besser Otto als Joschka. ({13}) - Also ich nicht, Herr Fischer, falls Sie sich daran noch erinnern sollten. Meine Damen und Herren, gerade Entscheidungen wie die über den Kauf des Unternehmens Fokker werden übrigens in mitbestimmten Unternehmen nicht ohne Zustimmung des mitbestimmten Aufsichtsrates getätigt. Wie geht das denn vor sich? Kann die IG Metall jetzt alleine mit dem Zeigefinger die Verantwortlichen suchen, ohne zu sagen, wieviel sie selber dazu beigetragen hat? ({14}) Ich maße mir im übrigen kein eigenes Urteil zum Thema Mißmanagement an.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jawohl, Herr Präsident; ich möchte nur noch diesen Gedanken zu Ende führen. Ich maße mir zum Thema Mißmanagement wahrlich kein eigenes Urteil an. Es genügt völlig, auf die Äußerung von Herrn Schrempp zu verweisen, mit der er die von seinem Vorgänger übernommene Erblast öffentlich beklagt hat. Herr Präsident, bitte.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Herr Kollege Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist Ihnen bekannt, daß gerade die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gegen diese Fusionen gestimmt haben, von denen Sie hier sprechen? Ist Ihnen weiter bekannt, daß diese Arbeitnehmervertreter auf Grund eines Mitbestimmungsgesetzes überstimmt werden konnten, das den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht die Mehrheit sichert, und daß das Mitbestimmungsgesetz im Hinblick auf diese Situation im wesentlichen auf Ihre Intervention hin zustande gekommen ist? ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens ist die Fusion von Daimler-Benz/MBB unter kräftiger Zustimmung, um nicht zu sagen kräftigem Druck auch der IG Metall zustandegekommen, die völlig auf der Seite der Fusion stand. Zweitens. Was das Mitbestimmungsrecht angeht, so haben wir es seinerzeit in der sozialliberalen Koalition gemeinsam verabschiedet. Ich halte das, im Gegensatz zu Ihnen, für ein vernünftiges Gesetz. ({0}) Meine Damen und Herren, was sagt denn eigentlich der Großaktionär Deutsche Bank zu diesem Vorgang? Die Verteidiger des industriellen Beteiligungsbesitzes der Banken dürften sich diesen Fall etwas genauer ansehen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, der Kollege Urbaniak möchte auch eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei Herrn Urbaniak immer, Herr Präsident.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lambsdorff, Sie wissen doch genau, daß wir bei der Mitbestimmungsregelung, die wir seinerzeit getroffen haben, klare sozialdemokratische Vorstellungen nicht aufgegeben haben und wir immer gesagt haben, für uns gilt die Parität. Das gilt nicht für das Mitbestimmungsrecht, das Sie anführen. Das muß der Redlichkeit wegen noch einmal festgehalten werden. ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wiederhole: Dieses Gesetz ist auch mit den Stimmen der Sozialdemokraten verabschiedet worden. Aber ich will Ihnen gerne bestätigen, wir haben Sie an dem unglaublichen volkswirtschaftlichen und eigentumspolitischen Unsinn hindern können, die überparitätische Mitbestimmung der Montanmitbestimmung auf die ganze Wirtschaft auszudehnen. Da haben Sie recht. ({0}) Wir werden uns die größte Mühe geben, Herr Urbaniak, das auch in Zukunft zu verhindern. ({1}) Meine Damen und Herren, die Fortsetzung der Zuweisung von Forschungsmitteln, gegebenenfalls auch ihre Erhöhung, gegebenenfalls auch ihre Ausweitung auf die Raumfahrt, was Herr Rachel zu dem ganzen Komplex gesagt hat, findet meine, findet unsere Zustimmung. Das wird von der F.D.P. unterstützt. Mehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber auch nicht. Den Wunsch nach Planungssicherheit, nach klarer Entscheidung des Bundes zu dem Kampfflugzeug kann ich durchaus verstehen. Aber der DASA-Vorsitzende Bischof verschweigt bei seiner Kritik, daß die Zeitverzögerung nicht nur, aber auch darauf beruht, daß der deutsche Fertigungsanteil von jetzt debattierten 23 % möglichst erhöht werden soll. Der Herr Verteidigungsminister nickt. Ich sehe das als Zustimmung an. Ein schneller Abschluß, auf den manche jetzt drängen, würde die Chancen für einen größeren deutschen Arbeitsanteil verschlechtern und deutsche Arbeitsplätze kosten. Auch das sollte man wissen. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, was sollen eigentlich DASA-Vorstand und Arbeitnehmer davon halten, daß der rot-grüne Wahlkämpfer Spöri, unser früherer Kollege hier im Hause, in Baden-Württemberg die Beschaffung des Flugzeuges fordert, die Fraktion der SPD aber am 19. September im Verteidigungsausschuß beantragt hat, sogar die Entwicklung abzubrechen? Die Meinungsbildung bei Ihnen ist so übersichtlich wie der Blick auf einen Teller Spaghetti. ({3}) - Es ist nicht alles zum Besten bei der F.D.P., aber es ist nicht so schlimm wie bei Ihnen. ({4}) - Liebe Frau Fuchs, ich habe vorhin auch die Debatte zur Sozialpolitik verfolgt. Ich denke, Frau Lehn hat heute eine soziale Tat vollbracht. Sie hat Herrn Scharping zum Lachen gebracht. Das ist in seiner Situation als soziale Tat zu werten. ({5}) Meine Damen und Herren! Die Entscheidung für oder gegen den Eurofighter bleibt trotz Ihrer Koalition, Herr Ministerpräsident Stoiber, mit dem Herrn Ministerpräsidenten Schröder und anderen immer noch eine verteidigungs-, eine sicherheitspolitische Entscheidung. Darin sind wir einig. Das ist gut. ({6}) Sie kann ja, kann aber auch nein heißen. Eine Vergabegarantie für die DASA hat es zu keinem Zeitpunkt, auch nicht bei der Fusion von Daimler-Benz und MBB gegeben. Die Hoffnungen einiger Herren sind noch längst keine Garantien und noch längst keine Wechsel, die man zum Verfall vorlegen kann. ({7}) Für nicht erteilte Aufträge, für erwartete, aber nicht hereingeholte Aufträge muß jedes Unternehmen in dieser Wirtschaft selbst für Ersatz sorgen und kann sich nicht beim Staat schadlos halten. ({8}) Mit Wechselkursänderungen - die sind ärgerlich und störend, das will ich gar nicht bestreiten - müssen andere auch fertig werden. Im übrigen haben Sie recht, es ist nicht der Löwenanteil der Verluste. Es wird in dem Zusammenhang - Sie haben das auch getan - immer wieder auf die günstige Wettbewerbssituation von Boeing hingewiesen. Immerhin hat Boeing von 166 000 Arbeitsplätzen in den letzten drei Jahren 50 000 abgebaut. So, daß dort das Land ist, wo Milch und Honig fließen, ist es in der amerikanischen Flugzeugindustrie keineswegs. ({9}) Unternehmerische Aufgaben können und dürfen jedenfalls nicht beim Staat abgeladen werden. Was sich hier abzeichnen könnte - ich will nicht sagen, daß es sich schon abzeichnet -, nämlich Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste, das ist nicht die Vorstellung der F.D.P. von Marktwirtschaft. ({10})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Den Mitgliedern des Ältestenrates habe ich mitzuteilen, daß die Sitzung nicht um 13 Uhr und auch nicht, wie vorübergehend angekündigt, um 13.40 Uhr, sondern vermutlich gegen 15.30 Uhr stattfinden wird. Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Kolbow das Wort.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lambsdorff, Sie waren so freundlich, auf den Spaghettiteller zu blikken, den Sie meinten, im Restaurant SPD einnehmen zu müssen. ({0}) Ich will der intellektuellen Redlichkeit wegen, der Sie sich immer verpflichtet fühlen, dartun, daß natürlich hinter den Entscheidungen der SPD im Verteidigungsausschuß die Logik steckt, daß keinerlei verteidigungspolitisches Konzept für die Luftverteidigung dieses Landes besteht. Das haben wir von Anfang an gesagt und deswegen auch die Entwicklung nicht mit unserer Zustimmung versehen. ({1}) Ich verrate Ihnen noch eines, wenn mein geschätzter Kollege Nolting aus dem Verteidigungsausschuß es Ihnen nicht gesagt hat: Wir haben sogar - hören Sie und staunen Sie! - die versteckten Beschaffungsmittel von 110 Millionen DM im Verteidigungsausschuß abgelehnt, weil wir ohne Luftverteidigungskonzeption den Steuerzahler nicht in Anspruch nehmen können. Wenn Sie das verantworten wollen, dann tun Sie es. Wir nicht. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zur Replik Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kolbow, ich höre und ich staune, wie erbeten. ({0}) Würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, warum sich Ihr Kollege Spöri trotz des Fehlens eines verteidigungspolitischen Konzeptes im Wahlkampf in Baden-Württemberg landauf, landab dafür ausspricht, alsbald das Flugzeug zu bestellen? ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Kolbow. Ganz kurz, bitte. Sonst wird eine Debatte der Kurzinterventionen geführt.

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Den Kollegen Spöri verstehe ich gut. Dem ist das Hemd näher als der Rock, ({0}) so wie Herrn Stoiber, Herrn Schröder und allen, die davon betroffen sind, wenn sie Produktionsstätten haben. Aber, Herr Kollege Lambsdorff, dann müssen Sie auch alle miteinander in Ihren Parteien dafür wirken - Herr Stoiber, Sie sind nachher noch dran -, daß vom Herrn Verteidigungsminister das verteidigungspolitische Konzept, über das wir entscheiden können, auf den Tisch gelegt wird. Das ist bisher nicht geschehen, und deswegen kommen Sie in den Nachteil vor Ort, mit uns den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erklären zu müssen, warum es aus verteidigungspolitischer Sicht, auch der Opposition, im Augenblick keine Entscheidung geben kann. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das war eine Rede und keine Replik mehr. - Graf Lambsdorff noch einmal.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Abgeordneter Kolbow, nach dieser Erklärung will ich nur sagen - Herr Struck bittet mich, mich kurz zu fassen, damit nicht so viel Zeit verlorengeht -: Ich werde auch in Zukunft gerne Spaghetti essen, aber nicht in Ihrem SPD-Restaurant. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Winfried Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Um es vorweg zu sagen - interessanterweise sagen es bis auf Herrn Lambsdorff ja auch Rednerinnen und Redner aller hier im Hause vertretenen Fraktionen und Gruppen -: Das Arbeitsplatzvernichtungsprogramm Dolores muß vom Tisch. Die bei Daimler und bei DASA Beschäftigten kämpfen zu Recht um ihre Arbeitsplätze und gegen Arbeitsintensivierung. Ihnen gehört in diesem Kampf unsere uneingeschränkte Solidarität. Wir haben dies vor Ort durch Delegationen, Grußadressen usw. deutlich gemacht und machen es auch hier, im Deutschen Bundestag, deutlich. Doch an diesem Punkt hören unsere Gemeinsamkeiten mit dem größten Teil dessen, was im Plenarsaal gesagt wurde, auf. Denn hier wird geheuchelt. Wir erleben eine Schmierenkomödie, eine höchst unmoralische Veranstaltung, wozu heute in der „WAZ", der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", stand, daß versucht wird, den Staat mit Arbeitsplätzen zu erpressen. Halten wir doch ganz nüchtern drei Fakten fest. Erstens. Der DASA-Mutterkonzern ist die Daimler-Benz Aktiengesellschaft. Daimler ist der größte Konzern in diesem Land. Der Umsatz der Daimler-Benz AG übersteigt in diesem Jahr 100 Milliarden DM. Selbst die prognostizierten Verluste bei DASA von 1995 eingerechnet, wird der Gewinn des Daimler-Gesamtkonzerns zwar nicht bei 1,2 Milliarden DM, aber immerhin noch zwischen 100 und 200 Millionen DM 1995 liegen. Wenn es denn weniger sein sollte, müßte die Bilanz genauer durchleuchtet werden. Der neue Daimler-Chef Schrempp macht doch das - das weiß Herr Lambsdorff ganz genau -, was alle neuen Topmanager in einer solchen Lage tun: Er produziert am Anfang seiner Karriere an der Spitze des Konzerns rote Zahlen. Ausgerechnet er, der den Milliarden-Flop Fokker drehte, klebt seinem Vorgänger Edzard Reuter das Etikett „Mißmanagement" ans Bein. Schrempp erpreßt auf diese Weise die Belegschaften. Er will in den nächsten Jahren blendend dastehen. Massenhafter Arbeitsplatzabbau plus mehr Arbeitsintensität plus mehr Subventionen gleich Supergewinne und gleich Superkarriere für die eigentliche Ära Schrempp. Allein mit Dolores sollen für 1998 und 1999 1,1 bis 1,2 Milliarden DM Gewinne eingefahren werden. Just dieser Zielsetzung sieht sich Schrempp verpflichtet. Bei Antritt seines neuen Jobs sagte er gegenüber der „Wirtschaftswoche", er kenne nur eine Philosophie, und sie heiße: „Profit, Profit, Profit." Es geht der Regierung mit dieser Debatte also darum, ihre eigenen Gesetze der Marktwirtschaft zugunsten des mächtigsten Konzerns auszusetzen. Es geht darum, dieses Unternehmen, das übrigens das „Smart"-Auto in Frankreich und der neuen „All-Activity-Car" in den USA fertigen läßt, finanziell noch mehr zu unterstützen. Damit wahr bleibt, was wahr ist: Das größte Unternehmen in diesem Land ist zugleich der größte Subventionsempfänger. Ein Wirtschaftsminister der liberalen Partei präsentiert sich als Ritter der Marktwirtschaft in trauriger Gestalt - mit Ausnahmegesetzen für die ganz, ganz Großen. Zweitens. Es geht um Arbeitsplätze. Richtig. Daimler-Benz hat allein seit 1990 70 000 Arbeitsplätze abgebaut. Darunter befinden sich auch einige tausend Arbeitsplätze in den Bereichen Bahnbau und Bahntechnik. Zusammengenommen wurden bei Daimler seit 1990 rund fünfmal mehr Arbeitsplätze abgebaut, als jetzt mit Dolores abgebaut werden sollen. Dazu gab es keine Parlamentsdebatte. Es geht um Arbeitsplätze. Richtig. Die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Reichsbahn und jetzt die Deutsche Bahn AG haben allein seit 1990, seit der Wende, 300 000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Deutsche Bahn AG baut pro Jahr 25 000 bis 30 000 Arbeitsplätze ab. Bis 1998 sollen weitere 100 000 abgebaut werden. Der Kollege Voscherau, der hier anwesend sein kann, hat damals, bei der Behandlung der Gesetze zur Bahnprivatisierung, gesagt: Das ist das Ende der schönen Eisenbahn. - Dazu gab es keine Parlamentsdebatte. Wo bleiben die wackeren Arbeitsplatzverteidiger? Die im Bereich Post und Telekommunikation engagierten Kolleginnen und Kollegen - so z. B. unsere Kollegen Jüttemann und Bierstedt - haben mir die Zahlen der Arbeitsplätze genannt, die in diesem Bereich abgebaut wurden und noch zum Abbau anstehen: bisher mehr als 50 000, bis 1999 weitere 100 000. Gestern war der Umweltausschuß in der Oberlausitz. Dort steht nochmals ein Abbau von 15 000 Arbeitsplätzen an. Wo ist die Oberlausitz-Debatte? Wo ist die Post/Telekommunikations-Debatte? Richtig: Es geht um Steuergelder und andere Gelder, die von Millionen Menschen in diesem Land in Kassen eingezahlt werden. ({0}) Hier Subvention für Daimler. Doch warum reden diese Buchhalter der Nation nicht über die anderen gemeinschaftlich aufgebrachten Gelder? Allein der Arbeitsplatzabbau bei der Bahn, der seit 1990 stattfand, kostet diejenigen, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, jährlich rund 9 Milliarden DM. Dazu kommen die Menschen, die durch Dolores zusätzlich ihren Job verlieren sollen und die Gemeinschaftskassen mit rund 240 Millionen DM jährlich belasten werden. Drittens. In welchen Bereichen findet mit Dolores denn auch Arbeitsplatzabbau statt? Wofür soll es mehr Steuergelder und Staatsknete geben? Exakt seit 1982, seit Antritt der Regierung Kohl, betrieb der Daimler-Konzern, unterstützt von der Deutschen Bank, Herrn Herrhausen, dann Herrn Hilmar Kopper, die Politik der Diversifizierung. Ein Technologiekonzern sollte es werden. Daß es auch ein Rüstungskonzern wurde, sollte nicht gesagt werden. Eine strikte Anweisung der Daimler-LobbyDr. Winfried Wolf isten hier in der Bonner Flußlandschaft lautete: Der Sprachgebrauch „Technologiekonzern" ist durchzusetzen, das Wort „Rüstungsunternehmen" zu tilgen. Dabei wurden seither mit MTU, mit MBB, mit Dornier, mit Teilen von AEG Unternehmen aufgekauft, die in erster Linie Rüstungsgüter fertigen. Heute ist Daimler der größte deutsche Rüstungskonzern und der größte Rüstungsexporteur in diesem von einer angeblich christlichen Partei maßgeblich regierten Lande. Exportiert wird auch in Länder, die aktiv Krieg führen, so in die Türkei. Exportiert wurde auch in Diktaturen, so in den Irak und nach Indonesien. Exportiert wurden Waffensysteme, U-Boot-Systeme, u. a. an das rassistische Apartheidssystem in Kapstadt. Der geschätzte Gast auf der Tribüne, für den auch ich geklatscht habe, weiß dies. Die neuen Programme, für die jetzt zusätzliche Subventionen fließen sollen, sind Programme für neue militärische Beschaffungen. Es sind Programme, die sich hervorragend für Bundeswehreinsätze out of area eignen werden. Da ist der Jäger, der ständig umgetauft werden muß, um zu verschleiern, daß bereits 5 oder 7 Milliarden DM Steuergelder in ihn gepumpt wurden, der jetzt Eurofighter heißt und Kriege für das Konzept der Regierungskoalition für Europa führen soll. Da ist das Future Large Aircraft. Das heißt so, weil die „future", die Zukunft, im Führen neuer Kriege gesehen wird. Es handelt sich um ein riesiges Militärflugzeug, das u. a. Raum für den Transport von Panzern bietet. Da ist der Hubschrauber Uhu, der so verniedlichend bezeichnet wird, um zu verhüllen, daß es sich um einen Kampfhubschrauber handelt, usw. Um diese todbringenden, um diese mörderischen Programme zu puschen, um hierfür zusätzlich im Jahr 1 Milliarde DM Subventionen aus den Rippen von Herrn Waigel herauszuleiern und an den größten Konzern fließen zu lassen, wird diese Debatte funktionalisiert. Dazu sollen die Beschäftigten bei DASA in ihrer Notlage instrumentalisiert werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, besteht jetzt ein Widerspruch zwischen meinen letzten und meinen ersten Sätzen? Vielleicht für die Herren Schrempp, Rachel, Rexrodt und Rühe, die nur noch in Kategorien denken können, bei denen sich Arbeitsplätze auf Kriegführen und Waffenproduzieren zu beschränken scheint, in deren Konzeptionen kaum Raum für weit sinnvollere Produkte und Dienstleistungen existiert. ({1}) - Sie wissen, ich bin immer für Zwischenanfragen ansprechbar, wenn die Zeit dafür nicht angerechnet wird. Wir befinden uns in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten bzw. dritten Lesung des Bundeshaushalts. Das ist doch eine sehr gute Gelegenheit, den Kolleginnen und Kollegen bei DASA zu Hilfe zu kommen und dem verbohrten Daimler-Vorstand wie folgt auf die Sprünge zu helfen. Erstens. Die Subventionen, die an Daimler bzw. DASA direkt oder indirekt fließen, werden mit Wirkung des Haushalts 1996 folgendermaßen zweckgebunden vergeben: Daimler bzw. DASA wird veranlaßt, seine Rüstungssparte gezielt in friedliche Produktionen umzurüsten, zu konvergieren, z. B. in Schienenverkehrstechnik, in neue Energien, im medizinischen Bereich, eben dort, wo Daimler gerade im Ausstieg begriffen ist. Darauf hat meine Kollegin Simone Probst hingewiesen. Zweitens. Daimler bzw. DASA wird auch im Bereich der zivilen Luftfahrt verstärkt auferlegt, in umweltverträglichere Techniken zu investieren, etwa in die Entwicklung weniger lauter und weniger energieintensiver Triebwerke. Drittens. Daimler erhält diese Subventionen in Zukunft nur, wenn eine vertraglich vereinbarte verpflichtende Arbeitsplatzgarantie gegeben wird. Wenn schon die Marktwirtschaft ausgehebelt ist, dann richtig und im Interesse der Belegschaften. ({2}) Das sind übrigens Forderungen, wie sie im IG-Metall-Grundsatzprogramm stehen. Das sind Forderungen, wie sie unsere Gruppe in dem Antrag zum Verbot der Rüstungsexporte und zur Konversion der Rüstungsindustrie in den Bundestag einbrachte. Das sind die Forderungen, die die kirchlichen Gruppen und die Abrüstungsgruppen aufgestellt haben. Das sind die Forderungen, wie sie Jahr für Jahr bei den kritischen Aktionären auf den Hauptversammlungen der Daimler-Benz AG vorgetragen werden. Das sind die einzigen Forderungen, die gerade auch im Interesse der Kolleginnen und Kollegen bei der DASA Zukunft bieten. Ja, Herr Rachel, ja, Herr Rexrodt, ja, Herr Rühe, es geht um Zukunft - nicht in Kriegen, nicht für eine Raumfahrt im Himmel, nicht für Konzerninteressen. Es geht um Zukunft und Frieden auf Erden, um Arbeitsplätze für sinnvolle, dringend erforderliche Produktionen und Dienstleistungen. Dafür muß Dolores weg. Dafür brauchen wir ein Projekt DZZ: Daimlers Zivile Zukunft. Danke schön. Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt das Wort Herr Minister Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es zunächst einmal für wichtig, daß eine Bruchlandung der deutschen Luft- und Raumfahrt vermieden wird. Wir müssen auf diesem Sektor in der technologischen Tradition bleiben, in der wir uns befinden. Wir müssen Kompetenz in diesem High-Tech-Bereich bewahren. Was hier Facharbeiter, Ingenieure und Wissenschaftler in vielen Bereichen erforschen, wirkt auch in andere Bereiche unserer Wirtschaft hinein. Denken Sie an ABS, den Airbag, an medizinische Geräte sowie an neue Forschungs- und Entwicklungslinien, auch Produktionslinien in der Energietechnik und in der Sensorik sowie an die vielen anderen Bereiche. Erstens. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine Schlüsseltechnologie, genauso wie die Biotechnik und die Gentechnik. Sie ist eine Zukunftsindustrie. Einen Fadenriß in dieser Zukunftstechnologie können wir uns im Interesse des Standortes Deutschland nicht leisten. ({0}) Das war auch der Grund dafür, daß wir in diese Industrie erhebliche Forschungsmittel investiert haben, zweistellige Milliardensummen. Diese Linie haben wir trotz schwieriger Gesamtsituation des Haushalts im Jahre 1995 fortgesetzt. Unser Luftfahrtforschungsprogramm für die Jahre 1995 bis 1998 hat ein Volumen von 600 Millionen DM. Wir haben versucht, die betroffenen Länder ins Boot und damit in dieses Programm zu holen. Außer Bayern - das muß zugegeben werden - haben sich alle anderen Länder in vornehmer Zurückhaltung geübt. ({1}) Nun wünscht die Industrie eine Weiterführung dieser Förderung. Darüber müssen wir reden. Ich sage ausdrücklich: Darüber können wir auch reden. Ich werde dieses Thema sowohl mit dem Kollegen Rüttgers, der dazu hier heute noch sprechen wird, als auch mit der EG-Kommission erörtern. ({2}) - Wir reden immer mit der Luft- und Raumfahrtindustrie. ({3}) Wir veranstalten keine Show, sondern reden mit den Leuten Tacheles und gerade über Forschung und Entwicklung sehr konstruktiv. Erkundigen Sie sich, meine Damen und Herren! Zweitens. Wir wollen, daß die Luft- und Raumfahrtindustrie nicht kaputtgeredet wird. Wir haben sehr erfolgreiche, sehr kompetente Unternehmen in Deutschland und Europa, die sich aus eigener Kraft am Weltmarkt behaupten müssen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Krise, über die hier debattiert wird, in erster Linie eine DASA-Krise ist. Es sind die Unternehmen, die Verantwortung für die Wettbewerbsfähigkeit, für Gewinne und Verluste tragen. Ich habe es wiederholt öffentlich und nichtöffentlich gesagt: Aus dieser Verantwortung können und werden wir die DASA nicht entlassen. Das weiß die DASA auch. Die Unternehmen müssen ihre Kostenprobleme in den Griff bekommen. Wir können nicht dafür sorgen, daß sie mit dem Dollar klarkommen. Es sind unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Diese Hausaufgaben liegen bei der DASA und nirgendwo anders. Wir haben schließlich im Jahre 1989 der Fusion von Daimler und MBB zugestimmt, damit die Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland endlich privatwirtschaftlich-unternehmerisch geführt wird. Meine Damen und Herren, über den Erwerb von Dornier und Fokker wird viel gesprochen, und es wird vieles kritisiert. Ich bin auch nicht ganz sicher, ob die Verträge, die Daimler-Benz mit Fokker und Dornier geschlossen hat, wirklich im Interesse der Unternehmen und dieser Industrie und optimal waren. Vielleicht sind sie weit davon entfernt. Der guten Ordnung und der Fairneß halber muß aber eines gesagt werden: Wir wollten mit dieser Fusion u. a. - Graf Lambsdorff ist darauf schon eingegangen -, daß in Deutschland ein gleichwertiger und gleichgewichtiger Partner in der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie entsteht, einer, der mitspielen kann, wenn es um Entscheidungen, auch um Produktionsentscheidungen, auch um Arbeitsplätze in Deutschland geht. Ich mache einmal ein Fragezeichen, ob wir, wenn wir eine auch in der Spitze in kleine Unternehmen zersplitterte Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland hätten - als Zulieferer haben wir sie -, im Wettbewerb mitspielen könnten. Vielleicht würde sich eine solche Debatte dann erübrigen, weil wir gar keine leistungsfähige Luft- und Raumfahrtindustrie mehr hätten. ({4}) Auch das muß man berücksichtigen. Wir haben die Zustimmung zur Fusion damals aber nicht gegeben, um bei den ersten Turbulenzen doch wieder an Bord gezerrt zu werden. Dies findet nicht statt. Noch einmal: Die Unternehmen und - Sie gestatten das - auch die Ministerpräsidenten der Länder müssen einsehen, daß wir diese Industrie nicht ständig mit Subventionen in der Luft betanken können. Drittens. Die Bundesregierung wird sich weiter für schnelle, klare und verläßliche Entscheidungen in allen Beschaffungsfragen einsetzen, auch bei den militärischen Aufträgen. ({5}) In der Vergangenheit war es auch nicht die Regierungsmehrheit, Frau Fuchs, sondern die Opposition und ihre Ministerpräsidenten in den Ländern, die mit ihrem Zickzackkurs in diesen Fragen für Verwirrung und Verunsicherung gesorgt haben. ({6}) Ihre Partei war das. Wenn sich die Führung der Opposition heute hinstellt und keinen Entscheidungsbedarf sieht, wie Herr Scharping, der nicht mehr da ist, ({7}) dann beweist das nur, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, wenn es um klare Politik für die Arbeitsplätze in Deutschland geht. Meine Damen und Herren, spielen Sie sich nicht auf, sondern treffen Sie Entscheidungen, die im Interesse der Arbeitsplätze liegen. ({8}) Wer blumenreich versichert, daß er sich für die Beschäftigung in dieser Branche einsetzt, der muß nach Abwägung - auch wir sind mit diesem Diskussionsprozeß noch nicht am Ende - zu schnellen und klaren Beschaffungsentscheidungen ja sagen und sich hier nicht aufspielen. ({9}) In Hamburg und in Hannover hat man diesen Zusammenhang eigentlich besser erkannt als bei Ihnen. Viertens. Die Beschaffungsaufträge sichern Technologie und Beschäftigung am Standort Deutschland vor allem auch in den vielen Ausrüstungs- und Zulieferbetrieben. Es sind vor allem die kleinen und innovativen, die mittelständischen Betriebe, die sich um ihre Existenz und die Existenz der Arbeitsplätze Sorgen machen. Wenn ich das, was die Opposition, insbesondere Frau Probst von den Grünen, zu Technologie und Raumfahrt von sich gegeben hat, Revue passieren lasse, so sind diese Sorgen nur zu berechtigt. ({10}) Wir haben - Graf Lambsdorff hat das schon gesagt - vorige Woche eine Diskussion über den Mittelstand gehabt und ein Loblied auf den Mittelstand gesungen. ({11}) Heute müssen Sie den Beweis antreten, daß Sie dies nicht nur aus tagespolitischer Opportunität heraus tun. ({12}) Fünftens. Die Zukunft der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie erfordert tragfähige und leistungsfähige Kooperationen und Kooperationsstrukturen in Europa. Das wird zu manchen Veränderungen führen. Die Unternehmen müssen ihre Bemühungen um eine möglichst enge europäische Zusammenarbeit fortsetzen und tragfähige Konzepte entwickeln, beispielsweise im Regionalflugzeugbau. Da stehen Entscheidungen von großer Tragweite auch für die DASA an. ({13}) - Die Bundesregierung kauft Flugzeuge, so wie sie das unter fiskalischen, technischen und Arbeitsplatzaspekten für richtig hält. Wir müssen abwägen. Wenn wir das nicht täten, dann würden wir von Ihnen zu Recht vorgeführt. ({14}) Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, daß auf europäischer Ebene entsprechende Entscheidungen getroffen werden, und zwar bald. Ich sage noch einmal: Es wird sich manches ändern, und manches wird sehr zu denken Anlaß geben, wenn wir gerade im Zivilflugzeugbau einen großen wirklich europäischen Konzern haben, bei dem ich nicht sicher bin, daß er aus Deutschland heraus geführt wird. Dennoch müssen wir diesen Weg gehen. Ich hoffe, daß es gelingt, über den europäischen Beitrag in der Zivilluftfahrt, bei der Raumstation und auch bei den Ariane-Programmen noch im Oktober Einigkeit herbeizuführen. ({15}) - Dieses Jahres. Die Bundesregierung wird die legitimen Wirtschaftsinteressen der deutschen Unternehmen auf den Märkten weltweit vertreten. Der DASA-Vorstand bemüht sich, die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu sichern. Dafür ist eine schonungslose Analyse der Engpässe und auch der Kostensenkungspotentiale unverzichtbar. Ebenso müssen die Kooperationsformen untersucht werden. Anfang Oktober dieses Jahres soll die Analyse abgeschlossen sein. Der DASA-Vorstand vermittelt immer wieder, daß die Plane im Zusammenhang mit Dolores nie in der Unternehmensspitze besprochen, diskutiert oder beschlossen seien. Aber es bleibt dabei, daß die Pläne in dieser Phase in die Öffentlichkeit gelangen und daß sie in weiten Bereichen, insbesondere bei den Arbeitnehmern, für Unruhe sorgen. Das ist ein unverantwortlicher Vorgang. Wer auch immer ihn zu verantworten hat: Dies kann so nicht hingenommen werden, gerade im Interesse der Ruhe in den Unternehmen und im Interesse der Arbeitnehmer selbst. ({16}) Ich möchte mich heute an Spekulationen über unveröffentlichte Sanierungskonzepte nicht beteiligen. Ich kann nur den Rat geben, daß sich die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer im Betrieb zusammensetzen und ein vernünftiges Konzept erarbeiten. Parallel zu den Bemühungen der DASA arbeitet Herr Lammert, der Koordinator für die deutsche Luft- und Raumfahrt in meinem Haus, an einem umBundesminister Dr. Günter Rexrodt fangreichen Bericht über die politischen Handlungsfelder, die es gibt und auf die ich in der zur Verfügung stehenden Zeit natürlich nur kurz eingehen konnte. Die Arbeitsplätze in der Luft- und Raumfahrtindustrie werden auch in Zukunft weitgehend von staatlichen Aufträgen abhängen, insbesondere im militärischen Bereich, nur zu kleinen Teilen im zivilen Bereich. Ich füge hinzu: Um den zivilen Bereich mache ich mir mittel- und langfristig keine übergroßen Sorgen. Wenn es der DASA gelingt, die Kostenstrukturen zu verbessern und wenn wir den Prognosen über den Zuwachs in der Weltluftfahrt vertrauen, die alle realistisch sind und die in der Vergangenheit immer übertroffen wurden, dann muß in absehbarer Zeit mit Sicherheit, mit Zwangsläufigkeit ein großer Nachfrageschub auf die Unternehmen zukommen. Das wird vieles erleichtern. Wir müssen die Krise, die Obergangszeit, durch Schulaufgaben, die die DASA zu machen hat, aber auch durch Klarheit bei uns, einschließlich bei der Beschaffungsproblematik, meistern. Ich stehe wie in der Vergangenheit - das gilt auch für Herrn Lammert - für flankierende politische Gespräche mit allen Betroffenen zur Verfügung. Für den 13. Oktober 1995 habe ich zu einer weiteren Gesprächsrunde mit der Wirtschaft und den Ministerpräsidenten nach Bonn eingeladen. Die Entscheidungen über die innere Struktur und die Standorte der DASA in Deutschland bleiben in der Verantwortung der DASA, in der Verantwortung der Unternehmensleitung. Wenn Sie so wollen, sind die Gesprächspartner in diesem Feld primär die Ministerpräsidenten. In diesem Sinne hoffe ich, daß das parteiübergreifende Bekenntnis zu einer leistungs- und wettbewerbsfähigen Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland in privatwirtschaftlicher Verantwortung weiter Bestand hat und daß diese Zukunftsindustrie, dieser High-Tech-Bereich, für unser Land erhalten bleibt. Schönen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Krise der DASA als Strukturkrise der gesamten Luft- und Raumfahrtindustrie hat für uns Sozialdemokraten folgende wichtige Aspekte: Wie sichern wir eine Schlüsseltechnologie mit strategischer Bedeutung für den Industriestandort Deutschland? Das steht im Zusammenhang mit den Fragen: Wie können wir langfristig und strukturell eine Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland aufrechterhalten? Welche Verantwortung hat das Unternehmen für die Sicherung der hochwertigen Arbeitsplätze in diesem Bereich? Hat das Unternehmen auch eine Verantwortung für die regionale Wirtschaftsstruktur? Inwieweit kann der Staat diese Verantwortung abverlangen und sichern? Lassen Sie mich diese Fragen exemplarisch für eine Standortregion stellen, die von Entscheidungen des Daimler-Konzerns schon nachhaltig betroffen wurde und der nach dem Dolores-Papier, wenn es wahr wäre, der Garaus gemacht würde. Ich spreche von der Küstenregion zwischen Wilhelmshaven, Varel, Nordenham, Lemwerder und Bremen. Ich glaube, auch im Süden gibt es ähnliche Struktursituationen, die dieses Beispiel untermauern können. Bisher hat das Unternehmen Daimler 1992 das Olympia-Werk in Wilhelmshaven, das nicht zur Luft- und Raumfahrtindustrie gehört, mit 2 000 Beschäftigten geschlossen, wovon nur noch 800 von Anschlußfirmen übernommen wurden. Das Werk Lemwerder, das zur DASA gehörte, hatte zu Beginn des Arbeitskampfes 1200 Beschäftigte. Ginge es nach der DASA, wären fast alle arbeitslos. Nach intensiven Bemühungen des Landes Niedersachsen werden 790 Menschen weiterbeschäftigt. Das Dolores-Papier sieht in diesem kurzen Küstenstreifen weitere mögliche Entlassungen vor: 660 in Varel, mit der eventuellen Schließung des Werkes insgesamt 1 150 Mitarbeiter - es sind also noch welche in petto -, in Nordenham 250 und in Bremen weitere 100. Das ist ein weiterer Aderlaß. Die Arbeitslosenquote, die schon jetzt bei 18 % liegt, würde dann auf 21 oder 22 % steigen. In dieser Situation, Herr Rexrodt und Herr Graf Lambsdorff, die Mittelstandsdebatte zu führen halte ich für sehr- kritisch. Sie wissen, daß wir gerade in den Küstenregionen früher Großstrukturen hatten. Wir müssen uns anstrengen, diese Strukturen zu halten, weil der Mittelstand das gar nicht auffangen kann. ({0}) Deswegen ist dieses Gegeneinander von Mittelstand und Großstrukturen eigentlich überflüssig. Ich glaube, wir müssen beide Strukturen im Sinne haben und fördern. ({1}) - So deutlich ist das nicht gesagt worden. Ich erwähne ausdrücklich - das kommt noch hinzu -, daß sich in allen diesen Werken eine sehr gut ausgebildete, technologisch kompetente Arbeitnehmerschaft befindet und daß auch die Ausbildungskapazitäten wegfallen, die gerade für eine solche Region - auch für den Mittelstand - erforderlich sind. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, daß der Bund für die Entwicklung des Airbus etwa 10 Milliarden DM bereitgestellt hat - 6,5 Milliarden DM direkt und 1,9 Milliarden DM über Währungsausgleichszahlungen und andere Zahlungen -, sowie angesichts der Tatsache, daß wir im neuen LuftfahrtDietmar Schütz ({2}) forschungsprogramm 600 Millionen DM staatliche Fördermittel für 1995 bis 1996 vorsehen, müssen wir fordern, daß von der DASA Arbeitsplatz- und Standortfragen berücksichtigt werden. ({3}) Ich halte es angesichts dieser hohen - ich sage: auch notwendigen - öffentlichen Zahlungen für Aufbau und Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für politisch nicht hinnehmbar, daß nach dem Dolores-Papier Produktionsbereiche, die unter den heutigen Marktbedingungen bereits international wettbewerbsfähig sind, verlagert werden sollen. ({4}) Das ist im Dolores-Papier enthalten. Damit würden ohne zwingende wirtschaftliche Notwendigkeit Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet und Standorte gefährdet. Es ist zwar zutreffend, daß wir als Parlament nicht in Managemententscheidungen eingreifen und sie nachträglich rückgängig machen können und wollen. Es ist jedoch ebenso unstrittig, daß der DaimlerKonzern nicht nur eine betriebswirtschaftliche, sondern auch eine gesamtwirtschaftliche Verantwortung hat. Angesichts der investierten Steuergelder in Milliardenhöhe - über 10 Milliarden DM - müssen wir eine solche Verantwortung erwarten und einfordern, gerade für solche strukturschwachen Gebiete. ({5}) Heute bewahrheitet sich zum wiederholten Mal die Kritik unseres damaligen Wirtschaftssprechers Wolfgang Roth an der Fusion Daimler/MBB, der Staat werde mit dieser Elefantenhochzeit erpressbar gemacht. Genau darum geht es bei diesem Dolores-Papier: um einen doppelten Pressionsversuch von Daimler gegenüber Arbeitnehmern sowie Politik in den Ländern und im Bund. ({6}) Das Dolores-Szenario ist keine seriöse Grundlage für unsere Diskussion über die Zukunft der Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland. Wir erwarten vom DASA-Vorstand, daß die deutschen Arbeitsplätze wegen unseres großen finanziellen Engagements in dieser Schlüsselindustrie an den vorhandenen Standorten weitestgehend erhalten bleiben. Der deutsche Steuerzahler wird nicht Arbeitsplätze im Ausland subventionieren. ({7}) Es stellt sich für uns die Frage: Wie können wir im Parlament die strukturelle Produktionsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie sicherstellen, und was kann die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie, was können die Beschäftigten in dieser Branche von uns als Gesetzgeber und Parlament erwarten? Erwarten können Sie - das wurde heute schon häufiger gesagt -, daß die öffentliche Beschaffung und Förderung langfristig berechenbar gemacht und auf eine solide Datengrundlage gestellt wird, damit die Industrie eine belastbare Grundlage für ihre unternehmerischen Entscheidungen hat. Nur so kann eine langfristige Standortgarantie gegeben werden. Hier ist die Bundesrepublik im Obligo. Sie hat es versäumt, rechtzeitig ein konsistentes Luftfahrtforschungsprogramm vorzulegen. Das nunmehr vorliegende Papier ist unzureichend ausgestattet und hat eine viel zu kurze Laufzeit. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Mangel schnellstens zu beheben und ein geschlossenes Konzept der zivilen und militärischen Luft- und Raumfahrt vorzulegen, das als Diskussionsgrundlage tauglich ist für die Zustimmung einer breiten Mehrheit dieses Hauses. ({8}) Folgende Punkte müssen wesentliche Bestandteile dieses Konzeptes sein: ({9}) In der zivilen Luftfahrt ist eine Aufstockung der Forschungsmittel erforderlich. ({10}) Wir haben hier bereits 1994 in einem Antrag ein Luftfahrtforschungsprogramm mit den Schwerpunkten Triebwerksforschung: Brennstoffeinsparung, Tragflügelbau: Einsatz von Kohlefaserwerkstoffen und ökologische Optimierung des Flugverkehrs gefordert. ({11}) Diese Forderungen sind immer noch aktuell. Ich frage mich, was Herr Lammert gleich dazu sagen wird. Bei den Beratungen für 1996 haben wir den gleichen Forderungskatalog aufgestellt. Beide Male wurde er von der anderen Seite dieses Hauses abgelehnt, ohne daß bisher Alternativen vorgelegt worden wären. ({12}) - Sie können dazu noch etwas sagen. Meine Damen und Herren, in der Raumfahrt muß die deutsche Beteiligung an Forschung, Entwicklung und Produktion gesichert werden. Dazu muß die Bundesregierung endlich auf die Verabschiedung eines neuen ESA-Langzeitprogramms im Rahmen der festgelegten Obergrenze von 4 Milliarden DM bis zum Jahre 2000 drängen und die Modalitäten der deutschen Beteiligung an der internationalen Raumstation klären. Intensiviert werden müssen die Anstrengungen auf dem Gebiet der Telekommunikation und Satellitentechnik, da hier einer der wahrscheinlich expansivsten und lukrativsten Zukunftsmärkte liegen wird. ({13}) Dietmar Schütz ({14}) Das technologisch reife Projekt eines europäischen Aufklärungssatellitensystems - Helios II und ERS I und II - muß politisch zur Reife gebracht und dessen Finanzierung sichergestellt werden. Wir haben auch das diskutiert. In der militärischen Luftfahrt muß ein klarer Schwerpunkt der öffentlichen Förderung auf zivil und kommerziell nutzbare Felder und TransferKnow-how gesetzt werden. Der Transfer von Spinoffs der Luft- und Raumfahrttechnologie muß verstärkt werden. Der Transall-Nachfolger "Future Large Aircraft" bzw. „Future Transport Aircraft" kann hier meines Erachtens als positives Beispiel für solche möglichen technologischen Spin-offs in den zivilen Sektor gelten. ({15}) Dafür muß allerdings die deutsche Beteiligung an Entwicklung und Produktion langfristig sichergestellt werden. Seit Mai dieses Jahres liegt die Machbarkeitsstudie hierfür vor. Jetzt muß das „memorandum of understanding" mit den Partnerstaaten schleunigst abgeschlossen werden. Auch da gibt es noch Hausarbeiten zu erledigen. Die derzeit - leider auch hier und heute wieder - geführte Eurofighter-Diskussion trifft meines Erachtens nur einen Teil der Probleme der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. ({16}) Es ist blanker Populismus, die dringend notwendige Debatte über die Zukunft Deutschlands als Standort für die Luft- und Raumfahrtindustrie auf die Forderung nach schnellstmöglicher Beschaffung des Eurofighters zu reduzieren. ({17}) Eine derartige Verengung der Diskussion erweist der Branche und insbesondere allen ihren Beschäftigten einen Bärendienst. ({18}) Sie verkürzt zudem die komplexen Aspekte dieser Entscheidung. Ich weise auf einen guten Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" von gestern hin, der das einmal deutlich gemacht hat. Es ist meines Erachtens aberwitzig, eine Beschaffungsentscheidung zu fordern, wenn noch nicht einmal eine Planungsunterlage vorliegt. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bevor eine solche Unterlage von der Bundesregierung vorgelegt wird, können wir uns nicht zu voreiligen Festlegungen drängen lassen. Ich will - Henning Voscherau ist hier - wiederholen, daß ich als richtig empfunden habe, was er gesagt hat, daß es nämlich ein Schildbürgerstreich wäre, ein Jagdflugzeug im Ausland zu kaufen, wenn ein verteidigungspolitischer Beschluß vorläge, den wir unterstützten. Es wäre ebenso ein Schildbürgerstreich

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich will eben diesen Satz zu Ende bringen, Frau Präsidentin -, wenn ein Flugzeug beschafft wird, das nicht benötigt wird. Ich glaube, daß wir hier an vielen Stellen mit diesem Hause im Einvernehmen sind. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schütz, wie erklären Sie sich die Forderung des niedersächsischen Ministerpräsidenten gestern in Nordenham vor 8000 Menschen, die Entscheidung über den Eurofighter jetzt zu treffen? ({0})

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, auch Ministerpräsident Schröder sieht das in dieser Reihenfolge, daß nämlich erst eine Entscheidungsgrundlage dasein muß. Nur sieht er die Entscheidungsgrundlage möglicherweise wesentlich weiter vorbereitet als ich. Aber ich glaube, sehr weit auseinander liegen unsere Meinungen nicht. Auch Herr Minister Fischer wird dazu noch reden, so daß er das für die niedersächsische Landesregierung klarstellen kann. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause sogar einig, daß wir zunächst einmal eine Grundlage haben wollen, die wir bewerten müssen. Darum geht es an erster Stelle. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ein Schlußsatz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen, daß wir die Luft- und Raumfahrtindustrie strukturell langfristig sichern. Deswegen müssen wir die entscheidungsoffenen Positionen, die ich hier angedeutet habe, sowohl im Luft- und Raumfahrtbereich als auch im militärischen Bereich stärker absichern und bald zu Entscheidungen kommen. Dietmar Schütz ({0}) Ich fordere die Bundesregierung auf, Daten und Termine vorzulegen, damit wir die Luft- und Raumfahrtindustrie langfristig und strukturell in Deutschland sichern können. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber, der, wie ich dem Handbuch des Bundesrates entnehme, heute Geburtstag hat. Deswegen herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Herzlichen Dank für die Glückwünsche. Ich spreche hier als Ministerpräsident eines Landes, in dem 40 % der Arbeitsplätze der Luft- und Raumfahrtindustrie und 41 % der Arbeitsplätze der DASA beheimatet sind. Ich spreche, Herr Kollege Lambsdorff, hier im Deutschen Bundestag, weil die Verantwortung des Bundes und dessen Zuständigkeit - ich glaube, das bestreitet keiner von uns - eindeutig ist. Die Länder können ergänzende Beihilfen und ergänzende Unterstützungen geben. Aber ob wir die Luft- und Raumfahrtindustrie generell als eine strategische Industrie in der Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten von Amerika oder zu Japan unter den gegebenen Bedingungen politisch erhalten wollen, ist eine Angelegenheit der Bundesregierung, des Bundestages, des Bundesrates, eine Angelegenheit des Bundes schlechthin. Wir können nur ergänzende Beihilfen geben. Ich wollte das sehr deutlich zum Ausdruck bringen. Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich halte nichts davon, in dieser Debatte Mittelstandsförderungen sozusagen als Gegensatz zu diesen industriepolitischen Entscheidungen zu sehen. ({2}) Wir brauchen beides. Für bestimmte strategische Industrien spielt der Verlust von Arbeitsplätzen eine enorme Rolle, weit über das persönliche Schicksal des betroffenen Arbeitnehmers hinaus, weit über unseren Industrie- und unseren Technologiestandort hinaus, wie einige deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Ich sehe z. B., daß auf vier Arbeitsplätze innerhalb der DASA ein mittelständischer, zum Teil auch ein kleinbetrieblicher Arbeitsplatz aus der Zulieferung kommt. Ich muß allerdings auch sehen, Herr Lambsdorff, daß eine Verlagerung der industriellen Arbeitsplätze zu einem bestimmten Teil in den Dollarraum droht, weil die Luftfahrtindustrie im Gegensatz zur deutschen Industrie ihren Absatz zu rund 70 % in Dollar fakturiert, während die gesamte deutsche Industrie' zu 70 % in D-Mark fakturiert. Insoweit hat dieser Bereich natürlich ein spezifisches Problem. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns heute zuschauen, erwarten, daß wir ihnen Mut machen und daß wir Dolores mit allen Mitteln und all den Möglichkeiten, die wir haben, verhindern. ({3}) Halten wir uns vor Augen: Wir haben 1990 noch etwa 90 000 Arbeitsplätze in der Luft- und Raumfahrtindustrie gehabt, am Ende des letzten Jahres waren es noch 67 000. Auf die DASA bezogen, sind wir Mitte 1995 auf unter 50 000 gefallen und liegen bei noch 49 000. Wenn weitere 15 000 wegfielen - das muß man sehen - , dann wären wir bei 34 000. Wenn man darüber hinaus im militärischen Beschaffungsbereich - ich werde darüber noch etwas sagen - zu der Entscheidung käme, daß der Eurofighter spät oder überhaupt nicht kommt, dann bedeutete das noch einmal - zumindest nach den unbestrittenen Berechnungen der DASA - 8 000 Arbeitsplätze weniger in der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Die Zahl der Arbeitsplätze würde auf unter 30 000 fallen. Dann können Sie die Luft- und Raumfahrtindustrie als strategische Industrie für Deutschland vergessen. Es werden andere dieses Geschäft betreiben, in welcher Formation auch immer. Das ist die eigentliche Frage, die wir hier beantworten müssen. ({4}) Meine Damen, meine Herren, ich will auch einmal deutlich sagen: Ich glaube, daß die Verfassungsorgane mehr Verständnis füreinander haben sollten. ({5}) Sie kennen meine Meinung; Sie wissen, worauf ich anspiele. Ich habe mein Verfassungsverständnis deutlich gemacht. Ich will aber nicht auf ein Nebengleis kommen. Mit den Problemen befassen sich auch die Ministerpräsidenten. Das berührt doch die norddeutschen Kolleginnen und Kollegen genauso; der Kollege Voscherau ist heute hier. In Hamburg, in Niedersachsen und in Bremen sind rund 20 000 Arbeitsplätze betroffen. Wenn so etwas passiert, dann sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunächst einmal bei uns. Sie stehen vor den Rathäusern, sie stehen vor den Staatskanzleien, und sie sagen: „Helft uns! Zuständigkeiten interessieren uns nicht. Ihr seid verantwortlich für die politischen Rahmenbedingungen! Nun schaut auch mal, daß die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, daß wir unsere Arbeitsplätze behalten können!" Deswegen ist es gut und richtig, daß sich auch die Ministerpräsidenten in dieser Frage miteinander unterhalten und versuchen, aus ihrer spezifischen Verantwortung heraus einen schnelleren oder größeren Konsens zu finden, der in der parteipolitischen Auseinandersetzung nicht so ohne weiteres oder nicht so schnell zu finden ist. Die Ministerpräsidenten haben dazu bereits 1993 einen Beitrag geleistet, indem sie einmütig drei Dinge festgehalten haben: Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({6}) Erstens. Wir sind uns einig, daß wir nicht Standortinteressen gegeneinander sozusagen ausreizen. Wir sehen die DASA als ein globales Unternehmen. Natürlich hat jeder seine spezifischen Interessen. ({7}) - Ja, als ein deutschlandweites Unternehmen, wenn ich es einmal so sagen darf. Aber es ist doch entscheidend, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß wir uns nicht mehr auseinanderdividieren lassen. Wie war es noch vor vier oder fünf Jahren? Da ist uns Bayern noch vorgeworfen worden, wir hätten uns über den Tisch ziehen lassen, weil wir den Schwerpunkt der militärischen Produktion jetzt in Bayern hätten. Die Klugen säßen doch in Norddeutschland, weil sie die zivile Produktion hätten. Das ist lange diskutiert worden; aber Gott sei Dank gehört das - auch auf Grund der Diskussion unter den Ministerpräsidenten - der Vergangenheit an. Wir wissen und sind uns einig, daß wir diese Dinge nur zusammen sehen können und müssen und daß natürlich die DASA ohne militärisches Standbein letzten Endes die strategische Bedeutung nicht erhalten kann. Nun muß man doch fairerweise sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Ich kritisiere genauso wie Sie. Ich habe heute hier sehr viele Reden gehört, die ich fast schon als Bewerbungen für den DASA-Vorstand angesehen habe; denn da sind ja wunderbare Vorstellungen entwickelt worden. Halten wir uns doch einmal vor Augen: 1990, also noch vor knapp fünf Jahren, betrug der Anteil der DASA an der militärischen Produktion über 60 %. ({8}) - Ich stelle das nur einmal fest. Ich will die Debatte nicht bis zu Adam zurückführen. ({9}) Aber fünf Jahre später beträgt der Anteil der militärischen Produktion bei der DASA noch ganze 26 %. Möglicherweise geht er noch weiter zurück. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns nun klar fragen: Wenn wir die notwendigen Beschaffungsentscheidungen politisch zu hart gegensätzlich diskutieren und wenn wir nicht zu einer Entscheidung kommen - über die Beschaffungsentscheidungen zu Jager 90 und Eurofighter ist in Spanien, ist in Italien und ist in England bei weitem nicht eine solche Diskussion wie bei uns in Deutschland geführt worden -, führt das auch zu gewissen Unsicherheiten insgesamt. Das ist überhaupt nicht zu bestreiten. ({11}) Für mich ist die entscheidende Frage: Wie können wir - wenn ich das so sagen darf - die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Unternehmens DASA, das hoffentlich morgen oder übermorgen mit in ein europäisches Unternehmen integriert wird - auch dies ist keine Frage -, gegenüber Boeing erhalten? Da muß ich deutlich sagen: Sie haben zu 65 % Staatsaufträge, bekommen natürlich enorme verdeckte Subventionen - das ist überhaupt keine Frage. ({12}) - Natürlich, ich muß doch von den Realitäten ausgehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Ministerpräsident, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage der Abgeordneten Zapf. Einverstanden? Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Bitte sehr.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, Sie haben eben zum zweitenmal in Ihren Ausführungen auf die Beschaffung des Eurofighters und die Dringlichkeit dieser Entscheidung hingewiesen. Ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie nicht wissen oder Ihren Kollegen Rühe nicht gefragt haben, daß die Beschaffungsentscheidung frühestens Mitte 1996, wenn nicht gar erst Anfang 1997 fallen kann, und zwar von seiten der Hardthöhe? Dann möchte ich Sie in bezug auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen durch solch ein Rüstungsprojekt fragen, ob Ihnen die Aussage von Herrn Bischoff bekannt ist, daß die Beschaffung des Eurofighters bzw. dieser militärischen Projekte den Arbeitsplatzabbau allenfalls verzögern bzw. strecken könnte. Sind Sie nicht der Meinung, daß es wichtiger wäre, im Bereich der zivilen Hochtechnologie alle Anstrengungen zu unternehmen, Arbeitsplätze zu erhalten? ({0}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({1}): Sehr verehrte Frau Abgeordnete, Sie können davon ausgehen, daß ich all das weiß, was Sie hier sagen. Sie können weiter davon ausgehen, daß ich mich schon ein bißchen bemühe, mich in einem Thema, über das ich mich unterhalte oder über das ich Aussagen mache, auszukennen. ({2}) Ich sage das einmal in meiner zurückhaltenden Art. Diese Fragen und diese Diskussion bringt uns doch überhaupt nicht weiter. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({3}) Ich sage Ihnen: Wir, die Ministerpräsidenten, haben einen Beitrag dafür zu leisten, den Stellenwert der Luft- und Raumfahrt, der 1990 und 1991 nicht so hoch war, wie er vielleicht heute wieder ist, parteiübergreifend aus Verantwortung gegenüber den Arbeitsplätzen nach vorne zu tragen. ({4}) Das ist uns zweifellos gelungen. Weiterhin sollten wir keine gegensätzlichen Standortinteressen austragen, und wir sollten einvernehmlich sagen: Wir brauchen das militärische Bein. Deswegen sind wir für eine schnellstmögliche militärische verteidigungspolitische Entscheidung über a), b), c), über „Future Large Aircraft" und all die anderen, über „Tiger" und NH 90. Ich will das hier gar nicht alles aufführen. Die Entscheidung über den Eurofighter hat einen enormen Hintergrund. Wir diskutieren schon seit drei, vier, fünf Jahren über die Notwendigkeit. Diese Diskussion - darüber müssen Sie sich im klaren sein - führt nicht zu einer Stabilität des Unternehmens. ({5}) Ich will das nicht in eine Diskussion über den Eurofighter eskalieren lassen. Natürlich ist der Eurofighter in erster Linie eine verteidigungspolitische Entscheidung und nicht eine Beschaffungsentscheidung. Das ist überhaupt keine Frage. Auch ich würde nie die Hand für eine Entscheidung reichen, die militärisch nicht notwendig ist. Daß wir davon ausgehen und immer davon ausgegangen sind, daß sie notwendig ist, brauche ich hier nicht besonders zu betonen. Ich weiß - das sage ich an die Adresse aller -, daß Dolores nichts mit Eurofighter zu tun hat. Wenn im Zuge von Dolores die Entscheidung über den Eurofighter zu spät getroffen wird, dann bedeutet das einen enormen Schlag für die DASA, von dem sie sich möglicherweise nicht erholen wird. Für mich ist viel interessanter als die Frage, die Sie stellen - jetzt sage ich etwas, was man in dieser Breite vielleicht gar nicht ausführen sollte -: Wir müssen alles dazu tun, damit die DASA morgen oder übermorgen nicht in ganz anderen Händen ist. Es dürfen sich keine unternehmerischen Initiativen in andere Richtungen entwickeln. Sie wissen ganz genau, was ich sagen will: daß man möglicherweise meint, man lasse sich die gute Bilanz der Autoindustrie nicht durch eine negative Bilanz aus der Luft- und Raumfahrt kaputtmachen. Wenn einmal eine Entscheidung in dieser Richtung getroffen würde, dann würden wir alle hier sauber ausschauen. Deswegen müssen wir alles tun, damit diese Entscheidung niemals so kommt; zumindest müssen wir die Grundlage dafür schaffen, daß sie sich überhaupt nicht trauen, eine solche Entscheidung zu treffen. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in einem weiteren Punkt besteht Einigkeit zwischen den Ministerpräsidenten. Natürlich sagt der Herr Kollege Spöri, die sollen nicht so herumeiern, eine sofortige Entscheidung muß her. Der Kollege Voscherau hat sich sehr differenziert ausgedrückt: ({7}) Wenn es verteidigungspolitisch notwendig ist, dann muß die Produktion in Deutschland bleiben. Das halte ich für eine gute Aussage. Ich gehe zwar noch weiter, aber selbst die Aussage, die der Kollege Voscherau gemacht hat, hat man vor zwei, drei Jahren in diesem Hause nicht unisono gehört. Wir wären ja froh gewesen, wenn diese Aussage von allen so unterstützt worden wäre. ({8}) Aber wollen wir nicht mehr Milch verschütten. Ich will nach vorne sehen und auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen, das Verhältnis von Europa zur Luft- und Raumfahrt. Europa muß sich dort einbringen, wo es wirklich notwendig ist, nicht bei den Richtlinien über Feuerwehranzüge. Sie kennen meine Position hierzu. Entscheidend ist nicht die Baustellensicherheitsrichtlinie, die 90 Seiten umfaßt, aber massive Vollzugsprobleme mit sich bringt. Wir brauchen in Europa eine Zusammenarbeit der Deutschen mit den Engländern und vor allen Dingen den Franzosen, um überhaupt mit Boeing konkurrieren zu können. Da liegt der Hund begraben. Die Förderung aus Europa für diesen Bereich ist im Grunde genommen viel zu gering. ({9}) Europa stellt für die deutsche Luft- und Raumfahrtforschung 15 Millionen ECU zur Verfügung. Das ist doch lächerlich. Das ist weniger, als der Freistaat Bayern dafür ausgibt. Wir stellen im Jahr 1995 30 Millionen DM bereit. Das ist für einen Landeshaushalt eine ganze Menge. ({10}) Damit dokumentieren wir, für wie bedeutsam wir diese Luft- und Raumfahrtindustrie halten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Barthel? Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ich will zwar den Gedankengang zu Ende führen, aber bitte.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, verstehe ich Sie richtig, daß auch ohne das Vorhandensein eines Luftverteidigungskonzepts auf Grund Ihrer Sachkenntnis schon entschieden ist, daß wir den Eurofighter brauchen? Und habe ich Sie richtig verKlaus Barthel standen, daß Sie gerade ausgeführt haben, daß die Zustimmung zum Kauf des Eurofighters notwendig ist für die Existenz der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und der DASA? Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Betrachten Sie diese Frage doch nicht permanent durch die parteipolitische, ideologische Brille. ({1}) Ich rede doch gar nicht über die unternehmerischen Fehlentscheidungen; ich will sie auch gar nicht im einzelnen bewerten. Vielmehr geht es darum, was die Politik dazu tun kann. Wenn der Anteil der militärischen Produktion noch weiter sinkt - er ist von 27 % auf unter 20 % gefallen -, dann können Sie die strategische Bedeutung der Luft- und Raumfahrtindustrie vergessen, dann fallen Tausende von Arbeitsplätzen weg. Es hat überhaupt keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn man auf der einen Seite Tränen über die Arbeitsplätze vergießt, auf der anderen Seite aber alles, was militärisch produziert wird, im Grunde genommen ablehnt. Diese Heuchelei akzeptiere ich nicht. ({2}) Ich hoffe auf den ESA-Gipfel am 13./14. Oktober in Toulouse; Herr Kollege Rüttgers wird möglicherweise etwas dazu sagen. Ich hoffe, daß wir mit den Franzosen zusammenkommen. Aber ich bitte, das auch einmal in einem Zusammenhang zu sehen. Die Neigung der Franzosen, die nicht das Währungsproblem haben wie die Deutschen, weil der Franc nicht so stark ist wie die D-Mark, und die deswegen nicht das Problem mit Boeing haben, mit uns zusammenzugehen, wird natürlich auch durch die Tonlage gefördert oder nicht gefördert, wie wir mit den Franzosen in anderen Punkten umgehen - um mich vorsichtig auszudrücken. ({3}) Das ist doch gar keine Frage. Sie können doch nicht den Franzosen ans Schienbein treten und ihnen gleichzeitig die Hand für eine engere Kooperation in der Luft- und Raumfahrt reichen, die wir dringend brauchen. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, noch einmal zusammenzufassen. Wir brauchen drei Punkte: Wir müssen erreichen, daß in Deutschland und in Europa genauso gefördert wird, wie es die Amerikaner gegenüber Boeing machen. Die indirekte Förderung von 3 % des Branchenumsatzes oder 4 % des Unternehmens schöpfen wir leider nicht aus, so daß wir automatisch einen gewissen Nachteil gegenüber Boeing haben. Wir haben eine andere Sozialstruktur. Herr Lambsdorff, Sie haben von den 50 000 Arbeitsplätzen gesprochen, die in Amerika abgebaut worden sind. Bei dem dortigen Sozialsystem - das ich nicht haben will - hat das fast nichts gekostet. Die 10 000, 15 000 Arbeitsplätze, deren Wegfall 1993 von der DASA beschlossen worden ist, haben Sozialplankosten in der Größenordnung von 1,2 bis 1,3 Milliarden DM erfordert. Wir müssen einfach sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wo können wir etwas für die Wettbewerbsfähigkeit tun? Die Leute erwarten, daß wir die Fakten auf den Tisch legen und dann auch bestimmte Konsequenzen ziehen. Diese Konsequenzen heißen erstens - ich sage das noch einmal -: Wir brauchen eine entsprechende Förderung. Wir sind ja schon weit gekommen. Wir brauchen eine Förderung, die mit Sicherheit über die 600 Millionen DM hinausgeht. ({4}) - Befassen Sie sich einmal damit, Herr Kollege Fischer. Dann brauchen wir zumindest die Bereitschaft in der Europäischen Union, daß die Förderung auch dann gegeben werden kann, wenn die Industrie nur 25 % beiträgt. Die Amerikaner geben 75 %, und Boeing hat nur 25 % aus Eigenmitteln zu tragen. Auf Grund unserer Bestimmungen in Europa kann der Staat nur die Hälfte geben, die Unternehmen müssen die andere Hälfte tragen. Da liegen die Probleme. Das können wir nur europäisch lösen, und das erwarten wir. ({5}) Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt kein parteipolitisches Hickhack, sondern wir müssen versuchen, die Bedingungen zu verändern, den Schneid aufzubringen, in Europa entscheidende Veränderungen zu erreichen und eine stärkere europäische Struktur aufzubauen, damit wir deutsche Arbeitsplätze in diesen Bereichen erhalten können und auch einen gewichtigen Part innerhalb Europas und der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie spielen. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, meine ich, daß wir auf diesem Weg weitergehen sollten: entscheidend die Priorität festlegen und dann sowohl den Arbeitnehmern, den Industrievertretern als auch den Gewerkschaften die Sicherheit geben - sicherlich unterschiedlich bewertet -, daß die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen setzt, die sie setzen kann. Wenn man sich die Berichterstattungen ansieht, dann sieht man zunächst die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in der Sorge um ihren Arbeitsplatz vor irgendwelchen Gebäuden stehen. Dann macht man sich über die hohen Subventionen lustig und vermischt Subventionen mit Beschaffungsentscheidungen, die keine Subventionen sind. Das ist eine falsche Darstellung. Man muß dieser Branche und dieser Disziplin ein Stück mehr Gerechtigkeit und ein Stück mehr Sicherheit geben. Wenn die Verantwortlichen die Sicherheit nicht haben, dann haben wir morgen oder übermorgen - das ist für mich das Problem - die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie nicht mehr, die wir in den letzten 30 Jahren aufgebaut haben. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({6}) Ich erinnere daran - Sie müßten sich daran auch noch erinnern können, Graf Lambsdorff -, daß, als der Aufbau der Luft- und Raumfahrtindustrie in den 60er Jahren in Deutschland vorangetrieben worden ist, die Amerikaner schon gesagt haben: Wozu braucht ihr eigentlich eine Luft- und Raumfahrtindustrie? Wir haben doch alles; ihr könnt alles von uns kaufen. Diese Auffassung haben die Amerikaner nie abgelegt, und das ist aus deren Sicht ja auch legitim. Aber wir haben 30 Jahre lang eine Luft- und Raumfahrtindustrie aufgebaut, und deswegen dürfen wir es jetzt politisch nicht zulassen, daß diese Luft- und Raumfahrtindustrie ihre Existenz verliert oder in französischen oder sonstigen Industriebeteiligungen aufgeht, was bedeuten würde, daß die Entscheidungen nicht mehr hier getroffen würden. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt für den Bundesrat der Minister für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes Niedersachsen, Dr. Peter Fischer. Minister Dr. Peter Fischer ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier für Niedersachsen, weil in unserem Bundesland drei bedeutende DASA-Standorte sind - Nordenham, Varel und Stade - und weil an den Standorten Hamburg und Bremen die Hälfte der dort Beschäftigten niedersächsische Bürger sind. Diese Beschäftigten schauen - das hat Herr Stoiber eben schon deutlich gemacht - in erster Linie auf die Landesregierungen, wenn es um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze geht. Worum geht es? Es geht um die Sicherung von industriellen Arbeitsplätzen am Standort Deutschland, und zwar in einer Größenordnung, die die strukturellen Schwierigkeiten des Industriestandortes Deutschland drastisch verschärfen wird, wenn es nicht gelingt, diese Arbeitsplätze zu erhalten. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist ein Kern der industriellen Kompetenz in Deutschland und Europa und damit Voraussetzung für Forschung, Entwicklung und auch Beschäftigung. Ich bin dankbar, daß der Kollege Rexrodt dies zu Beginn seiner Ausführungen noch einmal deutlich unterstrichen hat. Meine Damen und Herren, die Dolores-Studie ist ein Konzept eines Unternehmensberaters, das aufzeigt, wie man nach dessen Vorstellungen die Kosten so reduzieren kann, daß Gewinne erreicht werden. Das geht voll zu Lasten der Beschäftigten. Ich kritisiere bei einem solchen Vorgehen, daß eine umfassende unternehmenspolitische Bewertung außer acht gelassen wurde. ({1}) Ich möchte es einmal überspitzt ausdrücken: Für jedes Arbeitspaket findet man sicherlich irgendwo auf der Welt ein Unternehmen, das kostengünstiger produzieren kann. Wenn man das zu Ende denkt, dann heißt das, daß in Deutschland der Vorstand und das Sekretariat verbleiben. Kein Mensch - ich sage bewußt: auch nicht die Vorstände dieser Unternehmen - wird ein solches Szenario ernsthaft wollen können. Ich will hervorheben, daß die niedersächsische Landesregierung die gegenwärtige Situation der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie durchaus als dramatisch ansieht und deshalb auch anerkennt, daß für die Unternehmensführung der DASA die Notwendigkeit besteht, die Unternehmensstrukturen dem Weltmarktniveau anzugleichen. Dabei spielt aber auch die Frage eine Rolle, wer eigentlich die Verlustbringer im Unternehmen sind. Es muß sehr ernsthaft der Frage nachgegangen werden, was mit Fokker und mit Dornier ist; Frau Skarpelis-Sperk hat schon darauf hingewiesen. ({2}) Es geht allerdings auch nicht darum - da möchte ich Herrn Stoiber in seiner Aussage unterstützen -, den einen gegen den anderen Standort auszuspielen, ob er nun in Bayern oder in Niedersachsen liegt. Vielmehr geht es um die Herstellung von besseren Positionen eines jeden einzelnen Unternehmensteiles. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen die Basis eines jeden einzelnen Standortes sinnvoll stärken. Das Dolores-Papier ist in meinen Augen ein wenig intelligentes Kahlschlagkonzept, und deshalb muß es kritisch bewertet werden. ({3}) In die Bewertung müssen vor allem die Bewertungen der Betriebsräte und der Gewerkschaften einfließen. Die haben ja bereits signalisiert, daß sie konstruktiv z. B. an neuen Arbeitszeitmodellen mitarbeiten wollen. Dies sollte von der Unternehmensleitung aufgegriffen werden. ({4}) Wie so etwas geht, hat Volkswagen vorgemacht. ({5}) Meine Damen und Herren, natürlich muß ein Konzernvorstand im Sinne seiner Aktionäre Entscheidungen treffen, die auch vor dem Markt zu verantworten sind. Aber hier geht es um mehr. Hier geht es um Entscheidungen, ob Arbeitsplätze vernichtet und ins Ausland verlagert werden, und zwar geht es um solche Arbeitsplätze - das ist heute schon mehrfach hervorgehoben worden -, die mit hohen öffentlichen Subventionen geschaffen worden sind. Ich will diese Zahlen nicht wiederholen. Es sind hohe Summen. Deshalb geht dieses Thema auch die Politik etwas an. Ich erkenne an, daß in kurzer Zeit in Deutschland der Aufbau einer Luftfahrtkompetenz entstanden ist, an der der Daimler-Konzern einen erheblichen Anteil hat. Ich fordere aber, daß bei den zu ergreifenden Maßnahmen alles unterlassen wird, was die Luftfahrtkompetenz der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie und hier insbesondere die LuftfahrtkompeMinister Dr. Peter Fischer ({6}) tenz von Airbus in Frage stellen könnte. Ganz im Gegenteil, die norddeutschen Länder erwarten, daß der weitere Weg zu einer dauerhaften Festigung des Unternehmens DASA und zu einer Festigung der deutschen Kompetenz der Luftfahrtindustrie in einem europäischen Verbund führt. Meine Damen und Herren, ich sprach von der Verantwortung der Politik in diesem Zusammenhang. Am vergangenen Montag haben sich die Ministerpräsidenten der betroffenen Bundesländer in München mit der Unternehmensführung, den Betriebsräten und dem Luftfahrtkoordinator der Bundesregierung an einen Tisch gesetzt und dabei auch an den Bund appelliert, tätig zu werden. Es bleiben für die Politik, so glaube ich, eine Menge von Handlungsmöglichkeiten zur Sicherung von Arbeitsplätzen, z. B. indem sie sich mit der Unternehmensleitung über weitere öffentliche Fördermaßnahmen unterhalten. Ich finde, es ist müßig, Graf Lambsdorff, hier über theoretische Lehrbuchweisheiten von Subventionswirkungen zu streiten. Die Amerikaner tun es, und zwar in ungleich größerem Umfang gegenüber unserer Förderung der Luft- und Raumfahrtindustrie, die sich in weltweitem Wettbewerb behaupten muß. Das GATT-Luftfahrtabkommen läßt auch bestimmte Spielräume zu. Die Amerikaner nutzen das aus, wir nicht. Im übrigen hängen - das muß man hier auch erwähnen, und ist auch von Herrn Stoiber schon gesagt worden - viele mittelständische Unternehmen an diesem großen Unternehmen, an diesem Konzern dran. Damit hängen auch mittelständische Arbeitsplätze von der Lösung dieses Problemes ab. ({7}) Wir müssen feststellen, daß in der Vergangenheit die Bundesregierung mit ihren Fördermaßnahmen geholfen hat, Unternehmensteile der DASA, insbesondere die norddeutschen Betriebsstätten, auf ein Niveau zu heben, das erlaubt, zu Weltmarktbedingungen zu produzieren. Für die Bundesregierung stellt sich aus meiner Sicht die doppelte Frage: Erstens: In welchem Umfang kann sie zur Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie weitere Finanzhilfen im Rahmen der GATT-Richtlinien bereitstellen? Zweitens: Wie kann in diesem Zusammenhang deutlich gemacht werden, daß es solche Mittel nur gibt, wenn damit die Arbeitsplätze bei uns gesichert werden? ({8}) Es gibt noch ein weiteres Problem, das nur hier in Bonn gelöst werden kann und muß. Das ist die Entscheidung über die Beschaffung von Militärflugzeugen. Darüber ist schon sehr viel geredet worden. Ich glaube, es gibt hier eine relativ große Übereinstimmung, was die Frage der Nachfolge der Transall betrifft. Dieses future large aircraft ist für die norddeutschen Standorte von besondere Relevanz, weil sie in diesem Programm mit umfangreichen Arbeitspaketen vertreten sind, die langfristig die Ertragslage des Konzerns und damit hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland sichern. Über das future large aircraft haben die acht WEU-Staaten grundsätzlich Einigung erzielt. Bei einer Bestellung von 75 Flugzeugen durch das Bundesverteidigungsministerium werden ab dem Jahr 2000 rund 3 000 Arbeitsplätze benötigt. Diese Arbeitsplätze fehlen, wenn man sie heute abbaut. Das muß sehr sorgfältig bedacht werden. ({9}) Hinsichtlich der Beschaffung des Eurofighters sieht das anders aus. Darüber ist heute diskutiert worden. Ich bin allerdings der Auffassung, man sollte dieses Thema nicht überstrapazieren. Es hat in diesem Gesamtzusammenhang nicht das Gewicht, wie es heute in der Diskussion erschien. ({10}) Die Italiener wollen ihn, die Briten wollen ihn, wir Deutsche tun uns - aus guten Gründen, glaube ich - noch schwer. Es gibt in den Parteien und unter den Fachleuten eine Diskussion, ob die Beschaffung aus militärischer Sicht vernünftig und notwendig ist oder nicht. Es gibt auch die Diskussion, ob man schwedische oder amerikanische Produkte kaufen sollte, die möglicherweise billiger sind. In diesem Falle - das möchte ich hier allerdings betonen - wird es nicht ganz einfach, den Beschäftigten der DASA zu erklären, nachdem Milliarden an Entwicklungsgeldern in den Eurofighter geflossen sind, warum im Falle einer Kaufentscheidung und auf Grund militärischer Notwendigkeiten ein solches Flugzeug nicht bei uns gebaut wird. Wenn also die Bundesregierung eine Beschaffungsentscheidung fällt, die sie für militärisch sinnvoll und finanziell machbar hält, dann plädiere ich - wie mein Ministerpräsident - allerdings nachhaltig dafür, daß dieses Flugzeug auch in Deutschland produziert wird. ({11}) Nicht zuletzt will ich auch noch auf die Beschaffung der Hubschrauber hinweisen. Für sie gilt im Grundsatz das gleiche. Die norddeutschen Länder Hamburg, Bremen und Niedersachsen sind natürlich in erster Linie von der zivilen Luftfahrtstrategie und hier insbesondere von der Airbus-Zukunft berührt, und zwar im Gesamtzusammenhang mit Fokker und Dornier. Es wird immer deutlicher, daß bei der Luftfahrtindustrie zukünftig gesamteuropäische Strukturen entstehen müssen. Die Gründung von europäischen Kompetenzzentren, wie sie Herr Bischoff fordert, ist notwendig. Aber dabei muß darauf geachtet werden, daß die Airbus-Kompetenz zum Bau kompletter Flugzeuge in Norddeutschland erhalten wird. Mit der Endlinie für die 321 und die 319 sind - so glaube ich - gute Voraussetzungen dafür gegeben. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Raumfahrt und zu den Aufklärungssystemen Helios und Horus noch einige allgemeine Ausführungen machen. Die süddeutschen Länder sind davon stärker betroffen. Die Entscheidungen der ESA zum Raumlabor und zum Raumtransporter sind nach wie vor nicht gesichert. Das ist hier auch schon mehrfach erwähnt worden. Ich finde, wenn dies nicht stattfinMinister Dr. Peter Fischer ({12}) den würde, wäre es für die Industriepolitik in Deutschland eine Katastrophe, und zwar nicht nur, weil rund tausend Arbeitsplätze in der Raumfahrt verloren gehen, sondern weil es um den Verlust zukunftsorientierter Potentiale geht. Die Raumfahrttechnologie ist eine Schlüsselindustrie in Deutschland. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hinweisen: Die Länder haben - es ist von Herrn Stoiber schon erwähnt worden - bereits seit 1993 dem Bund Maßnahmen vorgeschlagen, die der Zukunftssicherung der Luft- und Raumfahrtindustrie dienen sollen. Bis heute sind einige Maßnahmen davon eingeleitet worden. Aber, wie Sie wissen, reicht das nicht aus. Die Länder werden daher ihre eigenen Bemühungen fortsetzen, die sie übrigens - Herr Rachel, das möchte ich auch noch einmal betonen - im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und ihrer finanziellen Möglichkeiten auch in der Vergangenheit zur Förderung der Luft- und Raumfahrtindustrie unternommen haben. Sie erwarten aber von der Bundesregierung, dem aktuellen Geschehen nicht länger bloß zuzusehen. Es muß im Interesse der Beschäftigten und im Interesse des Industriestandorts Deutschland endlich etwas geschehen. Es ist schon, so meine ich, zuviel Zeit tatenlos verstrichen. Handeln Sie endlich. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt noch einmal für die Bundesregierung Herr Bundesminister Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Frau Präsidentin, werte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Verehrter Herr Fischer, ich weiß nicht, auf welchem Stern oder in welchem Land Sie leben. Sie hatten relativ vernünftige Passagen, aber Sie haben die Rede damit beendet, der Bundesregierung zu sagen, sie solle etwas tun. Ich überreiche Ihnen jetzt erst einmal einen Bundeshaushalt. Dann lesen Sie den einmal zu Hause in Ruhe und lassen das in Zukunft weg. ({1}) - Irgendwann reicht es auch. Interviews geben und herumreden und in Wirklichkeit keine Mark im Haushalt haben für solche Sachen, das paßt irgendwie nicht zusammen. ({2}) Meine Damen und Herren, in der Debatte über die DASA und über die Luft- und Raumfahrtindustrie ist in den letzten Tagen mit Recht viel von Verantwortung geredet worden. Das war richtig. Aber ich finde, es wäre redlicher - ich glaube, daß es uns auch ein Stück weiterbringen würde -, wenn wir offen und ehrlich auch von Interessen reden würden. Natürlich hat die Unternehmensführung Interessen. Natürlich hat die Politik Interessen. Und insbesondere die Arbeitnehmer der DASA haben ein Interesse, nämlich das Interesse, daß ihre Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ich bin ganz sicher, daß sie mit Recht sehr aufmerksam zuhören werden, wer denn hier was zur Problemlösung gesagt hat. Zum Interesse des Unternehmens: Ein Unternehmen hat das Interesse, irgendwann einmal schwarze Zahlen zu schreiben. Sonst wäre es nämlich kein Unternehmen. Aber schwarze Unternehmenszahlen müssen letztlich aus dem Geschäftsergebnis kommen und nicht aus öffentlichen Kassen. Das haben einige, vor allen Dingen Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nach meiner Ansicht, als ich das jetzt gehört habe, nicht verstanden. ({3}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat ja keinen Zweck. Jetzt brauchen Sie, Frau Fuchs, nicht anfangen zu stöhnen und Gott weiß ich was zu tun. Sie haben wahrscheinlich übersehen, daß die DASA überhaupt kein Kapitalproblem hat, sondern ein Ertragsproblem und daß es überhaupt keine Lösung ist, sich hier hinzustellen und zu sagen: Jetzt verlängern wir das Luftfahrtforschungsprogramm. - Das würde nämlich bedeuten, daß die DASA selber Geld in die Hand nehmen muß. Insofern ist das überhaupt keine Lösung, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht. Wir haben zusammen mit der DASA ein Luftfahrtforschungsprogramm entwickelt. Dies läuft bis 1998. Es hat das Ziel, auf die Entwicklungen auf den Flugzeugmärkten zu reagieren. Ich will ausdrücklich sagen: Ich bin bereit, mit der deutschen Luftfahrtindustrie weiter darauf hinzuarbeiten, daß sie im internationalen Wettbewerb mit modernen Produkten, die sich auf dem Markt durchsetzen können, konkurrenzfähig bleibt. Wer sich einmal anschaut, wie die Marktlage ist, der wird feststellen, daß in den kommenden 20 Jahren ein Beschaffungsvolumen von 11 000 bis 12 000 Verkehrsflugzeugen ansteht. Bei einem Anteil von Airbus von 30 % könnten rund 90 Milliarden Dollar auf die deutsche Industrie entfallen. Ähnlich positive Prognosen gibt es auch für die Bereiche Regionalflugzeuge, Hubschrauber und Flugantriebe. Insofern gibt es auch ein ökonomisches Interesse daran, daß diese Industrie im Land bleibt. ({4}) Das Interesse der Politik ist es, den Standort Deutschland in der globalen Konkurrenz der Standorte wettbewerbsfähig zu erhalten. Dies bedeutet, daß wir europäische Lösungen brauchen; es bedeutet, daß diese Schlüsselindustrie hier in Deutschland bleiben muß. Normalerweise hat ein Unternehmen in Deutschland im Verhältnis zum Umsatz etwa 3 % Forschungs- und Entwicklungskosten. Das wird mit dem Begriff der Forschungsintensität bezeichnet. Wir sprechen von Spitzentechnik, wenn dieser Anteil auf 8,5 % steigt. Bei der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie gibt es eine Forschungsintensität von 30 %. Deshalb sage ich: Wir können auf eine Branche mit einem solchen Profil in Deutschland nicht verzichten, wenn wir Deutschland für die Zukunft fit machen wollen. ({5}) Der Staat ist der größte Auftraggeber der Luft- und Raumfahrtindustrie. Er muß seinen Bedarf anmelden, und er muß sicherstellen, daß das Unternehmen eine vernünftige Planung erstellen kann. Die Bundesregierung sieht diese Notwendigkeit, und sie wird ihr entsprechen. Allerdings sage ich auch: Der Staat kann keine Bestandsgarantie für jeden Standort übernehmen. - Aber, Graf Lambsdorff, bei soviel ökonomischem Sachverstand, den Sie nun wirklich verkörpern, muß ich sagen: Ich fand es ökonomisch nicht überzeugend, zu versuchen, eine Schlüsselindustrie gegen den Mittelstand auszuspielen, nicht nur wegen der Zulieferindustrie. ({6}) Sie haben einen guten Namen als Marktgraf. Aber Ihre Vorstellung als Mittelstandspapst war nicht überzeugend. ({7}) Wer jetzt über Zukunftsinvestitionen in diesem Bereich redet, der muß auch dafür sorgen, daß der Staat die Rahmenbedingungen setzt. Dies heißt im Klartext: Wir müssen in bezug auf die Flugzeuge in einem geordneten Verfahren entscheiden. Das ist okay. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, es tut mir leid: Die Eierei von Ihnen war im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr zu ertragen. ({8}) Wir haben jahrelang in diesem Haus erlebt, daß Frau Matthäus-Maier den Verzicht auf den Eurofighter oder den Jäger 90 als Kompensation für jede Maßnahme in jeder Haushaltsdebatte angeboten hat. ({9}) Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, die Bundesregierung habe kein Konzept und deshalb könnten Sie ja leider nicht zustimmen. Das ist eine Position, bei der ich sagen muß: Sie tun mir wirklich nur noch leid. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grafen Lambsdorff?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Aber gerne.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte. ({0}) - Eine Kurzintervention? Dann möchte die Kollegin Fuchs eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die? - Ja. Bitte, Frau Fuchs. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Verteidigungsminister gesagt hat, der Eurofighter sei keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, und die Entscheidung über das Projekt müsse sicherheitspolitisch und militärisch begründet sein, und stimmen Sie mit mir darin überein, daß wir erst einmal eine entscheidungsreife Vorlage brauchen, bevor wir eine solche Entscheidung treffen können?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Liebe Frau Fuchs, Sie haben sich anscheinend immer noch nicht von den Klarsichthüllen Ihres vorletzten Fraktionsvorsitzenden gelöst. Es geht doch nicht um die Frage, ob eine Vorlage vorhanden ist, sondern es geht um die Frage, ob die SPD sagt: Wir sind bereit, ein Flugzeug zu bestellen, wenn die notwendigen Voraussetzungen gegeben sind. Kommen Sie hier hin, und sagen Sie das! Dann sind die DASA-Arbeiter froh, weil sie dann eine Perspektive haben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Ja, sie ist Fachfrau für den Jäger 90.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, wollen Sie bitte bestätigen, daß ich für meine Fraktion in diversen Haushaltsreden nie das Geld für den Jäger 90 an anderer Stelle ausgegeben habe, sondern gegen die Beschaffung geredet habe und wir auch Anträge gestellt haben, weil wir sagen: Wir haben für die Beschaffung kein Geld. Dies wäre ein Milliardenloch, wie es übrigens auch der Bundesrechnungshof sagt. Sie haben das nicht finanziert, weil Sie in Ihrer mittelfristigen Finanzplanung für die Beschaffung nichts vorgesehen haben.

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich finde es mutig, ({0}) und ich finde es ehrlich, daß Sie die Position, die Sie in den Haushaltsdebatten vorgetragen haben, jetzt in dieser Situation wiederholen. Dazu möchte ich Sie beglückwünschen. Sie stimmt nur nicht mehr mit dem überein, was Ihre Fraktion hier heute vorgetragen hat; denn diese hat den Eindruck erweckt, als ob man nur noch auf eine kleine Vorlage warte, und dann sei man bereit. ({1}) - Oder sind Sie etwa nicht bereit? Dann stellen Sie sich nicht hin und verdummteufeln die DASA-Arbeitnehmer. Das ist eine Sache, die so nicht geht. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Opel?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Aber gerne.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, unterstellen wir, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der DASA freuen sich über jeden Auftrag. Herr Minister Rexrodt hat wörtlich gesagt: Beschaffungsaufträge sichern Technologie und Beschäftigung. Jeder stimmt dem zu. Wie erklären Sie sich unter diesen Umständen, daß ausgerechnet für die Flugbereitschaft der Bundesregierung jetzt nordamerikanische Flugzeuge und nicht die DO 328 im ganz neuen Haushalt 1996 beschafft werden sollen? ({0}) Wie erklären Sie sich, Herr Minister, daß, obwohl die Briten aus dem europäischen Programm Tiger ausgestiegen sind und der zuständige Staatssekretär gesagt hat, das würde Folgen haben, ausgerechnet heute die Marine für 67 Millionen DM sieben britische Hubschrauber und nicht die von Eurocopter beschafft? ({1}) Wie erklären Sie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der DASA, Herr Minister, daß diese Bundesregierung noch kurz vor der Sommerpause für über 100 Millionen DM Ausrüstung und Bewaffnung beschafft hat, die in Amerika gekauft worden sind, obwohl es in Europa und in Deutschland Alternativen gäbe? Wie erklären Sie sich, daß seit einigen Wochen im Bundesministerium der Verteidigung ein Vorschlag der DASA liegt, einen Demonstrator für eine Flugzeugbewaffnung für eben jenes Flugzeug, das Sie angezogen haben, zu entwickeln, damit die Erstausrüstung nicht mit einem amerikanischen Flugkörper getätigt werden muß, und daß die Bundesregierung diesem nationalen Antrag der DASA bisher nicht zugestimmt hat? Diese Dinge stimmen nicht mit Ihren Forderungen überein. Die Bundesregierung hat hier versagt und das Falsche getan. Wie erklären Sie sich das? ({2})

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Dazu werde ich jetzt keine Erklärung abgeben, Herr Kollege Opel. ({0}) - Das ist ein bißchen billig. ({1}) - Herr Scharping, Sie wissen genauso wie ich, in welchem Verfahren im Bundestag die Beschaffungsentscheidungen fallen. Ich sage Ihnen, daß ich davon nicht genügend verstehe und weiß. Deshalb werde ich es jetzt nicht kommentieren, weil ich mir nicht Vorwürfe machen lassen will. ({2}) - Entschuldigen Sie. Ich sage hier, daß ich dazu nichts sagen kann. Das ist eine ehrliche Aussage. Ich werde nicht dafür bezahlt, über irgend etwas hinwegzureden. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann ist es mir auch egal. ({3}) Jetzt kommen wú einmal zu den Bereichen, von denen ich Ahnung habe. ({4}) Das ist z. B. die Abteilung Luft- und Raumfahrt und konkret die Raumstation. Dazu habe ich in der vergangenen Woche im Ausschuß Debatten geführt. Herr Ministerpräsident Stoiber hat gerade darauf hingewiesen, daß wir jetzt im Oktober die europäische ESA-Konferenz in Toulouse haben. Natürlich kann man sagen, daß der Sektor Raumfahrt im Moment relativ wenig Probleme hat und mit Dolores überhaupt nichts zu tun hat. Aber wahr ist auch, daß es um eine Gesamtperspektive für das Unternehmen geht. Wahr ist auch, daß diese Entscheidung noch nicht unter Dach und Fach ist. Es ist gar nicht so einfach, sie unter Dach und Fach zu bekommen, weil es dabei natürlich um einen hochkomplizierten Interessenausgleich in Europa geht. Ich bin optimistisch und hoffe, daß wir das hinbekommen. Das wäre wieder ein Stück Planungssicherheit. Aber ich sage Ihnen auch: Mir wäre leichter, wenn ich wüßte, bevor ich nach Toulouse fahre, daß nicht nur die Koalitionsfraktionen ein Ja zur internationalen Raumstation sagen, sondern auch die SPD in ihrer Mehrheit, statt - wie dies in der Vergangenheit geschehen ist - diese dauernd zu bekämpfen. ({5}) Die Wahrheit ist, daß die SPD in den Ausschüssen immer gegen die bemannte Raumfahrt angetreten ist, daß es Entscheidungen und Anträge im Haushaltsausschuß gegeben hat. Von den Grünen wissen wir das sowieso. Auch das gehört dazu. Die Wahrheit ist eben nicht teilbar. Meine Damen und Herren, was können wir konkret tun? Ich will sieben Punkte ganz kurz ansprechen. Erstens. Wenn die Luft- und Raumfahrtindustrie eine Schlüsselindustrie bleiben will, brauchen wir eine belastbare Strategie des Unternehmens, eine Strategie, die an marktwirtschaftlichen Zielen ausgerichtet ist. Deshalb erwarte ich von der DASA, daß sie nicht nur Kostensenkungsprogramme vorstellt, sondern für die nächsten Jahre konkrete Strategien vorlegt. Nur dann können auch langfristige Beschaffungsentscheidungen getroffen werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte, Kollegin.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Rüttgers, ist es zutreffend, daß Sie selber - als Sie von 1987 bis 1990 noch Mitglied des Ausschusses für Forschung und Technologie waren - gemeinsam mit Mitgliedern der SPD-Fraktion die Sorge geäußert haben und auch in den Ausschußberatungen immer wieder thematisiert haben, daß das ESA-Langzeitprogramm in seiner ursprünglichen Konzeption von den finanziellen Planungen der Bundesregierung erheblich abwich und für jeden ersichtlich und erkennbar war, daß Programmplanung und Finanzplanung nicht übereinstimmten, und daß es von daher sowohl Ihre wie z. B. auch meine Position war, dafür Sorge zu tragen, daß wir eine Deckungsgleichheit zwischen Programmplanung und Finanzplanung erreichen? Ist es zweitens zutreffend, daß Sie mit Ihrem französischen Kollegen eine Obergrenze für das Raumfahrtprogramm in Höhe von 2 Milliarden ECU bis zum Jahre 2000 vereinbart haben, weil Sie die Schlußfolgerungen aus den Entwicklungen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre gezogen haben, daß es sowohl finanzpolitisch als auch forschungspolitisch nicht verantwortbar ist, daß der Etat für Raumfahrt ohne eine erkennbare Grenze wächst und da- mit dann auch die Erfüllung und Durchführung wichtiger Forschungsaufgaben in anderen Technologiefeldern unmöglich macht? Ist es drittens zutreffend und wahr, daß die SPD-Fraktion diese Verabredung unterstützt hat, daß wir gleichzeitig darauf gedrungen und immer wieder eingefordert haben, daß eine internationale Verabredung für den Bau einer Weltraumstation stattfindet, weil wir der Meinung sind, daß diese Aufgaben nicht allein als europäisches Forschungsprogramm durchgeführt werden können, ({0}) sondern daß es unter forschungs- und industriepolitischen Gesichtspunkten wichtig und notwendig ist, dies als internationale Aufgabe zu begreifen und durchzuführen? ({1}) Ist es richtig, daß Sie diese Position in all den Jahren, in denen Sie in diesem Ausschuß tätig waren, unterstützt und für richtig gehalten haben, daß die SPD-Fraktion ebenfalls im Ausschuß darauf gedrungen hat, daß wir endlich zu einer Ausfüllung und Neuformulierung des ESA-Langzeitprogramms kommen, ({2}) damit wir uns nicht auch in Zukunft noch in der Situation befinden, liebe Kolleginnen und Kollegen, Paper-work zu finanzieren, weil wir das Forschungs- und Technologie-Know-how, das es bei uns gibt, tatsächlich effektiv einsetzen wollen? ({3})

Dr. Jürgen Rüttgers (Minister:in)

Politiker ID: 11001899

Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Angst, ich hole das wieder auf: Zur ersten Frage: Ja. Zur zweiten Frage: Ja. Zur vierten Frage: Ja. Zur dritten Frage: Es ist richtig, daß Sie diese Auffassung vertreten. Es ist aber auch richtig, daß andere Kollegen generell gegen die bemannte Raumfahrt ins Feld gezogen sind. ({0}) Zweiter konkreter Vorschlag: europäische Unternehmensstrukturen. Sie wissen, daß die Airbus-Industrie ein loser Zusammenschluß nationaler Luftfahrtunternehmen ist. Wenn Europa mit seinem Airbus der amerikanischen Konkurrenz standhalten will - Ministerpräsident Stoiber hat davon gesprochen -, brauchen wir eine europäische Unternehmensstruktur. Das heißt, die Produktion muß nach Kostengesichtspunkten ausverhandelt, nach Arbeitspaketen organisiert werden, die sich an den Kosten orientieren. Was für die Luftfahrt gilt, gilt auch für die Raumfahrt. Das führt mich zum dritten Punkt. Wir brauchen für die deutsche Luftfahrtindustrie anspruchsvollere Arbeitspakete. Die Endmontage und das Nieten von Rumpfteilen reichen für die Zukunft nicht aus. Deshalb haben wir das Luftfahrtforschungsprogramm auf den Weg gebracht, und wir sind bereit, hier weiterzumachen. Der vierte Punkt heißt Kommerzialisierung der Raumfahrt. Es gibt eine Vielzahl von Bereichen, in denen sich inzwischen eine Kommerzialisierung abzeichnet. Bei satellitengestützter Kommunikation, Navigation und Erdbeobachtung gibt es mittlere Wachstumsraten von 16 %. Deshalb ist es wichtig, daß wir diese Wachstumsmärkte nutzen. Der fünfte Punkt - da wird es schon wieder Streit geben - heißt Dual-use. Eine leistungsfähige Luftfahrtindustrie ist auch für die Sicherheitspolitik unverzichtbar. Deshalb werden wir uns in diesem Hause endlich einmal dazu durchringen müssen, die Synergien von militärischer und ziviler Forschung zu nutzen. Ohne geht es nämlich nicht, weil die Konkurrenz es ähnlich macht. Deshalb darf es aus Effizienzgründen keine Barrieren geben. Der sechste Bereich heißt Umweltschutz. Wir haben hohe Zuwachsraten im Luftverkehr. Dies heißt im Klartext, wir brauchen umweltfreundliche Technologien. Das gilt für den Lärm auf den Flughäfen, das gilt für die Gefährdung der Atmosphäre. Deshalb ist es auch richtig, daß wir im Rahmen des Luftfahrtforschungsprogramms die Emissionen der giftigen und die Ozonschicht schädigenden Stickoxide um bis zu 85 % verringern wollen und daß wir den Treibstoffbedarf pro Platz und Kilometer halbieren wollen. Deshalb muß der Umweltschutz in Zukunft ein tragendes Element bei der Entwicklung neuer Flugzeuggenerationen sein. Siebter und letzter Punkt: Wir brauchen eine einheitliche europäische Luftfahrtforschung; dies ist jetzt ein wichtiger Punkt. Ich hoffe sehr, daß sich die Bundesländer, die auch in Brüssel vertreten sind, mit engagieren. Wir brauchen ein Programm der Europäischen Kommission, das zu Harmonisierungen führt und das auch die nationalen Programme in einem ersten Schritt einbezieht. Ich bin dazu bereit, das deutsche Luftfahrtforschungsprogramm in eine europäische Kooperation einzubringen, denn nur auf europäischer Ebene werden wir langfristig Erfolg haben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich biete ausdrücklich dem Unternehmen, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und allen Fraktionen des Hauses die gemeinsame Arbeit an diesem Aktionsplan an. Ich erwarte dazu konstruktive Beiträge. Ich hoffe, daß die SPD in den nächsten Wochen wegen der existentiellen Bedeutung der Rettung dieser Schlüsselindustrie zu einer einheitlichen Haltung findet. Ich empfinde es als tragisch, daß in der SPD mittlerweile fast jede politische Entscheidung von übergeordneter wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Bedeutung zu inneren Krisen führt. Ich hoffe, daß das wenigstens in diesem Fall überwunden werden kann. Ich kann hier nur für die Bundesregierung sprechen, aber soviel kann ich sagen: Wir stellen uns der politischen Verantwortung. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Rüttgers, ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es der reine Zufall ist, daß wir heute über ein Großunternehmen sprechen, das auch ein Zukunftsunternehmen ist. Die Frage der Subventionierung - wenn es nicht um Forschungsmittel geht - laufender Betriebe, laufender Produktion oder laufender Verluste bei einem großen Unternehmen in Beziehung zu dem Mittelstand bleibt genauso problematisch, wie ich es dargelegt habe. Diese generelle Problematik muß erkannt werden. Die Sicherung von Arbeitsplätzen in großen Unternehmen führt über das Mittel des Tarifvertrags sehr leicht dazu, daß die kleinen und mittleren Unternehmen Arbeitsplätze in größerer Zahl verlieren. Dies ist ganz unabhängig von der Frage, ob das ein Zukunftsindustrieunternehmen ist oder nicht. ({0}) Ich bin mit Herrn Stoiber - er ist offensichtlich nicht mehr hier - durchaus einig, daß die Luft- und Raumfahrtindustrie erhalten werden soll. Wir haben über Forschungsmittel und die Möglichkeit ihrer Weitergewährung und Erhöhung gesprochen. Wenn wir ein Verhältnis von unter 50:50 in Europa erreichen wollen, müssen wir dafür - das wissen Sie - andere Preise bezahlen. Das ist das übliche Geschäft in Europa. Ein europäischer Luft- und Raumfahrtkonzern ist durchaus wünschenswert. Aber die Bemerkung, die Herr Rüttgers soeben gemacht hat, wir brauchten dann anspruchsvollere Arbeitspakete, ist doch der Hinweis auf die gesamte Problematik der internationalen Zusammenarbeit, die wir bei Airbus Industries über viele Jahre mitexerziert haben. Es war mühsam, nicht nur die Blechschmiedeanteile zu bekommen, sondern die anspruchsvolleren High-Tech-Arbeitspakete. Das wird auch in Zukunft nicht einfach sein, insbesondere dann nicht - hier möchte ich Herrn Stoiber ausdrücklich unterstützen -, wenn man den prospektiven Partner auf einem so wichtigen Gebiet auf anderen Gebieten auf den Füßen herumtritt. Das wird die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht erhöhen. Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren. Herr Fischer, ich habe das mitgeschrieben: Es darf nichts geschehen, was die Kompetenz für die Luftfahrtindustrie beeinträchtigt; die Standorte dürfen nicht aufgegeben werden; es darf nichts in den Dollarraum verlegt werden. Unter solchen Auflagen ist eine privatwirtschaftliche Lösung der Probleme durch die DASA nicht erreichbar. Wir müssen klar und deutlich sagen, daß die Probleme unter solchen Bedingungen durch ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen auf Dauer nicht zu lösen sind. Jeder muß wissen, ob er die Konsequenzen, die daraus folgen, wirklich tragen will. Schließlich und endlich: Die Standortbedingungen der Bundesrepublik Deutschland erreichen nicht nur Grobschmieden, Blechschmieden oder Holzsägereien, sondern sie erreichen eben auch den HighTech-Bereich, d. h. unsere Zukunftsindustrien. Mit dem schlichten Aufruf, Herr Fischer, es müsse etwas geschehen, wir sollten handeln, ohne uns zu sagen, was das „etwas" ist und womit wir handeln können, ist uns nicht geholfen. Schöne Grüße an Herrn Schröder! ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist hier mehrfach gesagt worden - dem stimmen wir zu -, daß die Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland und in Europa eine strategische Schlüsselindustrie ist. Das war schon die Verständigung der Ministerpräsidenten im Jahr 1993. Der Satz hat allerdings überhaupt keinen Wert, wenn er nicht durch konkretes Handeln ergänzt wird. Deshalb will ich zunächst sagen, daß das Konzept der DASA, bekannt unter dem Namen Dolores, ein unternehmerisch unverantwortliches Konzept ist. ({0}) Es ist aus mehreren Gründen unverantwortlich: Es unterstellt einen Dollarkurs, wie er Gott sei Dank in diesem Jahr bisher nicht erreicht worden ist und hoffentlich auch in Zukunft nicht erreicht wird; es unterstellt eine Kapitalrendite, wie sie in keinem deutschen Unternehmen üblich ist und schon gar nicht in einem Unternehmen üblich werden darf, das in hohem Umfang mit öffentlichen Mitteln gefördert wird; ({1}) und es informiert die Öffentlichkeit nicht über den banalen Umstand, daß jede verantwortliche Unternehmensführung sich gegenüber Währungsrisiken entsprechend absichert. Die Gewinne aus solchen Kurssicherungsgeschäften werden nicht erkennbar gemacht. Vor diesem Hintergrund beschleicht mich der Verdacht, daß das Unternehmen hier und da den vorhandenen Druck vergrößern und jetzt zum Teil von der Politik Wünsche erfüllt bekommen will, die sich aus einer verantwortlichen zukunftsweisenden unternehmerischen Konzeption nicht ergeben. ({2}) Insofern will ich hier für die sozialdemokratische Seite festhalten, daß wir die Betriebsräte, die IG Metall sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei allen geeigneten Maßnahmen unterstützen, in dieser strategischen Schlüsselindustrie Arbeitsplätze zu erhalten, und zwar auf Dauer. ({3}) Damit ist man dann bei der zweiten Frage, nämlich: Gibt es noch etwas mehr als unternehmerische Verantwortung? Dies gibt es allerdings. Mir ist - der Kollege Stoiber kann aus guten Gründen nicht da sein - sehr wohl aufgefallen, daß der Kollege im Kern eine andere Konzeption verfolgt als die Bundesregierung. ({4}) Im Kern verfolgt er nämlich eine industriepolitische Vorstellung, die im Bereich Forschung und Entwicklung, im Bereich Beschaffung, im Bereich entsprechender Quersubventionen aus der Beschaffung und durch die offene Ausweisung von Subventionen darauf hinausläuft, in dieser strategischen Schlüsselindustrie dauerhaftes öffentliches Engagement zu ermöglichen. Darüber kann man streiten. Diesen Streit will ich hier jetzt nicht führen. Aber wenn man hört, was Herr Rexrodt gesagt hat - dazu muß man, wie Sie wissen, Herr Rexrodt, nicht unbedingt hier vorne sitzen, sondern man kann auch einmal dahinten sitzen -, und dann Revue passieren läßt, was Herr Rüttgers dazu gesagt hat, ist überdeutlich, daß nicht nur eine Differenz besteht zu dem, was Herr Stoiber gesagt hat, sondern daß auch zwischen den Mitgliedern der Bundesregierung eine im Kern unterschiedliche Konzeption verfolgt wird. ({5}) Da ist es nicht verwunderlich, daß Sie von diesem und jenem ablenken wollen. Dafür haben Sie dann einen billigen Vorwand, wie leider häufig. Aber das ändert gar nichts daran, daß hier von den Mitgliedern der Bundesregierung und dem Ministerpräsidenten Stoiber drei unterschiedliche Varianten einer langfristigen Konzeption vertreten worden sind. ({6}) Wie in einer solchen Situation das Versprechen eingelöst werden soll, man tue etwas für die Erhaltung dieser strategischen Schlüsselindustrie, bleibt allerdings rätselhaft. Nur dann wird auch verständlich, wie sich die Bundesregierung in dem Punkt bisher verhalten hat. Sie können immer zur Opposition kommen und sagen: Teilen Sie uns mit, wie Sie sich verhalten werden, wenn wir das und das auf den Tisch legen. Von uns werden Sie immer die Antwort hören: Wir sagen Ihnen das, wenn es auf dem Tisch liegt; denn erst einmal wollen wir wissen, was auf dem Tisch liegt. ({7}) Ihre Verantwortung ist mindestens die, gegenüber einem solchen Unternehmen - angesichts der Bedrohung von 15 000 Arbeitsplätzen, angesichts der Bedeutung dieser Industrie für den Mittelstand, angesichts der Bedeutung dieser Industrie weit über die Jahre 1995 und 1996 hinaus, angesichts der Bedeutung für Umweltüberwachung, Nachrichtentechnik, die nachgelagerten Industrien im Bereich der Telekommunikation usw. - klar dazu Stellung zu nehmen, ob sie ihm langfristig verläßliche Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen können. ({8}) Auch das tun Sie nicht. Das ist kein Wunder, wenn es einen konzeptionellen Streit gibt, bei dem auf der einen Seite ein Ministerpräsident sagt „Es muß ein dauerhaftes öffentliches Engagement geben" und auf der anderen Seite der Bundeswirtschaftsminister verkündet „Die müssen sich im Markt behaupten". Wenn Sie als Bundesregierung eine solche Position vertreten - für die man durchaus Argumente finden kann -, dann ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, daß ein im internationalen Wettbewerb stehendes Unternehmen gleiche Wettbewerbsbedingungen wie andere vorfindet. Noch nicht einmal das tun Sie. ({9}) Ich will Ihnen das jetzt an einigen wenigen Beispielen, die mit den Rahmenbedingungen zu tun haben, kurz demonstrieren. Sie haben in den GATT-Verhandlungen zugelassen, daß die direkte Förderung heruntergefahren und die Quersubvention nicht vernünftig limitiert wurde. Auf gut deutsch: Sie haben zugelassen, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika über den Rüstungshaushalt in erheblichem Umfang die zivile Luftfahrt, die zivile Raumfahrt subventionieren können. In Deutschland funktioniert das entweder mit dem Haushalt nicht oder ist nicht gewollt. Aus welchen Gründen auch immer: Sie haben ungleiche Wettbewerbsbedingungen zugelassen. ({10}) Ich finde es schon beachtlich: Da stellt sich ein Mitglied der Bundesregierung hier hin und weiß ganz genau, welche Vorwürfe es an die SPD zu adressieren hat. Aber wenn man nach dem Verhalten der Bundesregierung fragt - auf der Ebene der Beschaffung, bei der Marine, bei der Munition, bei den Hubschraubern usw. - und hier über einen Luft- und Raumfahrtkonzern diskutiert, ist es schon an der Grenze der Lächerlichkeit, daß ein Mitglied der Bundesregierung Unwissenheit vorschützt, während die Bundesregierung, der es angehört, gleichzeitig Beschaffungsvorhaben durchzieht, die im Kern die Arbeitsmöglichkeiten bei dem Unternehmen, über das wir reden, beschädigen. ({11}) Das ist die Tatsache. Dazu können Sie nichts sagen. Ein Punkt bei den Rahmenbedingungen ist: Sie lassen ungleiche Wettbewerbsbedingungen zu. Sie tragen Verantwortung dafür, daß es sie gibt; denn so alt sind die GATT-Abkommen noch nicht. Zweitens geht es um die europäische Kooperation. Alles, was wir hier über europäische Kooperation hören - namentlich mit Frankreich oder um europäische Konzerne aufzubauen -, ist richtig und wird von uns unterstützt werden. Es macht aber wenig Sinn, die eigene Unfähigkeit hinter Vorwürfen an die Opposition zu verstecken. Das will ich an einem einzigen Beispiel deutlich machen. Es mag sein - übrigens so wie bei Ihnen, Herr Rüttgers -, daß es innerhalb der Sozialdemokratie zu Einzelfragen der bemannten Raumfahrt unterschiedliche Auffassungen gibt. Im Kern allerdings wollen wir, daß im Bereich des. Aufklärungssatelliten, im Bereich der Raumfahrt - im Zweifel auch der bemannten Raumfahrt -, der Luftfahrtforschung, der Frage nach neuen Antrieben, der Verwendung anderer Energiearten konsequent etwas gemacht wird. Denn wenn Sie diese zunächst und vor allen Dingen zivilen Entwicklungsrichtungen nicht konsequent fördern, dann können Sie Arbeitsplätze bei der DASA gar nicht auf Dauer retten, auch nicht mit militärischen Beschaffungsvorhaben. Das ist völlig ausgeschlossen. ({12}) Drittens gibt es so etwas wie eine politische Gesamtverantwortung. Was wir hier vorgeführt bekamen, war: Stoiber sagt a, Rexrodt sagt b, Rüttgers sagt c. Ob Rühe d sagt, darüber konnte man heute etwas lesen; darauf komme ich gleich noch zurück. Was Sie an Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben, hat wegen des Bruchs in den Währungsrelationen Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland gekostet. ({13}) Das wird im Zusammenhang mit der DASA überdeutlich bestätigt. Denn die ganze Konzeption Dolores, unverantwortlich, wie sie ist, hat doch nur einen wirklichen Bezugspunkt, nämlich einen Dollarkurs, von dem man, wenn Sie mit der internationalen Kooperation so weitermachen, befürchten kann - vielleicht begründet -, daß er erreicht wird. Wenn Sie weiter erlauben, daß die Amerikaner über die Währungsrelationen Industriepolitik machen, und nichts Anständiges dagegensetzen, dann könnte das sogar eintreten. Was Sie hier machen, ist keine Konzeption, son-dem Muddling-through mit diesem oder jenem. Wenn Sie nämlich eine Konzeption hätten, dann würden Sie Ihre Beschaffungsentscheidungen auf die Existenzfähigkeit des Unternehmens konzentrieren und die Rahmenbedingungen entsprechend setzen. ({14}) Ich will als vierten Punkt hinzufügen: Ein Land, das Verteidigung braucht, braucht auch eine wehrtechnische Industrie; das ist unbestritten. Ein Land, das Verteidigung braucht und eine wehrtechnische Industrie hat, wird klugerweise dafür sorgen, daß es auch aus dem eigenen Land entsprechende Beschaffungsaufträge gibt. Das hat etwas mit der Industrie und ihrer Grundlage zu tun; das hat etwas mit Arbeitsplätzen zu tun; es hat übrigens auch mit dem notwendigen Maß an Unabhängigkeit zu tun, aller in Zukunft stattfindenden Integration zum Trotz. Mit all diesen Aspekten hat es zu tun. Folgerichtig wäre es klug - vielleicht reden Sie, Herr Rüttgers, darüber einmal mit Ihrem Kollegen Rühe oder anderen -, solche Beschaffungsentscheidungen voranzubringen. Sie werden in der SPD keinen Widerstand, sondern Unterstützung finden, wenn es um bestimmte Beschaffungsvorhaben geht - nicht bei allen. Ich stimme dem Bundesverteidigungsminister ausdrücklich zu, wenn er sagt: Der Eurofighter ist keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme; die Entscheidung kann frühestens Mitte 1996 getroffen werden. Es ist richtig: Rüstung und wehrtechnische Industrie bedeuten Arbeitsplätze. Aber niemals kann das auslösende Motiv für Rüstung und Beschaffungsvorhaben der Arbeitsplatz sein. Das ist vielmehr das notwendige Ergebnis. ({15}) Da offenkundig in bestimmten Fragen - ich nenne das zukünftige große Transportflugzeug - gar keine Differenzen bestehen, fragt man sich natürlich: Was bewegt die Mitglieder der Koalition, in diese Debatte jetzt diese eine Beschaffungsmaßnahme, den Eurofighter, einzuführen? ({16}) Die Vertreter der Bundesregierung sagen, daß frühestens 1996 über sie beschlossen werden könne. Wir wissen, daß der Vorstand der DASA aber schon in diesem Jahr bestimmte Entscheidungen treffen will. Auf gut deutsch: Der Verteidigungsminister bestätigt uns öffentlich, daß die Debatte über dieses Flugzeug überhaupt nichts mit der langfristigen Existenzfähigkeit der DASA zu tun hat. ({17}) Ich komme zu meinem letzten Satz: Ich kann sehr gut verstehen, daß man über diese Frage diskutiert. Ich halte die Position beispielsweise des Hamburger Bürgermeisters Voscherau für eine absolut rationale. Sie ist schriftlich niedergelegt; ich kann sie sehr gut nachvollziehen. Sie ist aus meiner Sicht politisch sehr gut vertretbar. Aber ich warne davor, die schwerwiegenden Mängel in der Politik der Bundesregierung, was die Rahmenbedingungen angeht, was die europäische Kooperation angeht und was das Beschaffungswesen angeht, hinter einer einzelnen Frage zu verstecken. Kurzfristig ist das vielleicht parteipolitisch reizvoll; langfristig ist es für die industriellen, für die technologischen Kapazitäten und die daraus entstehenden Arbeitsplätze in Deutschland gefährlich. Die Arbeitsplätze, die Technologie und die zukünftige Entwicklung sind wichtiger als dieser kleinkarierte, erbärmliche, kümmerliche parteipolitische Streit. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Rexrodt das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scharping, in einem sind wir uns zunächst einmal einig. Es ist parteiübergreifend gesagt worden, daß alles daranzusetzen ist, daß die DASA ihre Unternehmensprobleme löst und daß Arbeitsplätze in dieser Zukunftsindustrie in Deutschland erhalten bleiben. Die Wege dahin sind allerdings - gerade durch Ihren Beitrag - in vieler Hinsicht unterschiedlich zu bewerten. Herr Scharping, wie kommen Sie eigentlich zu der Aussage - bei aller Übereinstimmung, daß Wettbewerbsbedingungen für vergleichbare Industrien weltweit möglichst gleich sein sollten -, daß wir als Deutsche versäumt hätten, bei den GATT-Verhandlungen darauf hinzuwirken, daß es vergleichbare Bedingungen gibt? ({0}) Die GATT-Verhandlungen werden von der Europäischen Union geführt. Wir haben im Vorfeld alles darangesetzt, daß die Bedingungen geschaffen werden, um die DASA nach Möglichkeit zu fördern und die amerikanischen indirekten Subventionen abzubauen. Die Erfolge, die wir dabei erzielt haben, mögen von vielen als nicht ausreichend betrachtet werden, aber gemessen an dem, was erreichbar war, hat die Bundesregierung über die Europäische Union das ihre getan. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, behaupten Sie die Unwahrheit, Herr Scharping. ({1}) Zweiter Aspekt. Welche Vorstellungen von Wechselkurspolitik und Wechselkursentwicklung haben Sie eigentlich? Herr Scharping, Wechselkurse bilden sich auf Grund der ökonomischen Tatsachen und bestimmter Erwartungen in die wirtschaftliche Leistungskraft eines Landes, ({2}) nicht aber durch Entwicklungen, die durch irgendein politisches Verhalten oder auch Fehlverhalten bedingt sind. ({3}) Die Bundesregierung ist nicht in der Lage - das ist gut so; im Unterschied zu dem, was von Ihnen immer wieder gefordert wird -, unmittelbar auf Wechselkursentwicklungen Einfluß zu nehmen. ({4}) Meine Damen und Herren, Ihre Vorstellungen von Wirtschaftspolitik und die Beiträge, die vom inzwischen abgelösten wirtschaftspolitischen Sprecher Herrn Jens dazu immer wieder vorgetragen wurden, liefen darauf hinaus, daß man die Bundesbank einbinden solle, um damit sicherzustellen, daß die Wechselkursentwicklung einen Verlauf nimmt, den man sich wünscht. Das ist wirtschaftspolitischer Dilettantismus par excellence. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter Rexrodt, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen. Kurzinterventionen dürfen nur genau drei Minuten umfassen. Es tut mir leid. ({0}) - Nein, Kurzintervention ist Kurzintervention. ({1}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rexrodt, ich möchte Ihnen erstens sagen: Sie wissen so gut wie ich, daß es politischen Einfluß auf die Wechselkurse gibt. Herr Waigel hat das in den letzten Tagen überdeutlich gemacht. ({0}) Langfristigen Einfluß gibt es auch; denn sonst wäre das gemeinsame Bemühen der Notenbankchefs, die Wechselkurse zu korrigieren, nicht zu erklären - übrigens ein Vorgang, den Herr Waigel mit seinen fahrlässigen Äußerungen fast völlig wieder zerschlagen hat. ({1}) Zweitens zu dem, was die Vereinigten Staaten angeht: Gelegentlich könnte ich Ihnen unter vier Augen ein paar Leute nennen, die sich angesichts der Verhandlungsstrategie der Bundesregierung im Rahmen der GATT-Verhandlungen regelrecht auf die Schenkel geschlagen haben, aus Freude darüber, wie dumm sich die Bundesregierung verhalten hat und welche Konsequenzen das in diesem Bereich hat. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung erhält jetzt das Wort der Staatssekretär Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir heute geführt haben, hat deutlich gemacht, daß es bei einem ungewöhnlich komplizierten Thema manche Übereinstimmungen, aber auch viele Kontroversen gibt. Es liegt wahrscheinlich in der Natur jedenfalls dieses Themas, daß die Übereinstimmungen eher im Grundsätzlichen liegen und da, wo es um konkrete Schlußfolgerungen aus diesen prinzipiellen Positionen geht, die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen. Ich will zum Schluß dieser Debatte den Versuch unternehmen, ganz ohne Polemik ein paar der Sachverhalte zu sortieren, bei denen wir hoffentlich in dem einen Bereich eine möglichst breite Übereinstimmung haben und uns in dem anderen Bereich, wo wir sie noch nicht haben, jedenfalls gemeinsam um Klärungen bemühen sollten. Wenn wir hier über eine Branche, über einen Sektor unserer Volkswirtschaft reden, von dem wir übereinstimmend sagen, daß wir auf ihn schwerlich verzichten können und schon gar nicht verzichten wollen, und von dem wir alle miteinander wissen, daß seine Wettbewerbs- und Überlebensbedingungen ohne politische Flankierung gar nicht vorstellbar sind, dann lohnt sich schon das gemeinsame Bemühen, eine möglichst breite Basis für das Maß an politischer Flankierung zu suchen, das dieser Sektor ohne Zweifel braucht. Ich will deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus gutem Grund mit der Bemerkung beginnen: Wenn wir über Luft- und Raumfahrt in Deutschland reden, dann reden wir nicht nur über ein Großunternehmen, sondern wir reden auch über eine beachtliche Anzahl an kleineren und mittleren Untemehmen, die übrigens mit vollem Recht von der Politik erwarten, daß ihre Interessen genau so wahrgenommen und politisch genau so berücksichtigt werden, wie es für das Unternehmen gilt, das heute nicht zufällig im Mittelpunkt dieser Debatte gestanden hat. ({0}) Zweitens. Die Lage der Luft- und Raumfahrtindustrie ist schwierig, aber sie ist nicht dramatisch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein der Respekt gegenüber vielen Branchen und Sektoren unserer Volkswirtschaft, die sich auch ganz schwierigen Wettbewerbsbedingungen gegenübersehen und deren Überlebensaussichten und Wettbewerbsbedingungen im alten Teil der Republik und schon gar in den neuen Ländern mindestens so schwierig und bestimmt nicht einfacher sind als bei den Firmen, über die wir heute reden, gebietet, diese Relativierung der Debatte vorzunehmen, zumal es im übrigen nicht viele Sektoren gibt, für die man mit gleicher Plausibilität sagen kann, daß sie ganz sicher nicht zu den sterbenden Industrien gehören, sondern zu einem Sektor, der unbestrittene Wachstumsperspektiven hat. Es ist übrigens gerade der zivile Bereich, von dem zu Recht gesagt worden ist, daß er die Zukunft dieser Industrie darstellt. Sowohl mit Blick auf den Flugzeugbereich wie mit Blick auf die Raumfahrttechnologien, bei denen wir gerade am Beginn der Kommerzialisierungsphase stehen, haben wir beachtliche Wachstumsperspektiven. Von daher besteht überhaupt kein Anlaß, die unbestritten schwierige Situation, in der sich diese Branche befindet, in einer Weise zu dramatisieren, die die Proportionen vollständig verkennen und verkehren würde. ({1}) Das gebietet im übrigen auch, Herr Kollege Fischer, weil Sie das ja sicherlich meinen, eine gewisse Relativierung mancher aufgeregten Erwartungen hinsichtlich politischer Interventionen. Das will ich ausdrücklich auch an dieser Stelle festgehalten haben. Wenn wir über die Luft- und Raumfahrtindustrie am Standort Deutschland reden - und da geht die Diskussion von der Abteilung Allgemeines in die Abteilung Konkretes -, dann dürfen wir nicht nur allgemein Sympathieerklärungen für einen Sektor unserer Volkswirtschaft abgeben, sondern dann muß jeder für sich, jede Partei für sich, jede politische Gruppierung für sich erklären, ob sie eigentlich Interesse an den Produkten hat, die an diesen Standorten hergestellt werden. ({2}) Jedenfalls ist es einigermaßen abenteuerlich, sich mit allgemeinen Generalerklärungen über die strategische Bedeutung dieser Industrie über Wasser halten zu wollen, aber bei jeder konkreten Frage nach dem Produkt einen fundamentalistischen Streit darüber zu beginnen, ob denn ausgerechnet an diesem Produkt in unserer Volkswirtschaft ein Interesse bestehen könne. ({3}) Das registrieren im übrigen die betroffenen Belegschaftsmitglieder mit großer Sensibilität. ({4}) Ich will beim Stichwort Belegschaft - ich führe in diesen Wochen sehr viele und sehr intensive Gespräche an vielen Standorten - an dieser Stelle einmal meinen großen Respekt nicht nur vor der ungewöhnlichen Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter in dieser Branche zum Ausdruck bringen, sondern auch vor ihrer ganz ausgeprägten Bereitschaft, sich der schwierigen Situation, in der sich die Unternehmen befinden, aufgeschlossen zu stellen und ausdrücklich zu erklären, daß sie bereit sind, ihren Beitrag zu leisten, was die Überwindung dieser Schwierigkeiten angeht. Das, was gelegentlich auch in dieser Debatte an vordergründigem Bemühen zu erkennen war, den Schwarzen Peter irgend jemand anderem zuzuschieben, wird ausgerechnet auf seiten der unmittelbar betroffenen Belegschaft in einer bewundernswerten Weise vermieden, die sich nämlich den Fragen stellt, um die es tatsächlich geht. Meine Damen und Herren, zur Relativierung des Problems gehört auch, daß präzise die gleiche Debatte, die wir hier führen, nicht nur in Deutschland, sondern gleichzeitig an jedem Luft- und Raumfahrtstandort in Europa und selbst in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wir befinden uns in einer gründlich veränderten Welt. Überall gibt es massive Konsequenzen dieser Veränderungen, gerade im Bereich der Luft- und Raumfahrtindustrie. Nun haben wir im Unterschied zu manchen anderen Ländern diesen Bereich privatwirtschaftlich organisiert. Die Bundesregierung läßt auch keinen Zweifel daran, daß es bei dieser privatwirtschaftlichen Verfassung der Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland bleiben soll. Dann heißt das aber im Klartext: Daraus ergeben sich spezifische Verantwortlichkeiten, die nicht beliebig, je nach Problemlage ausgewechselt werden können. Die Frage, welche Produkte an welchem Standort mit wie vielen Arbeitsplätzen hergestellt werden können und hergestellt werden sollen, ist eben nicht von der Politik zu entscheiden, sondern von den betroffenen Unternehmen. Dies war der ausdrückliche Zweck der Operation Privatisierung. Wir täten weder der Politik noch der Industrie einen Gefallen, wenn wir dann, wenn diese Frage konkret wird, in Umkehrung unserer eigenen Absichten die umgekehrten Empfehlungen hier vortragen würden. ({5}) Deswegen halte ich es auch für vordergründig, wenn dann, wenn sich in einer solchen Situation die unmittelbar betroffenen Unternehmen um die unpopuläre Klärung solcher offener Fragen bemühen, hier mit der populären Forderung aufmarschiert wird, zunächst müsse das Unternehmen solche Planungen vom Tisch nehmen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, weswegen haben wir diesen Bereich denn privatwirtschaftlich organisiert? Damit endlich die Antwort auf die Frage, was an welcher Stelle mit am ehesten gegebener Aussicht auf Wettbewerbsfähigkeit hergestellt wird, nicht von dem Durchsetzungsvermögen von Wahlkreismatadoren abhängig gemacht wird, sondern von der nüchternen Einschätzung der tatsächlichen Marktchancen und der Wettbewerbsfähigkeit. ({6}) Meine Damen und Herren von der Opposition, bei manchem meiner Standortbesuche habe ich tatsächlich den Eindruck gehabt, daß die Belegschaften in der Einsicht in diese Zusammenhänge schon erheblich weiter sind, als es mancher Diskussionsbeitrag heute morgen erkennen ließ. ({7}) Es hat keinen Sinn, nun Durchhalteparolen zu formulieren: Wir halten die Luft- und Raumfahrtindustrie, koste es, was es wolle. Die Wahrheit ist: Wir halten sie nicht, koste es, was es wolle. Entweder wird sie an diesem Standort wettbewerbsfähig, oder es wird sie nicht geben. In dem Zusammenhang können wir an einer Einsicht nicht vorbei, die allerdings erhebliche Veränderungen auf seiten der Politik erfordert, der Einsicht nämlich, daß die Zeiten vorbei sind, in denen das in nationaler Kompetenz oder in der Kompetenz einzelner Unternehmen bewältigt werden konnte. Entweder wird die Luft- und Raumfahrt europäisch, oder sie wird irrelevant. Es wird sie nicht mehr geben, wenn wir nicht zu ganz neuen, sehr viel intensiveren Konzepten europäischer Zusammenarbeit kommen. Wenn hier - auch von der Opposition - gesagt wird, wir seien ja bereit, an allem mitzuwirken, dann lade ich Sie herzlich ein, bei zwei ganz konkreten Fragen mitzuwirken, die wir in kürzester Zeit politisch klären müssen, weil nämlich keine Klärungsmöglichkeit für die Unternehmen gegeben ist, sondern es sich um eine originäre Entscheidungskompetenz der Politik handelt. Erstens. So lange, wie es Luft- und Raumfahrt gibt, hat es einen engen Zusammenhang zwischen ziviler und militärischer Nutzung gegeben. Das muß einem nicht unbedingt gefallen, aber zur Kenntnis nehmen sollte man es schon. Zu den Realitäten, über die wir reden, gehört, daß der Versuch einer sauberen Trennung zwischen zivilen und militärischen Forschungen, Entwicklungen und Nutzungen immer realitätsfremder wird. Jeder muß wissen, daß dann, wenn er auf einer solchen sauberen Trennung besteht, dies für die Luft- und Raumfahrtindustrie am Standort Deutschland bedeutet, daß sie sich von genau solchen Entwicklungen und solchen Produkten verabschieden muß, die tatsächlich Marktchancen für die Zukunft haben. Dies ist eine Klärung, die die Politik für die Industrie leisten muß. Herr Kollege Scharping, ich sehe mit großem Interesse der Diskussion mit der Opposition entgegen, die wir an dieser Stelle führen müssen. Ich will unter dem Stichwort „Klärungsbedarf" einen zweiten Punkt nennen - wirklich ohne jeden Anflug von Polemik -, den Sie, wie nahezu jeder in dieser Debatte, völlig zu Recht angemerkt haben: Wir brauchen ganz andere, neue Formen europäischer Zusammenarbeit. Im übrigen ist es wahr: Es gibt Inkonsistenzen sowohl im Entwicklungsbereich als auch im Forschungs- und im Beschaffungsbereich. Diese Inkonsistenzen gibt es nicht nur bei den Franzosen, den Niederländern oder den Briten. Die ganze Wahrheit ist: Es gibt sie gelegentlich auch bei uns. ({8}) Allerdings sollte man nicht einerseits die Beschaffungspolitik der Bundesregierung deswegen kritisieren, weil sie nicht in Deutschland kauft, ({9}) und andererseits die Erwartung zurückweisen, daß zur Sicherung von Beschäftigungschancen eine bestimmte Entscheidung zugunsten deutscher Unternehmen getroffen werden müßte. Hier muß man sich auch entschließen, welche Art der Argumentation man sich nun wirklich zu eigen machen will. ({10}) Wahr ist - deswegen habe ich das vorgetragen -: Es gibt Inkonsistenzen, und darüber müssen wir reden. Wenn wir in dieser Branche nur mit einer europäischen Perspektive überleben können, dann muß diese europäische Perspektive Forschung, Entwicklung, Beschaffung, Nutzung und zunehmend übrigens auch Wartung einschließen. Sonst werden wir das gar nicht durchhalten können. Der zweite unverzichtbar anstehende Klärungsbedarf - ich sage das nur noch stichwortartig - betrifft die Exportregelung, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben. Herr Scharping, unter den gegebenen gesetzlichen Bestimmungen sind Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland nur begrenzt kooperationsfähig. Die gesamte Debatte über notwendige europäische Perspektiven bleibt eine pure Sympathieerklärung, wenn wir nicht bereit sind, uns ganz nüchtern, ganz unvoreingenommen, aber eben auch ganz konkret mit der Frage zu beschäftigen: Wo schaffen wir selber durch unsere gesetzlichen Bestimmungen, die aus der Vergangenheit stammen und damals vielleicht gut begründet waren, Verzerrungen von Wettbewerbsbedingungen, die eine der wesentlichen Hürden für die Leistungsfähigkeit unserer eigenen Unternehmen darstellen? Ich stelle mit Sympathie fest, daß es, jedenfalls in den Ländern, eine beachtliche Neigung gibt, sich dieser Frage ganz nüchtern und unvoreingenommen zu widmen. Wir werden das hoffentlich gemeinsam in diesem Hause tun. Meine Damen und Herren, die Industrie weiß sehr wohl, daß die Bundesregierung keineswegs als Adressat beliebiger Anforderungen an öffentliche Kassen zur Verfügung steht. Ganz gewiß können die Renditeerwartungen von Unternehmen nicht durch einen Griff in öffentliche Kassen gedeckt werden. Wenn sie diese Rentabilitätsziele erreichen, à la bonne heure, aber dies darf ganz sicher nicht unter Rückgriff auf öffentliche Kassen geschehen. Umgekehrt muß klar sein: Die Politik muß in den Funktionen, in denen sie originär allein entscheiden muß und das Unternehmen aus guten Gründen gar keine Entscheidungskompetenz hat, ihren eigenen Aufgaben tatsächlich auch nachkommen. In genau diesem Sinne, mit genau dieser Perspektive wird die Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrtindustrie sicher kein bequemer, aber ganz gewiß ein verläßlicher Partner sein. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolf das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Damen und Herren, drei Anmerkungen zur Debatte. Erstens. Ich habe in meinem Beitrag klarzumachen versucht, bei welcher Art von Arbeitsplätzen dieses Parlament bereit ist, solche Debatten zu führen, und bei welcher Art von Arbeitsplätzen nicht. Ich stelle fest, daß darauf nicht eingegangen wurde. Es bleibt im Raum stehen: Wenn es um andere Arbeitsplätze geht, sei es von Unternehmen in der Oberlausitz, sei es in Bereichen wie der Deutschen Bahn AG oder Telekommunikation und Post, gibt es keine Debatte. Aber bei Debatten, in denen es um Bereiche geht, wo auch militärisch produziert wird, wird eine solche Diskussion geführt. Manche vertreten die Meinung, es gebe im Streit um Subventionen für Boeing/McDonald auf der einen Seite und DASA auf der anderen Seite eine Verzerrung der Wettbewerbsgrundsätze. Diese Leute schreien sehr laut auf, wenn es um Subventionen für die deutsche Steinkohle geht, während sie beim Eurofighter für Subventionen sind. Zweitens. Ich bin auf die stoffliche Form dessen, was produziert wird, eingegangen und habe Vorschläge gemacht, welche anderen Produkte hergestellt werden könnten. ({0}) Auf die Frage, welche Militärprojekte damit verbunden sind, sind sehr wenige Rednerinnen und Redner eingegangen - sehr offensiv Herr Stoiber, der all dies eindeutig gerechtfertigt hat. Da es sich in beiden Bereichen um Industrien handelt, bei denen der Staat interveniert, verlange ich noch einmal, zu vergleichen, was im Bereich der Deutschen Bahn AG, der Post und Telekommunikation auf der einen Seite und im Bereich der Militärausgaben für den Eurofighter auf der anderen Seite getan wird. Auf der einen Seite sinnvolle Formen des Transports, auf der anderen Seite zerstörerische Produkte und Dienstleistungen. Dritter Punkt: Ich bitte Sie, auch volkswirtschaftlich zu vergleichen, daß es sich in den Bereichen, um die es hier geht, nämlich Weltraumfahrt und Rüstung, um extrem kapitalintensive Produktionen handelt und umgekehrt in den anderen Bereichen und Dienstleistungssektoren wie Bahn und Post um extrem arbeitsintensive Bereiche. Das heißt: Wenn die Gelder für Rüstung da sind, dann würden sie in den anderen Bereichen bedeutend mehr Arbeitsplätze schaffen als in den Bereichen, in denen sie jetzt ausgegeben werden sollen. Das heißt: Es wäre insgesamt ein größeres Arbeitsbeschaffungsprogramm. Zum Schluß: Über dieser Diskussion liegt ein Hauch von Vaterland, liegt ein Hauch von „Ich kenne keine Parteien mehr" . ({1}) Zu der Panzerkreuzer-Diskussion vor dem Ersten Weltkrieg haben wir hier ein Korrelat „EurofighterAnschaffung". Ich bedauere, daß auch in Bereichen der SPD zum Teil so diskutiert worden ist, daß primär Arbeitsplätze im Mittelpunkt stehen und nicht die stoffliche Form. Ich stelle fest, daß wir für eine solche Diskussion nicht zu haben sind. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort zu einer zweiten Kurzintervention dem Abgeordneten Manfred Opel.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Lammert, ich möchte auf Ihren Beitrag eingehen. Sie sagten, die Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie sei nicht dramatisch. Ich weiß jetzt im Moment nicht, ob ich darüber zornig oder enttäuscht sein soll. Wir haben ein Programm Dolores, mit dem 15 000 Hochtechnologie-Arbeitsplätze gefährdet werden, und Sie sagen: Die Lage ist nicht dramatisch. ({0}) Herr Bischoff spricht in der „Süddeutschen Zeitung" vom 25. September - Herr Staatssekretär, Sie sind der Koordinator der Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt - von einem extremen Einbruch auf dem zivilen Flugzeugmarkt und vom extremen Verfall des Dollars. Er verwendet zweimal das Wort „extrem", aber Sie sagen: Die Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie ist nicht dramatisch. Was sagen Sie als der Beauftragte der Bundesregierung diesen Menschen draußen, deren Ausbildung sehr viel Geld gekostet hat, unter dem Aspekt der Zukunftshoffnung und Zukunftssicherheit? Ihre Aufgabe, Herr Staatssekretär, wäre es, hier ein Konzept vorzulegen, und wenn es ein vorläufiges wäre. Dies haben Sie bisher nicht geschafft. Wir haben ja am Montag vor acht Tagen drüben im Wasserwerk eine große Veranstaltung gehabt. Dort hat die ganze deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie geklagt, daß die Bundesregierung untätig war, und gefordert, endlich etwas zu tun. Insofern war das, was Herr Minister Dr. Fischer gesagt hat, richtig. Herr Stoiber hat hier sehr deutlich gemacht - übrigens hat das auch Minister Rüttgers wiederholt -, wieviel an Bedarf eigentlich da ist. Aber glauben Sie denn, daß der Bedarf automatisch auf die DASA und auf Airbus zuläuft? Glauben Sie, daß Sie da nichts tun müssen? Glauben Sie denn an das Wort, das Sie hier gerade gesagt haben: Entweder wird die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie wettbewerbsfähig an diesem Standort sein, oder es wird sie nicht geben? Ihre Aufgabe ist doch nicht, sie zu vernichten oder einfach wegrationalisieren zu lassen, sondern Ihre Aufgabe ist es doch, diese deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie mit den Arbeitsplätzen, mit der Technologie, mit allem, was sie kann, als Schlüsselindustrie zu erhalten. Dies wäre Ihre Aufgabe hier gewesen. Sie hätten sagen müssen, Herr Dr. Lammert, wie man das tut. Dann hätte man Ihnen das abgenommen. Sie sind eine Tu-nix-Regierung. Sie haben hier nichts geschafft. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antworten. Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Opel, die Lage der Luft- und Raumfahrtindustrie ist schwierig, aber nicht dramatisch. Eine der sichersten Methoden, daß Politik ihrer Verantwortung nicht nachkommt, besteht darin, daß man den Blick für Proportionen verliert. Im übrigen sind ja viele, zu viele, unterwegs, die das erkennbare Bemühen treibt, uns den Blick für die Proportionen zu vernebeln. Deswegen sage ich noch einmal: Es gebietet allein schon der Respekt gegenüber vielen anderen Sektoren und Branchen unserer Volkswirtschaft, die sich ebenfalls unter schwierigen Wettbewerbsbedingungen auf gründlich veränderte Marktverhältnisse einstellen müssen und über die wir nicht drei- oder dreieinhalbstündige Debatten hier im Deutschen Bundestag führen, ({0}) daß wir das festhalten, was ich gerade gesagt habe. Ich würde es nicht für einen besonderen Intelligenznachweis des Koordinators für Luft- und Raumfahrt halten, wenn er pausenlos durch die Landschaft liefe und den Eindruck vermittelte, daß er den Blick für genau diese Proportionen nicht hat. Zweite Bemerkung: Wenn im übrigen irgendeine Branche in Deutschland sich nicht darüber beklagen kann, über Jahre und Jahrzehnte hinweg genau die politische Begleitung und Flankierung erhalten zu haben, die sie brauchte, dann ist es die Luft- und Raumfahrtindustrie. ({1}) Seit Mitte der 70er Jahre sind für diese Branche für die unterschiedlichsten Zwecke, für Beschaffungen, für Forschungen, für Entwicklungen, für Absatzhilfen, für Finanzierungsaktivitäten, etwa 150 Milliarden DM aufgewendet worden. Drittens schließlich: Aus vielerlei Gründen kann nicht alles so bleiben, wie es jetzt ist. Es ist ein Gebot der Fairneß gegenüber allen Beteiligten, daß man sagt: Diese Bundesregierung ist fest entschlossen, sich weiter um eine Industrie zu kümmern, die wir sowohl für die Sicherung der Wachstumspotentiale unserer Volkswirtschaft als auch im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen unseres Landes für unverzichtbar halten. Aber wir werden nicht den Status quo unter Denkmalschutz stellen, sondern wir werden darauf bestehen, daß jetzt die Anpassung an die veränderten Realitäten erfolgt, die wir nicht nur zur Kenntnis nehmen müssen, sondern aus denen wir auch Schlußfolgerungen ziehen müssen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit diese Aussprache und rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 e sowie Zusatzpunkt 3 auf: 17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialverträglicheren Gestaltung des Arbeitsplatzverlustes von Zivilbeschäftigten infolge des Truppenabbaus der alliierten Streitkräfte - Drucksache 13/1056 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Verteidigungsausschuß b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die Tätigkeit von Notaren in eigener Praxis - Drucksache 13/2023 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. Juni 1989 zum Madrider Abkommen über die internationale Registrierung von Marken - Drucksache 13/2415 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({1}) - Drucksache 13/2446 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({2}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluß des Obersten Rates des Europäischen Hochschulinstituts Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Nr. 8/93 vom 2. Dezember 1993 und zu dem Beschluß der Ständigen Kommission von Eurocontrol vom 28. Oktober 1994 - Drucksache 13/2241Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Wolf, Simone Probst, Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kleine und mittlere Unternehmen stärken - Nachhaltiges Wirtschaften fördern - Drucksache 13/2436 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({3}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a bis 18 m sowie Zusatzpunkt 4 auf: 18. Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 15. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/1430 - ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({5}) - Drucksache 13/2384 - Berichterstattung: Abgeordnete Elke Wülfing b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Mongolischen Volksrepublik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/1431 - ({6}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) - Drucksache 13/2385 - Berichterstattung: Abgeordneter Herbert Meißner c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Estland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/1432 - ({8}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({9}) - Drucksache 13/2386 - Berichterstattung: Abgeordnete Elke Wülfing d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 zur Durchführung des Abkommens vom 5. März 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über Rentenversicherung - Drucksache 13/1810 -({10}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({11}) - Drucksache 13/2433 - Berichterstattung: Abgeordnete Petra Bläss e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({12}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Dr. Helmut Lippelt, Halo Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Nichtbewilligung des EBRD-Kredites für den Weiterbau des Atomkraftwerkes Mochovce/Slowakei - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Nichtbewilligung von Krediten für den Weiterbau des Atomkraftwerkes Mochovce in der Slowakischen Republik - zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Schönberger, Dr. Helmut Lippelt, Halo Saibold, Michaele Hustedt und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nichtbewilligung des EBRD-Kredites für den Weiterbau des Atomkraftwerkes Mochovce/Slowakei Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Köhne, Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abgeordneten der PDS Kreditbewilligung für die Fertigstellung des Atomkraftwerkes Mochovce ({13}) - Drucksachen 13/309, 13/975, 13/738, 13/ 656, 13/2175 - Berichterstattung: Abgeordnete Detlev von Larcher Wolfgang Steiger f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über das Funktionieren der Beihilferegelungen für Baumwolle ({14}) - Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur fünften Anpassung der mit dem Protokoll Nr. 4 im Anhang zur Akte über den Beitritt Griechenlands eingeführten Beihilferegelung für Baumwolle - Vorschlag für einen Beschluß zur Festlegung der allgemeinen Vorschriften der Beihilferegelung für Baumwolle und zur Aufhebung der Verordnung ({15}) Nr. 2169/81 - Drucksachen 13/1234 Nr. 1.14, 13/2305 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Hornung g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Einhundertachtundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - - Drucksachen 13/1663, 13/1787 Nr. 2.1, 13/ 2387 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich Fritz h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({17}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordung - - Drucksachen 13/1770, 13/1787 Nr. 2.3, 13/ 2389 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich Fritz i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({18}) zu dem Antrag der Präsidentin des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1994 - Einzelplan 20 -§ 101 BHO - Drucksachen 13/1668, 13/2390 Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Wilfried Seibel Oswald Metzger Dr. Wolfgang Weng ({19}) j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 15 02 Titel 685 13 Beteiligung des Bundes an einer Regelung für angemessene Leistungen an HIV-Opfer von Blut und Blutprodukten - Drucksachen 13/2143, 13/2275 Nr. 1.8, 13/ 2391 Berichterstattung: Abgeordnete Kristin Heyne Roland Sauer ({21}) Gerhard Rübenkönig Dr. Wolfgang Weng ({22}) k) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 20 zu Petitionen ({24}) - Drucksache 13/818 - 1) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 60 zu Petitionen - Drucksache 13/2380 - m) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 62 zu Petitionen - Drucksache 13/2382 ZP4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Verlängerung des Investitionsvorranggesetzes -Drucksachen 13/2242, 13/2275 Nr. 2, 13/2447 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Müller ({28}) Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Bei den Tagesordnungspunkten 18a bis c handelt es sich um Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der Ukraine, der Mongolischen Volksrepublik und der Republik Estland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksachen 13/1430 bis 13/1432. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/2384 bis 13/2386, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich bitte diejenigen, die den drei aufgerufenen Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Gesetzentwürfe einstimmig angenommen worden sind. Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen mit der Republik China über Rentenversicherung, Drucksache 13/1810. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2433, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist. Dann kommt der Tagesordnungspunkt 18e: Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Nichtbewilligung eines Kredites für den Weiterbau eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Republik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/309 für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD sowie der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Nichtbewilligung von Krediten für den Weiterbau eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Republik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 2 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/975 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis, aber bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen ist. Dann stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Nichtbewilligung eines Kredites für den Weiterbau eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Republik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 3 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/738 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen ist. Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Kreditbewilligung für die Fertigstellung eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Republik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 4 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/656 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit demselben Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen ist. Tagesordnungspunkt 18f: Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu Beschlußvorschlägen der Europäischen Union zu Beihilferegelungen für Baumwolle auf Drucksache 13/2305 ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen ist. Dann stimmen wir über die Tagesordnungspunkte 18g und h ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Ein- und Ausfuhrliste auf den Drucksachen 13/2387 und 13/2389. Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, gebe bitte ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlungen mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen ist. Wir stimmen nun über den Tagesordnungspunkt 18i ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Präsidentin des Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das Haushaltsjahr 1994 auf der Drucksache 13/2390. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Darm stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen ist. Dann stimmen wir über den Tagesordnungspunkt 18j ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1995 zur Beteiligung des Bundes an einer Regelung für angemessene Leistungen an HIV-Opfer von Blut und Blutprodukten, Drucksachen 13/2143 und 13/2391. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist. Wir stimmen nun über den Tagesordnungspunkt 18k ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksache 13/818. Das ist die Sammelübersicht 20. Aus dieser Sammelübersicht müssen wir nur noch über die Beschlußempfehlung 8, laufende Nummer 24 - Abfallbeseitigung und Abfallvermeidung - abstimmen. Über die übrigen Nummern haben wir in einer früheren Sitzung abgestimmt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung 8, laufende Nummer 24 der Sammelübersicht 20? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion der SPD und bei Stimmenthaltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden ist. Dann kommen wir zur Abstimmung über die Tagesordnungspunkte 181 und 18m: Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 13/ 2380 und 13/2382. Das sind die Sammelübersichten 60 und 62. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe? - Stimmenthaltungen! - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlungen mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen worden sind. Wir stimmen jetzt über den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung ab: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Verlängerung des Investitionsvorranggesetzes, Drucksachen 13/2242 und 13/2447. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist. Dann rufe ich die Punkte 6a bis 6d der Tagesordnung auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes - Drucksache 13/372 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({29}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege ({30}) - Drucksache 13/1208 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({31}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes - Drucksache 13/2347 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({32}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Andrea Fischer ({33}), Marieluise Beck ({34}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neuorientierung der Politik für ältere Menschen - grundlegende Reform des Heimgesetzes - Drucksache 13/1322 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({35}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Abgeordneten Anke Eymer.

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir beraten heute in erster Lesung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes, über die Entwürfe des Bundesrates zur Änderung des Heimgesetzes und zum Altenpflegegesetz sowie über einen Antrag der Bündnisgrünen über eine Neuorientierung der Politik für ältere Menschen. Bei meinen Ausführungen beschränke ich mich auf das Heimgesetz. Wichtigster Punkt bei der geplanten Änderung ist, daß die Kurzzeitpflege in den Schutzbereich des Heimgesetzes einbezogen werden soll. Dies halte ich für wichtig und richtig. Egal ob jemand nur kurze Zeit gepflegt wird oder auf Dauer, der Schutz des älteren Menschen muß immer gewährleistet sein. ({0}) Kurzzeitpflegeeinrichtungen sind wichtig, um pflegende Familienangehörige zu entlasten, z. B. dann, wenn die Pflegeperson Urlaub macht oder gar selbst erkrankt. In solchen Fällen ist es oft in kürzester Zeit erforderlich, den pflegebedürftigen Menschen in einer Einrichtung unterzubringen. Die Einbeziehung der Kurzzeitpflege in das Heimgesetz gibt den Angehörigen die Sicherheit, daß Mindeststandards eingehalten werden. Ich kann deshalb die Kurzzeitpflege nicht als Vorstufe zur Heimeinweisung sehen. ({1}) Wer, wie die Bündnisgrünen in ihrem Antrag, Kurzzeitpflege mit Rehabilitation verwechselt, verkennt die Hauptaufgabe von Kurzzeitpflegeeinrichtungen. Gerade weil diese in Krisensituationen helfen sollen, halte ich eine Einbeziehung in das Heimgesetz für erforderlich. Wir sollten vor diesem Hintergrund in den anstehenden Ausschußberatungen allerdings überlegen, ob wir die derzeit vorgesehene Frist von vier Wochen für die Kurzzeitpflege nicht auf acht Wochen verlängern sollten. Dabei denke ich besonders an Fälle, in denen eine Pflegeperson, die die häusliche Pflege übernommen hat, schwer erkrankt und nach vier Wochen nicht schon wieder in der Lage ist, diese schwere Arbeit zu leisten. Auch wenn für Dauerpflegeeinrichtungen die Möglichkeit zum Abschluß befristeter Heimverträge geschaffen wird, so kann dieses Instrument den Angehörigen von Pflegebedürftigen im Krisenfall nur begrenzt helfen. Dauerpflegeeinrichtungen werden solche befristeten Verträge nur in Ausnahmefällen abschließen, da sie immer an längerfristiger Belegung interessiert sind. Wir sollten hei den weiteren Beratungen deshalb auch überlege i, welche Mindestanforderungen an solche Kurzzeitpflegeeinrichtungen zu stellen sind. Wir müssen dabei ein vernünftiges Maß finden; denn es kann nicht sein, daß wir auf der einen Seite den Betreibern von Pflegeeinrichtungen ständig Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit abverlangen, sie auf der anderen Seite aber mit Forderungen überfrachten, die zwangsläufig die Kosten in die Höhe schnellen lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf etwas anderes hinweisen. Auch in der häuslichen Pflege werden Milliardenbeträge aus den Sozialkassen gezahlt, und dies, obwohl es an jeder Kontrolle fehlt. Ich möchte nicht mißverstanden werden: Es geht nicht darum, die häusliche Pflege zu beschneiden. Aber man muß auch einmal die Relationen sehen. Ich glaube, daß keiner hier im Hause ernsthaft bestreiten wird, daß es auch im Bereich der häuslichen Pflege Mißstände geben kann, die die Würde des älteren Menschen verletzen. Ich halte es auch für richtig, daß die Genehmigungspflicht durch eine Beratungspflicht ersetzt werden soll. Die Umwandlung der Genehmigungspflicht in eine Beratungspflicht entspricht dem veränderten Verständnis von Verwaltung. Wer mehr Aufgaben an Private abgeben will, muß diese als Partner und nicht als Bittsteller behandeln. ({2}) Heimrechtliche Eingriffe sind damit nur noch das letzte Mittel; im Vordergrund steht die Prävention. Die Sicherheit für das Wohl der Heimbewohner bleibt dadurch gewahrt, daß die Heimaufsicht den Betrieb untersagen muß, wenn die in § 16 Abs. 1 Heimgesetz genannten Voraussetzungen vorliegen. Die Untersagungsvoraussetzungen dieser Vorschrift entsprechen den alten Tatbeständen, die zur Versagung der Erlaubnis geführt haben, so daß der Schutz der Heimbewohner vor mangelnder Ausstattung, schlecht ausgebildetem Personal oder unverhältnismäßig hohen Entgelten auch weiterhin im vollen Umfang bestehen bleibt. Die angestrebte Beratung soll dafür sorgen, daß schon frühzeitig auf mögliche Mängel in der Planung hingewiesen werden kann und somit das Risiko von Fehlinvestitionen und späteren Rechtsstreitigkeiten minimiert wird. Eine Heimaufsicht, die nach diesen Regeln handelt, respektiert auf der einen Seite die Selbständigkeit der Heimträger, auf der anderen Seite aber auch die Selbstverwaltungskompetenzen der Kostenträger. Gerade deshalb ist auch zu begrüßen, daß kirchliche und frei-gemeinnützige Träger, ebenso wie die staatlichen, z. B. kommunale, in die Beratungspflicht mit einbezogen werden. Der Umfang der Beratung ist je nach Sachlage dosierbar. Bei Trägern, die in der Alten- und Behindertenhilfe Erfahrung haben und wirtschaftlich leistungsfähig sind, kann sich die Beratung auf Null reduzieren. Trotzdem werden wir bei den Beratungen darauf achten müssen, daß private, frei-gemeinnützige und staatliche Betreiber bei der Beratungspflicht gleich behandelt werden. Es kann nämlich nicht angehen, daß z. B. frei-gemeinnützige Träger in allen Kommunen als bewährte Träger eingestuft werden, private Träger aber, wenn sie ihr Betätigungsfeld auf andere Kommunen ausweiten wollen, als „Newcomer" eingestuft werden. Sicherstellen sollten wir auch, daß sich die Ämter ihrer veränderten Aufgabe bewußt sind. Zusammenfassend stelle ich fest, daß wir mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf ein funktionsfähiges Instrumentarium zur Verfügung stellen, das die Durchsetzung von Mindestvoraussetzungen sichert und damit den Schutz unserer Senioren verbessert. Wir verhindern, daß Dauerpflegebedürftige nur Kurzzeitverträge erhalten und damit dem Schutz des Heimgesetzes entzogen werden. Wir verhindern außerdem, daß die Heimaufsicht an den Kurzzeitpflegeeinrichtungen vorbeigeht - und dies, obwohl der Bedarf an diesen Einrichtungen immer weiter steigen wird. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Staatsministerin für Frauen, Arbeit und Sozialordnung des Landes Hessen, Frau Stolterfoht, das Wort. Staatsministerin Barbara Stolterfoht ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regelungen der einzelnen Bundesländer zur Ausbildung, Prüfung und staatlichen Anerkennung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern sind ein deutschlandweiter Flickenteppich. In den Ländern gibt es höchst unterschiedliche Regelungen für dieses BeStaatsministerin Barbara Stolterfoht ({1}) rufsbild. Das reicht von der betrieblichen Ausbildung im dualen System nach dem Berufsbildungsgesetz wie in Hamburg über die Zuordnung der Ausbildung zum Schulrecht der Länder wie in Bayern bis hin zur Entwicklung der Ausbildungsstätten eigener Art außerhalb des Berufsbildungsgesetzes und des Schulrechts der Länder analog der Krankenpflegeausbildung wie in Hessen. Das stellt ein Problem dar: Erstens. Strukturen, Ziele, Inhalte und Dauer der Ausbildung sind so unterschiedlich, daß von einem einheitlichen Berufsbild kaum gesprochen werden kann. Zweitens. Nur in wenigen Ländern, z. B. in Hessen, wird eine Ausbildungsvergütung gezahlt, die allerdings rechtlich auch nicht hinreichend abgesichert ist. Drittens. Selbst Schulgeldfreiheit ist noch nicht in allen Ländern völlig hergestellt. Alle Versuche der Vereinheitlichung, so 1984 und 1985 durch die Kultusministerkonferenz und die Konferenz der Arbeits- und Sozialministerinnen und -minister, sind fehlgeschlagen. Eine bundeseinheitliche Regelung ist das Gebot der Stunde. Der Gesetzentwurf des Bundesrates, Drucksache 13/1208, den vorzustellen ich die Ehre und das Vergnügen habe, bietet eine Problemlösung an, die praktikabel ist. Es ist schlechthin unerträglich, daß es in einem gesellschaftlich so wichtigen, überwiegend von Frauen ausgeübten Beruf bis heute keine bundesweite Anerkennung und Absicherung gibt und daß eine berufspolitische Aufwertung seit Jahren verhindert wird. ({2}) Eine bundeseinheitliche Problemlösung ist durch das Inkrafttreten der Pflegeversicherung dringlicher denn je, da der bedarfsorientierte Ausbau der pflegerischen Infrastruktur einen erheblichen Mehrbedarf an Fachkräften nach sich zieht. Ich sage ganz deutlich: Wir brauchen in Zukunft nicht schlechter qualifizierte, sondern besser qualifizierte Pflegekräfte. Das ist eine deutliche Absage des Bundesrates an alle Versuche, die Pflegestandards und die Ausbildungsstandards zu senken. ({3}) Die Lösung muß eine bundesweite Ausbildungsoffensive sein. Der Gesetzentwurf des Bundesrates soll dafür die rechtlichen Grundlagen schaffen. Ein solches Altenpflegegesetz ist aus fachpolitischen, europapolitischen und finanzpolitischen Gründen notwendig. Der fachpolitische Begründungszusammenhang ergibt sich vor dem Hintergrund des zu erwartenden Pflegenotstandes. Angesichts der demographischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist es zwingend notwendig, den Fachberuf Altenpflege strukturell zu konsolidieren, ihn finanziell abzusichern, ihn fachlich entsprechend den veränderten Bedürfnissen in der Praxis weiterzuentwickeln und ihn schließlich so aufzuwerten, daß er der Krankenpflege im Ergebnis gleichgestellt ist. Das alles sieht unser Gesetzentwurf vor. Europapolitisch ergibt sich die Notwendigkeit des Gesetzentwurfes aus der schlichten Tatsache, daß wir uns im Zeichen von Europa bundesdeutsche Kleinstaaterei einfach nicht mehr leisten können und nicht mehr leisten sollten. ({4}) Finanzpolitisch schließlich ist ein Bundesgesetz erforderlich, weil die Finanzierung der Ausbildungsvergütung und damit die soziale Absicherung der Altenpflegeschülerinnen und -schüler nur bundesrechtlich wirksam abgesichert werden kann, und zwar über die Pflegesätze der Heimeinrichtungen sowie die Entgelte häuslicher Pflege. Daß diese Kosten dem Leistungsbereich der gesetzlichen Pflegeversicherung zuzuordnen sind, steht nach überwiegender Rechtsauffassung der Mitglieder des Bundesrates außer Frage. Notfalls, meine Damen und Herren, muß das Pflegeversicherungsgesetz eben entsprechend geändert werden. Die Tatsache, daß der Bundesrat diesen Gesetzentwurf vorlegt und nicht die Bundesregierung, hat natürlich eine Vorgeschichte. Dabei hat die Frage nach der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes eine große - nach meiner persönlichen Meinung eine viel zu große - Rolle gespielt. ({5}) Der Bundesrat hat nach zugegebenermaßen schwierigen Beratungen diesem Gesetzentwurf mehrheitlich zugestimmt. Die Positionen waren dabei durchweg nicht parteipolitisch, sondern länderspezifisch bestimmt. Meine Damen und Herren, wir brauchen ein solches Gesetz jetzt. Bei diesem Gesetzentwurf ist wichtig, daß er den wesentlichen bestehenden Ausbildungsformen die Überleitung in die Neuregelung ohne unvertretbaren Aufwand erlaubt. Außerdem verbleibt den Ländern auf der Ebene der inhaltlichen Ausgestaltung der Ausbildung ein sehr weiter Spielraum. Ich habe daher die Hoffnung, daß dieses Konzept ungeachtet des zweifellos noch vorhandenen Beratungsbedarfs bei Ihnen eine Mehrheit finden wird. Ich bitte Sie sehr herzlich und dringlich, angesichts des Bedarfs an Pflegekräften und des derzeitigen unhaltbaren Zustandes diesem Gesetzentwurf die Zustimmung nicht zu verweigern. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch einige Worte zur Drucksache 13/372. Auch dabei handelt es sich um einen Gesetzentwurf des Bundesrates, in dem es um die dringend notwendige Einbeziehung der Kurzzeitpflege in den Schutz des Heimgesetzes geht, um den immer wieder auftretenden Mißständen in der Kurzzeitpflege wirksam zu begegnen. Sie kennen diese Mißstände alle: bauliche und personelle Substandards, fehlende Überprüfbarkeit des Preis-Leistungs-Verhältnisses, regelmäßiges Fehlen einer behindertengerechten Ausstattung und vieles andere mehr. Staatsministerin Barbara Stolterfoht ({6}) Der Bundesrat ist übrigens tätig geworden, weil die Bundesregierung untätig geblieben ist. Die höchst problematische Abschaffung der Erlaubnispflicht nach § 6 ist nicht Gegenstand der Bundesratsinitiative. Sie erscheint unter verschiedenen Aspekten außerordentlich problematisch und hat auf Grund der bewährten Praxis der Heimaufsicht meines Erachtens auch keine Grundlage. Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß Sie der Kurzzeitpflege die Einbeziehung in den Schutz des Heimgesetzes nicht verwehren werden, und bitte Sie, auch diesen Gesetzentwurf zu beraten und zu einem guten Ende zu bringen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Satt und trocken", ist das unser Angebot, das wir als eines der reichsten Länder alten Menschen für ihren Lebensabend zumuten? Heimaufsichtsbehörden und Gesundheitsämter berichten zunehmend von Mißständen in Einrichtungen, insbesondere solchen der privat-gewerblichen Kurzzeitpflege. Mangelnde Betreuung, nicht genügend und ausreichend qualifiziertes Personal, schlechte Pflegeleistungen und ungeeignete Räumlichkeiten sind die häufigsten Beschwerden. Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Kurzzeitpflegeeinrichtungen, die bisher nicht dem Aufsichtsrecht des Heimgesetzes unterliegen, in das Heimgesetz einzubeziehen, wie es sowohl der Bundesrat als auch die Koalition anstreben. Doch was zunächst sehr logisch klingt, ist keineswegs die Lösung der Probleme. Die Defizite des derzeit bestehenden Heimgesetzes sind eklatant. Ich nenne nur zwei Beispiele, nämlich die pflegerische Unterversorgung und die mangelnden Beteiligungsrechte der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, die teilweise zu einem „totalitären" Charakter von Heimen geführt haben. Eine Einbeziehung der Kurzzeitpflege würde somit diese Defizite übertragen. Sie macht erst dann einen Sinn, wenn eine grundlegende Änderung des Heimgesetzes erfolgt ist. Hierzu liegen Ihnen unsere inhaltlichen Vorschläge vor. Wir wollen eine Neuorientierung der Altenpolitik, die auf eine Sicherung der Grundrechte pflegebedürftiger, älterer Menschen sowie Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgerichtet ist. Das Heimgesetz muß die Stärkung der Rechte von Heimbewohnern und -bewohnerinnen in den Mittelpunkt stellen. Das setzt eine völlige Überarbeitung der heimrechtlichen Vorschriften voraus. Maßstab tatsächlicher und rechtlicher Beteiligungsmöglichkeiten im Heim muß der geschäftsfähige ältere und alte Mensch sein, der sich für ein Wohnen im Heim entschieden hat. Dazu sind Elemente von Selbst- und Mitbestimmung in das Heimgesetz aufzunehmen. Meine Damen und Herren, Qualitätssicherung bedeutet auch, daß die Betroffenen Experten und Expertinnen in eigener Sache sind. Wir müssen endlich von dem Klischee Abschied nehmen, daß alten Menschen vorgeschrieben werden muß, was für sie gut ist. Verabschieden von diesem Klischee bedeutet aber auch, daß Heimbewohner und -bewohnerinnen gleiche Rechte haben wie z. B. Mieter und Mieterinnen. Bei einer Anpassung des Heimentgeltes sind sie bzw. ihre Angehörigen zwingend zu beteiligen. In den Schiedsstellen, die nach dem Pflegegesetz zu bilden sind, müssen auch die Interessen der Heimbewohner und -bewohnerinnen vertreten werden. ({0}) Damit komme ich angesichts der Kürze der Zeit zu einem letzten wichtigen Punkt, der dringend in einem Bundesgesetz zu regeln ist. Um eine altersgerechte Pflege sicherzustellen, brauchen wir eine verbesserte und vereinheitlichte Ausbildung für Altenpfleger und -pflegerinnen. ({1}) In keinem anderen Beruf ist die Ausstiegsrate so hoch wie in der Altenpflege. Gegenwärtig hält eine Altenpflegerin ihren Beruf durchschnittlich vier Jahre lang aus. Die Anforderungen an das Pflegepersonal sind hoch, denn häufig sind die älteren Menschen, die gepflegt werden müssen, mehrfach erkrankt und benötigen Pflege und Betreuung auch in psychischer und sozialer Hinsicht. Der Arbeitsdruck ist auf Grund des Pflegenotstands enorm. Die Berufsausbildungen sind, gemessen an den vielfältigen Anforderungen, unzureichend und außerdem völlig verschieden, da alle Bundesländer jeweils eine eigene Regelung haben. Es gibt keine einheitlichen Qualitätsstandards. In vielen Bundesländern müssen gar die Auszubildenden ihre Ausbildung auch noch selbst bezahlen. Deshalb ist die Initiative des Bundesrates, eine bundesweit vereinheitlichte Altenpflegeausbildung zu schaffen, erfreulich, da sich die Bundesregierung offensichtlich auch in diesem Bereich nicht zum Handeln entschließen kann. Das Ziel, eine qualifizierte Pflegeausbildung endlich zu gewährleisten, wird aber nicht erreicht, wenn neben der dreijährigen Berufsausbildung zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger in diesem Gesetzentwurf auch noch eine einjährige Ausbildung zum Altenpflegehelfer bzw. zur -helferin vorgesehen wird. Wir lehnen eine solche Helfer- bzw. Helferinnenausbildung ganz entschieden ab. Wir sind gegen eine solche Schmalspurausbildung. Wenn wir im Pflegebereich wirklich etwas verändern wollen, brauchen wir qualifizierte Fachkräfte und eine Ausbildung, die sicherstellt, daß die Frauen und Männer in den Altenpflegeeinrichtungen der Situation geIrmingard Schewe-Gerigk wachsen sind. Die minderqualifizierten und im übrigen dann auch noch schlechter bezahlten Helfer und Helferinnen dürfen nicht als Puffer für den Pflegenotstand eingesetzt werden. ({2}) Frauenpolitisch gesehen sind diese Hilfsausbildungen noch eine besondere Sackgasse. Es bleiben wieder einmal Berufe übrig, die von vornherein nicht existenzsichernd sind. Schließlich darf aber über der Kritik am Bundesratsentwurf die grundsätzliche Frage, wie wir uns eine Ausbildung für die Gesundheitsfachberufe vorstellen, nicht ausgeblendet werden. Eine bundeseinheitliche Ausbildung nur für die Altenpflege reicht nicht aus. Angesichts der ähnlichen Tätigkeitsfelder und Anforderungen in den Pflegeberufen - das meint Krankenpflege, Altenpflege, Kinderkranken-und Entbindungspflege - spricht vieles dafür, keine spezielle Altenpflegeausbildung zu schaffen, sondern über eine einheitliche Ausbildung eines Pflegefachberufs mit speziellen Weiterbildungen nachzudenken. Das ist unser ganzheitlicher Ansatz. ({3}) Ihren altenpolitischen Vorstellungen, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, die sich in den Altenheimen offensichtlich noch nicht herumgesprochen haben, setzen wir unser Konzept entgegen. Machen Sie endlich Schluß mit der Bevormundung alter Menschen, machen Sie einen Neuanfang in der Altenpolitik! Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Abgeordneten Barbara Imhof das Wort.

Barbara Imhof (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit Jahren werden den Aufsichtsbehörden zahlreiche Mißstände aller Art in privat betriebenen Kurzzeitpflegeheimen gemeldet. Darüber ist eben schon hinreichend gesprochen worden. Diese Einrichtungen unterliegen nicht dem Heimgesetz, so daß Beschwerden und Hinweisen nicht mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen begegnet werden kann. Aus diesem Grund hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits in der 11. Legislaturperiode gefordert, die Kurzzeitpflege- und Tagespflegeeinrichtungen uneingeschränkt in das Heimgesetz einzubeziehen. Auf diese Weise wären zum einen die Anbieter kontrollierbar. Sie müßten bei der Planung und dem Betrieb der Heime die gleichen Auflagen erfüllen, wie das Gesetz sie bei Langzeiteinrichtungen vorsieht. Zum anderen hätten die Heimbewohner stets den gleichen Schutz und auch das gleiche Anrecht auf eine ihnen gemäße Pflege, ganz unabhängig davon, ob ihr Aufenthalt nun ein paar Wochen oder mehrere Jahre dauert. Die beiden entsprechenden Gesetzentwürfe des Bundesrates vom Juli 1993 und vom Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung jedoch abgelehnt. Dabei ist die Liste der bekannten Mängel in den Kurzzeitheimen bedenklich lang und hätte eine rasche Änderung der unbefriedigenden Gesetzeslage dringend erfordert. ({0}) Das Personal, oft Aushilfskräfte, ist häufig gar nicht ausgebildet, um älteren, behinderten und pflegebedürftigen Menschen qualifizierte Hilfe zuteil werden zu lassen. Die Räumlichkeiten entsprechen zumeist nicht den Bedürfnissen einer kurzzeitigen Pflege. Alarmierend muß auch wirken, daß sich viele der privaten Anbieter ganz augenscheinlich gerade deshalb für die Einrichtung von Kurzzeitpflegeheimen entschlossen haben, weil sie eben nicht dem Heimgesetz unterliegen. Völlig unverständlich ist mir dann allerdings das unentschlossene und zwiespältige Verfahren, das die Vertreter der CDU/CSU und der F.D.P. gewählt haben, um die erforderlichen Änderungen zu bewirken. Einerseits wollen Sie die aufsichtsrechtlichen Regelungen des Heimrechts auf die Kurzzeitheime ausdehnen. Andererseits jedoch ist ein wesentliches Merkmal des von Ihnen eingebrachten Entwurfs der Verzicht auf die Erlaubnispflicht, die bislang für den Betrieb eines Heimes gilt. Statt dessen sehen Sie eine Beratung vor. Über deren Ausmaß, die Details und vor allem die Verpflichtung, dieser Beratung auch nachzukommen, schweigt sich Ihr Entwurf leider aus. Einen Rat kann man annehmen oder halt nicht; da nützt auch die Pflicht zur Beratung nichts. Zwei weitere wichtige Merkmale des Heimgesetzes wollen Sie ebensowenig auf die Kurzzeiteinrichtungen übertragen. Bemerkenswerterweise handelt es sich gerade hier um die beiden Punkte, die am häufigsten genannt werden, wenn es um die Mißstände bei der kurzzeitigen Pflege geht. Ich meine zum einen die personellen Anforderungen, die das Heimgesetz für Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime vorsieht. Die entsprechende Verordnung soll jedoch nach Ihren Vorstellungen ausdrücklich nicht für die Kurzzeitpflegeheime gelten. Es wäre also weiterhin möglich, unqualifiziertes Personal und vor allem auch viel zuwenig Personal zu beschäftigen und damit Pflege zu Dumpingpreisen auf dem Rücken der Heimbewohner anzubieten. ({1}) Zum zweiten sind es neben der mangelhaften personellen Situation doch gerade die völlig unzureichenden baulichen Gegebenheiten, die Anlaß zur Klage geben. Bei Ihnen hingegen lese ich, daß auch die Verordnung über bauliche Mindestanforderungen im Heimgesetz nicht für die Kurzzeitpflege gültig sein soll. Sinnvolle Vorschriften, die beispielsBarbara Imhof weise das Vorhandensein eines zweiten Handlaufs bei Treppen in Heimen vorsehen, werden damit, wenn es nach Ihnen ginge, auch in Zukunft nicht für die Bewohnerinnen und Bewohner von Kurzzeitpflegeheimen zur Anwendung kommen. All dies macht Ihren Entwurf so widersprüchlich. Am Anfang schreiben Sie: Wir brauchen Mindeststandards zum Schutz der älteren Bürger, die kurzzeitig gepflegt werden müssen, und wir brauchen ein wirkungsvolles Instrumentarium, um diese Mindestvoraussetzungen zu sichern. Nun gut, das finden wir natürlich auch. Aber nur zwei Absätze weiter verkünden Sie, daß eben diese Mindestanforderungen in bezug auf Personal und bauliche Voraussetzungen ausgenommen werden. Ich frage Sie: Was bleibt denn dann überhaupt noch von den Schutzregelungen des Heimgesetzes übrig, die Ihr Entwurf ganz explizit auf der Titelseite nennt? Fachlich qualifiziertes Personal ist nun einmal teurer als unqualifiziertes, ebenso wie ein alten- und behindertengerecht gebautes Kurzzeitpflegeheim zweifellos mehr kostet als der schnell hingestellte Pflegecontainer. Was sollte denn Ihrer Meinung nach einen privaten Anbieter dazu veranlassen, sich für die teurere Lösung zu entscheiden, wenn ihn vom Gesetz her weiterhin nichts dazu zwingt? Dann bleibt es doch logischerweise bei dem Zustand, den wir schon jetzt haben. Um den zu ändern, reicht Ihr Entwurf leider nicht aus. ({2}) Zu lasch erscheinen mir darüber hinaus auch die Übergangsbestimmungen, die Sie vorsehen. Natürlich bedarf es vernünftiger Regelungen zum Schutz der schon bestehenden Kurzzeitpflegeheime. Wir schlagen Einzelfallprüfungen vor, wobei die generelle Erlaubnispflicht ein hinreichendes Druckmittel wäre. Bei Ihnen hingegen entfällt diese Pflicht nicht nur; sie wird noch nicht einmal durch die Pflicht zur Beratung ersetzt, wie auch immer diese aussehen würde. Für Sie genügt es bereits, daß der Betreiber eines Heimes für kurzfristige Pflege den Betrieb anzeigt. „Eine Beratung", so heißt es in Ihrem Entwurf, „gilt dann als erteilt". Da stellt sich die Frage, wie hoch Sie den Wert Ihrer Beratung veranschlagen, wenn sie für alle derzeit bestehenden Heime bereits als erteilt gilt. Ich möchte das noch einmal betonen: Es geht hier wohlgemerkt um genau dieselben Heime, deren Mißstände Sie als Anlaß für eine notwendige Gesetzesänderung erkannt haben. Dann handelt es sich aber doch um nichts anderes als um eine nachträgliche Legalisierung dieser Zustände und gerade der Heime, in denen sie herrschen. Wenn wir hier von Kurzzeitpflegeheimen sprechen, stellen wir fest, daß das in der Praxis keineswegs Einrichtungen sind, in denen Menschen höchstens vier Wochen verbringen. Vielmehr ist es doch nicht unüblich, daß Patienten für drei Monate aufgenommen, für einen Tag nach Hause geschickt und anschließend wieder für drei Monate aufgenommen werden. Das sind doch genau die Zustände, die dann legalisiert würden. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Ich meine keineswegs, daß das Heimgesetz in seiner heute gültigen Fassung der goldene Schlüssel zum glücklichen Bewohner eines Kurzzeitpflegeheimes ist. Allerdings - und dies sage ich an die Adresse meiner grünen Kolleginnen und Kollegen -: Wir sollten nicht abwarten und erst ein neues Heimgesetz machen, bloß um nicht Gefahr zu laufen, daß die eine oder andere Schwäche der bestehenden Regelungen auf die Tagespflege- und Kurzzeitpflegeheime übertragen wird. Das hieße doch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Mißstände in den jetzigen Einrichtungen sind akut. Eine Einbeziehung in das bestehende Heimgesetz ist sehr wohl geeignet, jetzt Abhilfe zu schaffen - natürlich vorausgesetzt, daß es sich nicht um die amputierte Version dieses Gesetzes handelt, die uns die Koalitionsparteien anbieten. Was wir wollen, ist eine Zivilisierung des Marktes. Dazu sollten wir uns als gesetzgebende Institution aufgefordert fühlen. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Imhof, das war Ihre erste Rede im diesem Hause. Ich möchte Ihnen dazu traditionsgemäß die Glückwünsche des Hauses aussprechen. ({0}) Nun spricht der Abgeordnete Uwe Lühr.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich war kurzzeitig über die Rednerreihenfolge verwirrt. Da ich gerade erfahren habe, Frau Imhof, daß es Ihre erste Rede war, akzeptiere ich diese Reihenfolge natürlich und gratuliere Ihnen zu Ihrer Rede. Meine Damen und Herren, Ihnen liegt heute in erster Lesung der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes in der zwischen den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgestimmten Fassung vor. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf die Ausdehnung des Heimaufsichtsrechts auf die Einrichtungen der Kurzzeitpflege erreichen. Bisher wurden lediglich die allgemeinen aufsichtsrechtlichen Regelungen des Gewerbe- und Ordnungsrechts auf Kurzzeitpflegeeinrichtungen angewandt. Dies hat sich in der Praxis aber des öfteren als unzulänglich erwiesen. Immer wieder mußten wir feststellen, daß gerade in Einrichtungen der Kurzzeitpflege erhebliche Mißstände herrschen, die mit den Instrumenten des allgemeinen Gewerbe- und Ordnungsrechts nicht in den Griff zu bekommen waren. Zum Schutz der betroffenen Heimbewohner und auch zum Schutz der vielen ordentlichen Einrichtungen, in denen eine sehr gute Pflege und Betreuung geleistet wird, ist es erforderlich, auch für die Kurzzeitpflegeeinrichtungen Mindeststandards festzulegen und Möglichkeiten zu deren Durchsetzung und Überwachung zu schaffen. Die F.D.P. setzt sich seit je auch im Sozialbereich für Wettbewerb, Kostenbewußtsein und wirtschaftliches Handeln ein. Voraussetzung dafür ist aber, daß auch privatgewerbliche Anbieter von Sozialleistungen gleiche Startchancen erhalten. ({0}) Es war uns daher besonders wichtig, auch im Bereich des Heimgesetzes für eine Gleichbehandlung frei-gemeinnütziger und sonstiger Einrichtungsträger zu sorgen, wie wir es bereits im Pflegeversicherungsgesetz durchgesetzt haben. ({1}) Bisher war es so, daß frei-gemeinnützige Einrichtungsträger ihre Tätigkeit nur anzeigen mußten. Sonstige Träger mußten aber vor Inbetriebnahme des Heims eine Genehmigung einholen. Diese Ungleichbehandlung fällt künftig weg. Statt der bisher erforderlichen Erlaubnis tritt zukünftig die präventive Beratung durch die Heimaufsichtsbehörden in den Vordergrund. Jeder, der ein Heim eröffnen will, muß sich zukünftig bereits im Planungsstadium von der Heimaufsichtsbehörde beraten lassen. Diese Beratungsregelung gilt auch für kirchliche, frei-gemeinnützige sowie staatliche Träger. Kurzzeitpflegeeinrichtungen im Sinne des Gesetzes sind Einrichtungen, in denen eine Pflege bis zu einem Zeitraum von vier Wochen beabsichtigt ist. Richtig und wichtig ist, daß auch diese Einrichtungen zukünftig unter die Heimaufsicht fallen. Wichtig war aber auch, daß für diese Einrichtungen nicht die gleichen Regelungen wie für Dauerpflegeeinrichtungen gelten. Hier müssen zum Teil andere Grundsätze gelten. So war es uns besonders wichtig, daß Heimpersonal- und Heimmindestbauverordnung mit ihren für den sonstigen Heimbereich sicher richtigen Ansätzen nicht für den Kurzzeitpflegebereich gelten. Ausdrücklich begrüße ich für meine Fraktion den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege, kurz Altenpflegegesetz. Die Verabschiedung des Altenpflegegesetzes und damit die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung war leider in der 12. Legislaturperiode am Widerstand auch von Teilen dieser Koalition gescheitert. Die F.D.P. hält aber an dem Ziel einer bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung fest. Die Forderung nach einem Altenpflegegesetz auf Bundesebene war daher auch Bestandteil des Wahlprogramms meiner Partei für die Bundestagswahl 1994. Gerade auch nach Verabschiedung des PflegeVersicherungsgesetzes ist die materielle und ideelle Aufwertung der Pflegeberufe und insbesondere des Altenpflegeberufs dringend erforderlich. ({2}) Hierzu gehört für die F.D.P. das geschützte Berufsfeld des Altenpflegers/der Altenpflegerin sowie eine dem Krankenpflegegesetz entsprechende gesetzliche Ausbildungsordnung im Altenpflegegesetz. Ich will jetzt zu den einzelnen Regelungen des Gesetzentwurfs keine Stellung nehmen. Sie sind im Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sehr genau zu beraten. Es ist zu überlegen, wo Änderungs- oder Ergänzungsbedarf besteht. Ich hoffe aber, daß mit diesem Gesetzentwurf der jahrelange Kampf um ein bundeseinheitliches Altenpflegegesetz endlich erfolgreich beendet werden kann. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun spricht die Abgeordnete Heidemarie Lüth.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Um Problemlagen der Seniorinnen und Senioren zu erkunden, so zumindest der immer wieder nachdrücklich begründete Anspruch, hat die Bundesregierung in den vergangenen vier Jahren 34 Millionen DM ausgegeben, die Ausgaben für die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" nicht eingeschlossen. Wer nun glaubt, daß, daraus schlußfolgernd, die Bundesregierung und der Bundesrat, den gewonnenen Erkenntnissen folgend, seniorenfreundliche Gesetze vorgelegt hätten, muß feststellen: bisher nahezu Fehlanzeige. Von einem großen Wurf sind auch die vorliegenden Entwürfe weit entfernt. Ausgangspunkt des einen: der kranke, hilfslose und inaktive Mensch. Es überwiegt die einseitig medizinisch geprägte Sicht auf Lebensinteressen alter Menschen. In meinem Verständnis muß das oberste Ziel auch in der Altenpflegeausbildung darin bestehen, alles zu tun, um die Erhaltung der Selbständigkeit zu fördern und die Selbstbestimmung der Menschen zu sichern. Altenpflege hat vor allem zur Sicherung der Menschenrechte der auf Hilfe, Assistenz und Pflege angewiesenen Personen beizutragen. Im Vordergrund müssen dabei, wie im Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausgeführt, die Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft stehen. Wir bemängeln am Gesetzentwurf des Bundesrates folgende Punkte: Erstens. Wir vermissen die ausdrückliche Hervorhebung von Rehabilitation und Eingliederung als Aufgabe für die Altenpflege und die entsprechende Festlegung in der Ausbildung. Zweitens. Die Ausbildung muß eine kompatible Pflegeausbildung sein. Drittens. Die Zugangsbedingungen sollten an die Zugangsbedingungen für die anderen Pflegeberufe angeglichen werden. Viertens. Die Möglichkeiten für eine verkürzte Ausbildung sind zu hinterfragen. Fünftens. Der Entwurf enthält keine Beschreibung des Berufsbildes der Pflege. Sechstens. In diesem Gesetzentwurf sind Einschränkungen bezüglich landesrechtlicher Vorgaben gemacht worden. Dann kann man sich vielleicht einen Bundesentwurf sparen. Wie nicht anders zu erwarten, nehmen die finanziellen Fragen einen großen Raume ein. Interessant und aufschlußreich ist auch der Versuch, die Pflegeversicherung für die Finanzierung der Ausbildung zu melken. Der Bund bezahlt erst einmal nichts. Er bestimmt nur, wer das Geld aufzubringen hat. Das sind letztlich die Kommunen. Damit die aber nicht zu laut protestieren, wird die Pflegeversicherung ins Feld geführt. Wenn ältere und behinderte Menschen erwarten - nicht zuletzt auf Grund der Versprechungen der Bundesregierung -, daß ihnen mit der Pflegeversicherung umfassend geholfen wird, dann wird von ausufernden Begehrlichkeiten gesprochen und davon, daß Pflegeversicherung nicht alles leisten kann. Geht es aber darum, Ausbildungskosten der Versichertengemeinschaft zuzuschieben, gibt es keinen Protest. Wenn im Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes beklagt wird, daß „in vielen Einrichtungen kein bzw. nicht ausreichend qualifiziertes Personal beschäftigt wird", dann ist das zumindest unehrlich. In mehreren Veranstaltungen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung wurde mehrfach eindeutig benannt, daß Pflegeeinsätze so billig wie möglich zu sein haben; denn dann könnten sie in den entsprechenden Pflegebereichen mehr tun. Unter diesem Aspekt ist mir völlig unverständlich, daß dann über die Berufe in der Altenpflege die Altenpflegehelferausbildung möglich gemacht werden soll. Pflege ist längst ein Markt, der profitträchtig ist. Es ist ein schwacher Versuch, das Profitstreben der privaten Anbieter durch Unterstellungen und Gesetze sowie durch angezeigte Kontrollen zu unterstützen. Genau dieser Punkt, meine Damen und Herren, steht schon im Altenbericht der Bundesregierung von 1993. Dann so einen Entwurf vorzulegen ist, gelinde gesagt, eine Frechheit. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Abgeordneten Erika Reinhardt das Wort.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Über ein Jahr ist es jetzt her, daß wir hier im Parlament die Pflegeversicherung, eine, wie ich glaube, unserer wichtigsten Säulen im sozialen Sicherungssystem, verabschiedet haben. Es war damals nicht ganz einfach. Es gab, bis es zu einer Einigung kam, viele Diskussionen. Aber die Pflegeversicherung ist ein Erfolg, was inzwischen auch von den Kritikern so gesehen wird. Heute morgen haben wir noch einmal deutlich gehört, daß eine Reihe von Leuten durch die Pflegeversicherung aus der Sozialpflege herauskommen. Wir haben damit sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die Pflegenden Hilfe geschaffen. Eingebettet in den demographischen Wandlungsprozeß unserer Gesellschaft diskutieren wir zu Recht über die insgesamt zu verbesssernde Situation älterer Menschen. Es wird vor allem die Aufgabe der Enquete-Kommission sein, sich mit der Thematik intensiv zu befassen und Vorschläge für eine zukunftsorientierte Seniorenpolitik vorzulegen. Hier und heute ist es unsere Aufgabe, eine gute und umfassende Pflege zu gewährleisten. Dazu brauchen wir das Angebot entsprechenden Pflegepersonals, in dem hauptamtliche Fachkräfte, aber auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer unverzichtbar bleiben. Mit anderen Worten: Wir brauchen das Ehrenamt und die Teilzeitkraft. Aber wir brauchen vor allem die gut ausgebildete Fachkraft. Die beiden vor uns liegenden Gesetzentwürfe werden heute in die Beratung eingebracht, die beide für die Absicherung in der Pflege wichtig sind: die Verankerung der Kurzzeitpflege im Heimgesetz - zu diesem Bereich gehört auch der vorliegende Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - und ein Altenpflegeausbildungsgesetz. Meine Damen und Herren, ich möchte meinen Schwerpunkt auf das Altenpflegeausbildungsgesetz legen. Ich halte es für wichtig, daß wir eine bundeseinheitliche Ausbildung und damit Anerkennung im Altenpflegebereich anstreben. Damit wird es auch möglich, den Beruf der Altenpflegerinnen und Altenpfleger attraktiver zu gestalten; denn wir dürfen nicht verkennen, daß sich die Pflege durch die demographische Entwicklung wesentlich verändert hat. Sie ist einfach spezifischer geworden und bedarf deshalb vermehrt eines gut ausgebildeten Pflegepersonals. Die Ausbildung, Prüfung und staatliche Anerkennung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt zur Zeit auf der Grundlage länderspezifischer Regelungen. Dies führt zu sehr unterschiedlichen Ausbildungsstrukturen und Qualifikationsbildern. Frau Ministerin - sie ist ja noch anwesend -, ich darf Ihnen sagen, daß es auch in Baden-Württemberg eine Ausbildungsvergütung gibt. Seien wir doch ganz ehrlich, bisher bestand das Problem vor allem darin, daß sich die Länder untereinander nicht einigen konnten, welches Konzept angewandt wird und welches nicht. Deshalb haben wir so unterschiedliche Konzepte, und so handelt jeder auf seine Weise. Deshalb ist es sicherlich richtig, daß man endlich einmal darüber diskutiert, wie ein bundeseinheitliches Altenpflegeausbildungsgesetz aussehen kann. Meine Damen und Herren, was wir brauchen, sind klare Rahmenvorgaben über Einstiegsalter und Zugangsvoraussetzungen, über Inhalte, Ausbildungszeiten und Abschlüsse. Wichtig und entscheidend wird sein, daß die Ausbildung nicht nur praxisorientiert, sondern vor allem auch praxisnah ist. Den vorliegenden Gesetzentwurf betrachten wir als eine Grundlage, eine Ausgangsbasis, die wir an manchen Punkten für noch korrekturbedürftig halten. Wir werden im Ausschuß genügend Gelegenheit haben, darüber zu diskutieren. So sollten wir denjenigen den Einstieg in den Altenpflegeberuf ermöglichen, die bereits einschlägige Erfahrungen besitzen und an Hand dieses Wissens und der vorhandenen praktischen Kenntnisse in der Lage sind, eine verkürzte Ausbildung erfolgreich abzuschließen. ({0}) Ich denke in diesem Zusammenhang auch an Berufsrückkehrerinnen nach der Familienphase. Verschiedene Modelle in diesem Bereich gibt es ja bereits. Meine Damen und Herren, wir sollten Überlegungen aufnehmen, ob nicht auch eine Ausbildung in Teilzeitform ein vernünftiger Ansatz wäre und für viele eine Chance bieten würde. ({1}) Das heißt, wir sollten offen sein, um möglichst vielen die Chance zu einer guten Ausbildung zu eröffnen. Wir brauchen gut geschultes Personal, wir brauchen aber weiterhin das Engagement der Ehrenamtlichen. Nur in einem Miteinander werden wir den Hilfsbedürftigen gerecht werden. Ich muß jetzt der Abgeordnetenkollegin von den Grünen doch sagen: Was sie an Szenario - sie ist leider nach ihrer Rede gegangen - dargeboten hat, kann man so nicht stehenlassen. Was sie gesagt hat, ist eigentlich bedauerlich; denn sie trifft damit all jene, die in diesen Heimen arbeiten. Sie hat damit ein Bild dargestellt, als würden die alle eine schlechte Arbeit leisten. Ich sage Ihnen das auch zum Punkt Hilfskräfte: Wenn wir das so formulieren, dann bedeutet das für alle, die zu Hause pflegen - das sind nämlich im Grunde Hilfskräfte -, daß sie nichts wert sind. Ich bitte Sie sehr herzlich, der Kollegin, die diese Gedanken hier eingebracht hat, dies zu sagen. ({2}) Die Arbeit im Bereich der Altenpflege setzt eine besondere Hingabe, ein persönliches Engagement und eine einfühlsame Teilhabe am Leben der pflegebedürftigen alten Menschen voraus. Gerade dieser Umstand zeigt die Schwierigkeit, eine einheitliche Regelung für die Altenpflegeausbildung zu schaffen, da neben fachlichen Kompetenzen auch persönliche und individuelle Voraussetzungen gegeben sein müssen, um in der täglichen Pflege den zu pflegenden Menschen gerecht werden zu können. Lassen Sie mich an dieser Stelle allen ehrenamtlichen und hauptamtlichen Pflegerinnen und Pflegern für ihre Arbeit ganz herzlich danken. Die pflegebedürftigen Menschen sind auf ihre Hilfe besonders angewiesen. ({3}) Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege ist eine Diskussionsgrundlage zur Beratung im Ausschuß. Ich bin sicher, daß die Verbesserung der Lebensumstände älterer Menschen unser aller Anliegen ist; denn bei allem, was wir beschließen, muß der Mittelpunkt der zu pflegende Mensch sein. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Beratung. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Christa Lörcher das Wort.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Vor wenigen Wochen, am 7. September, hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, in diesem Hause vor einer Überprofessionalisierung der Pflegeberufe gewarnt. Ich zitiere den Kollegen Blüm: Nur warne ich davor, das neue Feld Pflege zu überprofessionalisieren. Wir brauchen Profis, hochqualifizierte Fachkräfte. Aber ich füge hinzu: Übertreibt es nicht! Um einen 70jährigen zu füttern, brauche ich keine sechs Semester Psychologie. Dazu brauche ich ein gutes Herz und eine ruhige Hand. Das ist eine Ohrfeige für alle, die sich um eine qualifizierte Pflege bemühen. ({0}) Der Minister hat sich nicht sehr kundig gezeigt - weder in der Wortwahl noch in der Sache. Wir brauchen keine Profis - das mag im Fußball oder beim Tennis sinnvoll sein -, wir brauchen nicht nur ein gutes Herz und eine ruhige Hand für eine so anspruchsvolle Arbeit wie Pflege: Wir brauchen Fachkräfte mit guten physischen und psychischen Voraussetzungen, aber auch mit einer hervorragenden Ausbildung. Wir brauchen sie, damit eine ganzheitlich aktivierende Pflege nicht nur gelehrt und gelernt wird, sondern auch eine Chance hat, verwirklicht zu werden. ({1}) Die Heimmindestpersonalverordnung legt als Rahmen einen Anteil von 50 % Fachkräften fest. In einer Umfrage bei den stationären Einrichtungen meiner Region ergab sich, daß in den Alten- und Pflegeheimen 20 % bis 60 %, also eine sehr große Breite von Fachkräften, im Durchschnitt aber nur ein Drittel Fachkräfte arbeiten. Die Bundesanstalt für Arbeit hat im Zusammenhang mit der Einführung der Pflegeversicherung einen zusätzlichen Bedarf von 300 000 Pflegekräften genannt - ohne Angabe eines Zeitraums. Meine Fraktion und ich wünschen uns, daß diese fehlenden Pflegekräfte eine qualifizierte Ausbildung auf hohem Niveau und baldmöglichst mit einheitlichen Rahmenbedingungen erhalten. ({2}) Wir begrüßen deshalb, daß die Initiative aus Hessen für eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung von der Länderkammer befürwortet wurde, jetzt als Gesetzentwurf des Bundesrates vorliegt und von uns heute beraten und hoffentlich nach Diskussionen mit Fachleuten und Fachverbänden mit Verbesserungen realisiert werden kann - und das baldmöglichst. Zum Gesetzentwurf einige Hinweise für die Diskussion und für eine von uns geforderte Anhörung. Wir freuen uns, daß die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Altenpflege vom Bundesrat mit diesem Gesetzentwurf anerkannt ist. Ein Gestaltungsraum für möglichst hohe Standards in den Ländern ist gegeben. Eine künftige Regelung nach dem Berufsbildungsgesetz wird von uns grundsätzlich befürwortet. Eine Neuordnung der Gesundheitsberufe insgesamt ist sinnvoll und dringend erforderlich, wird aber sicher so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß wir Auszubildende und Beschäftigte in der Altenpflege nicht so lange warten lassen können und wollen. ({3}) Der Gesetzentwurf des Bundesrats ist ein erster Schritt zu einer bundeseinheitlichen Regelung, zu einer qualifizierten Ausbildung. Weitere Schritte für den Gesundheitsbereich insgesamt müssen folgen. Einigkeit besteht darüber, daß die Dauer der Ausbildung bundeseinheitlich drei Jahre umfassen soll und daß während dieser Zeit eine Ausbildungsvergütung gezahlt wird. Über die Höhe der Vergütung ist nichts ausgesagt. Es ist meines Erachtens sinnvoll, sich in dieser Frage an der Höhe der Ausbildungsvergütung in der Krankenpflege zu orientieren. Die Finanzierung der Ausbildungsvergütung und der Ausbildungskosten insgesamt wird noch zu diskutieren sein. Ein interessantes Modell ist jetzt bei uns in BadenWürttemberg im Landespflegegesetz beschlossen worden: Die Hälfte der Ausbildungsvergütungen wird aus einem Fonds finanziert, in den alle Pflegeeinrichtungen mit Versorgungsvertrag einzahlen - nach dem Umfang der Ausbildungsvergütungen und nach der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte. Ich halte das für eine große Hilfe zugunsten der ausbildenden Einrichtungen und hoffe, daß damit ein Anreiz zur Schaffung von genügend Ausbildungsplätzen in der Pflege gegeben worden ist. Die Nachfrage ist zur Zeit sehr viel höher als das Angebot. Das Ausbildungsziel, die Anteile von Theorie und Praxis sowie Dauer und Verteilung der Fremdpraktika müssen so festgelegt werden, daß möglichst vielfältige Kenntnisse und Fähigkeiten in Pflege und Betreuung, Aktivierung und Rehabilitation erworben werden können. Auch bezüglich der Zugangsvoraussetzungen für den Beruf und der Modalitäten für eine eventuelle Verkürzung der Ausbildungsdauer besteht Diskussionsbedarf. Wenn man sich konkret vorstellt, was es bedeutet, die Ausbildung um ein Jahr zu verkürzen, dann muß man die, die das überlegen, fragen: Wollen Sie das erste Jahr - mit der Behandlung der Grundlagen - verkürzen? Wollen Sie das dritte Jahr mit den Prüfungen oder das zweite Jahr, in dem sehr, sehr viel Theorie vermittelt wird, wegnehmen? Ich kann mir das für keines der Jahre vorstellen. ({4}) Positiv im vorliegenden Gesetzentwurf ist, daß Mindestanforderungen an die Altenpflegeschulen formuliert sind, wobei allerdings für die Qualifikation der Lehrkräfte sowie der Fachkräfte in der praktischen Ausbildung noch verbindliche Kriterien fehlen. Erfreulich ist ebenfalls, daß im Gesetzentwurf die Weiterbildung angesprochen wird. Zusatzqualifikationen für Mentorentätigkeit, Stations- und Pflegedienstleitung stärken Motivation und Verantwortung bei der Arbeit und erhöhen sicher auch die Verweildauer im Beruf. Auch in diesem Bereich sind bundeseinheitliche Rahmenbedingungen sinnvoll und erforderlich. Kritisch sehe ich die Ausbildung in der Altenpflegehilfe. Hier wird die Kompetenz für die verschiedenen Richtlinien innerhalb eines Bundesgesetzes an die Länder weitergegeben. Eine einjährige Ausbildung kann gar nicht zu einer selbständigen ganzheitlichen, personenbezogenen Pflege qualifizieren. Die Anleitung durch eine Fachkraft ist, wie wir aus der Praxis wissen, meistens leider nicht gegeben. Sehr bedenklich ist außerdem - das ist schon angesprochen worden -, daß damit die Geringschätzung eines Frauenberufs verstärkt und zementiert würde. ({5}) Frau Ministerin Nolte hat bei den von ihr gesetzten politischen Schwerpunkten für diese Legislaturperiode die Durchsetzung eines Altenpflegegesetzes befürwortet. Das freut uns sehr. Wir bitten aber darum, daß jetzt auch tatsächlich etwas geschieht und dieser Entwurf z. B. noch durch eine Anhörung bereichert wird, damit wir ihn dann gemeinsam verabschieden können. Ich schließe mit drei Feststellungen: Wir begrüßen den Gesetzentwurf des Bundesrats und sehen ihn als gute Grundlage zur Diskussion für die Regelung einer bundeseinheitlichen qualifizierten Altenpflegeausbildung. Wir halten eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf für dringend erforderlich, damit Fachleute und Verbände einbezogen werden und ihre Kritik und Vorschläge berücksichtigt werden können. Eine bundeseinheitliche qualifizierte Altenpflegeausbildung mit den Schwerpunkten Pflege, Betreuung, Beratung sowie Aktivierung und Rehabilitation muß baldmöglichst verwirklicht werden, im Interesse der Pflegenden und der Pflegebedürftigen. Dies ist ein erster Schritt zu einer umfassenden Reform der Gesundheitsberufe. Lassen Sie uns das gemeinsam schaffen! Vielen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile nun der Parlamentarischen Staatssekretärin Gertrud Dempwolf das Wort.

Gertrud Dempwolf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000371

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Frau Lüth, ich habe Ihre Kritik vorhin sehr gut vernommen, kann Ihnen aber nur sagen: Ich habe im Jahr 1990 Altenheime in Leipzig besucht - und nachts nicht mehr geschlafen. ({0}) Wir stehen heute in einer wichtigen Phase der Polltik für ältere Menschen. Wir können sie nur dann zukunftsorientiert gestalten, wenn wir den tiefgreifenden demographischen Wandel im Blick haben. Insgesamt müssen der hohe und weiter ansteigende Anteil älterer Menschen, ihre unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnisse und die Veränderung im Altersaufbau der Gesellschaft verstärkt berücksichtigt werden. Die Politik muß beide Seiten des Alters sehen, die Chancen und Potentiale - denn der überwiegende Teil der älteren Menschen ist aktiv -, aber auch die Risiken der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Seniorenpolitik ist eine klassische Querschnittsaufgabe, die im Dialog und im Einverständnis mit den älteren Menschen und für ältere Menschen zu erfolgen hat. Aber auch bei der Ausgestaltung des Hilfesystems geht es vor allem darum, die Wünsche und Bedürfnisse der älteren Generation zu berücksichtigen. Leitlinie unserer Politik muß es sein, die Selbständigkeit und die gesellschaftliche Teilhabe - auch im Falle der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit - in höchstmöglichem Maße zu erhalten und zu fördern. Hilfe und Pflege, soweit sie nicht durch Angehörige oder andere freiwillig Helfende erbracht werden, sind Dienstleistungen. Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf haben Anspruch auf gute Qualität dieser Leistungen. Sie müssen über die Art und Weise, wie geholfen werden soll, möglichst weitgehend selbst bestimmen können. Deshalb ist einerseits ihre Stellung als „Verbraucher" auszubauen und andererseits ihr Schutz zu verbessern. In diesem Zusammenhang sehe ich auch die heute anstehenden Gesetzesinitiativen. Meine Damen und Herren, ich begrüße sehr, daß weitgehend Einigkeit über die Einbeziehung der Kurzzeitpflege in den bewährten Schutzrahmen des Heimgesetzes besteht. Die Kurzzeitpflege in einer stationären Einrichtung ist ein wichtiger Baustein unserer Alten- und Behindertenpolitik. Sie ist vielfach nach einem Krankenhausaufenthalt geboten, um den vorübergehend Pflegebedürftigen auf die Rückkehr in seine bisherige Wohnung und die selbständige Lebensführung vorzubereiten. Darüber hinaus bietet die Kurzzeitpflege eine sachkundige Betreuungsmöglichkeit, wenn die ansonsten pflegende Person zeitweilig - etwa wegen eigener Krankheit oder eines Erholungsurlaubs - nicht zur Verfügung steht. Auch ist die Kurzzeitpflege oft ein wichtiges Bindeglied zwischen dem Krankenhausaufenthalt und der Versorgung im Pflegeheim. Die Bundesregierung ist an dieser Novelle zum Heimgesetz deswegen so interessiert, weil die Quail-tat der Kurzzeitpflege oft darüber entscheidet, ob ein Mensch auf Dauer pflegebedürftig bleibt, ob der Grad der Pflegebedürftigkeit wieder zurückgeführt werden kann oder wie erfolgreich eine Rehabilitationsmaßnahme ist. Schlechte Versorgungsbedingungen haben oft zur Folge, daß das Gegenteil dessen eintritt, was mit der Kurzzeitpflege erreicht werden soll. Die Pflegebedürftigen verlieren bei schlechter Pflege ihren Lebensmut, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich, sie können dauernd pflegebedürftig werden. Nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist dies sehr schwer. Es sei daran erinnert, daß eine ohne Not herbeigeführte oder verstärkte Pflegebedürftigkeit auch zu steigenden Kosten für den Pflegebedürftigen, aber auch für die Pflegeversicherung führt. Unerwähnt lassen möchte ich auch nicht, daß eine gute Kurzzeitpflege dem Pflegebedürftigen sowie den Angehörigen wichtige Anregungen für die spätere häusliche Pflege gibt. Das, was jetzt zur Beratung ansteht, führt also zu mehr Humanität der Pflegesituation. In der parlamentarischen Beratung wird sicher besonders geprüft werden, welche Vorschriften des bewährten Heimgesetzes bei der Kurzzeitpflege sinnvoll sind und welche nicht. Eine Überregulierung ist auf jeden Fall zu vermeiden. So geben z. B. die Kündigungsfristen des Heimgesetzes im Fall einer Kurzzeitpflege nach meiner Meinung keinen Sinn. Für die Genehmigung zur Inbetriebnahme eines Heims haben sich die Koalitionsfraktionen auf ein neues Verfahren geeinigt; das ist richtig. Dies wird sicher - das haben wir heute schon gehört - zu einer interessanten Diskussion führen. Dabei bitte ich auch die Verbände der freien Wohlfahrtspflege um eine vorurteilsfreie Prüfung. Die von uns sehr geschätzten Verbände sollten ein Interesse an einem guten Wettbewerb haben, wenn daraus neue Impulse erwachsen für eine kundenorientierte Pflege und zur Kostensenkung, solange die Qualität darunter nicht leidet. ({1}) Der Vorschlag läuft auf eine Gleichbehandlung hinaus, ohne die Wettbewerb natürlich nicht möglich ist. Diese Gleichbehandlung bedeutet aber für uns nicht Gleichstellung der privat-gewerblichen Anbieter mit den Verbänden der gemeinnützigen Wohlfahrtspflege. Wir wissen, daß wir der freien Wohlfahrtspflege große Leistungen und Engagement zu verdanken haben. Die Unterschiede in den vorliegenden Gesetzentwürfen belegen, daß im einzelnen durchaus noch Beratungsbedarf besteht. Das haben wir heute gehört. Das parlamentarische Verfahren wird hier den besten Weg herausfiltern. Ganz eindeutig aber sollte außerhalb des politischen Streites stehen: Die Kurzzeitpflege bedarf einer gesetzlichen Aufsichtsregelung, und das sehr schnell. Meine Damen und Herren, wir brauchen daneben ein bundeseinheitliches Altenpflegegesetz. Das baldige Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung führt zu der Frage: Haben wir genug ausgebildete Fachkräfte, die die Pflege alter Menschen garantieren können? Die Antwort heißt: Wir haben sie noch nicht. Unterschiedliche Ausbildungsregelungen in den 16 Ländern und damit ein unklares Berufsprofil machen die Altenpflegeberufe immer noch nicht attraktiv genug. Wir müssen gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um Abhilfe zu schaffen und um diesen Flickenteppich auszubessern. ({2}) Wir brauchen mehr Fachpersonal, das bundeseinheitlich und ohne eigene finanzielle Aufwendungen ausgebildet wird, das zufriedenstellende Arbeitsbedingungen vorfindet, das motiviert ist, das berufliche Zukunftsperspektiven hat und mit den Nöten des Berufsalltags nicht allein gelassen wird. Ich zähle das alles auf, weil ich weiß, daß ein Berufszulassungsund -ausbildungsgesetz für sich allein nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation in der Pflege führt. Es ist aber ein wichtiger Beitrag. Um mehr Interessenten für die Berufe in der Altenpflege zu gewinnen, gilt es also, das Profil dieser Berufe zu schärfen, ihre Attraktivität zu erhöhen und die Ausbildung zu diesen Berufen durch Ausbildungsvergütung und Schulgeldfreiheit kostenlos zu gewähren. ({3}) Mit dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates kann, wie ich meine, der Einstieg in die Beratungen für eine bundesrechtliche Neuordnung der Altenpflegeausbildung unternommen werden. Aber nicht alle Vorschläge des Entwurfes finden unsere Zustimmung, wie Sie der Stellungnahme der Bundesregierung entnehmen können. Wir haben in einigen wichtigen Punkten fachliche und rechtliche Bedenken. Wir wollen das gerne in den Ausschüssen diskutieren. Wir werden die Beratungen mit dem Ziel führen, ein modernes Altenpflegegesetz zu gestalten. Aber lassen Sie mich noch ein Wort sagen: Seniorenpolitik ist nicht nur Pflegepolitik. ({4}) Gesundheit und Wohlbefinden sind nicht zuletzt eng mit den Wohnbedingungen verbunden. Durch eine entsprechende Organisation des Wohnens kann die Selbständigkeit im Alter länger erhalten und drohender Hilfe- und Pflegebedürftigkeit entgegengewirkt werden. Hier liegt der Schlüssel zur Durchsetzung des Vorrangs der ambulanten vor der stationären Versorgung, wie er auch von der Pflegeversicherung postuliert wird. Um diesen Vorrang durchzusetzen, brauchen wir zukunftsweisende Konzepte für das Wohnen im Alter. Wir werden daher ein bundesweites Modellprogramm „Wohnkonzepte der Zukunft für ein selbstbestimmtes Leben im Alter" entwickeln und durchführen. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche mir, daß wir in dieser Legislaturperiode über die Gesetzentwürfe den notwendigen Konsens erreichen, damit Senioren ihren Lebensabend in unserer Gesellschaft sicher, selbständig und in Würde gestalten können. Danke schön. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Heidemarie Lüth das Wort.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Staatssekretärin! Ich kenne seit 1990 alle Altenheime in Leipzig und habe mich mit diesem Thema weiter beschäftigt. Ich habe sie mir im Laufe der Zeit auch weiter angeschaut. Ich kenne fast alle Altenheime in dem Wahlkreis, in dem ich kandidiert habe. Ich weiß, daß in den vergangenen Jahren dort ungeheuer viel personell und materiell gemacht wurde, was in den vergangenen Jahren in der DDR überhaupt nicht möglich war und sicherlich auch von der Art und Weise der Politik her nicht gemacht wurde. ({0}) - Lassen Sie mich doch bitte ausreden. Heidemarie Lath Ich weiß auch, daß von einigen Heimen der Antrag an das Staatsministerium in Sachsen gestellt werden mußte, die Erfüllung der Heimmindestbauverordnung für das Jahr 2000 weiter hinauszuschieben, weil es nicht zu schaffen ist, dort diese Investitionen zu machen. Genau mit diesem Wissen habe ich dieses Problem dargestellt, denn erst jetzt stellen sich in diesen Heimen, die inzwischen viel besser ausgestattet sind als vorher, gleiche oder ähnliche Probleme, die in den Entwürfen, die es in den alten Bundesländern gibt, benannt wurden. Darauf hat sich meine Kritik hauptsächlich bezogen; denn es wurde in mehreren Dokumenten geschrieben, es gebe Mißstände in privaten Einrichtungen der Kurzzeitpflege. Kurzzeitpflegeeinrichtungen gibt es aber in Leipzig so gut wie überhaupt keine, weil dies eine Sache ist, die erst nach und nach aufgebaut wird, und private gibt es gar nicht. Solche Mißstände haben wir dort erst einmal nicht. Aber die Probleme, die es in den alten Bundesländern gibt, die auch hier benannt wurden, werden dadurch nicht kleiner, daß man sie den Problemen, die am Ende der DDR-Zeit bestanden haben, für die neuen Bundesländer immer wieder gegenüberstellt. Eigentlich habe ich gedacht, daß ich als Mitglied dieses Hauses an Lösungen mitarbeiten darf. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Dempwolf, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Gertrud Dempwolf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000371

Sehr verehrte Frau Kollegin! Ich freue mich natürlich, daß es den alten Menschen in den Altenheimen seit 1990 sehr viel besser geht. Meine Kritik richtete sich dagegen, daß Sie hier Forderungen stellen, die selbst für uns noch in weiter Ferne liegen und die noch zu diskutieren sind. Rom ist nicht an einem Tag erbaut worden. Vielleicht finden wir auch hier gemeinsam ein vernünftiges Konzept. Danke. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/372, 13/1208, 13/2347 und 13/1322 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Heimgesetzes auf Drucksache 13/2347 soll dem Ausschuß für Wirtschaft nicht überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch ({0}) - Drucksachen 13/2204, 13/2333 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Rudolf Kraus.

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz kommen wir der Vollendung unseres Sozialgesetzbuches einen wesentlichen Schritt näher. Dabei hat diese Einordnung drei wesentliche Vorteile: Erstens lösen wir die alte Reichsversicherungsordnung für alle Sozialversicherungszweige ab, zweitens verstetigen wir damit die feste Verbindung zwischen dem Unfallversicherungsrecht und der Praxis des Unfallschutzes, und drittens schließen wir mit dieser Einordnung das Kapitel „Kodifikation eines modernen Sozialversicherungsrechts" ab. Seit über 100 Jahren hat sich unsere gesetzliche Unfallversicherung in der Praxis bewährt. Schwere Zeiten hatte sie zu überstehen. Doch weil alle wichtigen gesellschaftlichen und politischen Gruppen die Grundsätze der Unfallversicherung seit ihrer Einführung immer anerkannt haben, konnte sie sich geradlinig weiterentwickeln und den notwendigen Anforderungen der Arbeitswelt anpassen. Stichpunktartig möchte ich herausgreifen: die Ablösung der Unternehmerhaftung durch verschuldensunabhängige, öffentlich-rechtliche Versicherungsansprüche und damit die Orientierung der Leistungen am Schadensersatzprinzip, die Gliederung der Unfallversicherung nach Branchen, den Präventionsauftrag der Träger zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, die Durchführung der Unfallversicherung durch Selbstverwaltungskörperschaften und die paritätische Selbstverwaltung, die alleinige Finanzierung durch die Unternehmen, und zwar im Umlageverfahren. Diese Umlagefinanzierung war bei den parlamentarischen Beratungen zum Unfallversicherungsgesetz aus dem Jahre 1884 bei Ihren liberalen Vorgängern, Frau Babel, auf starke Vorbehalte gestoßen. Doch nach Einführung der Unfallversicherung wuchs sehr schnell Gras darüber. Sie sehen, auch in der Geschichte unserer Sozialversicherung wiederholt sich das eine oder andere. Unser Unfallversicherungsrecht ist historisch gewachsen, ohne daß dabei Brüche entstanden sind. Die tragenden Prinzipien der Unfallversicherung sind rechtssystematisch schlüssig, und im Vergleich zu anderen Sozialversicherungszweigen herrscht in der Unfallversicherung eine fast klassische Ausgeglichenheit.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Babel?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Aber ja.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär Kraus, Sie sprechen vom Jahre 1884. Damals konnte man ein Umlageverfahren ja vielleicht noch vertreten. Die Volkswirtschaft war auf Expansionskurs. ({0}) Die Zahl der Erwerbstätigen ist dauernd gestiegen. Würden Sie denn sagen, daß wir die heutige Situation in der Wirtschafts- und Sozialpolitik tatsächlich mit den Rezepten des letzten Jahrhunderts meistern können?

Rudolf Kraus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001202

Ich möchte das ja nicht verallgemeinern; aber die Tatsache, daß ein Rezept 100 Jahre und älter ist, heißt nicht, daß es falsch ist. ({0}) - Es hat sich jedenfalls bewährt, und die Erfahrung spricht für meine Ansicht. Deshalb halten wir also auch an den Grundprinzipien der Unfallversicherung fest. Eine Strukturreform ist nicht erforderlich. Auch die Sozialpartner begrüßen diese Kontinuität. Mit unserem Gesetzentwurf zum SGB VII überarbeiten wir das geltende Recht, straffen die bestehenden Vorschriften und passen sie der Systematik des Sozialgesetzbuches an. Auch der Datenschutz, ein wesentlicher Schwerpunkt des SGB VII, wird verbessert. Unbestritten ist der Schutz der zum Teil sehr sensiblen Sozialdaten kennzeichnend für unseren freiheitlichen Sozialstaat. Dabei geht es ja auch immer um eine Abwägung zwischen den Individualinteressen der Versicherten und dem Interesse der Solidargemeinschaft an einer sachgerechten und wirtschaftlichen Durchführung der Sozialversicherung. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung werden dieser Aufgabe auf der Grundlage der geltenden Datenschutzregelungen gerecht. Wenn wir jetzt neue, zusätzliche Vorschriften schaffen, spricht hieraus kein Mißtrauen gegen sie. Wir nutzen vielmehr die Gelegenheit, den Datenschutz in der Unfallversicherung noch zu präzisieren. Mit der Einordnung in das Sozialgesetzbuch wird das Unfallversicherungsrecht aber auch wesentlich inhaltlich weiterentwickelt. Lassen Sie mich auf folgende Punkte hinweisen: Wesentliche Aufgabe der Unfallversicherung ist die Prävention. Die unbestrittenen Erfolge der Unfallversicherungsträger schließen künftige Verbesserungen natürlich nicht aus, ganz im Gegenteil. Sie sollen Ansporn zu weiteren Höchstleistungen sein. Moderner Arbeitsschutz ist mehr als die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten. Er muß auch arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren vorbeugend verhüten. Hier steckt ein hohes Entlastungspotential durch betriebliche Präventionsmaßnahmen. Die Bundesregierung ist sich mit den Sozialpartnern darin einig, daß der Präventionsauftrag der Unfallversicherung erweitert werden muß. Die Träger sollen ergänzend die Aufgabe erhalten, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Sie sollen branchenspezifische Unfallverhütungsvorschriften erlassen, den Ursachen solcher Gesundheitsgefahren nachgehen und mit den Arbeitsschutzbehörden bzw. der Gewerbeaufsicht und den Krankenkassen zusammenarbeiten. Nach Auffassung des Bundesrates soll diese Regelung erst im Rahmen einer umfassenden Neugestaltung des Arbeitsschutzrechts eingeführt werden. Dem können wir nicht zustimmen. Die Erweiterung ist hier und jetzt geboten, um den Gesundheitsschutz der Versicherten zu verbessern. Ein Hinauszögern wäre sozialpolitisch nicht zu verantworten. Dies ist auch die gemeinsame Haltung von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Ein weiterer Konfliktpunkt ist das Berufskrankheitenrecht. Ansprüche auf Leistungen der Unfallversicherung setzen voraus, daß zwischen versicherter Tätigkeit und eingetretener Krankheit feststellbare Kausalbeziehungen bestehen. Dieses Prinzip will die Mehrheit der Bundesländer aufgeben. Anstelle des Kausalnachweises soll eine bloße Vermutung für die berufliche Verursachung einer Krankheit genügen. Dem widerspricht die Bundesregierung. Schon nach geltendem Recht ist es nicht erforderlich, daß die Erkrankung ausschließlich durch berufliche Einwirkungen verursacht wurde. Allerdings muß eine wesentliche Mitverursachung durch die berufliche Einwirkung hinreichend wahrscheinlich sein. Der Vorschlag des Bundesrates würde zu einem Verzicht auf diesen Kausalnachweis führen, die tragende Basis der gesetzlichen Unfallversicherung würde verlassen, und der Unfallversicherung würden Leistungsverpflichtungen übertragen, die in die Zuständigkeit anderer Sozialversicherungsträger gehören. Mit einer solchen Konstruktion könnte eine allein von den Unternehmern finanzierte Pflichtversicherung nicht mehr gerechtfertigt werden. Weitgehende Übereinstimmung besteht dagegen bei den übrigen Neuregelungen. Im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist das Gesetzesvorhaben insgesamt kostenneutral. Den vorgesehenen Leistungsverbesserungen müssen deshalb auch Leistungseinschränkungen geParl. Staatssekretär Rudolf Kraus genüberstehen; so werden z. B. die Festbetragsregelungen der Krankenversicherungen für Arznei-, Heil-. und Hilfsmittel auch in der Unfallversicherung eingeführt. Noch ein Wort zu den Haftpflichtanstalten der Unfallversicherungsträger. Hier entdecken gewerbliche Versicherer plötzlich ihr Herz für die Ordnungspolitik und fordern, diese Regelung zu streichen. Nun sind wir nicht erst seit 1995 sozialpolitisch besonders engagiert, sondern seit einem sehr viel früheren Zeitpunkt. Deshalb stimmt es uns natürlich nachdenklich, wenn sich Interessenverbände treuherzig auf ordnungspolitische Grundsätze berufen. Bei den Haftpflichtanstalten geht es tatsächlich darum, daß die gewerbliche Konkurrenz den Landwirten einen vergleichbaren Versicherungsschutz entweder nur unter erschwerten Bedingungen oder überhaupt nicht anbietet. Für die weiteren Beratungen empfehle ich deshalb diesen Punkt besonders Ihrer Aufmerksamkeit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aufgezeigten Konfliktpunkte dürfen nicht den Blick da- für verstellen, daß die Inhalte des Gesetzesvorhabens überwiegend völlig unumstritten sind. Wir begrüßen das. Ich hoffe auf gründliche, aber zugleich auch zügige parlamentarische Beratungen des Gesetzentwurfs, damit die gesetzliche Unfallversicherung eine solide und tragfähige Säule unserer Sozialversicherung bleibt. Danke. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Es spricht nun der Abgeordnete Konrad Gilges.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Reformbedarf wird von allen Fraktionen dieses Hauses nicht bestritten. Es wäre notwendig gewesen, schon vor 10 Jahren mit der Reform des Unfallrechtes zu beginnen; denn ohne Zweifel liegt ja in diesem Bereich vieles im argen, insbesondere was den Gesundheitsschutz betrifft, nicht so sehr beim eigentlichen Unfallschutz. Es gibt vor den Sozialgerichten viele Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern und zwischen der Einschätzung der Beurteilung, zu dem meine Kollegin Erika Lotz anschließend im Detail etwas sagen wird. Wir Sozialdemokraten haben mit einem Antrag, der vom 1. April 1992 datiert ist, eine grundlegende Reform des Gesundheits- und Arbeitsschutzes gefordert. Leider konnten sich die Regierungsparteien nicht dazu bereit erklären. Wir haben damals aufgelistet, was alles reformbedürftig wäre. Wir haben u. a. auch einen Schwerpunkt in der Frage der Mitwirkung und der Mitbestimmung im Betrieb gesehen. Herr Kraus, ich glaube, daß das ein wichtiger Punkt ist und in der jetzigen Gesetzesvorlage noch einmal darüber diskutiert werden müßte, inwieweit die Betriebsräte, die Sicherheitsbeauftragten, die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben mehr Einfluß auf den Arbeits- und auf den Gesundheitsschutz im Betrieb nehmen können. Dieser scheint mir zur Zeit relativ unterentwickelt zu sein. Wir haben dies, wie schon gesagt, in einer Drucksache vorgelegt. Wir wollten damals ein Arbeitsschutzgesetz. Wir hatten uns eine große Lösung vorgestellt. Wir bleiben bei der Vorstellung einer großen Lösung. Leider ist das Gesetz, das Sie dann vorgelegt haben, in der vergangenen Legislaturperiode an der F.D.P. gescheitert, die nicht bereit war, dort den Weg bis zum Ende zu gehen. Wir hatten eine Anhörung, eine Gesetzesvorlage usw. Die F.D.P. hat kalte Füße bekommen und mit ihr dann die gesamte Regierung. Frau Babel, es ist unrichtig - das wollte ich nur einmal sagen -: 1884 - schauen Sie einmal in den Geschichtsbüchern nach - hatten wir eine relativ schlechte Konjunktur im damaligen Deutschen Reich. Die Hochkonjunktur trat nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 ein. Es gab durch das Gewinnen des Krieges eine Konjunktur, die schon Anfang der 80er Jahre wieder rückläufig war. Es folgte eine riesengroße Wirtschaftskrise, die teilweise bis zur Jahrhundertwende angedauert hat. Das wollte ich nur einmal am Rande mitteilen. Trotz dieser schwierigen Wirtschaftskrise hat sich die damalige Reichsregierung unter Bismarck bereit erklärt, so etwas zu machen, weil sie die Notwendigkeit erkannt hat und weil natürlich durch einen nicht vorhandenen Unfallschutz großer volkswirtschaftlicher Schaden entsteht. Ich komme nachher noch einmal auf diesen Punkt zurück. Es geht um den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers. Es geht aber auch um den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch einen mangelnden Gesundheits- und Unfallschutz in der Bundesrepublik jährlich entsteht. Ich habe Verständnis für die Forderung der Länder nach einem umfassenden Arbeitsschutz, so wie wir Sozialdemokraten das auch fordern. Aber bei allem, was die Länder fordern, bin ich der Meinung, daß die Minilösung, die die Bundesregierung jetzt vorlegt, immer noch besser ist als überhaupt keine Lösung. Deswegen werden wir konstruktiv an diesem Gesetzeswerk - so weit Sie uns das ermöglichen - mitwirken oder mitarbeiten. Ich will sagen, warum ich der Meinung bin, daß eine Minilösung immer noch besser ist als überhaupt keine Lösung oder als der IstZustand, den wir jetzt haben: Wir müssen ein größeres Schwergewicht auf die Prävention, auf die Vorbeugung legen. Ich habe dabei Schwierigkeiten mit der Debatte, ob das nun die Berufsgenossenschaften oder die Gewerbeaufsichtsämter machen müssen. Ich kann diesen Streit nicht so richtig nachvollziehen. Ich verstehe ihn als jemand, der damit zu tun hat, aber ich glaube, es darf nicht ein Streit um des Streites willen sein, wer hier Kompetenzen hat. Vielmehr geht es darum, wie wir in der Lage sind, eine höhere Vorbeugung im Betrieb und in diesem Bereich zu erreichen. Das heißt, das Ziel muß im Mittelpunkt dieser Erörterung stehen und nicht die Organisationsfrage.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Gilges, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich kann zunächst übereinstimmend mit Ihnen erklären, daß es nicht um den Streit gehen soll. Aber können Sie nicht mit mir einig sein, daß es in der Tat sinnvoll ist - gerade weil ein Streit zwischen Ländern und um Kompetenzen angezeigt ist, insbesondere bei der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft -, die bisherigen hervorragend bewährten Organisationen bei den Berufsgenossenschaften aufrechtzuerhalten, zumal wir den Nachweis führen können, daß wir bis dato in der Vergangenheit einen erheblichen Rückgang insbesondere von Todesfällen, aber auch von anderen schweren Unfällen haben, und daß wir eigentlich deshalb auf dem bewährten Weg weitergehen sollten?

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich befinde mich in einer schwierigen Situation, Ihnen zu sagen, daß das, was Sie sagen, stimmt. Als Vorsitzender eines DGB-Kreises weiß ich aber, welche Rechtsauseinandersetzungen wir mit den Berufsgenossenschaften haben und wie viele Streitfälle vor den Sozialgerichten abgehandelt werden, wie schwierig das also mit den Berufsgenossenschaften ist und wie unfair sich diese manchmal verhalten. Das muß ich sehr vorsichtig ausdrücken, weil mich ansonsten auch meine Kollegen von den Gewerkschaften kritisieren würden. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich im Grundsatz beide Säulen des Systems bejahe. Das kann aber im Ergebnis nicht bedeuten, daß im konkreten Fall der Vorbeugung, also der Prophylaxe bzw. Prävention nichts passiert. Ich hielte es für schrecklich, wenn es uns nicht gelingt, dafür zu sorgen, daß in den Betrieben der Gesundheitsschutz - insbesondere bei neuen Werkstoffen - vernachlässigt wird. Die gesamtstaatliche Verantwortung, die für den Arbeits- und Gesundheitsschutz durch die Gewerbeaufsichtsämter dokumentiert wird, bleibt bestehen und sollte nicht in Zweifel gezogen werden. Ich habe - wie gesagt - mit beiden immer meine Schwierigkeiten. Allerdings bedeuten eine grundlegende Reform und ein Schritt in diese Richtung, daß wir insbesondere bei den Unternehmen Kosten einsparen würden, Frau Babel. Fachleute gehen davon aus, daß heutzutage Kosten in Höhe von 100 Milliarden DM jährlich zu vermeiden wären, wenn der Gesundheits- und der Unfallschutz verbessert würden. Diesen Betrag würden die Betriebe einsparen. ({0}) - Frau Babel, ich will mit Ihnen darüber nicht streiten, ob es sich dabei um 16 oder 100 Milliarden DM handelt, sondern es geht darum, daß Lohnnebenkosten eingespart werden könnten, z. B. wenn es eine ordentliche Gesetzgebung gäbe, wenn es Vorbeugung gäbe, wenn in den Betrieben das gemacht würde, was gemacht werden müßte. Das würde für uns alle volkswirtschaftlich gesehen einen großen Fortschritt bedeuten, insbesondere für die Betriebe. Ich will zum nächsten Punkt kommen und etwas zu den bestehenden Konfliktlinien sagen, die zwischen den Ländern und der Bundesregierung auf der einen Seite und dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Arbeitgeberverband auf der anderen Seite bestehen. Ich sage es offen: Ich stehe - das habe ich eben schon gesagt - auf der Seite des Arbeitgeberverbandes sowie der Gewerkschaften und bin auch der Meinung, daß wir zu einer Klärung kommen müßten. Wir Sozialdemokraten meinen, daß - wie bereits deutlich gemacht - die Frage der Zuständigkeiten, die Ordnungsfrage, nicht der entscheidende Punkt ist. Wir bieten Ihnen an, im Verlaufe der Ausschußberatungen und der Anhörung eine vernünftige Lösung zu finden. Sofern Sie dazu bereit sind, glaube ich, daß wir aus dem Gesetzeswerk, das jetzt noch nicht vollkommen ist, eine Lösung erarbeiten können, die zumindest einen Schritt in die richtige Richtung bedeutet. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat nun der Abgeordnete Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das im Jahre 1884 - wir hörten es vorhin schon - begründete und von der Bundesregierung in überarbeiteter Form vorgelegte Unfallversicherungsrecht muß - das ist wohl unbestritten - als Erfolgsgeschichte deutscher Sozialgesetzgebung bezeichnet werden. Ein Gesetz, das über einhundert Jahre hinweg - unterbrochen nur durch die Zeit des Nationalsozialismus - durch drei Staatssysteme hindurch, nämlich das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Bundesrepublik, Bestand gehabt hat und unter zum Teil grundverschiedenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen beibehalten wurde, kann keine grundlegenden Fehler enthalten. ({0}) Welches sind die Gründe für die erstaunliche Akzeptanz und Lebensdauer dieses Unfallversicherungssystems? Das ist zum ersten sicher die Tatsache, daß es beiden Beteiligten - Arbeitgebern und Arbeitnehmern - im wesentlichen nur Vorteile bringt. Da sind zunächst auf der Arbeitgeberseite die Ablösung der zivilrechtlichen Haftpflicht zugunsten einer Versicherung im Umlageverfahren und auf der Arbeitnehmerseite eine Lösung der Leistungsansprüche vom Verschulden sowie in der weiteren Entwicklung die immer stärkere Verlagerung auf die Prävention von Schadensfällen im Interesse der Gesundheit des Arbeitnehmers und der Kostenvermeidung auf der Leistungsseite. Zum zweiten hat die Gestaltung der Unfallversicherungsträger als selbstverwaltete paritätisch besetzte Körperschaften des öffentlichen Rechts und der damit erreichten Konsensschaffung in Fragen der Unfallursachenbeseitigung und Unfallfolgenkompensation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Erfolg dieses Systems beigetragen. Später konnten weitere wesentliche Verbesserungen erzielt werden. Ich nenne nur die Stichworte: Einführung der Sicherheitsbeauftragten in Betrieben mit mehr als 20 Arbeitnehmern, Unfallverhütungsbericht, Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung, Erweiterung des Versicherungsschutzes auf Kindergartenkinder, Schüler und Studenten und zuletzt die Anerkennung der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die vor dem 1. Februar 1992 in den fünf neuen Ländern eingetreten sind, auch dann, wenn sie nach DDR-Recht, nicht aber nach bundesdeutschen Berufskrankheitenlisten als solche zu betrachten waren. Heute umfaßt der Aufgabenbereich der Unfallversicherung in erster Linie die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, daneben die Heilbehandlung, Maßnahmen der medizinischen, beruflichen und nach diesem Entwurf auch der sozialen Rehabilitation sowie die Entschädigung durch Geldleistungen. ({1}) Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind zur Zeit 35 gewerbliche und 20 landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften sowie 54 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand. 80 % der Wohnbevölkerung sind in der gesetzlichen Unfallversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten versichert. Festzustellen ist: Unser Unfallversicherungssystem hat sich bewährt, beruht auf einem Konsens aller beteiligten gesellschaftlichen Kräfte und ist auch den Anforderungen unserer sich wandelnden Gesellschaft gewachsen. ({2}) Es gibt also keinen Anlaß, diesen Bereich grundsätzlich zu reformieren. In diesem Licht ist auch der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes zu sehen. Er enthält keine grundsätzliche Neuordnung des Unfallversicherungsrechts; aber er sieht doch einige erwähnenswerte und zu begrüßende Verbesserungen vor. Eines der großen Probleme unseres Sozialrechts ist sicherlich die Tatsache, daß es trotz erheblicher Fortschritte bei der Vereinheitlichung in den letzten Jahren noch immer in einer Vielzahl verschiedener Gesetze und Verordnungen geregelt ist, was dazu führt, daß es für den Bürger, für den es eigentlich geschaffen wurde, unübersichtlich und unverständlich bleibt. Das von der Bundesregierung im Entwurf vorgelegte Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz bringt mehr Klarheit und Rechtssicherheit in das gesetzliche Unfallversicherungsrecht und in das Sozialrecht allgemein. Es ist zunächst Folge der formellen Neufassung dieses Rechtsbereichs. Der Entwurf faßt das Unfallversicherungsrecht übersichtlicher und straffer. Die Reichsversicherungsordnung als über 100 Jahre lang gültige Rechtsgrundlage des Sozialversicherungsrechts wird abgeschafft. Die einheitliche Kodifizierung des Unfallversicherungsrechts und seine Einordnung in das Sozialgesetzbuch VII stellt also einen weiteren folgerichtigen Schritt zur Vereinheitlichung und Systematisierung des Sozialversicherungsrechts, einen weiteren Fortschritt im Bemühen um die erfolgreiche Schaffung eines für die Bevölkerung durchschaubaren und für die Verwaltung leichter umsetzbaren einheitlichen Sozialrechts in Form des Sozialgesetzbuchs dar. Ich möchte Sie im Zusammenhang mit den formellen Aspekten des Gesetzentwurfs noch auf Änderungen der Zuständigkeiten hinweisen. Gemäß § 116 des Entwurfs sind die Unfallversicherungen auch im Landesbereich durch rechtlich selbständige Träger, Unfallkassen, durchzuführen, die wie die Gemeindeunfallversicherungsverbände die gleichen Kompetenzen wie die Berufsgenossenschaften erhalten. Dabei können die Landesregierungen unter folgenden Regelungsmodellen wählen: erstens Bildung einer oder mehrerer besonderer Unfallkassen nur für den Landesbereich mit einer Übergangsregelung bis Ende des Jahres 1996 oder zweitens Bildung einer gemeinsamen Unfallkasse für den Landes- und den kommunalen Bereich, wobei der Träger nicht den gesamten Bereich eines Landes umfassen muß. Die Länder haben im übrigen auch in Zukunft die Möglichkeit, die Aufgaben der Unfallkasse für den Landesbereich durch einen Gemeindeunfallversicherungsverband im Rahmen einer Verwaltungsgemeinschaft mit einem gemeinsamen Geschäftsführer durchführen zu lassen, was durch eine Verwaltungsvereinbarung zu regeln wäre. In § 116 Abs. 2 des Entwurfs wird darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, daß mehrere Länder mit oder ohne Einbeziehung der kommunalen Unfallversicherung eine gemeinsame landesunmittelbare Unfallkasse bilden können. Was im Bereich der Länder vorgesehen ist, wird auch im Bereich der Kommunen ermöglicht werden. Das geltende Recht sieht bei den Gemeinden die Bildung von Gemeindeunfallversicherungsverbänden und von Feuerwehr-Unfallkassen vor. Städte mit mehr als 500 000 Einwohnern können selbst zum Versicherungsträger bestimmt werden. Für die kommunale Unfallversicherung in den Stadtstaaten kann eine Unfallkasse errichtet werden, die gleichzeitig Träger der Unfallversicherung des Landes ist. Ist die Unfallversicherung im kommunalen Bereich nicht von einer gemeinsamen Unfallkasse für den Landes- und den kommunalen Bereich durchgeführt, so sieht § 117 Abs. 1 im Gegensatz zur alten Rechtslage folgende Änderungen vor: Erstens. Die Ausführungsbehörden der sechs Städte, die zur Zeit zu Unfallversicherungsträgern bestimmt sind, sollen in rechtlich selbständige UnManfred Grund fallkassen umgewandelt werden. Nach Auffassung des Bundesrates sollen diese Unfallversicherungsträger aber in den Gemeindeunfallversicherungsverbänden aufgehen. Zweitens. Es wird die Möglichkeit geschaffen, einen gemeinsamen Träger für den Landes- und für den Kommunalbereich zu errichten. § 117 Abs. 3 hat insbesondere bei den Feuerwehr-Unfallkassen zu Besorgnis geführt. Hier sollen im Interesse größerer und leistungsfähigerer Einrichtungen neben einem gemeindlichen Unfallversicherungsträger besondere Feuerwehr-Unfallkassen nicht mehr neu entstehen. Die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehenden Feuerwehr-Unfallkassen können erhalten bleiben, können aber auch von den Landesregierungen landesübergreifend vereinigt werden. Dieser § 117 wird von den Feuerwehr-Unfallkassen als Eliminierungsklausel empfunden. Anlaß zu dieser Befürchtung geben auch die Erfahrungen bei den Gründungen von Feuerwehr-Unfallkassen in den neuen Ländern, so z. B. in Thüringen. Gleichbehandlung und Statuserhalt sind Anliegen auch der deutschen Feuerwehren, gehen doch die Leistungen der Feuerwehr-Unfallkassen über die der gemeindlichen hinaus. Zudem sind die Leistungen der FeuerwehrUnfallkassen im Bereich der Schadensverhinderung und Prävention bereits heute vorbildlich. In der weiteren parlamentarischen Diskussion sollte der § 117 nach Ansicht der deutschen Feuerwehren so abgeändert werden, daß durch ihn der Bestand der Feuerwehr-Unfallkassen nicht angetastet wird. Neben formellen Verbesserungen entwickelt der Entwurf das Unfallversicherungsrecht in einigen Punkten auch durch inhaltliche Veränderungen weiter. Lassen Sie mich auf die wesentlichsten kurz eingehen. Der Entwurf erweitert eine der drei Hauptaufgaben der Unfallversicherung, den Präventionsauftrag, um die Zuständigkeit für Erforschung und Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren. Die staatlichen Arbeitsschutzvorschriften, durch die Unfallversicherungsträger branchenspezifisch konkretisiert und erweitert, können hierdurch im gesamten Bereich des betrieblichen Arbeitsschutzes erlassen werden. Staatssekretär Kraus hat hierauf schon hingewiesen. Die Erweiterung der Unfallverhütungspflicht stellt unbestritten einen Fortschritt dar und wird allgemein als geboten und sinnvoll erachtet. Nun mag die bisherige Darlegung recht theoretisch daherkommen und mehr den Verwaltungsfachmann, den Arbeitgeber und die Verbände betreffen. Es gibt aber einen Bereich, der sehr anschaulich ist und insbesondere Kinder und Jugendliche betrifft. Der Versicherungsschutz von Kindergartenkindern wird auf den Besuch aller Tageseinrichtungen mit kindergartenähnlichem Charakter ausgeweitet. In § 2 des vorliegenden Entwurfes - Versicherung kraft Gesetzes - wird der Versicherungsschutz der nach der Reichsversicherungsordnung versicherten Personengruppen, also Kindergartenkinder, Schüler und Studenten, auf Kinder in allen Tageseinrichtungen und auf die Teilnahme an bestimmten Betreuungsmaßnahmen für Schüler erweitert. Die Funktion von Kindertageseinrichtungen hat sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindertageseinrichtungen im Jahre 1971 wesentlich verändert. Ebenso gibt es keine klare Trennung zwischen Kindergarten, Schule und Hortbetreuung. In den neuen Bundesländern werden Kinder vom zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt im Kindergarten betreut. Hortbetreuung ist an der Schule und auch nach der Schule wiederum im Kindergarten oder durch freie Träger möglich. Damit umfassen die Aufgaben der Tageseinrichtungen Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder. Der Hort hat inzwischen einen eigenständigen Bildungs- und Erziehungsauftrag und arbeitet mit den Schulen und mit den anderen Trägern zusammen. Durch altersgemischte Gruppen besteht die Möglichkeit einer organisatorischen Einheit von Krippe, Kindergarten und Hort. Eine eindeutige Abgrenzung gibt es nicht mehr. Deshalb wird der Unfallversicherungsschutz auf alle Tageseinrichtungen - das sind Krippen, Horte und altersgemischte Einrichtungen - erstreckt. Zu überlegen bleibt, ob nicht die Betreuung von Kindern in Einrichtungen der Tagespflege in den Unfallversicherungsschutz mit einbezogen werden kann. Der Versicherungsschutz der Schüler wird auf die Teilnahme an Betreuungsmaßnahmen vor und nach dem Unterricht von in der Regel allgemeinbildenden Schulen erweitert. Eine Durchführung dieser Maßnahmen im Zusammenwirken mit der Schule soll zukünftig ausreichen. Ohne diesen Zusatz würde sich der Versicherungsschutz nur auf solche Maßnahmen erstrecken, die im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang muß § 21 Abs. 2 des Entwurfs erwähnt werden. Diese Vorschrift soll sicherstellen, daß die Aufspaltung im Schulbereich - Sachkostenträger als Unternehmer im Sinne der Unfallversicherung einerseits und Schulhoheitsträger andererseits - die Unfallverhütung nicht beeinträchtigt. Eine Beeinträchtigung scheint mir gegenwärtig mangels Abstimmung zwischen Sachkostenträger und Schulhoheitsträger nicht ausgeschlossen. Soweit Maßnahmen zum Schutz der Schüler erforderlich sind, die nicht dem äußeren Schulbereich - also Gebäude, Einrichtungen, sächliche Ausstattung betreffend -, sondern dem inneren Schulbereich zuzuordnen sind, wird folgerichtig neben dem Sachkostenträger - das ist in der Regel die Kommune - auch der Schulhoheitsträger - das sind meistens die Länder - in die Präventionsverantwortung einbezogen. Durch die Regelung erhöht sich im allgemeinen die Rechtssicherheit; im besonderen wird es keine gespaltene Sicherheit an den Schulen geben. Die Erweiterung des Versicherungsschutzes auf den Bereich der Kindertagesstätten belastet die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand im Landes- und im kommunalen Bereich mit etwa 27 Millionen DM jährlich. Diesem Mehraufwand steManfred Grund hen nicht quantifizierbare Entlastungen gegenüber, weil in diesem Bereich bereits heute der erweiterte Versicherungsschutz auf Satzungsgrundlage oder auf Grund von Privatversicherungen besteht. Eine weitere positive Veränderung ist die vorgesehene jährliche Anpassung der Renten von Landwirten und ihren Ehegatten. Die jährliche Anpassung der Unfallrenten in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung belastet die landwirtschaftlichen Unternehmen im Rahmen einer Umlage in Höhe von 5 Millionen DM bis 10 Millionen DM jährlich. Die übrigen Neuregelungen sind nach Einschatzung der Bundesregierung kostenneutral. Dies alles ist zu begrüßen und wird allgemein auch begrüßt. Der Bundesrat hat den Entwurf zu Recht als rechtssystematisch und sprachlich gelungen bezeichnet. Um so unverständlicher erscheint deshalb seine Ablehnung des vorliegenden Entwurfs. Auf eine Forderung des Bundesrates möchte ich kurz eingehen, nämlich auf die nach einer gesetzlichen Vermutung für die Kausalität zwischen einem berufsbedingten Schadensrisiko und seiner Verwirklichung in einer Berufskrankheit in Verbindung mit der Verlagerung der Beweislast auf die Unfallversicherungsträger. Ich habe Ihnen Geschichte und Ziele der gesetzlichen Unfallversicherung eben kurz ins Gedächtnis gerufen. Die Unfallversicherung hat im Falle eines Gesundheitsschadens - sei es durch Unfall, sei es durch eine Berufskrankheit - den Zweck, die Unternehmerhaftung, also eine Schadensersatzpflicht, abzulösen. Die Kausalität zwischen dem Verhalten eines Schädigers und dem eingetretenen Schaden als Voraussetzung für Schadensersatz halte ich für ein sinnvolles und gerechtes Zuordnungsprinzip unseres Rechtssystems - auch wenn das Risiko einer Schadensersatzleistung in Form einer Unfallversicherung umgelegt wird. Soll ein solches Prinzip außer Kraft gesetzt werden - das ist offensichtlich Ziel des Bundesrates -, sollte man gute Gründe dafür haben. Natürlich ist der Arbeitgeber Nutznießer der Arbeitsleistung des Arbeitnehmers. Er zieht seinen unternehmerischen Gewinn aus dieser Arbeitsleistung, im Grunde also auch aus den Risiken, die der Arbeitnehmer eingeht. Dieser Interessenlage wird der Entwurf der Bundesregierung aber schon dadurch vollkommen gerecht, daß er zugunsten der Arbeitnehmer erhebliche Beweiserleichterungsregelungen zu den schon bestehenden eingeführt hat. Die Tatsache, daß sich die Sozialpartner über die Notwendigkeit der schnellstmöglichen Einführung dieser Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes vollkommen einig sind, sollte deutlich genug zeigen, ({3}) daß eine Verzögerung dieses Entwurfs aus taktischen Gründen nicht zu verantworten wäre. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Daß jetzt alte Vorschriften als SGB VII in die Systematik des Sozialgesetzbuches eingeordnet werden sollen, ist natürlich grundsätzlich zu begrüßen. Aber der Vorschlag, den Sie uns vorgelegt haben, ist, finde ich, nicht eben richtungsweisend. Er läßt den innovativen Impuls, zu dem eine solche Einordnung eine Chance bieten würde, vermissen. Ich weiß - das habe ich heute schon mehrfach gehört -, diese Vorschriften sind über hundert Jahre alt. Wir sollten die Vorlage während der Anhörung und auch im Ausschuß unter drei Leitgedanken ansehen: erstens der Schutz und die Rechte von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen; zweitens der Präventionsgedanke, der auf jeden Fall noch klarer, als es hier der Fall ist, in den Vordergrund gestellt werden muß; drittens Vorgaben an die Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger für eine sinnvolle und effektive Organisation ihrer Aufgaben. Für die Beratung der Organisationsvorschläge im einzelnen werden wir in der Anhörung und im Ausschuß Zeit haben. Auf sie möchte ich hier nicht eingehen. Ich möchte nur zu zwei Aspekten etwas sagen. Zu einer effektiven Organisation gehört, die vielen kleinen Berufsgenossenschaften und unterschiedlichen Unfallversicherungen zu Zusammenschlüssen anzuregen. Dazu finde ich in Ihrem Entwurf keinen Ansatz. Außerdem schwächen Sie mit Ihrem Entwurf die Träger der öffentlichen Hand. Damit meine ich nicht die Eigenunfallversicherungen der Großkommunen. Dazu könnte vielleicht eher Herr Gilges etwas sagen. Diese Versicherungen halte ich für anachronistisch. Hier kontrollieren sich nämlich die Städte selbst. Sie haben sogar die Möglichkeiten der Erzwingung über Bußgelder aus ihren Satzungen gestrichen. Nach Einschätzung von Experten und Expertinnen lassen in diesem Bereich sowohl die Kontrolle als auch die Prävention oft zu wünschen übrig. Warum Sie aber in Ihrem Entwurf die gemeindlichen Unfallversicherungsträger so schwächen wollen, ist mir unverständlich. Sie nehmen ihnen die Möglichkeit, Betriebe mit kommunaler Beteiligung weiterzuversichern, von denen es nach den Privatisierungswellen in den Kommunen inzwischen viele gibt - nicht nur Spaßbäder. Wie insgesamt bei der Privatisierung werden hier die Rosinen aus dem Kuchen gepickt. Für die kommunalen Träger bleibt, was sonst keiner will. Das Ergebnis wäre eine „AOK-isierung" dieser Träger mit dem bekannten Ergebnis einer Verteuerung für die Kommunen und einer Verschlechterung der Leistungen gerade im Präventionsbereich. Wenn Sie, meine - inzwischen sehr wenigen - Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ständig von Annelle Buntenbach der Notwendigkeit des Sparens im öffentlichen Dienst sprechen, dann dürfen Sie nicht gleichzeitig Strukturen schaffen, die ihn zwangsläufig teurer machen. Die Belastungen im Betrieb haben sich für die Beschäftigten in den letzten Jahren rasant verändert und verschärft, z. B. ständige Umwälzungen in der Technik. Die Kernbelegschaften arbeiten unter immer größer werdendem Streß - flexibel, versteht sich - und leisten eine irrsinnige Menge an Überstunden. Neben den Kernbelegschaften gibt es immer mehr Arbeitsverhältnisse, in denen Menschen bei großer Personalfluktuation nur noch wenige Stunden im Betrieb sind und meist monotone Zuarbeit verrichten. Eine solche Situation stellt besonders hohe Anforderungen an den Arbeits- und Unfallschutz. Wenn wir mit den gesetzlichen Vorgaben zu vernünftigen Arbeitsbedingungen beitragen wollen, die nicht krank machen, dann müssen die Unfallversicherungsträger weit stärker auf den Gedanken der Prävention verpflichtet werden. Dazu fällt uns noch einiges mehr ein, als in diesem Entwurf steht; das werden wir bei der Anhörung vorschlagen. Um den Arbeitsschutz umfassend zu regeln, brauchen wir umgehend ein Arbeitsschutzrahmengesetz. Dieses Projekt ist der Regierung in der letzten Legislaturperiode mißglückt. Wenn Sie, Herr Kraus, jetzt daraus, daß Sie das nicht geschafft haben und daß unklar ist, wann Sie das hinbekommen, schließen, daß mehr Arbeitsschutz ins SGB VII muß, dann heißt das, sich von vornherein mit der schlechteren und kleineren Lösung zufriedenzugeben. Wir werden weiter für die große Lösung eintreten. Die Spitze des Eisbergs der arbeitsbedingten Erkrankungen sind die Berufskrankheiten, die im SGB VII geregelt werden sollen. Die Anerkennungsverfahren für Berufskrankheiten sind bislang eine Katastrophe gewesen. Daran ändert auch der neue Entwurf leider nichts. Es bleibt eine unglaubliche Zumutung für die Opfer, sich durch dieses langwierige und demütigende Verfahren zu kämpfen - mit einer ganz geringen Chance auf Erfolg. Fast 95 % der Anträge werden abgelehnt. Die Verfahren sind eindeutig darauf ausgerichtet, Kosten abzuwälzen, und nicht darauf, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es wird den Opfern der eindeutige Beweis abverlangt, daß ihre Krankheit durch Arbeit entstanden ist. Sie wissen alle, daß das kaum mehr möglich ist, wenn Sie seit Ihrer Geburt den Betrieb schon einmal verlassen haben. Menschen mit Asbestose wird unterstellt, sie hätten zuviel geraucht, obwohl jeder inzwischen um die Folgen der Arbeit mit Asbest weiß. Jetzt haben wir die Chance, aus dem offensichtlichen Zynismus, den das bisherige Verfahren bedeutet, Konsequenzen zu ziehen. Wir haben die Chance, aus dem Elend und den Erfahrungen der Asbestkranken zu lernen. Die Bilder aus Bremen und auch das Leid der aus Lösemitteln Krankgewordenen stehen uns noch deutlich vor Augen. Dies sind eindeutig Berufskrankheiten. Gesundmachen kann die Opfer niemand mehr. Aber ihnen steht doch zumindest eine Rente zu. Das heißt, wir brauchen dringend eine Umkehr der Beweislast zugunsten der Betroffenen. Eine Krankheit ist dann eine Berufskrankheit, wenn im Einzelfall die betriebliche Verursachung wahrscheinlich ist. Wir brauchen außerdem eine entschiedene Demokratisierung des unwürdigen Verfahrens. Die Betroffenen sind nicht Begutachtungsobjekte von demokratisch kaum legitimierten Sachverständigengremien, sondern sie haben das Recht auf umfassende Akteneinsicht, auf eine betriebliche Vertrauensperson im Verfahren, Betriebsrätin oder Sicherheitsbeauftragte. Gutachter, die das Vertrauen der Betroffenen in grober Weise verletzen, muß man ablehnen können. Viele Verfahren ziehen sich endlos in die Länge zu Lasten der Kranken, die oft jahrelang nicht wissen, wie es für sie weitergeht. Warum werden in diesem Gesetz keine Fristen festgeschrieben, klare und verpflichtende Vorgaben, zu welchen Terminen die Verfahren abgewickelt werden müssen? Wir werden hierzu entsprechende Vorschläge in den Ausschußberatungen vorlegen. Ich teile keineswegs die Einschätzung der Bundesregierung, daß dieses Anerkennungsverfahren so bleiben muß. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Abgeordnete Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorweg vielleicht eine kleine Bemerkung: Die Diskussion zu diesem Gesetzentwurf scheint mir ein Modellfall zu sein für das, was die Parlamentsreform vorschlägt, nämlich eine öffentliche Ausschußsitzung. Die Besetzung hier ist fast eine öffentliche Ausschußsitzung, in der wir den Entwurf intern beraten könnten. ({0}) - Sie werden den Grund, warum der Kollege nicht hier ist, wahrscheinlich schon wissen. ({1}) Der heute behandelte Entwurf eines Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes ({2}) - ich begrüße Sie; es gibt immer wieder Ehrenliberale - hat einen harmlosen Namen, kann aber in den parlamentarischen Beratungen des Bundestages und vielleicht gerade im Bundesrat an einige gefährliche Klippen geraten. Zunächst geht es nur darum, die veralteten und teilweise verstreuten Vorschriften aus der Reichsversicherungsordnung in ein neues SGB VII zu überführen. Die F.D.P. steht grundsätzlich zu dem Entwurf der Bundesregierung. Für uns sind aber einige Punkte verbesserungsfähig und verbesserungswürdig. Die Forderungen, die insbesondere von den Ländern kommen, sind für uns nicht akzeptabel. Die F.D.P. wird nicht zulassen, daß die Rechte der Berufsgenossenschaften gegenüber den staatlichen Gewerbeaufsichtsämtern geschwächt werden. Unter dem Deckmantel der Förderung des Föderalismus haben die Länder eine Vielzahl von Vorschlägen zur Zusammenarbeit der Berufsgenossenschaften und der Gewerbeaufsichtsämter gemacht. Eins ist allen Vorschlägen gemeinsam: Die Kosten bleiben an den Berufsgenossenschaften hängen. Die Länder bekommen bei minimalem organisatorischen, personellen und finanziellen Aufwand einen maximalen Einfluß auf den Arbeitsschutz und auf die Arbeit der Berufsgenossenschaften. Diese Art der Staatswirtschaft - ich wundere mich immer über die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, weil sie dem Staat in allen Dingen mehr als allen anderen vertrauen - ist mit der F.D.P. nicht zu machen. Die Berufsgenossenschaften arbeiten in vielen Bereichen effizienter als die unter Personalschwund leidende staatliche Gewerbeaufsicht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Gilges?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, nicht mitten im Satz Frau Präsidentin. Ich möchte noch ein bißchen weiterreden. ({0}) - Vielen Dank, Herr Gilges; aber ich rede doch weiter. Diese betriebsnahe Aufsicht gilt es zu stärken und nicht den Einfluß der Länder. Ich mache keinen Hehl daraus, daß auch der Regierungsentwurf das Problem der Zusammenarbeit zwischen Berufsgenossenschaften und der Gewerbeaufsicht noch nicht zufriedenstellend löst: Die F.D.P. will ebenso wie der Entwurf Doppelarbeit und widersprüchliche Anweisungen vermeiden. Aber die jetzt von der Bundesregierung erneut vorgeschlagene Einrichtung von länderbezogenen Stellen zur Koordinierung der Arbeitsschutzmaßnahmen haben wir schon im Arbeitsschutzrahmengesetz in Frage gestellt, und wir werden auch diesmal in der Koalition nacharbeiten müssen. Es wird auch nicht das von den Ländern geforderte Arbeitsschutzgesetzbuch geben. Für den Arbeitsschutz ist wichtig, was drinsteht, nicht wo es steht. ({1}) Ein einheitliches Arbeitsschutzgesetzbuch kann es schon deswegen in Deutschland niemals geben, weil der Arbeitsschutz maßgeblich in den Unfallverhütungsvorschriften, d. h. im Satzungsrecht der Berufsgenossenschaften, steht. Das soll so bleiben. Ein Arbeitsschutzgesetz würde notwendig immer nur Stückwerk bleiben und hinter der Realität herlaufen. ({2}) Die Erweiterung des Präventionsauftrages zugunsten der Berufsgenossenschaften ist grundsätzlich wünschenswert. Es ist ja schon merkwürdig, daß die Berufsgenossenschaften nur im Bereich der Sicherheitstechnik und bei den anerkannten Berufskrankheiten gesetzliche Zuständigkeiten haben, nicht aber beim Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer generell. Aber, meine Damen und Herren, ich sehe hier auch Gefahren. Aus der Praxis wissen wir, daß die Berufsgenossenschaften schon heute weitgehend Gesundheitsvorsorge zugunsten der Arbeitnehmer betreiben, auch ohne gesetzliche Reglementierung. ({3}) - Ist ja in Ordnung. Die gesetzliche Festschreibung dieser Ordnung darf nun nicht dazu führen, daß sich neue Gremien, beauftragte Ausschüsse, bilden, die die Unternehmen mit immer neuen Vorschriften und Reglementierungen im Zuge einer ausufernden Präventionstätigkeit überziehen. Neue Bürokratie darf nicht entstehen. ({4}) Diese Gefahr, meine Damen und Herren, müssen wir sehen, denn Prävention ist ein weites Feld, auf dem Sie beinahe jede Maßnahme rechtfertigen können. Auch gilt es - ich sage das warnend -, mehr finanziellen Aufwand zu vermeiden. Wir sind alle in der Diskussion über die Sicherung des Standortes Deutschland, und wir können angesichts der damit verbundenen Aufgaben nicht allein die EU-Richtlinien aus den 80er Jahren zum Maßstab nehmen. ({5}) Inhaltliche Vorbehalte melde ich auch gegenüber den Vorschriften an, die künftig die Anerkennung von Berufskrankheiten regeln. Eigentlich ist nach der Lektüre des Gesetzentwurfes klar: Die Möglichkeiten der Anerkennung von Berufskrankheiten werden ausgeweitet. Diese Erweiterungen mögen oft nur Einzelfälle betreffen und dort auch gerechtfertigt und wünschenswert sein. Erfahrungsgemäß sind aber gerade Einzelfallentscheidungen in diesem Bereich mit einer langfristigen Präzedenzwirkung verbunden, und diese sind nicht zu unterschätzen. Im Interesse eines stabilen und finanziell tragfähigen Unfallversicherungssystems sind gerade diese Vorschriften einer besonders kritischen Bewertung zu unterziehen. Ausdrücklich zu begrüßen ist die Erweiterung des Versicherungsschutzes für Kinder in Tageseinrichtungen. Rund 900 000 Kinder kommen hierdurch in den Genuß einer Unfallversicherung. Das ist sicherlich ein allseits begrüßenswerter Schritt,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- wenn ich den Satz zu Ende führen darf, Frau Präsidentin -, zumal der Gesetzentwurf nach Angaben der Bundesregierung weitgehend kostenneutral ausgestattet werden konnte. Bitte schön.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Babel, ist Ihnen bekannt, daß die Berufsgenossenschaften fast nur mit juristischen Mitteln zu zwingen sind, eine Berufsrente anzuerkennen? Selbst wenn es schon Präzedenzfälle gibt, wird immer wieder mit juristischen Auseinandersetzungen angefangen. Ist Ihnen diese Tatsache überhaupt bekannt?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß natürlich, daß wir diese Auseinandersetzungen haben. Aber die Frage ist ja außerordentlich schwierig zu beantworten, wieweit eine Erkrankung, gerade wenn sie sich auch im psychischen Bereich zeigt, berufsbedingt, arbeitsplatzbedingt ist, von der Arbeitsstätte herrührt oder wieweit sie andere Ursachen hat. Sie gehen davon aus, daß Arbeit immer krank macht. ({0}) Davon gehe ich nicht aus, sondern ich gehe davon aus, daß es sehr viele andere Umstände gibt, die zu Erkrankungen führen können. Bei der Auseinandersetzung, wann eine Berufskrankheit vorliegt, die ja dann - wie auch Sie wissen - allein von den Arbeitgebern zu tragen ist, sollten Sie, glaube ich, große Sorgfalt anwenden. ({1}) Die F.D.P. hofft aber - wie alle Vorredner -, daß wir in den anstehenden Beratungen fruchtbare Gespräche führen werden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Babel, ich finde es schon erstaunlich, wie lax Sie hier mit Vorhaben der Regierungskoalition für diese Legislaturperiode umgehen. Ich meine Ihre Anmerkungen zum Arbeitsschutzrahmengesetz. Sie als Regierungskoalition haben es zu verantworten, daß Sie Ihre Schularbeiten in der 12. Legislaturperiode nicht gemacht haben und damit die nationale Umsetzung der EU-Richtlinie diesbezüglich immer noch aussteht. ({0}) Außerdem sollten wir als Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker einen erhöhten Wert auf Prävention legen und nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. ({1}) Dann ist es bekanntlich schon zu spät. ({2}) Im Grundsatz begrüßt die PDS das Vorhaben, nun endlich auf dem Gebiet der Unfallversicherung das geltende Recht in ein Sozialgesetzbuch einzuordnen. Hier wesentliche Teile übersichtlicher und transparenter zu gestalten war schon längst fällig. Für unterstützenswert halten wir das Anliegen, den Bereich der Prävention auszudehnen und den Versicherungsschutz auszuweiten sowie Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen und sozialen Rehabilitation zu verstärken. Als problematischer sehen wir die Regelungen zur Einschränkung des Leistungsrechts an, insbesondere die Einführung von Festbeträgen für Arznei-, Verbands- und Hilfsmittel. Vor allem aber vermissen wir eine enge Verbindung des Unfallversicherungsrechts mit den Vorschriften und Regelungen des Arbeitsschutzes. Die Notwendigkeit einer derart engen Verzahnung ergibt sich schon aus den konkreten Fakten und Zahlen. Ich denke zunächst an die beträchtlichen Kosten, die Betriebe für krankheits- und unfallbedingte Fehlzeiten aufzubringen haben. Wenn über 95 % aller am Halte-, Stütz- und Bewegungsapparat Erkrankten an sogenannten degenerativen Formen leiden, die überwiegend auf Verschleiß und Überbeanspruchung zurückzuführen sind und bei einer entsprechenden Arbeitsschutzregelung und Arbeitsplatzgestaltung in großem Umfang zu vermeiden wären, spricht das für die Bedeutung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Unfallvermeidung. Unterlassener Arbeitsschutz erhöht in der Tat die Lohnnebenkosten. Beachtet werden muß auch, daß die höchste Unfallhäufigkeit in Betrieben mit 20 bis 200 Beschäftigten anzutreffen ist. Dort wird gegen die Festlegungen des Arbeitssicherheitsgesetzes am meisten verstoßen. Unverständlich ist, daß erneut für die Beamten Sonderregelungen zur Anwendung gelangen sollen. Damit wird nicht nur für eine Gruppe Sonderrecht geschaffen, sondern auch die Chance für eine Vereinheitlichung des Rechts vertan. Im Sinne der Petra Bläss Gleichbehandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern, Angestellten und Beamten fordern wir, daß die Beamten in die gesetzliche Unfallversicherung einbezogen werden. Meine Damen und Herren, wiederum hat es die Bundesregierung versäumt, eine wirkliche Strukturreform zur Diskussion vorzuschlagen. Mit dem uns vorliegenden Entwurf für die Einordnung des Unfallversicherungsrechts in das Sozialgesetzbuch sollen die heutigen organisatorischen Strukturen der Unfallversicherungsträger fast unverändert übernommen werden. Kollegin Buntenbach hat bereits auf die Folgen für die Kommunen aufmerksam gemacht. Ich denke, hier sollten wir insbesondere mit unseren Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern in Dialog treten. Damit wird die einmalige Chance zu einer Reform der Organisationsstrukturen noch nicht einmal gedanklich wahrgenommen. Noch aber haben wir die Möglichkeit, hier tätig zu werden. Ich danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit dem uns vorliegenden Entwurf der Bundesregierung sind zweifellos Weichen richtig gestellt. Aber - das sage ich auch - es hätten ruhig ein paar mehr Weichen sein können. Frau Babel, Ihrer Schilderung entnehme ich, daß die Welt in den Betrieben in Ordnung ist. Ich denke, daß dem nicht so ist. Es ist hinreichend bekannt, daß eine Vielzahl von Arbeitsstoffen insbesondere zu Krebserkrankungen, Erkrankungen der Atemwege, des Nervensystems - um nur einige zu nennen - oder des Immunsystems und zu Allergien führen. Nach wie vor existieren physikalische Belastungen der Arbeitnehmer in Form von Lärm, Vibrationen, Strahlen, Hitze, Kälte und beeinträchtigen in vielfältiger Weise die Gesundheit. Nach wie vor erleiden Arbeitnehmer körperlichen Verschleiß durch schwere Arbeit, Zwangshaltungen und einseitige Belastungen. Dies führt zu Erkrankungen des Bewegungs- und Stützapparates. Wenn Sie sich einmal Statistiken der Rentenversicherungsträger in bezug auf Reha-Anträge ansehen, finden Sie bestätigt, daß die Erkrankung des Bewegungsapparates fast 50 % der Antragsgründe ausmacht. Auch Termindruck, Arbeitshetze, nervliche und physische Überbeanspruchungen durch eine auf Leistungsausschöpfung abzielende Arbeitsorganisation, Schicht- und Nachtarbeit verursachen HerzKreislauf-Erkrankungen und führen zu Störungen der menschlichen Beziehungen und zur Entsolidarisierung der Arbeitnehmer. Mehrfachbelastungen durch eine Vielzahl dieser Risikofaktoren, denen die meisten arbeitenden Menschen ausgesetzt sind, sind Ursache einer bisher weit unterschätzten Schädigung der Gesundheit. Deshalb, meine ich, muß der Schutz der Arbeitnehmer vor Gesundheitsrisiken als Instrument präventiver Sozialpolitik begriffen und ausgebaut werden. Die Verhütung von Gesundheitsrisiken kann sowohl betriebliche als auch überbetriebliche Sozialkosten senken. Ich denke, daran müssen wir alle ein Interesse haben. ({0}) Ein Wort zum Berufskrankheitenrecht: Das geltende Berufskrankheitenrecht läßt zu, daß Arbeitsschutzmaßnahmen unterbleiben, weil wegen der überzogenen Beweisanforderungen das Vorliegen von Berufserkrankungen geleugnet und die Notwendigkeit, etwas zu verändern, bestritten werden kann. Der Arbeitnehmer - bzw. die Arbeitnehmerin - ist in der Situation der zweifachen Beweislast. Er muß erstens Beweis führen, daß ein Zusammenhang zwischen seiner Krankheit, seiner Arbeit, den Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmitteln besteht, und zweitens beweisen, daß die Erkrankung dadurch verursacht wurde. Wie will, wie kann er dies beweisen? Ohne Zustimmung des Arbeitgebers kann er keine Untersuchungen oder Messungen am Arbeitsplatz durchführen, und ohne Ergebnisse kann er keinen Beweis führen. Die offizielle Berufskrankheitenstatistik von 1993 weist rund 109 000 Berufskrankheitsanzeigen und 6 491 entschädigte Fälle aus. Nach meiner Ansicht spiegelt dies nur einen geringen Teil des tatsächlichen Umfangs der gesundheitlichen Schädigungen in der Arbeitswelt wider. Gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen sind noch immer die Hauptursache für Krankenstand, Schwerbehinderung, Frühinvalidität und Frühsterblichkeit. Uns ist es ein Anliegen, daß der Arbeitnehmer gegenüber den Berufsgenossenschaften gestärkt wird. Wenn der Arbeitnehmer beweisen soll, daß die Faktoren, die zu seiner Erkrankung führten, arbeitsbedingt sind, ist er einfach in der schwächeren Position. ({1}) Diejenigen, die bezahlen sollen, haben in den Verfahren - so ist es jetzt halt - einfach den längeren Atem. Wir sehen in der Beweislastumkehr eine Verbesserung für die Situation der Arbeitnehmer. ({2}) Wir denken, daß durch eine Beweislastumkehr zugunsten der Arbeitnehmer notwendiger Handlungsdruck zur Ergreifung präventiver Maßnahmen bei Herstellern von Produkten und Anlagen erzeugt wird. Mir wurde dieser Tage wieder einmal ein Fall geschildert, bei dem ein Arbeitnehmer nach einer Erkrankung, die durch Lösemittel verursacht wurde, nach achtjähriger Prozessiererei gerade einmal 10 000 DM Abfindung erhalten hat. Vier weitere Prozeßjahre mußten vergehen, damit der Mann eine Rente erhielt. Betriebsräte und betriebliche Praktiker können Ihnen viele Fälle schildern - mir werden sie geschildert -, bei denen Kläger oder Klägerinnen das Ende des von ihnen angestrengten Prozesses nicht erlebten. Ein kritischer Punkt ist dabei aus unserer Sicht das Gutachterwesen. Manche bezeichnen es als Gutachterunwesen. ({3}) In Berufskrankheitenverfahren ist dies ein großer Schwachpunkt. Gutachter müssen aus unserer Sicht zwingend neutral sein und dürfen nicht Büttel einer Partei sein. ({4}) Deshalb ist es unbedingt notwendig, daß es auf keinen Fall eine Verbindung des Gutachters mit dem Betrieb, in dem sozusagen die Beweiserhebung erfolgt, geben darf, auch nicht aus früherer Tätigkeit. ({5}) Klare Regelungen müssen dies verhindern, und für erkrankte Arbeitnehmer darf auch nicht der Anschein bleiben, daß ein Verfahren zur Anerkennung einer Berufskrankheit einem Lotteriespiel gleicht. Ich denke, auch die Berufskrankheitenliste muß dringend weiterentwickelt werden und sich auf die neuen Gefahrenstoffe einlassen. In dem Gesetzentwurf - das will ich durchaus anerkennen - ist die Lücke des Versicherungsschutzes kraft Gesetzes für Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen geschlossen worden - eine Forderung, die schon lange erhoben wurde. Klargestellt werden sollte allerdings, daß auch die Kinder versichert sind, die private Tageseinrichtungen besuchen. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Es gibt verschiedene Bestrebungen aus der Wirtschaft, das Wegeunfallgeschehen aus dem Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung herauszunehmen. Geben Sie diesem Druck nicht nach! Entgegen Äußerungen der Wirtschaft sehen wir durchaus Möglichkeiten der Unternehmen, das betriebliche Wegeunfallgeschehen zu beeinflussen. Festzuhalten ist ganz einfach, daß Wegeunfälle im langfristigen Vergleich zurückgehen. Dies hat etwas mit der Prävention der Betriebe und auch der Berufsgenossenschaften zu tun. Kolleginnen und Kollegen, in den weiteren Beratungen, in der Anhörung wird die SPD-Fraktion ihre Position verdeutlichen und reagieren. Unfallversicherungen und Arbeitsschutz müssen Leben und Gesundheit der arbeitenden Menschen auf einem möglichst hohen Niveau schützen, bewahren und fördern. Arbeitnehmer müssen grundsätzlich den gleichen Anspruch auf Gesundheitsschutz haben wie die übrige Bevölkerung. Lassen Sie uns daran arbeiten! ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 13/2204 und 13/2333 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen ({0}) - Drucksache 13/2414 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Hans Büttner ({2}), Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Angleichung der Arbeitsbedingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern ({3}) - Drucksache 13/2418 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundesregierung hat zunächst Herr Bundesminister Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir brauchen das Entsendegesetz. Wir wollen Freizügigkeit und fairen Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt. Aber Lohndumping ist nicht der Stoff, aus dem Zustimmung zu Europa entsteht. Es gilt der uralte Tarifgrundsatz: Gleicher Lohn bei gleicher Arbeit am gleichen Arbeitsort. Das ist ein elementares Gesetz der Tarifautonomie. Ohne diesen Grundstock funktioniert ein Tarifvertrag überhaupt nicht. Der Durchschnittslohn auf dem Bau beträgt in Deutschland 23,09 DM, in Großbritannien 14,43 DM, in Portugal 3,97 DM. Soll an der gleichen Baustelle einer für 4 DM und ein anderer für 23 DM arbeiten? Bundesminister Dr. Norbert Blümm Die ausländische Firma nützt die deutsche Infrastruktur, die auch mit den Steuermitteln der deutschen Arbeitnehmer gebaut wurde. Das ist der Unterschied zu Importprodukten, die mit billigen Löhnen hergestellt werden. Wer dem deutschen Bauarbeiter portugiesische Löhne zumutet, muß ihm auch portugiesische Preise anbieten. ({0}) Der portugiesische Arbeiter kann mit seinem Lohn bei portugiesischen Preisen seine Familie ernähren. Der deutsche Bauarbeiter kann mit portugiesischen Löhnen nicht seine deutsche Familie ernähren. Wenn zwei Maurer an der gleichen Mauer mit zwei unterschiedlichen Löhnen arbeiten, der eine für 4 DM, der andere für 23 DM, wird entweder der eine urn seinen gerechten Lohn betrogen oder der andere - was wahrscheinlicher ist - arbeitslos. Derzeit haben wir 150 000 legal in Deutschland arbeitende ausländische Kollegen auf dem Bau, gleichzeitig haben wir 140 000 deutsche Bauarbeiter, die arbeitslos sind. ({1}) - Eine Entsenderichtlinie. Wenn Sie mir noch genauer zuhören, Herr Schreiner, werden Sie gleich hören, was sie macht. ({2}) 100 000 Arbeitslosengeldbezieher kosten 3 Milliarden DM. Bei 100 000 Arbeitslosen entsteht ein Steuerausfall von 1 Milliarde DM. 100 000 Arbeitslose bedeuten einen Beitragsausfall in der Sozialversicherung von 2 Milliarden DM. Und die Pleitewelle rollt über die deutschen Baufirmen. Die Insolvenzen haben im Westen seit 1992 um 24 % zugenommen, im Osten von 1994 auf 1995 um 90%. ({3}) Ohne Entsendegesetz schaffen wir ein dreifaches Programm: Erstens ein Programm zur Förderung der Arbeitslosigkeit, zweitens ein Programm von Firmenzusammenbrüchen und drittens ein Programm zur Förderung von Europaskepsis. Diesem dreifachen Förderungsprogramm können wir nicht tatenlos zusehen. Andere Länder haben gehandelt, z. B. Frankreich, Belgien, Österreich. In Luxemburg wird eine Initiative vorbereitet. Andere haben gehandelt, wir handeln auch. Ohne Entsendegesetz werden Tarifverträge wertlos. ({4}) - Zu Ihrem Gesetz komme ich noch; beruhigen Sie sich. - Ohne Entsendegesetz inszenieren wir eine Völkerwanderung. Das Entsendegesetz ist nicht ausländerfeindlich; das will ich noch einmal ausdrücklich festhalten, damit wir hier nicht in eine falsche Richtung gedrängt werden. Die Arbeitnehmer aus den Ländern der Europäischen Union können hier arbeiten. Wir haben einen europäischen Sozialraum. Niemand will zumachen. Niemand will die Rolläden heruntermachen und national absperren. Aber wir kämpfen für einen Wettbewerb. Man kann keinen Wettlauf veranstalten, bei dem der eine mit Turnschuhen läuft und der andere mit Stiefeln. Darum geht es uns: um den fairen Wettbewerb, um die faire Chance. 23 DM Stundenlohn gegen 4 DM Stundenlohn, das ist kein fairer Wettbewerb. Freizügigkeit auf dem europäischen Binnenmarkt - ich fürchte, das haben manche noch gar nicht begriffen - ist nur an einen Firmensitz in der Europäischen Union gebunden. Albanische Unternehmen brauchen nur einen Firmensitz in Saloniki, um hier mit Billiglohnkolonnen anzurücken. Wer ein Firmenschild in Portugal hat, kann mit Bauarbeitern aus aller Herren Lander hier anreisen und arbeiten. Warum sollten sich die Polen noch um Werkvertragskontingente bemühen? - Unkontingentiert, ohne Entsenderichtlinie brauchen sie nur einen Firmensitz in einem Land der Europäischen Union. Dann brauchen sie keine Werkverträge mehr. Dann können sie sich un-kontingentiert hier niederlassen. Ich frage mich: Warum gibt es eigentlich Asylgesetzgebung? - Das Asylgesetz verliert seine Steuerungsfunktion gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen. Es gibt eine Völkerwanderung. Wir können aber nicht die Armutsprobleme lösen. Das Asylgesetz soll politisch Verfolgte retten, aber es war nie für Wirtschaftsflüchtlinge gedacht. Aber ohne Entsendegesetz brauchen sie keine Asylgesetzgebung. Sie können über ein Firmenschild in Europa von überall herkommen. Ich verstehe ja die Not vieler Menschen. Ich verstehe das sehr gut. Nur können wir die Armutsprobleme der Welt nicht in Deutschland lösen. Die Arbeitsplätze müssen dorthin, wo die Menschen zu Hause sind. Die europäische Entsenderichtlinie wird umso chancenreicher, je mehr Länder die nationale Notbremse ziehen. Unsere Regelung steht nicht einer europäischen Lösung im Wege. Unser Vorschlag ist ein sauberes ordnungspolitisches Angebot. Wir bevorzugen den Weg über die bewährten Instrumente der Tarifautonomie. Wenn die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände das Angebot ausschlägt, muß sie wissen, was sie tut. Ein Verband, der ein in Bedrängnis geratenes Mitglied, die Bauwirtschaft, im Stich läßt, muß sich nicht wundern, wenn ihm die Mitglieder weglaufen. Das kann das Interesse von niemandem sein, ({5}) der es mit der Ordnungsfunktion der Sozialpartnerschaft gut meint. Wer Sozialpartnerschaft will, braucht starke Gewerkschaften. Er braucht allerdings auch starke Arbeitgeberverbände. Das funktioniert auf beiden Seiten nicht, wenn es keine Solidarität gibt. Dann verliert Sozialpartnerschaft ihre Ordnungsfunktion. Ich hoffe deshalb, daß die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nicht ihr letztes Wort gesprochen hat. Ich bin deshalb auch nicht ohne Hoffnung und Erwartung. Sie hat nämlich in den letzten drei Jahren ihre Position dreimal gewechselt. Da kann sie diese auch noch ein viertes Mal wechseln. Bis zum Jahre 1992 hat sie abgelehnt, 1994 hat sie zugestimmt und im Jahre 1995 wird wieder abgelehnt. Sie hat auch der europäischen Richtlinie zugestimmt. Auch eine europäische Richtlinie müßte national so umgesetzt werden, wie wir es jetzt versuchen. Jetzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu dem SPD-Entwurf. Er ist, was sein Ziel angeht, gut gemeint - das will ich gar nicht bestreiten -, nur taugt er nicht viel. ({6}) Wollen wir doch einmal Argumente austauschen. Ortsübliche Arbeitsbedingungen zum Kriterium zu machen hilft uns deshalb nicht weiter, weil ein deutscher Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, nicht zur Zahlung von ortsüblichem Lohn gezwungen ist. Er ist frei. Der ausländische Unternehmer soll aber an die Ortsüblichkeit gebunden werden. Das ist eine Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber gegenüber einem Deutschen, der nicht tarifgebunden ist. Das verstößt gegen das EG-Recht - um Sie darauf aufmerksam zu machen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind nicht ganz konsequent geblieben: Das, was Sie für den Baubereich mit den Turnschuhen und mit den Stiefeln beschrieben haben, trifft nicht nur auf das Bauhauptgewerbe zu, sondern es betrifft das ganze Baugewerbe. Das trifft sogar auf andere Branchen zu. Warum machen Sie nur einen halben Schritt und wollen nur das Bauhauptgewerbe in Ihr Entsendegesetz aufnehmen? Das ist dann irgendwo unlogisch. Ihre Stiefeltheorie trifft auch bei den anderen zu.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Man kann über den Umfang der Regelung immer streiten. Wir wollten kein die gesamte Wirtschaft umfassendes Entsenderecht. Der Kernpunkt ist das Bauhauptgewerbe. Man kann sehr wohl über diese Grenze streiten. Aber darin, daß wir nicht die gesamte Wirtschaft wie einen Ölflecken mit Entsenderichtlinien überdecken, sollten wir übereinstimmen. ({0}) - Dann will ich es noch einmal erklären: Der ortsübliche Lohn muß erst einmal festgestellt werden. An diesen ortsüblichen Lohn ist ein deutscher Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, nicht gebunden. An diesen ortsüblichen Lohn soll allerdings der ausländische Arbeitgeber gebunden werden. Das wäre eine Diskriminierung der ausländischen Firma. ({1}) - Ich bin noch nicht fertig, Herr Kollege Gilges. Ich will diesen Punkt noch zu Ende bringen. Der SPD-Entwurf ist darüber hinaus bürokratisch. Es muß ein Expertenteam klären, was ortsüblich ist. ({2}) Da würden die nicht tarifgebundenen Löhne auch gewichtet werden. Da muß man auch klären, in welcher Tarifgruppe der ausländische Arbeitnehmer eingestuft werden soll. Das bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, weil die ausländischen Arbeitnehmer zum Teil aus ganz anderen Berufsbildern kommen. Bei einem Verstoß bis 20 % unter Tariflohn wird ein Bußgeld erhoben, bei über 20 % folgt ein Strafverfahren. Herr Kollege Gilges, ich sage noch einmal, im Ziel stimmen wir überein. Deshalb gibt es vielleicht auch in den Beratungen des Bundestages die Gelegenheit, im Ausschuß - ich habe nur auf die rechtlichen Probleme Ihres Vorschlages aufmerksam gemacht - an einem Strang zu ziehen und ein Entsendegesetz zustande zu bringen, das tatsächlich die deutschen Bauarbeiter schützt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Gilges?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte schön.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Blüm, Ihnen ist doch sicher bekannt, daß in der Regel in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar zu 99,999 %, das kollektive Recht der Entlohnung gilt, unabhängig davon, ob es arbeitsrechtlich abgesichert ist oder nicht abgesichert ist. Die Frage steht überhaupt nicht zur Disposition. Weshalb bauen Sie dann hier so einen Popanz auf? Nur weil sich das Publikum in diesen differenzierten Situationen nicht auskennt? Sie verKonrad Gilges suchen doch, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es Arbeitnehmer, die nicht tarifgebunden sind. Der einzelne Arbeitnehmer ist in der Regel tarifgebunden, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Die Frage, ob ein Tarif in einem Betrieb oder auf der Baustelle bezahlt wird, ist nicht das Problem des Arbeitnehmers, sondern ist das Problem des Arbeitgebers. Das heißt, Sie bauen einen Popanz auf, der in der Realität überhaupt nicht besteht, der rechtlich auch nicht bestritten ist. ({0}) Vielleicht führen wir das doch einmal auf die Wirklichkeit zurück. Unser Gesetzesvorschlag ist deswegen gut, weil dadurch natürlich der Arbeitnehmer, der Maurer aus Portugal, denselben Stundenlohn bekommt wie der deutsche Arbeitnehmer, der türkische oder sonstige. ({1}) - Herr Kollege Louven, die Frage lautet, ob er das weiß oder nicht weiß ({2}) oder ob er wider besseres Wissen hier redet.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Kollege Gilges, ich weiß, daß ein deutscher Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, nicht verpflichtet ist, seinem Arbeitnehmer den Tariflohn zu zahlen, es sei denn, der Tarifvertrag wäre allgemeinverbindlich. Das gehört zum ABC des Tarifrechtes. ({0}) Insofern interessiert es den Arbeitnehmer doch schon. Denn der Arbeitnehmer ist ja auf seinen Lohn angewiesen. Der Arbeitgeber zahlt den Lohn. Er ist, wenn er nicht tarifgebunden ist, nicht verpflichtet, den Tariflohn zu zahlen. ({1}) Das würden Sie allerdings bei Feststellung der Ortsüblichkeit dann von einem ausländischen Arbeitgeber verlangen. Sie können diesen Unterschied zwischen deutschem Arbeitgeber und ausländischem nicht machen. Wir gehen den einfachen Weg über die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags. Sie könnten es auch mit einem Mindestlohn schaffen. Aber so, wie Sie es wollen, können Sie es nicht schaffen. Wir bleiben in der bewährten Struktur des deutschen Tarifrechts. Wir machen ein Angebot an die Arbeitgeber. Ich kann auch nur nochmals sagen: Ich hoffe, daß auch der Dachverband der Arbeitgeber versteht, um was es geht. Es geht nicht nur um die Entsenderichtlinie. Es geht darum, ob Arbeitgeberverbände solidarisch auch ihre Mitgliederverbände schützen, ob man ein in Bedrängnis geratenes Mitglied - und die Bauwirtschaft ist in Bedrängnis - im Stich läßt. Und wenn man es im Stich läßt, darf man sich nicht wundern, wenn Verbandskraft auseinanderbricht. Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn die Verbandsflucht zunimmt. Ich bin daran nicht interessiert. Denn je schwächer die Tarifpartner sind, um so mehr wird nach dem Staat gerufen. In die Lücke, die die Tarifpartner lassen, springt immer der Staat ein. Und wer nicht Verstaatlichung will, der muß dafür sorgen, daß beide Tarifpartner handlungsmächtig bleiben, Ordnungsfaktoren bleiben. Deshalb mein Appell im wohlverstandenen Interesse der Arbeitgeber - es geht über die Entsenderichtlinie hinaus -, daß sie das Mindestmaß an Solidarität, das zu jedem Verband gehört, auch gegenüber den Arbeitgebern im bedrängten Baubereich wahren. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Andrea Fischer?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte schön.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ich möchte jetzt einmal genauer nachfragen. Sie sagten, Sie setzen auf die Allgemeinverbindlichkeitserklärung, und Sie appellieren an die Arbeitgeber, das zu unterstützen. Ohne die Zustimmung der Arbeitgeber können Sie keine Allgemeinverbindlichkeitserklärung unterzeichnen. ({0}) Das heißt, Sie beschränken sich jetzt auf Appelle. Oder fällt Ihnen noch etwas anderes ein, nachdem jetzt der BDA -Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Mir fällt ein, daß der Gesetzgeber ein Angebot macht. Und darauf müssen die Tarifpartner antworten. ({1}) - Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Der BDA hat dreimal die Position gewechselt. Da wollen wir einmal sehen, wie es weitergeht und wie wir das Problem lösen. - Ich weiß gar nicht, warum wir uns heute so zerstreiten. ({2}) Wir sind uns doch im Ziel einig. Laßt uns auf dem Weg auch dafür sorgen, daß dieses Ziel von uns gemeinsam erreicht wird! ({3}) Und dann sprechen wir darüber, wer den besseren Weg hat. ({4}) - Ich habe ja nur auf Mängel Ihres Gesetzentwurfes hingewiesen, auf rechtliche Mängel. ({5}) Verehrte Frau Kollegin - Sie können ruhig sitzen bleiben. ({6}) - Um Gottes willen! Wie könnte ich es mir zuschulden kommen lassen, auf Ihre so freundliche Frage nicht zu antworten? Also, ich habe eigentlich alles gesagt. Ich bedanke mich für Ihre Frage. ({7}) Ich schließe meinen Redebeitrag; es ist ja gar nicht so lustig: Wer es gut mit Europa meint, der muß der Entsenderichtlinie zustimmen. Wir haben ja nicht nur Freunde in Europa, und Extremisten kochen ihr nationales Süppchen. Wenn Europa dazu führen würde, daß ein bewährtes Tarifsystem zusammenbricht, dann wird Europa Freunde verlieren. Das wird den Extremismus stärken. Europa muß ja auch ein soziales Europa sein. Das kann man nicht dadurch erreichen, daß sich die Vorreiter sozusagen auf das Niveau der Nachzügler begeben. Wir brauchen in einer Übergangsphase Übergangsregelungen. Ich wünsche mir kein Europa, das ewig mit Entsenderichtlinien arbeiten muß. Das ist nur für eine Übergangszeit. Die Soziale Marktwirtschaft ist ja keine Wildwestwirtschaft. ({8}) Für eine Übergangszeit brauchen wir so etwas. Ich wünsche mir einen europäischen Binnenmarkt, in dem wir keine Entsenderichtlinien brauchen. Ich will nur noch einmal auf folgendes hinweisen: Der Unterschied zwischen der Tatsache, daß im Ausland billig Produkte hergestellt werden können, und dem, was wir mit der Entsenderichtlinie regeln wollen, besteht darin, daß in bezug auf die Entsenderichtlinie gilt, daß am gleichen Ort gleicher Lohn gezahlt werden muß. An diesem Ort wird ja auch die Infrastruktur von den ausländischen Anbietern in Anspruch genommen. Kein deutscher Bauarbeiter kann mit einem Lohn, wie er in Portugal üblich ist, seine Familie ernähren; das kann nur der portugiesische Arbeitnehmer. Ich fasse zusammen: Wer es mit Europa gut meint, muß zustimmen. Wer die inländischen Baufirmen nicht ruinieren will, wer die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, der muß dem Entsendegesetz zustimmen. Ich bin nicht sicher, ob alle die Brisanz dessen verstehen, worüber wir heute diskutieren. Auf deutschen Baustellen brennt es. Die Illegalität nimmt zu. Ohne Entsenderichtlinie sind die Billiglöhne gar nicht illegal; sie sind dann sogar noch legal. Dem Kampf gegen die Illegalität eröffnet sich noch ein weiteres Feld. Wer es gut mit der Entwicklung nicht nur auf dem Baumarkt meint, wer es nicht nur mit den Bauhandwerkern, den Bauunternehmern und den Bauarbeitern, sondern wer es mit Europa gut meint, der wird einer Entsenderegelung zustimmen. Der bewährte Weg dahin - das muß sich jeder überlegen - ist die Allgemeinverbindlichkeit der Abmachungen der Tarifpartner. Wer das Prinzip der Allgemeinverbindlichkeit zur Lösung dieses Problems torpediert, der darf sich nicht beschweren, wenn immer mehr nach dem Staat gerufen wird, wenn der Trend zur Verstaatlichung zunimmt. Weil ich das nicht will, weil ich ein Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft bin, bin ich dafür, ein Angebot an die Tarifpartner zu machen. Dann werden wir weitersehen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat hier das gleiche Spiel gespielt wie bei den vergangenen Gesetzesvorlagen, die zum Sozialabbau in Deutschland führten. In bezug auf die Lyrik, Herr Minister. stimmen wir völlig überein. ({0}) Doch wie immer in der Vergangenheit machen Inhalt und Begleitmusik des hier vorliegenden Gesetzentwurfes deutlich: Die Bundesregierung Kohl ist an chancengleichen Arbeits- und Sozialbedingungen in Europa nicht interessiert, ({1}) sondern benützt den europäischen Einigungsprozeß zum Abbau humaner Arbeitsverhältnisse in Deutschland. ({2}) - Ich werde Ihnen das noch beweisen; machen Sie nicht so undifferenzierte Zwischenrufe. ({3}) Die Regierung stellt sich damit in Gegensatz zu den Regierungen Frankreichs, Hollands, Österreichs und Dänemarks, die längst das europakonforme Prinzip, nach dem die Arbeitsbedingungen des Produktionsstandorts Maßstab für die Beschäftigungsverhältnisse sind, formuliert und in die nationale Gesetzgebung umgesetzt haben. Im Wissen um die ablehnende Haltung der Arbeitgeberverbände, Herr Bundesarbeitsminister, und im Wissen um die ablehnende Haltung der F.D.P. - denn Hans Büttner ({4}) bereits bei der Anhörung zu unserem Antrag zum Entsendegesetz ist deutlich geworden, daß die BDA hier nicht nur zögerlich, sondern ablehnend ist -, haben Sie diesem Hause einen Gesetzentwurf präsentiert, der nicht einmal den Minimalanforderungen der am stärksten betroffenen Branche, nämlich der Bauwirtschaft, entspricht und der nach dem ablehnenden Beschluß der BDA über die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge auch kaum Realität werden wird. Herr Arbeitsminister, wenn Sie Ihre auf internationalen Konferenzen und hier im Hause mit großem Pathos vorgetragenen Erkenntnisse zur Notwendigkeit sozialer Verhältnisse im Arbeitsleben wirklich ernst nähmen, dann müßten Sie eigentlich Ihren Gesetzentwurf sofort an der tiefsten Stelle des Rheins versenken, statt damit die Öffentlichkeit und die Betroffenen weiter zu täuschen. ({5}) Sie, meine Herren von der CDU/CSU, die sich empört über das Kruzifix-Urteil geäußert ({6}) und am vergangenen Samstag in München dagegen demonstriert haben, müßten den Regierungsentwurf als Ausbund der Heuchelei zurückweisen und dem vorliegenden Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Ich sage das deswegen, weil wir Sie daran messen werden, wie Sie das Kreuz in der Praxis, auch in der Politik, wie Sie christliche Wertmaßstäbe umsetzen werden. Diese ständige Trennung, hier das Kreuz herzuzeigen und in der Praxis unchristliche Politik zu betreiben, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({7}) - Ich überlege genau, was ich sage, Herr Laumann. Ich sage das deswegen, weil die Praxis dieser Bundesregierung im Umgang mit illegalen Beschäftigungsverhältnissen, mit Werkverträgen und auch mit der Entsendeproblematik deutlich macht, daß sie das, was Herr Blüm mit vollem Recht unterstreicht, in der Wirklichkeit nicht ernst nimmt. Es hat zwei Jahre gedauert, bis diese Bundesregierung endlich den Mißbrauch der Werkverträge beseitigt hat, daß Unternehmen Arbeitnehmer entlassen und hinterher durch Werkvertragsarbeitnehmer ersetzt haben. ({8}) - Nachdem die Werkverträge kaum mehr eine Rolle spielten, haben Sie sie beseitigt. Besonders gestört hat mich, was ich dieser Tage über die leider nicht öffentlichen Verhandlungen, die anscheinend im Ministerrat stattgefunden haben, entnehmen mußte. Wenn das zutrifft, was im „Focus" als Zitat von Lord Carrington und Denis Healey verkündet worden ist, daß das Fehlen der Zustimmung Großbritanniens und damit die jetzige Form der europäischen Sozialcharta durch das Zugeständnis Großbritanniens erkauft worden ist, Kroatien anzuerkennen, dann ist die Frage erlaubt: Wie ernst hat eigentlich die Bundesregierung - entgegen ihrer Ankündigungen - um ein einheitliches soziales Europa gekämpft? Die Situation auf den Baustellen, aber auch in anderen Branchen der Wirtschaft zeichnet sich heute durch Verhältnisse aus, die es zulassen, daß ausländische Unternehmen auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland quasi arbeits- und sozialrechtsfreie Räume schaffen, mit dem Ergebnis, daß Arbeitsverhältnisse existieren, bei denen ausländische Arbeitnehmer nicht einmal mehr als 8 DM pro Tag bezahlt bekommen, kaserniert werden usw. ({9}) - Ihr Entsendegesetz - wie gesagt - ist auf die Zustimmung der Arbeitgeberverbände aufgebaut. Es ist nicht ausreichend, weil es allein die Baubranche berührt und es um alle Bereiche der Wirtschaft geht. Wenn Sie sich ein bißchen genauer umschauten, dann würden Sie wissen, daß dazu erst einmal das volle Ausbaugewerbe gehört, aber daß auch in der Metallindustrie, im Hotel- und Gaststättengewerbe, im chemischen Bereich und anderswo die Problematik entsandter Arbeitnehmer insgesamt eine gleiche Rolle spielt. ({10}) Zum zweiten. Ihr Entsendegesetz sieht keinerlei vernünftige Kontrollmöglichkeiten vor. Sie übertragen dies alles den Ländern, ohne die bewährte und notwendige Verbindung der Arbeitsverwaltung, die allerdings auch hier nicht den nötigen Druck und die nötige Unterstützung seitens der Regierung hat, um steigenden Druck auszuüben. Im Gegenteil: Sie legalisiert auch noch illegale Beschäftigungsverhältnisse unter dem Begriff „im Interesse Deutschlands". ({11}) - Herr Laumann, brüllen Sie nicht so. Plärren Sie nicht so. Hören Sie lieber ein bißchen zu. ({12}) Zum dritten. Herr Blüm, Sie haben behauptet, der SPD-Entwurf sei nicht europakonform. Ich darf Ihnen eines sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl die letzten Vorschläge der Europäischen Kommission wie auch alle Expertisen der Verfassungsrechtler erlauben sehr wohl den in der Bundesrepublik rechtlich gefaßten Begriff der Ortsüblichkeit. Das ist ein Begriff, der auch im deutschen Arbeitsrecht vorkommt, der Maßstab bei der Gewährung von Arbeitslosengeld ist, der auch Maßstab bei Gerichtsverfahren im Arbeitsrecht ist. Es gilt, diesen Begriff einHans Büttner ({13}) zuführen und anzuwenden. Er war auch im Vorschlag der Europäischen Kommission für die europäische Entsenderichtlinie enthalten. Er ist nicht europawidrig, sondern sehr wohl europakonform. ({14}) Darüber hinaus zeichnet sich unser Gesetzentwurf dadurch aus, daß er sich - wie gesagt - nicht auf die Baubranche beschränkt, weil wir es mit Ihrer Aussage ernst nehmen, gleichen Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen am gleichen Arbeitsplatz für alle einzuführen. Auch ist das Problem, wie Sie mit Recht sagen, nicht dadurch beseitigt, daß wir nur EU-Ausländer unter dieses Recht stellen, sondern es muß für alle gelten, die auf diesem Ticket nach Europa kommen können. Deswegen müssen wir von vornherein ein Tor schließen, das sich jetzt schon scheunenweit geöffnet hat, damit wir Mißstände von vornherein abbauen. Ich bedaure die Praxis der Regierung, die deutlich macht, daß Sie eine solche Regelung in Wirklichkeit nicht wollen. Ihre Maßnahmen zu Verfolgung solcher illegaler Beschäftigungen zeigen dies. Ich bin immer noch von dem Skandal berührt, daß die Arbeitsverwaltung einem Unternehmen, das illegal Inder beschäftigt hat, das nachträglich legalisiert hat und zu-laßt, daß ausländische Arbeitnehmer für 8 DM pro Tag beschäftigt werden und davon noch Geld für ihren Lebensunterhalt abführen müssen. ({15}) - Das ist in meinem Wahlkreis in Ingolstadt. Diese Firma konnte Jahre zuvor Werkvertragsarbeitnehmer illegal beschäftigen. Dies und eine ganze Reihe von weiteren Fällen läßt mich daran zweifeln, daß Sie Ihr Vorhaben wirklich umsetzen wollen. Das, was Herr Rexrodt und die F.D.P. in diesen Tagen sagen, macht deutlich, wohin die Reise gehen soll, nämlich Löhne abzubauen und deutsche Sozialverhältnisse auf indische, iranische, portugiesische oder albanische Verhältnisse zu reduzieren. Diese Politik betreiben Sie. Ihr Gesetzentwurf ist - da er schon jetzt gescheitert ist - nicht mehr wert, als in den Rhein versenkt zu werden. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gisela Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es hat in dieser Wahlperiode kaum ein Gesetz gegeben, das ein politisch so heikles Thema wie den heute zur Debatte stehenden Entwurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes betraf. Wir sind vor die schwierige Aufgabe gestellt, Probleme, die mit dem europäischen Binnenmarkt zusammenhängen, mit nationalen Maßnahmen anzugehen. Wie die Diskussion der letzten Monate gezeigt hat, ist dies ein äußerst schwieriges, wenn nicht sogar unmögliches Unterfangen. Die Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen Union ermöglicht es Bauunternehmen aus ganz Europa, ihre Bauarbeiter in Deutschland einzusetzen. ({0}) Diese Bauarbeiter bekommen die Löhne ihres Heimatstaates. Sie zahlen ihre Sozialversicherungsbeiträge nicht in die deutschen, sondern in ihre heimischen Systeme ein. ({1}) Für die Auftraggeber in Deutschland ist das attraktiv. Sie kalkulieren nicht mit den hohen deutschen Löhnen ({2}) und mit den hohen deutschen Abgaben in die sozialen Sicherungssysteme, sondern sie kalkulieren mit portugiesischen, britischen oder griechischen Arbeitskosten. ({3}) Auch der Bauherr freut sich über niedrige Baukosten. Auf der Strecke bleiben allerdings die kleinen und mittleren deutschen Baufirmen, die die hohen inländischen Löhne zahlen müssen und mit hohen Lohnzusatzkosten befrachtet sind. Sie sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Verlierer sind ganz am Ende der Kette die deutschen Bauarbeiter, für die ihre Gewerkschaft inzwischen zwar weit über dem Bundesdurchschnitt liegende Löhne ausgehandelt hat, die aber gerade infolgedessen von Arbeitslosigkeit bedroht sind. ({4}) Es ist offensichtlich, daß die sich abkühlende Baukonjunktur neben der europäischen Konkurrenz viele kleine und mittlere Unternehmen vor die Existenzfrage stellt und noch stellen wird. Die F.D.P. hat in der Mittelstandsgruppe eine Anhörung mit kleinen und mittleren Bauunternehmen durchgeführt. Viele Betriebe haben uns die Schwierigkeiten geschildert, ihre Stammbelegschaft zu halten, eine Stammbelegschaft, die ihnen über viele Jahre die Treue gehalten hat. Wir wissen, daß die Arbeitslosigkeit unter den Bauarbeitern steigt. Zum 30. Juni 1991 hatte die Bundesanstalt für Arbeit rund 90 000 Arbeitslose in den Bauberufen ausgewiesen, am 30. Juni 1994 waren es mehr als 120 000 Arbeitslose. Diese Tendenz, fürchte ich, wird sich fortsetzen. Das führt zu Spannungen auch zwischen deutschen und ausländischen Bauarbeitern. Dies ist um so trauriger, als Deutsche und Ausländer gerade hier immer sehr einträchtig und in gutem Einvernehmen nebeneinander gearbeitet haben. In Europa wollten wir doch das Zusammenwachsen der Menschen fördern. ({5}) Wenn aber die heimische Belegschaft abgebaut wird, um Platz für die Kollegen aus dem europäischen Ausland zu machen, verwundert es nicht, daß der soziale Friede auf den Baustellen ins Wanken kommt. ({6}) Zusammengenommen haben für die F.D.P.-Bundestagsfraktion die Argumente für ein nationales Entsendegesetz überwogen. Wir haben uns dazu entschlossen, dem Beispiel auch anderer europäischer Staaten wie Frankreich, Österreich und Belgien zu folgen ({7}) und den Entwurf eines nationalen Entsendegesetzes vorzulegen. Die Lösung, die die Koalition anbietet, besteht darin, daß der niedrigste Tariflohn im Baugewerbe für allgemeinverbindlich erklärt und auf hier arbeitende Bauarbeiter, deren Arbeitgeber im EU-Ausland sitzt, erstreckt wird. Diese Regelung soll allerdings nur für das Bauhauptgewerbe und nur befristet gelten. Dies ist das Ergebnis einer langen Diskussion, in der gerade die F.D.P. immer wieder als Bremser und Mittelstandsbuhmann dargestellt worden ist. ({8}) Erst haben uns viele in der Diskussion über die Entsenderichtlinie auf europäischer Ebene in diese Ecke gestellt, und dann wurde die F.D.P. als Bremser beim nationalen Gesetz beschimpft. ({9}) Eines möchte ich klarstellen. Der Bundeswirtschaftsminister hat seine grundsätzliche Zustimmung sowohl schon zu der europäischen Regelung als auch zu einem nationalen Entsendegesetz gegeben. Richtig ist, daß er es sich nicht leichtgemacht hat, zu einer vernünftigen Regelung zu gelangen, die in unsere Marktwirtschaft sowenig wie nötig eingreifen soll. In der Tat, es ist nicht leicht. Lassen Sie mich ruhig ein paar Gegenargumente vortragen. Ich bin übrigens über die Tonart betroffen, mit der hier über ausländische Arbeitnehmer geredet wird. ({10}) Ich finde, wir sollten das nicht so machen. ({11}) Wir sollten hier nicht so reden, als ob es nur um Illegale geht, und dabei wird ein Ton der Abschätzung und Herabwürdigung verwendet, den ich nicht für richtig halte. ({12}) Ich halte es für richtig, daß wir die Angst der deutschen Bauarbeiter zum Thema machen, aber nicht, daß wir dazu beitragen, die Spannungen, die da sind, zu schüren. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Das Gesetz greift in den Wettbewerb ein. Im Grunde macht es keinen Unterschied, ob wir im Ausland preiswerter produzierte Waren einführen oder ob diese preiswerten Produkte gleich hier vor Ort hergestellt werden. ({0}) Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, das Gesetz, das gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort vorschreibt, schafft ein Stück Protektionismus. Den Nachteil werden wir alle gemeinsam tragen müssen. Höhere Baupreise sind unweigerlich die Folge. Zudem wird die deutsche Bauwirtschaft unbehelligt von der Konkurrenz schwerfälliger werden. Wichtige Anpassungsprozesse unterbleiben. Wie wir wissen, ist Protektionismus auf Dauer ein Wettbewerbsnachteil. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie denn eine Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gern durchreden, Frau Präsidentin. Wir greifen auch in die so mühsam errungene europäische Dienstleistungsfreiheit ein. Der europäische Einigungsprozeß ist schwierig genug. Jede zusätzliche Beschwernis ist zweifellos ein Rückschlag. Wir selber nehmen die Dienstleistungsfreiheit übrigens völlig selbstverständlich für uns in Anspruch. Großprojekte in den ärmeren Staaten der Europäischen Union werden von deutschen Bauunternehmen durchgezogen, die hierfür das notwendige technische Know-how und die finanzielle Kapazität haben. Wenn es um Großvorhaben geht, exportieren wir mühelos Bauleistungen in diese Länder und erDr. Gisela Babel drücken in nicht wenigen Fällen die dortige Bauindustrie. ({0}) Wenn dieselben Länder dann ihre Arbeitskräfte zu uns schicken, damit sie ihren Vorteil bei uns wahrnehmen können, dann heißt es „Schotten dicht". ({1}) Das ist nicht das, was ich mir unter europäischer Dienstleistungsfreiheit vorstelle. ({2}) Wie steht es nun mit der Renaissance der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, die unweigerlich zu einer weiteren Verkrustung des erstarrten deutschen Tarifgefüges führen würde? Die weit über dem Bundesdurchschnitt liegenden hohen Löhne im Bau würden zementiert. ({3}) Bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung hat die IG Bau, Steine, Erden dargelegt, daß der niedrigste Lohn im Bau bei 20,24 DM liegt. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang einmal den Hinweis, daß der Ecklohn im Garten- und Landschaftsbau nur bei etwa 17 DM liegt. Die Festschreibung eines Mindestlohnes auf höchstem Niveau würde jedenfalls dazu führen, daß viele Bauarbeiter erst gar keine Chance bekommen, ihre Arbeitskraft so anzubieten, daß sie auch eingestellt werden. Ganz sicher ist - auch das hat hier noch niemand gesagt -, daß das Entsendegesetz zum Kollaps vieler Bauunternehmen in Ostdeutschland führen wird, die heute nur überleben, weil sie Löhne unter Tarif zahlen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gilges?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie meinen, wenn man sehr oft fragt, kommt man zum Zuge. - Herr Gilges, ich bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich muß fragen, oder Sie müssen sagen, daß Sie das grundsätzlich nicht wollen. Herr Gilges.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß der Stundenecklohn eines Bauarbeiters, der bei gut 22 DM liegt, genau im Mittelfeld der Stundenlöhne in der Bundesrepublik Deutschland liegt? Denn der niedrigste Stundenlohn - für den Tarifbereich der Landarbeiter in Mecklenburg-Vorpommern - liegt bei 9,60 DM, und der höchste - für die Tabakarbeiter in der Bundesrepublik - liegt bei 32 DM. Wenn Sie daraus den Mittelwert ziehen, kommen Sie genau auf den Stundenlohn des Maurers. Er hat keinen Hochlohn, sondern es gibt eine ganze Masse - Gott sei Dank, sage ich nebenbei - von Facharbeitern, deren Stundenlohn noch über dem Maurerecklohn liegt. ({0}) Ist Ihnen das eigentlich bekannt?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Gilges, ich bewundere Ihre großen Kenntnisse in den verschiedenen Lohnstufen. Aber ich bewundere keineswegs die von Ihnen daraus gezogenen Konsequenzen, nämlich daß Sie sagen, daß es gut wäre, wenn wir diesen Lohn hier allgemeinverbindlich zementierten. Ich glaube, daß das der falsche Weg ist und zumindest gute Argumente dagegen sprechen. ({0}) Zu Recht wird auf die Gefahr hingewiesen, daß die Anwendung des Gesetzes ausgedehnt wird. Auch das Handwerk klagt über die europäische Konkurrenz. Wir hören die Klagen vom Handwerk. Die Ausweitung des Gesetzes auf diesen Bereich würde zu einer Fülle zusätzlicher Allgemeinverbindlichkeitserklärungen führen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, es gibt noch eine Bitte nach einer Zwischenfrage der Kollegin Kaspereit.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jetzt möchte ich deutlich machen, Frau Präsidentin, daß ich ohne Unterbrechung zu Ende reden möchte. Das Gesetz kann seine politischen Ziele nicht ohne eine Mitwirkung der Tarifkommission erreichen. Eine mehrheitliche Entscheidung erfordert das Ja zumindest einer der drei Arbeitgeberverbände. Dies erscheint nun aussichtslos, nachdem auch der dritte Arbeitgeberverband seine Zustimmung verweigert hat. Für diesen Fall hat die F.D.P. im Kabinett einen Prüfvorbehalt angemeldet. Auch mir scheint es wenig sinnvoll, das Gesetzgebungsverfahren fortzusetzen und damit die politische Verantwortung bei den Arbeitgebern abzuladen. Alternativvorschläge sind bislang nicht in Sicht. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ist jedenfalls für die F.D.P. keine Lösung, weil damit grundgesetzwidrig in die Tarifautonomie eingegriffen würde. ({0}) Wir haben aber vor, morgen eine Anhörung zu beschließen. In dieser Anhörung werden die Beteiligten noch einmal Gelegenheit haben, ihre Positionen und ihre Argumente darzulegen. Ich glaube, es wäre richtig, wenn wir dies abwarten. Aber ich kann nicht verhehlen: Die Lage ist verfahren. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir brauchen dringend ein vernünftiges Entsendegesetz. Ich bin froh, Herr Blüm, daß auch Sie das noch immer so sehen. Ich hoffe, daß auch eine ganze Reihe Ihrer Kolleginnen und Kollegen das so sehen. Wir brauchen dieses Entsendegesetz, das gleichen Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit sicherstellt und den katastrophalen Zuständen auf den Baustellen ein Ende bereitet. Ich wollte heute eigentlich hier die Gesetzesinitiative der Bundesregierung als einen Schritt in die richtige Richtung begrüßen. ({0}) - Rühmen wollte ich sie nicht, nein. - Aber auch begrüßen kann ich sie nun nicht mehr, da sie schon vor der Beratung gescheitert ist. Ich meine, das Scheitern war selbstverschuldet: durch zu viele faule Kompromisse zwischen denjenigen, die sie grundsätzlich für nötig halten, und den Deregulierungsfraktionen in Ihren Reihen. Vielleicht könnten Sie, Herr Blüm, noch einmal genauer erklären, warum Sie sich die Falle der Tarifkommission, in die Sie jetzt gestolpert sind, selbst in den Weg gestellt haben. Sie wissen genau, daß das überhaupt nicht nötig war. In der Expertenanhörung vom Juni war überdeutlich - das auch an Sie, Frau Babel -, daß es auch andere Wege nach Rom gibt. Der Gesetzentwurf aus Berlin und der der SPD schlagen diese Wege jetzt ein. Die müssen wir genauer diskutieren. Haben Sie, Herr Blüm, wirklich erwartet, daß die Arbeitgeberseite zustimmt, nachdem sie schon in der Anhörung ihre Ablehnung deutlich zur Kenntnis gegeben hatte? Herr Murmann bringt jedesmal, wenn er sich äußert, eine neue Breitseite gegen Arbeitnehmerinneninteressen, ({1}) Tarifstandards, soziale Schutzrechte. Offensichtlich wollen diese Arbeitgeberfunktionäre die Fortsetzung von Lohn- und Sozialdumping. ({2}) - Ich rede jetzt weiter. - Diese Seite behauptet, das sei im Sinne und zum Schutz der Tarifautonomie. Wofür diese Begriffe herhalten müssen, ist immer wieder erstaunlich. Jetzt muß die Tarifautonomie sogar für ihre eigene Aushebelung herhalten. Denn wenn wir diese Zustände auf den Baustellen zulassen, ist das das Ende von Tarifautonomie. Tarife und Vereinbarungen werden dort in Zukunft kaum noch eine Rolle spielen. Was soll die Gewerkschaft noch verhandeln? Die Aufgabe des Staates ist es, für die vielbeschworene Säule der Tarifautonomie den ordnungsrechtlichen Rahmen sicherzustellen. ({3}) Diese Verantwortung liegt bei uns. Der können und dürfen wir uns nicht entziehen. Genau das versuchen Sie, Herr Haungs, wenn Sie der Presse erklären: Die Bauindustrie ist selbst schuld; sie hat sich an Europa nicht angepaßt. Klartext - ich habe versucht, mir das zu übersetzen -: Die Löhne müssen runter. ({4}) Wenn alle unter so erbärmlichen Bedingungen arbeiten wie die aus den europäischen Ländern entsandten Arbeitnehmer auf dem Bau, dann gibt es doch kein Problem mehr. Herrn Haungs, es ist jedoch kein Schwarzer-PeterSpiel, bei dem Sie sich erleichtert zurücklehnen können, weil Sie ihn los sind. Sie sind ihn nämlich nicht los. Es handelt sich hierbei um ein ausgesprochen ernstes Problem, das wir im Bundestag lösen müssen. Wie sieht es auf den Baustellen zur Zeit aus? Ein immer größerer Teil der dort Beschäftigten arbeitet zu Dumpinglöhnen zwischen 5 DM und 10 DM in der Stunde. Die Unterbringung ist oft nicht einmal menschenwürdig. Unfall- und Arbeitsschutz sind nicht zu halten. Zwischen scheinselbständigen Arbeitnehmern aus der EU und Werkvertragsarbeitnehmern aus Osteuropa blüht inzwischen die ganze Grauzone illegaler Leiharbeit. Obwohl z. B. die polnischen Werkvertragsarbeitnehmer rechtlichen Anspruch auf gleiche Bedingungen wie die hier beschäftigten inländischen haben, sind sie ganz offensichtlich trotzdem Lohn- und Sozialdumping ausgesetzt. Sie werden mit falschen Versprechungen angeworben, haben nichts Schriftliches in der Hand und werden nach Strich und Faden ausgenutzt, was Arbeitszeiten und Niedriglöhne angeht. Konfliktfähigkeit und Rechtssicherheit der entsandten Arbeitnehmer müssen unbedingt gestärkt werden. Das gilt auch für die Arbeitnehmer aus den Ländern der EU; die unterscheiden sich von den polnischen Werkvertragsarbeitnehmern nämlich kaum. Es gibt auch hierzu Berichte aus den Botschaften: daß die Leute im Krankheitsfall sofort hinausgeworfen werden und daß bei Unfällen die Existenz von Verträgen bestritten wird. Die Situation auf den Baustellen ist ausgesprochen explosiv. Die Kollegen werden gegeneinander ausgespielt, und zwar nach unterschiedlicher Herkunft und nach Paß. So entstehen nationale Ressentiments und nicht etwa ein weltoffenes Europa. Die Unternehmen der Baubranche, die sich korrekt verhalten und noch Tariflöhne zahlen, werden durch dieses Sozialdumping in den Konkurs getrieben oder gezwungen, auch unter Tarif anzubieten. Wenn Herr Murmann diesen Prozeß des freien Falls will - wir wollen ihn nicht. Die Baubranche, und zwar beide Tarifparteien, will ihn auch nicht. Ein nach Herkunft und Paß hierarchisch organisierter Arbeitsmarkt ist einfach nicht akzeptabel. Den vorübergehend in der Bundesrepublik beschäftigten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen müssen die gleichen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen garantiert werden, wie sie für inländische Arbeitskräfte gelten. Alle am Einsatzort geltenden tariflichen, arbeits- und sozialrechtlichen Standards müssen ab dem Tag der Arbeitsaufnahme angewendet werden. Die soziale Lage der ausländischen Arbeitnehmer darf nicht länger für den Profit dubioser Subunternehmer oder zum Lohndumping gegenüber Kollegen ausgenutzt werden. Tarifliche und gesetzliche Standards können nur geschützt und ausgebaut werden, wenn sie für alle Beschäftigten am Produktionsort gelten und nicht unterlaufen werden können. Auch wenn jetzt unklar ist, welcher Gesetzentwurf die Grundlage der weiteren Beratungen bilden wird, möchte ich hier einige wesentliche Kritikpunkte zum Entwurf der Bundesregierung anmerken, diesmal nicht zur Frage der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Vielmehr möchte ich die Chance nutzen, daß nach dem Scheitern noch die Möglichkeit besteht, andere Unstimmigkeiten schon zu diesem Zeitpunkt auszuräumen. Da ist die Frage: Wer soll von dem Gesetz erfaßt werden? Der Entwurf sagt: das Bauhauptgewerbe. Ich halte diese Beschränkung für unsinnig. ({5}) Denn das Baunebengewerbe ist mindestens ebenso betroffen. Oder arbeiten etwa diejenigen nicht unter denselben Bedingungen auf den Baustellen, die den Estrich oder die Fliesen legen oder die Elektro-, Heizungs- und Sanitärinstallation durchführen? ({6}) Das ist ein weiterer fauler Kompromiß, der ausschließlich die Kontrollen erschwert und einfach jeder Logik widerspricht. Zweite Frage: Welche Standards sollen gelten? Hier liegen sowohl in der Stellungnahme der IG Bau, Steine, Erden als auch in den Gesetzentwürfen der SPD und des Landes Berlin ausgesprochen vernünftige Vorschläge vor, die wir in den Beratungen im einzelnen prüfen müssen. Klar ist auf jeden Fall: Es kann sich nicht allein um den ortsüblichen Lohn handeln. Vielmehr muß es auch um die gesetzlichen Regelungen z. B. in den Bereichen Arbeitsschutz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gehen. ({7}) - Das kommt noch. Zu den im harten Kern einer Richtlinie zu regelnden Arbeitsbedingungen gehört auch - das möchte ich für die weiteren Beratungen ausdrücklich betonen - ein Verbot der Diskriminierung auf Grund von Hautfarbe, Rasse, Religion, Überzeugung, staatlicher Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Damit können wir versuchen sicherzustellen, daß auch diejenigen Personen aus dem Ausland, die auf dem Arbeitsmarkt gleiche Chancen genießen sollen, wirksame soziale Schutzrechte in Not- und Härtefallen haben. Um der illegalen Leiharbeit entgegenzutreten, ist es das mindeste, auch das Arbeitnehmerüberlassungsrecht, von dem ich sonst wirklich nicht viel halte, zur Geltung zu bringen und außerdem arbeitnehmerähnliche Personen, sprich: Scheinselbständige, mit einzubeziehen. Wie sehr die jetzige erbärmliche Lage auf den Baustellen die Risiken von Unfällen verschärft, ist offensichtlich. Um so wichtiger ist es, daß auch für entsandte Arbeitnehmer die Unfallverhütungsvorschriften gelten müssen. Die Einbeziehung der Sozialkassen hätte einen doppelten Sinn: zum einen, die Standards anzugleichen, und zum anderen, eine Kontrolle der Einhaltung der Gesetzesvorschriften zu erleichtern. Denn damit wäre eine Erfassung und Überprüfung ermöglicht, die nicht nur im nachhinein auf den Baustellen stattfindet. Genau nach solchen strukturell eingebauten Kontrollmöglichkeiten müssen wir in den Beratungen suchen. Denn die Frage, wie die Kontrollen ablaufen sollen und ob sie Erfolg haben können, halte ich bei einem Entsendegesetz für ganz entscheidend. Der alte Entwurf der Bundesregierung sagt hier lediglich lapidar: Das sollen die Länder machen. Das mindeste ist doch, die Bundesanstalt für Arbeit einzubeziehen. Wer nicht einmal das tut, programmiert den Mißerfolg vor, um dann nach zwei Jahren sagen zu können: Seht ihr, es nützt doch gar nichts. Damit komme ich zum schlagendsten Unsinn des Regierungsentwurfs, der Beschränkung auf zwei Jahre. Alle Experten und Expertinnen haben bei der Anhörung im Juni - gleich, was sonst ihre Meinung zum Entsendegesetz war - einhellig festgestellt, daß das überhaupt keinen Sinn mache. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf einfordern - das habe ich auch hier gehört -, daß sich die Baubranche auf europäische Standards umstellen soll und das in diesen zwei Jahren geschehen soll, dann, finde ich, muß man auch klar sagen, was das heißt: Dabei kommen nicht menschenwürdige Arbeitsbedingungen für alle im europäischen Rahmen, sondern Lohn- und Sozialdumping als gesellschaftlicher Normalfall heraus. Herr Blüm, das mit den zwei Jahren können Sie doch eigentlich nicht ernst gemeint haben. Oder hoffen Sie, daß Sie nach der Berlin-Wahl - oder genauer: nach dem Berlin-Wahlergebnis von Herrn Rexrodt - aus dieser absolut schrägen Kompromißlage wieder herauskommen? Ich bin auf die weiteren Beratungen insgesamt gespannt. Wir müssen zügig weiterkommen. Noch ein Annelle Buntenbach Sommer mit diesen schlimmen Bedingungen auf dem Bau ist nicht zu verantworten. ({8}) Für die Zielsetzung der Entsenderichtlinie, nicht für die von der Bundesregierung vorgelegte Ausgestaltung, gibt es zwar im Moment keine Mehrheit in den Regierungsfraktionen, aber im Parlament. Daraus kann man doch etwas machen. Dabei wünsche ich Ihnen, Herr Blüm, und uns allen viel Erfolg. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete Ottmar Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil Frau Kollegin Dr. Babel eine Zwischenfrage nicht zugelassen hat, was an sich ungewöhnlich ist, weil es zum guten Verfahren gehört. ({0}) Frau Dr. Babel, Sie haben hier in der Tonlage der Chefin einer amerikanischen Suppenküche für Arme gesprochen, gleichzeitig aber die Wirklichkeit in einem derartigen Maße verfälscht, daß man es nicht durchgehen lassen kann. Sie haben behauptet, jede weitergehende Entsenderegelung würde die Tarifautonomie gefährden. Diese Krokodilstränen hätten Sie sich wirklich sparen können. Was die F.D.P. eigentlich will, ist die Zerstörung der Tarifautonomie und die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme. ({1}) Weil Sie das wollen, wollen Sie keine Entsenderichtlinie. Sie wollen die Arbeitnehmer schutzlos stellen, vogelfrei machen und ins 19. Jahrhundert zurückführen. Das ist der Kern Ihrer Absicht. ({2}) Das bestreiten Sie noch nicht einmal. Wenn Sie das bestreiten würden - ich hätte das jetzt ganz gerne gehört -, würde ich Graf Lambsdorff zitieren, über den vor wenigen Wochen im „Handelsblatt" stand - ich zitiere ein paar Sätze über die Meinung des Ehrenvorsitzenden der F.D.P. -: Lambsdorff ist der Meinung, daß die in der Bundesrepublik praktizierte Tarifautonomie nicht länger Bestand haben könne ... Natürlich gehöre ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz zur Konsequenz der Tarifautonomie ... Der Druck, der aus den ausländischen Arbeitsbedingungen komme, müsse auf den deutschen Arbeitsmarkt weitergeleitet werden. Und die Verhinderung des Entsendegesetzes sei ein erster Schritt zur Bekämpfung dieses Kartells. Das war Origionalton Lambsdorff. Das will die F.D.P. Sie benutzen das Instrument der Verhinderung des Entsendegesetzes, um die Tarifautonomie kaputtzumachen, die sozialen Sicherungssysteme zu zerstören und die deutsche Arbeitnehmerschaft ins vorherige Jahrhundert zurückzuführen. ({3}) Sie haben zweitens gesagt, die SPD wolle mit ihrem Entsendegesetz den ausländischen Arbeitnehmern den Vorteil, den sie bei uns wahrnehmen können, wegnehmen. Welchen Vorteil hat der portugiesische Arbeitnehmer? Ich habe den Bericht einer portugiesischen Fernsehjournalistin vor mir liegen, die portugiesische Bauarbeitnehmer acht Monate auf deutschen Baustellen begleitet hat. Wissen Sie, was die Quintessenz ihres Berichts ist? ,Inseln des ausländischen Rechts entstehen in Deutschland?' Nein: Was in der Tat entsteht, sind Inseln des Unrechts, der Willkür, der Sklaverei. Wissen Sie, wie mit diesen Menschen hier umgesprungen wird? Sie beschreibt einige Beispiele: Deutsche Kriminelle, die in Portugal Scheinfirmen gründen, dort portugiesische Arbeitnehmer anheuern, bringen sie nach Deutschland. Dann passieren folgende Fälle: Ein Arbeiter, den er sterbenskrank nach Portugal geschickt hat, starb nach zwei Monaten in seinem Dorf. Sogar für den Krankentransport vom Lissabonner Flughafen zum Dorf, ins Innere des Landes, mußte seine Frau aufkommen. Das sind nur einige Beispiele. Sie bringt eine Fülle von anderen Beispielen, die zur Quintessenz haben, daß die Leute keine Arbeitsverträge sehen, daß sie bestenfalls Taschengeld sehen, daß sie, wenn sie krank werden, auf Kosten der Ersparnisse der Ehefrau nach Portugal zurückgebracht werden. Meine Güte, welchen Vorteil nehmen diese Menschen in unserem Lande wahr? Das einzige, was die F.D.P. hier schützt, sind kriminelle Machenschaften. Sie sind eine Heuchlergruppe. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls zu einer Kurzintervention erhält das Wort die Kollegin Babel. ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schreiner, ich finde weder den Ton noch den Inhalt dessen, was Sie hier bieten, akzeptabel. Ich finde das dem Parlament nicht angemessen. ({0}) - Es geht nicht um die Wahrheit. Es geht um die Tatsache, daß Sie offensichtlich alle noch nicht wahrgenommen haben, daß wir in einem Europa leben, in dem wir den Menschen freien Zugang zu allen Dienstleistungsunternehmen und zu allen Betrieben gegeben haben, daß wir ein Europa wollen, von dem Deutschland unsäglich profitiert. Sie wollen auf der anderen Seite die anderen Länder, deren Level niedriger ist, wo die Armut größer ist, wo die Arbeitslosigkeit höher ist, wo die Not drückender ist, von den Töpfen fernhalten. ({1}) Ich halte das mindestens für unanständig. Das sage ich Ihnen! Zweitens zur Tarifautonomie: Ich muß ja zugeben, daß ich auch ein bißchen geschmunzelt habe, daß Graf Lambsdorff, wirtschaftspolitischer Sprecher und nicht nur Ehrenvorsitzender, sich zum Schutzpatron der Tarifautonomie aufgeschwungen und gesagt hat, es kann doch jetzt wohl nicht eine Mindestlohnregelung kommen. Die stellt ja nun in der Tat in Deutschland das Tarifgefüge auf den Kopf. Aber, meine Damen und Herren, wenn Sie nicht sehen, daß wir im Tarifgefüge auch in den kommenden Zeiten Flexibilität brauchen, andere Möglichkeiten, je nachdem in den Betrieben abzuweichen, dann kann ich nur sagen: Gehen Sie ruhig mal zu Schröder in die Schule für moderne Wirtschaftspolitik. ({2}) Das, was hier abläuft, ist dermaßen antiquiert, ist ein Klassenkampf; der ist so muffig, der ist aus dem 19. Jahrhundert. Herr Schreiner, Sie sind viel zu intelligent, um hier so einen Mist zu erzählen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Irmer, es gibt normalerweise nur eine Antwort.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich will nichts zur Sache sagen, ich möchte mich über das Verhalten eines Kollegen beschweren. Er hat, während Frau Babel gesprochen hat, diese Bewegungen gemacht. Ich finde, das ist unparlamentarisch und ungehörig. ({0}) - Nein, Sie waren es nicht, Herr Schreiner, es war der Kollege hier vorn. Ich empfinde das als ausgesprochen ungehörig. Ich finde, daß das mit dem Verhalten eines Kavaliers nicht zu vereinbaren ist, und ich spreche dem Kollegen hiermit jede Qualität eines Kavaliers ein für allemal ab. Herr Kollege, ich verachte dieses. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Irmer, die Beurteilung von Qualitäten als Kavalier ist natürlich nicht Sache der Präsidentin. Ich habe hier gegebenenfalls Ordnungsrufe zu erteilen. ({0}) Ich fahre in der Rednerliste fort. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gott sei Dank ist ja nun die Welt wieder in Ordnung. Als ich nämlich vorhin Herrn Minister Blüm gehört habe, dachte ich: Irgendwie ist heute hier ein bißchen verkehrte Welt. Der Minister Blüm hält eine flammende Rede, formuliert flammende Appelle zugunsten der nationalen Entsenderichtlinie und rennt damit bei den meisten hier Anwesenden offene Türen ein. Er kämpft für die Tarifautonomie und wird von den Arbeitgeberverbänden in die Pfanne gehauen. Ich dachte, daß ich vielem, was der Minister hier vorgetragen hat, eigentlich zustimmen kann. Ich finde es nur blöde, daß ich all das, was er hier gesagt hat, in seinem Gesetzentwurf nicht wiederfinde. ({0}) Deshalb will ich jetzt zu dem Gesetzentwurf etwas sagen. In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum SPD-Antrag sprach sich - das ist hier schon erwähnt worden - die Mehrheit der dort anwesenden Sachverständigen für eine nationale Entsenderichtlinie aus, und zwar aus unterschiedlichen Motiven. Die einen waren eher aus wettbewerbspolitischen Gründen dafür, sie möchten die Wettbewerbsverzerrungen für Unternehmen auf dem gemeinsamen europäischen Markt abschaffen; bei den anderen stand eher die sozialpolitische Zielsetzung im Vordergrund. Daß ich mich zu letzteren rechne, wird Sie vielleicht nicht überraschen. Uns geht es vor allem darum, die Rechte der Beschäftigten zu sichern, die entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schützen und Sozialdumping zu vermeiden. Dies wurde übrigens vom Ausschuß für soziale Angelegenheiten, Beschäftigung und Arbeitsumwelt des Europäischen Parlaments als das vom sozialen Gesichtspunkt her wichtigste Ziel einer Entsenderichtlinie bezeichnet. Dazu ist der auf dem Tisch liegende Gesetzentwurf der Bundesregierung ungeeignet. Richtig gefällt mir an ihm eigentlich nur der Verzicht auf eine Schwellenfrist. Die Schutzregelungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen vom ersten Tag an gelten. Das ist ja immerhin ein gewisser Schritt. Ihr Gesetzentwurf krankt aber vor allem an drei Dingen. Erstens beschränkt er sich auf das Baugewerbe, anstatt für alle entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gelten. Zweitens soll sich der Lohnschutz nur auf die untersten Lohngruppen erstrecken, also nicht auf alle Lohngruppen. Drittens wollen Sie die Regelung auf zwei Jahre befristen; das finde ich genauso dusselig, wie es Frau Buntenbach schon verdeutlicht hat. Sicherlich ist hauptsächlich die Baubranche betroffen. Unbestritten ist auch, daß die Probleme hier am drängendsten sind. Aber die unmenschliche Konkurrenz um Arbeitsplätze durch Lohndumping, fehlende soziale Absicherung und mangelhaften Arbeitsschutz ist eben nicht auf die Bauwirtschaft begrenzt, sondern betrifft auch viele andere Bereiche. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf noch nicht einmal alle am Bau arbeitenden Kollegen in die Regelung einbeziehen. - Jetzt hätte ich fast auch „Kolleginnen" gesagt, aber das trifft ja in der Regel nicht zu, leider. Für Baunebenberufe wie z. B. Maler und Fliesenleger soll die Regelung ebensowenig gelten wie für die Metallberufe, die im Baubereich auch zuhauf vertreten sind. Damit schaffen Sie am Bau gleich drei Klassen von Arbeitnehmern, nämlich die nach Tarif entlohnten inländischen, die mit dem Mindestentgelt entlohnten entsandten Kollegen aus anderen EU-Staaten und diejenigen entsandten Kollegen, die leider nicht das Glück haben, in den Wirkungsbereich des vorliegenden Gesetzentwurfs einbezogen zu sein. Sie werden weiterhin zu Hungerlöhnen von fünf, sechs oder sieben Mark schuften müssen. Entgegen Ihrer eigenen Zielsetzung, gespaltene Arbeitsmärkte und die aus ihnen resultierenden sozialen Spannungen zu vermeiden, bleiben Sie auf halbem Wege stehen und begrenzen den Wirkungskreis des Gesetzes auf das Bauhauptgewerbe. Damit ist klar, daß Sie Ihr eigenes Ziel schon verfehlt haben, bevor Sie überhaupt begonnen haben. Allerdings ist auch eine branchenübergreifende Regelung natürlich nicht der Weisheit letzter Schluß. Sie könnte die Situation allenfalls entschärfen, weil selbst minimale Arbeitsbedingungen häufig auch dann nicht eingehalten werden, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Ausland gesetzlich gleichgestellt sind. Das Beispiel der Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer aus den osteuropäischen Ländern, hier schon häufig genannt, zeigt dies immer wieder deutlich. Die sozialen Dienste der Wohlfahrtsverbände und Beratungsstellen wie z. B. der polnische Sozialrat geben über die erbärmlichen Bedingungen, unter denen hier zum Teil gearbeitet wird, drastische Schilderungen ab. Ein wirksamer Schutz gegen schlechte Arbeitsbedingungen und die teilweise unmenschliche Konkurrenz um Arbeitsplätze wird nur möglich, wenn die Beschäftigten selbst in den Mittelpunkt gerückt werden. Es muß vor allem geklärt werden, wie die Rechte der vorübergehend entsandten arbeitenden Menschen garantiert werden können. Hierzu zählen neben Beratungsangeboten für die Beschäftigten und der Möglichkeit der Verbandsklage der Gewerkschaften auch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber den Unternehmen. Ohne Sanktionen wird es nicht gehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wieso sind wir überhaupt in diese Situation gekommen, daß wir hier heute diese Frage beraten müssen? Wir beraten sie, weil Sie bei den Maastrichter Verträgen die Freizügigkeit von Kapital, Waren und Dienstleistungen geschaffen haben, wie Frau Babel soeben nachdrücklich ausgeführt hat. Aber, Frau Babel, Sie haben leider eines vergessen, nämlich die Gestaltung des europäischen Sozialraums. Das haben Sie bewußt ausgelassen. ({1}) Eine nationale Regelung darf nicht hinter die Forderungen zurückfallen, die bereits im Entwurf der EU-Kommission für eine EU-Richtlinie enthalten sind. Dort wird ein harter Kern von Mindestbedingungen vorgeschlagen, der weit über die Festlegung einer unteren Lohngrenze hinausgeht, wie von Ihnen vorgeschlagen wird. Ich will jetzt die Punkte dieses harten Kerns gar nicht weiter aufzählen. Sie sind von Frau Buntenbach schon genannt worden. An diesen Punkten wird deutlich, daß es nicht nur um Entlohnung geht, sondern daß es auch um Arbeitsbedingungen geht, daß es um Arbeitszeiten, Ruhezeiten, Nachtschicht, Schichtarbeit, Schutzmaßnahmen, Gesundheitsschutz usw. geht. Sie hingegen verweigern sogar dem Minimalkonsens - gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort - Ihre Zustimmung, weil Sie den Lohnschutz nur auf die untersten Lohngruppen begrenzen. Dennoch bin ich schon der Meinung, daß wir, bevor es zu einer europaweiten Entsenderichtlinie kommt, ein nationales Gesetz brauchen. Wie Sie aber zu der Annahme kommen, daß sich das europäische Lohnniveau in nur zwei Jahren so angeglichen haben wird, daß die Lohnunterschiede eine Regelung überflüssig machen, ist mir vollkommen unklar. Ich betone noch einmal: Ich finde eine Begrenzung bis 1997 völlig verfehlt. Zum Abschluß noch folgende Bemerkung: Es ist schon eine Ironie der Geschichte, daß Sie mit Ihrem Gesetzentwurf so ziemlich zwischen alle Stühle geraten. Nachdem Sie sich auf Druck der Bauwirtschaft dazu entschlossen haben, diese Regulierung vorzuschlagen, obwohl Sie sich ja sonst eigentlich eher in Deregulierungsmaßnahmen „bewähren", werden Sie von den Arbeitgeberverbänden ausgebremst. Ausgerechnet die verweisen dann auch noch auf die Tarifautonomie und wollen damit Ihr Gesetz zu Fall bringen. Das ist wirklich ungeheuerlich verwirrend, wenn man sich das genau anschaut. ({2}) Ich wünsche Ihnen jedenfalls, Herr Minister - und das meine ich ganz ernst -: Bleiben Sie stark, und schaffen Sie mit uns ein vernünftiges Gesetz! Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Julius Louven.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich sollte und wollte zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege Adi Hörsken reden. Adi Hörsken ist wieder einmal im Krankenhaus. Es geht ihm nicht gut, aber er ist voller Hoffnung. Er hat mich gebeten, Sie, die Sozialpolitiker, recht herzlich zu grüßen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir unterhalten uns heute über zwei Gesetzentwürfe - einen von der Koalition und einen von der SPD -, weil eine EG-einheitliche Regelung nicht erreichbar war. Wir alle wissen, wie der Minister während der deutschen Präsidentschaft um eine EG-einheitliche Richtlinie gerungen hat. Wir sollten, anstatt dem Minister die Ernsthaftigkeit abzusprechen, uns bei 'ihm für seine Mühen bedanken. ({1}) Daß eine solche Regelung nicht zustande gekommen ist, ist sicherlich nicht seine Schuld. ({2}) Daß Sie, Herr Büttner, uns eben in Ihrer Rede auch noch vorgeworfen haben, wir betrieben in diesem Punkt eine unchristliche Politik, ist geradezu primitiv. ({3}) Entschuldigen Sie, Herr Büttner, daß ich Ihnen dies so sagen muß. Meine Damen und Herren, andere Länder verfahren ähnlich wie wir und schaffen nun nationale Regelungen. Wir haben heute, wie ich schon sagte, zwei Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung. Das Problem selbst ist hinlänglich bekannt: Subunternehmer aus dem EG-Bereich können mit Arbeitnehmern, von wo auch immer, hier in der Bundesrepublik tätig werden. Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen, dies führt - trotz eines Baubooms in Deutschland - zu Arbeitslosigkeit. ({4}) Sie, meine Damen und Herren von der SPD, setzen mit Ihrem Gesetzentwurf - wen kann dies wundern? - voll auf staatlichen Dirigismus. ({5}) Sie wollen einen Schutzraum um den deutschen Arbeitsmarkt errichten und erwarten gleichzeitig, daß unsere Produkte weltweit verkauft werden können. ({6}) Mit Schutzräumen fördert man keinen Wettbewerb. Wir gehen diesen Weg nicht mit. ({7}) Die Problematik, Herr Gilges, ist auch begründet durch den teuren Arbeitsmarkt Deutschland. Unternehmen weichen in Nischen aus, um konkurrenzfähig zu bleiben. Wir erleben ja immer wieder, daß neue Nischen gefunden werden. Wir müssen uns beispielsweise mit der Problematik des Mißbrauchs bei den 580-DM-Beschäftigungsverhältnissen befassen, mit dem Problem der Scheinselbständigkeit, mit dem Problem der illegalen Beschäftigung. Überall müssen wir ordnend eingreifen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir dies getan haben, werden neue Nischen gefunden worden sein. ({8}) Wer, Herr Gilges, Europa will, muß sich auch mit der Frage der Dienstleistungsfreiheit auseinandersetzen. ({9}) Folglich ist unser Ansatz liberaler. Wir wollen einerseits helfen, die Dinge nicht eskalieren zu lassen, andererseits aber auch die Tarifpartner zwingen, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Vor diesem Hintergrund stehe ich zu dem gefundenen Kompromiß in der Koalition und somit auch zu der Befristung auf zwei Jahre, und ebenso unterstütze ich, daß wir nur das Bauhauptgewerbe berücksichtigen. ({10}) Die meisten Bereiche des Baunebengewerbes erfordern doch eine höhere Qualifikation, und sie haben auch höhere Sicherheitsstandards. Von daher sind - das haben auch meine Gespräche mit Handwerksorganisationen ergeben - im Baunebengewerbe die Probleme nicht so groß wie im Bauhauptgewerbe. Meine Damen und Herren, wir wollen eine Regelung über die Allgemeinverbindlichkeit. Hierzu gibt es Streit im Arbeitgeberlager, der hier schon vielfältig angesprochen worden ist. Ich muß Ihnen sagen: Mich beeindruckt dieser Streit zunächst überhaupt nicht. Ich bin auch nicht bereit, schon jetzt mal eben Mindest- oder ortsübliche Löhne einzufordern. Nein, wir haben mit unserem Entwurf die Hausaufgaben gemacht, ({11}) und nun sind die Arbeitgeber am Zuge. Wir warten einmal ab, ob sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände tatsächlich den Ansichten des Handwerks und des Baugewerbes verschließt. Ich jedenfalls kann es mir nicht vorstellen. ({12}) - Warten wir es doch einmal ab, Herr Kollege. Der Tarifausschuß hat noch nicht getagt. Wir, meine Damen und Herren, sind sehr daran interessiert, den Gesetzentwurf zügig zu beraten und zu beschließen. Wir gehen davon aus, daß er zum 1. Januar 1996 in Kraft treten kann. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da wir gerade Grüße ausgerichtet bekommen haben, denke ich, daß es in Ihrem Sinne ist, sie Herrn Hörsken gegenüber zu erwidern und ihm gute Besserung zu wünschen. ({0}) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Rennebach.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was bisher gesagt worden ist, hilft nicht. Wir diskutieren schon jahrelang öffentlich über eine notwendige gesetzliche Regelung zur Angleichung der Arbeitsbedingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Es scheint mir, daß in diesem Falle, ohne es scharf zu formulieren, insbesondere die Damen und Herren von der F.D.P. immer noch nicht verstanden haben, worum es dabei eigentlich geht und warum ein Entsendegesetz so notwendig ist. ({0}) Ich sage das, obwohl Frau Babel hier wirklich zu Herzen gehende Worte gefunden hat, um ihre wahren Absichten zu verschleiern. ({1}) Ich möchte Ihnen dies auch als Vorbereitung für die Ausschußberatung gerne anhand der Situation in Berlin und des hauptsächlich betroffenen Bereichs, des Bauhauptgewerbes, verdeutlichen, was nicht heißt, daß ich die Nebengewerke außer acht lassen möchte. Tatsache ist, daß wir erfreulicherweise in Berlin seit einiger Zeit einen regelrechten Bauboom registrieren können, was sich z. B. dadurch belegen läßt, daß die Auftragsbestände zum Ende des ersten Halbjahres 1995 ein Volumen von 6,2 Milliarden DM ausmachten. Dem steht jedoch ein stetes Ansteigen der Arbeitslosenzahlen gegenüber, paradoxerweise speziell im Baugewerbe. So ist nach Angaben des Landesarbeitsamtes die Zahl der Arbeitslosen in Berlin in diesem Bereich zwischen Mitte 1994 und Mitte 1995 von 13,4 auf 15,7 % gestiegen. Weiterhin ist Tatsache, daß sich die Verwirklichung des EU-Binnenmarktes auch dadurch auszeichnet, daß im Zuge des zunehmenden grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs immer mehr Unternehmen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anderer Mitgliedsstaaten der EU entsenden. Wir haben jedoch leider immer noch stark unterschiedliche Arbeitsbedingungen in den EU-Mitgliedsstaaten und vor allem das rechtliche Problem, daß in der Regel bei diesen Entsendungen für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Bedingungen des Heimatlandes gelten und nicht die des tatsächlichen Arbeitsortes. Wir wollen nicht den freien Dienstleistungsverkehr verhindern, Herr Louven, sondern wir wollen uns um die Arbeitsbedingungen kümmern. Daraus resultiert als weitere Tatsache, daß wir auf den Baustellen geradezu absurde und in hohem Maße ungerechte und unsoziale Verhältnisse feststellen müssen. Hier arbeiten, so zynisch es klingt, im besseren Fall Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Löhnen und unterschiedlicher sozialer Absicherung bei jedoch gleicher Arbeit und im schlechteren Fall keine Arbeitnehmer mehr, die nach deutschen Sozialstandards abgesichert und tarifvertraglich entlohnt werden, sondern nur noch Arbeitnehmer unter Lohn- bzw. Sozialdumpingbedingungen. Nicht besser ist es im Beschäftigungsbereich. Hier steigen, wie schon gesagt, die Arbeitslosenzahlen und die Kurzarbeiterzahlen, und das, obwohl z. B. in Berlin die Auftragsbestände innerhalb des letzten Jahres im Bauhauptgewerbe um 15 % und in Brandenburg sogar um 31,5 % gestiegen sind. Das heißt, der Bauboom trägt in keiner Weise zu einer Entlastung auf dem deutschen Arbeitsmarkt bei. Eher ist sogar das Gegenteil der Fall. Nach Angaben des Bauindustrieverbandes Berlin/Brandenburg ist in der Region zwischenzeitlich jeder zweite Arbeitsplatz am Bau durch Lohndumping gefährdet. Nicht vergessen möchte ich die Auswirkungen auf den Unternehmensbereich. Insbesondere Klein- und Mittelbetriebe - Herr Louven, die gehören ja mit zu Ihrer Klientel -, die nach den bei uns üblichen Bedingungen entlohnen und somit auch kalkulieren, werden zunehmend aus dem Markt herausgedrängt, und zwar durch hauptsächlich in den Niederlanden ansässige Briefkastenfirmen, die Arbeitnehmer aus Irland und Großbritannien anbieten, diesen Niedriglöhne zahlen und auf diese Weise deutsche Unternehmen regelmäßig um bis zu 25 % unterbieten. So hat sich z. B. in der Region Berlin/Brandenburg die Zahl der Konkurse und Vergleiche von Bauunternehmen im Zeitraum von 1991 bis 1994 fast verdreifacht, und das - ich wiederhole es - bei deutlich ansteigenden Auftragsbeständen. Das kann man mit einem CDU/CSU-Gesetz, das befristet ist und mit einer Allgemeinverbindlichkeit operiert, die herzustellen überhaupt nicht notwendig ist, nicht ändern. ({2}) Neben dieser untragbaren wirtschaftspolitischen und beschäftigungspolitischen Situation dürfen wir einen weiteren Aspekt nicht aus den Augen verlieren, nämlich die Gefährdung der grundgesetzlich verbrieften Tarifautonomie. Diese müssen wir inzwischen, wenn ich das „Handelsblatt" vom 26. Juli richtig gelesen habe - da Herr Schreiner es ebenfalls zitiert hat, werde ich es wohl richtig gelesen haben -, zu allem Überfluß aber bezeichnenderweise auch noch vor der F.D.P. und namentlich dem Kollegen Lambsdorff verteidigen. Ich zitiere: Natürlich gehöre ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz zur Konsequenz der Tarifautonomie und des Flächentarifvertrages. Doch müsse es zu Veränderungen dieses Arbeitsmarktkartells kommen. Das hört sich wie „Mafia" an. Das Günstigkeitsprinzip ist ein Ungünstigkeitsprinzip für Arbeitslose, die sich nicht unter Tarif anbieten dürfen. Es ist ihnen verboten, ihre Arbeitskraft zu einem untertariflichen Entgelt einzubringen. ({3}) - Sie haben es im Sommer vorigen Jahres gemacht und sind nicht angenommen worden. Unser Tarifvertragssystem ist ein Schutzzaun für Arbeitsplatzbesitzer und eine unfreundliche Maßnahme gegen Arbeitslose. Wenn Frau Dr. Babel annimmt, daß Herr Lambsdorff mit diesem Satz die Tarifautonomie schützen und unterstützen wolle, dann hat sie etwas falsch verstanden. ({4}) Nach dieser Melodie will der Graf sicherlich alles abschaffen, was uns von der Sklaverei unterscheidet. ({5}) Meine Damen und Herren, die von mir vorher beschriebene Situation im Baugewerbe führt dazu, daß in Deutschland ansässige Firmen förmlich dazu gezwungen werden, die Tarifbindung zu umgehen, indem sie beispielsweise Subunternehmer aus europäischen Billiglohnländern beauftragen. So wird hintenherum die Tarifautonomie ausgehebelt, werden Tarifverträge zunehmend belangloser und die weitere Verbreitung des Sozialdumping gefördert sowie der soziale Friede nachträglich und fahrlässig weiterhin gefährdet. Und nicht wir sind ausländerfeindlich, Frau Babel. Entgegen der Lambsdorffschen Ignoranz gegenüber den Bereichen des Grundgesetzes, die die soziale Komponente unserer Gesellschaftsordnung garantieren, haben wir nun doch verschiedene Entwürfe zur Diskussion vorliegen, die auf gesetzlichem Wege das Entsendeproblem lösen wollen. Dabei können wir seit gestern abend feststellen, daß offensichtlich der Entwurf des Bundesarbeitsministers fast schon wieder vom Tisch ist, weil die Arbeitgebervertreter im BDA-Tarifausschuß nicht mitziehen wollen. Sie haben die vorgesehene Allgemeinverbindlichkeitserklärung abgelehnt, wodurch dieser Gesetzentwurf zu einer „sozialpolitischen Ozon-Verordnung" verkommt, wie es mein Kollege Schreiner heute vormittag so treffend formuliert hat. ({6}) Es ist nicht nur die Allgemeinverbindlichkeit Kappes, sondern auch noch die Befristung auf zwei Jahre. Sie suggeriert, als hätten wir danach eine heile Welt, was sicherlich nicht der Fall sein wird. Daraus kann für Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, eigentlich nur folgen, daß Sie sich dem Entwurf der SPD anschließen, denn darin entfällt ein förmliches Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeit. Wir wollen vielmehr tarifliche Löhne und Arbeitsbedingungen verbindlich festschreiben, wenn Arbeitgeber mit Sitz im Ausland Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zur Erbringung von Dienstleistungen nach Deutschland entsenden. Noch ein Wort speziell an die Berliner Kolleginnen und Kollegen von der CDU und an die Kollegen der CDA, die ja in Ihrer Fraktion noch ein bißchen vertreten sind. Überlegen Sie sich gut, ob Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserer Stadt helfen wollen oder ob Sie weiter in blindem Gehorsam etwas die Treue schwören, was sich seit der Sitzung des BDA-Tarifausschusses letzte Nacht als völlig sinnlos erwiesen hat. Wenn Sie unserer Stadt und ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern tatsächlich helfen wollen, dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu, der, ebenso wie der Bundesratsentwurf des Landes Berlin, diese Allgemeinverbindlichkeitserklärung nicht vorsieht. Die Sozialdemokraten im Berliner Senat haben einen Gesetzentwurf für den Bundesrat vorbereitet, der in weiten Teilen dem der SPD-Bundestagsfraktion entspricht. ({7}) Zwar wurde dieser Entwurf durch die CDU-Senatorin in der großen Koalition etwas abgeschwächt - hier reden wir über Einigkeit, Frau Babel -; es ist jedoch eine Tatsache, daß der Berliner Entwurf unserem Entwurf wesentlich näher ist als der Entwurf der Bundesregierung. Damit sind sich die Vertreter der CDU untereinander nicht einig. ({8}) Von daher sollte nicht nur für alle Berlinerinnen und Berliner im Deutschen Bundestag eine Zustimmung zum SPD-Entwurf eine logische Konsequenz sein. Unser Entsendegesetz abzulehnen heißt nichts anderes, als aus ideologischen Gründen ausschließlich das Wohl der Altherrenriege beim Bund der Arbeitgeberverbände im Auge zu behalten, ({9}) sprich: den Profit der großen Firmen, ({10}) die keine Rücksicht auf ihre Baukollegen nehmen. Das muß man auch einmal feststellen. Es interessiert die einen feuchten Kehricht, wie es der Bauwirtschaft geht!

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Ihre Redezeit!

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzter Satz: Unsere Zielsetzung ist dagegen das Wohl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zunehmend von ihren Arbeitsplätzen, vor allem am Bau, vertrieben werden, und auch das Wohl vor allem der kleinen und mittleren Betriebe beim Bau. Ich meine die Firmen, die sich keinen Briefkasten in den Niederlanden leisten können - oder auch nicht wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rainer Haungs, Sie haben das Wort. ({0})

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf deutschen Baustellen arbeiten immer mehr ausländische Arbeitnehmer zu anderen Bedingungen als ihre deutschen Kollegen. Führte dies in Boomzeiten schon zu Schwierigkeiten, wird es gerade heute, bei nachlassender Konjunktur, zu einem arbeitsmarktpolitischen Problem, daß deutsche Bauarbeiter vermehrt in die Arbeitslosigkeit gehen, während die Zahl der ausländischen Bauarbeiter stetig ansteigt. Soweit der Sachverhalt, der von niemandem bestritten wird. Der berechtigte Stein des Anstoßes, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, liegt jedoch sicherlich nicht in der legalen Beschäftigung europäischer Arbeitnehmer auf deutschen Baustellen, sondern in der Grauzone des Zusammenwirkens deutscher Großunternehmen mit ausländischen Subunternehmern, soweit diese nicht wirklich selbständig für einen Generalunternehmer arbeiten, sondern oft in einem Scheinverhältnis mit miserablen Arbeitsbedingungen nur der Mischkalkulation für deutsche Großunternehmen dienen. Dann wird der Wettbewerb zu Lasten kleiner und mittlerer Unternehmen verzerrt. Auch dies ist zweifellos ein unbestrittener Sachverhalt. Den kleinen und mittleren Bauunternehmern steht die Mischkalkulation mit Subunternehmern in der Regel nicht zur Verfügung. ({0}) Insoweit ist es legitim und das Ziel unseres Gesetzentwurfes, einen fairen Interessenausgleich zwischen freiem Binnenmarkt und berechtigtem Schutz vor dessen Mißbrauch zu finden. Im übrigen - und hier muß ich leider einigen Vorrednern widersprechen - gilt für mich grundsätzlich nicht: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern: gleicher Lohn bei gleicher Produktivität unabhängig vom Unternehmensstandort. Auf dieser Basis sind auch schon viele Tarifverträge abgeschlossen worden; das will ich der Kollegin sagen, die da „Ach du lieber Gott! " stöhnt. ({1}) Wir haben mit dem Entsendegesetz eine Lösung gesucht, die weder gegen den Geist der Europäischen Verträge verstößt noch an den auftretenden Schwierigkeiten im Baubereich vorbeigeht. Das Risiko eines solchen Gesetzes - einige Kolleginnen und Kollegen haben darauf hingewiesen - darf dabei nicht übersehen werden. Es darf nicht zugelassen werden, daß es im gemeinsamen Binnenmarkt, der für einzelne betroffene Branchen oder Unternehmen Anpassungsschwierigkeiten mit sich gebracht hat, mit einem solchen Gesetz zu einer Signalwirkung und damit zu einer Weckung von Begehrlichkeiten bei anderen Branchen kommen kann. ({2}) Ich weiß nicht, ob einige der Vorredner, denen ich aufmerksam zugehört habe, diese Schwierigkeit und Gefahr so sehen wie wir, die wir einer europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik verpflichtet sind. Die in der letzten Woche geführte Diskussion um den Gesetzentwurf zeigt jedoch, daß dies in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. Die geforderte Ausweitung des Kreises der Begünstigten beispielsweise oder eine Verlängerung des Zeitraums auf mindestens fünf Jahre erhöht die Anspruchshaltung anderer Branchen, bei Wettbewerbsschwierigkeiten jederzeit gesetzliche Schutzbestimmungen einfordern zu können. ({3}) Dies ist das Gegenteil einer offenen, in der Europäischen Union und der Weltwirtschaft verflochtenen Arbeitsteilung, und es widerspricht allen unseren Erfahrungen, die uns in der Vergangenheit zu Wohlstand und sozialer Sicherheit geführt haben. ({4}) Der Gesetzentwurf der Opposition, liebe Kolleginnen und Kollegen, zielt meines Erachtens genau in diese Richtung, die von mir kurz skizziert wurde, nämlich in die falsche Richtung der Ausweitung auf andere Branchen, der Aushöhlung des Geistes des Binnenmarktes, in Richtung eines trügerischen, kurzfristigen Schutzes, der mit Sicherheit den nächsten Sturm nicht überleben wird. Der Gesetzgeber wird somit mit dem Entsendegesetz einen Rahmen vorgeben, der von den Tarifpartnern mit Leben erfüllt werden muß. Dies dürfte ja wohl der Sinn der Tarifautonomie sein. Wenn dies von den Tarifpartnern abgelehnt wird, bezieht sich ihre Ablehnung dabei nicht auf die gesetzlichen Möglichkeiten - insofern gebe ich dem Kollegen Louven völlig recht -, sondern auf die konkrete Umsetzung durch die Tarifpartner. Es ist ein Angebot des Gesetzgebers. ({5}) - Ich habe vor, in meinen Ausführungen diese spannende Frage Ihnen und den anderen interessierten Kollegen zu beantworten. Die Kritik der Arbeitgeber habe ich als nachvollziehbar, in Teilbereichen auch als gerechtfertigt bezeichnet. Es ist an der Zeit, für die Baubranche festzustellen, daß sich ihre Vorstellungen einer vor Wettbewerbsdruck geschützten Überleitungsphase im Gespräch, im Dialog, in der Verhandlung mit den anderen Arbeitgeberverbänden nicht umsetzen lassen. Dies hat die Branche zum Teil selbst verschuldet: Eine hinausgezögerte Anpassung an den Binnenmarkt, auch gefördert durch die jahrelange Hochkonjunktur am Bau, das Festhalten an einem starren Lohnniveau und die Betonung einer scheinbaren Sondersituation im Vergleich zum produzierenden Gewerbe haben zu einer aktuellen Isolierung geführt. Dies ist mit Sicherheit nicht Schuld der Politik. Aber wir haben rechtzeitig - auch in der Diskussion über das Schlechtwettergeld - darauf hingewiesen, daß unzeitgemäße Arbeitszeitregelungen, daß mangelnde Flexibilität, daß fehlende Tariföffnungen in einer Branche, die bisher dem europaweiten Wettbewerb nicht so ausgesetzt war wie andere Branchen, zu diesen Schwierigkeiten führen können und jetzt auch führen. Textil- und Metallindustrie, zwei Bereiche, die seit Jahren mit einer verschärften weltweiten Arbeitsteilung und mit internationalen Kostennachteilen zu kämpfen haben, mußten sich an den Wettbewerb anpassen, und sie sind in einem schmerzlichen Prozeß dabei. ({6}) Von ihnen zu verlangen, einer anderen Branche ohne eigene Anpassungsbemühungen auf lange Zeit einen Schutzzaun bei gleichartigen Konkurrenzbedingungen zu geben, dies grenzt an eine Zumutung. Es ist nicht nur ökonomisch falsch, sondern auch sozial ungerechtfertigt. Mir kann niemand erklären, warum ein Hilfsarbeiter in der Baubranche mehr verdienen soll, als der Ecklohn in vielen anderen Industriebranchen ist. Ich habe einige genannt. Ich habe mir die gesamten Tariflöhne - da ich sie nicht so gut auswendig kenne wie Sie, Herr Kollege Gilges - aus den Bereichen Textil, Bekleidung, Leder, Holzindustrie usw. aufschreiben lassen. Es führt kein Weg daran vorbei, daß das, was Sie gesagt haben, wohl richtig ist - ich habe auch nicht daran gezweifelt -, daß der Ecklohn in der Baubranche irgendwo zwischen 22 und 23 DM liegt. Aber wir können auch nicht daran zweifeln, daß der jetzige tarifliche Eingangslohn für Ungelernte bei über 20 DM liegt. Es ist sozial ungerechtfertigt, dann, wenn der Ecklohn in anderen Branchen bei 15, 16 oder 17 DM liegt, hier eine solche Regelung zu treffen, und deshalb habe ich es als nachvollziehbar bezeichnet und gesagt, daß ich ein gewisses Verständnis für die Entscheidung der BDA habe. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Haungs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gestatte sie.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Haungs, Ihre Äußerungen über die Textilindustrie und andere Bereiche widersprechen diametral dem, was Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vorhin gesagt hat, der nämlich deutlich darauf hingewiesen hat, daß bei Produktionen im Ausland halt auch die ausländischen Lebensbedingungen und Lebenshaltungskosten zugrunde zu legen sind, also die Kosten des Produktionsstandortes. Nichts anderes wollen wir auch im Bereich der Bauwirtschaft und bei der Arbeit hier im Lande. Die Regelungen des Produktionsstandortes müssen Maßstab der sozialen und der Arbeitsverhältnisse sein.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war zwar keine Frage, sondern ein Kommentar. ({0}) Aber ich will gern diesen Kommentar aufgreifen, um Ihnen noch einmal dazu etwas zu sagen. Manche Frage würde sich allerdings wohl erübrigen, wenn Sie mich den Rest meiner Ausführungen machen ließen. Ich sage ja: Ich stimme hier für das Entsendegesetz. Ich habe wie viele meiner Vorredner aus der Koalition ja daran mitgewirkt, daß es in der Form vorgelegt wird, wie es jetzt vorgelegt worden ist. ({1}) - Darf ich vielleicht erst die Frage des einen Kollegen beantworten, bevor ich zu dem Zwischenruf des etwas aufgeregt schreienden Kollegen Schreiner komme? ({2}) - Machen Sie das so; Sie werden nicht schlecht dabei fahren. Aber erlauben Sie mir doch, jetzt zu versuchen, eine Antwort auf die Nicht-Frage, auf den Kommentar Ihres Kollegen zu geben. Ich weise darauf hin, daß ich hinter der Notwendigkeit der Verabschiedung eines Entsendegesetzes stehe, daß ich auch den Zuschnitt des Entsendegesetzes mitgetragen habe und daß ich gesagt habe, daß wir entgegen dem ursprünglichen Wunsch, das ganze Tarifwerk für allgemeinverbindlich zu erklären, die unterste Lohngruppe genommen haben. Das Problem in Deutschland, nicht in Portugal oder sonstwo ({3}) - was sind Sie für Störer; lassen Sie mich doch die Frage, die Ihr Kollege mir gestellt hat, in Ruhe beantworten -, besteht darin, daß die unterste Lohngruppe für den Hilfsarbeiter am Bau, wenn ich dies mit dem Ecklohn anderer Branchen, die ich genau studiert habe, vergleiche, sozial ungerechtfertigt und ökonomisch falsch ist. Insofern habe ich - diesen Hinweis will ich dem Kollegen noch geben -, die Entscheidung der Arbeitgeber, der BDA, zwar bedauert, aber als nachvollziehbar bezeichnet. ({4}) Was kann ich denn dafür, wenn Sie viele Dinge nicht nachvollziehen können? Das ist doch nicht mein Problem, sondern das Ihrige. ({5}) - Ich habe aber versucht - das müssen Sie mir doch zugestehen -, Ihre Frage zu beantworten, indem ich sagte: Ich bin dafür ({6}) - lassen Sie mich den Gedanken fortführen -, daß wir als Gesetzgeber an die Tarifpartner appellieren, ihre Tarifautonomie wahrzunehmen und diesen Fehler - darüber gibt es gar nichts zu diskutieren; es ist sozial ungerechtfertigt, und es ist ökonomisch falsch - zu berichtigen. Dann wird es vielleicht auch zu einer Allgemeinverbindlichkeit kommen. Aber alle Diskussionsbeiträge, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, gebracht haben, führten in dieselbe Richtung. Sie haben mit viel Geschrei versucht, die Frau Kollegin Babel zu diffamieren, und Sie haben davon gesprochen, daß das ein Rückschritt ins 19. oder ins 18. oder ins 17. oder in was weiß ich für ein Jahrhundert ist, ({7}) während wir darum bemüht sind, ein flexibles Tarifsystem für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Sonst weinen wir hier immer nur Krokodilstränen über verlorengegangene Arbeitsplätze und tun so, als ob wir das Problem nicht sehen würden, obwohl jeder von uns weiß, daß die weltweiten Wettbewerbsbedingungen anders geworden sind. In der Zwischenzeit haben sogar die Kollegen von den Grünen, vertreten durch den jetzt leider nicht anwesenden Vordenker, festgestellt, daß Abschottung nicht zum Wohlstand führt, sondern daß wir eine offene Diskussion in der Europäischen Union führen müssen, daß wir uns diesen Themen der Flexibilisierung nicht verweigern dürfen und daß Ihre Verweigerung der Realität schon langsam neurotische Züge trägt. ({8}) Ich fordere deshalb die Tarifpartner der Bauwirtschaft auf, bei ihrer Diskussion um zeitgemäße Tarifverträge, der sie sich derzeit mit großem Ernst widmen, auch zu einer anderen Gestaltung des Einstiegslohnes, des Mindestlohnes - nennen Sie es Öffnungsklausel für die unteren Tarifgruppen - zu kommen. Dann werden wir doch, wenn wir die deutsche Regelung mit europäischen Regelungen vergleichen, wenn wir sie damit vergleichen, was unsere französischen Freunde und Partner gemacht haben, feststellen, daß dort der SMIC, der Mindestlohn auf eine Art und Weise festgelegt worden ist, daß in- und ausländische Arbeiter auf einem zugegebenermaßen niedrigen Niveau, aber nicht zu den Beträgen, die vorhin genannt wurden, sondern auf einem niedrigen existenzsicheren Niveau die Chance haben zu arbeiten; seien dies eigene Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer aus anderen europäischen Mitgliedstaaten. Ich hoffe, daß unsere Tarifpartner die Kraft haben, sich dazu zu bewegen. Die Lohnhöhe dieser unteren Lohngruppe kann sich dann im Mittelfeld der unteren Gruppe anderer Branchen bewegen. Die anderen Branchen werden sich bei ihren Tarifverhandlungen ja wohl auch etwas gedacht haben. Bei einem Mißerfolg dieser Bemühungen kann man auch einem Vorschlag nahetreten, der dieser Tage vom Eucken-Institut vorgelegt wurde, der besagt, daß durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes die einzige rechtlich einwandfreie Lösung auf nationaler Ebene gesucht und gefunden werden kann, um dieses Problem zu lösen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich entnehme der Körpersprache des Redners, daß er eine Zwischenfrage zuläßt. - Bitte, Frau Kollegin Babel.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Haungs, ein Rückruf bei dem Eucken-Institut heute hat ergeben, daß sich das Eucken-Institut bei einer Aussage mißverständlich und falsch wiedergegeben fühlt. Es hat zwar geprüft, wie diese Mindestlohnregelung aus dem Jahre 1952 in den verfassungsmäßigen Grenzen zu bewerten ist. Es hat dies aber als einen Weg aus dem jetzigen Problem als in jeder Hinsicht völlig ungeeignet dargestellt. Ich will das nur noch einmal richtigstellen, nicht daß hier der Eindruck verstärkt würde, dieses Institut hätte diesen Weg empfohlen. Das hat es nicht getan.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Kollegin. Ich habe keinen Rückruf bei diesem renommierten Institut getätigt. Ich fühlte mich nur auf der Suche nach einer zweitbesten Lösung bestätigt, indem ich gesagt habe: Für mich wäre die richtige Lösung im Sinne einer Tarifautonomie, daß die Tarifpartner, wie von mir dargestellt, die tarifmäßige Lösung durch Tariföffnungen, durch Einführung neuer Einstiegstarife schaffen, um zu einer marktmäßigen Lösung zu kommen. Dies wäre für mich die richtige Lösung. Sehr wohl habe ich mich aber auch durch die Vorschläge des Eucken-Instituts, wie sie in der Presse wiedergegeben wurden, in dem Gedanken bestärkt gefühlt, daß ich mir, wenn die Tarifautonomie in diesem Fall nicht zu den Ergebnissen kommt, die wir uns wünschen, da ich den heutigen Zustand - da stimme ich in der Analyse den Kollegen von der Opposition zu - für untragbar halte, zumindest überlegen will, ob nicht das vorhandene Instrument des gesetzlichen Mindestlohnes mit einem deutlichen Abstand von den bisherigen Tariflöhnen eine Möglichkeit ist, zu einer sachgerechten Lösung zu kommen. Ich werde dies noch einmal im Detail überprüfen. Ich glaube wohl, daß es ein Weg ist, falls die anderen Wege nicht zum Erfolg führen, auch wohl wissend, daß Ihr prominenter Wirtschaftssprecher Graf Lambsdorff nicht dafür ist. Die Lohnhöhe könnte sich - ich habe darauf hingewiesen - im unteren Mittelfeld bewegen. Ich glaube, durchaus im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, daß dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, durchaus noch ein weiteres Leben beschieden sein wird. Er ist in der jetzigen Form mit der Allgemeinverbindlichkeit nicht durchsetzbar. Es liegt nun aber an den Tarifpartnern, an uns und an den weiteren Beratungen, in diesem Gesetzentwurf den Kompromiß zwischen sozialen Erfordernissen, europäischen Belangen und ökonomischer Vernunft zu finden. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Peter Dreßen, bevor ich Ihnen das Wort zu einer Kurzintervention erteile, muß ich mich zunächst ein bißchen mit dem Kollegen Schreiner beschäftigen und anschließend noch etwas in Richtung der Grünen sagen. Herr Kollege Schreiner, die Befassung mit der cerebralen Beschaffenheit eines Kollegen - ich meine das Wort „hirnrissig" - ist nicht parlamentarisch. Der Zuruf „Künstler" ist in Ordnung. ({0}) Herr Kollege Werner Schulz, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Kollegin Buntenbach auf Grund Ihrer etwas längeren Erfahrung in diesem Hause erklären könnten, daß die Bezeichnung „Heuchlergruppe" für eine andere Fraktion unparlamentarisch ist. Sie kennen meine Abneigung gegen Ordnungsrufe. ({1}) - Moment, ich habe hier das Protokoll vorliegen. ({2}) - Moment! Der Kollege Joschka Fischer hat das natürlich mit rhetorischer Gerissenheit benutzt, in Frageform gekleidet und gesagt: „Sind Sie jetzt eine Heuchlerbande oder nicht?" - Dies ist eine Wortwahl, die wir in diesem Hause - ({3}) - Ich rede jetzt nicht mit Ihnen, liebe Kollegen. ({4}) Das ist eine Wortwahl, die wir in diesem Hause bitte unterlassen wollen. Jetzt haben Sie, Herr Kollege Dreßen, das Wort zu einer Kurzintervention.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, bisher habe ich Sie eigentlich als einen Kollegen eingeschätzt, der effizient arbeiten will. Deshalb wundere ich mich darüber, daß Sie sich hier für ein Gesetz stark machen, von dem Sie genau wissen, daß es eigentlich nur für den Papierkorb ist oder sich für den Müll eignet. ({0}) Deswegen habe ich mich gefragt, wieso Sie dazu kommen, diesen Entwurf eines Entsendegesetzes in dieser Form hier im Bundestag zu verteidigen. Sie wollten - das wurde mir dann klar - wieder einmal die Chance nutzen, die flexiblere Gestaltung der Tarifverträge zu fordern. Ich möchte Sie allerdings darauf hinweisen, daß es eine Angelegenheit der Tarifparteien ist, wie flexibel sie ihre Tarifverträge gestalten. Und bitte: Benutzen Sie doch um Gottes willen nicht den Begriff „flexiblere Gestaltung", sondern sagen Sie, was Sie wollen, nämlich Löhne von 8 oder 9 DM! Das empfänden Sie wahrscheinlich als angebracht, aber Sie müßten es dann auch einmal offen aussprechen. ({1}) Mich ärgert es, daß hier von Flexibilität gesprochen wird, man aber meint, die Löhne sollten urn 20 oder 30 oder 40 % gesenkt werden. Da stellt sich für mich wirklich die Frage, ob das nicht - wie es hier bezeichnet wurde - heuchlerisch ist. Ich würde Ihnen empfehlen, einmal die Passagen von Herrn Blüm, von denen ich nicht alle, aber zumindest ein paar Teile, zur Einführung des Entsendegesetzes nachzulesen. Dort hat er von Sportlern gesprochen und damit nicht die Arbeitnehmer, sondern die Unternehmer gemeint, die mit diesen Nachteilen kämpfen müssen, weil sie - wenn sie ordnungsgemäß vorgehen - ihre Tarifangestellten oder -arbeitnehmer nach Tarif bezahlen müssen. Aber derjenige, der - wie gesagt - diese Briefkastenfirma in Portugal aufmacht, kann hier tatsächlich mit den billigen Löhnen arbeiten. Dieser Unternehmer hat dann die Turnschuhe an. Und Sie sind bereit, dem nicht nur Gummistiefel überzuziehen, sondern ihm auch noch Wasser in die Stiefel zu schütten. ({2}) Vor diesem Hintergrund frage ich mich schon, wie diese Leute arbeiten sollen. Ich würde Ihnen dringend empfehlen, sich auch einmal im Baugewerbe zu erkundigen, wie viele Hilfsarbeitskräfte dort noch zu finden sind. Auf Grund der technologischen Entwicklung ist deren Zahl nämlich sehr rasant zurückgegangen. Wir haben im Bau fast nur Fachkräfte beschäftigt. Deshalb empfehle ich Ihnen einfach einmal, das eine oder andere nachzulesen. Mich verwundert es, daß Sie sich nicht offen hier hinstellen und sagen, wieviel Sie den Arbeitnehmern mit Ihrer Deregulierungskampagne, die Sie betreiben und im Lande sehr stark vertreten, an weniger Lohn, mehr Arbeitszeit, weniger Mitsprache und weniger Urlaub zumuten wollen. Sagen Sie das doch einmal offen. Dann kann man darüber auch diskutieren. Aber dieses ewige Darumherumgerede macht mich - das muß ich ehrlich zugeben - langsam krank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Da in der Blickrichtung des Redners sowohl die Kollegin Babel als auch der Kollege Haungs sitzen, bin ich mir nicht ganz sicher, wen Sie angesprochen haben. ({0}) Herr Haungs, Sie haben das Wort zur Erwiderung, falls Sie es wünschen. ({1}) - Es muß nicht sein. Wir begrüßen jede Wortmeldung, die nicht erfolgt. ({2}) Ich erteile das Wort der Kollegin Leyla Onur.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war bislang eine sehr interessante Debatte. Es ist viel Richtiges gesagt worden, aber auch sehr viel Falsches. Darauf möchte ich nur bedingt eingehen. ({0}) Herr Bundesminister Blüm, wir brauchen ein Entsendegesetz, haben Sie zu Beginn Ihrer Rede gesagt. ({1}) Herr Bundesminister, nein. Wir hätten eine europäische Entsenderichtlinie gebraucht. ({2}) - Moment, ich komme noch darauf zurück. Das weiß ich doch, Herr Kollege. ({3}) - Sehr reizend. Kollege Julius Louven ist Ihnen sozusagen zur Seite gesprungen, indem er darauf hingewiesen hat, wie redlich Sie sich doch unter deutscher Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 1994 um die europäische Entsenderichtlinie bemüht haben, die, man höre und staune, im Entwurf seit 1991 vorliegt und vor Vollendung des Binnenmarkts hätte nicht nur verabschiedet, nein, sogar in nationales Recht umgesetzt sein sollen; so lautet jedenfalls der Vorschlag der Kommission von August 1991. Sie haben sich also redlich bemüht, hatten aber keinen Erfolg. Dazu fällt mir ein sicherlich auch Ihnen bekannter lateinischer Hexameter ein, der in der Übersetzung heißt: Wenn auch die Kräfte fehlen, ist dennoch der Wille zu loben. Ich bin gern bereit, Ihren Willen zu loben. Aber es bleibt bei der Tatsache: Sie haben versagt. ({4}) Sie haben mit diesem Versagen den kleinen und mittleren Betrieben in Deutschland, den inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und auch den entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern großen Schaden zugefügt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Norbert Blüm?

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich, Herr Minister.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Ihnen bekannt, daß wir in Europa keine Monarchie, sondern eine Demokratie haben und sogar im Ministerrat Mehrheiten entscheiden? Insofern können Sie nur einer Mehrheit vorwerfen, daß sie versagt habe. Ich war leider Gottes nicht die Mehrheit.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, mir sind die Verhältnisse im Sozialministerrat in Brüssel sehr wohl bekannt. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, fünf Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und dort auch im Sozialausschuß tätig zu sein. ({0}) Es ging doch - das wollen wir den Kolleginnen und Kollegen nicht verschweigen - ({1}) - Er will es gar nicht wissen. ({2}) Sie wissen und ich weiß, daß es nur darum ging, aus der Gruppe derjenigen, die eine Sperrminorität hatten, wenigstens einen Partner herauszubrechen. Ich gebe Ihnen einmal ein Stichwort. Bei dementsprechender Argumentation wäre Ihnen das bei dem griechischen Kollegen sicherlich gelungen, aber Sie haben es nicht auf die Reihe gebracht; das muß ich Ihnen hier noch einmal bestätigen. ({3}) - Darauf kommen wir gleich noch.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Fragebedürfnis besteht weiter. Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Norbert Blüm zu beantworten?

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, da es nicht von meiner Redezeit abgeht, mache ich das gerne.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß der griechische Kollege zugestimmt hat? Sie sind leider einer Fehlinformation zum Opfer gefallen. ({0}) Sie sehen, unser Erfahrungsaustausch hat doch seinen Sinn. ({1})

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie mußten noch extra eine Sondersitzung des Sozialministerrats im Dezember einberufen, um dann mit einem Kompromiß auf den Markt zu gehen, weil Sie immer noch auf eine Mehrheit gehofft haben. Aber Sie sehen, das Ergebnis ist doch so, wie es ist. Das hilft nun alles nichts. Wir haben keine europäische Entsenderichtlinie. Wir haben sie bis heute nicht. ({0}) Deshalb müssen wir jetzt selbstverständlich hier gemeinsam eine nationale Regelung beschließen, die sich natürlich an den Vorgaben der europäischen Entsenderichtlinie orientieren sollte. In bezug auf Ihren Vorschlag, Herr Minister, komme ich jetzt auf einige Punkte zu sprechen. Selbstverständlich verstehe ich - nein, ich kann es nur nachvollziehen, verstehen tue ich es nicht -, daß Sie unter dem Druck, einen Erfolg heimbringen zu müssen, in Europa natürlich zu jedem Kompromiß bereit waren und deswegen auch den Anwendungsbereich auf die Baubranche beschränken wollten, in der Hoffnung, dann eine Mehrheit zu bekommen. Ich verstehe auch nicht, daß Sie sich nun auch bei der nationalen Regelung mit diesem eingeschränkten Anwendungsbereich begnügen. Denn Sie wissen doch eigentlich, daß nicht nur die Baubranche betroffen ist. Wie ich gerade sehe, ist es noch viel schlimmer: Es geht nur noch um das Bauhauptgewerbe und nicht einmal mehr um das ganze Baugewerbe; das ist ja der Kompromiß des Kompromisses. In der Erläuterung zu § 1 Abs. 1 begründen Sie die Einschränkung des Anwendungsbereiches auf die Baubranche folgendermaßen: Im Baubereich sind innerhalb des europäischen Binnenmarktes sehr erhebliche Unterschiede im Lohn-Niveau zu beobachten. Sie belegen das mit Zahlen, die mir sehr bekannt vorkamen, als ich sie zum erstenmal in Ihrem Entwurf gelesen habe. Und siehe da: Beim Nachlesen in dem von mir schon genannten Kommissionsdokument aus dem Jahre 1991 stoße ich genau auf diese Zahlen, und zwar präzise auf Seite 5 in einer Tabelle 2. Da werden nämlich diese Zahlen sozusagen im Vergleich aufgelistet. Damit es nicht so auffällt, haben Sie in diesem Fall nur die höchsten Tariflöhne genannt und nicht die hier ebenfalls genannten niedrigsten Tariflöhne. Das mag so gehen. Nur haben Sie uns die Tabelle 1 vorenthalten. In dieser Tabelle 1 sind nämlich ebenfalls Tariflöhne zwischen den Ländern verglichen, und zwar nicht nur auf die Baubranche, sondern auf viele verschiedene Branchen bezogen: Industrie insgesamt, Bergbau, produzierendes Gewerbe, Metallverarbeitung, Nahrungsmittelindustrie, Textilindustrie usw. Wenn Sie diese Tabelle einmal genau anschauen, werden Sie feststellen, daß das Lohngefälle nicht nur bei der Baubranche dramatisch ist, sondern auch auf andere Branchen zutrifft. Also fällt doch Ihre Argumentation - weil es in der Baubranche dieses Lohngefälle gebe, müsse man nur für die Baubranche ein solches EntLeyla Onur sendegesetz schaffen - wie ein Kartenhaus in sich zusammen. ({1}) - Ich weiß, daß er nicht durfte. ({2}) Er wollte vielleicht. Ich habe vorhin schon den guten Willen gelobt. Vielleicht wollte der Bundesminister anders; aber er durfte ja nicht anders. Er mußte sogar nach dem Kompromiß eines Kompromisses zustimmen. Das war der erste Punkt. In diesem Zusammenhang kommen wir auch auf die interessante Geltungsdauer des Gesetzes, das auf zwei Jahre befristet ist. Auch da bemühen Sie dieses Zahlenwerk der europäischen Kommission. Da heißt es nämlich in der Erläuterung zu § 1 Abs. 1 Ihres Entwurfs: Da das unterschiedliche europäische Lohnniveau jedoch kein auf Dauer unveränderliches Merkmal der Baubranche darstellt und somit nur innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann, ist das Gesetz in seiner Geltungsdauer auf zwei Jahre befristet. ({3}) - Frau Babel, hören Sie mir doch bitte freundlicherweise erst einmal zu. Die Zahlen, auf die sich der Entwurf in der Argumentation stützt, stammen wohlgemerkt aus dem Jahr 1990. Wenn 'dieses Problem wirklich innerhalb von zwei Jahren zu erledigen wäre, sozusagen verschwinden würde, dann hätte es das längst getan; denn die Zahlen sind von 1990. Spätestens 1992 oder 1993 hätte es das Problem nicht mehr geben dürfen. Es ist aber genau das Gegenteil der Fall: Die Schere ist weiter auseinandergegangen. Wer glaubt, in absehbarer Zeit sei es möglich, die Löhne in den anderen EU-Staaten denen in der Bundesrepublik anzugleichen, der ist total unrealistisch; er ist ein Illusionist. ({4}) Also kann nur umgekehrt ein Schuh daraus werden. Wenn Sie sagen, das Problem sei nach zwei Jahren gelöst, müssen sie doch im Hinterkopf haben, die Löhne in Deutschland auf portugiesisches Niveau herunterdrücken zu wollen. ({5}) Eine andere Erklärung gibt es für mich nicht. Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Wir hatten vorhin schon die Diskussion: Mindestlohn kontra Ortsüblichkeit. Übrigens geht es gar nicht um den Mindestlohn kontra etwas, da dieses als ein Paket zu sehen ist. Wenn Sie, verehrter Herr Bundesminister, hier sagen: „Nur Allgemeinverbindlichkeit geht, ({6}) Ortsüblichkeit ist nicht richtig, ist falsch" - das sage ich ganz vorsichtig -, stellen Sie damit die verehrten Kollegen Ihrer Partei, aber auch der F.D.P., die im Europäischen Parlament an diesem Gesetzentwurf, nämlich der Entsenderichtlinie, mitgewirkt haben, als Deppen dar. Denn es waren gerade die deutschen Abgeordneten - übrigens aller Couleurs -, die darauf gestoßen sind, daß der Vorschlag der Kommission nicht ausreicht, weil er die deutsche und auch die dänische Situation nicht trifft und weil auf dem Weg zur Mindestlohn- und Allgemeinverbindlichkeitserklärung das Ziel - hinsichtlich des Ziels sind wir uns völlig einig: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort - nicht erreichbar ist. Deswegen sind die deutschen Abgeordneten aller Couleurs im Europäischen Parlament auf den Vorschlag gekommen, die Ortsüblichkeit in Form eines Änderungsantrags einzubringen. In der Tat - wie vorhin schon ausgeführt worden ist - ist das von der Kommission akzeptiert worden. Die Kommission hat verstanden, daß das ein Lösungsweg ist - kein Königsweg, aber ein vernünftiger Lösungsweg. Ich begreife nicht: Warum lassen Sie die verehrten Kollegen der CDU/CSU und der F.D.P., die im Europäischen Parlament mitgewirkt und ja dazu gesagt haben, eigentlich so im Regen stehen? Sie bezeichnen sie geradezu als Deppen, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen. Verehrter Herr Bundesminister, ohne auf die anderen zu kritisierenden Punkte einzugehen - das hat der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes in trefflicher Weise getan; das brauche ich nicht zu wiederholen; Sie haben das selbstverständlich gelesen -, möchte ich Sie bitten, sich im Interesse der kleinen und mittleren Betriebe, der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und insbesondere der bisher noch ausgebeuteten entsandten Arbeitnehmer mit uns an einen Tisch zu setzen und unseren Vorschlag als Grundlage zu nehmen; denn er ist in der Tat europakonform. Vielen Dank. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich muß zuerst etwas richtig stellen. Frau Kollegin Buntenbach, mir ist ein Protokollauszug vorgelegt worden, demzufolge Ihnen dieses von mir vorhin angeführte Wort, zu dem sich der Kollege Schreiner allerdings sofort bekannt hat, zugerechnet wurde. ({0}) Vizepräsident Hans Klein Verzeihung, ich habe das, Herr Kollege Schreiner, Sie wohl kennend, einfach für eine Kavaliersgeste gehalten. Aber Sie waren es wirklich. Frau Kollegin Buntenbach, das wird im Protokoll richtig erscheinen. ({1}) Ihnen wird dieses Wort nicht in den Mund gelegt. ({2}) Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ernst Hinsken das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin dankbar, daß ich hier noch die Möglichkeit zu einer Kurzintervention habe. Wir haben letzte Woche eine große Debatte zur Lage des Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland geführt. Dabei wurden viele Lippenbekenntnisse abgegeben. Eines der großen Probleme, das wir haben und das nicht wegdiskutiert werden kann, sondern gesehen werden muß, ist insbesondere das, daß die kleinen Baufirmen verstärkt von den großen Baufirmen verdrängt werden, weil sie einfach nicht in der Lage sind, billige ausländische Arbeitnehmer zu beschäftigen, wie das insbesondere bei den großen Baufirmen gemacht wird. Deshalb möchte ich die Möglichkeit nutzen, an Sie, verehrter Herr Dr. Blüm, zu appellieren, nicht nachzulassen, damit möglichst bald eine Entsenderichtlinie kommt. Diese braucht insbesondere der Mittelstand. Sie wird von den kleinen Unternehmen gebraucht. Sie wird gebraucht, um nicht pleite gehen zu müssen und gegenüber größeren Betrieben bestehen zu können. Mir ist zwar klar, daß das Ganze ordnungspolitisch nicht richtig ist. Aber ich meine, wir können einfach nicht wegdiskutieren, daß, wie heute zum Ausdruck gekommen ist, 150 000 ausländische Bauarbeiter sich in der Bundesrepublik Deutschland befinden, während auf der anderen Seite 140 000 deutsche Bauarbeiter arbeitslos sind. Deshalb ist, meine ich, dringendster Handlungsbedarf gegeben. Zudem meine ich, darauf verweisen zu müssen, daß gerade die Bauwirtschaft für die Marktwirtschaft des Binnenmarktes ein Problem darstellt. Ihre Arbeitsplätze kann man nicht exportieren oder importieren. Deshalb appelliere ich nochmals, nicht nachzulassen, in diese Richtung zu marschieren. Dabei möchte ich ergänzend zwei Problembereiche ansprechen. Ich frage mich, ob es richtig ist, das Entsendegesetz, wenn wir überhaupt zu einem solchen kommen, auf zwei Jahre einzugrenzen. Mir wären zumindest drei Jahre lieber. Das wäre auch vernünftiger, weil es ein größerer, überschaubarerer Rahmen wäre. Ich meine auch, daß es sinnvoll wäre - das sage ich als Mittelstandspolitiker -, daß vor allen Dingen das Baunebengewerbe einbezogen wird. Warum? Wenn ich heute einen Bauauftrag erteile und sage, ein Haus soll hochgezogen und dann zudem gepflastert werden, dann gilt für das Hochziehen des Baus das Entsendegesetz, für das Pflastern z. B. nicht. Wie soll hier kontrolliert werden können? Deshalb wäre es wichtig, richtig und gut, in diese Richtung zu überlegen und solche Fälle auf die Reihe zu bringen. Ich möchte Sie, Herr Minister, nochmals ausdrücklich bestärken, im Sinne des Mittelstandes und der betroffenen Bauarbeitnehmer den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Moment! Nach der Geschäftsordnung hätte zunächst einmal der angesprochene Minister, wenn er will, das Wort zu einer Replik.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Ich habe mich darüber gefreut. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Danke. Bitte sehr.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will es ganz kurz machen. Herr Hinsken, Frau Babel hat schon darauf abgehoben, daß es um eine Frage geht, die Ausländer und Deutsche betrifft. Es geht nicht um 140 000 deutsche Bauarbeiter, sondern es geht um Bauarbeiter, die in Deutschland gemeldet sind. Darunter sind viele ausländische Kollegen - türkische Bauarbeiter, griechische Bauarbeiter, spanische Bauarbeiter usw. ({0}) die hier ihren Wohnort haben und die hier so, wie die Gesetze und Tarifverträge das vorsehen, bezahlt werden. Die anderen 150 000 Bauarbeiter wohnen eben nicht hier, bezahlen eben nicht hier ihre Steuern und ihre Sozialversicherung usw. ({1}) - Das hat Herr Blüm gesagt; das wird allgemein so angenommen. Frau Babel, es geht doch nicht darum, ob es 150 000 oder 120 000 sind. Darüber will ich mit Ihnen nicht streiten. Es geht nicht um die Frage des nationalen Status, sondern darum, daß die Arbeitnehmer, die hier in der Bundesrepublik Steuern und Sozialversicherung bezahlen, hier legal leben, durch Arbeitgeber benachteiligt werden, die mit irgendwelchen krummen Maßnahmen billige Bauarbeiter aus dem EG-Bereich holen. Das ist der entscheidende Punkt. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/2414 und 13/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksachen 13/1833, 13/2483 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Schmidt ({1}) Johannes Singer Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher das Wort.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über zehn Monaten versuchen wir im Einvernehmen mit den Koalitionsfraktionen einen Untersuchungsausschuß auf den Weg zu bringen, der u. a. die noch offengebliebenen Fragen aus dem 1. und dem 2. Untersuchungsausschuß der letzten Legislaturperiode aufklären soll. Heute können wir endlich auf der Grundlage einer Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses zum Antrag meiner Fraktion die Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses beschließen. Ich hoffe, daß auch die Koalitionsfraktionen, die an der Beschlußempfehlung mitgearbeitet haben, der Einsetzung zustimmen. Die vorbereitenden Arbeiten sind inzwischen soweit vorangebracht worden, daß sich der Ausschuß morgen vormittag konstituieren kann, zu spät allerdings für bereits verjährte Straftaten und endgültig beiseite geschaffte Vermögenswerte, aber noch nicht zu spät für die vielen Milliarden, die veruntreut wurden, noch immer auf fremden Konten schlummern oder in falschen Händen vagabundieren. Hier will der Ausschuß mithelfen aufzuspüren. Die parlamentarische Aufarbeitung ist unabhängig von der Ermittlungsarbeit von Kriminalpolizei und Staatsanwälten in Berlin notwendig, aber auch zu deren Unterstützung dringend erforderlich. Wir sind nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Rechenschaft schuldig, alles, aber auch wirklich alles getan zu haben, um den veruntreuten Vermögenswerten nachzugehen. Ebenso sind wir verpflichtet, nachdem diese Bundesregierung und leider auch die Länder das zentral nicht haben regeln wollen, für die notwendige Sachund Personalausstattung bei den ermittelnden Behörden der Kriminalpolizei und der Arbeitsgruppe Regierungskriminalität zu sorgen. Dann gibt es auch noch das Wörtchen „Konsequenz". Wir wollen konsequent umsetzen, was dieses Haus einvernehmlich beim Abschlußbericht des 1. Untersuchungsausschusses der letzten Legislaturperiode empfohlen hat, nämlich noch offengebliebene Fragen aufzuklären und gegebenenfalls dazu erneut einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Das ist bei allem Respekt vor den bereits aufgeklärten Sachverhalten noch eine milliardenschwere Bürde, die vor uns liegt. Auch will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, sondern daran erinnern, daß die Aufklärungsarbeit mit allerlei Tricks und Absonderlichkeiten zum Ende der letzten Legislaturperiode erschwert bis unmöglich gemacht wurde. 92 plötzlich beim Bundesnachrichtendienst aufgetauchte Disketten, die das gesamte operative Wissen der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für Staatssicherheit enthalten sollen - mehr als 40 davon befinden sich zur Zeit beim Bundeskriminalamt -, stehen ebenso im Mittelpunkt unserer Untersuchungen wie die beteiligten Westfirmen, die auf unser aller Kosten munter mitverdient haben am deutschdeutschen Geschäft und vor systematischen Embargobrüchen keine Skrupel hatten. Hauptsache, D-Mark, Dollar oder Rubel rollten. Auch die Umstände und die Bedeutung sowie der Verbleib der Briefe von Dr. Schalck-Golodkowski an den Kollegen Wolfgang Schäuble sind noch nicht vollständig aufgeklärt. Aber es geht uns bei diesem Untersuchungsausschuß - Herr Gres, das ist der Punkt - nicht um spektakuläre Einzelaufklärungen wie im letzten Untersuchungsausschuß, bei dem zu sehr die schillernde Figur des Dr. Alexander Schalck-Golodkowski im Mittelpunkt stand. Bei mehreren anhängigen Verfahren ist jetzt für Schalck vor allem die Justiz zuständig. Dieser sei von hier aus geraten, Herrn Schalck und seinen Anwälten nicht nur junge juristische Berufsanfänger per Jahresabordnungen gegenüberzustellen, sondern für die weiteren Prozesse Staatsanwälte zu gewinnen, die Erfahrung in Wirtschaftsstrafsachen haben. Hier besteht sonst keine Waffengleichheit, und Herr Schalck-Golodkowski und seine Helfer kommen am Tegernsee vor lauter Lachen nicht in den Schlaf. Ich rufe Sie deshalb alle auf: Helfen Sie mit, die Vertrauenslücken zu schließen, und lassen Sie Unrecht nicht Unrecht bleiben! Arbeiten Sie mit bei der Aufklärung der 16 zentralen Fragen dieses 2. Untersuchungsausschusses in dieser Legislaturperiode mit dem Schwerpunktthema „Veruntreutes DDR-Vermögen"! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Joachim Gres.

Joachim Gres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch fünf Jahre nach der Vereinigung Deutschlands läßt uns die DDR-Vergangenheit nicht los. Die unselige Rolle der SED/PDS in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der DDR, die Auswirkungen des real existierenden Sozialismus auf die Menschen in der DDR, die kriminogenen und teilweise kriminellen Strukturen im Zusammenhang mit den vielfältigen Devisenbeschaffungsoperationen der DDR, schließlich das langjährige Zusammenwirken zwischen MfS und dem Bereich Kommerzielle Koordinierung, dies alles macht uns in der Tat zu schaffen. Insbesondere deswegen, weil die SED/PDS in der Wendezeit - und möglicherweise noch nach der Vereinigung Deutschlands - vor allem eines betrieben hat: die Sicherung der Beute. ({0}) Ganz offenbar wurde Vermögen versteckt, in dunkle Kanäle geleitet und mit Hilfe von alten Seilschaften in konspirativer Weise den Behörden vorenthalten. Dies mußte und muß aufgeklärt werden. Aufgeklärt werden muß natürlich auch das Zusammenwirken mit solchen Personen, die in den Zeiten des Umbruchs eine Gelegenheit für dunkle Geschäfte gesehen haben. Meine Damen und Herren, zur Aufarbeitung all dieser Umstände hat der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode zwei Untersuchungsausschüsse und eine Enquete-Kommission eingesetzt, die der Öffentlichkeit umfangreiche Berichte vorgelegt haben. Der Bericht des KoKo-Untersuchungsausschusses der letzten Wahlperiode war der umfangreichste Untersuchungsbericht, den der Deutsche Bundestag jemals verabschiedet hat. Der Bericht stellt umfassend einen Teil der Strukturen des Wirtschaftssystems der ehemaligen DDR dar. Durchgreifende Kritik an Bundesregierung oder Bundesbehörden ist in diesem Bericht nicht festgehalten. Die SPD beantragt, zur Durchleuchtung dieser DDR-Vergangenheit jetzt erneut einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, und hat den uns heute vorliegenden Antrag formuliert. Grundsätzlich, meine Damen und Herren von der SPD, sind hiergegen keine Bedenken anzumelden. Ich warne jedoch vor der Erwartung, ein Untersuchungsausschuß dieses Hauses könnte jemals wirklich lückenlos alle Bereiche und alle Facetten des Systems der DDR - und seien es auch nur ihre Unternehmen im In- und Ausland einschließlich der konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS - aufdekken. Ich will, Herr Beucher, ferner zitieren, was der KoKo-Untersuchungsausschuß der 12. Wahlperiode in seinem Schlußbericht hierzu gesagt hat: Es wird empfohlen, daß der 13. Deutsche Bundestag unter Berücksichtigung der dann vorliegenden weiteren Erkenntnisse der Treuhandanstalt und der UKPV bzw. deren Nachfolger sowie der Gerichte und Staatsanwaltschaften prüft, inwieweit es sinnvoll ist, einen Untersuchungsausschuß zur Aufklärung der bisher noch nicht erledigten Teile des Untersuchungsauftrages und weiterer im Verlauf des Untersuchungsverfahrens deutlich gewordener Fragenkomplexe einzusetzen. Wir wissen alle, daß sich um den hier in Rede stehenden Themenkreis seit einigen Jahren verschiedene andere Gremien und Institutionen durchaus mit Erfolg kümmern. Da ist zum einen die unabhängige UKPV, die mittlerweile fast lückenlos die ehemaligen Parteifirmen der SED erfaßt hat. Da sind zum anderen die zahlreichen Strafverfahren und Zivilverfahren vor deutschen und ausländischen Gerichten wegen Veruntreuung, Bilanzfälschung oder veruntreuender Vermögensverschiebungen ins Ausland, wobei ich hier, Herr Beucher, nur anmerke, daß uns diese laufenden Verfahren in erhebliche praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Untersuchungsauftrages bringen werden. Da sind im übrigen Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse auf Länderebene. Da ist die große Fülle von Untersuchungen von Historikern und anderen Wissenschaftlern über die DDR-Wirtschaftsgeschichte. Hinzu kommen die Vorlagen und Prüfergebnisse von Bundesrechnungshof und Rechnungsprüfungsausschuß, die sich mit der Treuhand und damit verbundenen Fragen befassen. Wenn man dann hinzunimmt, unter welchem massiven Arbeitsdruck wir im Parlament sind und welche personellen Ressourcen durch einen Untersuchungsausschuß gebunden werden, ist die Frage angezeigt, ob die Tätigkeit eines neuen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages parallel zu all den von mir erwähnten Gremien und Institutionen sinnvoll ist. Diese Frage ist um so berechtigter, als die SPD den Untersuchungsauftrag nicht so präzise formuliert und begründet hat, wie das aus Gründen einer justitiablen Umsetzung geboten ist, von Praktikabilitätsgesichtspunkten ganz abgesehen. Der SPD-Antrag ist trotz aller Verbesserungen, die er im Geschäftsordnungsausschuß erfahren hat, nach wie vor von einer Weite, die auch rechtliche Bedenken hinsichtlich seiner Bestimmtheit aufwirft. Was ich vermisse, ist, daß die SPD darlegt, daß die für den KoKo-Ausschuß empfohlene Prüfung irgendwann stattgefunden hätte und mit welchem Ergebnis. Offensichtlich hat die SPD ein Interesse, von dieser Prüfung abzusehen, und möchte - aus welchen fraktionsinternen Gründen auch immer - möglichst schnell und ohne Rücksicht auf' die Arbeit der genannten Institutionen die Einsetzung eines KoKoNachfolge-Untersuchungsausschusses erreichen. Ich bedaure sehr, daß sich die SPD nicht in der Lage sah, ihrem Antrag eine Begründung zu geben. Rechtliche Bedenken gibt es - ich sage es jetzt ganz vorsichtig -, wenn ich die Maßstäbe des Steinberger Gutachtens aus dem Transnuklear-Untersuchungsausschuß anlege, vor allem im Hinblick auf private Unternehmen und Privatpersonen, die gegebenenfalls vernommen werden sollen. Man sollte bei der Formulierung von Untersuchungsaufträgen noch sorgfältiger sein, als es geschehen ist. Bekanntlich geht es - das hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich gesagt - bei der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses um Ausübung öffentlicher Gewalt. Wir wollen auf diese Bedenken hier hinweisen. Wir wollen aber dem Verlangen der SPD, auch wenn es sich nicht um ein Minderheitenrecht im Sinne von Art. 44 GG, sondern um einen Fraktionsantrag handelt, letztlich nicht im Wege stehen. Wir hoffen, daß alle im Untersuchungsausschuß so einsichtig sein werden, daß mit der Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht die Arbeit derjenigen gefährdet werden darf, die wie UKPV und BVS bzw. die Treuhandanstalt hinter SED-Vermögen und DDR-Vermögen herspüren. Es sollte bei allen Instrumenten, über die der Untersuchungsausschuß verfügt, nicht der Versuch gemacht werden, in einer kombinierten Rolle von UKPV, BVS, Bundesrechnungshof, Rechnungsprüfungsausschuß, Staatsanwaltschaft, Strafgerichten und Zivilgerichten deren Arbeit zu wiederholen. Ein Untersuchungsausschuß ist ein politisches Gremium und keine buchhalterische Veranstaltung. Ein Untersuchungsausschuß ist auch nicht Oberdetektiv, Staatsanwalt und Richter in einer Person. Ein Untersuchungsausschuß soll eine Entscheidung des Parlaments vorbereiten. Dies sollten wir vor Augen haben. Wir sollten uns auch vor Augen halten, gegenüber der Öffentlichkeit vertreten zu müssen, weshalb dieser enorme Kostenaufwand erforderlich ist, wie ihn fraglos dieser Untersuchungsausschuß mit dem Einsatz der EDV-Anlage zur Folge haben wird. Wegen der nicht ausgeräumten Bedenken, die ich vorgebracht habe, können wir dem Antrag der SPD nicht zustimmen. Da wir uns aber dem Wunsch der SPD nach Aufarbeitung eines Ausschnitts aus der deutsch-deutschen Vergangenheit nicht verschließen wollen und um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, wir oder die Bundesregierung hätten irgend etwas zu verbergen, werden wir uns nach Abwägung aller Umstände bei dem Antrag der Stimme enthalten und im übrigen in dem dann gewählten Ausschuß konstruktiv mitarbeiten. Vielen Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Vera Lengsfeld, Sie haben das Wort.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wie sichtbar ist, hat die Nachbesetzung des KoKoNachfolgeausschusses nicht so ein Interesse gefunden wie die Einsetzung des KoKo-Untersuchungsausschusses in der letzten Legislaturperiode. Viele fragen sich, was da überhaupt noch gemacht werden soll. Hier war die Rede davon, daß wir noch Hausaufgaben zu erledigen haben, die aus der letzten Legislaturperiode übriggeblieben sind. Ich denke aber, das allein würde die Einsetzung eines solchen Ausschusses nicht rechtfertigen. Hier geht es nach meiner Meinung vor allen Dingen um das politische Klima und um die politische Hygiene in unserem Lande. Um mit ein paar Beispielen zu belegen - ich habe vorhin die Zwischenrufe der PDS gehört -, daß da tatsächlich noch sehr viel Aufklärungsbedarf ist, was das Finanzgebaren der PDS betrifft, möchte ich daran erinnern, was im Frühjahr 1990 in Ost-Berlin passiert ist. Da kam es zu 2 800 GmbH-Gründungen. Davon waren aber nur 300 GmbH-Gründungen wirklich seriös. Die restlichen 2 500 wurden mit dubiosen Anleihen der Regierung Modrow getätigt. ({0}) Die das gegründet haben, waren Funktionäre aus der DSF, aus dem FDGB, aus der FDJ und auch aus der SED. Das ist schon ein gravierender Fakt, der untersucht werden muß. Frau Kollegin, ich möchte einmal daran erinnern, daß Ihr Kollege Langnitschke eine Summe ins Ausland verschoben hat - 120 Millionen -, die das Doppelte dessen war, wofür Ihre Parteiführung neulich so medienwirksam gehungert hat, weil sie sie nicht als Steuer nachzahlen wollte. ({1}) Es gibt noch genügend Dinge aufzuklären. Was ich mir von meinen Kollegen aus der SPD und aus den Koalitionsparteien wünsche, ist, daß diese Aufklärung ungeachtet dessen erfolgt, wie die Ergebnisse aussehen. Denn wir können ja noch nicht sicher sein, welches Finanzgebaren der ehemaligen Blockparteien noch zum Vorschein kommt. Natürlich muß das genauso aufgeklärt werden wie das Finanzgebaren der SED. Meine lieben Kollegen von der SPD, Sie müssen sich aber auch darüber im klaren sein, daß Sie das Finanzgebaren einer Partei aufklären wollen, die Sie sich als potentielle Partnerin bei der Jagd auf die Regierung Kohl in petto gehalten haben. ({2}) Ich hoffe, daß Sie das nicht behindern wird. In diesem Sinne freue ich mich auf die Zusammenarbeit und wünsche unserem Untersuchungsausschuß ein gutes Gelingen. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus Röhl.

Dr. Klaus Röhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001867, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Drucksache 13/1833 vom 28. Juni 1995 beantragt die Fraktion der SPD die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der die nach Auffassung der SPD-Fraktion offengebliebenen Fragen des 1. und des 2. Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode untersuchen soll. Nach Art. 44 des Grundgesetzes ist es die Pflicht des Bundestages, auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Diese Pflicht enthebt uns aber nicht der weiteren Pflicht, zu prüfen, ob der Einsetzung - es sind ja auch Untersuchungen im privaten Bereich involviert - ein öffentliches Interesse zugrunde liegt. Da es sich bei diesem Untersuchungsmetier um die mögliche Zweckentfremdung bzw. um den nicht regelgerechten Abfluß öffentlicher Mittel handelt - ich drücke mich hier absichtlich sehr vorsichtig aus -, kann man das öffentliche Interesse bejahen. Wir müssen aber auch feststellen, daß das Interesse der Bevölkerung, insbesondere in den neuen Bundesländern, sehr gering ist: „Das sind die Probleme von gestern und vorgestern. Heute hat man andere Probleme." Das ist so, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion in dieser Hinsicht anderer Meinung sind. Wir hegen zudem die Vermutung, daß sich bei der Aufarbeitung des Fragenkataloges herausstellt: Es handelt sich um das Zusammenkehren von verstreuten Restbeständen mit zum Teil unklarer Aussagekraft, von verjährten Tatbeständen, von Sachverhalten mit zum Teil unsicherer Genese und nicht sicher feststellbarem Wahrheitsgehalt. Insofern sind Effektivität und Nutzen der zu leistenden Ausschußarbeit mit recht großen Anfangszweifeln behaftet. Der Auftrag weist auch einen erheblichen Bruch in der Systematik auf, da einerseits die Aktivitäten und deren Ergebnisse des Bereiches Kommerzielle Koordinierung der verflossenenen DDR untersucht werden sollen, andererseits jedoch auch mögliche Fehlleistungen und Fehlhandlungen der Treuhandanstalt zu ermitteln sind. ({0}) Es handelt sich also um zwei völlig unterschiedliche Sachgebiete. Trotz unserer Zweifel an Nutzen und Effektivität und trotz unserer Bedenken bezüglich der Systematik wollen wir der Einsetzung und künftigen Arbeit des Untersuchungsausschusses nicht im Wege stehen. Vielleicht gibt es doch verwertbare Erkenntnisse, ({1}) vielleicht resultiert aus dieser Arbeit doch etwas zeitgeschichtliche Aufarbeitung. ({2}) Wir stimmen deshalb - obwohl wir der Meinung sind, daß der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode gravierendere und brennendere Aufgaben hat und trotz unserer Bedenken bezüglich des Nutzens - der Einsetzung zu. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Bierstedt.

Wolfgang Bierstedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002629, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte - abwesende - Frau Kollegin Lengsfeld, die Bundestagsgruppe der PDS hat vom Prinzip her nichts gegen den Anlaß des Antrages der Fraktion der SPD zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, welcher sich mit der Klärung noch offen gebliebener Fragen des 1. und des 2. Untersuchungsausschusses aus der 12. Wahlperiode beschäftigen soll. Prinzipiell ablehnend stehen wir jedoch der Tatsache gegenüber, daß sowohl im Antrag der SPD als auch in der fraktionsübergreifenden Beschlußempfehlung unsere Gruppe nur durch ein nicht stimmberechtigtes Mitglied im Untersuchungsausschuß vertreten sein soll. Sowohl im Antrag der SPD als auch, und zwar noch stärker, in der Beschlußempfehlung wird in einigen Fragestellungen unterschwellig eine Beteiligung der PDS, auch wenn hier nur das Kürzel SED/PDS verwendet wird, an illegalen Transaktionen und Geschäften unterstellt. Ich kann sagen - dabei möchte ich mich auf die Beschlußempfehlung und den ersten abweichenden Bericht unserer Gruppe zum Bericht des 1. Untersuchungsausschusses vom 27. Mai 1994 verweisen -, daß auch uns an einer Aufklärung von ungesetzlichen Aktivitäten des Bereichs KoKo gelegen ist. ({0}) Einerseits stellt man eine mögliche Betroffenheit der PDS in fröhlicher Berliner Wahlkampferwartung zumindest in Aussicht, andererseits will man den Vertreter der Gruppe der PDS in diesem Ausschuß sozusagen nur als Gast dulden, um sicherlich notwendige kritische Anmerkungen von vornherein zu unterdrücken. Wer die Wahrheitsfindung als Voraussetzung und Ziel der Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse nicht nur als wohlfeilen Anspruch formuliert, sondern zumindest partiell Realität werden lassen will, kommt nicht umhin, die politischen Rahmenbedingungen der Ausschusarbeit zu reflektieren. Sehr geehrter Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich aus Artikel 38 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Ich sehe keinen plausiblen Grund für eine Ungleichbehandlung von Abgeordneten im Zusammenhang mit der Einrichtung dieses Untersuchungsausschusses. Gehen Sie einfach einmal davon aus, daß sich die PDS in diesen Ausschuß als objektiv urteilenden Partner einbringen wird. Für die DDR war der Bereich Kommerzielle Koordinierung als Instrument gedacht, das sich marktwirtschaftlicher Mittel zum Nutzen der DDR bedienen sollte, was immer sich die Mächtigen der DDR auch darunter vorstellten. Für den Westen war der Bereich Kommerzielle Koordinierung objektiv das Einfalltor in die realsozialistische Volkswirtschaft. Beide Seiten haben sich dieses Instruments aus freiem Entschluß und in der Verfolgung eigener, wenn auch gegensätzlicher Interessen bedient. Die unterschiedliche Ausgangsposition beider Konkurrenten bestimmte dabei die praktische Verlaufsform der Geschäfte, ebenso wie das Ergebnis. Uns sollte es in diesem Ausschuß darum gehen, von den gesetzlichen Normen abweichende Handlungsweisen festzustellen und keine politisch motivierte Vorverurteilung zuzulassen. Danke schön. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erstens wünsche ich beteiligt zu werden, wenn es eine wirklich gute Pointe ist. Zweitens möchte ich gerne dem Kollegen Bierstedt sagen: Sie brauchen für Zitate den Präsidenten nicht um Erlaubnis zu bitten. Das war früher einmal so. Diese Formel geht darauf zurück, daß in der Paulskirche der damalige Abgeordnete Ludwig Uhland mit Vorliebe selbstverfaßte Gedichte als politische Beiträge zu zitieren pflegte. Um dem ein wenig vorzubeugen, hat man die Formel „Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis" erfunden. Aber das haben wir längst nicht mehr. Jetzt erteile ich dem Kollegen Volker Neumann das Wort.

Volker Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001598, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! In der Tat ist es so, daß die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen normalerweise von parteipolitischem Hickhack und Mediengetöse begleitet wird. Das galt für den Plutonium-Untersuchungsausschuß in dieser Periode oder den Untersuchungsausschuß über die HIV-verseuchten Blutkonserven der letzten Legislaturperiode, den Untersuchungsausschuß über die U-Boot-Affäre und den über Transnuklear. Daß es diesmal nicht der Fall ist, ist eine Besonderheit. Der Ausschuß ist von meiner Fraktion gefordert worden, weil wir das erfüllen wollen, was Bürger von uns eigentlich erwarten, nämlich eine begonnene Arbeit ordentlich zu Ende zu führen. ({0}) Zwei Untersuchungsausschüsse der letzten Wahlperiode endeten mit der Aufforderung an den 13. Deutschen Bundestag, zu überprüfen, inwieweit es sinnvoll ist, die nicht erledigten Teile deren Untersuchungsgegenstände und die im Laufe deren Untersuchungsverfahren deutlich gewordenen Fragenkomplexe weiter aufzuklären. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, sind zu dem Ergebnis gekommen, Ihnen, dem Deutschen Bundestag, zu empfehlen, diese Arbeit zu leisten. Einige Gründe dafür: Zuletzt bei der Tagung des Deutschen Richterbundes, aber auch davor ist in vielfältigen Stellungnahmen Kritik daran lautgeworden, daß die dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit insbesondere die, die mit Geldveruntreuungen zu tun haben, bisher nicht so behandelt worden sind, wie es von unserem Rechtsstaat erwartet werden kann. Da viele Fragen aber weder von der Strafjustiz, weil inzwischen Verjährung eingetreten ist, noch mit den Mitteln einer Enquete-Kommission aufgeklärt werden können, die in ihrer Verhandlung nicht den Regeln der Strafprozeßordnung unterliegt, bietet sich der Untersuchungsausschuß als vom Grundgesetz dafür vorgesehenes parlamentarisches Gremium an. Wir wollen deshalb dem naheliegenden Vorwurf begegnen, dieses parlamentarische und rechtsstaatliche Mittel nicht genutzt zu haben. Die Untersuchungsausschüsse ,,Kommerzielle Koordinierung" und „Treuhand" litten unter enormem Zeitdruck, weil einerseits die erforderlichen Dokumente nicht rechtzeitig vorlagen - sicher auch nicht immer vorliegen konnten - und andererseits zum Ende der Legislaturperiode ein Bericht vorliegen mußte und daher die Beweisaufnahme beider Untersuchungsausschüsse sehr frühzeitig im Jahre 1994 beendet werden mußte. Wichtige Dokumente waren uns erst nach der Beweisaufnahme zugegangen oder sind später bekanntgeworden. Da uns die Auswertung dieser Dokumente, aber auch noch fehlende Zeugenaussagen wichtig erscheinen, wollen wir das nachholen. Volker Neumann ({1}) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf den Bericht des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen verweisen, der deutlich macht, daß allerdings - was verständlich ist - die Auswertung der Dokumente des MIS noch immer nicht vollständig erfolgt ist. Mit diesem Untersuchungsausschuß wollen wir zudem Stetigkeit beweisen in der Aufarbeitung dieses Teils der DDR-Geschichte und des Einigungsprozesses. Ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit des Untersuchungsausschusses wird nach unseren Vorstellungen der Verbleib der veruntreuten Vermögenswerte der DDR sein. Wir wollen versuchen, die Frage zu beantworten, ob alles getan worden ist, diese Vermögenswerte zu sichern, und was zu tun möglicherweise noch nötig ist. Wenn uns von der Polizei ein geschätzter Schaden von 26 Milliarden DM - soweit es deren Ermittlungen betrifft - genannt wird, der im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung durch kriminelle Handlungen entstanden ist, haben die Bürger das Recht, an die Politiker die Frage zu richten, was der Staat getan hat, um von den Tätern dieses Geld zurückzubekommen. ({2}) Wenn nach den uns bekannten Zahlen etwa nur 10 % der geschätzten Schadenssumme wieder sichergestellt worden ist, dann kann im System der Wiederbeschaffung der veruntreuten Vermögenswerte etwas nicht stimmen. Wir wollen deshalb versuchen - ohne selbstverständlich die Arbeit der zuständigen Behörden zu behindern und in sie einzugreifen -, an Hand von Dokumenten und Zeugenaussagen noch mehr Licht in die Sachverhalte zu bringen, die zu diesem Kapitel des Einigungsprozesses gehören. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Verfolgbarkeit und Strafbarkeit der Spionage für die DDR sind uns bei den Zeugenvernehmungen neue Möglichkeiten eröffnet worden, die vorher nicht bestanden haben. So hat etwa am 10. September 1992 Markus Wolf, der ansonsten an diesem Tag vor dem Untersuchungsausschuß seine Aussage unter Berufung auf § 55 StPO verweigert hat, auf meine dahin gehende Frage wörtlich geantwortet: Sobald die Gründe für den § 55 entfallen, bin ich ja - auch als Bürger der Bundesrepublik - verpflichtet auszusagen. Da diese Gründe entfallen sind, werden wir ihn an diese Verpflichtung erinnern. Die beiden Untersuchungsausschüsse der letzten Wahlperiode haben gute Berichte vorgelegt, bei denen es an vielen Stellen heißt: „konnte aus Zeitgründen nicht geklärt werden" oder „muß noch geklärt werden" oder ähnlich. Wir wissen aus den Kontakten mit den Bürgern und Journalisten, daß ein großes Interesse an der Aufarbeitung der neu aufgetauchten Fragen besteht. Dies wollen wir ohne Aufgeregtheit und ohne Zeitdruck so sorgfältig und ehrlich, wie es möglich ist, machen. Wenn uns dabei - wie in der Vergangenheit ja auch geschehen - der eine oder andere Hinweis möglich ist, wo zuständige Behörden noch einmal genau nachsehen sollten, ob veruntreutes DDR-Vermögen rückholbar ist, um so besser. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt auf Drucksache 13/2483, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/1833 in der Ausschußfassung anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/2484 vor. Der Änderungsantrag besteht aus zwei Alternativen. Wir stimmen zunächst über Nr. I ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Gegen die Stimmen der Antragsteller vom Rest des Hauses abgelehnt. Wer stimmt für Nr. II des Änderungsantrags der PDS? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Anderungsantrag ist damit insgesamt abgelehnt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({0}) Die Beschlußempfehlung ist bei gemeinsamer Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion und der Gruppe der PDS angenommen. ({1}) - Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, ich bitte, den Präsidenten nicht zu kommentieren. - Damit ist der 2. Untersuchungsausschuß der 13. Wahlperiode eingesetzt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tagesordnungspunkte 10a bis 10c sowie Zusatzpunkt 6 auf: 10. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 29. Juni 1994 über die Zusammenarbeit zum Schutz und zur verträglichen Nutzung der Donau ({2}) - Drucksache 13/1884 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Vizepräsident Hans Klein b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Kubatschka, Brunhilde Irber, Robert Leidinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD ökologisch verantwortlicher Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshoven - Drucksache 13/1390 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({4}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr uns Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz ({5}), Arne Fuhrmann, Eckart Kuhlwein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ökologisch und ökonomisch verantwortbarer Ausbau von Elbe, Havel und Saale - Drucksache 13/1331-Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({6}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmidt ({7}), Halo Saibold, Gila Altmann ({8}). weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhalt der freifließenden Donau zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksache 13/2435 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({9}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ulrich Klinkert.

Ulrich Klinkert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001134

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Donau ist mit ihrer Gesamtlange von 2 857 km nach der Wolga der zweitgrößte europäische Strom. Sie entwässert eine Gesamtfläche von 817 000 qkm und verbindet vom Zusammenfluß ihrer Quellflüsse im Südwesten Deutschlands bis zur Mündung ins Schwarze Meer viele europäische Länder, Völker und Kulturen. Zwölf Staaten liegen im Einzugsgebiet der Donau. Die Donau ist Verkehrsweg, sie ist Trinkwasserspender, aber sie ist leider auch Abwassersammler, der das Schwarze Meer zu einer Kläranlage degradiert. ({0}) - Möglicherweise. - Vor allem in den Ländern, meine sehr verehrten Damen und Herren, in denen Anti-Umweltpolitik kommunistischer Regime vorherrschend war, wurde die Donau mit Schadstoffen aller Art befrachtet. Zum Glück hat die Demokratisierung in diesen Ländern auch ein Umdenken auf ökologischem Gebiet mit sich gebracht, so auch das gemeinsame Bekenntnis zur Verantwortung vor der Schöpfung, zu deren sicherlich attraktivsten Ergebnissen die Donau zählt. Das Donauschutzübereinkommen, das Ihnen zur Ratifizierung vorgelegt wird, ist Ausdruck des nunmehr gemeinsamen Willens, die kranke Donau zu heilen. Es ermöglicht die internationale Zusammenarbeit zur Sanierung der Donau und hat auch eine wichtige außenpolitische Dimension: Die Reformländer an der Donau arbeiten mit Staaten der Europäischen Union eng zusammen, weil europäisches Umweltrecht bei der Zusammenarbeit zum Schutz der Donau angewandt wird. In Deutschland und Österreich wurden in den letzten Jahrzehnten riesige Investitionen zur Schadstoffminderung bei der Einleitung in die Donau bewerkstelligt. Allein im deutschen Einzugsgebiet wurden mehr als 30 Milliarden DM ausgegeben, um über 3 000 kommunale Kläranlagen errichten zu können. Weiterhin wurden industrielle Kläranlagen errichtet und eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Verringerung von Nährstoffeinträgen durchgesetzt. Die Donau verläßt im Ergebnis dieser Bemühungen Deutschland mit der Gewässergüteklasse II. Ich werte es insgesamt als ein sehr ermunterndes Zeichen, daß die Ratifizierungsverfahren in der Zwischenzeit in allen Vertragsstaaten des Donauschutzübereinkommens angelaufen sind. Die Tschechische Republik und Rumänien haben dieses Ratifizierungsverfahren bereits abgeschlossen. Aber das Wichtigste ist, daß bereits jetzt in allen Ländern mit der praktischen Arbeit begonnen wurde. Zur Erfüllung des Abkommens sind dabei folgende Aufgaben vordringlich: die Ermittlung und Inventarisierung der wichtigsten Schadstoffeinleiter, die Erarbeitung eines ersten Aktionsprogramms, also eines Sofortprogramms zum Bau industrieller und kommunaler Kläranlagen, die Festlegung von Mindestanforderungen für die Abwassereinleitungen, die Bestimmung prioritärer Schadstoffe, die vorrangig zu reduzieren sind, und Maßnahmen zur Störfallvermeidung sowie auch Abstimmung eines Warn- und Alarmsystems für mögliche Störfälle. Die Vorarbeiten für das Donauschutzübereinkommen wurden bereits seit 1992 von einer Arbeitsgemeinschaft der Donau-Task-Force eingeleitet. Die Mitglieder dieser Task-Force waren die Donauländer, die Kommission der EU, internationale Geldgeber und natürlich auch Umweltverbände. Sie alle entwickelten einen strategischen Aktionsplan, der im Dezember vergangenen Jahres von den Umweltministern der Donauländer verabschiedet wurde. Er enthält 170 sogenannte „hot spots", die als besonParl. Staatssekretär Ulrich Klinkert ders kritische Emissionsquellen zuerst zu beseitigen sind. Es wird Sie sicherlich nicht wundern, daß in Deutschland und Österreich keine solcher Emissionsquellen mehr ausgemacht werden mußten. Die Ergebnisse und Erfahrungen dieser Arbeitsgruppe werden Grundlage der nun berufenen Kommission dieses Abkommens sein. Das Donauschutzübereinkommen beinhaltet umfangreiche ökologische Ziele, die über den reinen Gewässerschutz hinaus gehen, z. B. Emissionsregelungen für Industrieanlagen, abfallpolitische Ziele und die Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen. In der Summe ist dieses Abkommen als erster wichtiger Schritt zur ökologischen Zusammenarbeit mit Staaten Ost- und Südosteuropas anzusiedeln. Meine Damen und Herren, ungeachtet dessen, was ich eben gesagt habe, gibt es natürlich im Zuge des Ausbaus der Donau und des Donauschutzes, auch Konfliktfelder, wie bei der beabsichtigten verkehrlichen Nutzung der Donau. Der Konflikt besteht darin, daß sich natürlich alle darüber einig sind, daß der Schiffstransport der ökologisch günstigste ist, weil er die geringsten spezifischen Schadstoffemissionen pro Transportkilometer beinhaltet. Aber zum anderen ist der notwendige Ausbau von Wasserstraßen natürlich auch immer ein Eingriff in ein Ökosystem. Der Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahre 1992 sieht den Ausbau der Donau als vordringliche Maßnahme an. Die Interessenkollision mit dem Naturschutz besteht vor allen Dingen durch die beabsichtigten zwei Staustufen oder durch den Ausbau der Donau auf eine Breite bis zu 100 Meter. ({1}) Auf der Landesebene Bayern ist ein Raumordnungsverfahren eingeleitet, und anschließend wird ein Planfeststellungsverfahren durchgeführt. Das Bundesumweltministerium wird, obwohl es an diesem Verfahren formell nicht beteiligt ist, den ökologischen Auswirkungen besondere Aufmerksamkeit schenken, nicht zuletzt deshalb, weil ein gesamtstaatlich repräsentatives Schutzgebiet „Isarmündung" davon betroffen sein wird. Ich gehe davon aus, daß die bayerische Staatsregierung im laufenden Raumordnungsverfahren alle - sicher sehr umfangreichen - Untersuchungen anstellen wird, um die ökologischen Auswirkungen zu berücksichtigen und alle Belange einfließen zu lassen, und daß alle Interessenvertreter ihre spezifischen Befürchtungen in dieses Verfahren einbringen können. Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Brunhilde Irber, Sie haben das Wort.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Abgeordnete für das Deggendorfer Land, dessen Kulturlandschaft über Jahrtausende hinweg von der freifließenden Donau geprägt worden ist, ist es mir ein besonderes Anliegen, um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag zu werben. In der Antragsbegründung heißt es u. a.: „Ein Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen darf nur ökologisch verträglich durchgeführt werden. " Eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen. Doch die Erfahrungen der letzten Jahre haben uns gelehrt, daß ein vernünftiger Ausgleich zwischen ökonomischen Erfordernissen und ökologischen Notwendigkeiten auch heute noch alles andere als selbstverständlich ist. ({0}) Auf einem Streckenabschnitt von 69 Flußkilometern zwischen Straubing und Vilshofen soll die Donau mit zwei Staustufen ausgebaut werden. Bei Osterhofen, meiner Heimatstadt, ist ein Schleusenkanal in zwei Varianten vorgesehen. So will es die Rhein-Main-Donau AG, so wollten es bis vor kurzem auch Bundesregierung und bayerische Staatsregierung. Doch die Betonmentalität beginnt zu bröckeln, aus gutem Grunde: Die ökologischen Auswirkungen einer Donaukanalisierung wären verheerend. Was für jeden fachkundigen Wasserbauexperten zum Grundwissen gehört, scheint für die Technokraten der RMD keine Gültigkeit zu besitzen: ({1}) Ein kanalisierter Fluß läßt Hochwasser zum Normalfall werden. Dies hat auch Frau Merkel nun erkannt. Professor Dr. Franz Nestmann bezeichnet es als Augenwischerei, wollte man den Zusammenhang zwischen Ausbaumaßnahmen und Hochwasser leugnen. Doch nicht nur die Hochwassergefahr wird von seiten der RMD bewußt verharmlost. Der Stau der Donau hätte zur Folge, daß der Wasserstand über das Gelände erhoben würde. Damit wäre eine teilweise Abdichtung der Dämme erforderlich, was die Dynamik zwischen Grundwasser und Donauwasser unterbrechen würde. Die Folgen der Verminderung des Sauerstoffgehalts im Grundwasser hätte katastrophale Auswirkungen: Das Grundwasser könnte nicht mehr als Trinkwasser gebraucht werden. Des weiteren würde eine durch den Stau einhergehende Reduzierung der Fließgeschwindigkeit die Artenvielfalt drastisch reduzieren. Insgesamt 221 Vogelarten wurden im ostbayerischen Donautal beobachtet, darunter 117 Arten der Roten Liste. Eine Zerstörung dieser Arche Noah hätte Auswirkungen auf den europäischen Vogelbestand, aber auch auf andere Arten. 15 der insgesamt 18 in Bayern vorkommenden Amphibienarten wurden hier nachgewiesen, zudem über 50 der 61 in Bayern vorkommenden Fischarten. Professor Dr. Hubert Weigert spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einer staatlich angeordneten Naturzerstörung. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mindestens ebenso fragwürdig wie die ökologischen sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Vorhabens. ({3}) Es ist doch ein Unding, daß bis heute noch keine Kosten-Nutzen-Analyse vorliegt, die eine ökologisch verträgliche Variante berücksichtigt und die ökologischen Folgekosten mit einbezieht. ({4}) Der Oberste Bayerische Rechnungshof hat ein solches Gutachten übrigens schon 1993 angemahnt. Hinterfragt werden muß zudem die Wirtschaftlichkeit des Mammutprojekts. Nur eine Bemerkung hierzu: Es ist eine horrende Verschwendung von Steuergeldern, wenn aus Bundes- und Landesmitteln Wasserkraftwerke gebaut werden, deren Profit dann ausschließlich der inzwischen privatisierten RMD und damit ihrer Mehrheitseignerin VIAG zufließt. ({5}) Eine Steuermittelverschwendung ist es auch, 20 Millionen in ein Bundesprojekt „Untere Isar" zu stecken und dies dann im wahrsten Sinne des Wortes zu versenken. ({6}) Und überhaupt: Wo ist denn die verkehrspolitische Notwendigkeit des Projekts? Solange jegliche Logistiksysteme und eine sinnvolle Vernetzung der Transportsysteme fehlen, solange der Binnenschifffahrtsverkehr auf der Donau noch ungenützte Kapazitäten ungeheuren Ausmaßes bietet, ist der von der RMD beabsichtigte Ausbau völlig überzogen. ({7}) Wir Sozialdemokraten begrüßen die Verlagerung von Verkehr auf das Wasser, insbesondere auch im Hinblick auf die Deggendorfer Werft und den Freihafen Deggendorf. Eine Kanalisierung der Donau ist dafür aber nicht erforderlich. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Irber, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Irber, pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß diese Ihre Meinung nicht von allen Abgeordneten der SPD Bayerns, insbesondere Niederbayerns, geteilt wird und daß hier speziell andere Meinungen vertreten und in die Öffentlichkeit getragen werden? ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, ich pflichte Ihnen insoweit bei, als daß das vielleicht einen einzigen Landtagsabgeordneten betrifft. Aber in bezug auf die Bundestagsabgeordneten kann ich Ihnen nicht beipflichten. ({0}) Was riskieren wir für die Verwirklichung dieses Prestigeobjekts? Die Zerstörung einer gewachsenen Kulturlandschaft. Für eine strukturschwache Region wie meinen Wahlkreis wären die vorauszusehenden Folgen im Fremdenverkehr und in der Landwirtschaft eine Katastrophe. Wenn meine Fraktionskollegen und ich nun einen ökologisch verträglichen Ausbau der Donau fordern, was meinen wir damit? Wir fordern eine Reduzierung der völlig überzogenen Ausbaustandards, wie sie inzwischen auch jeder ernstzunehmende Wissenschaftler befürwortet. Reduzierung heißt für mich: Verzicht auf einen viererschubverbandgerechten Ausbau und damit Minderung der Fahrrinnenbreite. ({1}) Ein Seitenkanal würde dadurch überflüssig. ({2}) Zudem könnte die Ausbautiefe deutlich reduziert werden. Zahlreiche renommierte Wasserbauexperten versichern, daß die von der Internationalen Donaukommission empfohlenen Standards mit flußbaulichen Maßnahmen zu erreichen seien. Für Österreich gilt das gleiche. Der österreichische Verkehrsminister hat mir dies bestätigt. ({3}) Die Donaugemeinden, die Naturschutzverbände, der Bayerische Bauernverband, der Fischereiverband, die Kirchen, die breite Masse der Bevölkerung Bayerns, ja sogar die lokalen Gliederungen von Bayerns allerchristlichster Staatspartei sprechen sich inzwischen gegen die Staustufen und den Seitenkanal aus. ({4}) In diesem Zusammenhang ein Wort an Staatsminister Erwin Huber: Es ist eine Ungeheuerlichkeit, Bauern des Deggendorfer Landes, die für den Erhalt ihrer Heimat demonstrieren, als „herumvagabundierendes Protestpotential" zu beschimpfen. ({5}) Die Menschen in meiner Heimat sagen: Donau gestaut - Heimat versaut. Daher leisten sie seit Jahren erbitterten Widerstand gegen die Kanalisierung des Flusses. Diese Menschen sind keine Querulanten; sie sind brave Bürger meiner Heimat. Heimat heißt für sie, Schützenswertes zu bewahren. Wie heimatlos muß ein Politiker sein, der um wirtschaftlicher Erwägungen willen auf Mensch und Natur keine Rücksicht nimmt? ({6}) Wer das Kruzifix-Urteil zum Anlaß nimmt, Heimatverbundenheit zu beschwören, sollte nicht zurückstehen, wenn es um ihre Bewahrung geht. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie auf, jede sich bietende Möglichkeit auszuschöpfen, Ihren Beitrag zu einem ökologisch verträglichen Ausbau des letzten frei fließenden Teilabschnitts der Donau in Niederbayern zu leisten. Heute bietet sich Ihnen eine erste Gelegenheit: Ich bitte Sie sehr herzlich, unserem Antrag zuzustimmen. Lassen Sie es nicht zu, daß auf Kosten der Natur und der Menschen an der Donau vollendete Tatsachen geschaffen werden. Vielen Dank. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Kollegin Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Irber, meine Kollegen aus dem Raum werden das Nötige zu Ihren Bemerkungen sagen. Aber eines bitte vorweg: Uns als heimatlos zu bezeichnen ist schon ein bißchen viel. ({0}) Das geht so weit und wir sind so heimatverbunden, daß uns dort die Bürger mit einer absoluten Mehrheit wählen. ({1}) Vielleicht zeugt das von unserer Qualität. Wir sind bei Umfragen noch wesentlich höher eingestuft worden. Ihre Beliebtheit sinkt. Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis. ({2}) Wir reden also nicht mehr zum Donauausbau, sondern auch zum Donauschutzübereinkommen und zum Elbe-, Havel- und Saale-Ausbau. Lassen Sie mich zunächst einige Bemerkungen machen. Das Übereinkommen ist ein weiterer bedeutsamer Baustein für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Gewässerschutzes. Es stellt nach dem Vorbild der für Rhein und Elbe bereits bestehenden Übereinkommen erstmalig für den Donauraum detaillierte Regeln für einen modernen Gewässerschutz auf. Das Übereinkommen beinhaltet insbesondere Maßnahmen zum Schutz der Grundwasserressourcen, zur Emissionsbegrenzung, insbesondere für Abwassereinleitungen mit schrittweiser Harmonisierung der innerstaatlichen Regelungen, zur Erfassung der Verschmutzungsquellen mit dem Ziel der Aufstellung von Aktionsprogrammen, zu deren Vermeidung und Bekämpfung, zur Zusammenarbeit bei gemeinsamen Untersuchungsund Überwachungsprogrammen sowie bei Forschungs- und Entwicklungsprogrammen, für eine gegenseitige Hilfeleistung bei kritischer Belastung des Gewässerzustandes und die Einrichtung der Internationalen Kommission für den Schutz der Donau mit einem Ständigen Sekretariat. Nun zum Ausbau von Elbe, Havel und Saale. Die Elbe ist ein Fluß mit einer jahrhundertealten Schifffahrtstradition. Sie ist auf deutschem Gebiet mit rund 600 km Strecke ein naturnah regulierter Strom. Die Untersuchungen für den Bundesverkehrswegeplan zeigten auf, daß ein Staustufenausbau der Elbe schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht vertretbar ist. Vielleicht kommt mit der heutigen Diskussion das Märchen von einer Staustufenlösung endlich vom Tisch. Daß eine solche Möglichkeit natürlich geprüft wurde, ist legitim. ({3}) Aber wann werden die Umweltverbände endlich verstehen, daß im Bundesverkehrswegeplan zum Elbeausbau nie von einer Staustufenlösung die Rede war? Der von mir sehr geschätzte SPD-Kollege, Ihr früherer Kollege Ewen, und ich haben bereits im Jahre 1992 bei einer Bereisung der Elbe von Bad Schandau bis Magdeburg feststellen müssen, daß ein Ausbau notwendig ist, nicht nur im Hinblick auf den Wirtschaftsverkehr, sondern auch für Touristenschiffe. ({4}) Eine Reise durch die Elblandschaft ist ein einmaliges Erlebnis, und ich hoffe, daß der Tourismus auf der Elbe ein Erfolg wird. ({5}) Dazu bedarf es allerdings des Ausbaus, damit Touristenschiffe, die nur einen Tiefgang von 90 cm haben, auch bei Niedrigwasser ganzjährig fahren können. ({6}) - Kollege Schmidt, der Tourismus trägt auch zum Aufbau Ost bei. Im übrigen gehe ich auf Ihre unqualifizierten Äußerungen nicht ein. ({7}) Ich muß den Naturschutzverbänden aber eindeutig erklären, daß wir an einem naturnahen Ausbau festhalten und alle Forderungen zur Einstellung der gesamten Strombaumaßnahmen sowie der Schiffahrt zwischen Magdeburg und Lauenburg ablehnen. Mit solchen unüberlegten Forderungen würde nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung der Elbanlieger mit ihren Binnenhäfen, Umschlagstellen und Binnenwerften geschadet, sondern auch die Wirtschaftlichkeit, insbesondere der in Richtung Hamburg gehenden Binnenschiffahrt, einschließlich der Entwicklung der Containerschiffahrt, negativ beeinflußt. ({8}) Auf den internationalen Charakter der Elbe, die für die Tschechische Republik eine wesentliche Verbindung zur Nordsee darstellt, möchte ich hinweisen. Ich freue mich, daß die SPD nun nichts mehr gegen eine Wiederinstandsetzung der Elbe hat. Das heutige Erscheinungsbild und die Wertigkeit für Fauna und Vegetation der Elbe - ich betone: als nicht staugeregelter Fluß - bleiben genauso wie die Talaue und der vorhandene Hochwasserschutz unverändert. Aber auch im östlichen Teil Deutschlands soll die sichere und kostengünstige Binnenschiffahrt einen bedeutenden Teil der Güter aufnehmen. ({9}) Der Bundesverkehrswegeplan sieht im vordringlichen Bedarf auch Maßnahmen zum Ausbau der Saale vom Hafen Halle-Trotha bis zur Mündung der Saale in die Elbe für eine Abladetiefe von 2,50 m für den in der Regel zweischiffigen Verkehr von Schiffen mit einer Tragfähigkeit bis zu 1 350 t vor. Herr Kollege Schmidt, rechnen Sie einmal nach, wieviele Lastzüge das sind. Es sind bis zu 40 Lastzüge, die damit eingespart werden können. Zur Bewältigung des wachsenden Verkehrsaufkommens ist es dringend erforderlich, daß das Transportmittel Binnenschiff überall dort genutzt wird, wo es volkswirtschaftlichen Nutzen bietet und seine ökologischen Vorteile zur Geltung bringen kann. Hierzu ist eine qualitativ und wirtschaftlich leistungsfähige Wasserstraßeninfrastruktur auch in den neuen Bundesländern erforderlich. Bei einem Verzicht auf eine leistungsfähige Wasserstraßeninfrastruktur wären damit Nachteile verbunden, insbesondere das Absinken des ostdeutschen Wasserstraßennetzes in die Bedeutungslosigkeit und die Verlagerung auf andere Verkehrsträger, insbesondere auf die Straße. Nehmen Sie das bitte endlich einmal zur Kenntnis. ({10}) Zum Donauausbau werden nach mir meine Kollegen Stellung nehmen, die vor Ort von diesem Dauerbrenner betroffen sind. Dazu nur eine Bemerkung von mir: Dauernd ist hier die Rede von Vierer-Schubverbänden. Meine Damen und Herren von der Opposition, es kommt nicht auf die Vierer-Schubverbände an, sondern es kommt auf die Abladetiefe an, daß die Donau das ganze Jahr lang befahren werden kann. Nur so kann eine Verlagerung auf das Binnenschiff erfolgen. Merken Sie sich das bitte. ({11}) Das Thema Ogris-Methode wurde, Frau Kollegin Irber, von allen Wasserbautechnikern als nicht realisierbar eingeschätzt, weil wir damit viel mehr in die Umwelt eingriffen als mit den geplanten Maßnahmen. ({12}) Die vorgesehenen Verbesserungen der Infrastruktur - sowohl bei der Elbe als auch bei der Donau - dienen der Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers Wasserstraße und gehören für uns zu einer umweltfreundlichen Verkehrspolitik. Vielen Dank. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Halo Saibold, Sie haben das Wort.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, daß wir heute nicht nur über unseren Antrag und den der SPD diskutieren, sondern auch über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Übereinkommen über die Zusammenarbeit zum Schutz und zur verträglichen Nutzung der Donau. Ich betone: Zum Schutz und zur verträglichen Nutzung! Ich darf aus Art. 2 über die Ziele dieses Gesetzentwurfs zitieren. Dort heißt es u. a.: Die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit orientiert sich an der verträglichen Wasserwirtschaft, das heißt an den Kriterien einer beständigen und umweltgerechten Entwicklung, die zugleich gerichtet sind auf: - die Erhaltung der allgemeinen Lebensqualität; - die Bewahrung des Zugangs zu den natürlichen Ressourcen; - die Verhütung bleibender Umweltschäden, den Schutz der Öko-Systeme; - die Anwendung des Vermeidungsansatzes. Ich bitte Sie, bei der weiteren Beratung unseres Antrags diese im Gesetzentwurf der Bundesregierung dargelegten Zielsetzungen im Auge zu behalten. Mit der von uns in unserem Antrag geforderten Reduzierung der Ausbauziele halten wir uns genau an die vorhin zitierten Vorgaben. Ich bitte Sie, weiterhin zu bedenken, daß die geplante Donaukanalisierung vor Ort nicht nur bei den dortigen Bürgerinitiativen, bei kirchlichen Gruppierungen beider Konfessionen und beim Bund Naturschutz und bei vielen anderen auf massiven Widerstand stößt, sondern daß auch die betroffenen Kommunen entlang der Donau dieses Vorhaben ablehnen. Inzwischen leuchtet nämlich selbst dem Dümmsten ein, daß sich - auch wenn das hier in Abrede gestellt wird -, für ein paar Vierer-Schubverbände, die nur auf der Donau zwischen Regensburg und Linz, also einem ganz kurzen Stück überhaupt fahren, die Zerstörung der Heimat nicht lohnt. Diese Schiffe können - man glaubt es fast nicht - weder durch den eigentlichen Rhein-Main-Donau-Kanal noch durch die Wachau in Österreich fahren. Nur bei uns sollen sie fahren. Diese gigantomanischen Pläne lassen sich politisch nicht mehr durchsetzen, weder an der Elbe, der Saale oder der Havel, erst recht nicht mehr an der Donau in Niederbayern. ({0}) Zu dieser Einsicht sind inzwischen auch bayerische Staatsminister gekommen, und das will schon etwas heißen. Der weiß-blaue Umweltminister denkt inzwischen laut über den Verzicht auf die beiden geplanten Staustufen nach. ({1}) Sie können sicher sein, daß der berühmte Engel Aloisius nach einem energischen ,,Luja, sag i" der bayerischen Staatsregierung, dem Herrn Hinsken und vielleicht auch dem bekanntlich aus Bayern stammenden Bundesfinanzminister noch die Botschaft eintrichtern wird, daß jegliche Kanalisierung an der Donau aus ökologischen und, Herr Hinsken, aus ökonomischen Gründen unverantwortlich ist. ({2}) Hier in Bonn, wo jedoch die Hauptauftraggeber sitzen, müssen wir offensichtlich noch etwas nachhelfen und dürfen uns nicht auf den Aloisius verlassen. Es mutet schon seltsam an, daß die bisherigen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Kanalisierung der Donau allesamt am Parlament vorbeigeschoben wurden. ({3}) Dabei sollen für dieses Projekt nicht nur einige wenige Millionen aus dem Steuersäckel berappt werden. Nein, nach den bisher vorliegenden Planungen dürfte es sich um 2 und mehr Milliarden DM handeln, die in Niederbayern ohne Notwendigkeit vergraben und in Beton verwandelt werden sollen. Da haben wir als Abgeordnete die unerläßliche Pflicht, uns angesichts der rundherum leeren Kassen in die Entscheidung über die Zukunft der Donau einzumischen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie sprachen von 2 Milliarden DM, die dort verbuddelt werden. Ist Ihnen die genaue Summe bekannt, die im Bundesverkehrswegeplan steht? Darf ich Sie bitten, sie uns zu nennen?

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es waren 1,3 Milliarden DM vor einigen Jahren. Ich garantiere Ihnen, daß die nicht reichen. Das sagt Ihnen jeder Wissenschaftler, jeder Flußbauer, und auch die Erfahrung sagt uns das. Auch Sie wissen das. Aber ich möchte mich auch an die Kolleginnen und Kollegen unter uns wenden, die mit der Umwelt und der Ökologie weniger am Hut haben. Sie sollten sich wenigstens aus fiskalischen Gesichtspunkten mit diesem Thema befassen. Deshalb noch etwas Grundsätzliches zu den Finanzen. Es wird allerhöchste Zeit, daß bei der Diskussion um die wirtschaftliche Notwendigkeit des Donauausbaus nicht immer nur die Vorteile für die Schiffahrt betont werden, sondern endlich auch die vielfältigen Schäden gegengerechnet werden - Frau Blank, es wäre nicht schlecht, wenn Sie zuhören würden -, die durch den gigantischen Eingriff in den Naturhaushalt entlang der Donau hervorgerufen werden: die ständig steigenden Schäden durch vermehrte Hochwasser, das drastische Absinken der Selbstreinigungskraft des freifließenden Flusses, die nur durch teure Kläranlagen ausgeglichen werden kann, die Schäden an Gebäuden durch das Absinken des Grundwasserspiegels, die Veränderungen der Vegetation und die Schäden für die Landwirtschaft durch die Eingriffe in den Grundwasserhaushalt sowie die Probleme für die Trinkwasserversorgung durch veränderte Grundwasserströme und vieles mehr. Der Genuß, in einem freifließenden Strom zu baden, und der Lebensraum von Tieren und Pflanzen einschließlich der Fische lassen sich natürlich schlecht berechnen. Jährlich werden in Deutschland Schäden in Höhe von 600 Milliarden DM durch Umweltverschmutzung und Eingriffe in den Naturhaushalt hervorgerufen. Die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Hause sollten doch endlich einmal begreifen, daß wir uns solches Tun nicht länger leisten können, und zwar nicht nur aus Verantwortung gegenüber der Schöpfung, sondern buchstäblich auch in Mark und Pfennigen, weil ökologische Schäden immer auch ökonomische Schäden sind. ({0}) Zusätzlich zu unserem vorliegenden Antrag fordere ich jedoch Verkehrsminister Wissmann auf - der natürlich nicht da ist ({1}) endlich dafür zu sorgen, daß unabhängig von den weiteren Planungen damit begonnen wird, die wenigen, aber gravierenden Gefahrenstellen im Flußbett der Donau vor allem im Raum Vilshofen zu beseitigen. ({2}) Oder wird leichtfertig auf die nächste Havarie eines Öltankschiffes gewartet, um ein solches Unglück dann wie schon so oft für die ebenso vordergründige wie unseriöse Forderung nach dem sofortigen Ausbau der Donau mißbrauchen zu können? Dieser Verdacht liegt leider sehr nahe, könnte aber leicht ausgeräumt werden, wenn endlich die entsprechenden Zusagen hochrangiger CSU-Kreise eingelöst würden und endlich mit einer umweltschonenden und ökologisch verträglichen Beseitigung der vorhandenen Gefahrenstellen begonnen würde. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Kollegin Lisa Peters.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren und meine Damen! Herr Schmidt hat es nun schon mehrfach bemerkt. Herr Schmidt, ich darf mich entschuldigen, daß ich jetzt mit meiner platten norddeutschen Stimme etwas zur Donau sage. Ich sage dazu nicht viel, aber ein bißchen. Aber Sie nehmen das, denke ich, erst einmal an. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, ich darf Sie eine Sekunde unterbrechen. - Herr Kollege Schmidt, Frau Peters hat noch gar nicht richtig angefangen, schon sind Sie mit Ihren Zwischenrufen da. Als Ihre Kollegin gesprochen hat, waren die anderen Fraktionen ruhig und haben ihr zugehört. Sie haben die Kollegen vorhin alle pausenlos mit Zwischenrufen bedient. Es wäre ganz gut, wenn Sie eine Weile zuhörten. - Bitte, Frau Kollegin.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schmidt, wir beide sind uns ja einig. Das Thema ist gar nicht so einfach. Es ist ein umfangreiches Thema, und man muß sich irgend etwas heraussuchen. Ich will einmal versuchen, einige Punkte zu beleuchten. Zuerst das Donauschutzübereinkommen. Ich habe es heute morgen gelesen, und das hat mir unheimlich viel Spaß gemacht. ({0}) - Ja. - Ich finde es sehr erfreulich, daß neun Staaten - vielleicht sind es schon mehr - gemeinsam diesen Abschluß getätigt haben und daß es noch eine Offenlassung für die Staaten im ehemaligen Jugoslawien gibt, die sich noch nicht gefunden haben. Ich finde, daß dieses Vertragswerk zum Schutz einer verträglichen Nutzung der Donau eine tolle Sache ist und daß es eine Voraussetzung dafür ist, daß wir die Donau auch zur Schiffahrt und zur Binnenschiffahrt nutzen können. Ich denke, das wollen wir alle. Darüber sind wir uns im Verkehrsausschuß einig. Ich finde es schon sehr wichtig, daß die Anrainerstaaten jetzt in Wien zusammenarbeiten, daß sie ein gemeinsames Büro haben und daß sie mindestens einmal im Jahr zusammenkommen müssen, um dort zu arbeiten. Für mich ist immer wichtig, daß man dann, wenn man zusammenarbeitet, auch miteinander redet und daß man viele Dinge im Vorfeld klären kann. Ich sage das auch im Hinblick auf die Zeiten, die wir vor dem 9. November 1989 hatten. Da war so etwas noch nicht möglich. Ich bin sehr dankbar, daß dieses Abkommen unterzeichnet worden ist. Ein Übereinkommen zur verträglichen Nutzung der Donau - so steht es im Gesetzentwurf - ist schon eine tolle Sache. Die Erwartungen sind hoch; aber vielleicht werden sie ja auch erfüllt. Harmonisierung in allen Bereichen, Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft, der Technik und der Verwaltung sind gute Dinge. Nebenbei sollen die wasserwirtschaftlichen Dinge geregelt werden, die Umwelt soll erhalten werden, und nachteilige Auswirkungen soll man vermeiden. Für mich ist wichtig, daß diese grenzüberschreitende Sache läuft, daß Überwachungen stattfinden, daß eine verträgliche Wasserwirtschaft gestaltet werden kann und daß der Donaustrom nachhaltig und anhaltend geschützt wird. Schutz aller Gewässer im Einzugsbereich bis zum Schwarzen Meer ist das nächste Thema dieses Papiers. Informationen und UmweltverträglichkeitsprüLisa Peters fungen sollen wir überall bekommen, auch in den anderen Ländern. Störfälle sollen rechtzeitig gemeldet werden. Jedenfalls bedanke ich mich bei unserer Regierung, die dies mit ermöglicht hat. Ich möchte einige Ausführungen zur Binnenschifffahrt machen. - Dann muß ich mich nicht soviel mit der Donau aufhalten. - Ich denke, wir alle sind für die Binnenschiffahrt. ({1}) Die Binnenschiffahrt nutzt die Gewässer. Wir brauchen leistungsfähige Wasserstraßen. Auch das ist ein Thema. Deshalb ist eine Verbesserung der Infrastruktur die Voraussetzung für leistungsfähige Wasserstraßen. Die Wasserstraßen haben viele ökologische Vorteile gegenüber der Straße und auch gegenüber der Eisenbahn. ({2}) Die Binnenwasserstraßen erfordern eine geringere Unterhaltung. Sie sind volkswirtschaftlich von hohem Nutzen. Wir alle müssen in Zukunft mehr dafür tun, und wir wollen das auch. Da gibt es im Ausschuß kaum Diskrepanzen. Die Binnenwasserstraßen müssen befahren werden können. Aber die Transportkosten müssen erwirtschaftet werden. Der Wettbewerb spielt eine große Rolle. Deshalb brauchen wir integrierte Konzepte: Konzepte für Investitionen, für Kooperation, für eine Vernetzung, für Verkehrssicherheit, für Umweltschutz, für Marktstrategien. All das sind Dinge, die wir in den nächsten Jahren angehen müssen. Binnenschiffe müssen überall fahren können. Sie müssen überall zu Hause sein können. Sie sind von volkswirtschaftlichem Nutzen. Wichtig ist, daß es uns gelingt, in der nächsten Zeit die Schnittstellen und die Vernetzung zwischen Schiene, Straße und Wasserstraße zustande zu bringen. Der sanfte Transport mit weniger Energie, mit weniger Lärm und mit weniger Flächenverbrauch ist das, was uns heute beschäftigt. Auch wenn sich die Vorlage mit dem Ausbau von Wasserstraßen beschäftigt, ist der sanfte Transport doch das, was nachher erfolgen muß. Nun noch kurz zum Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen. Ich denke - auch meine Fraktion denkt das -, das Ganze kann nur ökologisch verantwortbar erfolgen. ({3}) - Ja, das ist nichts Neues. Das sehen Sie, wenn Sie das in die vorige Wahlperiode zurückverfolgen. ({4}) - Doch, man darf noch etwas sagen. Der Präsident sagt nicht immer, daß Sie nicht dazwischenreden sollen. Der Ausbau muß sich der Landschaft anpassen. Kosten und Nutzen müssen aber stimmen. ({5}) Trotz aller Gutachten und aller Berechnungen, die man vorher erstellt, kommt es hinterher manchmal anders - für die Wasserstraßen in letzter Zeit aber eigentlich immer positiver. Das muß man einfach einmal sagen. Das hat die Praxis gezeigt. Unsere Fraktion, die im bayerischen Landtag jetzt leider nicht mehr vertreten ist, hat sich in der vorigen Wahlperiode - so habe ich es jedenfalls den Unterlagen entnehmen können - sehr mit diesem Ausbau, der vernünftig ist, beschäftigt. Ich glaube, wir sind alle runter von den Viererschubverbänden. ({6}) Darüber muß man nicht mehr sprechen. Frau Blank, auch Sie haben sie nicht mehr erwähnt. Sie wissen, was ein Ausbau kostet und wie schwierig er ist. Wir hoffen - da habe ich großes Vertrauen; ich kenne es auch aus der sonstigen und aus der Kommunalpolitik - auf geordnete Verfahren und darauf, daß die Umweltverträglichkeitsprüfung zwingend ist, daß sie manchen Mangel an den Tag bringt und Machbares aufdeckt. Ich persönlich habe sehr viel Vertrauen in diese Prüfung und gehe davon aus, daß alles ganz vernünftig läuft. ({7}) Ich komme kurz auf den Ausbau der Elbe, der Havel und der Saale zu sprechen. Auch hier gilt das, was ich für die Binnenschiffahrt schon einmal gesagt habe. Wir wollen alles fördern, was sich auf dem Wasser bewegen kann. Wir wollen alles verbessern. Wir sind für einen maßvollen Ausbau bei Erhaltung der natürlichen Gewässer. Die F.D.P. sieht ganz klar den Lebensraum Gewässer. Wir sehen auch die Talauen, wir sehen die Auenwälder, wir sehen den Lebensraum für Pflanzen und Tiere, aber auch den Lebensraum für Menschen. Ich meine, darauf kommt es an. Es geht auch um den Lebensraum für Menschen, die da mit eingebunden sind; das ist völlig klar. ({8}) Es ist hier schon mehrfach gesagt worden: Die Ausbaumaßnahmen dürfen nicht nachteilig sein. Es gibt keine Staustufen mehr; das geisterte in der vorigen Wahlperiode irgendwo herum. Auch dabei gehe ich davon aus, daß die Planverfahren und die Prüfungen alles erbringen werden. Selbst das Verkehrsministerium geht davon aus, daß es Rückbauten geben kann und daß Deiche zurückgesetzt werden können. Die Umweltverträglichkeitsprüfung muß ernst genommen werden. Der Hochwasserschutz muß gewährleistet sein; er ist Bestandteil der Planungen. Ich teile nicht die Sorge, die derzeit noch immer besteht. Vor 10 bis 20 Jahren haben wir alles mühsamer ausgebaut.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Saibold zulassen.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, das mache ich.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Saibold. ({0})

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da können wir lange warten. ({0}) Frau Kollegin, ich habe Ihren Ausführungen mit großem Interesse zugehört.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber?

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wissen Sie aber auch, daß der springende Punkt die Vorgabe der Ausbauziele ist, d. h., daß sie unbedingt reduziert werden müssen, sonst hellen z. B. all die Gutachten überhaupt nichts. Wenn Sie an den Maßen -3,20 m Tiefe und 100 m Breite - festhalten, dann können wir überhaupt keine verträgliche Lösung finden. ({0})

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Davon ist überhaupt nicht die Rede. Sie wissen ganz genau, daß die letzten Würfel nicht gefallen sind und daß das alles innerhalb der Umweltverträglichkeitsprüfung beachtet werden muß. Ich meine, wir wollen und werden nicht zu dieser Ausbautiefe kommen. Sie wissen genau, daß dort auch sonst eine ganze Menge an schiffbarem Gut fahren oder fließen kann. Das muß ich einfach einmal so sagen. Ich meine, daß wir in den letzten 10 bis 20 Jahren erheblich weitergekommen sind. Wenn ich an die Sturmfluten, die bei uns im norddeutschen Raum 1962 und 1972 auftraten - ich wohne im Norden, an der Elbe - und schwerwiegende Folgen hatten, denke, gehe ich davon aus, daß wir die Deiche heute nicht mehr so bauen würden, wie wir sie damals gebaut haben, nämlich direkt an das Wasser. Diese Erkenntnisse haben wir in den letzten Jahren errungen. Ich meine nicht, daß wir in diesem Hause, wenn es wirklich um die Praxis geht, so viele Gegensätze haben. ({0}) Man muß nicht immer die Dinge aus der Schublade holen, die fünf, sieben oder neun Jahre alt sind. Wir haben alle dazu gelernt. Ich meine, unsere Partei oder Fraktion hat das nie anders vertreten. Ich bedanke mich jedenfalls für das Zuhören und wünsche uns allen eine gute Beratung in den Ausschüssen. Das ist hier eigentlich nur die erste Runde. Wir werden uns in den nächsten drei Jahren noch öfter mit diesem Thema befassen. Ich meine, daß diese Ausbauten stattfinden müssen, und zwar in dem Rahmen, den ich hier eben genannt habe. Schönen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wir diskutieren heute wieder einmal über den Ausbau einiger Flüsse, u. a. über die Donau, wie man an der bayerischen Präsenz merkt. Als Lebensader, Wasserspenderin und Landschaftsgestalterin ist sie gleichzeitig Lebensraum für eine Vielzahl vom Aussterben bedrohter Tiere und Pflanzen. ({0}) In Hunderten von Jahren wurde der Fluß in Betonmauern eingezwängt, mit Wehren und Schleusen geschunden, sein Flußbett den gerade aktuellen Ansprüchen des Menschen gemäß verlegt. Nur in ganz wenigen Flußabschnitten hat sich bis heute der ursprüngliche Verlauf erhalten. Einer davon sind die 70 Kilometer zwischen Straubing und Vilshofen mit ihren wertvollen Auen und Überschwemmungsgebieten. Genau dieser Abschnitt soll nach den Plänen des Bonner Verkehrsministeriums dem Ausbauwahn der Flußbaulobby zum Opfer fallen. An dem Verlauf der jahrelangen Auseinandersetzungen um den Sinn und Unsinn dieses Milliardenprojekts zeigt sich zweierlei. Erstens. Es geht nicht in erster Linie darum, den Fluß schiffbar zu machen, sondern darum, den an solchen Großprojekten verdienenden Bau- und Ausrüstungsfirmen lukrative Aufträge zu verschaffen. ({1}) Schon 1993 forderte der bayerische Rechnungshof - er wurde hier schon einmal zitiert -, daß nochmals gründlich untersucht wird, ob Nutzen, Kosten, sonstige Belange und das spezielle bayerische Interesse in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Ich zitiere: Bei dem gegebenen Engpaß unseres Staatshaushaltes können wir es uns nicht leisten, Träume zu verwirklichen. ({2}) Nach Auffassung des bayerischen Rechnungshofes muß die Wasserstraße von der Wirtschaft in ihre Transportdispositionen einbezogen werden. Dies würde allerdings neben einem abgestimmten Verhalten aller Beteiligten eine verkehrspolitische Unterstützung, insbesondere ein entsprechendes Gesamtgüterverkehrskonzept, erfordern. Ich weiß nicht, ob das schon vorhanden ist. Zweitens. Die Überschwemmungen der letzten Jahre haben überall Spuren hinterlassen, aber leider nicht in den Köpfen der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Wenn es wirklich darum ginge, umweltfreundlich Verkehr von der Straße auf das Wasser zu bringen, dann würden sich für den durchgehenden Massengüterverkehr schnellere und billigere Wege anbieten. ({3}) Außerdem würde auch der geplante Ausbau der Donau später nicht die durchgängige Bildung 23 Meter breiter Viererschubverbände, wie sie vom Bundesverkehrsministerium favorisiert werden, ermöglichen. Der Rhein-Main-Donau-Kanal läßt nämlich nur Schubeinheiten bis 11,2 m zu. In Regensburg müßte also in jedem Fall umgekoppelt werden. Auch bei der geplanten Ausbautiefe von 3,20 m scheint niemand an den Planungstischen vom Gedanken einer kostengünstigen, geschweige denn umweltverträglichen Lösung belästigt worden zu sein. Das Ergebnis: Eine ganzjährige Befahrbarkeit des Flusses wird angestrebt, koste es, was es wolle. Besonders dann, wenn Staatsknete jeden Kubikmeter Beton bezahlt und die Bilanzen der Flußbauer vergoldet, sind die heiligen Regeln der Marktwirtschaft plötzlich vergessen. Nein, da muß kräftig angestaut werden. Da wird gegen einen Ausbau mit flußtechnischen Mitteln polemisiert, weil bei diesem nicht in jedem Abschnitt an jedem Tag des Jahres die Befahrbarkeit für vollbeladene Schiffe gewährleistet wäre. ({4}) Scheinargumente! ({5}) Denn selbst auf dem Rhein, über den jährlich mit 60 Millionen Tonnen Güter zwanzigmal soviel transportiert wird wie gegenwärtig auf der Donau, steht die Schiffahrt am Binger Loch an durchschnittlich 60 Tagen im Jahr vor ähnlichen Problemen. ({6}) Eine größere Gefahr als diese Untiefe, mit der sich die Schiffer anscheinend vernünftigerweise arrangieren, scheinen allerdings die durch die hemmungslose Vernichtung von natürlichen Überschwemmungsflächen immer stärker wütenden Hochwasserperio- den zu werden. Gerade am Beispiel des Hochwassers zeigt sich, welche verhängnisvollen Kreisläufe immer weiter vorangetrieben werden. Um den Fluß den Schiffen anzupassen anstatt umgekehrt die Schiffe dem Fluß, werden Staustufen eingebaut. Zwischen Straubing und Vilshofen sollen es zwei sein; eventuell wird allein durch den Druck der Umweltinitiativen auf eine Staustufe verzichtet. ({7}) Staustufen sind aber eine Barriere für den natürlichen Sand- und Gerölltransport. Als Folge gräbt sich der Fluß unterhalb der Stufen immer tiefer ins Flußbett, da das Auffüllmaterial zurückgehalten wird. In der Vergangenheit war dieser Prozeß immer die Begründung für weitere Staustufen im Unterlauf. So wurden ganze Flußsysteme, vom Oberlauf angefangen, reguliert und gleichzeitig in ein neues Bett gezwängt. Letztlich erhöht sich durch den Wegfall der natürlichen Überschwemmungsgebiete bei Hochwasser die Abflußgeschwindigkeit, was zu immer schwereren Überschwemmungen führt. Es ist schon erstaunlich, daß einerseits das Umweltbundesamt als eine wissenschaftliche Behörde der Bundesregierung immer wieder auf die Gefahren einer solchen Politik hinweist, gerade erst wieder in einer Stellungnahme zum Wasserhaushaltsgesetz vorigen Montag, andererseits aber von Bund und Ländern kaum Konsequenzen gezogen werden. Meine Damen und Herren vor allem aus der CSU, auch in Ihren Reihen formiert sich Widerstand. Wenn man die „Süddeutsche Zeitung" liest, dann liest man auch davon, daß CSU-Mitglieder austreten wollen, weil „konservativ" bewahrend heißt, wenn ich das richtig verstanden habe. Werden Sie endlich Ihrem Ruf gerecht! Bewahren Sie das letzte Stück unverbaute Donau, Bayern zuliebe! ({8})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun erteile ich dem Abgeordneten Ernst Hinsken das Wort.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als ich letzte Woche in Erfahrung gebracht habe, daß der Punkt „Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen" auf der Tagesordnung steht, habe ich mich sofort des Antrags erinnert, der von den SPD-Kollegen eingebracht wurde. Mir ist der Antrag deshalb aufgefallen, weil ich selten erlebt habe, daß so viele Kollegen unterschrieben haben, nämlich weit über 80. Jetzt stelle ich fest, daß nicht einmal 10 % der Antragsteller anwesend sind. Das ist meines Erachtens nicht ehrlich. Man kann unterschreiben, ohne zu wissen, was man unterErnst Hinsken schreibt. Aber wenn man unterschrieben hat, dann sollte man sich auch informieren. ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich Befürworter des Donauausbaus zwischen Straubing und Vilshofen bin. Binnenwasserstraßen sind für mich umweltfreundlich, und zwar die umweltfreundlichsten Gütertransportwege, die es überhaupt gibt. ({1}) Meine Kollegin Renate Blank hat bereits darauf verwiesen. Ein Europaschiff mit etwa 1 300 t Beladung ersetzt 50 Lastzüge. Man darf eines nicht übersehen: Die Bundesrepublik Deutschland und insbesondere der ostbayerische Bereich sind seit der Grenzöffnung zum Osten zur Verkehrsdrehscheibe Europas geworden. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, inwieweit verkehrliche Maßnahmen ergriffen werden, um den Verkehr von der Straße und gegebenenfalls von der überlasteten Schiene auf die umweltfreundlichen Wasserstraßen zu bringen. Ich meine, daß die Verkehrsprobleme des 21. Jahrhunderts nicht auf der Infrastruktur des 19. Jahrhunderts bewältigt werden können. Generell gilt für Wasserstraßenausbauten, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Verkehrswege zu verbessern. Das heißt, Transportkosten sind durch größere Schiffe und Ablademöglichkeiten zu senken. Bei dieser Maßnahme, über die wir heute in erster Lesung diskutieren, geht es vor allen Dingen darum, daß im Falle eines Lückenschlusses zwischen Straubing und Vilshofen die Gleichwertigkeit mit anderen Streckenteilen hergestellt werden soll und muß. ({2}) - Es geht darum, daß die Donau so befahrbar gemacht wird, daß sie in der Weise umweltfreundlich genutzt werden kann, wie ich das eben gesagt habe. Es gehört zum kleinen Einmaleins der Verkehrspolitik - auch für Sie, Herr Schmidt -, daß für einen wirtschaftlichen Schiffsbetrieb die Fahrrinnentiefe entscheidend ist. Für bedeutende Wasserstraßen wie der Donau sollte eine Abladetiefe von 2,50 m ermöglicht werden. ({3}) Sonst können die angestrebten Transportkostensenkungen nicht realisiert werden. ({4}) Ich bin aber auch für einen naturschonenden Ausbau. Das möchte ich ausdrücklich unterstreichen und betonen. Deshalb finde ich es richtig, daß der bayerische Ministerpräsident Dr. Stoiber und Bundesverkehrsminister Wissmann am 6. Juli 1995 verabredet haben, die ergänzenden Untersuchungen für den Bereich oberhalb der Isar-Mündung in Auftrag zu geben. ({5}) Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden zeigen, ob eine flußbauliche Alternative für den oberen Bereich in das Raumordnungsverfahren eingebracht und ob auf die Staustufe Waltendorf verzichtet werden kann, ohne die Substanz der Ausbauziele zu gefährden. ({6}) - Ich sage das mit einem gewissen Unterton. - In übereinstimmender Auffassung aller Wasserbauexperten - das wurde bereits hier angesprochen - ist ein bedarfsgerechter Ausbau der Staustufe Osterhofen unverzichtbar. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch Professor Nestmann, der jüngst gesagt hat, daß gegebenenfalls auf die Staustufe in Osterhofen verzichtet werden kann, hat sich in der Zwischenzeit in der Öffentlichkeit geäußert und ist von seinen Ausführungen abgerückt. Ich zitiere den „Donau-Kurier" vom 22. September 1995, wo es heißt: Der Karlsruher Wasserbauer Franz Nestmann ist von seinen jüngsten Äußerungen zum Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen teilweise wieder abgerückt. ({7}) Es sei heute noch nicht zu begründen, daß womöglich auf eine oder beide Staustufen verzichtet werden könne, erklärte der Professor gestern. Ob „reelle Chancen" für zusätzliche Maßnahmen bestünden, könne nur nach gründlichen Untersuchungen entschieden werden. Dafür sei ein entsprechender Zeitrahmen nötig. „Die Vorwegnahme von Entscheidungen" würde Nestmann zufolge hier „eher störend" auf die „nun eröffnete Möglichkeit der verstärkten Berücksichtigung ökologischer Aspekte" wirken. Von einem neuen Kurs in Sachen Donauausbau könne aus seiner Sicht vorerst keine Rede sein. Meine Damen und Herren, ich meine, es war wichtig, daß das gesagt wurde, weil gerade Professor Nestmann als neuer Apostel, dem man Positives, für sich nutzend, in den Mund legt, sich diesbezüglich geäußert hat. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Ich pflichte dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber bei, wenn der am 19. Juli in einer Regierungserklärung vor dem bayerischen Landtag erklärt hat, daß das Raumordnungsverfahren so lange offengehalten wird, bis Klarheit herrscht, welche Planungen weiter verfolgt werden. Nachdrücklicher läßt sich meiner Meinung nach nicht belegen, daß die CDU/ CSU einen ökologisch und ökonomisch sinnvollen Ausbau zwischen Straubing und Vilshofen will.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, wenn Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Saibold zulassen, haben Sie die Chance, über Ihre Redezeit hinaus zu sprechen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das nehme ich gerne an; Frau Kollegin Saibold kann ihre Frage stellen.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hinsken, Sie haben gerade Dr. Nestmann erwähnt. Sie stimmen mir doch sicherlich zu, daß es immer auf die Aufgabenstellung und auf die Auftragsausrichtung ankommt, zu welchen Ergebnissen man bei Untersuchungen kommt. Deswegen ist es eben ganz wichtig, daß die Ausbauziele verändert werden, damit man eine andere Alternative ausarbeiten und überprüfen kann. Gestatten Sie mir bitte noch ganz kurz eine zweite Frage. Sie kennen, auch wenn Sie von der Donau sind, sicherlich den Spruch von der Nordsee: Schiff ahoi! Wissen Sie, wie das bei uns im Süden heißt? - Hoi, a Schiff! ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das, was Sie hier geboten haben, war großartig und das habe ich in letzter Zeit mehrmals hören dürfen. Wenn man etwas nachmacht, dann ist also natürlich die Originalität weg. Aber ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre zwei Fragen abschließend hier vorzubringen. Auf Ihre erste Frage möchte ich antworten - Sie haben mir anscheinend zu wenig zugehört -, daß sich Bundesverkehrsminister Wissmann mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber geeinigt hat - auf Grund der Hearings, die stattgefunden haben, und auf Grund dessen, was an weiteren Erkundigungen eingeholt wird -, dann zu weiteren Entscheidungen zu kommen, wenn alles wissenschaftlich untersucht ist und die Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Sie dürfen überzeugt sein, daß wir, die CDU und die CSU, uns von Grünen, SPD oder von wem auch immer in Sachen Ökonomie und insbesondere Ökologie nicht übertreffen lassen und daß wir vor allem die Bürgerinteressen im Auge behalten. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Horst Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hinsken, Sie sind immer wieder für einen Witz gut. Bekommen Sie denn nicht mit, daß Ihre Aussage die Quadratur des Kreises ist? Sie müssen sich einmal entscheiden. Sie haben den „Donau-Kurier" vom 22. September und ich habe die „PNP" vom 22. September: „Wasserbauexperte stellt Staustufen in Frage, Professor Nestmann." Jeder hat seine Zeitung, Sie eine oberbayerische, ich eine niederbayerische. Das ist Ihre Hauspostille, und Sie haben anscheinend eine andere als ich.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Sie gestatten eine Zwischenfrage?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie der „Passauer Neuen Presse" entnommen haben, aus dem „Donau-Kurier" übernommen wurde ({0}) und daß im „Donau-Kurier" Professor Nestmann eine Korrektur vorgenommen hat, um einiges richtigzustellen und es nicht ohne Prüfung in der Welt stehen zu lassen?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, Sie hatten vorhin vom 22. September in bezug auf den „Donau-Kurier" gesprochen. Auch ich habe eine Ausgabe vom 22. September. Es kann schlecht etwas übernommen werden, wenn es zum gleichen Zeitpunkt in der Zeitung steht. ({0}) Ich bin gerne bereit, Herr Hinsken, zu versuchen, mit den Wasserbauexperten, mit Herrn Professor Nestmann, den ich für einen Fachmann halte - ich halte aber auch Ogris für einen Fachmann, um das gleich richtigzustellen -, zu einer möglichst guten Lösung zu kommen. Wenn Sie natürlich gleich anfangen zu lachen, wenn Sie einen Namen hören, ohne e Qualität des Mannes näher zu kennen, dann ist das natürlich schlecht für die Donau. Dann werden Sie nämlich zu einem schlechten Urteil kommen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich, gerne.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, ich glaube, daß Sie soviel an Rechnen gelernt haben, daß nach dem 21. September der 22. September kommt. Wenn am 21. September eine Erklärung im „Donau-Kurier" gestanden hat, die am 22. von der „Passauer Neue Presse" übernommen wurde, so war das natürlich nicht möglich, auch die Korrektur gleich mit zu übernehmen, die erst einen Tag später gekommen ist. Ich hoffe, daß Sie das logisch nachvollziehen können. Wenn nicht, bin ich gerne bereit, Ihnen nachher noch Nachhilfeunterricht zu erteilen.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, wenn Sie so engagiert für die niederbayerische Donau, Ihre Heimat, kämpfen würden wie jetzt für ein Datum, dann hätte ich keine Angst um die Donau. Dann würden wir den ökologischen Ausbau schaffen, ({0}) während Sie in Ihrem Vortrag nur die Wirtschaftlichkeit in den Mittelpunkt stellen. Mir geht es um den Erhalt von Niederbayern, um einen Teil meiner Heimat. Bei Ihnen geht es nur um wirtschaftliche Argumente. ({1}) Meine Damen und Herren, ich will beginnen. Herr Staatssekretär Klinkert, ich höre Ihre Botschaft gerne, wenn Sie sagen, Sie würden auf die ökologischen Auswirkungen achten. Aber das langt nicht. Sie werden Alarm schlagen müssen. Sie müssen das Fachwissen einsetzen. Dann wird Ihnen das Fachwissen sagen, daß die Lösung so, wie sie jetzt für die Donau geplant ist, gegen die Ökologie läuft. Das wäre eigentlich Ihre Aufgabe. Wenn Sie nur darauf achten, dann ist das zu wenig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die wenigsten von uns haben an der Donau, Elbe, Havel oder Saale gelebt. Dies ist sehr bedauerlich - für die Flüsse. Man redet leichter über den Ausbau eines Flusses, wenn man ihn nicht kennt. Ausbau bedeutet immer auch Eingriff, Veränderung, Zerstörung. Wer wie ich aus Niederbayern kommt und an der Donau aufgewachsen ist, für den bedeutet die Donau ein Stück Heimat. Die Donau ist das letzte einigermaßen frei fließende Gewässer in dieser Größe in Mitteleuropa. Sie bildet einen wichtigen Lebensraum. „Rettet die letzten Flußauen Europas", dies forderte kürzlich Professor Sielmann im Hinblick auf die Pläne zum Ausbau der Donau. Die Auwiesen im ostbayerischen Donautal sind das bedeutendste Wiesenvogelbrutgebiet im westdeutschen Binnenland. Der Donauraum ist Überwinterungsraum für viele Wasservögel. Darauf hat vor uns fachkundig schon die Kollegin Irber hingewiesen. Wenn die Donau wirklich nach den ursprünglichen Plänen der Rhein-Main-Donau AG ausgebaut würde, hätte dies neben dem Verlust von Arten auch die Verschlechterung von Wasserqualität bedeutet: Staustufen führen durch Verringerung der Fließgeschwindigkeit zur Verringerung ihrer Selbstreinigungskraft. Die Biologie, die Ökologie in einem gestauten Gewässer ist eine ganz andere als in einem frei fließenden Gewässer. Das habe ich bei meinem Lehrer Dr. Schulte gelernt, der ein hervorragender Gewässerbiologe war. ({2}) Zugrunde gelegt werden mußte den Planungen bisher die fixe Idee, auf der Donau müßten ab Linz in Österreich bis nach Regensburg riesige Viererschubverbände fahren können - wohlgemerkt nur bis Regensburg, weil es weiter wirklich nicht geht. Die Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist keinesfalls die letzte Engstelle, wie immer behauptet wird, und schon gar keine Lücke, Herr Kollege Hinsken, weil die Donau nicht bei Straubing verschwindet und bei Vilshofen wieder auftaucht. Die Donauversickerung liegt bedeutend weiter oben. Es gibt noch Engstellen in der österreichischen Wachau, in Ungarn, in Rumänien und auch in Deutschland. Außerdem muß man sich fragen: Brauchen wir einen allgültigen Ausbaustandard für die Donau, für die Elbe, für die Havel und für die Saale? Alle werden über den gleichen Leisten geschlagen. ({3}) - Es geht nicht um Kanäle, es geht um Flüsse. Was in anderen Bereichen sinnvoll sein kann, weil dort ein Abnahmepotential für mit Viererschubverbänden transportierte Massengüter besteht, muß für den niederbayerischen Raum nicht ebenso sinnvoll sein. Jeder Fluß, jedes Flußstück hat seinen eigenen Charakter und hat eigene wirtschaftliche Anforderungen. Eine Anmerkung am Rande: Solche Viererschubverbände kommen vor allem aus dem Bereich des ehemaligen Ostblocks. Unseren Binnenschiffern würden wir mit einem solchen Ausbau jedenfalls keinen Gefallen tun. Wir würden nur die Billigkonkurrenz fördern. Was wir brauchen, ist eine Lösung, die optimal ist, und zwar nicht nur für die Binnenschifffahrt, sondern für die Binnenschiffahrt und den Fluß. ({4}) - Machen Sie keine einfachen Zwischenrufe, stellen Sie halt Fragen! ({5}) Die zweifellos gegebenen Vorteile der Binnenschiffahrt in bezug auf Primärenergiebedarf und Sicherheit müssen in strenger Beachtung der Umwelt- und Naturverträglichkeit genutzt werden. Dabei muß der Erhalt der Donau - das gilt aber auch für Elbe, Saale und Havel - als Ökosystem Vorrang gegenüber wirtschaftlichen Überlegungen haben. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffassung, Herr Hinsken, und meiner. Eine Nutzung darf nur umweltverträglich im Sinne einer nachhaltigen Bewirtschaftung sein. Die als Bundeswasserstraßen genutzten Flüsse sind vor allem und in erster Linie natürliche Gewässer und komplexe Lebensräume für eine Vielzahl von Pflanzen und Tiere. Sie sind aber auch empfindliche Systeme zur Regulierung der Wasserabflüsse und des Wasserhaushaltes in ihrem Einzugsgebiet. Es setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Hochwasserkatastrophen der letzten beiden Jahre größtenteils selbstverschuldet sind. Das von der SPD im Februar geforderte „ökologische Hochwasserschutzprogramm" wurde von der Bonner Regierungskoalition abgelehnt. Die Anhörung im Umweltausschuß am 15. Mai 1995 hat nochmals bestätigt, daß aus Hochwasserschutzgründen ein Verzicht auf neue Ausbaumaßnahmen notwendig ist. Frau Merkel hat ja kürzlich dazu etwas gesagt. Ich hoffe, sie zieht daraus auch die fachlichen Schlußfolgerungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch vor einem halben Jahr schien es so, als wenn die vorgeschlagene Betonlösung der Rhein-Main-Donau AG Wirklichkeit würde. Der beharrliche Widerstand der niederbayerischen Bevölkerung - einschließlich einiger CSU-Ortsverbände - gegen die überzogenen Ausbaupläne hat aber deutlich gemacht: So geht es nicht. Wir lassen uns unsere Heimat nicht kaputtmachen. Eines der Elemente, das Bewegung n in die Sache gebracht hat, war die Anhörung vor dem bayerischen Landtag Ende Mai 1995. Jetzt ist die Staustufe bei Waltendorf weitgehend vom Tisch. Dies hat der bayerische Umweltminister Goppel erst kürzlich nochmals bestätigt. Auch sollen jetzt - ich muß sagen: endlich! - ergänzende Untersuchungen über die Möglichkeiten und Grenzen flußbaulicher Maßnahmen durchgeführt werden. Unserer Ansicht nach muß zu diesem Themenkomplex eine Anhörung im Umwelt- und Verkehrsausschuß erfolgen, bei der der Frage eines umweltverträglichen und wirtschaftlichen Ausbaus nachgegangen wird. Ich glaube, bei der Elbe haben wir ein brauchbares Beispiel geliefert. Besonders der Wiener Wasserbauexperte Ogris hat mit seinen technischen Vorschlägen ganz wichtige Anstöße gegeben. ({6}) Man sollte doch meinen, daß es um die Suche nach der optimalen Lösung für den Fluß geht. Wie aber insbesondere die bayerische Staatsregierung mit seinem Gutachten umgegangen ist, war ein starkes Stück. In einem Schnellschuß durch Staatsminister Wiesheu wurde das Gutachten öffentlichkeitswirksam niedergemacht. Eines der schärfsten sogenannten Gegengutachten umfaßte ganze zwei Seiten. Meiner Meinung nach kann man ein solches Schriftstück nicht einmal als Stellungnahme bezeichnen. So etwas ist, wissenschaftlich betrachtet, unseriös. ({7}) Glücklicherweise gibt es mittlerweile wohl auch bei anderen Experten ein Umdenken, wonach auch auf die Staustufe bei Osterhofen verzichtet werden kann. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum es nicht reichen soll, die Donau weniger tief - entscheidend ist die Eintauchtiefe - und breit auszubauen. Nicht umsonst hat der Vizepräsident des bayerischen Rechnungshofes Odenwald 1993 angemerkt, die Ausbauziele seien auf ganz obskure Weise zustande gekommen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten auch den Antrag zum Ausbau der Elbe, Havel und Saale. Auch diese Flüsse dürfen nur ökologisch und ökonomisch verantwortbar ausgebaut werden. ({9}) Die Pläne der Bundesregierung - Stichwort Projekt „Deutsche Einheit" - und das Projekt „Transeuropäische Netze" der Europäischen Union lassen bisher, wenn diese wahr werden, Schlimmes befürchten. Zweifelhafte Daten über zukünftige Verkehrsentwicklungen und falsche verkehrspolitische Zielsetzungen können dazu führen, daß eine weitere Schädigung und Zerstörung dieser Flüsse in Kauf genommen wird. Ich glaube, eine der entscheidenden Sachen ist die Saale-Staustufe bei Klein-Rosenburg. Hier müssen wir versuchen, eine vernünftige ökologische Lösung zu finden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute wird auch das Donauschutzübereinkommen beraten. Unsere Fraktion steht diesem Abkommen positiv gegenüber. Umweltschutz macht bekanntlich nicht an Grenzen halt. Das Donauschutzübereinkommen kann die Grundlage für weitergehende internationale Zusammenarbeit bilden. Sein wahrer Wert wird sich aber erst zeigen, wenn auch konkrete Maßnahmen ergriffen werden können. Dabei kann ein falscher Ausbau der Donau im Niederbayerischen kontraproduktiv wirken. Was hilft uns eine gesunde Donau, wenn sie nachher nur in einem Betonbett liegt? ({10}) Ich bitte, die beiden Anträge der SPD fachlich gründlich zu beraten. Wenn dies fachlich gründlich geschieht, habe ich keine Angst, daß wir keine Mehrheit dafür finden. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({11})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Bartholomäus Kalb das Wort.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der SPD-Antrag auf Drucksache 13/1390 verwundert sehr, weil es einen Bleichlautenden Antrag mit fast dem gleichen Inhalt in der letzten Legislaturperiode gab. Er verwundert aber auch noch aus einem anderen Grunde, nämlich daß er gerade vom Herrn Kubatschka initiiert worden ist, denn in der "Süddeutschen Zeitung" Nr. 183 im Jahr 1993 war folgendes zu lesen: Wenn es nach dem niederbayerischen SPD-Bundestagsabgeordneten Horst Kubatschka geht, kann die RMD ihre Ausbaupläne ohnehin vergessen: Mit der Absicht des Bundes und des Freistaates, die RMD zu privatisieren, werde das Ende des Donauausbaus zwischen Straubing und Vilshofen eingeläutet und ein immens teures und umweltvernichtendes Projekt zu den Akten gelegt. Hätten Sie recht behalten, Herr Kollege Kubatschka, hätten Sie diesen Antrag nicht mehr zu stellen brauchen. Ich habe Ihnen damals gesagt, daß das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. Das ist heute noch so. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, ja.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kalb, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß sich der Zustand zum Rhein-Main-Donau-Kanal-Ausbau und zum Donau-Ausbau geändert hat? Am Donau-Ausbau ist die Rhein-Main-Donau AG nur Planungsgeber. Sie plant, sie baut nicht aus - im Gegensatz zum Rhein-Main-Donau-Kanal. Das ist im Grunde genommen der entscheidende Unterschied.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Haben Sie das damals nicht gewußt? Sie lagen zumindest damals falsch. Das müssen Sie doch heute zugeben. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag und die seinerzeitige Äußerung bzw. Meldung zeigen auch die Zwiespältigkeit. Sie erwecken hier den Eindruck, als seien Sie doch für den Donau-Ausbau, auf der anderen Seite wollen Sie vor Ort den Eindruck erwecken, als seien Sie dagegen. Ich wohne selbst, wie schon erwähnt, in einer der beiden hauptsächlich betroffenen Gemeinden. Neben der Stadt Osterhofen ist die Gemeinde Künzing am meisten betroffen. Es wäre leicht, sich hier aus opportunistischen Gründen auf die Seite der Gegner zu stellen. Ich habe das nie getan, und ich werde das auch nie tun, weil ich meine, daß Mandatsträger auch bereit sein müssen, sich für unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen einzusetzen. Ich möchte mich auch in zehn Jahren noch vor Ort sehen lassen können. ({1}) Ich möchte den Leuten vor Ort auch nichts vormachen. ({2}) Wenn Sprecher von Verbänden ankündigen, man werde an der Donau ein zweites Wackersdorf erleben, so macht das doch mehr als deutlich: Hier geht es nicht um die Sache, sondern in Ermangelung anderer Betätigungsfelder um ein geeignet erscheinendes Objekt für eine Fundamentalopposition. ({3}) Natürlich gibt es auch Protest vor Ort und ehrlich gemeinten und ernst zu nehmenden Protest von Betroffenen. Dazu zähle ich z. B. den Bauern Mittermeier. Dessen Protest als unmittelbar Betroffener ist verständlich und zu respektieren. Soweit irgend möglich müssen die Belange solcher Betroffener in den Verfahren berücksichtigt werden. Im übrigen hat sich dieser Bauer Max Mittermeier vor den Kameras der ARD in der vorigen Woche nicht zu der Ankündigung militanten Widerstandes wie in Wackersdorf hinreißen lassen, obwohl man ihm das fast in den Mund gelegt hatte. Ich kann nur sagen: Respekt! ({4}) An die Frage der Notwendigkeit des Donauausbaus kann man nur nüchtern und sachlich herangehen. Da gibt es einmal den Bereich der Schiffahrt. Mit der Fertigstellung des Rhein-Main-Donau-Kanals steht insgesamt eine Wasserstraßenlänge von 3 500 km zwischen Nordsee und Schwarzem Meer zur Verfügung. Alle Prognosen, was das Verkehrsaufkommen betrifft, werden jetzt schon übertroffen. Darüber hinaus müssen in Zukunft alle Verkehrsträger optimal genutzt werden, weil alle Prognosen eine starke Zunahme der Ost-West-Verkehre voraussagen. Und die Binnenschiffahrt gilt als sehr umweltfreundlicher Verkehrsträger. Sie wissen das, und Sie schreiben das ja selber in Ihrem Antrag.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte.

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kalb, würden Sie mir zustimmen, daß der Kollege Waltemathe von der SPD, als er noch Berichterstatter für den Verkehrshaushalt war, vor zwei Jahren noch gesagt hat, daß die Binnenwasserstraßen unverkennbar große Vorteile ökonomischer und ökologischer Art haben und man deshalb auf die Binnenwasserstraßen stärker zurückgreifen sollte, und daß er auch von zusätzlichen Ausgaben für diese Binnenwasserstraßen gesprochen hat? Würden Sie mir zustimmen, daß der Kollege Waltemathe ein besserer Vertreter der SPD war als heute der Herr Kubatschka? ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nicht nur dieses, Herr Kollege Dr. Rose. Aus gemeinsamer Zusammenarbeit im Haushaltsausschuß wissen wir, mit welchen Engagement Kollege Waltemathe, den wir alle sehr geschätzt haben, sich gerade in diesem Bereich betätigt hat und dafür eingetreten ist. Er hat immer mit allem Nachdruck betont, wie wichtig es sei, daß die Binnenwasserstraßen als Verkehrsträger auch zuverlässig sind; denn nur dann würden sie als Verkehrsträger auch angenommen. Er war von der Umweltverträglichkeit dieser Verkehrsträger in besonderer Weise überzeugt und wußte, daß ein Verkehrsträger dann nicht angenommen würde, wenn - wie beispielsweise an der Donau - an 270 Tagen im Jahr erhebliche Beeinträchtigungen wegen Niedrigwasser zu erwarten sind. ({0}) Wenn Unfälle und Havarien zu erwarten sind - im letzten Jahr waren es allein 20 und in der vorigen Woche allein drei -, dann hat natürlich solch ein Verkehrsträger keine Chance. Das war dem Kollegen Waltemathe - Herr Kollege Dr. Rose - gut bekannt, nachdem er am Wasser aufgewachsen war. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Notwendigkeit des Ausbaus kann nicht gezweifelt werden. Zu Beginn der Diskussion hat auch niemand daran gezweifelt, auch die Vertreter des Bundes Naturschutz nicht. Herr Dr. Weigert hat das ausdrücklich bei der F.D.P.-Anhörung des bayerischen Landtages bestätigt. Es bleibt also das „Wie". Da gibt es einige, die sagen: Nullvariante, Nichtstun. Das wäre natürlich schön. Aber das hätte fatale Folgen für Naturschutz, für Auwälder, für Landwirtschaft, für Gebäude, für Brücken, Ufermauem und ähnliches, weil sich die Donau auch nach den Aussagen von Professor Nestmann schon erheblich eingetieft hat. Er prognostiziert eine Eintiefung in den nächsten Jahrzehnten von ca. 60 cm. Meine Damen und Herren, dann bliebe bei Ihnen nur noch die Ogris-Methode übrig. In der Zwischenzeit, Herr Kollege Kubatschka, sind Sie der letzte Mohikaner, der noch auf Ogris setzt. Der Bayerische Landtag, die Grünen, alle haben sich bereits von dieser Methode verabschiedet, weil niemand begreifen kann und begreifen konnte, daß es umweltverträglich sein soll, daß es sanft sein soll, einen aus Granitquadern bestehenden Zwangskanal - eigene Angaben von Ogris - in die Donau hineinzulegen, d. h. die gesamte Fließstrecke von Straubing bis Vilshofen praktisch zu kanalisieren und einzuengen. Deswegen haben sich alle von „Ogris" zwischenzeitlich verabschiedet. Trotz dieser Zwangsmaßnahme würde man im übrigen die Ausbauziele nicht erreichen. Es ist vernünftig, daß man jetzt die Anregungen aufgreift, die von Professor Nestmann und im Bayerischen Landtag gegeben worden sind und die besagen, daß geprüft wird, was noch oberhalb von Deggendorf und im Bereich Osterhofen getan werden kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß man im Bereich Osterhofen auf eine Staustufe verzichten kann, ist natürlich geringer als oberhalb, weil dort eben der Höhenunterschied größer ist. ({2}) Im übrigen sind nicht alle Naturschutzfachleute der Meinung, daß eine Staulösung schlechter als eine flußbauliche Maßnahme wäre. Ich kann mich daran erinnern, daß ich in einem Schreiben der Kreisgruppe Deggendorf des Bundes Naturschutz vom 6. Oktober 1980 sehr nachhaltig darauf hingewiesen worden bin, ({3}) daß man, wenn man schon einen Ausbau vornehmen möchte, dann doch einen Donaudurchstich machen solle, weil damit auch ermöglicht werde, daß ein großer Teil - in dem konkreten Fall sind es 15 km - wieder völlig renaturiert und mehr als die Hälfte der Strecke als freie Fließstrecke erhalten werden könnten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten die Dinge also nicht so einseitig sehen. Wir sollten die Prüfung vornehmen, die Maßnahmen bewerten lassen und dann die Entscheidungen treffen. Sie wissen, daß das Raumordnungsverfahren ausgesetzt ist. Damit ist eine Ihrer Forderungen bereits erfüllt. Wenn Sie Bürokratie vermeiden wollen, dann sollten Sie eigentlich Ihren Antrag zurückziehen, denn er geht ins Leere. Sie liegen im Prinzip daneben, weil all diese Anforderungen erfüllt werden, sofern sie überhaupt erfüllbar sind. Die Fragen, die Sie zur Ausbaubreite, zur Eintauchtiefe und zur Breite der Schiffe gestellt haben, kann Ihnen jeder Fachmann leicht beantworten. An der Stelle möchte ich noch anfügen: Ich habe immer den Eindruck, daß das Thema Viererschubverbände als willkommenes Vehikel für eine grundsätzliche Gegnerschaft benutzt wird. Sie wissen ganz genau, daß das nicht das zentrale Thema ist, sondern daß die Frage der Eintauchtiefe sehr viel wichtiger ist. Sie wissen auch, daß sich die Anrainerstaaten darauf verständigt haben, daß eine Eintauchtiefe von 2,50 m im Regelfall möglich sein sollte. ({4}) - Ich kann leider Gottes Ihre Zwischenrufe nicht vernehmen; daher kann ich auf sie nicht eingehen. Das ist zwar immer ein bißchen schwierig, Herr Kollege; aber Sie haben ja die Chance, noch eine Frage zu stellen, bevor mir der Herr Präsident den Saft abdreht.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nein, Herr Kollege, die Chance besteht nicht mehr, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe die Aussprache. ({0}) - Herr Kollege Kubatschka, die Aussprache ist geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen - ({1}) - Ich kann die Sitzung auch unterbrechen, wenn Sie das vorziehen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/1884, 13/1390, 13/1331, 13/ 2435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf Drucksachen 13/1884, 13/1390 und 13/1331 sollen zusätzlich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hauptstadtverkehrsplanung Berlin - Bundespolitisches Stoppsignal für den Lehrter Zentralbahnhof und den Tiergartentunnel - Drucksache 13/365 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({2}) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort hat die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig. ({3}) - Herr Kollege, das können Sie später machen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Am 13. Oktober will Kanzler Kohl den ersten Spatenstich für den Berliner Tiergartentunnel machen: für 3,4 Kilometer Bahntunnel und für 2,7 Kilometer Bundesstraßentunnel, die B 96. Unsere Fraktion ist der Ansicht, daß beide Tunnel völlig unnötig und schädlich sind. ({0}) Darum haben wir einen Antrag gestellt und fordern Sie auf, mit uns diesem wirklich luxuriösen, überteuerten und unnötigen Tunnelwahn ein deutliches Zeichen gegenzusetzen; denn wir können uns solche unnötigen Großprojekte nicht leisten. ({1}) Ich will erläutern, warum gerade wir Grünen an dieser Stelle auch gegen einen Bahntunnel sind. Wir sind der Meinung, mit weniger Mitteln kann man mehr Nutzen gerade für den Bahnverkehr erzeugen als mit diesem Großprojekt. Es ist eine Planung, als hätten Bonn und Berlin beliebig viel Zeit, beliebig viel Geld und ein Vorrecht auf beliebige Stadt- und Naturzerstörung. Ich will einige Aspekte benennen. Die Zeit ist aber leider zu kurz, um den Wahnsinn, der dort passiert, ausführlich darzustellen. Ich möchte einmal ein Beispiel zum Vergleich bringen. Wir haben zwar jetzt nur Bayern und Berliner hier, wir kennen aber alle das Ruhrgebiet. Berlin ist fast so groß wie das Ruhrgebiet. Stellen Sie sich vor, alle IC-Bahnhöfe im Ruhrgebiet werden ausgetrocknet, und es entsteht ein neuer Zentralbahnhof z. B. in Hamborn. So schwachsinnig wird zur Zeit die Bahnplanung in Berlin betrieben. Das Ergebnis ist: Die Bahn fährt schneller durch Berlin, aber die Reisezeit für die Leute, die mit der Bahn fahren wollen, wird für die meisten verlängert. Dies ist völlig unnötig. Ein weiterer Punkt ist: Die Bahn plant völlig widersinnig dazu. Die Zugverbindung nach Kopenhagen wird gerade gestoppt. Eine direkte Zugverbindung nach Stettin gibt es nicht mehr. Nach Hamburg solFranziska Eichstädt-Bohlig len wir demnächst mit dem Transrapid rauschen. Wir wissen also nicht, wozu dieser Nord-Süd-Tunnel gut ist, wenn die Nord-Süd-Verbindungen alle gekappt werden. Der nächste Treppenwitz: Der von Bonn favorisierte Flughafen Schönefeld hat jetzt eine wunderbare IC-Anbindung. Die muß aufgegeben werden, wenn dieser Tunnel gebaut wird. Eigentlich muß man dann Sperenberg wollen. Hier paßt überhaupt nichts zusammen. Das nächste ist: Die Wirtschaftlichkeit und der Bedarf sind bis heute nicht schlüssig nachgewiesen. Trotzdem wird der Mantel der Liebe und des großen Geldes darüber gedeckt. Ein Wort zum Autotunnel. Wir alle wissen, und es ist längst bekannt: Er zieht genau den Verkehr auf sich, den er eigentlich vom Zentrum ableiten soll. Der von Berlin vorgegebene Modal Split von 80:20 wird so niemals erreicht. Im Gegenteil: Die Hauptstadt wird im Stau ersticken. Ich kann schon sagen: Herzlichen Glückwunsch den Neu-Berlinern, die dann als Abgeordnete da hinkommen. Städtebaulich ist der Tunnel genauso widersinnig, wie er mit Blick auf den Verkehr absurd ist. Ich möchte noch ein paar konkrete Punkte für die Situation für uns Parlamentarier anfügen. Es wird so sein, daß wir auch nach dem Jahr 2000 gerade wegen dieser Tunnelplanung inmitten von Baustellen leben werden und leben müssen. Es geht nicht nur um die Tunneldeckelei zwischen Kanzleramt und Parlament/Alsenblock. Es geht auch um das riesige Projekt Lehrter Bahnhof und um das Aufgraben des ganzen Tiergartenbereichs bis zum Potsdamer Platz. Es wird eine enorme Baustellenwüste. Ein nächster Punkt: Ich glaube, niemand hat sich bisher klar gemacht, daß, wenn es denn so kommt, am Lehrter Bahnhof ein 60 Meter hoher Schornstein gebaut wird, der die Tunnelabgase mit Stickstoff, Benzol und Ruß exakt 500 Meter weiter östlich auf unser schönes neugeplantes Parlament, den Reichstag, den Alsenblock niederlassen wird. Herzlichen Glückwunsch! ({2}) Hier fordere ich dringend, daß die Regierung tätig wird. Ich finde es toll, daß Herr Töpfer anwesend ist. Ich möchte die Frage deutlich stellen, wie gefährdet das Grundwasser im Bereich des Reichstages selbst ist. Wer sich die Pläne ansieht, erkennt, daß der Reichstag völlig von Tunneln umrundet wird. Die Gefahr, daß das Grundwasser dauerhaft abgesenkt wird und daß die Eichenpfähle austrocknen bzw. verfaulen, ist nicht von der Hand zu weisen. Bis heute ist dies überhaupt nicht untersucht worden. Statt dessen sind wir gerade dabei, 600 Millionen DM in diesen Reichstag zu stecken. ({3}) Das Hauptproblem ist das Geld. Herr Wissmann braucht eine Abteilung für das Gelddrucken, um dieses Projekt überhaupt zu realisieren. Am 5. September stand in der Zeitung, es koste 4,3 Milliarden Mark. Gestern steht in der Zeitung, es koste 3,9 Milliarden Mark. Das heißt, das ist das erste Projekt, das innerhalb von drei Wochen billiger wird statt teurer. Das ist sensationell! Wenn wir noch ein bißchen warten, kriegen wir das zum Nulltarif. ({4}) Ich glaube es in Wirklichkeit nicht. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Alternativen sind machbar und bezahlbar. Die Alternativen für den Straßentunnel bietet die vorhandene Umfahrung über den Großen Stern in Berlin und eine systematische Politik der Reduktion des Autoverkehrs in der Innenstadt. Das brauchen wir so oder so dringend. Der Bundestag braucht in Berlin auch nicht 1 450 Stellplätze für Autos, die im Stau stecken. ({5}) Für die Eisenbahn nötig und viel preiswerter ist es, den Berliner Ring, den Eisenbahnring, auszubauen. Von dem Geld, das jetzt in dieses Tunnelloch gesteckt wird, können dann die Regionalverkehre zum Umland ausgebaut werden. Insofern fordere ich Sie alle auf, vor allem die SPD, die ja gerne ab Oktober mit den Grünen zusammen regieren will: Stimmen Sie gegen den Tunnel, stimmen Sie für uns! ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Brigitte Baumeister.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Grünen haben in ihrem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, vom sogenannten Pilzkonzept abzurücken und es aufzugeben. Ich möchte darauf verweisen, daß der Antrag am 31. Januar dieses Jahres eingebracht wurde und bei etwas Nachdruck bereits im Mai hätte behandelt werden können, aber just gerade drei Wochen vor der Berliner Wahl nun zum Thema gemacht wird. ({0}) Da kann ich es Ihnen nicht ersparen, Frau Eichstädt-Bohlig, darauf hinzuweisen, daß dies wohl ein Wahlkampfthema in Berlin werden soll. ({1}) Auch der Zeitpunkt der Einbringung hinkt ein wenig hinterher. Ich muß sagen, Sie haben sich das reichlich spät überlegt. Denn die Bundesregierung, das Bundeskabinett hat bereits am 21. Juli 1992 dieses Pilzkonzept beschlossen. Es handelt sich hier auch nicht um ein besonders kostengünstiges, abgemagertes Achsenkreuzkonzept. Vielmehr - ich beBrigitte Baumeister tone das - ist genau diese Lösung, die ausgearbeitet wurde, von der Bahn, von dem Land Berlin und von dem Land Brandenburg als das beste befunden worden. ({2}) Es erfolgte sogar eine Aufnahme im Bundesverkehrswegeplan 1992 und im Bundesschienenwegeausbaugesetz mit der einzigen Kondition der Prüfung der Wirtschaftlichkeit. Sie ist inzwischen erfolgt, so daß das Bundesverkehrsministerium nun auch zu diesem Konzept steht. Wenn Sie sich die Pläne ansehen, die dort zu den Bauten erstellt werden, meine Damen und Herren, erkennen Sie: Das Tunnelprojekt ist ein Teil des Gesamtkonzeptes des Spreebogen mit all den Neubauten, die das Parlament dort plant, und mit einer Breite von 80 bis 120 Metern und 22 Metern Tiefe genau eingepaßt. Für das Tunnelprojekt wurde bereits das Planfeststellungsverfahren im April 1994 eingeleitet. Wenn Sie über die Finanzierung reden, dann möchte ich darauf hinweisen, daß die Finanzierung nach dem Hauptstadtvertrag vom 30. Juni 1994 gesichert ist. Die Entwicklung ist inzwischen weitergegangen. Der Planfeststellungsbeschluß ist vor zwei Wochen, nämlich am 12. September, ergangen und liegt zur Zeit öffentlich aus. Auch die Bebauung am Potsdamer Platz bezieht eindeutig dieses Pilzkonzept mit ein, für das nun am 13. Oktober dieses Jahres der erste Spatenstich erfolgen soll. Wenn Sie darauf hinweisen, daß der Tunnelbau 1998 möglicherweise nicht fertig sein wird und die Parlamentsbebauung oder aber die Arbeits- und Funktionsfähigkeit behindern wird, dann darf ich darauf hinweisen, daß die Voraussetzungen für die zeitgerechte Abdeckung der Tunnelanlage im Spreebogen bis Mitte 1998 geschaffen sind. Ich appelliere wirklich an Ihr Demokratieverständnis, das ich nun schon mehrfach in den Kommissionen habe erleben dürfen, zu dem zu stehen, was einmal beschlossen wurde. Sie sollten letztendlich nicht aus populistischen Gründen von diesen Beschlüssen abrücken. Ich möchte noch auf einige denkbare Alternativen hinweisen, die im Gespräch waren, die aber alle eines nicht gewährleisten können, daß nämlich der Kreuzungspunkt zwischen Ost-West- und Nord-SüdVerkehr hinsichtlich der Eisenbahnplanung gut erschlossen werden kann. Ich glaube, daß die Bahn eines gewährleistet, nämlich daß sie im Unterschied zu anderen zielgenau anfahren kann und in diesem Punkt wesentlich besser geeignet ist als z. B. Flugzeuge. ({3}) Der Vorteil der Eisenbahn gegenüber Flugzeug und Auto liegt gerade im direkten Zugang in die Mitte der Städte und in der Vermeidung langer Anfahrtswege. Man sollte sich weiterhin überlegen, daß der Fern- und Regionalverkehr nicht an die Peripherie der Stadt gelegt werden kann; denn sonst wird er nicht genutzt. ({4}) Auch die U-Bahn halten wir für sinnvoll, gerade weil wir wollen, daß der Individualverkehr eingeschränkt und daß der Verkehr in großem Maße auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlagert wird. Diese Einschätzung teilen wir nicht nur mit den Fachleuten. Sie kommen deswegen auch zu spät, weil demnächst die Tiefbaumaßnahmen dazu beginnen. Auch der geplante Straßentunnel ist eine Entlastung. Er ist eine Entlastung von Individualverkehr, insbesondere vom Durchgangsverkehr. Wenn man möchte, daß der Verkehr zurückgedrängt wird, muß man bedenken, daß er sich nicht dadurch reduzieren läßt, daß man an die Bürgerinnen und Bürger appelliert oder ihnen den Straßenverkehr verbietet. Er läßt sich eigentlich nur dadurch reduzieren, daß man Alternativen aufzeigt. Eine dieser Alternativen sehen wir in dem Straßentunnel. Ich möchte nicht, daß am Reichstag in großem Umfang Autos verkehren. Ich möchte, daß die Bürgerinnen und Bürger, die Berliner und wir den Platz an der Spree, um den Reichstag und die Parlamentsbauten herum, zu Fuß genießen können. Ich möchte nicht, daß nur wir Parlamentarier mit unseren Dienstwagen vorfahren, sondern ich möchte, daß es möglich ist, zumindest im Rahmen des Ziel- und Quellverkehrs einige Autos in dieser Region zu sehen. Ich denke auch, daß wir der Splittung des Verkehrs von 80 : 20 Prozent - Sie haben es angesprochen, Frau Eichstädt-Bohlig - dadurch am nächsten kommen, daß wir Alternativen aufzeigen, die da heißen: Straßentunnel, Eisenbahntunnel, U-Bahn. Es wurde schon erwähnt: Die Verkehrsbauten stellen keine Gefährdung der Baupläne in Berlin dar; der Umzugszeitraum ist festgelegt. Ich denke vielmehr, daß hier parallel realisiert und gebaut werden kann und daß dies ein großer Vorteil auch für das Einhalten unseres Umzugstermins, bis spätestens zur Mitte der nächsten Legislaturperiode im Jahre 2000 ist. Das Parlament liegt mit seinen Bauten für den Spreebogen exakt in der Terminplanung. Wir wollen eine aufeinander abgestimmte Gesamtkonzeption, die nicht durch kurzfristige Aktionen der Grünen gefährdet werden soll. Im Bereich des Tiergartens werden durch den Tunnelbau in bergmännischem Verfahren Umweltschäden vermieden. Das sagen zumindest die Experten. Ich möchte mit folgender Bemerkung schließen, Frau Eichstädt-Bohlig: Ich würde es für verhängnisvoll halten, wenn eine solche Verhinderungspolitik, wie Sie sie jetzt in der zeitlichen Streckung betrieben haben, in Berlin tatsächlich greifen würde. Ich kann allen Bürgerinnen und Bürgern eigentlich nur den Rat geben: Überlegen Sie genau, ob Sie einer rotBrigitte Baumeister grünen Koalition in Berlin zur Regierungsmehrheit verhelfen wollen! Vielmehr sollten Sie der bewährten Koalition Ihre Stimme geben; denn das bietet die Gewähr für eine weitere Planung der Stadt Berlin. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Siegfried Scheffler.

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die integrierte Verkehrsplanung im zentralen Bereich ist ein entscheidender Beitrag Berlins zum termingerechten und reibungslosen Umzug von Regierung und Parlament sowie für die weitestgehende Freihaltung dieses Gebiets vom Durchgangsverkehr. Gleichzeitig sollen die Verkehrsmaßnahmen den durch die Ansiedlung von Unternehmen am Potsdamer Platz und durch den Regierungsumzug induzierten Verkehr mit einem Modal Split von 80:20 zugunsten des öffentlichen Verkehrs bewältigen helfen. Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pflicht, die Verkehrsanbindung für den zentralen Bereich der alten, aber auch der neuen Hauptstadt effizient, städteplanerisch ausgewogen und ökologisch verträglich zu gestalten. ({0}) Das sollten wir bei der Debatte über dieses Thema nicht vergessen. Der vorliegende Antrag zeichnet demgegenüber meines Erachtens ein düsteres Bild auf. Die Verzögerung des Umzugs von Bonn nach Berlin wird beschworen. Es wird vor Kostenüberschreitung gewarnt. Auch wir sind natürlich der Meinung, daß keine Kostenüberschreitungen sein dürfen. Wir haben das in der Baukommission ausführlich erörtert, die Zerstörung der gewachsenen städtischen Strukturen beklagt und gefordert, dem Berliner Senat die ideelle und materielle Unterstützung für seine Verkehrsvorhaben zu entziehen. So wird vorgeschlagen, an Stelle des Fernbahntunnels den inneren Eisenbahnring und die auf ihn zulaufenden Radialstrecken wieder herzustellen. Das vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin installierte Schienennetz war zweifelsohne für den Fern-, Regional- und Nahverkehr beispielhaft in Europa. Aber die Anforderungen haben sich wirklich verändert. Die Stadtentwicklung hat sich nicht zuletzt durch den Mauerbau von der früheren Eisenbahninfrastruktur gelöst. Die Schiene muß sich ihren Platz erst wieder zurückerkämpfen. Das Pilzkonzept ist dafür der Fahrplan. Der Antrag enthält einige unzutreffende Behauptungen über das Pilzkonzept. Wir werden uns damit in den Ausschüssen lange auseinandersetzen. Als erstes möchte ich bemerken, daß der Bereich Lehrter Bahnhof auch in der Vergangenheit mehr als nur ein S-Bahnhof war; denn in seiner unmittelbaren Nachbarschaft befand und befindet sich der Stettiner Güterbahnhof, und auf der anderen Seite sind immer noch die Anlagen des ehemaligen Hamburger Bahnhofs. Zum zweiten. Auf die Wiederherstellung des südlichen Innenrings der Bahn sowie der Stammbahn wird nicht verzichtet, wie Sie behaupten. Diese Streckenteile haben jedoch für den jetzt geplanten Berliner Eisenbahnknoten eine nachrangige Bedeutung und wurden aus finanziellen Erwägungen zurückgestellt. ({1}) Drittens. Die Stufe 1 des Pilzkonzeptes ist kein Rumpfkonzept. Nach Realisierung dieser ersten Stufe kann gegebenenfalls über weitere Ausbaumaßnahmen entschieden werden. Das Konzept zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es erweiterbar ist. Viertens. In Ihrem Antrag bezeichnen Sie - werte Kollegen, das haben Sie heute wieder getan - den Lehrter Bahnhof als Zentralbahnhof. Hierzu ist festzustellen, daß sich die Deutsche Bahn AG und der Berliner Senat darin einig sind, daß die polyzentrische Struktur der Stadt in der Anordnung der Bahnhöfe abzubilden ist. Nach diesem Verständnis ist der Lehrter Bahnhof ein Bahnhof in zentraler Lage, aber noch lange kein Zentralbahnhof. ({2}) Fünftens. Das Pilzkonzept ist insbesondere wegen des hervorragenden Verkehrswertes für die Kunden vorteilhaft. Die einfache, klar gegliederte Streckenführung erleichtert den Kunden die Orientierung und hat daneben auch betriebliche Vorteile. Weiterhin wird behauptet, die Ringbahn sei kostengünstiger. Sie wissen es: Dieses Modell wurde im Rahmen der Eisenbahnkonzeption Berlin untersucht. Die Kostenschätzungen weisen einen Betrag von 12,5 Milliarden DM aus und liegen damit höher als die Kosten für die Streckenführung durch den zentralen Bereich. Ich will das an drei Beispielen deutlich machen. Erstens. Sie schlagen vor, fünf Bahnhöfe für den Fernverkehr in Berlin einzurichten: Papestraße, Gesundbrunnen, Ostkreuz, Westkreuz und als Regierungsbahnhof die Friedrichstraße. Im Pilzkonzept sind neben dem Lehrter Bahnhof die beiden zuerst genannten Bahnhöfe ebenfalls enthalten. Würde Ihr Konzept verwirklicht, müßte die Deutsche Bahn AG die Investitionsmittel für zwei zusätzliche Bahnhöfe aufbringen. Zweitens. Der Ausbau des inneren Eisenbahnrings würde stark - weil in der Strecke deutlich länger - in die Stadtlandschaft eingreifen. Für den Betrieb der Strecke gemäß dem von Ihnen favorisierten Bahnkonzept genügt ein zweigleisiger Ausbau nicht. Wir können Ihnen das auch in den Ausschüssen nachweisen. ({3}) Sie können auch nicht davon ausgehen, daß die Trassenführung des inneren Eisenbahnrings unverändert übernommen werden könnte. Drittens. Der innere Eisenbahnring verläuft insbesondere im Ostteil der Stadt durch dichtbesiedelte Wohngebiete. Die bisher offene Streckenführung würde zwangsläufig Forderungen nach Lärmschutzmaßnahmen nach sich ziehen. Auf den Abschnitten durch Neukölln, Prenzlauer Berg und durch den Wedding würden wir nicht umhin kommen, den Eisenbahnring zu deckeln. Die bereits erwähnte Gegenüberstellung der Gutachten zum Pilzkonzept und Ringmodell kam 1992 zu dem Ergebnis, daß die jetzt zur Realisierung anstehende Bahnkonzeption früher verfügbar ist, werkehrliche Vorteile hat, kostengünstiger abschneidet, eine höhere Leistungsfähigkeit aufweist und selbst unter Umweltaspekten besser abschneidet als die im Antrag vorgeschlagene Alternative. Was Ihnen angst macht - auch ich muß zugeben, daß ich von den geplanten Dimensionen beeindruckt bin -, ist die Größenordnung, in der sich die Gesamtinvestitionen für den Lehrter Stadtbahnhof bewegen. Der Bund trägt bei diesem Vorhaben die Kosten, die für die Herstellung der Funktionalität erforderlich sind. ({4}) Die zusätzlich erforderlichen Mittel bringen die Deutsche Bahn AG und private Investoren auf. Einige Bemerkungen zum Standort Lehrter Bahnhof. Es sind im wesentlichen zwei Aspekte. Zum einen liegt er an einem Ort mit einer zukünftig großen Verkehrsnachfrage, zum anderen treffen an diesem Standort praktisch alle Linien zusammen. Hieraus ergibt sich ein großer Verknüpfungsgrad mit vielen Umsteigemöglichkeiten. Hinzu kommt: Ein Bahnhof ist per se ein Standortentwickler. Rein volkswirtschaftlich gesehen schafft ein Bahnhof Arbeitsplätze, und zwar nicht nur im Bahnbetrieb selbst, sondern in noch größerem Umfang in der Dienstleistungsperipherie. Aber bei alledem darf man nicht außer acht lassen: Der Lehrter Bahnhof ist von seiner Funktion her ein Umsteigebahnhof, der ein Umsteigen auf die Schiene bereits an der Quelle garantiert. Er ist also nicht - wie der Antrag behauptet - die Ursache von Verkehrsmengen, sondern hat eher eine positive, verkehrsvermeidende Wirkung in einem Gebiet mit großem Verkehrspotential. Lassen Sie mich etwas zu den Vorbereitungen für eine S-. und U-Bahn-Linie durch den zentralen Bereich sagen. Der Tiergarten ist ein innerstädtisches Naherholungsgebiet. Durch die Neugestaltung der Berliner Mitte, den Umzug von Regierung und Parlament, wird der Tiergarten an seinem östlichen Rand besonders belastet. Diese Entwicklung muß in ökologisch verträglicher Weise kanalisiert und begrenzt werden. Ziel der von der SPD vertretenen Verkehrspolitik ist deshalb die wesentliche Umverteilung des Verkehrs zugunsten des öffentlichen Verkehrs. ({5}) Für den zentralen Bereich wird deshalb eine Verkehrsaufteilung von 80: 20 zugunsten dieses öffentlichen Verkehrs angestrebt. Die öffentlichen Verkehrsmittel müssen dazu in diesem Bereich entsprechend ausgebaut werden. Für die S 21 und die U 5, die für die SPD zur Zeit jedoch keine Priorität haben, muß für nachfolgende Generationen eine Option freigehalten werden.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Scheffler, ist Ihnen bekannt, daß die Finanzierung Berlins für den Straßentunnel mit 299 Millionen DM aus der Finanzierung, die Bonn Berlin eigentlich für die Sanierung der S-Bahnen gewährt hat, gespeist wird und mit dieser Finanzierungsmethode nie und nimmer ein Modal-Split vom ÖNV zum IV bewerkstelligt werden kann, weil man Geld, das für den öffentlichen Verkehr eingesetzt werden soll, in den Individualverkehr steckt?

Siegfried Scheffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001952, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stimme Ihnen zu. Deshalb gibt es ja eine Vereinbarung zwischen dem Berliner Senat und dem Bundesministerium, daß die Vorfinanzierung seitens des Berliner Senats abgelöst wird und die entsprechenden Mittel für den öffentlichen Personenverkehr eingesetzt werden können. ({0}) Deshalb kann ich Ihrer im Antrag aufgebauten Argumentation, das Gebiet statt mit diesen Maßnahmen nur mit einer Straßenbahn zu erschließen, nicht folgen. Die Straßenbahn wird selbstverständlich in den Tiergarten und seine angrenzenden Bezirke fahren. Sie wird sicher von einer S 21 und einer U 5 Teile des zu erwartenden Verkehrsaufkommens aufnehmen, aber doch nur im Konzert mit später hinzukommenden Verkehrsträgern. Wir müssen langfristig bei der integrierten Verkehrsinfrastruktur in dieser Großstadt für den richtigen Mix Sorge tragen. Anders können wir den angestrebten Modal-Split nicht erreichen. Ein weiteres Vorhaben, das in dem Antrag angesprochen wird, ist der Straßentunnel durch den zentralen Bereich. Auch hier setzt sich die SPD für Verkehrsvermeidung und - wo immer möglich - für die Förderung des ÖV ein. Dem Bau des Straßentunnels wurde jedoch nach Abwägung aller Alternativen - mit Bauchschmerzen; das gebe ich zu - im Berliner Abgeordnetenhaus zugestimmt. Es wurde davon ausgegangen, daß der Straßentunnel die Verlagerung der Entlastungsstraße in die untere Ebene bedeutet und keine andere Dimension haben darf. Wir werden deshalb jedem Versuch, den Straßentunnel zu erweitern - das hat beispielsweise erst gestern in der „Berliner Morgenpost" der ADAC gefordert -, mit aller Schärfe entgegentreten. ({1}) Einige Worte an die Regierung und die sie tragenden Parteien: Spricht man über die Kosten für die Verkehrsprojekte in Berlin, muß man auch die Kosten für den Transrapid erwähnen. Die gegen alle Vernunft geplante Haushaltsfinanzierung der Strecke von Hamburg nach Berlin wächst sich zu einem Finanzdebakel ersten Ranges aus. ({2}) Bei diesem Projekt trägt ausschließlich der Bundeshaushalt die Risiken. Von einer Kürzung der Mittel oder einer zeitlichen Streckung ist hier keine Rede. Hingegen räumte der Parlamentarische Staatssekretär Carstens - leider ist er nicht hier - auf meine schriftlichen Fragen im letzten Monat ein, daß es beim Aus- und Neubau der Schienenwege in und um Berlin zu zeitlichen Streckungen kommen kann. ({3}) Da der Nord-Süd-Eisenbahntunnel im zentralen Bereich höchste Priorität hat, sei man dabei, Finanzierungsentscheidungen vorzubereiten, die den Baubeginn noch 1995 ermöglichen und die zeitgerechte Deckung in diesem Bereich bis Mitte 1998 schaffen würden. Ich fordere Sie deshalb auf, Herr Staatssekretär, gemeinsam mit uns sicherzustellen, daß die von den Antragstellern befürchteten Finanzierungslücken bei diesem wichtigen Projekt nicht eintreten. Es wurde lange über verschiedene Alternativen nachgedacht, diskutiert, und erst dann wurde entschieden. Das jetzt zur Realisierung anstehende Verkehrskonzept für den zentralen Bereich muß deshalb mit aller Kraft verfolgt werden, damit wir wie geplant 1998 oder 1999 nach Berlin umziehen können. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Klaus Röhl.

Dr. Klaus Röhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001867, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Stopp der Bauvorhaben am Lehrter Zentralbahnhof und für den Tiergartentunnel in Berlin zeigt wieder einmal das charakteristische Verhalten, das nicht endende Dilemma der Grünen. Da wird jahrelang bei jeder Gelegenheit gefordert, den Verkehr auf die Bahn zu verlagern - Fern-, Regional- und Nahverkehr -, und wenn es dann ernst wird, wenn realisiert wird, wird gekniffen, protestiert, prozessiert, gemauert, wo es nur geht. Die Grünen erweisen sich wie immer als die ewigen Verneiner. Mehr noch: „Man/frau" fordert in allgemeinen Reden zur Umweltschonung, wenig Fläche, wenig Energie zu verbrauchen, die Menschen vor Umweltbelastungen zu bewahren und außerdem die Kosten niedrig zu halten. Was kommt in der Praxis dabei heraus? Es wird für das erheblich mehr Fläche verbrauchende Ringkonzept plädiert, für ein Konzept, das erheblich längere Fahrwege aufweist, das damit einen wesentlich höheren Energieverbrauch und auch einen höheren Zeitaufwand für die Reisenden bedeutet, für ein Konzept, das wegen der um ein Vielfaches längeren Streckenführung links und rechts der Strecken erheblich mehr Bewohner tangiert; dies hat Herr Scheffler schon gesagt. Der zentrale Teil des angegriffenen Projekts führt übrigens durch nichtbewohnte Bereiche. Welche Konsequenzen hat ein Projektabbruch, ein Projektaustausch? Einen jahrelangen Verzug bei der Fertigstellung des Bahnsystems - eine sehr umweltfreundliche Folge -, einen dramatischen Einbruch der Arbeitsplätzezahl im Baubereich - eine sehr soziale und arbeitsmarktfreundliche Folge. Was steht noch in dem vorliegenden Antrag? Es wird der Ausbau der Bahnhöfe Papestraße und Gesundbrunnen gefordert. Die werden ja ausgebaut. Wo ist das Problem? Wo bleibt im Ringkonzept der Grünen eigentlich der Regionalbahnhof Potsdamer Platz? Der wird unterschlagen. Übrigens: Westkreuz und Ostkreuz sind seit jeher S-Bahnhöfe, sind und bleiben in Betrieb und sollen in Zukunft saniert und ausgebaut werden. Der Lehrter Bahnhof wird übrigens ein Kreuzungsbahnhof und nicht ein sogenannter Zentralbahnhof. Nun etwas ganz besonders Großes: Da fordert die den Antrag unterzeichnende Kollegin Frau Eichstädt-Bohlig, die uns in der Baukommission bei jeder Gelegenheit energisch an den Denkmalschutz mahnt, allen Ernstes den Verzicht auf die umweltfreundliche und das Stadtbild nicht beeinträchtigende U-Bahn und empfiehlt statt dessen eine Straßenbahn, und das im Bereich Unter den Linden/ Friedrichstraße, womöglich noch mit Fahrt durch das Brandenburger Tor. Eine groteske Vorstellung! ({0}) „Man/frau" fordert nicht nur den Verzicht auf den Straßentunnel. Nein, man fordert dazu noch die Beseitigung der Entlastungsstraße, damit sich dann der Autoverkehr durch die umliegenden Wohn- und Geschäftsgebiete quält. Bezüglich der Belüftung und des Betriebs des Straßentunnels und auch zur Grundwasserführung während der Bauzeiten werden Horrorszenarien gemalt, die jeder Grundlage entbehren, aber Hollywood zur Ehre gereichen würden. Ich empfehle zur sachlichen Information die Lektüre der Planungsunterlagen, die monatelang in Berlin am Anhalter Bahnhof für jeden öffentlich zugänglich ausgestellt waren. Darin sind die umweltfreundDr. Klaus Röhl lichen Lösungen ausführlich dargestellt. Der Verkehrsausschuß der vorangegangenen Legislaturperiode hat sich übrigens vor Ort über alle diesbezüglichen Belange eingehend informiert. ({1}) Die Kosten für die geplanten Projekte werden moniert - was übrigens das gute Recht ist -; aber über die Mehrkosten für das Ringkonzept wird kein Wort verloren. Das ist klar; denn die Kosten sind natürlich dreimal so hoch. Deswegen schweigt man darüber. ({2}) - Liebe Frau Kollegin Bohlig, es ist möglich und wir sind auch dazu bereit, jeden einzelnen weiteren Punkt des Antrags zu diskutieren und zu widerlegen. Leider ist an dieser Stelle zuwenig Zeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag ist ein Wiederaufguß längst abgearbeiteter und geklärter Fakten und Probleme. Das ist nichts weiter als Handeln mit Ladenhütern im Berliner Wahlkampf. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl ganz offenkundig: Der Berliner Wahlkampf wirft seine Schatten bis nach Bonn, und Kanzler Kohl wirft sein ganzes Gewicht in die Waagschale bzw. auf einen Spaten, um am 13. Oktober das Startsignal für den Bau des Tiergartentunnels zu geben. Das ist wohl kein Wahlkampf. Mehrere Milliarden DM sollen für ein ökologisch und verkehrspolitisch höchst bedenkliches Projekt verschwendet werden. Klar ist sicher uns allen, daß in puncto Verkehr in Berlin Konsequenzen notwendig sind. Dramatisch zunehmende Schadstoffbelastungen und Dauerstau können wohl kaum Ausdruck einer gestiegenen Lebensqualität sein. ({0}) Nun ist es ein gefährlicher Trugschluß, anzunehmen, daß es durch den Tiergartentunnel eine Entlastung in Berlin-Mitte geben wird. Frau Baumeister, ich denke, wir dürfen nicht nur an das Regierungsviertel, an den Kanzler oder an die Herren und Damen Abgeordneten denken. In Berlin wohnen noch ein paar mehr Bürgerinnen und Bürger. Der Verkehr, der auch in Zukunft deutlich zunehmen wird, findet statt oberhalb nun unterhalb der Erde statt - wahrlich eine kreative Form der Verkehrsverlagerung. Daß damit die grüne Lunge im Zentrum Berlins langfristig zerstört wird, scheint die Herren Verkehrsplaner - leider sind es in der Regel Herren - kaum zu interessieren. Möglicherweise will man so auch das Problem der grillenden Familien im Tiergarten lösen. Aber zurück zum Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Damit haben wir durchaus ein Problem. Ich meine, es wäre vielleicht besser gewesen, diesen Antrag federführend von der verkehrspolitischen Sprecherin bzw. den Verkehrspolitikern bearbeiten zu lassen. Das Konzept, das hier gefordert wird, ist im Endeffekt nämlich tatsächlich nicht billiger und auch verkehrspolitisch nicht viel sinnvoller als die Vorstellungen der Bundesregierung bzw. des Senats. Die Wiederherstellung des Eisenbahnrings und seine Nutzung für Personenfern- und -regionalverkehr ist wenig praktikabel und zudem kostenaufwendig. Dieser Ring war nämlich hauptsächlich für den Güterverkehr vorgesehen. Ihn wiederherzustellen und für den Personenverkehr nutzbar zu machen erfordert gewaltige Baumaßnahmen, die um so teurer werden, da sie kaum zu ebener Erde, sondern zumeist unterhalb bzw. auf erster Ebene realisiert werden müssen. Hinzu kommt, daß die auf den Ring zulaufenden Radialstrecken an Bahnhöfen außerhalb des Zentrums enden und somit einem umsteigefreien Verkehr in die Stadt entgegenstehen. Aber das Ringkonzept setzt auf Durchreiseverkehr. Dieser hat heute einen Anteil von nur 5 %. Nach Auffassung der PDS - ich verweise hier auf die Studie unseres Kollegen Winfried Wolf, der das exakt herausgearbeitet hat - kann eine kundenfreundliche, kostengünstige Variante nur im Wiederaufbau der drei Kopfbahnhöfe Lehrter Bahnhof, Nordbahnhof und Anhalter Bahnhof liegen. ({1}) Diese Lösung ist schrittweise umsetzbar und garantiert den schnellsten und, wie wir meinen, auch umweltfreundlichsten Weg ins Stadtzentrum. Sie ermöglicht zugleich eine Integration des Güterverkehrs und stellt damit ein Rückgrat für ein ökologisch integriertes Gesamtverkehrskonzept in Berlin dar. Es ist immer sinnvoller und billiger, Vorhandenes zu nutzen und auszubauen, als Milliarden in ein Großprojekt zu stecken. Lassen Sie den Tiergarten, wie er ist! Ich denke, wir Abgeordneten sollten auch dankbar dafür sein, wenn wir dann nach 1998 in den wenigen Pausen, die wir haben, im Park spazierengehen können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche allen Kolleginnen und Kollegen eine angenehme Nachtruhe. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das ist zwar ein angebrachter, aber, wie ich fürchte, verfrühter Wunsch. ({0}) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Das Wort hat für die Bundesregierung der Staatssekretär Johannes Nitsch.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Wiedervereinigung Deutschlands jährt sich in wenigen Tagen zum fünften Mal. Sie hat eine zerrissene Stadt wieder zusammengefügt. Wir haben die Verkehrsverbindungen auf der Straße, der Schiene und auf den Wasserwegen wieder zusammengeführt. Darüber hinaus müssen wir Berlin aber auch auf die verkehrlichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten. Die Bundesregierung, das Land Berlin und das Land Brandenburg haben sich diese gewaltige Aufgabe in den vergangenen fünf Jahren mit sehr viel Sorgfalt, zahlreichen Untersuchungen und unter Einbeziehung des größten Sachverstandes vorgenommen. Es wurden nicht nur Fachplaner aus den verschiedensten Gremien, sondern es wurde auch die Öffentlichkeit einbezogen. In einer Reihe von ressortübergreifenden Arbeitsgruppen wurden Diskussionsforen in Berlin durchgeführt. Dabei wurde die Hauptstadtverkehrsplanung Berlin stets auch im Blick auf den Umzug der Bundesregierung und des Parlaments nach Berlin konzipiert, und zwar sowohl hinsichtlich des notwendigen Umfangs als auch hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit. Am 13. Oktober - hier war schon des öfteren die Rede davon - wird der Baubeginn für die Verkehrsanlagen im zentralen Bereich Berlins sein. Diese Debatte hat zumindest dazu beigetragen, diesen Termin in ganz Deutschland bekanntzumachen. Dieser Termin ist, was die Geschwindigkeit der Vorarbeiten angeht, tatsächlich ein Erfolg. Insgesamt beträgt der Finanzbedarf der Verkehrsprojekte im zentralen Bereich 5,2 Milliarden DM, darunter allein 3,2 Milliarden DM für die Eisenbahnverbindungen einschließlich des Lehrter Bahnhofs, 1,3 Milliarden DM für die U-Bahn-Linie 5 und 0,7 Milliarden DM für den Straßentunnel. Diese Investitionen werden sich sowohl für die Entwicklung der Stadt als auch für deren erneute Entwicklung zu einem europäischen Eisenbahnknotenpunkt auszahlen. Ich darf dem Abgeordneten Scheffler zunächst für seinen fachlich einwandfreien Beitrag danken und ihm versichern, daß die Finanzierung in der Größenordnung, wie die Bauten sie erfordern, bereitgestellt wird. Der Bau der Verkehrsprojekte liegt im abgestimmtem Zeitplan, der auch die Bauabläufe für die Parlaments- und die Regierungsbauten berücksichtigt. Am 12. September dieses Jahres erfolgte der Planfeststellungsbeschluß. Am 13. Oktober wird der Baubeginn sein; ich sagte das schon. Damit sind die Voraussetzungen für die Abdeckung des Tunnelbauwerks im Spreebogen Mitte 1998 geschaffen. Das ist der für die Fortsetzung der anderen Bauarbeiten im Bereich des Spreebogens wichtige Termin. Lassen Sie mich noch einiges zu den Vorteilen des Pilzkonzepts sagen. Das Pilzkonzept ist dem Ringmodell nach unserer Auffassung in zahlreichen Punkten überlegen. Es wird eine höhere Kundenfreundlichkeit durch eine leichtere Orientierung, durch die Vermeidung der Aufspaltung des NordSüd-Verkehrs auf einem Innenring ermöglichen. Es wird verkürzte Reisezeiten und eine bessere Erreichbarkeit der Stadt ohne Umsteigen ermöglichen. Hinsichtlich der Kosten wurde schon ausgeführt, daß es zu geringeren Kosten kommen wird; denn trotz des hohen Mittelbedarfs für die Nord-Süd- Achse bei diesem Pilzkonzept erfordert das Ringmodell durch mehr Bahnhofsneubauten und den abschnittsweisen viergleisigen Ausbau des Innenrings insgesamt wesentlich höhere Aufwendungen. Ich möchte noch etwas zu der Umweltverträglichkeit sagen. Der Tunnel leistet mit seinem westlichen Abschnitt des inneren Stadtrings an sich schon einen wesentlichen Beitrag zu einem durchgangsfreien Verkehr. Diese Durchgangsfreiheit des Verkehrs trägt zur Entlastung des Innenstadtbereichs vom Ost-West-Verkehr bei. Durch die gewählte Trasse, die im Bereich des Tiergartens im Zuge der heutigen Entlastungsstraße verlaufen wird, werden aber auch die Eingriffe in die Umwelt minimiert. Mit dem Wegfall dieser Entlastungsstraße nach der Inbetriebnahme des Tunnels können die bislang getrennten Teile des Tiergartens wieder eine durchgängige Parkanlage werden. Auch die sehr dramatisch dargestellten Auswirkungen auf die Grundwasserverhältnisse werden durch die angewandten Bauverfahren - Schlitzbauverfahren - nicht eintreten. Sie wissen, daß wir ein sehr aufwendiges Grundwassermanagement in diesem Bereich vorgeschrieben haben. Sie können sich an der Baugrube am Potsdamer Platz vergewissern, wie aufwendig die Gründungsarbeiten durchgeführt werden und daß der Grundwasserpegel im Tiergarten ständig überwacht wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Berlin hatte einst das weltbeste Verkehrskonzept. Damit es die neue Hauptstadt in Zukunft wieder haben wird, bitte ich Sie, diesem Antrag Ihre Zustimmung nicht zu geben. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann machen wir das so. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt ({0}), Freimut Duve, Eckart Kuhlwein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Beitrag der Bundesrepublik Deutschland für das Berufsbildungsprojekt in Guernica, Baskenland - Drucksache 13/2366 -Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Der Abgeordnete Zwerenz gibt seine Rede zu Protokoll. *) Ich nehme das Einverständnis des Hauses an und empfehle dieses Beispiel zur Nachahmung. ({2}) Das Wort gebe ich nun der Abgeordneten Ute Vogt.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „In der Politik wird viel geredet und wenig getan." Das ist ein Vorwurf, den wir alle öfter zu hören bekommen. Er ist zwar nie persönlich gemeint. Vielmehr ist er immer auf die Politik im allgemeinen bezogen. Man muß zugeben, daß der eine oder die andere von uns durchaus dazu beiträgt, daß solch ein Vorurteil bestärkt werden kann. Beim vorliegenden Antrag zum Berufsbildungsprojekt in Guernica sind wir allerdings nahe daran, als Parlament selbst den Beweis zu erbringen, daß dieses Vorurteil tatsächlich stimmt. Denn im Bundestag wird seit 1987 über Guernica geredet. Ende 1988 wurde dazu ein Beschluß gefaßt. Seither ist in der Sache faktisch nichts passiert; seither hat die Bundesregierung das Projekt Guernica ruhen lassen. ({0}) Ich möchte den Beschluß des Bundestages vom 10. November 1988 zitieren, in dem es u. a. heißt: Der Deutsche Bundestag begrüßt, daß die. Stadt Pforzheim mit Guernica und der Region des Baskenlandes eine Partnerschaft eingeht. Er fordert die Bundesregierung auf, diese Städtepartnerschaft zu fördern und mit Haushaltsmitteln des Auswärtigen Amts zu unterstützen. Weiter heißt es: Mögliche Kooperationsprojekte in diesem Rahmen können auch die Förderung der Berufsausbildung in der Region ... sein. Die Bundesregierung wird aufgefordert, für diese Maßnahmen einen angemessenen Betrag im Bundeshaushalt vorzusehen. *) Anlage 4 Dieser Beschluß signalisiert ziemlich klar die Unterstützung des Parlaments. Trotz dieses Beschlusses verweigert die Bundesregierung bis heute die konkrete Unterstützung. Deshalb ist es notwendig, daß wir mit unserem Antrag diesen Beschluß des Deutschen Bundestages von 1988 bekräftigen und zusätzlich konkretisieren. ({1}) Formal geht es um 12 Millionen DM. Es ist erlaubt, in Raten zu zahlen, und zwar drei Jahre lang jeweils 4 Millionen DM pro Jahr. Es geht um die Förderung eines Zentrums für die Berufsausbildung, um eine Lehrstätte für allgemeinen Unterricht und Fachunterricht, um ein Institut für Technologieforschung und um die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Menschen in der Region Guernica. Die Gesamtkosten des Projekts belaufen sich auf etwa 30 Millionen DM. Das war die formale Seite und die formale Forderung. Tatsächlich geht es hier um viel mehr. Es geht um eine sichtbare Geste und um die greifbare Versöhnung mit der Stadt Guernica. ({2}) Am 26. April 1937 wurde durch den grausamen Bombenangriff der deutschen Legion Condor die Stadt Guernica fast völlig zerstört, und es wurden unzählige Menschen getötet. Deshalb geht es hier nicht um die Unterstützung irgendeiner Partnerschaft. Man kann auch nicht sagen: Da könnte ja jede Stadt kommen. Vielmehr geht es um ein Friedenssignal, das 1989 von der Partnerschaft zwischen Guernica und der Stadt Pforzheim ausging, die unter großem Beifall dieses Hauses geschlossen wurde. Es geht um zwei Städte, die im Krieg auf verfeindeten Seiten standen und eine traurige Gemeinsamkeit haben, nämlich das unsägliche Leid der Menschen, die in den Städten lebten und die durch den barbarischen Krieg den größten Teil ihrer Stadt und - was noch viel schlimmer ist - den größten Teil ihrer Angehörigen und Bekannten verloren haben. Diese beiden Städte haben heute zur Versöhnung und Freundschaft zusammengefunden. Ich denke, diese Vorgeschichte, die zu der außergewöhnlichen Partnerschaft geführt hat, verpflichtet nicht nur eine Stadt, sondern das gesamte Land und auch uns aus historischer Verantwortung. ({3}) Es geht ebenfalls um die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik. Der Anstoß für das Berufsbildungsprojekt kam von deutscher Seite und nicht zuletzt aus diesem Haus durch den damaligen Beschluß des Deutschen Bundestages. Seit Jahren wird aber die Verwirklichung des Projekts verzögert. Es gab über Jahre hinweg Gutachten, Nachfragen und Machbarkeitsstudien. Es gab ständige Kontakte mit allen Beteiligten, unzählige Treffen, Telefonate und Briefwechsel. Es gab alles, was man sich in diesem Bereich vorstellen kann. Alle Ute Vogt ({4}) Beteiligten waren einbezogen, insbesondere die Botschaft von Madrid, das Auswärtige Amt und Staatsminister Schmidbauer, der noch bis zuletzt der Stadt Pforzheim Hoffnungen gemacht hat. ({5}) Die Aussagen waren immer ähnlich: Es wurde hingehalten und vertröstet. Erst vor wenigen Monaten kamen auf massives Nachfragen von seiten der Stadt Briefe, die besagten, daß es endgültig wohl nichts mehr werden wird. Um diesem unwürdigen Verfahren ein Ende zu bereiten, haben wir den Antrag, der Ihnen heute vorliegt, formuliert. Es geht darum, daß wir eine ganz konkrete Zahlungsaufforderung beschreiben, weil wir der Hoffnung sind, daß es diesmal, wenn man es wirklich packend und konkret formuliert, nicht mehr gelingen kann, daß die Bundesregierung die Forderungen ignoriert und so letztlich nichts dabei herumkommt. Deshalb fordere ich Sie auch im Namen meiner Fraktion auf: Werden Sie tätig, dieses Versprechen an Guernica und Pforzheim einzulösen, damit es ein Ende damit hat, daß im Parlament nur vollmundige Erklärungen abgegeben werden! Zeigen Sie, daß das Parlament neben diesen Erklärungen seine Beschlüsse ernst nimmt und vor allem von der Bundesregierung die konkrete Umsetzung einfordert! In diesem Sinne fordere ich von Ihnen auch ein selbstbewußtes Auftreten gegenüber der Bundesregierung und ein Stehen zu alten Beschlüssen und deren Konkretisierung. Ich bitte Sie im Zuge der Beratungen um die Zustimmung und die Bewilligung dieser Gelder, die bereits sehr lange erwartet werden. Vielen Dank. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Vogt, das war Ihre erste Rede in diesem Hause; dazu unseren herzlichen Glückwunsch. ({0}) Nun spricht der Kollege Dr. Erich Riedl.

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Guernica beschäftigt den Deutschen Bundestag in der Tat seit 1988. Worum geht es bei Guernica? Ich will ganz kurz den Sachverhalt skizzieren: 26. April 1937, im Spanischen Bürgerkrieg fallen Bomben auf Guernica im Norden Spaniens. Um dem Verlangen der im Raume Guernica kämpfenden nationalspanischen Verbände zu entsprechen, den in Richtung Bilbao flüchtenden baskischen Truppen den Rückzug abzuschneiden, wurde am 26. April 1937 der auf der Seite General Francos auf dessen Bitte eingesetzten Legion Condor mit 21 Flugzeugen und einem entsprechenden italienischen Kampffliegerverband mit drei Flugzeugen ein Luftangriff auf die östlich Guernicas liegende Straßengabel und Brücke sowie die Vorstadt Renteria befohlen. Die Nähe des eigentlichen Angriffsziels zur Stadt Guernica, die Sichtbehinderung durch die Wirkung der ersten gefährlichen Bomben und leider Gottes auch ungünstige Windverhältnisse sowie eine unzureichende Zieltechnik führten zu außerordentlich zahlreichen Fehlwürfen, die schließlich die Stadt Guernica selbst trafen und diese auf Grund ihrer Holzbauten und der zerstörten Wasserleitung rasch in Flammen setzten. Die menschlichen Opfer sind namentlich bekannt. Diese Gefahr war während der Kampfhandlungen offensichtlich ohne besondere Skrupel von den Flugeinsatzkommandozentralen in Kauf genommen worden. Guernica gilt seitdem als antifaschistisches Kampfsymbol im Spanischen Bürgerkrieg. Rund 50 Jahre später wurde vor diesem Hintergrund die Städtepartnerschaft Pforzheim-Guernica gegründet. Abgeordnete aller Fraktionen setzten im November 1988 einen Beschluß des Deutschen Bundestages durch, dessen einstimmig verabschiedeter Kernsatz lautet - ich zitiere -: „Die Opfer der wehrlosen Zivilbevölkerung mahnen zu einer Geste des Friedens." Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Fraktion und ich, wir bekennen uns zu einem solchen Zeichen des Friedens. Die Frage, wie dieses Zeichen lautet, ist aber bis heute leider nicht beantwortet. Trotz mannigfacher Ansätze der Bundesregierung, insbesondere des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundeskanzleramtes, konnte bis heute dem Petitum des Bundestages nicht entsprochen werden. Der Grund ist ganz einfach: Er liegt in der Finanzierung. Immerhin ging es bisher - die Frau Kollegin hat es ja selbst gesagt - um Beträge in einer Größenordnung von bis zu 30 Millionen DM. Konkret beantragt waren in Vorbesprechungen Verpflichtungsermächtigungen von zunächst 12 Millionen DM. Der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer, der noch sprechen wird, wird darauf sicherlich im einzelnen noch konkret eingehen. Als Berichterstatter im Haushaltsausschuß für den Einzelplan 05 - dafür bin ich vom Jahre 1995 an zuständig - erscheint mir in der Tat der breite Dissens zwischen finanziellem Anspruch und haushalterischen Möglichkeiten der ausschlaggebende Gesichtspunkt für die bisherigen Schwierigkeiten zu sein. Der heute in erster Lesung zu beratende Antrag der SPD-Fraktion gibt uns Gelegenheit, dieses Thema - und ich unterstreiche dies - mit Würde und Respekt vor der Geschichte, aber auch mit Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem deutschen Steuerzahler zu behandeln, der 60 Jahre nach dem Dr. Erich Riedl ({0}) Spanischen Bürgerkrieg wohl kaum mehr davon zu überzeugen ist, wegen des genannten Vorfalls im Spanischen Bürgerkrieg mit zweistelligen Millionenbeträgen zur Kasse gebeten zu werden. Man wird sich auch darüber zu unterhalten haben, ob es der Sache dienlich war, daß der Oberbürgermeister von Pforzheim mit der Stadt Guernica einen Vertrag zu Lasten des Bundes, also zu Lasten Dritter abschloß, ohne dafür die vorherige Zustimmung der Bundesregierung eingeholt zu haben. Auch ist mir bis heute nicht bekannt, ob und wie sich die Stadt Pforzheim oder auch das Bundesland Baden-Württemberg mit finanziellen Mitteln an der gewünschten Maßnahme beteiligen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eines muß jedem hier im Hause klar sein: Das Projekt in seiner gegenwärtigen Konzeption in einer finanziellen Dimension von 30 Millionen DM und mehr ist reine Utopie. Jetzt bedarf es eines vernünftigen finanziellen Augenmaßes. Das möchte ich den Initiatoren des SPD-Antrags von vornherein ans Herz legen; denn ein nochmaliges Scheitern sollten wir uns alle nicht mehr leisten. Wenn man den Wortlaut des Bundestagsbeschlusses von 1988 einmal in Ruhe betrachtet, dann sieht man, daß er bei gutem Willen auf allen Seiten eine guten Chance bietet, dieses heikle Thema zu einem guten Ende zu bringen. Der Staatsminister Werner Hoyer vom Auswärtigen Amt hat in der Sitzung des Haushaltsausschusses am Mittwoch der letzten Sitzungswoche klargelegt, daß die Bundesregierung durchaus die Chance sieht, auch mit bescheideneren finanziellen Mitteln diese Geste des Friedens überzeugend zum Ausdruck zu bringen. Wer bereit ist, heute den Bogen vom Spanischen Bürgerkrieg 1937 über das Mittelmeer hinweg in das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1995 zu spannen, der könnte mit dieser Initiative auch ganz aktuell zum Ausdruck bringen, daß Krieg und Gewalt innerhalb Europas nie mehr zum aktuellen Tagesgeschehen in Europa gehören dürfen. In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten wir den SPD-Antrag in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages vernünftig beraten. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Riedl, ich bedanke mich ausdrücklich für die würdigenden Worte, die Sie zum Geschehen und auch zu unserer Verpflichtung gefunden haben. Ich denke, deshalb können wir uns vielleicht über die Durchführung ein wenig besser verständigen. Sehen Sie, diese Geste des guten Willens geht bis in die Zeit vor dem Bundestagsbeschluß zurück. Ich weiß, welche vagen Vorstellungen meine von mir so sehr geschätzte frühere Kollegin Petra Kelly hatte. Sie hatte Vorstellungen von einem Friedenszentrum und ähnlichem. Das Herunterfahren auf das Berufsbildungszentrum war eine Konkretisierung in Form eines Projektes, das man dann auch anfassen konnte. Insofern war das weit weg. Ich höre jetzt, daß Sie den Antrag im Haushaltsausschuß abgelehnt haben. Es hat wohl einen Antrag der SPD - ich bin da nicht so gut informiert - gegeben. ({0}) - Sie werden dazu etwas sagen. Wenn ich aber höre, daß der Antrag abgelehnt wurde, weil andere Städtepartnerschaften, die ebenfalls mit Städten verbunden sind, die ein ähnliches Schicksal hatten, entstehen könnten, dann meine ich, daß doch etwas sehr Wesentliches verkannt wird - das werden mir die beiden Haushälter auch zugestehen -: Unser aller Beschluß - der Bundestag steht im Wort, wir alle - wurde vor dem Abschluß der Städtepartnerschaft gefaßt. Die Städtepartnerschaft war zwar schon im Gespräch, ist aber erst ein Jahr nach dem Beschluß abgeschlossen worden, geradezu als Durchführungsbeschluß. Deshalb haben sich die Bürgermeister diesem dann auch so angenommen. ({1}) Man muß auch sehen: Es ist viel gelaufen. Die baskischen Bildungspolitiker haben das deutsche Berufsschulwesen studiert. Die Bürgermeister haben dann diese Vereinbarung getroffen, wobei ich dafür plädiere, die 30 Millionen DM aus dem Spiel zu lassen. Es waren dreigeteilte Lasten verabredet: baskische Regierung - Unterhalt; Pforzheim - technologischer und pädagogischer Austausch und die Bundesregierung - Anschubfinanzierung. Von mehr war nie die Rede. Diese Anschubfinanzierung sollte allerdings in drei Raten erfolgen. Die Summe von 12 Millionen DM ist in dieser Beziehung richtig. Auch die Bundesregierung steht nun immer wieder im Wort. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage vom Oktober 1990 heißt es: „Da die grundsätzlich beschlossenen Kooperationsprojekte in Guernica den Forderungen der baskischen Seite entsprechen, hält die Bundesregierung diese für geeignet, den Beschluß des Bundestages durchzuführen." Das Bundeskanzleramt hat im Juli 1995 - das ist also noch gar nicht so lange her - Herrn Becker mitgeteilt, man werde sich mit allem Nachdruck darum bemühen, die erforderlichen Mittel im Haushalt beDr. Helmut Lippelt reitzustellen. Das Auswärtige Amt werde beauftragt, für den Haushalt 1996 entsprechende Mittel einzustellen. In der Tat ist dies dem armen Oberbürgermeister Becker, ({2}) der seine Städtepartnerschaft darüber zerbrechen sieht, von allen Seiten, auch von der Bundesregierung, immer wieder zugesagt worden. ({3}) - Meine Redezeit läuft ab; deshalb kann ich nicht so auf die Zurufe eingehen. Deshalb richte ich meine Bitte an die Haushälter: Sie haben es in der Hand, in der Bereinigungssitzung noch etwas zu machen. ({4}) Ich denke, es sind Mittel dafür da. Ich weiß, daß sich das Auswärtige Amt immer für diese Sache eingesetzt hat. Das Auswärtige Amt hat die Mittel eingestellt. Aber schon in den Vorbesprechungen im Finanzministerium ist das gekippt worden. Mein Eindruck ist, Herr Riedl: Die Haushälter haben sich sehr von der Argumentation des Finanzministers einfangen lassen. Hören Sie ein bißchen mehr auf das Außenministerium, und setzen Sie den Willen dieses Hauses - denn das Haus steht doch mit allen Parteien im Wort - durch! ({5}) Machen Sie das zur Richtschnur, und folgen Sie nicht so sehr dem Finanzminister! Versuchen Sie, in der Bereinigungssitzung damit anzufangen! ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat die Abgeordnete Ina Albowitz.

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lippelt, ich würde Ihnen ja gerne folgen, aber ich muß Ihnen Ihren zuletzt geäußerten Wunsch rundweg abschlagen. Ich glaube, Sie überfordern die Haushälter damit, Mittel nur auf Grund politischer Absichtserklärungen einzuplanen, ohne konkrete Planungsvorgaben zu haben. Ich will Ihnen das gerne noch erläutern. Wir sind ja nicht nur, auch wenn das manche behaupten, Erbsenzähler; wir sind in bezug auf den Haushalt zu großer Ernsthaftigkeit verpflichtet. Ich erwarte bei einem Projekt dieser Größenordnung doch sehr konkrete Planungsrahmen und Handlungsvorgaben. Wir reden im übrigen über die Dimension zwischen 10 und 50 Millionen DM. Bei dieser Größenordnung möchte ich als Haushälterin schon sehr genau wissen, wovon wir reden. Das hat nichts mit dem Projekt als solchem zu tun. ({0}) - Herr von Larcher, hören Sie doch erst einmal zu, was ich zu sagen habe, wir debattieren später noch einmal darüber. Die Debatte verpflichtet nämlich zu großer Ernsthaftigkeit; ich denke, sie war bisher entsprechend. Der politische Hintergrund ist von großer Bedeutung - das streitet auch keiner ab - für das deutschspanische Verhältnis. Er birgt eine hohe Emotionalität. Dies haben wir in den vielen Debatten gehört, die wir zu diesem Thema auch in diesem Hause geführt haben. Meine persönliche Einschätzung zu diesem Thema - wir haben uns ja auch in der letzten Woche damit beschäftigt - lautet: Keiner kann ernsthafter mit dem Thema umgehen als Picasso in seinem Gemälde „Guernica". Es drückt Emotionen, Schmerzen und das Leid besser aus, als wir es hier in der Debatte tun können. Das ist schon sehr beeindruckend. Der Argumentationsstrang des SPD-Antrages, den wir heute wieder vorgelegt bekommen haben, ist einfach. Er zitiert einen Beschluß des Parlaments aus der 11. Wahlperiode, stellt ab auf dessen letzten Satz, wirft dem Auswärtigen Amt Untätigkeit vor - Sie tun das nicht, Herr Lippelt -, d. h. fordert die Bundesregierung zum Handeln, also zum Geldausgeben auf. So weit, so klar, aber auch: so unzulässig für die Haushälter. Meine Fraktion - ich mache daraus keinen Hehl - ist nicht glücklich darüber, daß die in dem Beschluß des Bundestages von 1988 vorgesehenen Projekte noch nicht verwirklicht worden sind. Wir bemühen uns allerdings, die Sache etwas differenzierter zu sehen. Natürlich ist es für die Opposition leichter, Mittel zu fordern, als wenn man die Mittel dann auch tatsächlich bereitstellen muß. Ich glaube, es ist hilfreich, den Beschluß von November 1988 noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen; die Kollegin Vogt hat dies eben schon differenziert getan. Dabei kann man auch entdecken, daß im Rahmen der Städtepartnerschaft vorgesehen war, Kooperationsprojekte zu fördern und mit Haushaltsmitteln zu unterstützen. Es sind insgesamt relativ hohe Erwartungen geweckt worden, im übrigen nicht von der Bundesregierung, sondern aus diesem Hause heraus. Die ursprünglichen Vorstellungen der Spanier, nämlich ein Technologietransferzentrum mit einem Projektvolumen von 12 Millionen DM anzudenken und einzustellen, sind letztendlich auf ein Gesamtvolumen von 48 Millionen DM gewachsen. ({1}) Das Schwierige bei der Sachlage ist, daß für dieses Projekt keine genaue Konzeption vorliegt und die Darstellung im sogenannten Mondragon-Papier vom BMBW als dem für diesen Bereich zuständigen Fachministerium eine unzureichende Planungsvorlage war. Im übrigen, meine Damen und Herren, würde ich gerne der Sauberkeit in diesem Hause wegen - das geht an die Kollegen der SPD - folgendes erwähnen: Man entnimmt der Pforzheimer Presse, daß sich unmittelbar nach unserem Berichterstattergespräch der Abgeordnete Schlauch darüber beschwert hat, die Berichterstatter von Koalition und SPD - ({2}) - Dann hätte ich mich gerne über etwas anderes gefreut. Ich rede jetzt sogar positiv für Sie, weil ich mich über so etwas ärgere. Es hieß, wir hätten einen Antrag abgelehnt. Das ist seltsam, denn es lag überhaupt kein Antrag vor. Es ist auch kein solcher beraten worden, sondern einer der Sozialdemokraten. Ich hätte mich über eine Richtigstellung zu diesem Sachverhalt gefreut, weil dies der Sauberkeit im Parlamentsverfahren entspricht. Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD, wir sollten uns um Lösungen bemühen, dient dazu, daß wir noch einmal intensiv über das Thema debattieren. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Appell an die Bundesregierung richten, mit uns gemeinsam zu überlegen - Herr Staatsminister Hoyer hat das in der letzten Sitzung des Haushaltsausschusses getan -, welche Projekte oder was wir fördern können. Aber ich sage Ihnen ganz dezidiert für meine Fraktion: Ein Gesamtvolumen von 50 Millionen DM, das im Raum steht, ist mit uns nicht zu machen. Wenn das anders aussieht, Herr Lippelt, ist das in Ordnung, aber dann müssen wir ernsthaft mit den Spaniern und mit den Pforzheimern verhandeln. Ich könnte mir auch durchaus vorstellen, daß man über andere kulturelle Projekte deutlicher reden könnte, z. B. Bibliotheken. Hier gab es positive Anzeichen im Haushaltsausschuß, auch von der Bundesregierung. Wir möchten das in den nächsten Wochen und Monaten gerne flankieren, aber zur Bereinigungssitzung wird das, glaube ich, nicht hinzukriegen sein. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute nicht zum ersten Mal mit diesem Thema. Ich erinnere mich an Debatten zu nächtlicher Stunde vor langem mit Petra Kelly - Sie haben sie erwähnt -, die dieses Anliegen eingebracht hat, die damals im Baskenland für einige Unruhe sorgte. Ich traf später in Madrid den Bürgermeister der Stadt Guernica, der mir gesagt hat, sie selber hätten niemals daran gedacht, mit einem solchen Anliegen an uns heranzutreten. ({0}) Ich will um Gottes willen nicht die Vergangenheit aufwühlen, aber ich erinnere mich auch an einen nächtlichen Zuruf, den ich Frau Kelly gegenüber gemacht habe: Wir müssen natürlich auch ein bißchen acht geben, daß wir nicht die Bewältigung unserer Vergangenheit anderen aufzwingen. Das habe ich damals gesagt. Das war, glaube ich, ein ganz guter, leider in der deutschen Geschichte nicht so ganz angekommener Aphorismus, Herr Kollege Lippelt; deshalb habe ich ihn wiederholt. Damals hat eigentlich etwas stöhnend die Vertretung der Stadt Guernica, ganz zu schweigen von den spanischen Reaktionen in Madrid - ich erinnere an gewisse Auseinandersetzungen, die es zwischen den Basken und den Spaniern gibt -, gesagt: Wir wären natürlich sehr dankbar, wenn Sie etwas tun könnten. Wir haben in unserer Gegend ziemlich viele Arbeitslose. Das war ein sehr vernünftiger Standpunkt, um so mehr, als sich herausgestellt hatte, wie ich dem staunenden Auswärtigen Ausschuß damals schon mitteilen konnte, daß das Denkmal, das wir zunächst der Stadt Guernica schenken wollten und das in Gestalt eines Vorschlages eines Bildhauers aus Süddeutschland bereits existierte, vorher bereits der Stadt München angeboten worden war, und zwar zu einem vollkommen anderen Zweck. Aber bei abstrakter Kunst ist ja eine Mehrfachverwendung denkbar. Ich darf das deshalb noch einmal kurz beschwören, weil wir jetzt immer noch nicht weitergekommen sind und weil ich das natürlich mit Ihnen gemeinsam bedaure. Ich bin Herrn Lippelt besonders dankbar, daß er das Auswärtige Amt, was ungewöhnlich ist, in Schutz genommen hat. Wir haben uns bemüht. Es stimmt also nicht, was in dem Antrag der SPD steht: „Bis heute sind seitens des Auswärtigen Amtes keine weiteren Schritte unternommen worden." Das trifft nicht zu. Wir haben es versucht. Ich darf allerdings daran erinnern - ich muß das hier ganz kurz ausführen -, daß, nachdem Gott sei Dank eine Städtepartnerschaft zwischen Guernica und Pforzheim zustande kam und Pforzheim mit dem Vorschlag kam, in Guernica ein Ausbildungszentrum für Spezialgebiete der Technik zu errichten, immer höhere Erwartungen geweckt worden sind. Das Auswärtige Amt war nicht an einer Vereinbarung zwischen den beiden Städten beteiligt worden, bei der man bereits davon ausgegangen war, daß die Gesamtkosten für diesen Berufsbildungskomplex - Bau und Ausstattung - von der Bundesregierung zu übernehmen wären, zumindest für die erste Baustufe. 1991 gab es Gespräche im Auswärtigen Amt. Ein Vorschlag von 1 Million DM wurde in Gegenwart der Bürgermeister von Pforzheim und Guernica gemacht. Im Jahre 1992 kam ein erster spanischer Projektrahmen mit Forderungen von 48 Millionen DM. Im deutschen Text hörte sich das anders an als im spanischen Text. Hier gab es also schon Verwicklungen. Wiederum gab es keine Beteiligung der Bundesregierung. Es wurde geprüft. Man hat dann festgestellt - und zwar nicht das Auswärtige Amt, sondern das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft -, daß der spanische Projektrahmen erstens als Planungsgrundlage unzureichend war und daß es zweitens im Interesse einer politischen Klarstellung notwendig wäre, den Basken zu sagen: Eine haushaltspolitische Obergrenze ist hier notwendig, die erheblich niedriger liegt als der Vorschlag, und wir können uns höchstens an der ersten Baustufe mit maximal 10 bis 12 Millionen DM beteiligen. Dazwischen kam die deutsche Vereinigung. Es kamen enorme Kürzungen. Sie wissen, daß wir uns an anderer Stelle über die Kürzungen im Auswärtigen Amt, die uns sehr schmerzen, unterhalten mußten, z. B. Goethe-Institut, Bibliotheken usw. Ich will das jetzt nicht alles ausführen. Es gab für die Haushälter das Problem, zwölf weitere Millionen zur Verfügung zu stellen. Man muß hier sagen, daß sie sich bemühen, den Haushalt des Auswärtigen Amtes im Kulturbereich nicht so zu kürzen, wie gelegentlich die Gefahr bestand. Es ist uns nicht gelungen. Die Haushälter mußten angesichts der Lage sagen: Wir können es nicht. Ich darf deshalb noch einmal - auch im Sinne von Herrn Lippelt - dringend raten, daß man das Gespräch neu beginnt. Wir sind im Wort; ich sehe das genauso wie Sie. Wir können nicht einfach sagen: Der Antrag ist 1988 beschlossen worden; bis heute ist nichts geschehen. Ich bin dafür, daß wir uns noch einmal auch mit den Städten zusammensetzen und versuchen, einen Weg zu finden, möglicherweise auch einen neuen Ansatz. Frau Albowitz hat darauf hingewiesen. Ich schlage vor, diesen Gedanken aufzugreifen. Wir sind der Auffassung, daß wir etwas tun müssen, aber es muß finanziell machbar sein. Es kann nicht in ein Riesenprojekt hineinfließen. Im Antrag war z. B. von der Ausstattung einer Bibliothek die Rede. Das wäre vielleicht ein anderer Ansatz. Ich bin bereit und stehe jederzeit zur Verfügung - wenn Sie einverstanden sind -, wenn es darum geht, mit allen Beteiligten das Gespräch wieder aufzunehmen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Wir sind damit am Ende der Aussprache, die ich schließe. Der Ältestenrat schägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/2366 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nach allem, was hier dargestellt worden ist, kann man sich eigentlich nur dem Wunsch anschließen, daß es nicht bei dieser Überweisung an die Ausschüsse bleibt, sondern daß die Fraktionen Gelegenheit nehmen, sich vielleicht auch außerhalb der Ausschüsse gemeinsam in dieser Sache zu verständigen, diese Sache aus dem Streit der Fraktionen herauszuhalten und zu einem Ergebnis zu kommen, bevor es peinlich wird. ({0}) Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. September 1995, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.